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German Pages 438 [442] Year 2019
Sebastian Schäfer
Rudolf Olden – Journalist und Pazifist Vom Unpolitischen zum Pan-Europäer. Moralische Erneuerung im Zeichen moderner Kulturkritik
Weimarer Schriften zur republik
Franz Steiner Verlag
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Sebastian Schäfer Rudolf Olden – Journalist und Pazifist
weimarer schriften zur republik Herausgegeben von Michael Dreyer und Andreas Braune
Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Ursula Büttner Prof. Dr. Alexander Gallus Prof. Dr. Kathrin Groh Prof. Dr. Christoph Gusy Prof. Dr. Marcus Llanque Prof. Dr. Walter Mühlhausen
Band 8
Sebastian Schäfer
Rudolf Olden – Journalist und Pazifist Vom Unpolitischen zum Pan-Europäer. Moralische Erneuerung im Zeichen moderner Kulturkritik
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: Porträt Rudolf Oldens von Kurt Schwitters, 1940 © Hartmut W. Schmidt 2015 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019 Dissertation Technische Universität Chemnitz, 2018 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany ISBN 978-3-515-12393-8 (Print) ISBN 978-3-515-12398-3 (E-Book)
INHALTSVERZEICHNIS 1. EINLEITUNG .............................................................................................. 7 1.1 Fragestellung ........................................................................................ 10 1.2 Methodik und Aufbau .......................................................................... 16 1.3 Forschungsstand ................................................................................... 26 2. DIE BÜRGERLICHE UTOPIE ZERBRICHT – PAZIFISMUS IM WELTKRIEG 2.1 Programmatische Neuorientierung: Über Demokratie zum Weltfrieden .................................................... 31 2.2 Organisatorische Vielfalt – Krieg und Revolution als pazifistischer Katalysator ......................................................................................... 34 3. DER LITERAT – OLDEN UND DAS JUNGE WIEN ............................. 42 4. DER SOLDAT – POLITISIERUNG IM SCHÜTZENGRABEN? ........... 56 5. WIENER JAHRE (1919–1926) ................................................................. 77 5.1 Pazifistische Vorbilder? Benno Karpeles und die österreichische Sozialdemokratie ................................................................................ 81 5.1.1 Evolution statt Revolution – Der geistige Neubeginn .............. 87 5.1.2 Die Pariser Konferenz: Friedensbedingungen von Versailles .................................... 105 5.1.3 Die Frage der Kriegsschuld – Auseinandersetzungen um Artikel 231 ............................................................................ 113 5.2 „Die Republik muß organisiert werden“ – Der Organisator in Zeiten der Bewährung ................................................................................. 122 5.2.1 Das Krisenjahr 1923................................................................ 123 5.2.2 Rechtsruck! Gescheiterte Umerziehung – Reichswehr und Justiz ...................................................................................... 143 5.2.3 Ideeller Realismus: Die Vereinigten Staaten von Europa ....... 163 5.3 Der Herausgeber – Er und Sie. Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik ................................................................................................ 176 ZWISCHENFAZIT ...................................................................................... 182
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Inhaltsverzeichnis
6. BERLINER JAHRE (1926–1933) ........................................................... 189 6.1 Der Jurist – Praktischer Pazifismus ................................................... 194 6.1.1 Fememord und Schwarze Reichswehr – Juristische Aufarbeitung.......................................................................... 198 6.1.2 Pazifismus und Landesverrat: Kampf um die journalistische Freiheit .................................................................................. 209 6.1.3 Der Humanist – Olden und die Deutsche Liga für Menschenrechte ..................................................................... 236 6.2 Der politische Leitartikler – Berliner Tageblatt als Medium............. 263 6.2.1 Die deutsche Jugend: Segen oder Fluch? ................................ 266 6.2.2 Wehrhaftigkeit und Pazifismus: Republikanische Aufrüstung ................................................. 289 6.2.3 Demokratie in Gefahr! – Das Weimarer Präsidialregime ....... 319 6.3. Der Zionist? – Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus... 346 7. AUSBLICK – LONDONER EXIL (1933–1940) .................................... 370 8. SCHLUSSBETRACHTUNG .................................................................. 395 9. BIBLIOGRAPHIE ................................................................................... 427
1 EINLEITUNG Was eine Erinnerung hinterlässt, ist nicht vergebens geschehen. Doch wie erinnert man an einen scheinbar Vergessenen? In Hugo von Hofmannsthals Buch der Freunde heißt es: „Wenn ein Mensch dahin ist, nimmt er ein Geheimnis mit sich: wie es ihm, gerade ihm – im geistigen Sinn zu leben möglich gewesen sei.“1 Die Umstände, unter denen Rudolf Olden dem rückblickenden Betrachter dieses Rätsel zu lösen aufträgt, offenbart eine zusätzliche Dramatik. Als am 12. September 1940 die City of Benares im Hafen von Liverpool die Reise in Richtung Nordamerika aufnimmt, befinden sich auf der Passagierliste nicht nur 92 evakuierte Kinder sowie weitere unzählige Flüchtlinge, die dem Terror des nationalsozialistischen Deutschlands zu entkommen versucht hatten, sondern auch Olden mit seiner dritten Ehefrau Ika. Für den im September 1939 nach dem Kriegseintritt Großbritanniens als enemy alien internierten Rudolf, sollte der Ruf an die New Yorker New School for Social Research den beruflichen Neubeginn einläuten. Am fünften Tag der Reise, am 17. September 1940, torpedierte U-48 der deutschen Kriegsmarine im offenen Atlantik das mit 400 Seelen an Bord besetzte Schiff. Nach etwa 30 Minuten sank die City of Benares und riss nicht nur Rudolf und Ika Olden, sondern weitere 251 Passagiere mit in den Tod.2 Die Zeitgenossen reagierten bestürzt. Thomas Mann schreibt in sein Tagebuch: Nachricht, daß R. Olden mit Frau bei der ruchlosen Torpedierung des Kinderschiffes umgekommen. Grauen. Goebbels läßt jetzt erklären, man habe das Schiff absichtlich versenkt, weil man gewußt habe, daß [er] darauf sei, was natürlich eine dumme Lüge. 3
Der Schriftsteller Alfred Kantorowicz formulierte: Natürlich weiß hier kein Mensch mehr, wer Rudolf Olden war, welche Bedeutung als Publizist, als Historiker und als Strafverteidiger – zum Beispiel im Ossietzky-Prozess – er in der Weimarer Republik gehabt hat: einer der streitbaren, aufrechten bürgerlichen Liberalen, für die das Wort Freiheit den echten, verpflichtenden und mit persönlichem Opfer zu verteidigenden Inhalt wahrte.4
Für Arnold Zweig verriet das Wirken von Rudolf Olden in der Zwischenkriegszeit den „politischen Willen, Deutschland in ein neues von Hitler befreites Europa einzugliedern“5. Er gehörte zu jener „kleinen Schar radikal-bürgerlicher Demokraten“. Seine Forderungen seien häufig von einer Radikalität, die ihres Gleichen in der politischen Landschaft der Weimarer Republik suchte. Vorurteile wären Olden fremd, stehe er doch für kulturell urban geprägte Offenheit. Die Weltbühne zählte ihn zu 1 2 3 4 5
Hofmannsthal (1959): S. 33. Vgl. Brinson/Malet (1994): S. 193; Asmus/Eckert (2010): S. 73–74. Mann (1982): S. 153–154. Kantorowicz (1959): S. 393. Zweig (1967): S. 160. Folgendes Zitat ebd., S. 161.
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seinen „besten Mitarbeitern“6 und charakterisierte Olden als „schmale, aristokratische Erscheinung von manchmal bizarrer Eleganz, eine romantische Figur des großen Journalismus, ein edler Snob im Sinne Baudelairs, ein sine nobile mit der edelmännischen Attitüde von eigenen Gnaden, ein Kerl wie Samt und Seide.“ Maximilian Scheer referierte 1947 knapp und einprägsam über seinen früheren Kollegen beim Berliner Tageblatt: „Ein Bürger. Ein Demokrat: Ein Streiter für Deutschlands Freiheit – für Freiheit in Deutschland.“7 Im April 1951 widmete der P.E.N. Club deutscher Autoren im Ausland eine Ausgabe seines Mitteilungsblattes seinem ehemaligen Sekretär und markierte Oldens besondere Stellung bei der Einberufung des Kongresses Das freie Wort im Februar 1933. Er habe die „konstitutionellen Defekte des Deutschtums der letzten Jahrhunderte nicht nur klar erkannt, sondern auch bis zum Letzten bekämpft“8. Noch im britischen Internierungslager hält der berühmte Pazifist Kurt Hiller am 27. September 1940 eine Gedenkrede auf Rudolf Olden, die am umfassendsten den politischen Charakter zu umreißen versuchte: Er war kein Parteipolitiker; er war ein allem Dogmatikerstarrsinn und freilich auch aller IdeenInbrunst ferner leicht skeptischer Freund des Anstandes, der persönlichen Freiheit, der Menschlichkeit. Der sozialistische Gedanke wollte ihm nicht schmecken. In makabrer Ritterlichkeit verteidigte er eine gesellschaftliche Idee, von deren Totheit er ausgesprochenermaßen überzeugt war. Er verstand, daß die furchtbare Krise der alten humanistischen Werte nicht zu einer Regeneration der liberal-demokratischen Formen führen könne. Seine Stärke lag in der Freiheit, Klugheit, Kultiviertheit seines Betrachtens und Zergliederns; er war tief anständig, ein innerlich freier, unabhängiger, redlicher, geistiger Mensch. 9
Diese Zuschreibungen werfen ein erstes Bild auf die politischen Dimensionen der Figur Olden. Welche Vorstellung von Politik ihn prägte und wie er selbst das Politische zu definieren versuchte, motiviert die Beschäftigung mit seiner Person, zumal die Phase zwischen 1914 und 1918 nicht zuletzt für das politische Denken eine Art Sollbruchstelle darstellte. Vor dem Ersten Weltkrieg neigte die Ideengeschichte zu einer gewissen Teleologie. Die Gegenwart wähnte man notwendig am Ende dieser Entwicklung. Zwei Denkrichtungen waren zu unterscheiden: Einerseits sah man die Ausbildung des modernen Staates als zwingendes historisches Resultat des politischen Denkens, andererseits ihn nur als Durchgangsstation auf dem Weg zum eigentlichen Ziel. Bürgerlicher Staatsdiskurs und sozialistischer Diskurs standen sich gegenüber. Die Ideengeschichte des Kaiserreichs stellt in ihren beiden Hauptströmungen einen in weiten Zügen vergleichbaren Typus der Ideengeschichtsschreibung dar: aus der Affirmation der eigenen Gegenwart als Telos der ideengeschichtlichen Entwicklung wird die Ideengeschichte rekonstruiert, geordnet und bewertet.10
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Lehnau (1946): S. 233. Folgendes Zitat ebd., S. 235. Scheer (1947): S. 4. Lehmann-Rußbüldt (1951): S. 3. Hiller (1949): S. 353–355. Llanque, in: Ders. (2010): S. 103. Das folgende Zitat ebd., S. 104.
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Vor 1914 war das Studium ideengeschichtlicher Inhalte in Bezug auf die eigene Gegenwart Ausdruck von Zuversicht und Eindeutigkeit. Mit Kriegsende gingen begriffliche Selbstverständlichkeiten und Plausibilitäten hingegen verloren. Es begann eine irritierte Orientierungssuche, die auch auf Olden ihre Wirkungen haben sollte. „Die Teleologie konnte nicht mehr als ordnendes Prinzip herhalten, der Ausgang des Geschehens, der mit dem Wechsel zur Republik eingeleitet worden war, keineswegs aber als abgeschlossen galt, war offen.“ Olden wird schließlich als Teil dieser Umbruchszeit charakterisiert. Als bürgerlich hoch gebildeter Journalist musste er seinen Platz erst finden und neu definieren. Eine besondere Form der Gegenwartsanalyse wird ihn kennzeichnen und insofern als pazifistischen Intellektuellen ausweisen. Grundsätzlich hatte Politik für ihn etwas Mystisches. Die Popularität Hitlers und seiner Bewegung galt Olden als ein solches Mysterium, welches auch ihn in Teilen ratlos werden ließ. Begünstigt werde dieses Phänomen durch die Ästhetisierung der eigenen Person. Der zunehmende „Kult des Persönlichen“11 präge den politischen Stil, führe deutlich hin zur Irrationalität und übe einen unerklärlichen, wundersamen Einfluss auf die Menschen aus; „je mehr und je deutlicher er [der Politiker] sich selbst spielte, desto stärker ward seine Wirkung, desto heller loderte die Begeisterung seiner Bewunderer.“ Gerade für die Endphase Weimars ist dies typisch. In der Republik habe ein noch nie dagewesener Umschwung vom Rationalen zum Irrationalen stattgefunden. Das Volk wollte an einen politischen Wunderzauber glauben, der die Erlösung bringe. Bereits die Autoren der Wiener Moderne, mit denen Olden vor 1914 in enger Verbindung stand, betonten in ihren Werken die Magie der Persönlichkeit in der Politik. Wie konkret seine Beziehungen zu diesem Literatenkreis gewesen sind, wird noch explizit darzustellen sein. An diesem Punkt werden lediglich die folgenden Aspekte näher betrachtet: Die junge Künstlergeneration um 1900 (besonders in Wien) sah sich mit gewissen gesellschaftlichen Krisensituationen und Dynamiken konfrontiert. Feste geistige Bindungen und Orientierungen begannen sich zu verschieben und neu zu ordnen. Der politische wie ökonomische Liberalismus sah einer Existenzkrise entgegen. Die etablierte Welt der Ringstraßenepoche war durch massive Zuwanderung und neue soziale Bevölkerungsgruppen wie dem Industrieproletariat herausgefordert. Die permanente Notwendigkeit, den Umgang mit Gegensätzlichkeiten zu lernen, kennzeichnete das Wien der Jahrhundertwende. Davon konnte die politische Struktur nicht unberührt bleiben. Neben der Bildung von modernen Massenparteien etablierte sich der „problematische Typus des Künstler-Politikers.“12 In diesen Jahrzehnten wurde selbst von Zeitgenossen eine Art Ästhetisierung des Politischen thematisiert, die den Hang zur Selbstinszenierung zeigte. So stellt Hofmannsthal fest: „Politik ist Magie. Wer die Mächte anzurufen weiß, dem gehorchten sie.“13 Bei Karl Kraus heißt es mit Blick auf Karl Lueger, dem Bürgermeister Wiens: „Denn im großen Politiker steckt nicht nur ein Spekulant und Milliardär, sondern auch ein 11 Olden (1932): S. 14. Das folgende Zitat ebd. 12 Lorenz (2007): S. 23. 13 Hofmannsthal (1979/80): S. 280.
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Bänkelsänger; er ist nicht nur großer Schachspieler, sondern auch großer Schauspieler.“14 Wenngleich nicht unterstellt wird, dass dieses Bild von Politik ganzheitliche Gültigkeit im Leben von Rudolf Olden besitzt, so zeigt es dennoch ein pointiertes Verständnis am Ausgang der Weimarer Republik im Übergang zur Diktatur des Nationalsozialismus.
1.1 FRAGESTELLUNG Schon mit Beginn seiner journalistischen Laufbahn 1918 beschäftigte Olden das Verhältnis der Militärs zur neuen Demokratie. Höhepunkt seines Schaffens bildeten die ausführlichen Berichte und kritischen Analysen, die er zwischen 1928 und 1931 unter dem Pseudonym Karl Wurzbach im Argentinischen Tageblatt veröffentlichte. Allein die Überschriften verdeutlichen sein Augenmerk auf die Reichswehr und deren Versuch, die Bestimmungen des Versailler Vertrages zu unterlaufen: Die Millionen der Reichswehr, Reichswehr und kein Ende, Schwarze und andere Reichswehr, Panzerkreuzer und die Folgen, Neo-Militarismus. Seine Herkunft hatte ihn jedoch nicht zum Pazifisten prädestiniert, stand die Familie gesellschaftlichen Kreisen des Offizierskorps nahe. „Die Laufbahn, sein Verhalten: nichts scheint ihn von unzähligen jungen deutschen Männern jener Zeit aus gutbürgerlichen – besser: großbürgerlichen – Verhältnissen zu unterscheiden.“15 Es stellt sich ganz allgemeine die Frage nach den Beweggründen. Warum und auf welchem Wege vollzog Olden vermeintlich die Metamorphose vom „konservativen Adelszögling“16 der Vorkriegszeit zum Pazifisten? Durch welche Positionen ist sein Pazifismus zwischen 1918 und 1933 gekennzeichnet? Im Allgemeinen wird unter Pazifismus zunächst die Ablehnung von Krieg bzw. von (militärischer) Gewalt zur Erreichung eines politischen Ziels definiert. Er richtet den Fokus auf die Etablierung einer Ordnung, in der Konflikte friedlich, d.h. unter Ausschluss von Gewaltanwendung gelöst werden. Dies gilt sowohl innerstaatlich als auch in den internationalen Beziehungen. Pazifistische Traditionen, wie das Christentum, die Aufklärung oder der Sozialismus prägen unterschiedliche Strömungen.17 Das Nachdenken über Krieg und Frieden rückt grundsätzlich die Frage nach der Gewaltlosigkeit in den Mittelpunkt. Handelt es sich beim Pazifismus tatsächlich um eine Position, die Gewaltanwendung ausschließt? Dies ist zunächst eine begriffliche und weniger eine moralische Frage. Die Problematik bei der Definition von Pazifismus liegt aber in dem Umstand, dass sich die begriffliche Fragestellung durchaus normativ stellen lässt. Sie ist nicht ausschließlich deskriptiv zu 14 15 16 17
Kraus (1910): S. 3. Berthold (1982): S. 6. Finetti (1990): S. 2. Vgl. Schmidt (2004): S. 526.
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beantworten, da über die Verwendung des Begriffs keine Einigkeit besteht. Einerseits wird die Anwendung von Gewalt in allen Form abgelehnt, andererseits allein die kriegerische Gewalt verworfen oder die Überwindung des Krieges als politische Institution angestrebt, ohne in jedem Fall (kriegerische) Gewalt moralisch zu verurteilen. Dementsprechend kann zwischen einem engen, engeren und einem weiten Pazifismus-Begriff differenziert werden. Schließt ersterer Gewalt grundsätzlich unter allen Umständen aus, negiert der zweite die Anwendung kriegerischer Gewalt. Der weite Begriff sieht das Charakteristikum des Pazifismus in der Überwindung des Krieges als solchen. Historisch war das Verhältnis von Gewaltanwendung und Pazifismus zu keiner Zeit ein unauflösbarer Widerspruch. Viele Personen sahen sich als Pazifisten oder wurden als solche bezeichnet, die keineswegs (kriegerische) Gewalt abgelehnt haben. Hier gilt es zwischen einem kategorischen und konditionalen Pazifismus zu unterscheiden. Letzter schließt die Anwendung von Gewalt nicht unbedingt aus. Hier ist zugleich die Unterscheidung zwischen Pazifismus als Konzept und als Begriff evident. Aus der Einsicht, dass in einem bestimmten Kontext die Androhung oder Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung des internationalen Rechts beispielsweise notwendig werden kann, folgt nicht die Zwangsläufigkeit, den Begriff des Pazifismus so zu definieren. Hinter dem Wort Pazifismus könnte durchaus ein anderes Konzept stehen, das diese Einsicht gerade nicht teilt. Dies trifft u.a. auf diejenigen Personen zu, die bereits zu Zeiten der Weimarer Republik als radikale Pazifisten bezeichnet wurden.18 Seit Beginn des 20. Jahrhunderts verfolgten eine Mehrheit der Pazifisten das Ziel, Institutionen und Mechanismen in der internationalen Politik zu etablieren, die beständig zu einer Überwindung von Kriegen führt. Auf dem Weg dahin, galt Gewaltanwendung als nicht ausgeschlossen. Zur pazifistischen Position gehört seit jeher eine positive Vorstellung von gewaltfreier und rechtsstaatlicher Konfliktaustragung. Polizeiliche Gewalt im Sinne eines rechtserhaltenden bzw. rechtsdurchsetzenden Sinne wird als legitim betrachtet und nicht kategorisch ausgeschlossen. Der Weg in eine Welt, in der Kriege als dauerhaft überwunden gelten, kann jedoch unterschiedliche Ausprägungen haben: Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, Aufbau globaler Organisationen und Institutionen zur gewaltfreien Konfliktregelung oder gar Anwendung von militärischer Gewalt in Grenzfällen. Eint diese Positionen die prinzipielle Ablehnung des Krieges als legitimes Mittel in der (internationalen) Politik, so unterschiedlich kann deren theoretische Grundierung ausfallen. In diesem Kontext sind deontologische und konsequentialistische Anschauungen zu trennen. Letzteres fand sich insbesondere in den Ideen eines technologischen Pazifismus der 1960er bis 1980er Jahre. Krieg kann aufgrund der verfügbaren technischen Kapazitäten im Nuklearzeitalter nicht mehr gerechtfertigt werden. In einem weltweit herrschenden System der Bündnisse könne jeder Konflikt in eine Konfrontation der Atommächte enden, so die Annahme. Am Ende stehe die totale Zerstörung. Eine derartige Eskalation kann keinen rationalen Erwägungen folgen. Dieser Position folgend ist Krieg nicht akzeptabel. Nie wieder könnten Kriege 18 Vgl. Grotefeld, in: Strub/ders. (2007): S. 101–105.
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realpolitisch legitimierbar sein. Der deontologischen Betrachtung gilt Krieg an sich als moralisch verwerflich, weil er den Menschen in dem, was ihn als solchen charakterisiert, nicht anerkenne. Die Tötung unschuldigen Lebens wäre nicht zu rechtfertigen. Im Krieg werde dem Soldaten aber diese Handlung aufgezwungen. Sie liege nicht in seinem eigenen Verantwortungsbereich. Im Lichte dieser Vorstellung können (gewaltsame) Notwehrhandlungen jedoch eine Legitimität erfahren. Innerhalb des deontologischen Prinzips tritt eine für den Fortgang der Untersuchung weitere wichtige Unterscheidung zutage.19 Zu differenzieren sind zwei Typen pazifistischen Denkens. Stellt der Mittelpazifismus „die Frage der Gewalt als (illegitimes) Mittel zur Erreichung eines friedvollen Miteinander ins Zentrum“, betrachtet der Zielpazifismus „die Frage nach Gestalt und Form des friedvollen Miteinanders“20. In der Regel treten sie nicht idealtypisch, sondern miteinander verbunden auf. Entscheidend ist die Frage nach dem Schwerpunkt: Wo lag dieser beim Pazifismus Oldens und welche Position nahm er in Bezug auf die Frage nach der Gewaltanwendung ein? In der Historischen Friedensforschung hat in den letzten Jahren eine gewisse Perspektivverschiebung stattgefunden. Kriegsursachenforschung, die Analyse historischer Friedensbewegungen und innerstaatlicher Konflikte, die Militärgeschichtsforschung sowie Fragen von Rüstung und Abrüstung prägten u.a. das Forschungsfeld. Neben der Frage nach sozialen Voraussetzungen von Friedensfähigkeit bzw. Gewaltbereitschaft war die Vermittlung von Forschungsresultaten im Rahmen der Friedenserziehung relevant. Gegenwärtig haben neue biographische Zugänge Konjunktur, die sich dem Wirken einzelner Pazifisten annehmen und danach fragen, „wie friedenspolitisches Handeln vor dem Hintergrund regionaler wie globaler Konflikte heute aussehen könnte“21. Bestimmend in der Weimarer Friedensbewegung waren im Allgemeinen folgende Fragestellungen, die, so die Annahme, wesentlich das Bild des Pazifisten Olden mitbestimmten. Aus welchen Gründen gelang es dem Vorkriegspazifismus nicht, den Weltkrieg zu verhindern? Wie kann ein erneuter Weltkrieg zukünftig verhindert werden? Und was muss sich innenpolitisch in der Weimarer Republik im Vergleich zum Kaiserreich ändern, sodass von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgehen kann?22 Bis zum Ersten Weltkrieg war die gemäßigte, bürgerlich-liberale Ausrichtung des Pazifismus, die als kosmopolitisch, idealistisch und emanzipatorisch galt, die einzige pazifistische Richtung in Deutschland, die einen kleinen Kreis von Anhängern organisieren konnte.23 Seit Beginn der Weimarer Republik und dem verstärkten Interesse am Pazifismus als Resultat des Weltkrieges wurde er vielfältiger. Die neue Anhängerschaft aus der unteren Mittelschicht beendete die soziale sowie 19 20 21 22
Vgl. Strub/Bleisch, in: dies. (2006): S. 15–25. Kater (2006): S. 94. Vgl. Lütgemeier-Davin (2013): S. 7; Kloft (2011). Vgl. Holl (2002): S. 273. Für Holl sind dies Fragen in der pazifistischen Nahperspektive. In der Fernperspektive gilt es generell danach zu fragen, wie der Krieg endgültig aus dem Leben der Völker verbannt werden könne. 23 Vgl. Harth u.a. (1985): S. 25.
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politische Homogenität des Pazifismus. Der traditionelle links-liberale Honoratioren-Pazifismus stellte nur noch eine Minderheit dar.24 Politisch blieb ein grundsätzliches Spannungsverhältnis zwischen folgenden Konzeptionen: Einerseits aktive Friedenssicherung durch internationale Kooperation, Abrüstung und eine Abkehr von der traditionellen militärischen Drohpolitik, andererseits Verständigungspolitik mit der Absicht, möglichst bald zur reinen Politik der militärischen Machtsicherung zurückzukehren.25
Es gilt zwischen einem organisatorischen (gemäßigten) und einem radikalen Pazifismus zu unterscheiden. Friede durch Recht steht Friede durch die Tat gegenüber.26 So suchte der gemäßigte Pazifismus z.B. im Völkerbund die entscheidende Institution zur Sicherung des Friedens. Er richtete sein Interesse auf eine verbesserte Funktionalität des Völkerbundes und auf einen Ausbau des Völkerrechtes. Dieser konnte zugleich eine nicht-kategorische bzw. verantwortungsethische Ausformung im Sinne einer konditionalen pazifistischen Position haben. Für den radikalen Pazifismus war dagegen z.B. der Generalstreik oder die massenhafte Kriegsdienstverweigerung der erfolgversprechendere Weg zur Verhinderung von Kriegen.27 In dieses Umfeld des pazifistischen Aufbruchs seit 1918 trat Rudolf Olden: Inwiefern kann er aufgrund seiner pazifistischen Positionen in die Dichotomie zwischen gemäßigtem und radikalem Pazifismus eingeordnet werden? In welche Netzwerke war er eingebunden? Wirkte er an inhaltlichen und/oder organisatorischen Kontroversen innerhalb der jeweiligen sowie zwischen den unterschiedlichen Strömungen mit? Wie repräsentativ war im Lichte der Weimarer Friedensdebatte sein Pazifismus? Herkunft und Erziehung sowie der rasante Aufstieg in die Chefredaktion des Berliner Tageblatt, dem Flaggschiff des liberal-demokratischen Meinungsspektrums in Weimar, stützen die Hypothese, dass Olden stärker dem gemäßigten Pazifismus bürgerlich-liberaler Provenienz zuzuordnen ist. Zudem war dieser bis zur Mitte der zwanziger Jahre dominierend. Gegen Ende des Jahrzehnts verstärkte die beginnende Weltwirtschaftskrise und die Polarisierung des politischen Systems radikalere Spielarten des Pazifismus, sodass zu Beginn der 1930er Jahre radikaler und gemäßigter Pazifismus unvereinbare, politische Teilkulturen bildeten.28 Der zu beobachtende Radikalisierungsprozess der Friedensbewegung lässt die Frage zu, ob Oldens pazifistische Einstellungen im Laufe der zwanziger Jahre eine Veränderung erfuhren? Damit verknüpft bleibt die Frage nach der Einordnung seiner Positionen in die Dichotomie zwischen gemäßigter und radikaler Spielart. Können für einen möglichen Einstellungswandel ursächliche Ereignisse identifiziert werden? Ruft man sich noch einmal den eingangs zitierten Nachruf von Kurt Hiller in Erinnerung, so zielte dieser auf die Geistigkeit Oldens ab, ein Attribut, dessen Zuschreibung aus heutiger Perspektive nicht ganz einfach zu fassen ist. Blickt man in 24 25 26 27 28
Vgl. Holl (1988): S. 143f. Lütgemeier-Davin (1990): S. 187. Vgl. Lütgemeier-Davin (1982): S. 15–17. Vgl. Holl (1988): S. 146f. Vgl. Holl (1988): S. 194; Wette (1991): S. 94f.
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den historischen Kontext zurück, könnte ersichtlich werden, auf welcher Ebene der Biographie, über den Pazifismus hinaus, noch zu begegnen sein kann. Dies führte den Betrachter an die Schwelle der Formierung einer sozialen Gruppe zu Beginn der Weimarer Republik, die gegenwärtig als Intellektuelle definiert werden, gelten die 1920er Jahre grundsätzlich als eigentliche Geburtsstunde eines derartigen Bewusstseins. Durch die Betrachtungen eines Unpolitischen von Thomas Mann wurde bereits im Kontext des Ersten Weltkrieges diese Thematik unter dem Stichwort einer geistigen Mobilisierung problematisiert, der Intellektuelle als Zivilisationsliterat und Symbol westlich-demokratischer Ideen stigmatisiert. Demokratisierung und Intellektualisierung Deutschlands galten als „Entdeutschung“29. Der soziale Wandel nach Ende des Krieges katalysierte diese Entwicklung mit Blick auf den Intellektuellen-Begriff. Das Bildungsbürgertum verlor an repräsentativer bzw. legitimatorischer Relevanz: In Bedrängnis geraten die Mandarine nicht, weil ihre Herrschaft, sondern weil die Basis der Herrschaft zusammengebrochen ist. Die bürgerliche Demokratie der Weimarer Zeit hatte für die untertanenwirksamen Bekenntnisse der Unpolitischen keinen Bedarf mehr. 30
Sie schworen jedem eingreifenden Denken ab. Eine Selbstbehauptung des Intellektuellen-Bewusstseins war durch die Krise determiniert, aus der sie entstanden war. Eine intellektuelle Identität konnte in der Weimarer Republik nicht entwickelt werden.31 Bis zur politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit drangen ihre Diskurse nicht durch. Man arbeitete sich stärker am Konzept des intellektuellen Gegners ab. Eine klare und eindeutige Zuordnung als linker und rechter oder liberaler und konservativer Denker ist nicht mehr ohne weiteres möglich. Die gängigen Polarisierungen erweisen ihre Unbrauchbarkeit. Vielmehr kann von einem breiten Spektrum an möglichen Positionen gesprochen werden, das von „normativer Eindeutigkeit“ bis hin zu einem „spielerischen Intellektualismus“32 gespannt werden kann. Der Begriff Intellektueller stand im Zentrum dieser ideologischen Auseinandersetzung. Persönlich wies man ihn von sich, um den Gegner zu brandmarken. Intellektueller galt als Schimpfwort und war selbst in der demokratischen Mitte tendenziös negativ konnotiert. Aus diesem Kontext heraus scheint eine direkte Zuschreibung für Olden als Intellektueller nicht erwartbar. Jedoch wurde damals versucht, ein terminologisches Desiderat zu schaffen, ein positiv besetztes Ersatzwort. So liest man beispielsweise bei Heinrich Mann: Wenn trotz Hindernissen und Rückfällen ohne Zahl dennoch sittliche Fortschritte erreicht sind und der immer wieder versuchte Zweifel, ob sittliches Handeln der Natur des Menschen ent-
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Mann (1983): S. 60. Habermas (1981): S. 462. Vgl. Gangl/Raulet (2007): S. 14. Bialas (1996): S. 19.
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spricht, heute nicht mehr geduldet zu werden braucht, wem ist es zu danken? Doch einzig und allein jener Menschenklasse der Geistigen, die sich empören können.33
Die Weltbühne formulierte ähnlich: Es ist mal wieder Zeit, Geistige und Intellektuelle zu unterscheiden. Geistige dienen aus innerem Zwang, sittlichen Ideen; Intellektuelle handeln, je nach Bedarf, mit allen Ideen. Geistige sind gütig, klug, heiter, energisch; Intellektuelle verfeinert-brutal, gewiegt, finster oder blendend, rabiat. Geistige, getrieben vom Gefühl der Verantwortung für Alle, stürzen sich in die Politik und harren zäh darin aus; Intellektuelle, nur einem Kitzel nachgebend, schliddern für höchstens ein paar Wochen hinein. Kurz: Geistige sind Erlöser – auch wenn ihr Erlösungsplan scheitert –; Intellektuelle sind nichts.
Diese Vorstellung von Geistiger bzw. geistiger Mensch verknüpfte man u.a. mit der Eigenschaft pazifistisch.34 Die Ersatzworte sollten aber nie eine feste Substanz erreichen. Kann Olden letztlich mit seiner Idee des Pazifismus als (politischer) Intellektueller wahrgenommen werden? Dies gilt es zu prüfen, gehörte er doch selbst, wie noch zu zeigen sein wird, im Umfeld der Weltbühne bzw. der Deutschen Liga für Menschenrechte jenen Gruppierungen an, die eine aktive Friedenspolitik verfolgten und durch Intellektuelle wie Ossietzky und Hiller geprägt waren. In diesem Kontext muss der Fokus zugleich auf der Denkentwicklung seines Pazifismus und deren politischer Bedeutung im Weimarer Umfeld liegen. Woraus speiste sich sein Pazifismus? Welche ideengeschichtlichen Prägungen und Einflüsse von anderen Autoren beeinflussten seine Vorstellungen einer friedlichen Gesellschaft zwischen 1918 und 1933? Olden als intellektuelle Figur ist letztlich aber nicht als Einheit beschreibbar. Verschiedene Zugänge bzw. Rollenbilder charakterisieren seine Person. Diese sind unter gewisse Überschriften setzbar, zumal mit ihnen spezifisches Handeln oder gar Brüche sichtbar werden. Ideengeschichte wird durch Menschen betrieben, die innerhalb eines jeweiligen zeithistorischen Kontextes unterschiedlich agieren. In einer historischen Phase ideengeschichtlicher Orientierungssuche lassen sich die jeweiligen Diskurse besser anhand einzelner intellektueller Figuren und deren Schriften darstellen. Dies gilt nicht zuletzt für die friedenspolitische Neukonzeption des Pazifismus nach 1918 und der Rolle Oldens darin, sodass seine allgemeine Charakterisierung, Teil eines politischen Denkens in Umbruchzeiten zu sein, um einen ideengeschichtlich, intellektuellengeschichtlichen Zugang zentriert wird. Dessen grundsätzliches Schema fand sich zeitgenössisches bereits bei Hermann Heller operationalisiert.35 Der Entscheidung für die Analyse seiner Lebensphase in der Weimarer Republik liegt weiter folgende Überlegung zugrunde. 33 Vgl. Bering (2010): S. 263. Folgendes Zitat ebd., S. 268. 34 Vgl. ebd.: S. 271. Besonders deutlich wird dies exemplarisch bei Thomas Mann, der in seinem Beitrag Dem Andenken Carl von Ossietzkys von der „Gruppe pazifistisch gesinnter Intellektueller“ (S. 146) in der Weimarer Republik schrieb, die für Weltfrieden, Kooperation der Völker und Abrüstung kämpfte. Oldens persönliche Verbindungen zu Ossietzky werden an anderer Stelle ausführlich thematisiert. 35 Zum näheren Verständnis von Hellers Ideengeschichte in „Die politische Ideenkreise der Gegenwart“ vgl. S. 14f.; Dies steht argumentativ in Verbindung mit den Ausführungen zu einem produktiven Eklektizismus, vgl. S. 11–13.
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Zunächst stellte der Erste Weltkrieg eine Zäsur für den deutschen Pazifismus dar. Die Zeitgenossen gingen nach 1918 davon aus, dass der Pazifismus „integrales Element einer neuen politischen Kultur im Rahmen der demokratischen Republik“36 sein könnte. Stärker als zuvor im Kaiserreich wurde die Entwicklung des politischen Systems kritisch begleitet, beispielsweise im Feld der militärischen Sicherheitspolitik, sodass die Friedensdebatte der Weimarer Jahre inhaltlich betrachtet, als äußerst fruchtbar und kontrovers geführt beschrieben werden kann.37 Mit der gezielten Vernichtung und Verfolgung des Pazifismus nach 193338 war dies in einem ähnlichen Umfang nicht mehr möglich, nicht zuletzt durch die Vertreibung führender Pazifisten ins Exil. Auf der persönlichen Ebene war die Erfahrung des Ersten Weltkrieges und der Zusammenbruch alter gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen ebenfalls ein entscheidender Einschnitt. Diese erste Wendung im Leben Oldens wird mit Blick auf seine politischen Ansichten und Einstellungen als radikal39 beschrieben. Das Jahr 1933, so die Annahme, stellt durch die Exilerfahrung eine zweite Wende dar, wenngleich vor der „Gefahr einer künstlichen Konstruktion von Brüchen oder Kontinuitäten“40 durch den Biografen zu warnen ist. Schließlich werden Historische Friedensforschung und Intellektuellengeschichte in der intellektuellen Biographie Rudolf Oldens verknüpft. 1.2 METHODIK UND AUFBAU Biographien stellen eine Form der „selektiven Vergegenwärtigung dar“41. Ihr Zugang ist eine deskriptive Bilanz. Objektivität kann nicht erwartet werden, hängt sie stets von der Perspektive des Biographen ab. Aus unterschiedlichen Gründen ist sie ebenfalls durch Auslassungen gekennzeichnet. Bereits die Fragestellung wirkt beschneidend. Das biographische Bild dokumentiert den Blick durch die Lupe, die das in Quellen sichtbare vergrößert. Auslassungen sind schließlich keine Verzerrungen. Wenn sie gezielt vorgenommen werden, sind sie gleichsam konstitutiv. Für die Bewertung der Biographie ist ihr interpretierendes Verständnis notwendig.42 Man bewegt sich in der Sphäre aus Motiven, Optionen und eben Interpretationen. Die intellektuelle Biographie Oldens vermeidet den Versuch, sein Leben zu erklären. Vielmehr beschreibt und erzählt sie, da „je nachdem, wann und wem und in welchen Situationen wir erzählen, erzählen wir unser Leben anders.“43 Eine Kausalität wird ausgeschlossen. Zahlreiche Faktoren können, unter gegebenen Umständen und sich ändernden persönlichen Motiven, auf Olden eingewirkt haben; 36 37 38 39 40 41 42 43
Holl (1988): S. 138. Vgl. Lipp (2010): S. 119f. Vgl. Holl (1988): S. 204ff; Holl (1990): S. 276ff. Vgl. Wehrmann (1984): S. 1; Finetti (1990): S. 2–3; Brinson/Malet (1994): S. 9; Müller (1999): S. 506. Hofmann (2014): S. 3–4. Etzemüller (2012): S. 55. Vgl. Etzemüller (2012): S. 102–117. Safranski (2014): S. 3.
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zwangsläufige Ursachen für seine Hinwendung zum Pazifismus werden nicht angenommen. Eine explizite Methode zur Erarbeitung einer Biographie im Kontext der Politikwissenschaft gibt es nicht. Ohnehin ist das Fach durch eine Marginalisierung der einzelnen Persönlichkeit gekennzeichnet, auch „wenn sich ein tieferes Verständnis intellektueller Prägungen und ihrer Wandlungen kaum hinreichend über quantitativ messbare Indices oder Umfragewerte gewinnen“44 lässt. Selbst die Geschichtswissenschaft spricht von einer gewissen Theorieabstinenz im biographischen Zugang: „Diese gereicht forschungsstrategisch der Biographie aber insofern zum Vorteil, als bei der kreativen Konstruktion des Lebens einer Person ein produktiver Eklektizismus zum Tragen kommt.“45 Eine personalisierte Ideengeschichte, die politisches Denken mit Individualbiographie und geschichtlicher Entwicklung zu verknüpfen46 sucht, bestimmt letztlich die Herangehensweise. Ohne einen grundlegenden methodischen Eklektizismus, der für eine historisierende Arbeit als notwendig betrachtet wird, ist eine intellektuelle Biographie nicht zu schreiben. Der Verfasser trifft stets eine Auswahl in Bezug auf das Material, welches herangezogen wird. Zum Teil geben die Quellen selbst inhaltliche Stichworte und Strukturen (Kindheit, Jugend etc.) vor, anhand dessen das Material aufzubereiten ist. Dabei gilt es sich vom Vorwurf der Beliebigkeit und Unverbindlichkeit frei zu machen und den Eklektizismus sowohl methodisch als auch inhaltlich-argumentativ konkret zu definieren und zwar als eine Denkfigur innerhalb der europäischen Geistesgeschichte. Dies geschieht mit dem Ziel einer Verknüpfung der beiden Ebenen. Als Journalist steht Olden stärker für eine bildungsbürgerlich, schöngeistige Argumentation seines politischen Kommentars, was letztlich seine Form der Zeitdiagnose umreißen wird. Der Reiz einer ideengeschichtlich-wissenschaftlichen Arbeit über Rudolf Olden liegt nicht zuletzt in der Rekonstruktion der Vielfalt politischer Ideenströmungen, von denen er beeinflusst wird und die er produktiv in seine journalistischen Deutungen einbringt. Eklektizismus steht im Folgenden für „freies Problematisieren und hermeneutische Erörterung“47 als eine geistige Haltung, in deren Mittelpunkt ein kritischer Geist die Dinge experimentell zu assoziieren versucht. Seine Stärke liegt in der historischen Unabhängigkeit gegenüber der (ideengeschichtlichen) Vergangenheit, zwischen deren (philosophischen) Systemen letztlich eine Vermittlung bzw. Kombination mit Blick auf die Gegenwart angestrebt wird. „Das Feld der Problematisierung ist nicht das einer spekulativen Dialektik von Geist und Zeit, sondern das Feld des Zweifels an der direkten und absoluten Absicht des philosophischen Vernunftglaubens.“ Im Zeitalter politischer Großideologien nach 1918 wird dem eine besondere Bedeutung beigemessen und an Rudolf Olden herauszuarbeiten sein.48 44 45 46 47 48
Gallus (2009): S. 387. Pyta (2009): S. 332. Vgl. Gallus (2009): S. 382f. Schneider, in: Steffens (1992): S. 201. Folgendes Zitat ebd., S. 210f. Der philosophische Eklektizismus „erscheint aber immer wieder als eine Form der Philosophie, die besonders in schwierigen Phasen der Geistesgeschichte, in Zeiten dogmatischer Verhärtung, manifest wird.“ (Ebd., S. 223)
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Respekt vor der Tradition als Argument gegen die Moderne sowie gleichzeitig über das Vergangene mit der Absicht hinausgehen, es im Zuge der Aktualität zu begreifen, markiert das Verständnis eines produktiven Eklektizismus an dieser Stelle. Der Auswahl aus Gegebenem geht so auch immer eine Auslegung und Interpretation, in diesem Falle des Pazifismus durch Olden, voraus. Hier zeigt sich ein Moment der „Unterbrechung der dogmatischen Tradition, ihrer praktischen Umsetzung oder ihrer Neuorganisation nach Maßgabe der philosophischen Gegenwart“49 im Sinne der angedeuteten Orientierungssuche am Ende des Ersten Weltkrieges. Versöhnung bzw. Vereinigung bilden die Schlüsselbegriffe eines eklektischen Sowohl-als-auch, wobei dies die Anerkennung von Verschiedenheiten voraussetzt. Es findet zugleich eine (Selbst-) Reflexion statt, was ein „Stück intellektueller Selbsterkenntnis bzw. -entfaltung“50 darstellt. Nicht die Verfolgung revolutionärer Ziele steht im Vordergrund, sondern das Erreichen reformatorischer Fortschritte. Dies geht optimistisch mit der Überwindung jeglicher politischen Dogmatik einher. Das eigene Nachdenken „geschieht jeweils in Richtung auf einen zu leistenden Ausgleich/Kompromiß.“ Damit ist das Wort eines (produktiven) Eklektizismus abschließend mit Bedeutung gefüllt und erklärt. Von hier aus wird die Rolle Oldens als pazifistisch gesonnener Journalist und Bildungsbürger weiter charakterisiert werden.51 Zugleich weisen jene Festlegungen auf das Verständnis einer Ideengeschichte hin, das mit Hermann Heller weiter operationalisierbar ist und zur näheren Beschreibung der historischen Figur Olden wird beitragen können. Doch zuvor rückt methodisch die im Bereich der Geschichtswissenschaft angesiedelte Cambridge School in den Mittelpunkt. Der 1969 von Quentin Skinner veröffentlichte methodologische Aufsatz Meaning and Understanding in the History of Ideas sowie sein umfang- und einflussreiches Buch The Foundations of Modern Political Thought aus dem Jahre 1978 bedeuteten eine Neubegründung der politischen Ideengeschichte. Die sogenannte Cambridge School of Intellectual History stellt bis heute eine Alternative zur begriffsanalytischen politischen Philosophie dar. Die Intellectual History geht von der Grundannahme aus, dass klassische Werke der (politischen) Philosophie, politische Traktate, Texte und Artikel usw. stets aus ihren zeitgenössischen Debatten heraus verstanden und interpretiert werden müssen. Dabei ist der Bezug bzw. das Verhältnis zu anderen, dem Diskurs zugehörigen Texten, essentiell. Die Interpretation von Texten müsse auf zwei Ebenen stattfinden: Erstens gelte es, die semantische Bedeutung zu erfassen, zweitens die Motivlage zu ergründen. Skinner spricht von den beiden Aspekten der auktorialen Intention. Es geht darum, herauszufinden, was der Autor mit seinem Text zu sagen beabsichtigte, aber sich ebenso zu vergegenwärtigen, wie er seine Argumente und Aussagen gemeint hat. Entscheidend ist das Verständnis dafür, warum in einem Text eine Behauptung aufgestellt worden ist, bevor wir die Aussage selbst verstehen können. Äußerungen in einem bestimmten Text sind als (persönliche) Standpunkte innerhalb eines expliziten Diskurses zu ver-
49 Schneider, in: Steffens (1992): S. 214. 50 Hellenthal (1993): S. 85. Folgendes Zitat ebd., S. 88. 51 Vgl. Schneider, in: Steffens (1992): S. 208–221; Hellenthal (1993): S. 84–89.
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stehen.52 In erster Linie geht es im Sinne der zweiten Ebene auktorialer Intention „um ein Geflecht von wechselseitigen Beziehungen und Einwirkungen zwischen einem Text und gewissen anderen Texten“. Zum Verständnis bedarf es der Rekonstruktion von intertextuellen und kontextuellen Zusammenhängen. So ist die auktoriale Intention feststellbar. Die Beiträge Oldens gilt es zunächst so zu kontextualisieren, dass ihre Stoßrichtung innerhalb eines bestimmten Diskurses sichtbar wird. Der Kontext fungiert als Entscheidungsinstanz. Problematisch ist allerdings die Zuschreibung bzw. Identität von Diskursen allein durch sprachliche Merkmale. Der Sprache wird eine zu stark erklärende Bedeutung beigemessen, d.h. Autoren können nicht nur einer politischen Sprache zugeordnet werden. Vielmehr kombinieren sie Argumente unterschiedlicher Art. Der Diskurs wird als eine Verknüpfung von Texten definiert. Die Verengung auf einen allein sprachlichen Kontext erscheint letztlich kritikwürdig, da eine Vielzahl von Kontexten möglich ist. Insofern bleibt Skinners Kontextbegriff unscharf, wenn er Texte ausschließlich vor deren intertextuellen Kontext liest. Dies muss den Hintergrund für die Erschließung der Beiträge und deren Verständnis bilden. Die Verknüpfung von politischen Ideen zeigt ein Problembewusstsein des Autors, seine Motivlage. Praktisch erfolgt eine Anregung. Er steht bereits in einem diskursiven Zusammenhang mit unterschiedlichen ideengeschichtlichen Einflüssen, denen er sich bedient. Es bleibt die textzentrierte Frage nach der Urheberschaft, die an Oldens Beiträge zu richten ist. Gleichzeitig findet dadurch eine Rezeption statt. Auch er unternahm zunächst eine persönliche Auslegung von Texten, was ihn selbst zum Rezipienten machte. Beides in Verbindung betrachtet, ermöglicht das Verständnis seiner ideengeschichtlichen Perspektive. Wie ein späterer Text einen früheren rezipiert, ist entscheidend. Da jede Rezeption den Sinn des rezipierten Textes im Rahmen der eigenen Problemlage verschiebt, wird der Autor selbst Produzent einer neuen politischen Idee, die selbst wiederum eine Rezeption erfährt.53 Primär werden die zahlreichen Artikel und Kommentare, die Olden zwischen 1918 und 1933 in unterschiedlichen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht hat, mittels einer immanenten Methodik analysiert und eingeordnet, auch wenn der Kontext seine Bedeutung an sich nicht verliert. Er wird jedoch nicht rein linguistisch verstanden. Als zeithistorische Kategorie behält er seine Bedeutung. Dokumente aus seinem persönlichen Nachlass sowie den Nachlässen von Zeitgenossen dienen in Ergänzung der Rekonstruktion der Motivlage. Welchen Wert die Autoren-Intention zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragestellungen überhaupt hat, bleibt fraglich. So lassen sich seine Texte und Beiträge zwar linksliberal interpretieren, aber ob dahinter eine entsprechende Intention stand, muss fraglich bleiben.54 An diesem Punkt gilt es, die Ideenkreise Hermann Hellers mit jener operationalisierten Anlage von Intellectual History zusammenzuführen und für die intellektuelle Biographie Oldens argumentativ fruchtbar zu machen.
52 Vgl. Heinz/Ruehl (2009): S. 253ff. Folgendes Zitat ebd., S. 14. 53 Vgl. Llanque (2008): S. 3–9. 54 Vgl. Olesen, in: Busen/Weiß (2013): S. 54–59.
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Hellers ideengeschichtliche Argumentation formulierte den Anspruch, in das „chaotische Durcheinander der entgegengesetztesten Behauptungen, Forderungen, Schlagworte und Aktionen“55 Struktur zu bringen. Politische Ideen haben darüber hinaus in seiner Vorstellung immer gesellschaftliche Wirksamkeit. Ausgehend von dieser Beobachtung versuchte Heller allerdings nicht die eine dominierende Idee für die Gegenwart zu begründen. Vielmehr ging es ihm um eine schlüssige Verknüpfung von Ideen, um Pluralität. Zu unterscheiden seien fünf Ideenkreise: der monarchische, der demokratische, der liberale, der nationale sowie der sozialistische. Ihre gemeinsame Wurzel liege gerade in der Suche nach einem Ordnungsprinzip („ordre naturel“) für die Gesellschaft. Sie bedingen sich gegenseitig, greifen ineinander und konkurrieren letztlich aber im tagespolitischen Kampf um die Auslegung des ordre naturel. Vor allem darin sah Heller den Kern der politischen Konflikte innerhalb der Republik. Alle fünf Ideenkreise böten verschiedene Lösungen an, um die ordre naturel zu realisieren. Jedoch seien gleichzeitig alle darauf angewiesen, Elemente anderer aufzunehmen. So wird beispielsweise der Liberalismus „in der Idee individueller Menschenrechte fortbestehen müssen, oder aber die Gesamtkultur löst sich auf.“56 Aus eigener Kraft vermag er keine politische Mobilisierung mehr zu erreichen, war der Ansehensverlust des Parlamentarismus in Weimar zu groß. Angesichts der Erfahrung des Weltkrieges müsse die Nationalidee z.B. in einer umfassend europäischen Ordnung aufgehoben werden. Insgesamt diagnostizierte Heller eine „Krise der rationalistischen Politikmittel“, ein Befund, den Olden später in Bezug auf den Nationalsozialismus ebenfalls vornehmen wird. Letztlich, so Heller, entscheide die avisierte ordre naturel, wie plausibel und akzeptabel jene Mittel und Institutionen sind, die aus ihrem politischen Denken heraus Handlungsvorschriften aufstellen. Die Krise der parlamentarischen Demokratie fußte so, in der Anschauung Hellers, auf der Krise rationaler, politischer Instrumente: Verfahren, Kompromisse, Mehrheitsentscheidungen und Rechtsstaatlichkeit galten als verbrämt. Um die innergesellschaftlichen Probleme in Zukunft bewältigen zu können, brauche es die Kooperation der unterschiedlichen Ideenkreise. Ihr volles Potenzial könnten sie nur in einer Verknüpfung erreichen, so die ambitionierte ideengeschichtliche Argumentation Hellers, die in der Gesamtschau für Oldens Gegenwartsanalyse ebenfalls typisch sein wird. Auf eine Erweiterung der ideengeschichtlichen Erkundung staatsrechtlicher Begriffe wird Olden aber im Gegensatz zu Heller verzichten.57 Ohnehin erfolgt der Rückgriff auf Heller stärker unter dem Aspekt der Einordnung von Oldens journalistischer Arbeit insgesamt und deren ideengeschichtlichem Gehalt. Sollte er selbst explizit auf den Juristen und Staatsrechtler verweisen, wird dies im Laufe der weiteren Ausführungen darzustellen sein. Die Frage der Intellektualität bezieht sich zunächst auf eine anwendungsorientierte Definition. Zeitgenössische Bestimmungen werden aufgrund ihrer negativen Konnotation und ideologischen Aufgeladenheit als unbrauchbar angesehen. Grund55 Heller (1926): S. 269. Folgendes Zitat ebd., S. 281. 56 Llanque, in: Ders. (2010): S. 97. Folgendes Zitat ebd., S. 99. 57 Vgl. Schluchter, in: Müller, C./Staff (1985): S. 29–31; Ebd., S. 95–100.
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sätzlich erfolgt eine wertneutrale Festlegung des Intellektuellen, die nicht durch inhaltliche Aussagen oder gesellschaftliche Funktionen determiniert ist. Parallel dazu ist der Begriff von der Selbstzuschreibung der Akteure zu lösen. In einer vergleichenden Studie von Stefan Collini über die Intellektuellen in Großbritannien kann eine derartige Definition vorgefunden werden. Sie ist zugleich durch vier Merkmale beschrieben. Erstens müsse der Intellektuelle sich durch angesehene Leistungen in seinem jeweiligen Betätigungsfeld auszeichnen. Dabei bedarf die Wertschätzung den Bezug zu seiner kreativen, analytischen oder wissenschaftlichen Fähigkeit. Sein Publikum sollte der Intellektuelle zweitens über Kanäle bzw. Medien erreichen, die nicht nur von seinen Fachkollegen gelesen bzw. konsumiert werden. Die Breite im medialen Zugang in der öffentlichen und gesellschaftlichen Wahrnehmung ist entscheidend. Dies korrespondiert drittens mit dem Element einer erfolgreichen Artikulation von Interessen bzw. Problemlagen, die sein Publikum bewegt. Letztlich braucht es die gesellschaftliche Reputation, Konstruktives zu (politischen) Herausforderungen sagen und schreiben zu können. Eine Einschränkung auf das Feld des Politischen erscheint darüber hinaus sinnvoll, auch wenn Collini selbst von general concerns spricht.58 Dies muss im Zusammenspiel mit dem sozialen Diskussionsmilieu und der Rolle des einzelnen Intellektuellen kombiniert werden. Im Intellektuellenmilieu werden die Ideen nicht nur produziert, entwickelt bzw. gedacht, sondern der Versuch einer Durchsetzung unternommen. Sie suchen nach geeigneten Organisationsformen, um diese zu verbreiten. Damit werden die Intellektuellen zum Protagonisten. Beides fällt in einer Person zusammen. Innerhalb ihres sozialen Umfelds agieren sie als Produzenten und Protagonisten von (politischen) Ideen.59 Die öffentliche Praxis bzw. das reale Handeln rückt in den Mittelpunkt. Ein individuelles Krisenempfinden gibt zunächst Anlass dafür, Kritik zu üben. Die sich womöglich nur anbahnende Bedrohung des öffentlichen Konsenses verlangt letztlich eine konkrete Ausdeutung. Der Intellektuelle als Protagonist der Öffentlichkeit wähnt sich von daher im Besitz einer erfolgreichen Krisenlösungsstrategie, an deren Ende eine neue Routine gesellschaftlicher Werthaltung steht.60 Olden wird mit seiner Vorstellung von Pazifismus daran zu messen sein. Die Organisation politischer Öffentlichkeit für den einzelnen Intellektuellen ist durch Kritik und Teilhabe gekennzeichnet. Es erfolgt eine Infragestellung der politischen und/oder sozialen Ordnung, die systematische Reflexion des eigenen Denkens und Handelns sowie die gezielte politische Einflussnahme durch das Knüpfen von kommunikativen Netzwerken oder der Übernahme konkreter politischer Mandate in Re-
58 Vgl. Collini (2006): S. 52. 59 Vgl. Bluhm/Reese-Schäfer (2006): S. 7. 60 Vgl. Franzmann (2004): S. 15–19. „Der Intellektuelle ist insofern charismatisierungsbedürftig, als er in seinem Räsonnement ein Krisenlösungsversprechen abgibt, für dessen Gelingen er noch keine rationalen Gründe anführen kann. Er braucht eine Quelle der Charismatisierung. Erst im bedingungslosen Glauben an diese Quelle gewinnt er die vorgreifende Souveränität, die er zur Entwicklung eines konkreten Krisenlösungsversprechens benötigt und ihn sein öffentliches Propagieren durchhalten lässt.“ (Ebd., S. 17)
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gierung, Parlament oder Verwaltung. Kritik und Mandat stehen in temporärer und situativer Wechselwirkung.61 Sie dienen zugleich als Einordnungskriterium. Als Wissenschaft zielt man zwar auf eine Definition des Intellektuellen. Diese erfolgt jedoch nicht ad hoc. Was der Begriff einschließt, kann verschiedene Dimensionen umfassen. Die soziale wie politische Positionierung ist entscheidend. Die Tätigkeit des Definierens ist integraler Bestandteil des Intellektuellendiskurses. Dies sollte bei der Beantwortung der Frage, ob Olden ein Intellektueller ist, zu denken geben, erweist sich das Durcharbeiten anhand unterschiedlicher Personen und Milieus als eine permanente Festsetzung neuer Definitionen. Weist dies auf eine Identitätskrise des Intellektuellen hin, auf eine Krise seiner politischen wie sozialen Positionierung? Mit jeder weiteren Definition, die im Interesse der Identitätsfindung gesetzt wird, bekommt der Begriff neue „Bedeutungstrabanten“. Somit ist er einer starken Dynamik unterworfen. Gleichzeitig ist ein Hang zur Verallgemeinerung eines singulären Falles (Dreyfus-Affäre) festzustellen.62 Was allerdings unter „einem Intellektuellen verstanden wird, ist niemals von vornherein festgelegt, sondern hängt von spezifischen geschichtlichen Konstellationen und Möglichkeitshorizonten ab.“63 Der Sozialtypus des Intellektuellen ist somit an wechselnde Rollenverständnisse gebunden und auf kulturelle Resonanz angewiesen. Womöglich kann allenfalls von einer „epochalen Stabilisierung“ des Begriffs gesprochen werden, kündigt sich u.a. nach Dietz Bering64 eine weitere Wandlung der Rolle an. Schon im Zuge der SPIEGEL-Affäre 1962, nicht zuletzt aber durch die Studentenbewegung 1968 deutete sich ein erster Rollenwechsel als Indikator für die damals zunehmende Integration des Intellektuellen in die politische Kultur an. Ihre Aktivitäten wurden zunehmend institutionalisiert, ein Engagement für Parteien relevant. Intellektuelle galten fortan als legitime Akteure in der politischen Arena. Der neue Typus des Bewegungsintellektuellen65 entstand. Die gesellschaftliche Rolle und ihre strukturellen Voraussetzungen sind ein wesentliches Indiz dafür, dass Intellektueller-sein weit mehr bedeutet, als eine moralische Einstellung zu haben bzw. zu entäußern oder eine (kritiksensible) berufliche Geistesarbeit auszuüben. 66
Kritik und Mandat kamen zeitgeschichtlich zusammen und bildeten den Bezugsrahmen für die Problematik. Nach Pierre Bourdieu67 werden die Mitglieder der Inte61 62 63 64 65
Vgl. Hertfelder (2000): S. 21; Hübinger (2000): S. 35. Vgl. Schlich (2000): S. 1–9; Zitat ebd., S. 7. Kroll/Reitz (2013): S. 11. Folgendes Zitat ebd. Vgl. Bering (2010): S. 491–520. Entscheidend war die Bildung von Gegeninstitutionen (H.M. Enzensberger). Kritik müsse praktisch werden. Die Beziehung zwischen dem, was man tut und was man denkt werde zentral. Appelle, Manifeste und Aufrufe reichen nicht mehr aus. Wertsetzung allein wird unzureichend. Protest und Kritik muss nicht nur artikuliert, sondern in sozialen Bewegungen synchronisiert werden. Vgl. Gilcher-Holtey (2013): S. 47–51. 66 Ziemann (2013): S. 155. 67 Vgl. Bourdieu (2008): S. 524. Zu Intellektuellen werden Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler nur, wenn sie „über eine spezifische Autorität“ verfügen, die ihnen eine „autonome Welt verleiht“ und wenn sie „diese spezifische Autorität in politischen Auseinandersetzungen“ geltend machen.
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lligenz durch ihre Intervention in das politische Feld zu Intellektuellen. Den Typus definiert die Form der Einmischung. Die intellektuelle Praxis ist schließlich auch von Begrenzungen begleitet. So wird sie als eine sekundäre Rolle verstanden und tritt hinter die soziale Position, im Falle von Olden die des Journalisten beispielsweise, zurück. Zur Durchsetzung braucht es die Reputation der beruflichen Anerkennung. Intellektueller ist man somit nicht permanent.68 Es wird sich zeigen müssen, welches Rollenmodell auf Olden in der Zwischenkriegszeit zutraf bzw. inwiefern er in das Spannungsfeld aus Kritik und Mandat eingeordnet werden kann. Der Aufbau folgt letztlich einem zweigeteilten chronologischen Muster. Zu Beginn werden die Verschiebungen pazifistischen Denkens im und durch den Ersten Weltkrieg dokumentiert (2.1) und die mit Ende des Krieges zahlreich auftretenden Organisationen idealtypisch charakterisiert. Anhand ihrer inhaltlichen Positionierung bzw. Ausrichtung, ihrer führenden Köpfe und ihrer Mitgliederstruktur gilt es ausgewählte Organisationen näher zu charakterisieren (2.2). Die Auswahl richtet sich nach der Relevanz und Bedeutung der Verbände im Weimarer Kontext. Als die mitgliederstärksten Organisationen rücken zunächst die Deutsche Friedensgesellschaft (DFG) und der Friedensbund Deutscher Katholiken (FDK) in den Mittelpunkt. Letzterer ist schließlich zum Bund Religiöser Sozialisten (BRS) in Beziehung zu setzen. Um die inhaltliche Breite und Vielfalt des radikalen Antimilitarismus zu verdeutlichen, werden sowohl der Bund der Kriegsdienstgegner (BdK) als auch der Friedensbund der Kriegsteilnehmer (FdK) im Vergleich zur Gruppe Revolutionärer Pazifisten (GRP) idealtypisch darzustellen sein. Für die ausschließlich außenpolitisch orientierte rechte Fraktion wird die Deutsche Liga für Völkerbund (DLV) analysiert. Abschließend wird der Bund Neues Vaterland (BNV) betrachtet, da Olden ab etwa 1927 zu ihm stieß, als er bereits in die Deutsche Liga für Menschenrechte (DLM) umbenannt worden war. Insgesamt muss dieses Kapitel stärker als eine allgemeine Überblicksdarstellung zum Weimarer Pazifismus gesehen werden. Es öffnet das diskursive Feld, macht idealtypische Trennungen und setzt sich nicht mit der Beziehung Oldens zu einzelnen Verbänden auseinander. Eine inhaltliche Verbindung und Auseinandersetzung findet erst innerhalb der einzelnen Kapitel statt, die jeweils einen thematischen Schwerpunkt haben. Das Kapitel zu Kindheit und Jugend verortet ihn um die Jahrhundertwende im Umfeld Jung-Wiens und deren spezifisch kulturkritischer Rezeption einer (politischen) Moderne (3). Es zeigt Olden in persönlicher Bekanntschaft zu Arthur Schnitzler und Jakob Wassermann sowie seine eigene Identitätskrise mit Blick auf die politische Kultur des Kaiserreichs. In der Folge rückt der Weltkrieg und die dort gemachten Erfahrungen in den Mittelpunkt (4). Stellt dieser tatsächlich eine „entscheidende Prägung, die politische Bewusstwerdung und Bewusstseinsschärfung“69 dar? Kann von einer pazifistischen Politisierung gesprochen werden? Mit Ausbruch des Krieges erhoffte Olden eine Befreiung aus der Enge des eigenen Daseins, weshalb er sich als Kriegsfreiwilliger rasch an verschiedenen Kriegsschauplätzen wiederfand. Die mit zunehmender Kriegsdauer eintretende Ernüchterung 68 Vgl. Ziemann (2013): S. 161. 69 Finetti (2010): S. 90.
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führte keineswegs zur Auflösung der Identitätskrise. Insofern stellten die Ereignisse zwischen 1914 und 1918 weniger eine biographische Zäsur dar. Erst mit der Revolution wird ein langsamer politischer Emanzipationsprozess sichtbar. Die österreichische Sozialdemokratie sollte zu einer ersten politischen Heimat werden (5.1). Nicht zuletzt in Bezug auf den Pazifismus kam es hier zu ersten Anregungen. Die weiteren Kapitel umfassen die im Zeitverlauf stattfindenden Diskurse, zu denen Olden Stellung bezog. Die Vielzahl der Artikel werden hier entsprechend ihrer thematischen Zusammengehörigkeit geordnet, d.h. eine inhaltliche Verdichtung des Quellenkorpus vorgenommen. Die jeweiligen Diskurskapitel analysieren mit Hilfe des beschriebenen Instrumentariums die diskursiven Zusammenhänge, Rezeptionen und Motive. Die pazifistischen Diskurse spiegeln grundsätzlich außenpolitisch-völkerrechtliche Diskussionen sowie innenpolitische Themen wider.70 Von besonderer Relevanz war anfangs die Auseinandersetzung mit den Novemberereignissen in Deutschland. Olden ging es weniger um einen revolutionären Bruch, als vielmehr um eine evolutionäre Reformatik (5.1.1). Da sein Friedensbegriff ebenfalls eine innen- und eine außenpolitische Dimension aufweist, gilt es schließlich seine Haltung zum Versailler Vertrag im Allgemeinen (5.1.2) und seine Position zur deutschen Kriegsschuld im Besonderen (5.1.3) zu würdigen. Noch von Wien aus kommentierte er den Fortgang der deutschen Geschichte und kämpfte publizistisch für die neue Republik, deren Erhalt und Sicherung zum Lebensinhalt geworden war (5.2). Bereits 1923 sah er in Hitler und seiner Bewegung eine dauernde Gefahr für die Demokratie (5.2.1). Darüber hinaus wies er auf die Rolle und Bedeutung gesellschaftlicher Eliten hin, die ihre enorme Machtfülle zu missbrauchen suchten, um das politische System nach ihren Vorstellungen umzuformen. Hier geriet nicht nur die Reichswehr, sondern auch die Justiz in den Blick. Was Olden 1918/19 noch optimistisch mit einer neuen Erziehung der Gesellschaft verband, drohte fortwährend zu scheitern (5.2.2). Außenpolitisch arbeitete er die Bedeutung Europas heraus. Auf der Grundlage einer deutsch-französischen Aussöhnung verknüpfte er pazifistische Inhalte seiner Zeit mit der Idee eines Paneuropas (5.2.3). Welche zukunftsweisende Kraft bzw. Modernität in seiner Haltung lag, wird an einem anderen Punkt besonders klar. Indem er gemeinsam mit Hugo Bettauer als Herausgeber eine „erotische“ Revolution proklamierte, stellte er die noch herrschenden Wert- und Moralvorstellungen massiv infrage (5.3). Erstmals sollte er den Charakter einer restriktiven Strafverfolgung am eigenen Leib verspüren. Als Siegfried Jacobsohn ihn schließlich 1926 zurück nach Deutschland holte, begann, zunächst bei der Weltbühne, seine zweite Karriere. Markant für die Berliner Jahre war fortan die Verknüpfung seiner journalistischen Arbeit mit praktischer Rechtshilfe. Anfangs noch aus der Rolle eines Beobachters, kommentierte er für das Berliner Tageblatt die juristische Aufarbeitung der Vorgänge um die paramilitärischen Einheiten der Reichswehr (6.1.1). Dies trug nochmals zu seiner Sensibilität für den Charakter der Justiz bei. Bereits an dieser Stelle sollte er ihr rechtsstaatliches wie moralisches Versagen vorwerfen. Besonders sichtbar wurde die Ein70 Vgl. Holl (1988): S. 153f.
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schränkung der Meinungs- und Pressefreiheit als ein Instrument gegen den Pazifismus in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre. Vor allem im Bereich der Rüstungspolitik wurden Prozesse unter dem Vorwand des Landesverrats angestrengt. Olden stritt nicht nur für eine Reform des Justizwesens, sondern griff selbst als Jurist in das Geschehen ein, indem er Carl von Ossietzky im sogenannten Weltbühne-Prozess verteidigte (6.1.2). Hier verband sich exemplarisch systematische Justizkritik mit pazifistischer Kritik an der Reichswehr. Die Vorstellung einer Verbindung von Humanität und Gerechtigkeit zeigt sich besonders in seinem Engagement für die DLM, in deren Auftrag er anwaltlich tätig war (6.1.3). So wenig die Justiz zu einem innenpolitischen Frieden beitrug, umso wichtiger erschien ihm die demokratische Erziehung der Jugend. Gerade die künftigen Eliten in Staat und Gesellschaft sind aufgefordert, die Republik auch geistig und ideell zu tragen. Jedoch musste Olden das Scheitern seines Ideals einer demokratischen Volksbildung konstatieren (6.2.1). Eine alt-preußische, vaterländische Gesinnung war vor allem unter den Studenten weiterhin stark verbreitet und anschlussfähig. Gleiches galt für die Reichswehr, sodass sich Olden für eine Reform der Wehrverfassung einsetzte. Eine Demokratisierung des Militärs müsse das Ziel sein. Sie soll ein Instrument zur Verteidigung des Staates sein, vor allem in seiner republikanischen Verfasstheit. In diesem Kontext stellte sich zudem die Frage nach einem gesellschaftlichen Wehrkonsens. Die Forschung spricht von der These einer bellizistischen Republik.71 Dies wird mit den Positionen Oldens zu kontrastieren sein (6.2.2). Nach dem Scheitern der Großen Koalition gilt es im Untersuchungszeitraum seine Haltung zur innenpolitischen Krise der Republik unter dem beginnenden Weimarer Präsidialregime (6.2.3) zu prüfen und insbesondere seine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dessen Antisemitismus (6.3) darzustellen. Dabei finden zwei Biographien Eingang in die Analyse, die aus der Feder Oldens selbst stammen, zum einen das Werk über Gustav Stresemann, dass er unmittelbar nach dessen Tod 1929 veröffentlichte und zum anderen ein Überblick über die politische Entwicklung Hitlers und die Bedeutung von Mein Kampf. Seit 1932 prägt letztlich die Berufung auf die Zeit der Romantik des frühen 19. Jahrhunderts in gewisser Weise seine Vorstellung von der deutschen Geschichte als Kampf um politische Freiheit. Der Ausblick wirft ein Licht auf die Zeit nach 1933. Bedeutsam ist, inwiefern die politischen Krisen der 1930er Jahre (Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland, Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund, Aufrüstung, Appeasementpolitik, erneuter Kriegsausbruch etc.) und die Exilerfahrung seinen Pazifismus verändert haben (7). Aus dieser Phase stammt zudem eine Publikation über den 71 Im Zentrum der Bellizismus-These steht der Versuch einer Neuinterpretation der geheimen Rüstungsbemühungen in der Weimarer Republik. Vor allem Bergien (2012) legte einen umfassenden Beitrag zur Neubestimmung des Verhältnisses von Militär, Staat und Gesellschaft vor. Obwohl der Leitbegriff eines republikanischen Bellizismus als „deutlich überzogen“ charakterisiert wurde, findet er Eingang in diese Untersuchung, wird er doch aus einem „ideengeschichtlichen Exkurs“ heraus, besonders mit Blick auf „die Motive führender Sozialdemokraten, erläutert.“ Ziemann (2012)
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Reichspräsidenten Paul von Hindenburg. Diese dient im Kontrast zu den preußischen Reformern der Jahre 1807 bis 1819 als Negativfolie einer altpreußischen, militaristischen Tradition, die die Geschicke der Nation spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts geistig wie materiell bestimmte und letztlich ihren Beitrag zum Untergang der Republik leistete. In einer abschließenden Schlussbetrachtung (8) werden die Forschungsergebnisse zusammenfassend dargestellt sowie auf geistesgeschichtliche Bezüge und ideengeschichtliche Linien eingegangen, die über eine rein biographische Schilderung des Lebens von Rudolf Olden hinausweisen. 1.3 FORSCHUNGSSTAND Arbeiten zu Rudolf Olden sind im Allgemeinen durch biographische Abrisse und Skizzen72, Darstellungen aus dem privaten Umfeld73 sowie Veröffentlichungen zur englischen Exilzeit74 geprägt. Umfangreiche Publikationen analysieren sein Leben und Wirken in Großbritannien zwischen 1933 und 1940; zusätzlich wurden einige Exilschriften und Privatkorrespondenzen75 aus dieser Zeit neu herausgegeben. Das Deutsche Exilarchiv widmete ihm unter dem Titel Rudolf Olden: Journalist gegen Hitler – Anwalt der Republik im Jahr 2010 eine Ausstellung. Zugleich markierte die Forschung verschiedene Rollenbilder, die dem historischen Subjekt, unabhängig vom konkreten zeithistorischen Kontext, zugeschrieben werden können. Als Journalist tritt uns Olden auch als Schriftsteller und Literat entgegen, der bereits vor dem Ersten Weltkrieg mit der Novelle Hildegard von F. und der Komödie Die Rückkehr nach Amerika erste literarische Gehversuche unternahm; 1924 thematisierte er beispielsweise als Herausgeber gemeinsam mit Hugo Bettauer in der Zeitschrift Er und Sie. Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik Fragen von Homosexualität, sexueller Gleichberechtigung oder Abtreibung.76 Obwohl Olden unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges sein zweites juristisches Staatsexamen ablegte, erhielt er erst 1929 seine Zulassung als Rechtsanwalt. Zuvor äußerte sich der juristische Hintergrund in regelmäßigen Kommentaren, beispielsweise zu den zahlreichen Meineidprozessen, zu den Bedingungen des Strafvollzuges oder den Eingriffen der Rechtsprechung in die Rechte des Verteidigers bei politischen Strafverfahren. Dementsprechend zeigt die Forschungsliteratur ein Interesse am Juristen.77 Auch die Rolle des Journalisten Olden steht im Mittelpunkt78, so z.B. in den grundlegenden Studien zum Berliner Tageblatt sowie dem Pariser Tageblatt.79 Arbeiten, die die politischen Implikationen und 72 Vgl. Greuner (1969); Wehrmann (1984); Finetti (1990); Brinson/Malet (1994); Müller (1999); Balke (2010); Asmus/Eckert (2010): S. 10–81. 73 Vgl. Seidel (2007); Sufott (2010): S. 81–87. 74 Vgl. Brinson/Malet (1995). 75 Vgl. Brinson/Malet (1987), (1990), (1994). 76 Vgl. Hall (1978). 77 Vgl. Blanke (1988); Krohn (1991); Müller (2010): S. 109–116. 78 Vgl. Finetti (1990); Finetti (2010): S. 87–108. 79 Vgl. Schwarz (1968); Sösemann (1976); Peterson (1987).
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ideengeschichtlichen Grundlagen seiner Beiträge analysieren und einordnen, fehlen bisher ebenso wie gesamt-biographische Darstellungen. Mit der Konzentration auf das Rollenbild des Pazifisten wird im Rahmen einer intellektuellen Biographie, die nicht das gesamte Leben behandelt, sondern den Intellektuellen Olden in der Weimarer Republik verortet, versucht, dieses Forschungsdefizit zu schließen. Neuere Darstellungen zum Pazifismus konzentrieren sich zunächst auf die Durchleuchtung theoretischer Prämissen und Konsequenzen. Mit dem Ziel einer Typologisierung findet eine Genese des Begriffes statt, der historische und ideengeschichtliche Elemente miteinander verknüpft.80 Es geht um eine zeitgemäße Interpretation, vor allem hinsichtlich der Herausforderung von sogenannten „Neuen Kriegen“ im 21. Jahrhundert gegen den international operierenden Terrorismus. Eine Wiederbelebung der Theorie des gerechten Krieges ist zu verzeichnen.81 Diese steht in einem Spannungsverhältnis zu friedensethischen Diskussionen82, wobei in der Debatte um die Leistungsfähigkeit des Konzeptes gerungen wird, gerade mit Blick auf die Rechtfertigung von Gewalt. Darüber hinaus hat sich mit Beginn des Jahrhunderts eine Perspektive der Friedenserziehung eröffnet, in der es um das Aufzeigen von Bedingungen geht, die friedensförderlich sind.83 Ziel sei die dauerhafte Begründung und Festigung des Friedens in der Welt. Hier offenbart sich in der Forschung eine sogenannte Aufbauperspektive, in der es nicht darum geht, im Negativen bzw. in der Abwehr stehen zu bleiben. Das Postulat, die „Waffen fort!“ sei unzureichend. Vielmehr müsse um die Überwindung von Strukturen, Verhaltensweisen und Mentalitäten gekämpft wer-
80 Vgl. Bleisch, Barbara/Strub, Jean-Daniel (Hrsg.): Pazifismus. Ideengeschichte, Theorie und Praxis, Bern 2006; Senghaas, Dieter (Hrsg.): Konstruktiver Pazifismus im 21. Jahrhundert, Wien/Berlin 2006; Brücher, Gertrud: Pazifismus als Diskurs, Wiesbaden 2008; Beyer, Wolfram: Pazifismus und Antimilitarismus. Eine Einführung in die Ideengeschichte, Stuttgart 2012; Sass, Hartmut: Politik des Pazifismus. Eine theologische Verteidigung, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik, 60.1 (2016), S. 41–47; Gerber, Hans-Ulrich: Vom anbrechenden Zeitalter der Gewaltfreiheit, in: Neue Wege, 108 (2014) Heft 7–8, S. 207–215; Hinsch, Wilfried: Die Moral des Krieges. Für einen aufgeklärten Pazifismus, München 2017. 81 Vgl. Giese, Martin: Vom gerechten Krieg zu humanitären Interventionen: Menschenrechte militärisch schützen? München 2010; Quante, Michael/Janssen, Dieter: Gerechter Krieg: Ideengeschichtliche, rechtsphilosophische und ethische Beiträge, 2. erg. Aufl., Münster 2017. 82 Vgl. Strub, Jean-Daniel/Grotefeld, Stefan (Hrsg.): Der gerechte Friede zwischen Pazifismus und gerechtem Krieg: Paradigmen der Friedensethik im Diskurs, Stuttgart 2007; Brücher, Gertrud: Pazifismus oder Ethik als soziale Bewegung, in: Sicherheit und Frieden 31 (2013) Heft 3, S. 119–125; Werkner, Ines-Jacqueline: Komplementarität als Königsweg christlicher Friedensethik? Kontroversen im Spannungsfeld von Pazifismus und militärischer Gewalt, in: Sicherheit und Frieden 31 (2013) Heft 3, S. 133–139. 83 Vgl. Haußmann, Werner (Hrsg.): Handbuch Friedenserziehung, Gütersloh 2006; Budzinski, Manfred (Hrsg.): Das Maß des Friedens ist der Frieden selbst: Konstruktiver Pazifismus im 21. Jahrhundert, Bad Boll 2008; Lenhart, Volker: Friedenserziehung im Hybridkrieg gegen den Terror, in: Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik, 39 (2016) 4, S. 16–19.
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den, die Frieden verhindern. Darunter wird zugleich eine Gender-Perspektive84 sichtbar. Von größerer Relevanz für das angestrengte Thema allerdings sind Arbeiten aus dem Bereich der Historischen Friedensforschung. Zu beachten ist zunächst eine Unterteilung in entsprechende Perioden: Pazifismus im Kaiserreich bis 1914 bzw. während des Ersten Weltkrieges, Pazifismus in der Zwischenkriegszeit sowie nach 1945 und in der Phase des Kalten Krieges bis 1991.85 Auf die ausführliche Darstellung eines Überblicks über die Forschungsergebnisse aus dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung wird an dieser Stelle jedoch absichtsvoll verzichtet.86 Von Bedeutung sind in diesem Kontext in erster Linie Darstellungen zu den pazifistischen Organisationen aus dem Umfeld der Friedensbewegung in der Zwischenkriegszeit. Dabei sind Überblickswerke87 ebenso zu berücksichtigen, wie Arbeiten zu einzelnen Verbänden und Zusammenschlüssen88. Gleiches kann auf den biographischen Zugang angewandt werden, wo das Forschungsfeld durch kollek-
84 Vgl. Hagemann, Karen (Hrsg.): Frieden – Gewalt – Geschlecht: Friedens- und Konfliktforschung als Geschlechterforschung, Frieden und Krieg Bd. 5, Essen 2005. 85 Überblicksdarstellungen zum Verhältnis von Frieden und Gewalt in der Staatenwelt im 20. Jahrhundert: Vgl. Steinweg, Reiner (Hrsg.): Lehren aus der Geschichte?, Frankfurt am Main 1990; Wette, Wolfram/Riesenberger, Dieter (Hrsg.): Militarismus und Pazifismus: Auseinandersetzung mit den deutschen Kriegen, Bremen 1991; Dülffer, Jost: Im Zeichen der Gewalt. Frieden und Krieg im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2003; Dülffer, Jost: Frieden stiften. Deeskalations- und Friedenspolitik im 20. Jahrhundert, Köln 2008; Bald, Detlev/Wette, Wolfram (Hrsg.): Friedensinitiative in der Frühzeit des Kalten Krieges 1945–1955, Essen 2010. 86 Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auf folgenden ausführlichen Literaturbericht: Vgl. Ziemann, Benjamin: Historische Friedensforschung. Literaturbericht, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 56 (2005) 4, S. 266–281; sowie auf folgende Überblicksdarstellung: Vgl. Ernstfall Frieden: Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914, Bremen 2016. 87 Vgl. Holl, Karl/Wette, Wolfram (Hrsg.): Pazifismus in der Weimarer Republik, Paderborn 1981; Riesenberger, Dieter: Geschichte der Friedensbewegung in Deutschland, Göttingen 1985; Benz, Wolfgang: Pazifismus in Deutschland, Frankfurt am Main 1987; Holl, Karl: Pazifismus in Deutschland, Frankfurt am Main 1988; Lipp, Karl-Heinz: Frieden und Friedensbewegung in Deutschland 1892–1992, Essen 2010; Lütgemeier-Davin, Reinhold: Friedensforschung – Pazifismus und Militarismus in Deutschland und Europa 1850–1945, in: H-Soz-Kult, 30.9.2013, http://www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte-1664. 88 Exemplarisch für den Dachverband des Deutschen Friedenskartell: Vgl. Lütgemeier-Davin, Reinhold: Pazifismus zwischen Kooperation und Konfrontation, Köln 1982. Zur DFG: Vgl. Scheer, Friedrich-Karl: Die Deutsche Friedensgesellschaft (1892–1933), Frankfurt am Main 1981; Appelius, Stefan: Zur Geschichte des kämpferischen Pazifismus, Oldenburg 1988; Grünewald, Guido: Nieder die Waffen!, Bremen 1992. Zur katholischen Friedensbewegung bzw. Frauenbewegung: Vgl. Riesenberger, Dieter: Die katholische Friedensbewegung in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1976; Wilmers, Annika: Pazifismus in der internationalen Frauenbewegung, Essen 2008. Zu Organisationen und Gruppen des religiösen Sozialismus: Vgl. Lipp, Karl-Heinz: Religiöser Sozialismus und Pazifismus, Pfaffenweiler 1995; Peter, Ulrich: Der Bund der religiösen Sozialisten in Berlin von 1919 bis 1933, Frankfurt am Main 1995; Baig, Yong-Gi: Bund der religiösen Sozialsten Deutschlands in der Weimarer Republik, Bochum 1996; Peter, Ulrich: Christuskreuz und Rote Fahne, Bielefeld 2002.
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tiv-biographische Ansätze89 sowie durch zahlreiche individuell bezogene Analyse90 gekennzeichnet ist. Für die Intellektuellengeschichte der Weimarer Republik existieren grundsätzlich klare Interpretationslinien. Schematisch finden diese ihren Ausdruck zunächst in einem rechts-links Modell, wenngleich die Ideenwirklichkeit der Zwischenkriegszeit komplexer war. Einfache politische Kennzeichnungen einzelner Intellektueller können nur unzureichend ihren Charakter beschreiben, vereinfachen aber zugleich die soziale Realität und machen diese greifbar, was letztlich auch mit Blick auf die Person Olden erhofft wird. Auf Basis welcher Zuschreibung lässt sich sein politischer Ordnungsbegriff definieren? Die Nähe oder Ablehnung eines Journalisten, Schriftstellers bzw. Künstlers zu einer bestimmten Partei greift aber für die Beantwortung dieser Frage zu kurz, selbst dann, als sich Olden in den Tagen der Novemberrevolution klar vom Kommunismus abgrenzte. Gerade sein Pazifismusbegriff macht durchaus Querverbindungen sichtbar, die im Exil ein Zusammengehen von sozialdemokratischen und kommunistischen Kräften postulierte. Das Aus89 Vgl. Habedank, Heinz: Der Feind steht rechts. Bürgerliche Linke im Kampf gegen den deutschen Militarismus, Berlin 1965; Greuner, Ruth: Gegenspieler, Berlin 1969; Donat, Helmut/Holl, Karl (Hrsg.): Die Friedensbewegung, Düsseldorf 1983; Harth, Dietrich/Schubert, Dietrich/Schmidt, Roland Michael (Hrsg.): Pazifismus zwischen den Weltkriegen, Heidelberg 1985; Bock, Sigrid: Die Waffen nieder! Schriftsteller in den Friedensbewegungen des 20. Jahrhunderts, Berlin 1989; Bockel, Rolf von: Kurt Hiller und die Gruppe Revolutionärer Pazifisten (1926–1933), Hamburg 1990; Wette, Wolfram (Hrsg.): Pazifistische Offiziere in Deutschland 1871–1933, Bremen 1999; Sirges, Thomas (Hrsg.): Die deutschen Friedensnobelpreisträger, Frankfurt am Main 2013; Lütgemeier-Davin, Reinhold: Köpfe der Friedensbewegung (1914– 1933), Essen 2016. 90 Vgl. Rauch, Hans: Die politische, die anthropologische und die theologische Begründung der Friedensidee in der Pädagogik Friedrich Wilhelm Foersters, Aachen 1985; Schulte, Franz Gerrit: Der Publizist Hellmut von Gerlach (1866–1935), München u.a. 1988; Bock, Nikola: Pazifismus zwischen Anpassung und freier Ordnung: Friedensdiskussion in der Weimarer Republik und die Gewaltfreiheitstheorie des holländischen Pazifisten Bart de Ligt, Hamburg 1991; Jansen, Christian: Emil Julius Gumbel, Porträt eines Zivilisten, Heidelberg 1991; Wolgast, Elke: Emil Julius Gumbel. Republikaner und Pazifist, Heidelberg 1992; Mertens, Lothar: Unermüdlicher Kämpfer für Frieden und Menschenrechte: Leben und Wirken von Kurt R. Grossmann, Berlin 1997; Max, Pascal: Kritik im Lebenswerk Friedrich Wilhelm Foersters, Stuttgart 1999; Grau, Bernhard: Kurt Eisner 1867–1919. Eine Biographie, München 2001; Brenner, Athalya: Emil J. Gumbel: Weimar German Pacifist and Professor, Leiden 2002; Hoschek, Maria: Friedrich Wilhelm Foerster (1869–1966), 3. Aufl., Bern 2006; Holl, Karl: Ludwig Quidde (1858– 1941). Eine Biographie, Düsseldorf 2007; Zirkel, Kirsten: Vom Militaristen zum Pazifisten. General Berthold von Deimling – eine politische Biographie, Essen 2008; Koch, Christoph (Hrsg.): Vom Junker zum Bürger. Hellmut von Gerlach – Demokrat und Pazifist, München 2009; Resch, Stephan: Widerstrebet nicht dem Bösen mit Gewalt: Die Rezeption des Tolstoischen Pazifismus bei Stefan Zweig, in: Neophilologus 96 (2012) 1, S. 103–120; Schütte, Uwe: Zwischen Pazifismus und Gewalt. Zur Genese der anarchistischen Utopie bei Erich Mühsam, in: Zagreber Germanistische Beiträge, Bd. 21(2012), S. 1–20; Boldt, Werner: Carl von Ossietzky. Vorkämpfer der Demokratie, Hannover 2013; Lütgemeier-Davin, Reinhold/Wolff, Kerstin (Hrsg.): Helene Stöcker. Lebenserinnerungen, Wien u.a. 2015; Münzner, Daniel: Kurt Hiller. Der Intellektuelle als Außenseiter, Göttingen 2015; Grünewald, Guido (Hrsg.): Alfred Hermann Fried: „Organisiert die Welt!“, Bremen 2016.
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bleiben einer solchen Achse habe den Sieg des Nationalsozialismus doch erst erleichtert, wenn nicht gar möglich werden lassen. Seine politische Verortung war nach Ende des Ersten Weltkrieges aber kaum definierbar. Ihren sozialliberalen Ausdruck fand sie erst im Laufe der 1920er Jahre, unter zunehmendem Kontakt zu pazifistischen Ideen bzw. Strömungen. Auf die Frage, ob wir Olden im Speziellen ebenso als Linksintellektuellen fassen können, sei auf die folgenden vier Aspekte verwiesen, die Daniel Münzner in seiner Arbeit über Kurt Hiller aufgestellt hat und anhand der sich das intellektuelle Milieu betrachten lässt: Erstens, der Protagonist bezeichnet sich selbst als links; zweitens, er tritt für die Gleichstellung von Mann und Frau sowie für soziale Gerechtigkeit ein; drittens, ist ein Bekenntnis zu Pazifismus und Antimilitarismus erkennbar und viertens, lehnt der Linksintellektuelle alle Formen des Antirationalismus ab, indem er sich dem Argument bzw. der Debatte verschreibt und damit gegen die (lebensphilosophische) politische Rechte opponiert. Fundamentalismus ist ihm fremd.91 Unter dieser Perspektive untersuchte man die Linksintellektuellen in der Weimarer Republik. Von Relevanz war hierbei ihre Demokratiekritik. Man sah sie weitestgehend als einflusslos an, agierten sie zudem noch mit zu starker Kritik gegenüber der Republik. Damit hätten sie zu ihrer Schwächung beigetragen. Auch sie seien die Totengräber der ersten deutschen Demokratie, so ein gängiges Deutungsmuster.92 Darin unterschieden sie sich angeblich nicht von ihrem rechten Widerpart im politischen Spektrum Weimars. Gleichzeitig gibt es jedoch auch Stimmen, die vor einer überzogenen Kritik an Tucholsky u.a. Literaten warnen, müsse ihre gesellschaftliche Rolle berücksichtigt werden. Trotz allem standen sie in einer demokratischen Tradition.93 In der neueren Forschung rückten in den vergangenen Jahren die Diskurse zwischen den politischen Lagern ins Zentrum, was dazu beitrug, Positionsänderungen im intellektuellen Selbstbild einzelner Akteure zu erfassen, gerade in Bezug auf politische Systemwechsel.94 91 Vgl. Münzner (2015): S. 24f. 92 Vgl. Laqueur, Walter: Weimar. Die Kultur der Republik, Frankfurt am Main u.a. 1976; Peukert, Detlev: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt am Main 1987; Bavaj, Riccardo: Von links gegen Weimar. Linkes antiparlamentarisches Denken in der Weimarer Republik, Bonn 2005; Büttner, Ursula: Weimar. Die überforderte Republik 1918– 1933, Stuttgart 2008; Kolb, Eberhard: Die Weimarer Republik, 7. durchges. u. erw. Aufl., München 2009; 93 Vgl. Lang, Dieter: Staat, Recht und Justiz im Kommentar der Zeitschrift Die Weltbühne, Frankfurt am Main 1996; Winkler, Heinrich August: Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, 15.–20. Tsd. Aufl., München 1998; Oswalt, Stefanie: Die Weltbühne. Zur Tradition und Kontinuität demokratischer Publizistik, St. Ingbert 2003. 94 Vgl. Bialas, Wolfgang: Intellektuelle in der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 1996; Gangl, Manfred/Raulet, Gérard (Hrsg.): Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage, 2. neubearb. u. erw. Aufl., Frankfurt am Main 2007; Wannenwetsch, Stefan: Unorthodoxe Sozialisten. Zu den Sozialismuskonzeptionen der Gruppe um Otto Straßer und des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes in der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 2010; Gallus, Alexander/Schildt, Axel (Hrsg.): Rückblickend in die Zukunft. Politische Öffentlichkeit und intellektuelle Positionen in Deutschland um 1950 und 1930, Göttingen 2011; Gallus, Alexander: Heimat „Weltbühne“. Eine Intellektuellengeschichte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2012.
2 DIE BÜRGERLICHE UTOPIE ZERBRICHT – PAZIFISMUS IM WELTKRIEG 2.1 PROGRAMMATISCHE NEUORIENTIERUNG: ÜBER DEMOKRATIE ZUM WELTFRIEDEN Mit Bestürzung und Lähmung reagierte die Friedensbewegung in Deutschland auf den Ausbruch des Krieges. Die pazifistische Selbsttäuschung wurde offenbar. Die Hoffnung auf ein vernünftiges Krisenmanagement in der Julikrise war Illusion. Der utopischen Interpretation der internationalen Politik lagen zwei Umstände zugrunde: defizitäre Kenntnisse über außenpolitische Vorgänge und eine den organisatorischen Pazifismus kennzeichnende Axiomatik, in der Krieg durch (wirtschaftliche) Verflechtungen und Interdependenzen nahezu ausgeschlossen werden könne. Gleichzeitig bildeten die ersten Wochen auch die Gelegenheit, die pazifistische Zuverlässigkeit einzelner Akteure zu prüfen. So wurde z.B. im Oktober 1914 die Verletzung der Neutralität Belgiens im Aufruf An die Kulturwelt auch durch führende Pazifisten gerechtfertigt. „In deutlicher Parallele zur Arbeiterbewegung war der deutsche Pazifismus im August 1914 bereit, sich in die allseits proklamierte Volksgemeinschaft zu integrieren und den Burgfrieden zu wahren.“1 Nationalistische Töne blieben nicht aus. Der vermeintliche, durch die deutsche Propaganda beschworene, Verteidigungskrieg wurde als legitim empfunden. Die bejahende Positionierung zum Verteidigungskrieg kennzeichnete bereits den Vorkriegspazifismus. Zwischen namenhaften Pazifisten zeigten sich erste Bruchstellen bzw. Spaltungstendenzen. Einige schworen jener Entwicklung ab, sahen sie keine erfolgreiche Möglichkeit mehr für ihre pazifistische Arbeit. Eine Emigrationsbewegung in die Schweiz war die Folge.2 Es schien als seien die vorhandenen Ansätze zu internationaler Verständigung und Zusammenarbeit für immer zerstört. Die in Deutschland verbliebenen Pazifisten suchten die Friedensbewegung über die Zeit des Kriegs hinweg, in eine neue Zeit zu retten, wenngleich sie in ihren Erwartungen enttäuscht wurden. Im Vertrauen auf die Vernunft der Großmächte hielten sie den Krieg für ausgeschlossen. Jedoch hatten sie niemals behauptet, dass Kriege in Zukunft unmöglich seien. Diese Entwicklungen schlossen die pazifistischen Reihen gleichsam; wer Anschluss suchte, tat dies aus Überzeugung und unter Kenntnis empfindlicher Nachteile. Jüngere männliche Mitglieder, die aufgrund ihres Militärdienstes für pazifistische Arbeit ausfielen, wurden durch junge Pazifistinnen ersetzt. Der Krieg verknüpfte die bürgerliche Frauenbewegung noch enger mit der Friedensbewegung.
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Jansen (2004): S. 69. Zur deutschen Emigration in die Schweiz im Ersten Weltkrieg: Vgl. Riesenberger (1988)
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Der Spielraum für aktive politische Betätigungen war zunächst so begrenzt, dass er auf humanitären Einsatz konzentriert wurde: Kriegsgefangenenhilfe, Flüchtlingsbetreuung in Ostpreußen, Verwundetenpflege und Hilfe in staats- und völkerrechtlichen Angelegenheiten bestimmten die Aktivitäten in der Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende. Jedoch wuchs mit der Erkenntnis, dass der Krieg nicht alsbald enden wird, die Bereitschaft, die vernachlässigte politische Tätigkeit zu stärken und über die neutralen Länder, abgerissene internationale Kontakte zu reaktivieren. Grundsätze für einen künftig dauerhaften Frieden sollten gemeinsam entwickelt werden.3 Die rasche Gründung neuer nationaler Friedensorganisationen auf allen Seiten dokumentiert das Bedürfnis nach politischen Konzepten einer zukunftsweisenden Friedensaktivität. Dem traditionellen Verständnis stand man mehr und mehr kritischer gegenüber. Es reifte die Überzeugung, dass an die Vorkriegssituation nicht wieder angeknüpft werden kann; zu fundamental seien die Veränderungen im internationalen System sowie im Verhältnis zwischen Innen- und Außenpolitik. Neben eher traditionellen Vorschlägen wie einer besseren Organisation der zwischenstaatlichen Beziehungen oder einer Föderation der europäischen Staaten gewannen neue Gesichtspunkte an Bedeutung, so die Notwendigkeit einer parlamentarischen Kontrolle über die Außenpolitik, die Einführung demokratischer Selbstbestimmung und Erkenntnis einer Wechselwirkung zwischen innerstaatlicher Struktur und außenpolitischen Verhalten.4
So kam es in Deutschland Mitte November 1914 in Berlin zur Gründung des Bund Neues Vaterland (BNV). Der internationale Austausch unter Einbeziehung des neu gegründeten BNV und der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG) fand im April 1915 auf der Haager Konferenz einen ersten Höhepunkt. Durch die Verabschiedung eines Minimalprogramms legte man einen wichtigen Grundstein für alle weiteren Diskussionen. Große öffentliche Aufmerksamkeit erlangte in etwa zur gleichen Zeit ein internationaler Frauenkongress, der sich ebenfalls mit Fragen einer künftigen Friedensordnung befasste, erstmals Forderungen nach Parlamentarisierung und Demokratisierung5 stellte und sie mit gleichen politischen Rechten für Männer und Frauen verband. Deutsche Pazifistinnen schlossen sich im Deutschen Frauenausschuss für dauernden Frieden im Rahmen des auf dem Kongress gegründeten Internationalen Friedensausschuss für dauernden Frieden zusammen. Im Widerspruch zu den beiden Neugründungen übernahm die DFG dessen Forderung nicht. Priorität habe es, die äußere Politik zu internationalisieren. Die Demokratisierung könne umso schneller erfolgen, je mehr die Außenpolitik auf gegenseitigem Vertrauen basiere. Daran hielt man bis ins Frühjahr 1917 fest. Mit dem Einsetzen der Kriegszieldiskussion in der deutschen Innenpolitik, die sich vor allem am Annexionismus entzündete, wurde auch die Verfolgung der Pazifisten betrieben. „Für den Zeitraum zwischen Ende 1915 und Mitte 1917 kann von einer Treibjagd der Behörden auf Pazifisten“ gesprochen werden. Verschärfte 3 4 5
Vgl. Eisenbeiß (1980): S. 93–112; Holl (1988): S. 103–112. Riesenberger (1985): S. 100. Die folgenden Zitate ebd., S. 108 und 114. Vgl. ebd.: S. 103.
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Brief- und Pressezensur, Einschränkung der Versammlungsfreiheit, intensive Observierung, Publikationsverbote und Festnahmen waren die Folge und förderten die Radikalisierung der Friedensbewegung. Forderungen nach inneren Reformen und einer neuen Außenpolitik verschmolzen immer mehr. Die vorhandenen Organisationen waren aber organisatorisch weitgehend funktionsunfähig. Eine Art Ersatzorganisation stellte die Gründung der Zentralstelle Völkerrecht (ZV) dar. „Unter der Belastung des Krieges und unter dem Druck der staatlichen Zensur- und Repressionspraxis war die organisatorische Einheit der Friedensbewegung zerbrochen;“ Zugleich förderte der Weltkrieg die Entstehung radikaldemokratischer und -pazifistischer Anschauungen und Bewegungen. Vor allem die Schweizer Emigranten bildeten mit der Vereinigung deutscher Republikaner ein intellektuelles Gegenzentrum. Primär ging es ihnen um die Behandlung der Kriegsschuldfrage, die Zerstörung des preußisch-deutschen Militarismus und die Durchsetzung einer Demokratie im Reich. Die allgemeine Funktionalisierung des Verhältnisses von Demokratie und Frieden konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß bei diesen Gruppen das universale Programm des deutschen Pazifismus zur Anklage gegen das 'schuldige' Deutschland, zum politischen Kampf gegen den preußischen Militarismus und das herrschende Regierungssystem erstarrte.6
Der DFG fiel es im Vergleich zu den stärker sozial- und innenpolitisch ausgerichteten Neugründungen eher schwer, ihre Einstellungen zur Innenpolitik den neuen Gegebenheiten anzupassen. Erst die Februarrevolution in Russland führte zum Postulat innenpolitischer Erneuerung, wenngleich keine republikanische Staatsform verlangt wurde.7 Insgesamt sah sich die deutsche Friedensbewegung mit einem Prozess der Auflösung ihrer politisch-ideologischen Einheit konfrontiert, die den Vorkriegspazifismus maßgeblich auszeichnete. Begünstigt wurde dieser durch das veränderte Verhältnis von Pazifismus und Sozialdemokratie. Die Völkerbund-Konzeption des USPräsidenten tat ihr übriges, fiel es dem traditionellen Pazifismus doch leicht, sich mit dieser Idee zu identifizieren. Die klassischen, in den Hintergrund geratenen, Vorstellungen wurden unter diesem Vorzeichen neu rezipiert. Der Wandlungsprozess des deutschen Pazifismus im Weltkrieg zeigte folgende Ergebnisse: Einen breiten Einfluss auf die gesellschaftliche Masse konnte keine Organisation erringen. Die Wirkungskraft pazifistischer Ideen war Folge einer wachsenden Kriegsgegnerschaft und seit 1917 einer größer werdenden Kriegsverdrossenheit und Friedenssehnsucht. Der zu Kriegsbeginn als Chance begriffene Burgfrieden war Illusion. Innenpolitische Reformforderungen und kontroverse Kriegszielvorstellungen verschärften die Spannungen erneut und führten zur gesellschaftlichen Polarisierung, die in der Weimarer Republik zur Diffamierung der Pazifisten als Landesverräter kulminierte. Die Gründung neuer Organisationen flexibilisierte die Arbeitsweise der Verbände. Es wuchs die Einsicht eines Zusammenhanges zwischen Innen- und Außenpolitik. Interaktionen zwischen bürgerlichen und sozialistischen Friedensfreunden nahmen 6 7
Scheer (1981): S. 336. Vgl. Eisenbeiß (1980): S. 138–155; Holl (1988): S. 112–132; Riesenberger (1985): S. 98–123.
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zu. Die volle Entfaltung dieser Resultate zeigte sich jedoch erst in der Nachkriegszeit in politisch-ideologischer und organisatorischer Ausdifferenzierung, die im folgenden Abschnitt idealtypisch umrissen wird.8 2.2 ORGANISATORISCHE VIELFALT – KRIEG UND REVOLUTION ALS PAZIFISTISCHER KATALYSATOR Die im Krieg durch behördliche Repressionen und programmatische Defizite der DFG begonnene Auffächerung der pazifistischen Organisationen fand unmittelbar nach Kriegsende ihre Fortsetzung. Ideologisch wie politisch war die Homogenität des Pazifismus zerbrochen. Mitgliederstruktur und inhaltliche Positionen wandelten sich. So wurde die theoretische Konzeption eines auf den zwischenstaatlichen Bereich fokussierten Friedensbegriffs durch die Sozialdemokratie zur Auseinandersetzung mit innergesellschaftlichen Themen ergänzt. „Gleichwohl kam die Umorientierung keinem Bruch gleich; das Mitgliederreservoir wurde lediglich durch sozialistische Kräfte erweitert.“9 Im Übergang zur Republik ist vielmehr die teilweise personelle und thematische Kontinuität kennzeichnend. Die im Krieg neu gegründeten Organisationen waren auch keineswegs bereit, ihre erworbene Selbstständigkeit aufzugeben. So entstand im Mai 1919 aus dem Frauenausschuss die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF). Die einsetzende Kriegsschulddiskussion führte alsbald zur Polarisierung; diese zeigte erstmals auf einer gemeinsamen Versammlung der DFG und ZV im Juni 1919 Wirkung, an deren Ende die Auflösung der Zentralstelle stand. Darüber hinaus blieb die Republik mit Blick auf die unterschiedlich verarbeiteten Kriegserlebnisse gespalten: Radikaler Antimilitarismus stand der Schützengrabennostalgie eines Ernst Jüngers gegenüber. Dem durch Veteranenverbänden, wie dem Stahlhelm, gepflegten militärischen Traditionalismus sollte etwas entgegengesetzt werden. Im Herbst 1919 gründeten u.a. Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky den Friedensbund der Kriegsteilnehmer (FdK), der für eine neue Richtung innerhalb des Pazifismus warb. Diese radikal-pazifistische Strömung stand der radikalen Arbeiterbewegung nahe und forderte u.a. die Abschaffung der Wehrpflicht, propagierte die Kriegsdienstverweigerung und sprach sich für die Ausrufung des Generalstreiks bei Kriegsgefahr aus. Als Organisator der Nie wieder Krieg Kundgebungen erreichte der Friedensbund Anfang der 1920er Jahre beachtliche Resonanz.10 Ein öffentliches Forum für alle im Krieg (BNV und Frauenausschuss bzw. IFFF) oder kurz danach neu gegründeten Organisationen bot der Braunschweiger Kongress im Herbst 1920. Dieser spiegelte die organisatorische Vielfalt wider. Als größte Organisation bereitete die DFG zwar den Kongress vor, aber ihren pazifistischen Alleinvertretungsanspruch hatte sie verloren. Die Teilnahme zahlreicher neuer Akteure signalisierte einen pazifistischen Aufbruch. Idealtypisch können fünf 8 Vgl. Scheer (1981): S. 353–355; Holl (1988): S. 132–137. 9 Lütgemeier-Davin (1982): S. 20. 10 Vgl. Riesenberger (1985): S. 143–149; Jansen (2004): S. 72f.
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Grundkategorien pazifistischer Organisationen unterschieden werden: Die sogenannte rechte Fraktion (u.a. DLV) als linksliberale Strömung innerhalb der Friedensbewegung, die ihren Friedensbegriff ausschließlich außenpolitisch definierte, die Antimilitaristen (BdK, FdK und ab 1926 die Gruppe Revolutionärer Pazifisten um Kurt Hiller) die aus grundsätzlicheren Überlegungen heraus die Anwendung von Gewalt ablehnten und die direkte Aktion der Kriegsdienstverweigerung propagierten, die religiös motivierten Verbände (FDK und BRS), die auf christlicher Grundlage einen dauerhaften Frieden zu realisieren suchten sowie kleinere Jugendorganisationen und kulturpolitische Vereine ergänzten das organisatorische Portfolio des Pazifismus in der Weimarer Republik neben der DFG, dem BNV und der Frauenliga.11 Schon auf dem Braunschweiger Kongress wird ein unterschiedliches pazifistisches Grundverständnis deutlich, das auch die Diskurse der folgenden Jahre prägen wird: Der angedeutete Gegensatz zwischen gemäßigten, völkerrechtlich orientierten und radikal antimilitaristischen Pazifisten. Für Erstere könne Friede durch Recht nur dann erreicht werden, wenn als Ultima Ratio militärische Gewaltanwendung dem Recht Geltung verschafft. Die Kriegsdienstverweigerung im Verteidigungsfall wird abgelehnt und das Prinzip des Verteidigungskrieges z.B. im Rahmen einer Exekution des Völkerbundes gerechtfertigt. Vor allem im Ausbau des Völkerbundes und durch internationale Abrüstung sahen sie den Weg für einen dauerhaften Frieden. Für Zweitere blieb die Unantastbarkeit des Lebens oberste Maxime, was in die Ablehnung jedes zwischenstaatlichen Krieges und zur Kriegsdienstverweigerung führte. Ihr Kampf richtete sich verstärkt nach innen. Es ging ihnen nicht nur um die grundsätzliche Beseitigung des Krieges, sondern speziell darum, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen dürfe. Dieses Spannungsfeld zerrieb letztlich die organisierte Friedensbewegung. Die Folge war eine innenpolitische Paralyse über die entscheidenden Fragen zur deutschen Kriegsschuld, das Problem des Versailler Vertrages und die Aussöhnung mit Frankreich sowie die Rolle der Reichswehr. Zu weiteren organisatorischen Aufspaltungen innerhalb beider Richtungen kam es durch verschiedene Meinungen in Einzelfragen. Dabei war es nicht unüblich, Mitglied in mehreren Organisationen zu sein. So waren die führenden Mitglieder kleinerer Vereine bzw. Organisationen mit spezifischer Zielsetzung nicht selten auch Mitglieder der beiden großen Verbände DFG und/oder FDK, da diese allen Richtungen offenstanden. Erklärt sich die organisatorische Zersplitterung der Friedensbewegung aus dem Gegensatz zwischen gemäßigten und radikalen Pazifismus bei gleichzeitiger Verabsolutierung pazifistischer Teilziele, so erklären sich die zahlreichen Mehrfachmitgliedschaften aus der Absicht, diesen Teilzielen auch innerhalb der großen pazifistischen Organisationen Geltung zu verschaffen. 12
Der Versuch einer einheitlichen Dachorganisation (Deutsches Friedenskartell – DFK) scheiterte 1929, nachdem es erst 1922 gegründet worden war.13
11 Vgl. Lütgemeier-Davin (1982): S. 20–72; Riesenberger (1985): S. 152–153. 12 Riesenberger (1985): S. 153. 13 Vgl. Harth (1985): S. 17; Riesenberger (1985): S. 153–157; Benz (1987): 33–41.
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Deutsche Friedensgesellschaft – DFG Die DFG wurde 1892 u.a. durch Alfred Hermann Fried und Bertha von Suttner gegründet. Ludwig Quidde fungierte zwischen 1914 und 1929 als Vorsitzender der DFG. Mit ca. 30.000 Mitgliedern im Jahre 1927 war sie die mitgliederstärkste und am ehesten repräsentative Organisation in der Weimarer Republik. Sie umfasste sämtliche Varianten des Pazifismus. Ihre Mitglieder sind mehrheitlich dem Kleinund Bildungsbürgertum zuzuordnen. Zugleich waren etwa ein Viertel davon auch Mitglieder der DDP und dem Linksliberalismus verbunden. Beamte und Arbeiter waren in ihr nur wenig zu finden.14 Vor dem Ersten Weltkrieg war ihr Friedensbegriff ausschließlich außenpolitisch determiniert. Sie setzte sich zum Ziel, nationalistische Vorurteile abzubauen, in der internationalen Politik die Gewalt durch das Recht zu ersetzen und diesen Rechtszustand durch zwischenstaatliche Organisationen dauerhaft zu festigen. Dazu bedürfe es allseitiger Abrüstung und internationaler Schiedsgerichtsbarkeit. Friede und Supranationalität wurden gleichgesetzt. Zwischenstaatliche Anarchie galt als Hauptursache für Kriege. Wirtschaftliche Verflechtungen seien lediglich ein friedensförderndes Mittel. Die Bedeutung demokratischer Strukturen und die Notwendigkeit eines sozialen Ausgleichs als relevante Prämisse einer dauerhaften Friedensordnung fanden erst nach 1918 Eingang in die Programmatik. Sie wollte die Verherrlichung des Krieges bekämpfen, zum weltbürgerlichen Denken erziehen, Impulse für die Weiterentwicklung der internationalen Rechtsordnung geben, den Völkerbundsgedanken stärken, die allgemeine Wehrpflicht für immer abschaffen, das Recht jedes Einzelnen auf Kriegsdienstverweigerung anerkannt wissen, für vollständige Abrüstung eintreten und am sozialen Ausgleich mitarbeiten.15
Seit ihrer Gründung war die DFG föderalistisch aufgebaut, d.h. die pazifistische Arbeit wurde hauptsächlich von den Ortsgruppen geleistet. In Nord-, West- und Mitteldeutschland, in Braunschweig-Südhannover, Sachsen, Rhein-Pfalz, Baden, Bayern, Schlesien, Pommern und Ostpreußen etablierten sich in der Weimarer Republik Landesverbände der DFG. Zum erfolgreichsten Landesverband entwickelte sich der am 17. Februar 1925 gegründete Westdeutsche Landesverband WLV. Prägende Figur war Fritz Küster, der 1919 der DFG beitrat und später gemeinsam mit Friedrich Kayser als Vertreter der jungen, kriegsmüden Frontgeneration den Hagener Kreis repräsentierte. Im Vergleich zur alten DFG suchte der WLV gezielt die Annäherung zur Arbeiterbewegung und trug zu einer spürbaren Verjüngung bei. Das Nebeneinander zweier Generationen blieb nicht spannungsfrei: Quidde als Repräsentant des gemäßigten Flügels geriet im Laufe der 1920er Jahre in eine zunehmende Minderheitsposition. Der Kreis um Küster sah die Kriegsschuld allein bei Deutschland und lehnte den Versailler Vertrag nicht ab, während Quidde lediglich eine Mitschuld einräumte. Suchte Quidde den Ausbruch des Ersten Weltkrieges noch als Verteidigungskrieg zu rechtfertigen, festigte Küster die Überzeugung eines geplanten deutschen Eroberungs- und Angriffskrieges. Auch mit Blick auf die 14 Vgl. Hecker (1985): S.26f. 15 Lütgemeier-Davin (1982): S. 22.
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Reichswehr wurde die unterschiedliche Ausrichtung erkennbar. Sprach sich unter dem Einfluss des Küster-Kreises eine deutliche Mehrheit auf der Bundestagung 1921 für die Abschaffung der Reichswehr aus, postulierte Quidde die Notwendigkeit einer Republikanisierung. Schließlich waren 1929 die Auseinandersetzungen durch die Wahl von Küster und Paul Freiherr von Schoenaich zum Vorsitzenden der DFG zugunsten eines radikalen Pazifismus entschieden.16 Friedensbund Deutscher Katholiken – FDK / Bund Religiöser Sozialisten – BRS Zu den Gründungsmitgliedern des FDK gehörten 1918 u.a. Matthias Erzberger und Magnus Jocham, was im Laufe der Weimarer Republik zu einer engen Zusammenarbeit mit dem linken Flügel der Zentrumspartei führte. Ihre Bemühungen zur Beendigung des Weltkrieges setzten im Sommer 1917 im Zusammenhang mit dem Friedensappell von Papst Benedikt XV17 ein, der allgemeine Abrüstung, die Einsetzung von Schiedsgerichten und eine Stärkung des Rechts forderte. 1930 versammelte der FDK ca. 9000 Mitglieder, die vorwiegend dem Kreise der jüngeren, niedrigen Geistlichkeit entstammten. Ihre Friedenssehnsucht leitete sich aus einem grundsätzlichen Vertrauen in die friedensstiftende Wirkung der katholischen Religion ab, deren Lebensmaximen nicht nur auf den familiären und innerstaatlichen, sondern letztlich auch auf die internationalen Beziehungen anzuwenden seien. Die Verhaltensregeln zwischen Staaten müssen denen im Zwischenmenschlichen entsprechen. Am grundsätzlichen Glauben an einen gerechten Krieg wurde festgehalten, wenngleich dafür die Voraussetzungen derzeit fehlten. Der FDK lehnte deshalb die allgemeine Wehrpflicht ab. Der Versailler Vertrag sei zu revidieren und Deutschland müsse dem Völkerbund beitreten. Auf das Prinzip der Kriegsdienstverweigerung legte man sich nicht fest; es blieb der persönlichen Gewissensentscheidung überantwortet, aber man stritt für deren Legalisierung. Eine Verpflichtung zur Verweigerung war nach der katholischen Sittenlehre nur in einem illegalen und amoralischen Krieg legitim. Der gerechte Krieg als Verteidigungskrieg wurde davon ausdrücklich ausgenommen und mehrheitlich als rechtmäßig betrachtet. Darüber hinaus bedarf es durch Kirche, Schule und Elternhaus einer Erziehung im Sinne der Völkerversöhnung. Insgesamt war seine Tätigkeit auf die katholische Kirche beschränkt. Primär ging es dem FDK um eine Gesinnungsschulung der katholischen Bevölkerung. Die Absicht einer sozialen und politischen Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse blieb sekundär.18 Im Vergleich zum FDK ist der BRS protestantisch geprägt und wurde Ende 1919 von Günther Dehn und Pfarrer Karl Aner gegründet. Innerhalb der Sozialdemokratie warb er für christliches Denken, während er in den Kirchen Verständnis für die Positionen des Sozialismus zu wecken suchte. Er wollte ein Sammelbecken 16 Vgl. Appelius (1988): S. 15–24. 17 Vgl. Steglich (1970) 18 Vgl. Riesenberger (1976): S. 21–67; Lütgemeier-Davin (1982): S. 44–46; Hecker (1985): S. 28.
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für all jene sein, die sich zum christlichen Glauben und sozialistischen Denken bekannten. Bei der Lösung innerstaatlicher Probleme wie bei außenpolitischen Fragen sollte eine christliche Ethik, anders als bei den Grundprämissen der FDK, lediglich mitgedacht werden. Eine Verabsolutierung dieser auf die internationalen Beziehungen wurde nicht postuliert. Dennoch stritt man für Völkerversöhnung, Brüderlichkeit und Weltfrieden. Die Positionen des gemäßigten Pazifismus waren stets mehrheitsfähig. So befürwortete man den Exekutionskrieg des Völkerbundes. Die Forderungen des radikalen Pazifismus innerhalb des BRS (verkörpert durch Erwin Eckert) in Bezug auf die Kriegsdienstverweigerung wurden abgelehnt. Die Mitgliederbasis des BRS war im Vergleich zum FDK äußerst schwach. 90% seiner Anhänger rekrutierte er aus der proletarisch orientierten Kleinbauernschaft kleinerer Dörfer und Städte. Das Proletariat als Ganzes erreichte er nicht, da es eher in einer losen Verbindung zum Protestantismus stand und es dem BRS an ideologischer Überzeugungskraft mangelte.19 Bund der Kriegsdienstgegner – BdK / Friedensbund der Kriegsteilnehmer – FdK Auf Seiten des radikalen Pazifismus der Antimilitaristen war der FdK (u.a. durch Emil Julius Gumbel, Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzsky 1919 gegründet) zu Beginn der 1920er Jahre mit ca. 30.000 Mitgliedern die zahlenmäßig mit Abstand größte Organisation. Der BdK, u.a. auf Initiative von Kurt Hiller und Helene Stöcker, ebenfalls 1919 gegründet, erreichte lediglich 3.000 Mitglieder.20 Trotz antimilitaristischer Ausrichtung folgte der FdK nicht dem Grundsatz der Gewaltfreiheit. Ziel war es stets, eine pazifistische Massenmobilisierung zu erreichen. So vereinigte er Mitglieder beider sozialistischer Lager aber auch parteipolitisch ungebundene Pazifisten. Die jährlichen Nie-Wieder-Krieg-Demonstrationen gingen auf seine Initiative zurück. Programmatisch umfasste er anders als der BdK zugleich Positionen des organisatorischen Pazifismus, d.h. Kriegsdienstverweigerung, die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht und des Militärs gingen mit Forderungen nach einem Völkerparlament und einem Staatenbund Hand in Hand. Internationale Schiedsgerichte und eine pazifistische Erziehung der Jugend gehörten ebenso dazu. Eine wichtige Rolle war dem Generalstreik zugedacht. Im Falle eines erneuten Kriegsausbruchs sollte in dessen Rahmen der Schulterschluss mit der internationalen Arbeiterbewegung gesucht und durch eine konzertierte Aktion der pazifistischen Kräfte in Europa eine kriegsgegnerische Stimmung in den Bevölkerungen generiert werden. Eine nachhaltige Wirkung erzielte der FdK aber aufgrund der parteipolitischen Streitigkeiten zwischen den unterschiedlich orientierten sozialistischen Richtungen nicht, was 1922 faktisch zur Auflösung führte. Die Nachfolgeorganisationen blieben in der Folgezeit bedeutungslos. Trotz der geringen Mitgliederbasis wird der BdK als die „stärkste radikal-pazifistische Organisation“ bezeichnet. Seine programmatische Ausrichtung war im 19 Vgl. Lütgemeier-Davin (1982): S. 47–49; Lipp (1995). 20 Vgl. Hecker (1985): S. 27–28. Folgendes Zitat ebd., S. 28.
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Vergleich zum FdK eng begrenzt. Alleiniger Zweck schien die Propagierung der Kriegsdienstverweigerung zu sein. Er wollte die organisatorische Plattform für all jene sein, die aus individueller Überzeugung jegliche Form des Kriegsdienstes ablehnten. Die Mitglieder wurden verpflichtet, den Krieg ganz generell als ein Verbrechen gegen die Menschheit zu definieren und somit zu bekämpfen, d.h. sich an der Beseitigung von Kriegsursachen (welcher Art und Form auch immer, seien es Rassen- und Glaubensunterschiede oder Klassengegensätze usw.) zu beteiligen. Gleich welchen Charakter ein Krieg nun habe, der BdK setzte auf die unbedingte Kriegsdienstverweigerung und die Abschaffung der Wehrpflicht. Diese Forderung suchte der BdK auch international auszuweiten und bekämpfte massiv alle Bestrebungen, die Wehrpflicht, wenn auch in geänderter Form, wieder einzuführen. Gleichzeitig organisierte er finanzielle und moralische Hilfe für alle, die aufgrund ihrer Verweigerung in Haft saßen und setzte sich für deren Freilassung ein. Die soziale Basis, auf die sich solche Forderungen stützen konnten, war äußerst schmal. Seine Mitglieder waren mehrheitlich einem radikalen Sozialismus bzw. Syndikalismus oder gar dem Anarchismus zuzuordnen. Der BdK nahm stärker ideologischen Einfluss auf die Politik der Friedensbewegung als das er deren Außenwahrnehmung prägte. Innerhalb des radikalen Pazifismus nimmt die 1926 von Kurt Hiller und Kurt Tucholsky gegründete Gruppe Revolutionärer Pazifisten (GRP) eine besondere Rolle ein. Sie stehen weniger in Konkurrenz bzw. Abgrenzung zum BdK, als vielmehr zum WLV der DFG um Küster. Von Beginn an konnte die Gruppe eine Reihe namhafter Literaten, Schriftsteller und Publizisten für sich, hauptsächlich aus dem Umfeld der Weltbühne, gewinnen. Während ihres Bestehens erreichte sie aber nie mehr als knapp 100 Mitglieder. Durch die zunehmende Dominanz des WLV, v.a. in organisatorischen Fragen, fühlte sich Hiller zu wenig berücksichtigt und fürchtete schließlich sogar gänzlich aus der Organisation verdrängt zu werden. In diesem Zusammenhang stand er Quidde und dem gemäßigten Pazifismus durchaus nahe, was die Grenzen zwischen gemäßigten und radikalen Pazifismus in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre durchaus verwischte. Innerhalb der antimilitaristischen Front lehnte er die einseitige Beantwortung der Kriegsschuldfrage zu Lasten Deutschlands ab. So war es die Befürchtung vor einer gewissen Isolierung innerhalb der Friedensbewegung, die zur Neugründung führte. Als Hauptquelle von Kriegen definierten die Mitglieder der Gruppe die kapitalistische Gesellschaftsordnung. Somit müsse diese zugunsten einer sozialistischen überwunden werden, was nur durch Revolution möglich sei. Die soziale Revolution wurde zur Friedensstrategie. Auf die Anwendung von revolutionärer Gewalt könne nicht verzichtet werden. Unter Rückgriff auf Lenin wurde der revolutionäre Bürgerkrieg zur Erreichung einer friedfertigen Gesellschaft gerechtfertigt. Nur er könne im Inneren die Voraussetzungen schaffen, um auch außenpolitisch die Führung von Kriegen zu verhindern. Gleichwohl blieb die Frage nach der Gewaltanwendung innerhalb der GRP umstritten. Insgesamt ist der revolutionäre Pazifismus ein Ziel-Pazifismus.21
21 Vgl. Lütgemeier-Davin (1982): S. 36–42; von Bockel (1985): S. 43–46.
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Deutsche Liga für Völkerbund – DLV Die Gründung der DLV im Dezember 1918 ging auf das Zusammenwirken von Parlamentariern, Regierungsvertretern und anderen Pazifisten, unter maßgeblicher Beteiligung des Auswärtigen Amtes, zurück. Entsprechend gestaltete sich der erste Vorstand der DLV mit Matthias Erzberger als erstem Vorsitzenden, dem Völkerrechtler Walther Schücking als dessen Stellvertreter und Ernst Jäckh als geschäftsführendem Vorstandsmitglied, der als ein glühender Verfechter einer Mittel-Europa Konzeption galt. In ihren Anfängen setzte die Liga v.a. auf eine breite Werbung für den Völkerbund und den Ausbau der Völkerrechtswissenschaft. Über 2.000 Mitglieder kam sie jedoch während der gesamten Zeit der Weimarer Republik nie hinaus. Zur DFG hatte die DLV sowohl in organisatorischer als auch ideologischer Hinsicht ein eher zwiespältiges Verhältnis. So suchte die DFG zwar ihren Einfluss auf die offizielle Regierungspolitik über die DLV zu steigern, wollte in ihren Reihen aber lediglich Vertreter einer reinen pazifistischen Lehre wissen. Letztlich kam es praktisch zur Abgrenzung zur DLV, die als Konjunkturpazifisten und maskierte Pazifisten diffamiert wurden. Inhaltlich vertrat sie kein einheitliches Programm. Die außenpolitisch taktische Bedeutung für die jeweilige Regierung stand im Vordergrund, auch wenn die DLV öffentlich Distanz zur offiziellen Außenpolitik hielt. Nichtsdestotrotz strebte ein harter Kern an pazifistisch orientierten Völkerrechtlern eine auf Recht basierende internationale Ordnung an. So machten sich Schücking und Hans Wehberg zu Verfechtern des Pazifismus innerhalb der Liga. Sie suchten ideelle Forderungen mit nationalen Ansprüchen zu verbinden. Gestaltung und Durchsetzung einer wissenschaftlich fundierten und deutschen Völkerbund-Idee waren das Ziel. Man setzte sich für eine Politik der Revision ein. Den Versailler Vertrag lehnte man als Gewaltfrieden ebenso ab wie die Konzeption des Völkerbundes, da dieser kein wahrer Bund gleichberechtigter Nationen, sondern durch die Übermacht der Sieger diktiert und bestimmt sei. Die Zuweisung der alleinigen Kriegsschuld lehnte man vehement ab. Die Erwartungen und Hoffnungen wurden an einen Völkerbund geknüpft, der die Niederlage ungeschehen machen sollte. Die Liga als Ganzes trug zur Entwicklung eigener Vorstellungen jedoch nichts bei. Vielmehr waren es Einzelbeiträge, die Plänen eines wahren Völkerbundes Ausdruck verliehen. Dem radikalen Pazifismus stand man in scharfer Ablehnung gegenüber. Den unbedingten Kriegsverzicht sah man skeptisch und zielte vielmehr auf eine Politik der grundsätzlichen Verständigung bei gleichzeitiger Bereitschaft, militärische Machtinstrumente aufzubauen und diese notfalls anzuwenden. Die Kriegsdienstverweigerung galt als illegitim und wurde abgelehnt; Deutschland habe einen Anspruch auf militärische Gleichberechtigung. Die DLV konnte seit 1921 über ihre internationalen Kontakte in Genf zu den Weltvölkerbundligen im Sinne der offiziellen deutschen Außenpolitik wirken, v.a. in der Stresemann-Ära; sie galt als Vorfeld-Organisation und war bestrebt die amtliche Politik zu unterstützen.22 22 Vgl. Lütgemeier-Davin (1982): S. 27–31; Dülffer (2008): S. 175–188.
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Deutsche Liga für Menschenrechte – DLM Schon während des Krieges bezog der BNV bzw. später die DLM die innenpolitische Dimension des Friedens in ihr Programm ein. Sozialpolitische Fragen standen ebenfalls im Vordergrund. Während der Novemberrevolution kämpfte man entschieden für die Demokratie und den Aufbau einer Republik. Die Mitglieder zeigten in dieser Periode eine enge politische Nähe zur USPD. Die Zahl der Mitglieder betrug in den 1920er Jahren aber nie mehr als 2.000. Man stritt für die Verwirklichung der Menschenrechte, für mehr soziale Gerechtigkeit und Völkerversöhnung. Die Jugend müsse stärker in pazifistischem Sinn erzogen werden. Durch gezielten Austausch war die Liga bemüht, zu einer Verbesserung des deutsch-französischen Verhältnisses beizutragen. An den alljährlichen Nie-wieder-Krieg-Demonstrationen nahm sie regelmäßig teil und warb für einen Eintritt Deutschlands in den Völkerbund. Generell war eine entschiedene Kriegsgegnerschaft und die Forderung nach allgemeiner Abrüstung kennzeichnend. Mit der Namensänderung 1922 wurden nicht zuletzt die klassischen pazifistischen Forderungen erweitert. Der Kampf richtete sich nicht mehr ausschließlich gegen die geheime Wiederaufrüstung der Reichswehr, sondern auch gegen die Weimarer Justiz, deren autoritär-nationalistische Ausrichtung man zu demokratisieren suchte. Man deckte politische Morde auf, engagierte sich gegen antisemitische Hetze und sprach sich gegen die Todesstrafe aus. Exemplarisch für dieses Engagement war im Januar 1925 die Einrichtung einer juristischen Abteilung innerhalb der DLM, die 1926 massiv ausgebaut wurde. Fortan kämpfte man verstärkt an der Seite derjenigen, die wegen vermeintlichen Landesverrats als politische Häftlinge in Haft saßen, setzte sich wiederholt für deren Amnestie ein und unterbreitete Vorschläge für einen humaneren Strafvollzug. Obwohl die Liga der Kriegsdienstverweigerung grundsätzlich skeptisch gegenüberstand und nicht immer einen gewaltfreien Standpunkt einnahm, war man um die Freilassung inhaftierter Kriegsdienstverweigerer gleichsam bemüht.23 Das Engagement von Otto Lehmann-Rüßbüldt und Kurt R. Grossmann als Sekretäre der Liga zur Stärkung des politischen Systems sowie ihr Kampf gegen Justizunrecht, die Schwarze Reichswehr und faschistischen Terror machte sie zu den ersten Opfern des Nationalsozialismus. Viele prominente Mitglieder wurden verfolgt und flohen bereits im Frühjahr 1933 ins Exil.
23 Vgl. ebd.: S. 23–27; Benz (1987): 30f; Jansen (2004): S.75.
3 DER LITERAT – OLDEN UND DAS JUNGE WIEN Als Rudolf Olden am 14. Januar 1885 in Stettin als drittes Kind aus der Schauspielererehe zwischen Hans Olden und Rosa Stein hervor ging, gehörte seine Familie im Rhein-Main-Gebiet zum Kreis jener, die das kulturelle und politische Leben seit den Revolutionstagen des Jahres 1848 und ab 1871 im neuen deutschen Nationalstaat mitprägten. Der Name Olden war der Künstlername des Vaters, der die Namensänderung 1893 erwirkt hatte und auf seine Kinder übertrug. Die väterlichen Vorfahren, die Familie Oppenheim, repräsentierten durch den Nationalökonomen und Juristen Heinrich Bernhard Oppenheim (ein Großonkel Rudolfs) und den Maler Moritz Daniel Oppenheim das aufstrebende, jüdisch geprägte Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Ersterer war zwischen 1841 und 1845 als Privatdozent für Staatswissenschaften und Völkerrecht in Heidelberg und 1848/49 als Publizist und Redakteur der Zeitschrift Die Reform. Organ der demokratischen Partei tätig. In den 1860er Jahren schloss sich Oppenheim den Nationalliberalen an und wurde 1874 in den Reichstag gewählt. Er war es, der 1872 gegen Adolph Wagner und die Gründer des Vereins für Socialpolitik mit dem Begriff des Kathedersozialismus polemisierte.1 Das scheinbar junge Familienglück sollte schon bald nach Rudolfs Geburt zerbrechen. 1887 verließ Vater Hans seine Frau und die drei Kinder. Fortan sollte die zerrüttete Familie nirgends richtig heimisch werden. Keiner von uns ist je im Leben sesshaft geworden. Mein Vater war reich, er haette seine Familie ansiedeln koennen, als er uns – empoert ueber die Geburt eines dritten Kindes – zwei Jahre spaeter verliess. Meine Mutter hatte sich den Ort waehlen koennen, der ihr und ihrer Brut zutraeglich war, um dort zu ankern. Aber auch sie hatte die Unrast im Blut.2
Künftig sollte es die Schwester der Mutter, Hedwig Fürstin Liechtenstein, sein, die Rosa und ihre Kinder finanziell und gesellschaftlich unterstützen sollte. Besonders für den jungen Rudolf wurde sie zu einer engen Bezugsperson, was sich nicht zuletzt in einem regen Briefwechsel ausdrückte. Sie war es, die dem jungen Olden und seiner Schwester Ilse den Weg in die bessere Gesellschaft ebnen half, an der sich der ältere Bruder Balder allerdings Zeit seines Lebens reiben wird. Eines Tages wurde Ilse ausgefuehrt, wie es damals hiess, wenn man junge Maedchen der Gesellschaft auf den Heiratsmarkt schleppte. Sie selbst merkte nicht, dass sie eine gefeierte Dame war. Daneben stand ich, der die eleganten Herren verabscheute, sein eifersüchtiges Missverhältnis zu dieser Welt der feinen Leute nicht nur in Versen entlud. Rudi passte ganz in diese sittsame, vornehme Welt.
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Hainbuch/Tennstedt (2010): S. 120. Olden (1945): S. 27. Folgendes Zitat ebd., S. 28.
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Doch konnte das sorgsame Bemühen um die bürgerliche Perfektion nicht darüber hinwegtäuschen, dass Olden schon in jungen Jahren an seinem schlechten Gesundheitszustand litt und ihn als Makel in einem Umfeld empfand, das körperliche Vitalität verlangte, gerade mit Blick auf die militärische Ausbildung als Möglichkeit gesellschaftlichen Aufstiegs. Nachdem er am 14. Juli 1903 in Freiburg sein Abitur abgelegt hatte, wurde diese Problematik in der Korrespondenz mit seiner Familie immer drängender. „Was meine Militärangelegenheit betrifft, so will ich mich ja gerade untersuchen lassen, um zu sehen, ob ich tauglich und kräftig genug bin.“3 Dabei scheint vor allem sein familiäres Umfeld ihn zu diesem Schritt bewogen zu haben. Wie sehr er zu diesem Schritt bedrängt wurde, beklagte er in einem Brief an seine Tante Hedwig: „In Frankfurt werde ich mich nun also, da ihr es wünscht, anfang Juli stellen. Balder hat mir sehr abgeraten, dort zu dienen. Aber da ihr es nun einmal wünscht, werde ich natürlich hinfahren.“4 Olden selbst verfolgte vielmehr den Wunsch, sein begonnenes Studium der Rechtswissenschaften fortzusetzen, das er 1903 aufgenommen hatte. Keineswegs war er ein für das Militärische begeisterter Jüngling gewesen. „Ich werde mich selbstverständlich nach deinem Wunsch richten und so bald ich meine Papiere habe, nach Frankfurt fahren, um mich zu stellen. Ich hoffe aber sehr, dass ich zurückgestellt werde.“5 Den Mut, sich gegen den von der Familie auferlegten Druck in dieser Angelegenheit zu wehren, brachte er, anders als sein Bruder Balder, jedoch zu keiner Zeit auf. Gleichwohl verlieh er seiner Skepsis Ausdruck. „Warum ich übrigens jetzt dienen soll, kann ich nicht einsehen. Aber nicht mein Wille geschehe, sondern der Eurige.“6 Da ihm der Dienst an der Waffe ohnehin unumgänglich erschien, wollte er seine Dienstzeit wenigstens zur Flucht aus diesem unerträglich gewordenen Deutschland nutzen. Du weisst ja, dass es mein brennender Wunsch ist, durch dies Dienstjahr nach Südwestafrika zu kommen, dort Einblicke in diese aufblühende Kolonie zu bekommen und vielleicht dort irgendwie als Beamter oder anders eine Lebensstellung zu erreichen, zugleich dadurch eben in gänzlich andere Verhältnisse zu kommen, denn je länger ich hier in Preussen lebe, desto mehr sehe ich ein, dass es auf die Dauer meines Bleibens hier nicht hier sein wird. Ich muss, wenn mir das Leben lebenswert sein soll, in freiere, großzügigere Verhältnisse kommen, in denen ich irgendwie eine Stellung haben kann, die mich ausfüllt und in der ich etwas leisten kann. 7
In diesem „gewohnten deutschen Trott“ fühlte sich Olden längst nicht mehr aufgehoben. Er war von den gesellschaftlichen und politischen Konventionen seiner Zeit eher gelangweilt. Da schrieb er über die „tödliche und ungeheure Langweile“8 der
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RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, um 1903, EB 79/020 – B.02.0025. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Hedwig Liechtenstein, 20.5.1905, EB 79/020 – B.02.0007. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Hedwig Liechtenstein, 27.6.1905, EB 79/020 – B.02.0007. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 26.6.1905, EB 79/020 – B.02.0026; Vgl. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 20.7.1905, EB 79/020 – B.02.0026. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Hedwig Liechtenstein, 9.5.1910, EB 79/020 – B.02.0011. Folgendes Zitat ebd. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 29.10.1903, EB 79/020 – B.02.0025; Ebd., 6.7.1906, EB 79/020 – B.02.0027; RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Carlo Seilern, 9.3.1914, EB 79/020 – B.02.0039.
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Marburger Gesellschaft, die nur in „Stumpfsinn und Verzweiflung“9 enden könne, über die Arbeitstage als Referendar bei Gericht (am 8. Mai 1908 bestand Olden sein erstes juristisches Staatsexamen beim Oberlandesgericht in Kassel), an denen er zwar „die Lücken juristischer und sonstiger Bildung“10 füllte, aber sich dabei „nicht recht wohl“ fühlte, da „mich des Dienstes ewig gleichgestellte Uhr mit ihrem sanften Hauch in das einschläfernde Gleichmaas des täglichen Lebens versenkte“11 und über Gespräche und Treffen im gesellschaftlichen Bekanntenkreis der Tante, „in den ich unwillkürlich hereinkomme und zu dem ich nicht mehr passe“12, weil sie ein „langweiliges Haus“13 sind. Auch in politischer Hinsicht war seine Frustration über die Realitäten des Kaiserreiches spürbar. Olden gab sich der Hoffnung hin, womöglich auch der Illusion, ausgerechnet in den Kolonien sein Freiheits- und Gestaltungsbedürfnis verwirklichen zu können. „Dort drüben hat natürlich auch der Beamte Neuland vor sich, in dem er positives leisten kann.“14 Gleiches sah er in Deutschland wohl für nicht mehr realisierbar an. In diesem Umfeld betrachtete er seine berufliche Perspektive als Referendar und künftiger Beamter als nutz- und sinnlos und ließ ihn in eine tiefe Depressivität abgleiten. Ich bin schon viel zu eingesponnen in mein Einsamkeitsgefühl um mich mit Menschen wohl zu fühlen. Selbst wenn ich etwas verabredet habe, sage ich in der letzten Minute ab, weil ich Angst davor habe. Meine Tätigkeit, wie sie augenblicklich ist, scheint mir allerdings nicht von grossem Nutzen.15
Den Alltag beschrieb er zunehmend als Belastung. „Der Tagesarbeit eiserne Klammern halten meinen beweglichen Geist wieder umschlossen.“16 Im Umfeld der gesellschaftlichen Modernisierung gerieten die definierten Wertmaßstäbe und Selbstbilder zunehmend ins Wanken. Unterschiedliche Weltanschauungen rangen um die normative Vorherrschaft. Auch die gutbürgerliche Welt Oldens blieb davon nicht verschont und stellte für sie im Allgemeinen und für ihn im Besonderen eine enorme Herausforderung dar. Nicht zuletzt der ökonomische Transformationsprozess provozierte das bürgerliche Weltbild. Aus den Briefen lässt sich immer wieder entnehmen, unter welchen finanziellen Schwierigkeiten er sein Leben zu meistern versuchte. Aber auch Schwester Ilse geriet durch die Scheidung von ihrem ersten Ehemann Carlos Stegmann in ökonomische Bedrängnis. Der Zeitgeist verlangte eine neue Standortbestimmung, die sowohl auf der gesellschaftlichen Ebene, in den Künsten und Wissenschaften zu beobachten war, als auch auf den jungen Olden persönlich zutraf. Bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges wurde das benachbarte 9 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 5.1.1908, EB 79/020 – B.02.0029. 10 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 21.9.1910, EB 79//020 – B.02.0030. Folgendes Zitat ebd. 11 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 4.11.1910, EB 79/020 – B.02.0030. 12 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 15.10.1912, EB 79/020 – B.02.0032. 13 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 27.8.1912, EB 79/020 – B.02.0032. 14 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Hedwig Liechtenstein, 9.5.1910, EB 79/020 – B.02.0011. 15 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Hedwig Liechtenstein, 22.12. und 30.12.1908, EB 79/020 – B.02.0009. 16 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 12.1.1911, EB 79/020 – B.02.0043.
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europäische Ausland (v.a. Frankreich und England aber auch Österreich-Ungarn) immer mehr zum Fluchtpunkt persönlicher und beruflicher Sehnsüchte.17 Konkretere Aufzeichnungen bzw. Darstellungen über seine Studienzeit sind nicht erhalten geblieben oder spielen keine relevante Rolle. Für die Formierung seines späteren Rechtsverständnisses waren aus dieser Zeit wohl zwei Umstände von besonderer Relevanz: seine juristische Ausbildung unter dem Einfluss des Neukantianismus18 und seine Tätigkeit bei einem Kriegsgericht im Stab einer Division an der Westfront gegen Ende des Krieges, worauf an anderer Stelle ausführlicher einzugehen sein wird. Die philosophische Schule des Neukantianismus beherrschte von der Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg den akademischen Raum in Deutschland. Vor allem die Marburger Schule schlug sich in ausgearbeiteten Entwürfen zur Moral-, Rechts- und Sozialphilosophie nieder. Hermann Cohen suchte die Ethik als eine rechtswissenschaftliche Theorie zu begründen und übte damit nicht unwesentlich Einfluss auf die Reine Rechtslehre eines Hans Kelsen aus.19 Als Leitprinzip für die politisch-soziale Ordnung der Gesellschaft galt die kantianische Forderung, den Menschen als Selbstzweck zu definieren. Er soll Zweck und nicht Mittel einer moralisch orientierten Rechtsordnung sein. Cohens Ethik des reinen Willens aus dem Jahre 1904 steht sinnbildlich für diese Vorstellung: Der kategorische Imperativ Kants als leitendes Prinzip der Sittlichkeit werde sich geschichtlich durchsetzen und weiterentwickeln. Begrifflich komme dieser Fortschritt in der Rechtswissenschaft zum Ausdruck, sodass die Rechtsordnung schließlich die sittliche Basis des modernen Verfassungsstaates bildet. Es findet ein Transfer der Pflichtethik Kants auf das Politische statt. „Die staatliche Rechtsordnung ist es, die moralisch, also nach der Cohenschen Lesart des kategorischen Imperativs, so sein soll, daß durch sie der Mensch nicht auf ein bloßes Mittel zum Zweck reduziert wird, sondern Selbstzweck bleibt.“ Für die Entwicklung eines moralisch bestimmten Gemeinwesens kommt der Pädagogik eine Schlüsselfunktion zu. Die Unterordnung partikularer Interessen unter das Gemeinwohl müsse eingeübt werden. Nur über Erziehung können gesellschaftliche Veränderungsprozesse politisch zu einer moralischen Vergemeinschaftung führen.20 Obwohl Olden nie eine rechtsphilosophische bzw. -theoretische Arbeit verfasst hat, offenbaren seine Schriften dennoch jenes neukantianische Rechtsverständnis. So kritisierte er in seiner Hindenburg-Biographie die schwache Stellung des Rechts in Preußen: Daß alle menschliche Bindung nur und ausschließlich auf Gewalt beruhe, hat der König durch die Organisation seines Staates gelehrt. Die Lehre, die durch die Tat gegeben wurde, hat größ-
17 Vgl. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 8.4.1913, EB 79/020 – B.02.0033; Koch (2005): S. 7–25. 18 Vgl. Müller, in: Asmus/Eckert (2010): S. 111f. 19 Vgl. Pascher (1997): S. 7–15. Folgendes Zitat ebd., S. 100. 20 Vgl. ebd.: S. 92–103; Mahlmann (2010): S. 151f.
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3 Der Literat ere Folgen gehabt, als alle Philosophie. Das Mißtrauen gegen Menschen ist nichts anderes als Mißtrauen gegen Versprechungen, gegen Verträge, gegen die Sprache, gegen das Wort.21
In seiner Hitler-Biographie bezieht sich Olden direkt auf Kant. Dieser habe „die Republik, den Staat überhaupt, definiert als: Gewalt, mit Freiheit und Gesetz“22. Hitler dagegen ziele auf „die Barbarei: Gewalt, ohne Freiheit und Gesetz“; „Er spricht mit offener Verachtung von der widerlich humanen Moral. Es gibt kein Zweifel wohin es ihn zieht.“ (S. 150f.) Für Olden ist Hitler „der Gesetzlose“: Seine Wahrheit hängt vom Zweck des Augenblicks ab. Ja er hält die Gesetze für verbrecherisch, wenn sie den Schutz der Schwachen bezwecken. Der mystische Vorgang, daß der Starke sich selbst Fesseln anlegt, sich durch Geschriebenes bindet, dem Schwachen eine Waffe gibt und sich ihr unterwirft, scheint ihm pervers. (S. 223)
Genau das aber mache Zivilisation aus. In der Zeit der Weimarer Republik konstatierte Olden eine allgemeine „moralische Abstumpfung“23 in der Rechtsprechung. „Man konnte sich nicht mehr darauf verlassen, dass das Recht ohne Rücksicht auf die Partei angewendet wurde.“ Dabei müsse der Beruf des Juristen „mehr sein, als eine bestimmte Methode der logischen Argumentation und als ein Gewerbe, nämlich der breite und feste Quader in der Grundlage abendländischer, christlicher Zivilisation.“ Besonders in der Besoldung der Richterschaft sah Olden ein ernsthaftes Problem. Deren „wirtschaftlicher Zusammenbruch“24 ziehe den „geistigen und sittlichen und damit den Verfall des Rechtsstaats nach sich.“ Er wehrte sich gegen den Versuch einer politischen Instrumentalisierung der Justiz. Sie werde als Mittel zum Zweck missbraucht. Mit zunehmender politischer Funktion erhalte sie eine unberechtigte Machtfülle und werde quasi zu einer Aufsichtsbehörde. Die Selbstverständlichkeit, mit der er in den 1920er Jahren als Jurist auftrat und Position bezog, ward ihm jedoch nicht in die Wiege gelegt. Der 23-jährige Olden hinterfragte schließlich seinen eingeschlagenen Lebensweg, der ihn immer mehr in eine Frustration und Sinnkrise getrieben hatte. Mein Beruf ist mir selbst vorläufig noch viel zu schleierhaft, um darüber ein Urteil fällen zu können. Auf jeden Fall ist Referendar oder Rechtsanwalt auch kein viel angenehmeres Geschäft. Meine Neigungen liegen ja überhaupt auf ganz anderem Gebiet. 25
Als sein „eigentliches Fach“26 betrachtete er die Literatur und die Schauspielerei. Vor allem Heinrich Heine, William Shakespeare, Friedrich Nietzsche oder die Schriften Stefan George's hatten es ihm angetan.27 „Ich fühlte mich so wohl auf der 21 22 23 24
Olden (1982): S. 49. Ders., (1984): S. 353. Die folgenden Zitate ebd. Olden, in: Litten (1940): S. 9f. Die folgenden Zitate ebd., S. 18. Ders., Deutsche Richternot, in: Berliner Tageblatt 56. Jg., Nr. 440, 17.9.1927. Folgendes Zitat ebd. 25 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 21.11.1908, EB 79/020 – B.02.0029. 26 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Hedwig Liechtenstein, 28.10.1907, EB 79/020 – B.02.0008. 27 Vgl. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 3.11.1903, EB 79/020 – B.02.0025; RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Hedwig Liechtenstein, 23.03.1908, EB 79/020 – B.02.0009; RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, um 1913, EB 79/020 – B.02.0044.
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Bühne, wie wenn es mein eigentliches Element wäre.“28 Mit der Novelle Hildegard von F. und der Romanskizze Abschluß legte Olden 1913 sogar eigene literarische Produktionen vor. Ob und wie es mit seiner beruflichen Zukunft als Jurist überhaupt vorangehen könne, machte er nicht zuletzt von seinem schriftstellerischen Erfolg abhängig. Eine literarische Begegnung sollte den jungen Rudolf nachhaltiger prägen. Über die Schauspielerin Elisabeth Steinrück lernte Olden im April 1911 den bedeutenden Wiener Dramatiker Arthur Schnitzler kennen, der schon bald zu einer engen literarischen wie menschlichen Vertrauensperson werden sollte. Die Kontaktherstellung zur Familie Schnitzler konnte womöglich dadurch erleichtert werden, dass dessen Ehefrau Olga die Schwester Elisabeth Steinrück's gewesen ist. Selbst Oldens Schwester Ilse verkehrte wohl regelmäßig im Hause Schnitzlers.29 Nach seiner ersten Begegnung mit ihm notierte Schnitzler pointiert in sein Tagebuch: „Dr. Rudi Olden, Referendar, mit Monocle und nicht ohne Humor.“30 Fortan hielt sich Olden immer häufiger und länger in Wien auf und dem ersten Treffen mit Schnitzler sollten bis Kriegsausbruch im August 1914 noch weitere folgen. Hierdurch fand er zu jener Gruppe der literarischen Moderne, die heute als Jung-Wien bezeichnet wird. In der Literatur und Décadence-Kunst des Fin de Siécle traf er im Umfeld der Wiener Moderne auf Gleichgesinnte, die genauso wie er ihr Verhältnis zur modernen Welt neu zu bestimmen versuchten. Bei dieser Neuorientierung spielten drei Themen eine entscheidende Rolle: eine im persönlichen Bereich empfundene Identitätskrise, die Infragestellung herkömmlicher Geschlechterrollen sowie der zunehmende Antisemitismus. Der Schlüssel zum Verständnis der Wiener Moderne allgemein liegt in der besonderen Ausrichtung der österreichischen Philosophie im 19. Jahrhundert. Die Entwicklung und Diskussion, die die deutsche Philosophie nach Kant nahm, blieb im Vielvölkerstaat weitestgehend aus. Unter Berufung auf David Hume, John Locke und Gottfried Wilhelm Leibniz verteidigte man den Empirismus und Realismus gegen den deutschen Idealismus. Es war die junge Generation um 1890, die die Situation in Wien im Vergleich zur Kultur und Kunst in Berlin als defizitär betrachtete. Für sie wirkte das Deutsche Reich nach außen politisch gefestigt und in Sachen der Kultur angesehener, was in ihrem Schaffen quasi zum Rückzug in eine neue Innerlichkeit führte. Das Individuelle und die Subjektivität standen plötzlich im Vordergrund und wandte sich gegen alte Konventionen des Bildungsbürgertums und entwickelte einen emanzipatorischen Charakter. So war die Kunst ihren eigenen Gesetzen und Formen unterworfen. „Die Selbsterfahrung einer freischwebenden Subjektivität setzte den Eigensinn des Ästhetischen frei.“31 Nicht umsonst fällt auch die Entstehung und Begründung der Psychoanalyse von Sigmund Freund in diese Periode. Hinzu trat, trotz einer tatsächlich durchgeführten Modernisierung auf der sozioökonomischen Ebene, der Pessimismus über die politische 28 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 22.6.1913, EB 79/020 – B.02.0044. 29 Vgl. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 3.5.1911 und 21.2.1913, EB 79/020 – B.02.0043/B.02.0044. 30 Schnitzler, in: Welzig (1981): S. 235. 31 Hanisch (1994): S. 244.
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Lage sowohl in Wien als auch in Bezug auf die gesamte Monarchie. Der Regierungsstil der herrschenden Habsburger und die gesellschaftlichen Realitäten klafften in immer schärferer Form auseinander. Vor allem das ungelöste Nationalitätenproblem, das man durch die rechtliche und soziale Gleichstellung der Nationalitäten bereits 1848 zu harmonisieren suchte, erwies sich letztlich als Utopie. Die repräsentativen und dekorativen Fassaden der Wiener Ringstraße verschleierten und überdeckten lediglich die tatsächlichen Defizite. Um die Staatlichkeit des Reiches zu erhalten, betrieb man eine radikale Entpolitisierung der Gesellschaft, was in ein politisches Vakuum mündete, das die Wiener Intellektuellen und Künstler auf ihre Weise zu füllen versuchten, sei es durch die Gründung zionistischer Bewegungen oder durch den künstlerischen Ästhetizismus im Erforschen der eigenen Seelenzustände. Dabei ist die Wiener Moderne keineswegs ein Modernismus im Sinn einer siegesgewissen und selbstsicheren Doktrin. Vielmehr bewahrt sie sich stets ein ausgeprägtes Gefühl von einem Verlust, von einer Dekadenz, auf die man zu reagieren habe, und von einer zusammenbrechenden Welt bei einer noch unklaren Zukunft.32
Zwar wurde von den Zeitgenossen die Wiener Moderne als eine Revolution erlebt, da sie mit ihrem Wirken in Architektur, Musik, Malerei und Literatur Anlass für Skandale gab, doch im Grunde genommen blieben sie in ihren Werken mit der bürgerlichen Welt z.T. verhaftet. Keineswegs trachtete man danach diese abzuschaffen. Vielmehr strebten die Vertreter eine Verbesserung der bürgerlichen Gesellschaft an. Ihr Unwohlsein speiste sich nicht ausschließlich aus politischen Fragen, sondern auch aus ästhetischen, ethischen, philosophischen oder individuell-psychologischen Sachverhalten.33 Für den im preußisch dominierten Deutschland aufgewachsenen Olden, verkörperte der Kreis um Schnitzler eine Welt des (nicht nur literarischen) Aufbruchs, in der er die ihn beengenden gesellschaftlichen Konventionen hinter sich lassen konnte. Womöglich war es gerade die Enttäuschung über die Rolle des liberalen Bürgertums, das nach der gescheiterten Revolution von 1848 und durch die Reichseinigung quasi einen Burgfrieden mit dem Bismarck-Reich anstrebte, die ihn empfänglich machte. Mag vor allem die Generation seines Großonkels Heinrich Bernhard Oppenheim die Aussöhnung mit und die Integration in die herrschenden Verhältnisse seit 1871 gesucht haben, so war dies für die Generation Oldens wohl keine Option. Dies provozierte die Suche nach Alternativen und einem dritten Weg, um sich von politischen und moralischen Konventionen zu befreien und zu emanzipieren. Seine Kritik und Skepsis ist zumindest in Ansätzen spürbar, auch wenn er seinem Bruder nicht in dessen Radikalität folgte. Wie die Autoren der Wiener Moderne entkleidete er sich nicht gänzlich seiner bürgerlichen Haut und Umgebung. Die überschäumende Preisung der Subjektivität und des Individualismus faszinierte ihn zudem. Ein Philosoph war von besonderer Bedeutung, Friedrich Nietzsche. Seine Kritik der modernen Ideen mündete auch bei Olden in eine Bewunderung seiner Werke. 32 Le Rider (1990): S. 31. 33 Vgl. ebd.: S. 7–33; Hanisch (1994): S. 242–247; Rumpler (1997): S. 539–546.
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Seit der Romantik des frühen 19. Jahrhunderts bildete das Individuum den Bezugspunkt der Kulturkritik. Hatte die Aufklärung die subjektive Freiheit als Emanzipationsprozess beschrieben, so wurde der individuelle Geist um die Jahrhundertwende als eine Form der gesellschaftlichen Entfremdung empfunden, die letztlich in den Verlust sozialer Integrationsfähigkeit münden könnte. So beschrieb nicht nur Nietzsche im Vorfeld der Wiener Moderne die grundsätzliche Janusköpfigkeit einer Kultur der Subjektivität. Politisch erscheint Nietzsche rückblickend gerade im Zusammenhang zu dieser Kultur: Er polemisierte einerseits gegen Recht, Gerechtigkeit sowie Frieden und wechselseitige Anerkennung in seiner Epoche, da dies Ausdruck eines individuellen Lebenstriebes sei und den natürlichen Gesellschaftsprozess unterwandere. Der Staat sei aber in erster Linie jene Instanz, die diesen Prozess zu erzwingen habe. Der von Nietzsche definierten Aufgabe komme er nicht nach und somit sei die Kultur tendenziell dem Untergang geweiht. Der Staat sei kein Gesamtorgan mehr. Andererseits sah Nietzsche im Individuum auch eine Chance auf kulturelle Erneuerung. Nur die christliche Moral verdamme noch das Individuelle, sodass sie auf eine Abschaffung des Individuums hinarbeite, da gerade das subjektive Empfinden traditionelle Gesellschaftsformen zugunsten der eigenen Vorlieben und Sinnlichkeit negiere. Aber erst wenn der Mensch selbstbewusst seine eigenen Ansprüchen formulieren gelernt habe, kann das Problem des Politischen entstehen und das Individuum zu einer gesellschaftlichen Ordnung beitragen. Zunächst müsse der Mensch die persönliche Fähigkeit besitzen, über Selbstdisziplin und Vertrauen anderen gegenüber ein Versprechen abgeben und einhalten zu können, was beim Gegenüber ebenfalls in eine gewisse Vertrautheit münde. Das gegebene Wort werde zum gegenseitigen Maßstab, sowohl in der Bewertung meiner eigenen Charaktere wie im gesellschaftlichen Miteinander. Bei Nietzsche mündete diese Vorstellung in die Erwartung, dass das einmal im Rahmen eines sozialen Verbandes agierend versprechende Individuum eine höhere Kultur erreichen könne, die frei sei von jeglicher Konformität. Er spricht dann von einem souveränen Individuum, das ganz auf seine Sinnlichkeit baut. Politik sei nur möglich, wo sich diese souveränen Individuen konzentrieren und selbstbewusst gesellschaftliche Anliegen im wechselseitigen Vertrauen artikulieren.34 Kulturell wurde diese Vorstellung unter den Nachfolgern und Rezipienten Nietzsches auf den Begriff der Geistigen Kunst adaptiert. Für Stefan George sei sie eine Kunst (l’art pour l’art), die das gefasste Leben weder naturalistisch abschildern noch wissenschaftlich vergegenständlichen, sondern in einer zwischen Wissensqual und gesuchtem Wortbild schwebenden Sprache vom Gegenständlichen ablösen, um die Freiheit zu sich selbst zu gewinnen.35
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fassten die Autoren der Wiener Moderne in ihren Werken den so bestimmten Individualismus in die Lebensform der Einsamkeit, dessen Gefühlswelt dem jungen Olden ja nicht fremd war. So erkannte er sich vielleicht selbst in dem kranken Felix wieder, der, weil von allen verlassen, sein Nachtlager 34 Vgl. Gerhardt, in Meier/Denzer (2007): S. 192–199. 35 Riedel (2009): S. 193.
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in der Novelle Sterben von Arthur Schnitzler stets in der Nähe des Fensters aufstellte, um die anderen beim Leben zu beobachten. Gleichzeitig waren es aber auch jene Schriftsteller, die immer wieder die Langweile als Kennzeichen der Moderne in ihren Werken verarbeiteten, jenes Gefühl also, das Olden aus seinem alltäglichen privaten wie beruflichen Leben stets kundtat. Seine Melancholie blieb dem unmittelbaren Umfeld nicht verborgen. Ich war gestern bei Liebermanns zum Frühstück und abends zum Bridge und da Tante Melanie bemerkte, dass ich einen etwas trübsinnigen Eindruck machte, hat sie mir Daumenschrauben angelegt und beide Liebermanns haben dann versucht, meinen Lebensmut etwas zu heben. Da ich immerhin gütlicher Zusprache nicht unzugänglich bin, so ist es ihnen auch, mindestens zum Teil gelungen.36
Dieses Phänomen bzw. diese Facette der neu entdeckten Subjektivität fassten die Autoren der Wiener Moderne unter dem Schlagwort der Nervosität zusammen, was zum besonderen Merkmal der Wiener Literatur um 1900 werden sollte. Wie bereits darauf verwiesen, konnte diese Kunst der Nerven gerade auf die Überreste des liberalen-Ichs bei Olden aufsetzten, der, obwohl im Deutschen Reich sozialisiert, aber seelisch instabil, der Krise seiner politischen und sozialen Persönlichkeit durch die Flucht in die neue Innerlichkeit der Wiener Dekadenz-Kunst zu entfliehen versuchte. Sein Lebensweg bis 1914 stellte eine persönliche Identitätskrise dar, die durch die Marginalisierung der liberalen Ideen von 1848 im Wilhelminismus gerade die junge Generation dem Staat und der Gesellschaft entfremdete. Das, was er persönlich empfunden und erlebt hat, fand er nicht zuletzt in den literarischen Produktionen von Menschen wieder, die schon bald seine engen Freunde werden sollten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Oldens Identitätskrise stellvertretend für eine im Wilhelminismus sozialisierte junge Generation steht, welche die liberalen Ideale zu reaktivieren trachtete. Vom Staat und der Gesellschaft entfremdet, suchte diese Generation Anschluss an Vertreter der literarischen Moderne.37 Besonders 1913/14 war Olden häufiger Gast im Hause Schnitzler.38 Der Kurort Bad Aussee wurde für ihn quasi eine Oase literarischer und künstlerischer Rekreation, „wohin es mich doch noch immer zieht. Und da ich das ganze Jahr unter Menschen leben muss, zu denen ich keinen Connex habe, so möchte ich gerade gern nach Aussee, wo ich mich mit einigen so gut verstehe“39. Im November 1913 legte er dem Freund seine eigenen Werke zur kritischen Bewertung vor. Beide Schriften spiegeln eindeutig den thematischen Bezug zur Wiener Literatur wider. Das Dasein wurde als erdrückende Eintönigkeit dargestellt. Die Hauptpersonen versuchen dem Überdruss am eigenen Leben durch die Flucht in eine vermeintlich bessere Welt zu 36 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Hedwig Liechtenstein, 11.1.1909, EB 79/020 – B.02.0010. 37 Vgl. Le Rider (1990): S. 40–55. 38 Vgl. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Hedwig Liechtenstein, 21.2.1913, EB 79/020 – B.02.0013; RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 21.2. und 3.9.1913, EB 79/020 – B.02.0044. 39 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 22.6.1913, EB 79/020 – B.02.0044; RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 20.8.1913, EB 79/020 -B.02.0033.
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entkommen. So flüchtet sich Hildegard in eine gewagte Liebesbeziehung zu einem Beamten, um aus dem monotonen Alltag mit ihrem verwitweten Vater auszubrechen. Als sie jedoch feststellt, dass dieser ihr untreu ist, beginnt sie selbst zahllose Affären und wird schließlich schwanger. Nachdem es ihr gelungen war, die Schwangerschaft vor der Öffentlichkeit zu verbergen, tötet sie das Neugeborene. Als sie am nächsten Tag verhaftet wird, findet sie kein Wort der Reue oder des Bedauerns über ihre Tat. Parallelen zu seiner eigenen Situation und Gefühlswelt lassen sich in der Romanskizze Abschluß identifizieren. Vor unzähligen Aktenbergen und völlig verschuldet flieht ein junger Justizbeamter aus Berlin in ein kleines Städtchen. Langeweile und Routine quälen ihn auch dort. Am Ende steht für ihn die Erkenntnis, dass alles menschliche Miteinander nur in einem dumpfen Schwall des gegenseitigen Desinteresses untergeht, obwohl er sich um eine gute Beziehung zu seiner Umwelt durchaus bemüht habe. Bedenkt man die Tatsache, dass Olden in der Zwischenkriegszeit durch seine Tätigkeit beim Berliner Tageblatt zu einem der führenden liberalen Journalisten der ersten deutschen Republik werden sollte, erstaunt folgende Selbsteinschätzung aus der Vorkriegszeit: „Ich fühle mich zum Journalisten nicht geeignet und gedenke nicht, noch einmal Schiffbruch in einem Beruf zu erleiden, den ich gezwungenermassen ergreife.“40 Womöglich ging diese Einschätzung auf die Position Schnitzlers und dessen Einfluss auf den jungen Olden zurück, der sich selbst ohnehin eher als Schriftsteller und Schauspieler sah. Die zeitgenössische Wiener Zeitungslandschaft und deren Produzenten, die unter ökonomischem Druck den literarischen Markt zu überschwemmen drohten, waren Schnitzler zu tiefst zu wider. In seiner Kritik an der Presse drückte sich nicht zuletzt die persönliche Enttäuschung über die gesellschaftliche und kulturelle Modernisierung aus. Die Zwänge des Marktes begründeten nach seiner Auffassung einen neuen Typus des opportunistischen Journalisten. Dieser sei vom journalistischen Ideal und einer auf Wahrheit und Fortschritt beruhenden Berichterstattung entfremdet. Es käme zu einer bewussten Vermischung von Wahrheit und Lüge, die auf die zeitgenössische Kultur nur zerstörerisch wirken könne. Journalistische Hochstapelei und Schönrednerei beschleunige den kultur-zerstörerischen Prozess der Zeit.41 Inwiefern Schnitzler für Olden ein pazifistisch gesonnenes Vorbild gewesen ist, konnte abschließend nicht geklärt werden. Eines aber lässt sich festhalten: Als im Spätsommer 1914 der Sturm über Europa hereinbrach, blieb Schnitzler zunächst in den patriotischen Diskursen der Zeit verhaftet. In dieser Phase schien er vom Kriegsfieber mitgerissen und polemisierte überschwänglich gegen Frankreich, England und Russland. Auf patriotische Veröffentlichungen oder Erklärungen verzichtete er aber. In einer Phase, in der sich viele Intellektuelle und Künstler geradezu herausgefordert sahen, öffentlich politisch Stellung zu beziehen, schwieg Schnitzler auffällig und verweigerte sich der allgemeinen Stimmung. Fortan lehnte er jegliche publizistische Vereinnahmung ab. Anfragen von Zeitungen und Zeitschriften wies
40 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 24.7.1912, EB 79/020 – B.02.0032. 41 Vgl. Le Rider (2008): S. 19–22.
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er grundsätzlich ab. Seiner ambivalenten Stellung im Zuge des Kriegsausbruches gab er 1916 wie folgt Ausdruck: Ihre liebenswürdige Annahme, ich wäre einer von den wenigen deutschen Dichtern, die in diesem Krieg nicht den Kopf verloren hätten, bescheinige ich mit gebührender Bescheidenheit, und gebe zu bedenken, ob Sie mit ihrer Anerkennung nicht am Ende voreilig gewesen sind. Sie wissen ja nur, daß ich nichts Dummes habe drucken lassen, aber wer sagt Ihnen, daß ich dergleichen nicht geschrieben oder zum mindesten gedacht habe?42
Diese Selbstkritik umfasste wohl auch das zerstörerisch-aggressive Potenzial seiner Werke; Todesangst und -faszination sowie der Gegensatz zwischen militärischem Lebensgefühl und Zivilgesellschaft waren Projektionsfläche einer nationalistisch polarisierten Jugend, die zu Beginn mit klingendem Spiel jene Sehnsüchte auf den Schlachtfeldern Europas grausame Wirklichkeit werden ließ.43 In Bezug auf Oldens Pazifismus mag eine Figur aus dem Umfeld der Wiener Moderne besonders relevant gewesen sein: Die Rede ist von Jakob Wassermann. Bereits in der Vorkriegszeit schien ein reger Kontakt und Austausch zwischen beiden zu bestehen, der aus den Briefen Oldens allerdings nur noch rudimentär zu rekonstruieren ist. So hätte er Wassermann bei einem Treffen in Alt-Aussee doch gerne von der neuen Beziehung seiner Schwester zu Carlo von Seilern berichtet. Darüber hinaus beschenkte ihn seine Mutter auch mit einem Werk aus der Feder des Schriftstellers. „Im voraus vielen Dank für den Wassermann.“44 Es bleibt jedoch unklar, welche Schrift damit gemeint war. Insgesamt deuten die Briefe Oldens aus dieser Zeit eine persönlichere Beziehung zwischen den beiden Familien an. So gab Wassermann dem jungen Rudolf einen gewissen persönlichen Halt und redete dem zaudernden Jüngling Mut zu, als dieser wieder einmal um die Annahme eines Anstellungsgesuches in Berlin bangte. „Wassermann macht mir für dort Hoffnungen, die ich nicht gerne auslassen möchte.“45 Oder er versuchte die schriftstellerische Karriere Oldens gezielt zu fördern. „Jakob W. hat mir eine Lektorenstelle bei einem Verlag in Aussicht gestellt – ohne Berufsstörung, über die ich sehr glücklich wäre.“46 Als Olden schließlich im Juli 1915 an der Front diente, übersandte ihm Wassermann ein Exemplar seines Romans Das Gänsemännchen. „Jakob Wassermann schickte mir sein neues Buch mit einer persönlichen Widmung.“47 Auch ein persönliches Treffen im August 1918 ist überliefert.48 Doch wer war dieser Jakob Wassermann, zu dem Olden so ein enges Verhältnis pflegte? Er wurde am 10. März 1873 in Fürth als Sohn der Eheleute Adolf und Jette Wassermann geboren. Nach dem frühen Tod der Mutter 1882 sollte der junge Jakob eigentlich eine kaufmännische Lehre in Wien abschließen, um später den Betrieb des kinderlosen Onkels zu übernehmen, da der Vater seine schriftstellerischen Nei42 43 44 45 46 47 48
Schnitzler, in: Le Rider (2008): S. 176. Vgl. Le Rider (2008): S. 169–194; Anz, in: Mommsen (1996): S. 244f. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 5.2.1913, EB 79/020 – B.02.0033. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Hedwig Liechtenstein, 8.10.1913, EB 79/020 – B.02.0013. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Carlo Seilern, 18.10.1913, EB 79/020 – B.02.0039. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 23.7.1915, EB 79/020 – B.02.0035. Vgl. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 1.8.1918, EB 79/020 – B.02.0048.
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gungen als brotlose Kunst unterdrückte. Von der Vitalität und Atmosphäre der Hauptstadt angesprochen, hing er eher dichterischen Träumen nach und brach schließlich im Mai 1890 seine Lehre ab. Der Versuch, ein Hochschulstudium in München zu ergreifen, scheiterte. Um ihn zu disziplinieren, schickte ihn der Vater zum einjährigen Militärdienst nach Würzburg. Danach arbeitete er als Bürokraft bei einer Versicherungsgesellschaft in Nürnberg und ab 1894 in Freiburg, das er aber aufgrund antisemitischer Anfeindungen rasch wieder verließ. In noch dramatischerer Weise als Olden erlebte er eine erdrückende materielle Not, die ihn schließlich zur Rückkehr in die väterliche Aufsicht nach München zwang. Trost und Selbstverwirklichung fand er stets in der Kunst und im Schreiben. Durch die Begegnung mit dem Dichter Ernst von Wolzogen in München gewann er einen wichtigen Gönner und Fürsprecher, der seine schriftstellerische Begabung früh erkannte und fortan förderte. Diese Fürsprache gab dem jungen Anfänger Mut und brachte ihn bald in Kontakt zu Thomas Mann und Rainer Maria Rilke. Schon bald wurde er Mitarbeiter im Lektorat der 1896 neu gegründeten Zeitschrift Simplicissimus. Künftig „gehörte Wassermanns Prosa zur Vorgeschichte des Expressionismus,“49 was für Olden gerade durch die Erlebnisse des Weltkrieges noch von entscheidender Bedeutung sein wird. Im Mai 1898 schickte ihn die Frankfurter Zeitung schließlich als Theaterberichterstatter nach Wien. Nicht nur Wien, sondern auch Grundlsee in der Steiermark und Alt-Aussee wurden für ihn zur Heimat und für Olden zu seinem bevorzugten Künstlerdomizil.50 Der Wiener Hautevolee um Schnitzler begegnete er zunächst mit Skepsis. Doch war er gleichzeitig Netzwerker und Taktiker genug, um die außergewöhnlich künstlerische Qualität nicht zu bemerken und für sich zu nutzen. Regelmäßig sollte er an den abendlichen Gesellschaften im Hause Schnitzlers teilnehmen, zu denen Texte diskutiert und neue Kontakte geknüpft wurden. Gemeinsame Ausflüge und Unternehmungen brachten sie einander näher, fachlich wie privat. Die Weltsicht des Individualisten und Einzelkämpfers bot eine verbindende Grundlage. Dennoch existierten Unterschiede im literarischen Selbstverständnis. „Wo Hofmannsthal und Schnitzler den Sinnverlust des Lebens konstatierten, setzte Wassermann Mündlichkeit, Bilderreichtum und Mystik dagegen.“51 1912 veröffentlichte er im Merker zum fünfzigsten Geburtstag Arthur Schnitzlers mit Silhouette eine kurze Würdigung. Im gleichen Jahr führte Wassermann die Arbeit an seinem Roman Das Gänsemännchen fort, den er im Kontext der Juli-Krise 1914 endgültig fertigstellte. Die handlungsreiche Geschichte schildert den Lebensweg des Musikers Daniel Nothafft, der durch die Suche nach dem eigenen Ich geprägt war und den der Undank der Umwelt ins Unglück stürzte. Gleichzeitig ist es der Versuch, die Geschichte des bürgerlichen Deutschlands im Allgemeinen wiederzugeben. Das Schicksal des Komponisten dient hauptsächlich als Narrativ. Vielmehr spiegelt es den Zeitgeist und die vermeintliche Sittlichkeit des bürgerlichen Lebens wieder. „Bei der im Roman dargebotenen Querschnittzeichnung der zeitgenössischen Ge49 Köster (1996): S. 19f. 50 Vgl. ebd.: S. 5–21. 51 Kraft (2008): S. 78.
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sellschaft geht es dem Dichter vornehmlich um die seelische Beschaffenheit der einzelnen Charaktere.“52 Nothafft wird zum Symbol einer zwiespältigen Bürgerwelt, von der er sich ausgeschlossen fühlt, da die Kunst den schöpferischen Menschen in die Isolation treibe. Gesellschaftliche Haltlosigkeit ist die Folge. Das alltägliche Miteinander im Rausch künstlerischer Ekstase wird zur Qual. Allerdings findet Nothafft aus dieser selbst-verschuldeten, ichbezogenen, vereinsamten Existenz heraus. Als Vater und Lehrer in Eschenbach findet der Protagonist auf den Weg der Humanität zurück. Schon in den Schrecken des Weltkrieges stehend, dürfte für Olden dieser Roman eine narrative Verdichtung seiner gesellschaftlichen Existenz und seines seelischen Zustandes in der Vorkriegszeit gewesen sein, bewies sie ihm doch, dass eine Läuterung individuell empfundener Einsamkeit und gezielter Abschottung möglich ist. Der Roman schlug womöglich eine Brücke zum Gefühl einer neuen gesellschaftlichen Eingebundenheit, das sich durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges noch verstärken sollte.53 Als Europa im August 1914 von der Euphorie über den Ausbruch des Krieges erfasst wurde, war Wassermann ebenfalls siegesgewiss. Nur seine Frau konnte ihn davon abbringen, sich freiwillig an die Front zu melden. In den kommenden Kriegsjahren fiel es ihm äußerst schwer, einen einheitlichen Standpunkt zu diesem Weltenbrand zu formulieren: Mal lehnte er den Krieg und seine damit verbundenen Schrecken ab, dann schöpfte er wieder neue Hoffnung und prophezeite fundamentale Veränderungen der europäischen Gesellschaft am Ausgang des Krieges. Sein Patriotismus korrespondierte 1914 auffällig mit der Veröffentlichung einer Sammlung unter dem Titel Deutsche Charaktere und Begebenheiten. Erst mit der Beendigung seiner Arbeit am zweiteiligen Roman Christian Wahnschaffe im Mai 1918 fand er zu einer eindeutigen politischen Positionierung zurück. Im Roman selbst kritisiert er die Saturiertheit des Großbürgertums um 1900. Jenseits fehlender Werte und Normen und eines maroden Justizsystems, das die herrschende soziale Deklassierung nur noch verfestigt, suggeriert der Roman, dass die menschliche Unzulänglichkeit, die mangelnde Ethik und Humanität, für das Desaster des Krieges und der allgemeinen gesellschaftlichen Verwahrlosung verantwortlich sei.54
Wassermann unterzog auch hier der Hauptfigur einen langen Weg der Wandlung und Läuterung. Es sollte dieser Roman sein, den Olden unter der Überschrift Einiges über den Dichter in seiner ersten journalistischen Arbeit in Form einer Rezension für das Fremdenblatt im Januar 1919 verarbeitete. Letztlich boten die Werke von Jakob Wassermann für Olden persönlich folgenreiche Motive der Emanzipation von einer „Bourgeoisie, die, müde vom wirtschaftlichen Kampf und unfähig zu innerer Sammlung, übermütig im Besitz, aller Ideale bar sich betäuben“55 wollte, und zurückfand zu Idealen wie Humanität und Nächstenliebe. Inwiefern diese Schriften politisch zu einem pazifistischen Motiv bei Olden anregten, muss an dieser Stelle offenbleiben. Er changierte auf der Basis der re52 53 54 55
Köster (1996): S. 48. Vgl. ebd.: S. 42–51; Kraft (2008): S. 75–85. Kraft (2008): S. 146. Wassermann, in: Kraft (2008): S. 142.
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volutionären Philosophie Nietzsches im Umfeld der künstlerisch-intellektuellen Szene Wiens zwischen einem Impressionismus der Seele, wie wir ihn bei Arthur Schnitzler wiederfinden und einem Expressionismus des Menschlichen, den Jakob Wassermann mitprägte. Thematisch wird Olden der Wiener Moderne stets verbunden bleiben, sei es in der Phase bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, die durch eine persönliche wie politische Standortbestimmung in einer vielfach herausgeforderten bürgerlichen Gesellschaft gekennzeichnet war oder sei es in der Weimarer Republik durch die Auseinandersetzung mit einer Justiz, die in ihren alten Strukturen und Denkweisen, trotz Novemberrevolution und Etablierung einer republikanischer Staatsordnung, verhaftet war. Ebenso relevant erscheint die Kontroverse um die Neudefinition der Geschlechterrollen, die nicht zuletzt mit der Einführung des allgemeinen Frauenwahlrechtes ein deutliches Zeichen in Richtung mehr Gleichberechtigung setzte und in der sich Olden gemeinsam mit Hugo Bettauer 1924 durch die Herausgabe der Zeitschrift Er und Sie engagierte und progressiv zu Wort meldete. Gleiches gilt für die Problematik des rassistischen Antisemitismus nach 1933. Doch zunächst sah sich Olden einer Herausforderung gegenüber, die ganz unmittelbar sein Leben beeinflusste, der Ausbruch des Ersten Weltkrieges am 3. August 1914.56
56 Vgl. Kraft (2008): S. 132–148.
4 DER SOLDAT – POLITISIERUNG IM SCHÜTZENGRABEN? In Deutschland blieben die Ereignisse des Ersten Weltkrieges lange Zeit, zumal unter dem Eindruck der Geschehnisse zwischen 1933 und 1945, verdrängt bzw. wurden durch die Schrecken des Holocaust überzeichnet. Sie schienen in der Betrachtung nur mit Blick auf den Aufstieg des Nationalsozialismus relevant und wurden in diesem Kontext rezipiert. In England und Frankreich dagegen erhielt der Krieg als The Great War bzw. La Grande Guerre stets eine unübersehbare gesellschaftliche Präsenz. Schon zum neunzigsten Jahrestag des Kriegsausbruchs 2004 erreichte die Forschung in der Konfrontation und Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg einen Höhepunkt. Auch 2014, zur hundertjährigen Wiederkehr, setzte sich dies fort. Unternimmt man den Versuch, die konkreten Reaktionen der Zeitgenossen auf den Kriegsausbruch zu erfassen und geht auf Distanz zu den Perspektiven späterer Rückblicke, so gab es nicht ausschließlich euphorische Reaktionen. Viele Menschen hoben ihre Ersparnisse ab. Aus Angst vor Lebensmittelrationierungen kam es zu Hamsterkäufen. Die individuellen Lebensumstände determinierten die Reaktion auf den Kriegsausbruch ganz entscheidend: Kampfeslust und Kampfesmut der bildungsbürgerlichen Eliten stand eine beklommene (städtische) Arbeiterschaft gegenüber. Dies war in allen kriegsteilnehmenden Staaten zu beobachten. Große Anspannung und enorme Erwartungen trafen aufeinander. In Deutschland entstand ein Gefühl umfassender Bedrohung.1 Nichtsdestotrotz sah man sich in der Pflicht, den einmal ausgebrochenen Krieg auch zu gewinnen. Die gesellschaftlichen Konfliktlinien konnte es nur kurzzeitig überstrahlen. „Der August 1914 war kein Wir-Erlebnis, das ein solidarisch handelndes kollektives Subjekt schuf. Vielmehr brachte er eine Schicksals- und Notgemeinschaft hervor, deren Aktionsbasis die temporäre Suspendierung widerstrebender Partikularinteressen war.“2 Gesellschaftspolitisches Sinnbild, welches in der publizistischen Auseinandersetzung ebenso als Propagandainstrument genutzt wurde, war der von Johann Plenge geprägte Begriff der Ideen von 1914, die die Überlegenheit der deutschen Kultur gegenüber westlicher Zivilisation postulierte.3 Dem konnten auch Künstler und Schriftsteller nicht entsagen, die in der Vorkriegszeit noch voller Begeisterung nach Frankreich oder Italien reisten, um in Abgrenzung zu der als Enge empfundenen Kunst und Kultur des Kaiserreiches, neue ästhetische Stile und Ausrichtungen zu studieren. Sie hatten neue publikumswirksame Ausstellungen organisiert, gründeten Sezessionen, u.a. in Berlin und Wien, und stritten für die Moderne. Gerade in ihrem Milieu explodierte die Begeisterung für den Krieg. Sie machten die nationale Sache zu ihrer eigenen. In 1 2 3
Vgl. Leonhard (2014): S. 127–146. Piper (2013): S. 63f. Vgl. ebd.: S. 62–66; Koch (2006): 10f.
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den verschiedenen Richtungen der Moderne spielte plötzlich der Antagonismus zu traditionellen Schulen, die dem herrschenden politischen System stets Sympathie entgegenbrachten, keine Rolle mehr. Allerdings führten die realen Kriegsumstände alsbald zu Ernüchterung und Ablehnung. Die anfängliche Euphorie war nicht von großer Dauer. Gleichwohl war sie symptomatisch für eine gewisse Künstlergeneration, die in ihrer Beurteilung der Geschehnisse anfänglich zwischen Schrecken und Faszination schwankte. Auch wenn ihnen chauvinistischer Nationalismus fremd war, so schien ihnen doch der Rausch und die Ekstase des Krieges anziehend zu sein.4 Ausnahmen bildeten Heinrich Mann, Paul Zech, Hermann Hesse oder Stefan Zweig, die weiterhin am Ideal eines friedlichen Miteinanders festhielten. Sie brachten den Mut auf, die eigene Regierung in ihrem Handeln kritisch zu hinterfragen. Gleichzeitig hielt man an den gewachsenen internationalen Verbindungen und Kontakten fest.5 Ende Juli 1914 hält der bereits 29 jährige Olden sich gerade als Referendar in Frankfurt am Main auf. Über die politische Situation schreibt er an seine Mutter: Hier glaubt man allgemein an Krieg und hält den Zeitpunkt für sehr günstig für Deutschland. Wenn Deutschland Krieg bekommt, so denke ich mich doch freiwillig zu stellen, sonst muss ich noch als Landsturm Eisenbahnlinien bewachen, was mir keine sehr würdige Beschäftigung zu sein scheint.6
Diese Vorstellung wurde in nur wenigen Tagen zur endgültigen Gewissheit. Am 3. August trat Olden freiwillig in das Dragonerregiment Nr. 24 in Darmstadt ein. Voller Zuversicht blickte er in die Zukunft, auch wenn die Situation noch angespannt war. Allgemein schilderte er die Umstände in Frankfurt nur mit kurzen Worten. „Von der Aufregung hier und überhaupt den Zuständen kann man sich natürlich kein Bild machen, wenn man sie nicht miterlebt hat.“7 Seinem Standesbewusstsein scheint es zu entsprechen, dass er sich freiwillig bei den Dragonern gemeldet hat, sah er doch hier am ehesten die Chance eines weiteren gesellschaftlichen Aufstiegs. Eine Rolle dürfte ebenfalls gespielt haben, dass die Einziehung über den Landsturm eine Ausbildung zum Infanteristen bedeutet und einen schnelleren Fronteinsatz zur Folge gehabt hätte. In Darmstadt würde er fortan „mindestens 2 Monate ausgebildet, ehe (er) nachrücken kann, also ist vorläufig gar keine Gefahr“, zumal der Krieg „sehr unwahrscheinlich“8 länger als ein Jahr andauern werde. Die ersten Wochen in der Darmstädter Garnison beeindruckten ihn nachhaltig. Er schwärmt von einem „imponierenden militärischen Prinzip“9, den gebildeten adligen Kameraden in seiner Einheit, die unter dem „Druck der Zeiten ungeheuer viel aus dem Menschen“ herausholten und einer „gewissen Überlegenheit“ gegenüber den Franzosen, mag sich diese allerdings nur auf die Art und Weise der Soldaten4 5 6 7 8 9
Vgl. Piper (2013): S. 105–142 bzw. S. 251–254. Vgl. ebd.: S. 261–265. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 29.7.1914, EB 79/020 – B.02.0034. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 3.8.1914, EB 79/020 – B.02.0034. Vgl. ebd. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 25.8.1914, EB 79/020 – B.02.0045. Die folgenden Zitate ebd.
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kleidung beziehen. Das Feldgrau des deutschen Landsers und seine „fabelhafte Ordnung“ sei zwangsläufig dem französischen Söldner in seinen „roten Hosen und blauen mantelartigen Röcken“ überlegen. In diesem Zusammenhang lesen wir nicht zum letzten Male, dass sich Olden abends, nach getanem Dienst, mit großer Begeisterung in die Schriften des französischen Schriftstellers Honoré de Balzac vertiefte. Mag man anfänglich von großer Euphorie und Kriegsbegeisterung in seinen Briefen nichts verspüren, so scheint die Intensität dieser Gefühle im Laufe des Septembers 1914 zu steigen. Im Angesicht der ersten militärischen Erfolge im Westen kommunizierte er die Empfindung eines Zuspätkommens. Hoffen kann man nur, dass es noch etwa vier Wochen dauern wird. Auf mehr rechne ich jedenfalls nicht mehr. Aber wenn der Krieg nach Westen in dem nächsten Monat so weiter geht, wie im vergangenen, so wird man sich eine Pelzmütze anschaffen müsse, um nach Osten zu reiten, denn wir sind nicht zufrieden, wenn wir zum Nachtmahl nicht unseren Sieg haben. Es ist hinreisend und überwältigend wie unsere Armeen vorgehen. Und wenn die militärischen Fähigkeiten ein absolutes Kriterium für eine Nation bedeuten, so sind wir die überwältigendste der Welt.10
Die Unzufriedenheit Oldens über die Länge seiner Ausbildung wächst. Seine Einschätzung bezüglich der Dauer des Krieges variiert jedoch. „Was uns stört ist, dass wir noch nicht herauskommen, während von anderen Regimentern schon Freiwillige ausgerückt sind, aber wir werden schon dran kommen, denn der Krieg ist gewiss nicht so rasch zu Ende, wie manche Leute geglaubt haben.“11 Ursächlich für diese Wandlung mag das Scheitern des deutschen Heeres an der Marne gewesen sein. Der Schlieffenplan ging nicht auf. Die alliierte Gegenoffensive am 5. September und schließlich der taktische Rückzug der deutschen Truppen an die Aisne am 9. September bedeutete den Wendepunkt im Bewegungskrieg der Westfront. Künftig sollte es keiner kriegführenden Armee mehr gelingen, relevante Geländegewinne im Westen zu verzeichnen. Der Krieg wurde zum Stellungskrieg.12 Wohl früher als anderen einfachen Soldaten waren ihm die unmittelbaren Folgen dieser Niederlage in der Marne-Schlacht bewusst. Die Sehnsucht nach dem ersten Fronteinsatz blieb aber weiterhin ungebrochen. Ich muss schon sagen, dass es mir hohle Zeit scheint, denn der Garnisonsdienst fängt an mir langweilig zu werden. Und zum Langweilen ist der Krieg doch nicht da. Wir sehnen uns alle danach, nicht mehr leere Zuschauer bei der großen Welttragödie zu sein. Hier muss man mitgespielt haben.13
Weiter heißt es: Vorläufig bin ich begierig auf all das Neue, was es zu erleben geben wird. Ich hoffe, dass dies der einzige Krieg in meinem Leben sein wird. Aber den will ich bestimmt nicht auslassen. Und
10 11 12 13
RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 4.9.1914, EB 79/020 – B.02.0045. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Hedwig Liechtenstein, 13.9.1914, EB 79/020 – B.02.0014. Vgl. Münkler (2013): S. 158–176; Leonhard (2014): S. 174–180. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 30.10.1914, EB 79/020 – B.02.0045.
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ich will die Grundlagen kennen lernen, die Grundlagen zu dem Deutschland nach dem Krieg, von dem ich mir wünsche, dass es in mancher Beziehung anders aussehen möchte, wie vorher.14
Olden verknüpft seine persönlichen Erwartungen mit dem Wunsch auf einen (politischen wie gesellschaftlichen) Neuanfang, zu dem dieser Krieg die Voraussetzungen schaffen werde. Vorbild scheint der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Ludwig Frank zu sein. Unter dem Titel An Südekum formulierte der Politiker am 31. August in der Vossischen Zeitung seine Sichtweise auf die Ereignisse. Ich habe während dieser anstrengenden, aber wohltuenden Wochen meiner militärischen Wiederauffrischung manche Stunde zum stillen Nachdenken übrig gehabt, und manchmal über das gesonnen, was werden soll. Ich lasse mich davon nicht abbringen, daß in diesem Krieg die Grundlagen für einen unabsehbaren Fortschritt gelegt werden.15
Dies schien für Olden Orientierung zu bieten. Frank entstammte einer jüdischen Kaufmannsfamilie und wurde 1874 in Baden geboren. Schon als junger Schüler kam er mit den Ideen der Sozialdemokratie in Kontakt. Er las Karl Kautsky, Franz Mehring, Friedrich Engels und August Bebel. Rasch stieg er neben Wilhelm Kolb zu einer führenden Figur der Arbeiterjugendbewegung im Südwesten auf. 1905 wurde Frank als Abgeordneter in den badischen Landtag gewählt und galt als Vorkämpfer einer reformistischen Politik. Diese müsse eine Politik der Tat sein, notfalls auch gegen die herrschenden Verhältnisse. Erkenne das Machbare und setze es durch, lautete sein Motto. Neues auf Basis des Bestehenden zu etablieren war sein Anliegen. 1907 wurde er Reichstagsabgeordneter. Noch unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges stritt Frank öffentlich für eine Verständigung mit Frankreich, was 1913 zur Einberufung einer interparlamentarischen Konferenz in Bern führte, die sich gegen die drohende Kriegsgefahr und die militärische Aufrüstung beider Nationen wandte und an der sowohl deutsche als auch französische Abgeordnete teilnahmen. Mit Kriegsausbruch war für ihn klar, dass nur durch die Bewilligung der Kriegskredite, die deutsche Sozialdemokratie ihren Willen zur Verteidigung des Vaterlandes nachweisen könne. Frank war überzeugt, dies könne die innenpolitische Wende und Umgestaltung zur Demokratie einleiten. Spätestens seit der Zabern-Affäre, die mit der militärischen Niederschlagung der Proteste im Elsass Ende 1913 endete, erschien ihm die Notwendigkeit tiefgreifender innenpolitischer Veränderungen umso stärker geboten, um das Primat des Militärischen in Deutschland zu brechen. Seine Hoffnung knüpfte er an den bevorstehenden Waffengang. Trotz seiner pazifistischen Grundposition folgte er mit persönlichem Beispiel dem Grundsatz einer Politik der Tat und meldete sich, wie Olden, am 4. August 1914 als Kriegsfreiwilliger. „Ich habe den sehnlichsten Wunsch, den Krieg zu überleben und dann am Innenbau des Reiches mitzuschaffen, aber jetzt ist für mich der einzig mögliche Platz in der Linie, in Reih und Glied, und ich gehe wie alle anderen freudig und siegessicher.“ Diese Motivation prägte zumindest bis Ende 1914 auch den Darmstädter Dragoner. Für Frank blieb dieser scheinbare Gesinnungswandel Ausdruck seiner politischen Kon14 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 2.11.1914, EB 79/020 – B.02.0045. 15 Frank, in: Wachenheim (1924): S. 358f. Folgendes Zitat ebd., S. 357.
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zeption, Ausdruck seiner Vorstellung, die den Krieg als nationale Bewährungsprobe hin zu politischer und sozialer Integration empfand. Nicht evident ist hingegen die Absicht Oldens. Diese, aus heutiger Perspektive, merkwürdig anmutende Gedankenkonstruktion war wohl Ausdruck einer „tiefen Unzufriedenheit insbesondere der jungen Generation, die von der materiellen Sattheit und der inneren Unwahrhaftigkeit der Vorkriegsgesellschaft angeekelt war.“16 Ludwig Frank wurde schließlich am 13. August einberufen und kam am 31. August mit seiner Einheit an die Westfront, wo er nur drei Tage später bei seinem ersten Gefecht in Lothringen fiel. Inwiefern Olden bereits vor 1914 mit dem (pazifistischen) Gedankengut Franks in Berührung gekommen sein könnte, muss an dieser Stelle, mangels aussagekräftiger Belege, offenbleiben. Relevant ist dessen Bezugnahme auf Frank allerdings mit Blick auf sein eigenes pazifistisches Selbstverständnis nach 1918, vor allem im Hinblick auf einen sozialistisch motivierten Pazifismusbegriff.17 Kurz bevor Olden die Gelegenheiten erhalten sollte, seinen Tatendrang auch im Felde zu beweisen, verletze er sich am Bein, was ihm einen kurzen Aufenthalt im Reservelazarett in Bad Homburg bescherte und seinen Fronteinsatz weiter verzögerte.18 Erst Ende Dezember 1914 kam er dem Krieg näher, als er nach seiner Genesung zu seiner Einheit (Leibeskadron des 24. Dragoner Regiments, welches der dritten Kavallerie-Division unterstellt war) an die Westfront zurückkehrte und in der belgischen Provinz Limburg um die Hauptstadt Hasselt ersten Garnisonsdienst leistete. Auf dem Truppenübungsplatz Beverloo sollte Olden, ohne in die Kampfhandlungen im Westen involviert zu sein, die nächsten Monate das Dasein eines deutschen Besatzungssoldaten fristen, immer hoffend, bald an der Schlacht teilnehmen zu dürfen. „Ich bin es sehr zufrieden so und bin nur begierig, noch mehr davon zu erleben als bisher, denn so allein wird man später sagen können, dass man dabei war.“19 In seiner Verzweiflung richtete er im Februar 1915 sogar die dringliche Bitte an seine Mutter, sie möge ihm über ihre Kontakte in Wiesbaden einen Posten an der Front verschaffen: Das ist ein trauriges Kapitel – den Krieg nicht mitzumachen als Kriegsfreiwilliger ist recht traurig. Schaut Euch doch einmal um in Wiesbaden, ihr trefft doch sicher eine Menge höherer Kavallerieoffiziere, ob sich nicht irgendwo für mich ein Posten bei der Kavallerie oder als Meldereiter an der Front findet.20
Erst Ende März/Anfang April 1915 rückte der erste Kampfeinsatz näher, allerdings an der Ostfront.
16 Watzinger (1994): S. 75. 17 Vgl. Matthias (1961): S. 343; Watzinger (1994): S. 70–75; Neuschl-Marzahn, in: Weber/Mayer (2005): S. 54–63. 18 „Kaum eingerückt, schon leicht verwundet in Homburg“ schrieb Arthur Schnitzler am 17.11.1914 in sein Tagebuch, zitiert nach: Welzig (1983): S. 151; Vgl. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 20.11. und 30.11.1914, EB 79/020 – B.02.0034. 19 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 5.1.1915, EB 79/020 – B.02.0035. 20 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 8.2.1915, EB 79/020 – B.02.0035.
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Die Lage am östlichen Kriegsschauplatz gestaltete sich im Frühjahr 1915 wie folgt: Die Mittelmächte gerieten an der österreich-russischen Front immer stärker in Bedrängnis. Noch im Dezember gelang es zwar, den westlichen Vorstoß der russischen Truppen bei Krakau zu stoppen, doch gingen diese nur wenig später in einem südlicher liegenden Frontabschnitt erneut zur Offensive im Bereich der Karpatenpässe über. Man befürchtete für das Frühjahr 1915 sogar einen Durchbruch bis in die ungarische Tiefebene, was die Existenz der Habsburger Doppelmonarchie ernstlich gefährdete. Weiterhin wurde die Festung Przemyśl, das österreichische Abwehrbollwerk in Galizien, von russischen Truppen belagert. Die k.u.k.-Truppen erhielten für den Versuch einer Rückeroberung der Karpatenpässe sowie zur Entsetzung der Festung die Unterstützung dreier deutscher Infanteriedivisionen und einer Kavalleriedivision. Zur Entlastung dieser Winteroffensive plante man parallel starke Vorstöße auf die russischen Flanken, im Süden im Raum Czernowitz-Tarnopol und im Norden im Raum Kowno-Grodno. Hier sollten die Deutschen den Hauptschlag führen. Gezielt wollte man einen russischen Teilabzug aus West- und Mittelgalizien provozieren, um den Entsetzungserfolg zu beschleunigen. Konkrete Absprachen zwischen den beiden Militärführungen traf man aber zunächst nicht. Erst als die Gefahr eines Zusammenbruchs der k.u.k.-Truppen immer wahrscheinlicher schien, erkannte Erich von Falkenhayn die Notwendigkeit größerer militärischer Anstrengungen an der Ostfront, um den österreichischen Verbündeten nicht zu verlieren, was schließlich zur Aufstellung von vierzehn neuen Reservedivisionen auf deutscher Seite führte. Unter Führung des Generaloberst Mackensen gingen die deutsche elfte und vierte k.u.k. Armee an dem schmalen Abschnitt der Galizienfront zwischen den Städten Gorlice und Tarnów im Mai 1915 in die Offensive mit Richtung Przemyśl.21 Zuvor wurden auch an anderen Frontabschnitten weitere deutsche Einheiten herangeführt, u.a. im Tross der dritten Kavalleriedivision das Dragonerregiment Nr. 24 aus Darmstadt, welches am 30. März in Beverloo verladen wurde und am 2. April in Ostpreußen eintraf.22 Olden schreibt aus dieser Zeit nach Hause: „Ich reite meistens als Ordonnanz, genannt Befehlsempfänger von der Schwadron zum Regimentsstab und drücke mich mit Erfolg in allen Küchen herum.“23 In der Gesamtstrategie der Mittelmächte kam den im nördlichen Abschnitt der Ostfront stationierten Einheiten eine unterstützende Funktion insofern zu, als dass sie durch ihren Vorstoß russische Kräfte binden und den Hauptangriff in Galizien entlasten sollten. „Zur Ablenkung der für Anfang Mai in Galizien geplanten Offensive wurde ein großes Unternehmen aus Litauen nach Kurland hinein beschlossen.“24 Der Kurlandvormarsch vom 27. April bis zum 9. Mai 1915 sollte der erste aktive Kampfeinsatz sein, an dem Olden als Dragoner teilnehmen wird. Die dritte Kavalleriedivision stand südlich der Memel (polnisch Niemen) zum Aufmarsch bereit. „Der Auftrag lautete, den nördlich des Niemens stehenden Feind möglich vernichtend zu schlagen und mit der Kavallerie bis Libau vorzustoßen.“ 21 22 23 24
Vgl. Münkler (2013): S. 309–312; S. 342f. Vgl. Guenther (1928): S. 125–135. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 7.4.1915, EB 79/020 – B.02.0035. Guenther (1928): S. 136. Folgendes Zitat ebd.; Vgl. Münkler (2013): S. 342–346.
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Aus den Aufzeichnungen der Regimentsgeschichte lässt sich rekonstruieren, inwiefern Olden wohl an den Gefechten beteiligt war. In den ersten Tagen der Kampfhandlungen war die Leibeskadron als Aufklärungseinheit eingesetzt. Am 30. April rückte die 25. Kavalleriebrigade, isoliert vom Rest der dritten Kavalleriedivision, im Norden Litauens auf die durch russische Truppen besetzte Provinzhauptstadt Janiszki vor. Ein erster Ansturm, bei dem mehrere deutsche Soldaten fielen, konnte von den Verteidigern vorerst zurückgeschlagen werden. Nach einem erneuten Angriffsversuch der Leib- und 5. Eskadron wichen die russischen Truppen in nördlicher Richtung aus. Der Ort konnte besetzt werden. Des Nachts folgte der Gegenstoß gesammelter russischer Verbände. Heftige Kampfhandlungen sollten folgen. Janiszki fiel wieder in russische Hand. Oldens Einheit rückte nach erfolgtem Artilleriebeschuss erneut auf den Ort vor, jedoch ohne maßgeblichen Erfolg. Das Regiment wich nach Westen auf das Gut Downarowo aus. Am Morgen des 1. Mai war die dritte Kavalleriedivision in vier Gruppen gespalten. Bei dem Versuch des Regimentes zum Divisionsverband aufzuschließen, wurden am Morgen des 2. Mai zahlreiche Gefangene gemacht. Die Leibeskadron übernahm den Flankenschutz. Parallel begannen die Mittelmächte unter Führung von Mackensens an diesem Tag ihre Offensive in Galizien.25 Das gewonnene Territorium sollte von deutschen Truppen gehalten werden. Der dritten Kavalleriedivision fiel die Aufgabe zu, die starken russischen Verbände, die aus Richtung Kowno nach Norden vorrückten, aufzuhalten. Allerdings sahen sich die Angreifer im Norden aufgrund des russischen Vorstoßes bei Rossienie ab dem 4. Mai rasch gezwungen, sich wieder hinter die Dubissa, einem rechten Nebenfluss der Memel, zurückzuziehen, was am 10. Mai schließlich geschah. Oldens Brigade deckte den Rückzug. Die während der nächsten zwei Monate nördlich des Niemen folgenden Ereignisse trugen zwar zum großen Teil den Charakter des Stellungskrieges. Trotzdem aber wogte der Kampf hin und her, Verteidigung und Angriff, Durchbruch und Rückschlag wechselten sich ab. Auch für (Oldens) Regiment brachten die nun folgenden Wochen des Grabenkampfes manche Stellungswechsel.
In den Briefen, die er Mitte/Ende Mai 1915 an seine Familie schickte, wurden die zurückliegenden Ereignisse in stolzer Weise präsentiert. Es sei ein „großes und geniales Unternehmen“26 gewesen, was in ihm nur die „wundervollsten Gefühle“ hervorgerufen habe. „Zusammengedrängt auf wenig Wochen, Patrouillen, Vorpostengeplänkel, Angriffe, Verfolgung, dann Rückzugsgefechte, Bahnsprengungen, Schützengrabendienst. Dabei die ganze Zeit von aller Welt abgeschnitten.“ Er könne mit Genugtuung sagen, „dass ich immer mit Freude und immer mit einem vergnügten Gesicht dabei war. Wie überhaupt die vielgeschmähten Kriegsfreiwilligen nach meiner Ansicht das Beste von allen Mannschaften geleistet haben.“ Die
25 Vgl. Guenther (1928): S. 143–156. Folgendes Zitat ebd., S. 195. 26 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Hedwig Liechtenstein, 18.5.1915, EB 79/020 – B.02.0015. Die folgenden Zitate ebd.
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letzten Wochen seien die „interessantesten“27 seines bisherigen Lebens, da er „bis zum Schluss nicht nur dabei, sondern vorne dran“ gewesen sei. An seine Schwester Ilse und an die Mutter Rosa berichtete er in diesem Zusammenhang von seiner Beförderung zum Unteroffizier28. Seiner in Beverloo beantragten Versetzung zu einem anderen Regiment wurde Ende Mai 1915 stattgegeben.29 Fortan gehörte der Vizewachtmeister Olden dem preußischen Reserve Dragonerregiment Nr.1, 3. Eskadron, an. Die Begeisterung, die der erste Kampfeinsatz bei ihm auslöste, schien sich im neuen Regiment zu verstetigen. „Ich habe schon wieder Verlangen in die Front zu kommen.“30 Auf ein rasches Kriegsende, zumindest an der Ostfront, projizierte Olden aber seine Hoffnungen nicht. So sehr er doch seine heldenhaften soldatischen Leistungen zu schildern suchte, ihm blieb der Krieg zunehmend lästig.31 Das Regiment, dem Olden fortan angehören sollte, wurde ab Juni 1915 bei den Kämpfen am Kownoer Wald und bei Mariampol eingesetzt. Nachdem es durch Ersatz von Mannschaften und Pferden wieder eine gewisse Gefechtsstärke erreicht hatte, wurde es südlich von Kowno als Aufklärungseinheit dazu verwandt, durch mehrere Patrouillen den Angriff auf die Festung vorzubereiten, was z.T. unter heftiger Gegenwehr der russischen Verteidiger erfolgte. „Dieses war meistens mein Schicksal in den letzten 10 Tagen. Es hat mich aber wieder keiner getroffen.“32 Doch zunächst kam der weitere Vorstoß zum Stillstand. Oldens Eskadron wurde als Vorposten eingesetzt.33 Noch ist er beeindruckt vom Leben an der Front: „Interessant ist es schon dies Leben; bunt, abwechslungsreich und voll Gefahren, über die man sich am meisten freut, wenn man sie hinter sich hat.“ Mit der Veränderung seiner persönlichen Situation durch den Regimentswechsel34 richtete sich erstmals sein Blick wieder auf die (politische) Lage in Deutschland. „Ich fürchte, man wird eine Reihe von Jahren nur von diesem Krieg sprechen, der doch auf die Dauer etwas eintönig ist und schon jetzt eine Flut empörend flacher Literatur gezeigt hat.“35 Auf welche Titel er anspielt, bleibt im Unklaren. Seine grundsätzliche Haltung gegenüber dem Krieg wurde kritischer. „Was man vom Kriege erwartete, war doch mehr eine kurze Sensation, aber nicht dieser 27 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 20.5.1915. Folgendes Zitat ebd., 31.5.1915, EB 79/020 – B.02.0046. 28 „Wie du auf dem Umschlag siehst, hat sich meine Adresse wieder geändert und außerdem bin ich Vizewachtmeister geworden.“ Vgl. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 30.5. und 1.6.1915, EB 79/020 – B.02.0035. 29 Vgl. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 15.4.1915, EB 79/020 – B.02.0035: „Es ist eine Versetzung meiner Person im Schwung, die ich von Beverloo aus eingeleitet habe.“ 30 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 26.5.1915, EB 79/020 – B.02.0035. 31 Vgl. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 9.6.1915, EB 79/020 – B.02.0035. 32 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 15.6.1915, EB 79/020 – B.02.0046. Folgendes Zitat ebd. 33 Vgl. Osterroht/Herrmann (1930): S. 140–146. 34 „Ich spiele Adjutant bei einem Rittmeister, der Abschnittskommandeur ist und habe so ein recht schönes Leben.“ RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Hedwig Liechtenstein, 4.7.1915, EB 79/020 – B.02.0015. 35 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern,16.7.1915, EB 79/020 – B.02.0046.
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Dauerzustand, der einen bald zum Zigeuner und Landsknecht machen könnte.“36 Zunehmend selbstkritisch reflektierte er Ende Juli 1915 die Mär vom schnellen Krieg, der er, wie so viele seiner Zeitgenossen, in den rauschhaften Augusttagen des Jahres 1914 unterlag: „Ich hätte eben nicht gedacht, dass der Krieg ein Jahr und länger dauern wird. Aber wer hätte das gedacht! Man wird wohl Rücksicht auf die kriegerischen Umstände nehmen.“37 Die aufkeimende Langeweile und Unzufriedenheit, die der Adjutantendienst scheinbar mit sich brachte, Olden schrieb in diesem Zusammenhang mehrfach von einem „Urlaub auf Staatskosten“38, fand bald ein Ende. Am 8. August 1915 wurde der Angriff auf die Festung Kowno wieder aufgenommen. „Der Auftrag für die 1. Kav. Div. forderte die Ablösung der nördlich Kowno sichernden 4. Kav. Div. (der das Regiment Oldens unterstellt war), die ihrerseits nach Nordosten verschoben werden sollte.“39 Ab dem 11. August war das Regiment in „lebhafter Gefechtsberührung mit stärkeren feindlichen Kräften“ verwickelt, was sich vor allem wieder in Patrouillen-Zusammenstößen äußerte. Olden schrieb: „Ich bin zur Zeit damit beschäftigt, Kowno zu erobern, was wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen wird. Neulich hatten wir einmal eine sehr ungemütliche Nacht. Aber jetzt geht es anscheinend gut.“40 Er zeigte sich durchaus von der russischen Verteidigungsstrategie beeindruckt, die nur deswegen scheitere, weil die Landsturmleute, meist Letten, zu Haufen überlaufen. Ohne das wäre es gar nicht zu machen. Denn die russischen Verteidigungen, die wir schon zum teil genommen haben, sind erstklassig. Es wird einem schwer bei dem Gedanken, dass man dagegen anlaufen müsste, wenn sie richtig verteidigt würden.
Als am 20. August die Festung genommen war, gab sich Olden wieder der Hoffnung auf ein rasches Kriegsende im Osten hin. „Wir sind zur Zeit auf einem sehr schönen Gut und warten der kommenden Ereignisse, die, glaube ich, gross sein sollen und die Russen endgültig zerschmettern sollen.“41 In diesen Tage erreichte ihn ein Brief seiner Tante Hedwig, die darin seiner Aufforderung nachkam, ihm „ein Bild des jetzigen Lebens in Deutschland“ zu zeichnen. Ernüchtert stellte er in seiner Antwort an sie fest: „Ich habe jetzt wieder das Gefühl davon, wie drückend und langweilig es dort ist, was ich schon wieder vergessen hatte.“ An dieser Stelle mögen ihn ernste Zweifel überfallen haben, ob der Krieg tatsächlich die Grundlagen für ein neues Deutschland schaffen könne, wie er zu Beginn innig gehofft hatte. „Man macht sich, wenn man so lange draussen ist, so viel Illusionen.“
36 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden,16.7.1915, EB 79/020 – B.02.0035. 37 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 23.7.1915, EB 79/020 – B.02.0035. 38 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 30.5.1915, EB 79/020 – B.02.0046; RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 21.6.1915, EB 79/020 – B.02.0035. 39 Osterroht/Herrmann (1930): S. 152f. Folgendes Zitat ebd. 40 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 12.8.1915, EB 79/020 – B.02.0035. Folgendes Zitat ebd. 41 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Hedwig Liechtenstein, 21.8.1915, EB 79/020 – B.02.0015. Die folgenden Zitate ebd.
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Anfang September 1915 war jede Begeisterung verflogen. „Die Politik ist langweilig und der Krieg bietet auch nichts Neuartiges mehr.“42 Es wurde ihm endgültig bewusst, dass der Krieg „schon mehr als eine dauernde Einrichtung“43 geworden war. Gleichzeitig liest man erstmals davon, dass die Briefe Oldens wohl der Zensur zum Opfer gefallen waren, was später noch nachhaltige Auswirkungen auf seine Feldpost und die damit vermittelten Informationen an die Familie haben sollte. „Ich will unseren Freund, den Zensor nicht länger ärgern und schreibe lieber bald einmal wieder.“44 Es lässt sich nicht mehr verifizieren, in welchem Zusammenhang eine Zensur seiner Briefe vorgenommen wurde. Die militärische Gesamtsituation an der Ostfront Ende 1915 zeigte folgendes Bild: Große Teile Litauens waren den deutschen Truppen in die Hände gefallen. Die Kavallerie hatte sich als eigenständige Waffengattung letztmalig bewährt. 750.000 russische Soldaten waren im September 1915 bereits in Gefangenschaft geraten, als der deutsche Vorstoß im Norden vor Riga zum Stillstand kam. In politisches Kapital, d.h. in den Abschluss eines Separatfriedens mit dem zaristischen Russland, konnten die militärischen Erfolge nicht verwandelt werden. Die Faszination für das Erlebnis Ostfront trieb später, v.a. in der Zwischenkriegszeit, wundersame Blüten, man erinnere nur an Walter Flex und sein Buch Der Wanderer zwischen beiden Welten. Diese Beschreibung des Naturerlebnisses mitten im Krieg ist in zweierlei Hinsicht aufschlussreich: Sie zeigt eine Form des Stellungskrieges, in dem es sich leidlich aushalten ließ und der neben den Mühen der nächtlichen Wache und den Unbequemlichkeiten der Gräben und Unterstände eine Abwechslung gegenüber dem Alltagstrott der Vorkriegsgesellschaft bereithielt, an der sich so mancher berauschte.45
Bei Olden hingegen ließen die Ereignisse und Erfahrungen seine Skepsis zum Kriegsgeschehen und zum Krieg an sich spürbar wachsen. Auch er changierte persönlich in seinen Beschreibungen noch zwischen Faszination, Grauen und vermeintlicher Langeweile, einer Melange, die sich aus Abenteuerlust und Kriegsidealismus speiste.46 Das Jahr 1915 endete für Olden mit ernsten Zweifeln daran, ob der Krieg tatsächlich Grundlage und Katalysator für eine neue politische wie gesellschaftliche Ordnung in Deutschland im Sinne Franks stiften könne. In den kommenden Kriegsjahren wurde es für den rückblickenden Beobachter immer schwieriger, konkrete Einsatz- und Aufenthaltsorte, Meinungen und Einstellungen zum aktuellen Kriegsgeschehen oder zur politischen Lage grundsätzlich, aus den familiären Briefen heraus zu identifizieren. Olden hielt sich zunehmend mit exakten Schilderungen zurück. Folgendes ließe sich dennoch feststellen: Sein Regiment gehörte bis November 1915 (unter der vierten Kavalleriedivision) der zehnten Armee an. Dies belegen Feldpostbriefumschläge aus dem Juni 1915. Ab November erfolgte wahrscheinlich eine Umgliederung seiner Einheit. „Wir kommen 42 43 44 45 46
RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 1.9.1915, EB 79/020 – B.02.0035. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 1.10.1915, EB 79/020 – B.02.0035. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 4.11.1915, EB 79/020 – B.02.0046. Münkler (2013): S. 352. Vgl. ebd.: S. 346–355.
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zu einer neu zusammengestellten Division, die geführt wird von Generalleutnant Beckmann.“47 Nach Angaben des Militärarchivs in Freiburg war Oldens Regiment, das preußische Reserve Dragonerregiment Nr.1, somit ab Dezember 1915 der 108. Infanteriedivisionen unterstellt. Der Gefechtskalender jener Division weist bis zum 30. April 1916 Stellungskämpfe vor Dünaburg aus, deren scheinbare Langeweile Olden in seinen Briefen allgemein beschrieb: „Denn hier ist, weiß Gott, nichts los“48, „Langweiliger, als unser Stellungskrieg, kann das Gefangenenlager auch nicht sein“49, „Alles übrige wird der Verlauf dieses ungewöhnlich langweiligen Krieges ergeben.“50 Weiter heißt es in entwaffnender Ehrlichkeit: Ödigkeit des Stellungskrieges, du ahnst sie nicht! Unsere armen Kameraden im Westen, wie bedauere ich sie! Uns bleibt es hoffentlich erspart, eben so lange in der gleichen Situation aushalten zu müssen. Wenn ihr in Europa nicht ganz egoistisch sein wollt, so könnt ihr uns nicht einmal diese relative Sicherheit des Lebens wünschen, denn sie tötet unseren Geist. Also doch den besseren Teil des Menschen.51
Schließlich verderbe jene Form des Krieges „den Character der Zurückgebliebenen.“52 Ende Mai 1916 ist die Frustration über den Krieg und seine Hoffnungen, die er auf ihn gesetzt hatte, offenkundig. „Alles grau und hässlich und ich ganz enttäuscht und ohne Hoffnung und niedergeschmettert.“53 Anders als bei Walter Flex, der „die Vorstellung von der Regeneration des eigenen Volkes im Krieg mit der Idee einer moralischen Gesundung im Erleben unangetasteter Natur verband,“54 betonte Olden bereits 1916 aus persönlichem Erleben seine Abscheu gegenüber jener Romantik. Der Grund für seine schriftliche Zurückgezogenheit lag womöglich in der verschärften Briefzensur. „Und dann immer die Briefe offen schreiben müssen, wie lästig! Merkwürdigerweise kommen in der letzten Zeit die Briefe von Alma (die ich liebe) geschlossen an, was sehr gut ist. Aber mit derselben Post deine oder Mamas offen.“55 In dieser Hinsicht wurde Olden in einem Brief an seine Mutter Anfang November 1916 besonders deutlich. Noch eine Bitte: jammere nicht so viel über den Krieg. Einmal haben wir persönlich es ja gar nicht nötig, und dann sieht der Zensor es nicht gern, er hat neulich Einiges, was offenbar derartiges enthielt, mit einem sehr dicken Bleistift durchgestrichen.56
1917 bildete in vielerlei Hinsicht ein Jahr des Überganges. Der Krieg veränderte sein taktisches wie technologisches Gesicht. In Russland verband sich Weltkrieg mit Revolution und Bürgerkrieg. Zugleich ging der Krieg dort langsam seinem Ende entgegen, während er an der Westfront durch den Kriegseintritt der USA 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56
RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden,14.11.1915, EB 79/020 – B.02.0035. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 30.1.1916, EB 79/020 – B.02.0047. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 1.2.1916, EB 79/020 – B.02.0047. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 4.2.1916, EB 79/020 – B.02.0047. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 18.2.1916, EB 79/020 – B.02.0047. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 3.3.1916, EB 79/020 – B.02.0047. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 22.5.1916, EB 79/020 – B.02.0047. Münkler (2013): S. 352. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 4.2.1916, EB 79/020 – B.02.0047. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 5.11.1916, EB 79/020 – B.02.0036.
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expandierte. Alle Gesellschaften – gleichwohl in unterschiedlicher Intensität – erlebten eine Krise der politischen wie militärischen Glaubwürdigkeit, was dazu führte, dass man seine Hoffnungen stets aus der nächsten Offensive bezog, die den Krieg endgültig beenden sollte. Dies steigerte sich auf deutscher Seite zur Bereitschaft, höhere militärische Risiken auf sich zu nehmen. Folge war die Ausrufung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges am 9. Januar 1917, worauf die USA Anfang April ihren Kriegseintritt auf Seite der Entente erklärte. An der Ostfront beurteilte man die Lage aufgrund der innenpolitischen Instabilität des zaristischen Systems als besonders günstig, durch eine erfolgreiche Offensive den Krieg letztlich mithilfe eines russischen Sonderfriedens siegreich zu gestalten und Russland als Kriegsgegner auszuschalten. Diesem Kriegsschauplatz kam daher 1917 eine gewisse Scharnierfunktion zu. Innere Entwicklung und militärische Situation waren eng miteinander verknüpft und wirkten gegenseitig aufeinander ein. Anders als von den Mittelmächten erwartet, führte die Februarrevolution 1917 nicht zum Kriegsende an der Ostfront. Seit Mai setzte der amtierende Kriegsminister Kerenski auf die Fortsetzung des Krieges. Die letzte russische Großoffensive folgte Ende Juni, die besonders im südwestlichen Abschnitt der Ostfront bei Lemberg ansetzte. Nur einen Monat später sah man sich aufgrund hoher Verluste gezwungen, den Angriff einzustellen. Es folgten unübersehbare Auflösungserscheinungen der russischen Truppen. Der im August 1914 begonnene Krieg im Osten kam nach den deutschen Angriffen im Norden bei Riga faktisch zu seinem Ende. Der Ausbruch der sozialistischen Oktoberrevolution beschleunigte bis Ende November das Ausscheiden Russlands aus dem Ersten Weltkrieg. Am 15. Dezember 1917 schwiegen schließlich die Waffen. Dies bot aus Sicht der deutschen Militärstrategen die Möglichkeit, mit den bald freiwerdenden Kräften, die Entscheidung an der Westfront zu suchen.57 Von dieser bewegten Zeit erfahren wir aus den Briefen Oldens nur sehr wenig. Politische wie militärische Beurteilungen lassen sich in der Korrespondenz kaum finden. „Aber ich halte es für sehr leicht möglich, dass es im Herbst 1917 oder im folgenden Winter mit dem Krieg aus ist.“58 Als die USA Anfang Februar die diplomatischen Beziehungen zum Deutschen Reich abbrechen, war dies für ihn „persönlich ein harter Schlag. Aber ich glaube trotzdem nicht, dass man dort seine politischen Ansichten geändert hat.“59 Womöglich wollte er damit seine Zweifel über einen möglichen Kriegseintritt der Vereinigten Staaten zum Ausdruck bringen. Eine unmittelbare Reaktion Oldens auf den doch Anfang April erfolgten Eintritt der USA in den Krieg, ließ sich nicht finden. Erst Ende Mai formulierte er folgende Erwartung: „Friede nicht vor Herbst-Winter 1918.“60 Innerhalb weniger Monate ließ Olden offenbar jede Hoffnung auf ein rasches Kriegsende fahren. Was ihn dazu bewog, bleibt offen. Grundsätzlich festzuhalten ist hingegen der geringe Gehalt an politischer Meinung, den er gegenüber den Daheimgebliebenen in jener Zeit offen57 58 59 60
Vgl. Leonhard (2014): S. 614–633. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden,12.1.1917, EB 79/020 – B.02.0036. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 12.2.1917, EB 79/020 – B.02.0047. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 22.5.1917, EB 79/020 – B.02.0047.
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barte. Ob die Zurückhaltung der politischen Zensur oder einem gewissen Desinteresse am Weltgeschehen zuzuschreiben ist, obliegt der Interpretation. Betrachtet man die ganz individuell-persönliche Ebene wird beides eine Rolle gespielt haben.
Quelle: Vgl. Münkler (2013): S. 353.
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Seit Kriegsbeginn war seine Beziehung zu Stefanie Bachrach merklich abgekühlt. Aus dem Tagebuch Arthur Schnitzlers ist zu entnehmen, dass 1915 die Enttäuschung Stefanies über die wenigen Lebenszeichen ihres Rudolfs in eine Beziehung mit dem Arzt Dr. Rudolf Urbantschitsch mündete. Hin- und hergerissen zwischen den beiden Männern, nahm sie sich schließlich am 16. Mai 1917 in Wien das Leben. Olden war zutiefst getroffen und „nahm sofort Urlaub; soll dem Wahnsinn nah sein. Weinte stundenlang. Meine Gegengründe gegen seinen geplanten Selbstmord läßt er innerlich wenigstens gelten.“61 Diese persönliche Tragödie rückte das Weltgeschehen in den Hintergrund. Gleichwohl war es Thema im gegenseitigen Dialog mit Schnitzler. „Wir sitzen auf meinem Balkon; er ist ziemlich beruhigt. Wir sprechen vom Krieg, von seiner Zukunft; von Leben, Tod und Unsterblichkeit.“ Mehr erfahren wir nicht. Olden verbrachte den gesamten Sommer 1917 beurlaubt in Bad Ischl und Bad Ausee, wo er schon bald über den Verlust Stefanies, durch eine Beziehung zu Christine (genannt Mädi) Furtwängler, hinwegkam. Sein schlechter gesundheitlicher Zustand trug ebenso zu einer stärkeren Innerlichkeit seiner Gedanken bei. Steter Begleiter während des Krieges waren für Olden die Schriften Balzacs, die er „immer (noch) mit demselben Vergnügen“62 las. Wer war dieser Mann, von dem Olden so fasziniert schien, dass er befürchtete, „der Krieg wird nicht lange genug dauern, um ihn auszulesen.“ Der französische Schriftsteller wurde 1799 geboren und galt zusammen mit Stendhal (Marie-Henri Beyle) und Gustave Flaubert als einer der größten Klassiker des französischen Romans. In seinen Werken entwarf er ein Bild der nachrevolutionären Gesellschaft Frankreichs, das sich aus seinen eigenen historischen Erfahrungen speiste. Literaturhistorisch galt er als Realist. So beanspruchte er die präzise, ja nahezu naturwissenschaftliche, Wiedergabe der Gesellschaft in seinem Werk. Der Romanzyklus Die menschliche Komödie bildete sein Hauptwerk und fand auch in der rechtswissenschaftlichen Forschung zur Entwicklung des Rechts im 19. Jahrhundert Beachtung.63 Für Georg Lukács64 vereinte Balzac die Fähigkeit, künstlerische wie soziologische Komponenten zu kombinieren. Balzac gelinge es in seinen Narrativen Figuren zu schaffen, die menschliche wie gesellschaftliche Typen ihrer Zeit in einer künstlerischen Gestalt vereinen. Nur so könne überhaupt die Wirklichkeit dargestellt werden. Der Realismus und allen voran Balzac habe verstanden, dass der Mensch nie ausschließlich Privatmann oder eine Person des öffentlichen Lebens ist. Die Mitte zwischen Individuum und Gesellschaft mache den wahren Humanismus letztlich aus. Vielleicht trug gerade die starke Lektüre Balzacs in Verbindung mit der persönlich erlebten Freitod-Tragödie Stefanies zu jener neuen Innerlichkeit bei, die Oldens Briefe ab 1917 zu suggerieren schienen. Das öffentliche Leben als Soldat wurde durch den persönlichen Schicksalsschlag, wenn auch nur kurzzeitig, neu justiert. 61 Arthur Schnitzler Tagebuch 1917–1919, in: Welzig (1985): S. 50–52. Folgendes Zitat ebd. S. 53. 62 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 22.5.1917, EB 79/020 – B.02.0047. Folgendes Zitat ebd. 63 Vgl. Lichtenthäler (1988): S. 11f. 64 Vgl. Lukács (1952)
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In politischer Hinsicht ist folgendes von Relevanz. Man suchte besonders nach Erklärungen dafür, warum Balzac ab 1832 vom liberalen Bürgertum der Republik zur Partei der Legitimisten konvertierte und gleichzeitig sich in anarchistischer Weise äußerte. In seinen Jugendjahren gehörten seine Sympathien eindeutig dem Liberalismus. Die politischen Ansichten, für die Balzac zu stehen scheint, sind äußerst widersprüchlich. Während der Einunddreißigjährige Sozialisierung und freie Entfaltung des Individuums verlangt, blieb er doch ganz bewußt in einem vom Bürgertum gesteckten Rahmen und hielt sich somit jedem Sozialismus fern; Gerechtigkeit und Nächstenliebe forderte er 1839; gleichzeitig aber weigerte er sich, ein Philanthrop zu sein; 1848 schließlich verteidigte er zwar immer noch die sozialen Rechte und geißelte die Macht des Geldes, war aber gleichzeitig ein konservativer Royalist.65
In diesem Sinne war Balzac ein Kind seiner Zeit. Das Revolutionsdrama und die ungelösten politischen Konflikte der Folgejahre, die zu Unsicherheit und Angst führten, griffen die Romantiker, darunter Balzac, auf, wenngleich er deren Ursachen kritisch zu beurteilen suchte und nicht zur Weltflucht riet. Als Historiograph suchte er die Wurzel allen Übels nicht ausschließlich außerhalb der eigenen Gesellschaft. Ihm ging es um Objektivität. Insofern vollzog Balzac den Umbruch von einer revolutionären Romantik hin zu einem kritischen Realismus.66 Entdeckte Olden im jungen (sprich liberalen) Balzac jenes Vorbild, zu dem er selbst später unter den Bedingungen der Weimarer Republik werden sollte oder ist es vielmehr der späte (sprich historische) Balzac, der ihn dazu ermutigte, die Ursachen des eigenen mal du siècle kritisch zu hinterfragen? Welcher Interpretation im weiteren Verlauf auch Vorrang zu geben sein wird, im geistigen Umwandlungsprozess Balzacs, an dessen Höhepunkt Die menschliche Komödie steht, spiegeln sich letztlich ebenso gewisse Wandlungen Oldens, die erst in der Gesamtschau auf sein Leben endgültig exakt eingeordnet werden können. Mit Beginn des letzten Kriegsjahres war sein aktiver Kampfeinsatz endgültig beendet. Bis Ende Februar 1918 weilte Olden aufgrund seines gesundheitlichen Zustandes im niederösterreichischen Kurort Semmering, von dem aus er als Adjutant ins hessische Bad Nauheim versetzt wurde. Wie von der militärischen Führung erhofft, brachten die Erfolge im Osten, an deren Ende der Friedensschluss von BrestLitwosk Anfang März 1918 stand, die Möglichkeit, eine siegreiche Entscheidung im Westen durch eine groß angelegte Offensive zu erzwingen. Unter dem Decknamen Operation Michael begann am 21. März mit einem mehrstündigen Artilleriebeschuss der deutsche Angriff im Westen. In den ersten Tag kamen die Angreifer noch schnell voran. Doch schon am 26. März konnten keine nennenswerten Geländegewinne mehr erzielt werden. Ludendorff entschloss sich schließlich am 5. April zum Abbruch der Operation. Zwar konnten die deutschen Armeen einen Vorstoß von sechs Kilometern verbuchen, was Briten und Franzosen in den Jahren zuvor vergeblich versucht hatten, aber strategisch betrachtet, blieb die Offensive ein Misserfolg: Der Durchbruch zur Kanalküste scheiterte und die britischen Verteidiger 65 Beilharz (1979): S. 139. 66 Vgl. ebd.: S. 131–149.
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hielten der Kanonade stand.67 Die aufkeimende Euphorie durch die raschen Geländegewinne konnte Olden nicht beeindrucken. Die Stimmungsänderung ist leider nicht zu übersehen und ich bedaure sie sehr, lasse mich persönlich aber dadurch in keiner Weise beeinflussen. Aber ich hoffe jetzt auch auf baldigen Frieden – so Anfang 1919 schätze ich. Es ist das erste mal, finde ich, dass man überhaupt von einer Aussicht darauf sprechen kann. Aber jetzt wird doch die Entscheidung im Westen gesucht, wo sie fallen muss.68
Wie diese konkret auszusehen habe bleibt ebenso offen wie seine Position nach dem Scheitern der Offensive. In den letzten Apriltagen begleitete Olden als Adjutant einen Truppentransport an die Westfront69, bis er im Mai an ein Kriegsgericht versetzt wurde. Ich bin ja tatsächlich durch lauter Zufälle und ohne, dass man mich nach meinen Absichten gefragt hat, in der Gegend der Front, wo man mich beim Kriegsgericht augenblicklich als Aushilfe dringend braucht und auch anscheinend ohne mich zu fragen, behalten will.70
In welchem Frontabschnitt bzw. bei welcher Einheit er diesen Dienst versah, konnte nicht ermittelt werden. Doch bereits vier Wochen später endete seine Arbeit dort. Meine hiesige Verwendung wird wohl bald zu Ende sein – ich arbeite nur noch Stösse von Kriegsgerichtsakten auf und fahre wieder nach Nauheim. Doch gehöre ich mehr dort mir selbst und also der Welt – finde keine Befriedigung in diesen Verhältnissen, die ganz ähnlich mich schon einmal so verderblich allem Wesentlichen im Menschlichen entfremdet haben. 71
Die Desillusionierung über den Krieg und seinen menschenverachtenden Charakter trat ihm im Rahmen seiner Tätigkeit beim Kriegsgericht nochmals wie in einem Brennglas vor Augen und schärfte sein Bewusstsein endgültig. Über die genauen Gründe seines Abschiedes aus der Militärgerichtsbarkeit ist nur wenig: „Ein kurzer Abriss meiner Erlebnisse: Draussen war nicht viel Interessantes. Man wollte mich als Auditeur behalten, aber ich bat, davon abzusehen – aus mancherlei Gründen, die ich erzählen können müsste.“72 Lediglich aus einer biographischen Skizze seines Bruders Balder Olden erfahren wir mehr über die Bedeutung dieser vier Wochen im Frühjahr 1918. Als er aus dem Stab heraus zum Kriegsgerichtsrat kommandiert wurde, erlebte er sein Damaskus. Was er in den Schützengräben, auf Patrouille und im Stab nicht erahnt hatte, wurde ihm als Richter elementar bewusst: die Grauenhaftigkeit der preußischen Armee-Maschine, die Herzlosigkeit ihrer Gesetzgebung, der Sinn jenes Krieges: nicht nur einer Klasse, sondern einer Kaste alle Macht im Staat zu geben: den Junkern. Ich weiß nicht, wie er das Recht handhabte, das in seine Hände gepresst war; Ich weiß nur das: als hochqualifizierter Offizier bekam er
67 68 69 70 71 72
Vgl. Münkler (2013): S. 687–697. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 22.3.1918, EB 79/020 – B.02.0036. Vgl. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 20.4.1918, EB 79/020 – B.02.0048. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern,16.5.1918, EB 79/020 – B.02.0048. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 20.5.1918, EB 79/020 – B.02.0048. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 16.6.1918, EB 79/020 – B.02.0048.
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4 Der Soldat damals Urlaub in die Schweiz und besuchte unsere Schwester. Eine ganze Nacht saß er an ihrem Bett und weinte, ohne sprechen zu können.73
Für eine genauere Einordnung muss man die grundsätzliche Janusköpfigkeit der Militärgerichtsordnung im Ersten Weltkrieg betonen. Während das Militärstrafgesetzbuch durch abgestufte Strafen die individuelle Schuld zu sühnen suchte (das Strafmaß lag im internationalen Vergleich eher niedrig)74 und damit durchaus Ausdruck partieller Modernität und rechtsstaatlicher Tradition im Kaiserreich war, blieb das Prozessrecht einem autoritären Charakter des politischen Systems verhaftet. Hier spiegelte sich das Primat des Militärischen besonders wieder. Der unmittelbare Vorgesetzte fungierte als Gerichtsherr, um bei Bedarf die Disziplin der Truppe durchzusetzen. Für den weiteren Ermittlungsvorgang war häufig die Beurteilung des Soldaten durch diesen entscheidend, was durchaus zu einer Einmischung in die Rechtsprechung führen konnte. Auseinandersetzungen über den adäquaten juristischen Weg und unterschiedliche Formen der Rechtsauslegungen mündeten immer wieder in Konflikte zwischen einerseits dem mit der Militärgerichtsbarkeit verbundenen Anspruch der Abschreckung und andererseits einem gewissen Gerechtigkeitsempfinden. Besonders in der Nachkriegszeit geriet die Militärjustiz in die Mühle der politischen Konfrontation zwischen links und rechts. Für die einen waren sie lediglich politische Scharfrichter. Für die anderen waren es gerade die rechtsstaatlichen Prinzipien, die die Wehrkraft zersetzten und mitverantwortlich für die Niederlage waren.75 Vor allem Arnold Zweig prägte Ende der 1920er Jahre mit seinen Romanen Erziehung vor Verdun und Der Streit um den Sergeanten Grischa das Bild jener Justizgewalt, die zur Durchsetzung der Disziplin z.T. drakonische Strafen verhängte und von Fehlurteilen oder sogar Justizmorden nicht zurück zu schrecken schien.76 Aus der Unmittelbarkeit der Beschreibung jener Ereignisse und deren Bedeutung für das Leben Oldens, sofern darauf von ihm selbst oder anderen eingegangen wurde, ist ein negativer Bezug zur Militärjustiz evident. Innere Leere, Einsamkeit, Desillusionierung und Perspektivlosigkeit kennzeichnen stärker als jemals zuvor seine Gemütslage. „Ich fühle mich leer und initiativlos, stärkeren Mächten hilflos preisgegeben.“77 Die pazifistische These, dass Oldens spätere Position, die Allianz zwischen konservativen Eliten des Militärs und dem Junkertum führten zum Untergang der Weimarer Demokratie, wie er sie in seiner Hindenburg-Biographie 1935 formulieren sollte, bereits hier ihren Ursprung hatte, mag zunächst plausibel erscheinen. Jedoch blendet es die Vorgänge der Weimarer Republik, d.h. besonders deren politische Justiz, gegen die er als Journalist und Jurist aktiv kämpfen wird, aus. Eventuell haben die Erlebnisse des Kriegsgerichts ihn für diese Problematik sensibilisiert, doch bleibt ihr Stellenwert innerhalb der weiteren Entwicklung frag73 Olden, Balder, Rudolf Olden und die Junker, in: Argentinisches Tageblatt 54. Jg., Nr. 192, 28.8.1943, S. 3. 74 Vgl. Leonhard (2014): S. 641f. 75 Vgl. Jahr, in: Bröckling/Sikora (1998): S. 200–213; Stachelbeck (2013): S. 196–198. 76 Vgl. Midgley (1989): S. 35ff. 77 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 1.8.1918, EB 79/020 – B.02.0048.
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lich und geht womöglich stärker auf jene Zuschreibung zurück, die sein Bruder Balder 1943 formulierte. Bezieht man seine Skizze Das Gefecht von Ogurkischki aus dem Jahre 1938, die zum ersten und einzigen Male einen Blick auf seine Kriegserinnerungen wirft, in die Betrachtung mit ein, so scheinen die vier Wochen des Kriegsgerichts rückblickend nicht relevant. Von den vielen kriegerischen Begebenheiten, die ich während der drei Jahre Frontdienst erlebte, die ich mit Spannung erwartet und von denen ich geglaubt hatte, sie würden mir Stoff zum Nachdenken für Jahrzehnte bieten, wenn ich sie überlebte, erinnere ich mich schon jetzt nur noch hie und da einer einzigen. Und diese ist das Gefecht von Ogurkischki. 78
Mit keinem Wort geht Olden selbst auch nur andeutungsweise auf den Mai bzw. Juni 1918 ein. Auch die Hindenburg-Biographie weist keinen Bezug dazu auf. Aus den Erfahrungen des Kriegsgerichtes allein ein pazifistisches Erweckungserlebnis schlussfolgern zu wollen, greift letztlich zu kurz. Das Kriegsende sollte er ab Ende Oktober 1918 in Wien erleben. Zu diesem Zeitpunkt war die österreichische Doppelmonarchie sowohl innenpolitisch als auch militärisch längst im Auseinanderfallen begriffen. Nahrungsmittelknappheit rief eine Welle von Streiks, besonders von Seiten der Arbeiterschaft, hervor. Verschiedene Nationalitäten formulierten immer radikaler ihre Forderungen nach staatlicher Autonomie. Sie bezogen sich auf das 14-Punkte-Programm des US-Präsidenten Woodrow Wilson. Unter dem Druck des abgelehnten Friedensvorschlages scherte Österreich-Ungarn am 26. Oktober aus dem Bündnis mit Deutschland aus. Zwei Tage später wurde die Gründung der Tschechoslowakei proklamiert. Mit der Aufkündigung des Ausgleichs von 1867 zwischen Österreich und Ungarn am 31. Oktober endete die Existenz der Doppelmonarchie. Der Waffenstillstand wurde drei Tage später unterzeichnet. Kaiser Karl verzichtete schließlich am 11. November auf die Regierungsgeschäfte. Österreich befand sich auf dem Weg in die Republik.79 Der untergegangenen Monarchie schien Olden nicht nachzutrauern. So bemerkt er lediglich lakonisch: „Übrigens ist es mir die ganze Zeit über sehr gut gegangen, die Staatsumwälzungen haben mich persönlich bisher nicht gestört.“80 Waren es in der Donaumonarchie hauptsächlich die nationalistischen Bestrebungen, die zum Umsturz führten, spielten in Deutschland sozialrevolutionäre Faktoren sowie politische Überlegungen der militärischen Führung, die Verantwortung für die bevorstehende Niederlage abzuschieben, ein wichtige Rolle. Geschickt drängten Ludendorff und Hindenburg Anfang Oktober 1918 die Sozialdemokratie zur Führung von Waffenstillstandsverhandlungen und entledigten sich damit gleichsam ihrer militärischen wie politischen Verantwortung, nicht ohne gleichzeitig zu versuchen, Einfluss auf die Gespräche zu nehmen. Im Laufe der kommenden Wochen wurde der politischen Führung unter Reichskanzler Max von Baden immer stärker bewusst, dass nur die Entlassung Ludendorffs dazu beitragen könne, den Krieg nicht ins Uferlose entgleiten zu lassen. Das alleinige Ausscheiden Ludendorffs führte letzt78 Olden (1938): S. 25. 79 Vgl. Beller (2007): S. 182–185. 80 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 3.11.1918, EB 79/020 – B.02.0036.
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lich zum Bruch mit Hindenburg. Der Matrosenaufstand katalysierte die Forderung nach einem sofortigen Kriegsende endgültig und verband dies mit einem Sturz der alten Eliten sowie der Monarchie grundsätzlich. Mit der erzwungenen Abdankung des Kaisers am 9. November brach die alte Ordnung endgültig in sich zusammen. Max von Baden übergab das Amt des Reichskanzlers an Friedrich Ebert. Am 11. November unterzeichnete die provisorische Reichsregierung im Wald von Compiègne den Waffenstillstand.81 In diese neue politische Führung setzte Olden durchaus seine Hoffnungen. Aber ich glaube, man kann jetzt, was die weitere Entwicklung betrifft, durchaus optimistisch sein. Die Führung des neuen Deutschland scheint ja durchaus in den Händen besonnener, das Beste des Ganzen wollender Leute zu sein.82
Endlich könne man seine politische Meinung wieder frei äußern, denn „die Zensur ist des tausendmal verdienten Todes gestorben.“ Seine politische Zuversicht projizierte er aber auch auf den US-Präsidenten, der „uns nicht im Stich lassen“ wird. Sucht man nach einer abschließenden Bedeutung, die dem Krieg in Oldens Leben zukam, so beschrieb er selbst rückblickend seine „Zufriedenheit, dass jetzt schon (die Ereignisse) in einem dumpfen Schwall des Unterbewußtseins verschwunden“ sind, auch wenn er sie zu Beginn „mit so viel Ungeduld erwartet“83 habe. Wie lässt sich diese Ungeduld aus heutiger Perspektive deuten? Der durch die Wiener Moderne um Schnitzler und Wassermann intellektuell wie künstlerisch tief geprägte Olden empfand den Beginn des Krieges als Katharsis, was typisch für jene Schriftsteller und Künstler war, in denen er sein Vorbild sah. Ihr Schaffen in den ersten Kriegsjahren war Ausdruck einer ungeheuren Hoffnung auf (politische wie künstlerische) Erneuerung, was Olden mit ihnen teilte. Die Ablehnung bzw. Distanz vieler Intellektueller zur Gesellschaft des Kaiserreiches mündete in die Kritik des mit ihr verbundenen Friedens. In diesem Phänomen vereinten sich Kritik an der Vorkriegszeit, wie der Wunsch nach sozialer Integration durch den Krieg, als quasi revolutionärer Aufbruch in einen neuen gesellschaftlichen Zustand, zu dem man als Kriegsfreiwilliger seinen Beitrag leisten wollte. Dem schien sich Olden mit seiner Berufung auf Ludwig Frank nicht entziehen zu können. Dass diese Position durchaus typisch war, lässt sich an drei exemplarischen Beispielen verdeutlichen: Hermann Hesse, der nie müde wurde, seinen pazifistischen Standpunkt zu betonen, schreibt in seinem Gedicht Der Künstler an die Krieger über seine Haltung zum Kriegsausbruch: „Haß gegen den Feind? Freude am Zerstören? Nein. Aber Freude beim Berichten von einem in die Luft geflogenen Kreuzer des Feindes? Ja, ein wenig Freude, eine Welle von Freude, ach – von warmer Freude, von großer Freude.“84 Arnold Zweig, der vor 1914 einem gewissen Friedensoptimismus anhing, verfiel mit Kriegsausbruch ebenso in diese Rechtfertigungshaltung. Nun war der Krieg plötzlich doch unausweichlich gewesen. In verschiedenen Aufsätzen begrüßte er 81 Vgl. Münkler (2013): S. 735–752. 82 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 17.11.1918, EB 79/020 – B.02.0036. Folgendes Zitat ebd. 83 Olden (1938): S. 25. 84 Hesse (1915), zitiert nach: Schumann, in: Mommsen (1996): S. 229f.
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ihn als einen „Schöpfer des neuen Europa.“85 Schließlich finden wir diese Vorstellungswelt auch bei dem Maler Franz Marc wieder. Zwar lehnte er „einerseits den aufflammenden Nationalismus ab, sah andererseits aber die entsetzlichen Blutopfer des Krieges als notwendig für die Läuterung und Erneuerung des europäischen Geistes an.“86 Er hoffte ebenso, der Krieg und seine Ereignisse würden einen in die Zukunft weisenden Sinn stiften können. Was hier zum Ausdruck kam, war ein „kollektives Unbehagen an zivilisatorischen Modernisierungsprozessen, die sich in Deutschland seit der Reichsgründung rapide beschleunigt hatten.“87 Enge, Langeweile und Motivationslosigkeit der Vorkriegszeit, die jene Generation um Olden empfand, suchten sich in der allgemeinen Kriegsbegeisterung des August 1914 ein Ventil. „Es ist immer das gleiche, so langweilig, langweilig, langweilig. Wenn doch einmal etwas geschehen wollte, was nicht diesen faden Geschmack der Alltäglichkeit hinterläßt. Sei es auch nur, daß man einen Krieg begänne.“88 Diese Vorstellungen gingen auf die vitalistische Kulturkritik Nietzsches zurück und verbanden bereits ab 1910 Futurismus, Expressionismus, Impressionismus und Dadaismus über alle bestehenden Unterschiede hinweg. Man sah dem Krieg mit einer Mischung aus Faszination und Grauen entgegen. Jenes Gefühl, was Olden 1914 zum begeisterten Kriegsfreiwilligen gemacht hatte, schilderte er in seiner Hindenburg-Biographie wie folgt: Die Verehrung der Vergangenheit bestand in der Verherrlichung des Kriegs. Was die jugendlichen Gemüter an romantischer Hoffnung bedurften, das bot ihnen die Aussicht auf einen neuen Krieg. Der Krieg war die große Chance, war Erlösung und Erhöhung zu gleich.89
Die Realität setzte jenen Hoffnungen bald ein jähes Ende. Vor allem viele Expressionisten wandelten sich während des Krieges von der beschriebenen Kriegsbegeisterung über eine gewisse Desillusionierung und Ernüchterung hin zum Pazifismus, den sie nach 1918 in konkrete politische Aktivität umsetzten. Das von der Euphorie des Anfangs unter den realen Gegebenheiten des Krieges nichts übriggeblieben war, bezeugte Oldens eigene Kriegserinnerung. „Weder während des Pfeifens der Kugeln noch nachher, als ich wieder in Deckung war, hatte ich eine Spur der Empfindung für Sensationen, die ich mir stets von diesen Augenblicken erträumt hatte.“90 Die (literarische) Moderne im Allgemeinen und Olden im Besonderen, war politisch durchaus gefährdet. Plötzlich sah er sich mit einer überwältigenden politischen wie militärischen Herausforderung konfrontiert, die jedes zuvor bekannte Maß sprengte und der man in gewisser Weise hilflos gegenüberstand. Darüber hinaus übte das empfundene Sinnvakuum angesichts einer sich rapide verändernden Welt seinen Sog auch auf fragwürdige Sinngebung aus. Die tiefgreifenden Erfahrungen der
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Vgl. Hilscher (1985): S. 50f. Piper (2013): S. 279. Anz, in: Mommsen (1996): S. 237. Heym (1910), zitiert nach: Anz, in: Mommsen (1996): S. 238. Olden (1982): S. 70. Olden (1938): S. 25.
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4 Der Soldat Isolation und zwischenmenschlichen Entfremdung verringerten die Widerstandskraft gegenüber problematischen Gemeinschaftserlebnissen.91
Überalterte politische wie soziale Strukturen und der Mangel an gesellschaftlichen Freiheiten führten letztlich auch bei Olden zu einer anfänglichen Empfängnis für die vermeintlichen Chancen des Krieges und zu einer gewissen Kriegsbegeisterung. Die Erlebnisse an der Front mündeten aber rasch in die beschriebene Skepsis und am Ende in Niedergeschlagenheit ob der militärischen wie gesellschaftspolitischen Realitäten. Verstärkt wurde dies durch die zunehmende Zensur der Feldpost, die den Ausschlag dafür gab, dass wir ab 1916 kaum etwas über seine politische Entwicklung und Einstellung erfahren. Unmittelbar vor Kriegsende ist lediglich das eingekehrte Gefühl der Ernüchterung belegbar, dass sich mit dem Friedensschluss aber durchaus in eine allgemein-positive Richtung wandelte. Ob der Weltkrieg zwangsläufig ein Erweckungserlebnis hin zum Pazifisten bedeutete, konnte nicht ermittelt werden. Olden bleibt in dieser direkten Nachkriegszeit wahrscheinlich politisch eher ein Suchender, der seine Positionen und Überzeugungen weiterhin aus dem Umfeld der ehemaligen Wiener Moderne92 bzw. ergänzt durch die umfassende Lektüre des kritischen Realismus bei Balzacs bezog und sie im Umfeld beruflicher wie politischer Unsicherheit zu festigen suchte.93 Arthur Schnitzler notierte in seinem Tagebuch: „Zum Thee Rudi Olden; unschlüssig und unsicher über seine Zukunft.“94 Die folgenden Kapitel werden darauf zurückkommen, inwiefern es innerhalb dieser Gedankenwelt nach 1918 zu pazifistisch anmutenden Ausformungen gekommen sein könnte und ob diese gegebenenfalls prägend für Olden gewesen sind.
91 Anz, in: Mommsen (1996): S. 247. 92 So besuchte beispielsweise Jakob Wassermann den in Ausee weilenden Olden persönlich im August 1918. Vgl. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 1.8.1918, EB 79/020 – B.02.0048. 93 Vgl. Anz, in: Mommsen (1996): S. 235–247. 94 Arthur Schnitzler Tagebuch 1917–1919, in: Welzig (1985): S. 202.
5 WIENER JAHRE (1918–1926) Als das Blutvergießen auf den Schlachtfeldern des Kontinents im November 1918 beendet wurde und an allen Fronten die Waffen schwiegen, weilte Olden noch immer in der österreichischen Hauptstadt. Die vorläufige Stationierung war nur als Übergangsphase gedacht, als er am 20. Oktober in Wien eintraf. Seine Einheit wurde nach Rumänien verlegt, aber der schlechte Gesundheitszustand Oldens verhinderte seinen Abtransport an die Front. Erst Anfang November 1918 meldete er sich transportfähig. Die deutsche Militärbehörde in Wien sollte über seine weitere Verwendung befinden. Doch dazu kam es aufgrund der Ereignisse vom 11. November nicht mehr. Vor Abschluss des Waffenstillstands telegrafierte er an seine Tante Hedwig: „Wohlauf, bleibe vorläufig in Wien.“1 Ob Olden zu diesem Zeitpunkt selbst von einem nahenden Kriegsende ausging, muss aufgrund des vorliegenden Quellenmaterials unbeantwortet bleiben. Vielfach wurde der Verbleib Oldens in Wien als ein politisches Statement gedeutet. Aber sowohl die These einer gezielten Abwendung vom preußisch dominierten Obrigkeitsstaat, der nur Illiberalität und geistige Intoleranz symbolisiere2 – Wien ist nicht Potsdam – als auch die These einer bewussten Entscheidung für die Aufnahme einer journalistischen Tätigkeit im sozialistischen Umfeld3 können nicht aufrechterhalten werden. Sie unterstellen ein Maß an politischer Bewusstseinsschärfe, die sich nicht belegen lässt, zumal Olden durchaus positiv die unmittelbaren Geschehnisse um die neue Reichsführung in Berlin kommentierte, sodass aus prinzipiellen politischen Gründen eine sofortige Rückkehr nach Deutschland nicht ausgeschlossen gewesen wäre. Über die eigene Unsicherheit jener Monate schrieb er später rückblickend: „Mich hatte der Krieg in Wien ans Ufer gespült. Ich zog dort die Uniform aus und wusste nicht genau, was ich tun sollte.“4 So war es nach den Schrecken des Weltkrieges vor allem seine Beziehung zu Mädi, die Olden in Wien Wurzeln schlagen ließ und ihm persönlich Halt und seelische Stabilität geben sollte. Erste Heiratspläne wurden noch zu Kriegszeiten im September 1918 angestellt. Nach dem Verlust von Stefanie Bachrach, den Wirren des Krieges und den politischen Umwälzungen, die mit Kriegsende vielerorts zur Auflösung herkömmlicher politischer Strukturen führte und nach Neuorientierung verlangte, sehnte sich der inzwischen 34-Jährige nach Geborgenheit und seelischer Ruhe. „Eine in Aussicht stehende Münchner Position scheint ihn nicht zu locken, da er wegen Mädi F. hier bleiben möchte.“5 Zwar ko1 2 3 4 5
RO – DNB/DEA: Telegramm R.O. an Hedwig Liechtenstein, 4.11.1918, EB 79/020 – B.02.0018. Vgl. Greuner (1969): S. 253. Vgl. Müller (1988): S. 182. R.O. Nachruf auf einen Freund, in: Neues Tage-Buch, 5.2.1938, S. 141. Arthur Schnitzler Tagebuch 1917–1919, in: Welzig (1985): S. 233.
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nnte die Hochzeit zwischen Rudolf und Mädi erst im Juli 1919 stattfinden, aber für seine bewusste Entscheidung, das private Glück in Wien zu suchen, war diese Liebesbeziehung in erheblichem Maße von Bedeutung. Trotz des Umstandes, dass sich die Freundschaft zwischen Schnitzler und Olden seit dem Freitod von Stefanie und der beabsichtigten Heirat zwischen Rudolf und Mädi merklich abkühlte6, blieb Schnitzler eine wichtige Bezugsperson. Seine Selbstzweifel über die weitere berufliche Laufbahn waren in den kommenden Monaten allgegenwärtiges Gesprächsthema. Eine Rückkehr in den Staatsdienst der deutschen Justizverwaltung kam augenscheinlich zu keinem Zeitpunkt ernsthaft in Betracht und wäre aufgrund des Wiener Lebensmittelpunktes ohnehin unmöglich gewesen. Über die schriftstellerischen Ambitionen, die Olden schon vor und während des Weltkrieges verfolgte und an die er anzuknüpfen versuchte, fällte Schnitzler aber erneut ein vernichtendes Urteil. „Las Rudi Oldens Arbeiten. Producte eines leidlich klugen Dilettanten, einigermaßen versnobt, und affectirt; - ohne Spur dichterischer ja kaum schriftstellerischer Begabung.“7 Gleichzeitig schien Schnitzler aber sein politisches wie journalistisches Talent zu bemerken. „Rudi Olden. Über Philosophie und Politik. Olden journalistisch beflissen; Und darauf will – und wird so ein Mensch vielleicht seine Existenz gründen, d.h. Journalist, - vor allem natürlich Kritiker werden!“ Das Unbehagen und womöglich auch die Ressentiments gegenüber dieser Art des Broterwerbs waren bei Schnitzler weiterhin allgegenwärtig. Fortan war eine deutliche Hinwendung zum Versuch des journalistischen Schreibens zu beobachten, wenngleich Olden stets in Kontakt zu Zeitungen und Zeitschriften trat, um seine literarischen Produktionen zu veröffentlichen. Das schlug nicht selten fehl. Sein Tagwerk in den Redaktionsstuben der Nation zu fristen, war für ihn zu Beginn nicht mit großer Attraktivität verbunden. „Ich selbst bin skeptisch, wie ich das immer bin, aber was bleibt mir anderes, als es zu versuchen, da ich das doch noch sicher besser kann, als etwas Anderes.“8 Olden suchte aus der ökonomischen Not, die ihn spätestens mit der Entlassung aus dem Militärdienst im Dezember 1918 mit voller Wucht heimsuchte, eine perspektivische Tugend zu machen. Ich habe mit einigen Zeitungen angeknüpft und bin sehr fleissig, aber noch hat sich nichts Klares herauskristallisiert. Geld habe ich natürlich wenig, borge mich so durch mit Hilfe von Leuten, die glauben, dass ich im Stande sei, journalistisch etwas zu leisten.
Unter dem Einfluss von Arthur Schnitzler deutete eigentlich nichts darauf hin, dass sein journalistisches Engagement den Status der Notlösung überschreiten würde. 6
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„Arthur Schnitzler betrauerte einmal eine Tote. Zu einem, der, verzweifelt wegen desselben Verlustes, zum ihm kam, sagte er tröstend: Nun, da ihr Körper nicht mehr lebt, wird ihr Geist immer lebendiger werden. Aber das Band zwischen den beiden Trauernden, das die Freundschaft für eine Frau knüpfte, war zerrissen.“ R.O. Zu Schnitzers Tod, in: Weltbühne 27. Jg. Nr. 43, 27.10.1931, S. 649. Arthur Schnitzler Tagebuch 1917–1919, in: Welzig (1985): S.230. Die folgenden Zitate ebd. und S. 212. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Hedwig Liechtenstein, 24.12.1918, EB 79/020 – B.02.0018. Folgendes Zitat ebd.
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„Ob journalistisches (Talent) wird sich ja zeigen. Rathe zu einem anderen Beruf – was natürlich in diesem Fall besonders schwer.“9 Um die Jahreswende 1918/19 war lediglich das Fremden-Blatt bereit, einige Beiträge zu publizieren. Auf den konkreten Inhalt dieser Artikel wird an anderer Stelle ausführlich einzugehen sein. Auf die Darstellung des Blattes, d.h. sein politischer Charakter bzw. seine Historie wird bewusst verzichtet, da Olden mit der Arbeit für dieses Medium keine gezielte politische Aussage verknüpfte. Ihm ging es in erster Linie darum, ein Organ in der vielfältigen Medienlandschaft Österreichs zu finden, das seine Beiträge überhaupt veröffentlichte. Die journalistische Bühne des Fremden-Blatt nutzte Olden in seinem ersten Artikel für eine Selbstreflexion. Unter Bezug auf den Roman Christian Wahnschaffe von Jakob Wassermann glaubte er nun Einiges über den Dichter sagen zu müssen. Die Rolle und Verantwortung des Dichters bzw. des Schriftstellers in bewegter Zeit und damit auch die Auseinandersetzungen mit der eigenen Zwiespältigkeit im Hinblick auf seinen Platz in der Gesellschaft sind Gegenstand seiner Erörterung. Einzig dem Poeten eigen sei die Gabe der Phantasie. Sie fungiere als Schlüssel zur Wirklichkeit. Durch die Phantasie des Dichters wird (v.a. historische) Wirklichkeit quasi greifbar, selbst dann, wenn sie konstruiert bzw. mit Defiziten wiedergegeben wird. Für Olden steht es außer Frage, dass der einfache Mensch durch die Romane Balzacs einen besseren Zugang zur französischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts erlange, als durch Memoiren von Zeitgenossen. Diese seien lediglich für den Historiker von Interesse. So verschließt sich dem Politiker sowie dem Juristen der wahre Charakter der Dinge, wenn er die Kraft der Phantasie negiere. „Vieles muß der Dichter gesehen und gefühlt haben, aber dann baut er die Welt aus seiner Seele auf, die seine Welt ist.“10 Bedenkt man parallel die Hintergründe, die das berufliche Leben Oldens seit Kriegsende prägten, wähnte er sich an diesem Punkt seiner Existenz wohl auch vor verschlossener Tür. „Er fühlt seine Lebensuntüchtigkeit.“11 Den Versuch, eine schriftstellerische Laufbahn dennoch gewagt zu haben, schien er nicht zu bereuen. „Manchem öffnest du einmal ein Spältchen, durchzublicken in die Verknüpfung der Welten, und ein Leben lang zehrt er von solchem Blicke.“12 Bei alle dem agiere der Dichter grundsätzlich unpolitisch. Das programmatische sei ihm fremd. Ihm ginge es ausschließlich um den Menschen an sich. Vielleicht, daß die Menschenliebe des Dichters manchem kalt, allzu scharfsichtig erscheinen mag. Aber es ist keine weichliche, keine Affenliebe, die der Schöpfer zu seinem Geschöpf hat; es ist eine harte, gerechte eine Liebe der Erkenntnis und Verantwortung.
Genau das trenne ihn vom Journalisten, denn „das Raten und Zusammenhänge konstruieren ist ein elendes Machwerk der Kommentatoren-Dilettanten.“ Mit der Konstruktion einer Dichotomie zwischen dem phantasie- und verantwortungsvollen Schriftsteller und dem opportunistischen Schreiberling der Medienwelt suchte Olden nicht nur den Roman und seinen Verfasser zu ehren, sondern verarbeitete gl9 10 11 12
Arthur Schnitzler Tagebuch 1917–1919, in: Welzig (1985): S. 233. R.O. Einiges über den Dichter, in: Fremden-Blatt, 6.1.1919. Arthur Schnitzler Tagebuch 1917–1919, in: Welzig (1985): S. 233. R.O. Einiges über den Dichter, in: Fremden-Blatt, 6.1.1919. Die folgenden Zitate ebd.
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eichzeitig seine persönliche Situation im Januar 1919. Gleichwohl blieb in dieser Betrachtungsweise unberücksichtigt, dass es vor allem die Mehrzahl der Literaten, Schriftsteller und Dichter gewesen waren, die 1914 maßgeblich zu einer geistigen Mobilmachung der Massen beigetragen hatten. Eine kritische Auseinandersetzung musste aufgrund der eigenen Identitätssuche unterbleiben. Seine Sicht auf die politische Situation seit den Novembertagen des Jahres 1918 und seine auf die neue Führung in Berlin projizierten positiven Zukunftserwartungen hatten sich eingetrübt. „Ich glaube nicht an die Zukunft dieser Stadt [gemeint ist Wien], noch an die der europäischen Zivilisation. Amerika, du hast es besser.“13 Seine Tätigkeit für das Fremden-Blatt sollte nur von kurzer Dauer sein. Ende März 1919 erschien die letzte Ausgabe des Blattes. Zwar wurde ein Großteil der Mitarbeiter von dem Nachfolgeblatt Der Neue Tag übernommen, doch kann keine Rede davon sein, dass Olden zu den etablierten Redakteuren des Fremden-Blatt zählte. Die journalistische Karriere schien beendet zu sein, bevor sie richtig begann. Doch der Herausgeber des Neuen Tag, Benno Karpeles, sollte ihm eine journalistische Perspektive eröffnen, die Olden nicht unwesentlich prägen wird und die erstmals einen breiteren und ausdifferenzierten Blick auf seine politischen Vorstellungen und Positionen sowie ideengeschichtlichen Einflüssen gestatten. Neben dem Neuen Tag gab Karpeles ebenfalls die pazifistische Wochenzeitschrift Der Friede heraus, für die Olden ab April 1919 schreiben sollte. Auch der Redaktion des Neuen Tag gehörte er fortan an, was seine erste hauptberufliche Stellung nach dem Ersten Weltkrieg war und somit den Beginn seiner journalistischen Laufbahn endgültig einläutete.14 Unklar bleibt, unter welchen Umständen Karpeles und Olden sich kennenlernten und daraus ihre berufliche Zusammenarbeit und persönliche Freundschaft entwickelten. Womöglich waren es Schnitzler oder Wassermann, die gelegentlich für die Blätter Karpeles schrieben, die Olden auf diese aufmerksam machten bzw. die ihn Karpeles als talentierten Mitarbeiter empfahlen. So notierte Schnitzler Ende Juli 1919 in sein Tagebuch: „Rudi Olden, mit dem ich ein wenig spazierte. Beim neuen Tag, bewährt sich nicht übel als Journalist.“ Welche Bedeutung seine Mitarbeit bei den von Karpeles herausgegebenen Zeitungen und Zeitschriften für ihn persönlich hatte, beschrieb er in einem Nachruf auf einen Freund wie folgt: Ich glaube, es war die Zeitung im Herrschaftsbereich Ludendorffs, in der die kühnsten, die radikalsten Dinge gegen den Krieg gedruckt wurden. Es ist die einzige Redaktion gewesen, die mir jemals Spass gemacht hat, und das bisschen, was ich journalistisch kann, habe ich dort gelernt.15
13 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 6.1.1919, EB 79/020 – B.02.0048. 14 Vgl. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Ilse Seilern, 21.4.1919, EB 79/020 – B.02.0048; Ders. an Hedwig Liechtenstein, 27.4.1919, EB 79/020 – B.02.0019; Arthur Schnitzler Tagebuch 1917– 1919, in: Welzig (1985): S. 248. Folgendes Zitat ebd., S. 275. 15 R.O. Nachruf auf einen Freund, in: Neues Tage-Buch, 5.2.1938, S. 141.
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5.1 PAZIFISTISCHE VORBILDER? BENNO KARPELES UND DIE ÖSTERREICHISCHE SOZIALDEMOKRATIE In den letzten beiden Dekaden der Doppelmonarchie hatte sich ein spezifisches sozialdemokratisches Arbeitermilieu konstituiert. Besonders am Beispiel Wiens lassen sich die Merkmale des Milieus deutlich kennzeichnen. Sowohl die Partei als auch die Gewerkschaften stützten das Klassenbewusstsein. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) etablierte sich um die Jahrhundertwende als klassische Mitgliederpartei, die zentralistisch mit einer hierarchischen Struktur aufgebaut war. Professionalisierte Politiker waren innerhalb der Parteielite dominierend. Bis 1907 war die Geschichte der SDAP in eigentlich liberaler Tradition durch Wahlrechtskämpfe geprägt. Das Bild des Parlamentarismus verlor langsam ihren Schrecken als vermeintlich moderne Form der Klassenherrschaft. Politische Demokratie wuchs zum Zweck an sich, was semantisch nicht dazu führte, dass Ziel einer klassenlosen Gesellschaft gänzlich zu verneinen. Lange Zeit blieb der wütende Antiklerikalismus ein Hemmnis in der Erschließung neuer sozialer Schichten für die Ziele der Sozialdemokratie. Besonders die Landbevölkerung galt als Repräsentant des katholischen Machtblocks in der Politik des Reiches. Im Kern war die Partei ein urbanes Phänomen. Politisch von der Vorstellung einer Industrialisierung Österreichs getragen, suchten die Sozialdemokraten die Überreste des feudalen Habsburgerreiches zu modernisieren und entwickelten innerhalb der theoretischen Auseinandersetzungen der Arbeiterbewegung mit dem Austromarxismus rasch eine eigene Theorievision.16 Die österreichische Sozialdemokratie ist unter den europäischen sozialistischen Parteien in zweierlei Hinsicht einzigartig: in ihrer Betonung der Bildung als zentraler Angelpunkt politischer Aktivität und in ihrer Rolle als Träger der liberalen Idee eines konstitutionellen Staates.17
Dahinter verbirgt sich ideologisch die Auseinandersetzung zwischen Lassalleanern, die ausschließlich mit Blick auf das Wahlrecht politisch argumentierten und den Anhängern Schulze-Delitzschs, die für Konsumvereine, eine gezielte berufliche Ausbildung und moralische Erziehung der Arbeiterschaft votieren. In Wien sollten zunächst die Anhänger Lassalles die Oberhand gewinnen. Nichtsdestotrotz blieb das Konzept der Arbeiterbildung ein zentrales Prinzip. Gegen Ende der 1880er Jahre wurde Victor Adler zur markanten Figur innerhalb der Partei. Er versuchte die starken ideologischen wie ethnischen Fragmentierungen des österreichischen Sozialismus zu vereinen. Radikale Marxisten um Andreas Scheu bzw. Anarchisten um Johann Most und Josef Peukert, die zu einer Klassenkooperation nicht bereit waren und gemäßigte Sozialisten wie Heinrich Oberwinder, die dem traditionellen Verständnis von Lassalle folgten und auf eine Zusammenarbeit mit den Liberalen setzten, standen sich bis 1888 nahezu unversöhnlich gegenüber. Verschärft wurde die Konfliktlage durch den wachsenden Nationalismus der böhmischen Arbeiter gegenüber den deutschösterreichischen So16 Vgl. Hanisch/Wolfram (1994): S. 79–82 und S. 123–126. 17 Rabinbach (1989): S. 7.
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zialisten. Zwar konnte der Hainfelder Parteitag am 30. Dezember den Antagonismus zwischen Radikalen und Gemäßigten nivellieren und den Neuanfang für eine sozialdemokratische Massenpartei setzen, aber den Nationalitätenkonflikt nur vorläufig beruhigen. Die Partei blieb in dieser Beziehung ein Spiegelbild der Monarchie. Adler hatte die Partei zu einer schlagkräftigen, auf marxistischen Prinzipien aufgebaute, eine reformistische Programmatik verfolgende und multiethnisch zusammengesetzte Organisation gemacht. Der kurzlebige politische Liberalismus machte die Sozialisten bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges zum einzigen Sachwalter des liberalen Erbes der Aufklärung. Letztlich führte dies zur Bereitschaft, das Fundament des Habsburger Konstitutionalismus zu stützen, was die ideologische Ausrichtung der Sozialdemokratie in Form der Einflussnahme auf den Staat durch das allgemeine Wahlrecht determinierte.18 „Diese Wurzeln des theoretisch-ideologischen Überbaus der österreichischen Sozialdemokratie wurden bis 1914 nicht thematisiert.“19 Adler blieb die prägende Figur. Für ihn unterlag die sozialistische Theorie Nützlichkeitserwägungen mit Blick auf die politische Praxis. Ihm ging es darum, dass Proletariat für den Kampf um das allgemeine Wahlrecht zu organisieren und nach dessen Erkämpfung durch parlamentarische Arbeit seine Situation zu verbessern bzw. es zu erziehen. Diese pragmatische Strategie Adlers war darauf ausgerichtet, die Einheit der Arbeiterschaft zu erhalten und zu festigen. Kennzeichnete die relative Unverbundenheit der Arbeiterbewegung mit der sozialistischen Theorie die Position Adlers, so betonte die jüngere Generation um die Austromarxisten Otto Bauer und Karl Renner die exakte wissenschaftliche Begründung politischen Handelns. Die Politik der Partei blieb davon nahezu unberührt. Beide Strömungen etablierten sich parallel, ohne dass die eine, die andere verdrängte. Es bleibt festzuhalten, dass der Widerspruch zwischen sprachlich-theoretischer Radikalität und Reformpolitik nur eines zum Ziel hatte: die Einheit der Partei zu gewährleisten. Dieser Umstand kann aufgrund der zentrifugal ethnischen und nationalistisch determinierten Zusammensetzung der Anhängerschaft nicht genug betont werden, bestimmte er entscheidend das Handeln der Parteiführung um Adler in der Vorkriegszeit. Auf Strategien außerparlamentarischer Kampfmittel zur Erreichung politischer Ziele wurde verzichtet. Besonders der Massenstreik wurde als unbrauchbar erachtet. Nur auf parlamentarischem Wege könnten sozialpolitische Reformen eingeleitet und umgesetzt werden. Die Strategie des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses durch die Beteiligung am Parlamentarismus allein muss spätestens 1913 als gescheitert angesehen werden, hatte sie dem zunehmenden Nationalitätenkonflikt und der ökonomischen Verelendung durch Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit seit dem Konjunktureinbruch von 1908 nichts mehr entgegen zu setzen.20 Sowohl für die deutsche als auch österreichische Vorkriegssozialdemokratie galt folgendes Modell: Sie übten eine stabilisierende Funktion auf ihre jeweiligen 18 Vgl. Rabinach (1989): S. 7–15. 19 Kepplinger (1990): S. 19. 20 Vgl. Kepplinger (1990): S. 16–39.
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Gesellschaften durch die Integration des Proletariats aus. Dies verhinderte ein Umschlagen des politischen Kampfes in revolutionäre Ausschreitungen. Der Wunsch, die Partei als Ganzes institutionell erhalten zu wollen, richtete den Blick stärker auf die innerparteiliche Politik. Dem Mangel an tatsächlicher politischer Partizipation begegnete man zusehends mit Resignation. Aus Furcht vor einem erneuten Parteiverbot blieb die oppositionelle Einstellung in den Parlamenten inkonsequent, zumal man ohnehin die Aufhebung der erreichten parlamentarischen Rechte befürchtete. Speziell für die österreichische Arbeiterbewegung muss von einem geringen Organisationsgrad der Partei ausgegangen werden. Die kurze konstitutionelle Tradition führte während den Krisen vor dem Ersten Weltkrieg zu einer erheblicheren Lähmung des Parlaments als im Deutschen Reich. Somit lag der Fokus noch mehr auf dem Aspekt einer moralisch fundierten Arbeiterbildung.21 In dieser Umgebung engagierte sich in führender Position ein Mann, der auf die Biographie Oldens wie kein Zweiter einwirkte. Die Rede ist von Benno Karpeles. 1868 in Wien geboren, stammte er wie der 17 Jahre jüngere Olden aus dem jüdisch geprägten Großbürgertum. Schon in frühen Jugendjahren wandte er sich unter den Fittichen seines Freundes und Vorbildes Victor Adler der österreichischen Sozialdemokratie zu. „Als junger Doktor lernte er (ihn) kennen, den genialen Führer der österreichischen Sozialdemokratie, verehrte ihn, wie wohl jeder, der in seinen Bannkreis trat, und die Freundschaft wurde zum Jüngertum.“22 Anfang der 1890er Jahre studierte Karpeles in Wien und Berlin Rechts- und Staatswissenschaften. Zwischen 1894 und 1897 ging er nach London, wo er nicht nur mit Friedrich Engels in engen Kontakt kam, sondern auch die führenden Köpfe der britischen Arbeiterbewegung kennen lernte und als Korrespondent für die Arbeiter-Zeitung tätig war. „Ein eifriger und fleissiger Adept englischer öffentlicher Einrichtungen, bekannt und wohlgelitten im Kreis der Fabier und der Independent-Labour-Leute.“ Die Fabier galten im Großbritannien des ausgehenden 19. Jahrhunderts als eine Gruppe von sozialistischen Intellektuellen um Beatric und Sidney Webb, Bernard Shaw und Herbert George Wells. Auch im Ausland war ihr Einfluss über den Revisionismus Eduard Bernsteins enorm. Die Anhänger der Fabian Society gehörten mehrheitlich der aufsteigenden Mittelschicht an. „Der Sozialismus der Fabier war nicht auf eine holistische Ideologie gerichtet, sondern in Fortentwicklung des Positivismus auf eine soziale Rekonstruktion.“23 Der Fabianismus setzte sich sehr kritisch mit dem Marxismus auseinander. Vor allem die Geschichtsphilosophie und die Revolutionstheorie der marxistischen Lehre wurde kritisch betrachtet. Ihrer Ansicht nach könne der Sozialismus durchaus im Einklang mit der parlamentarischen Demokratie innerhalb eines kapitalistischen Systems erreicht werden. Kommunalisierung, geringe Verstaatlichung und eine umverteilende Steuerpolitik seien die entscheidenden Mittel. Eine Vielzahl von Reformen wird der sozialistischen Revolution vorgezogen. Auf verständnisvoller Basis soll anstatt der Diktatur des Pro-
21 Vgl. Rabinbach (1989): S. 20f. 22 R.O. Nachruf auf einen Freund, in: Neues Tage-Buch, 5.2.1938, S. 140. Folgendes Zitat ebd. 23 Beyme (2002): S. 705f.
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letariats ein Ausgleich zwischen den verschiedenen Klassen erreicht werden. Eine wichtige Rolle würden die Konsumgenossenschaften einnehmen.24 Nicht nur die innenpolitische Strategie Adlers, sondern auch die intensiven Bemühungen Karpeles um den Aufbau dieser Genossenschaften nach der Jahrhundertwende zeugten vom intellektuellen Erbe der Fabier innerhalb der österreichischen Sozialdemokratie. 1909 gründete er eine Großbäckerei, die Hammerbrotwerke, um der Partei direkt finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen. Schon etwa seit 1820 flossen die politisch-ökonomischen Ideen des britischen Frühsozialisten Robert Owen in die Programmatik der Produktions- und Konsumgenossenschaften ein. Doch auch innerhalb der Arbeiterbewegung gab es nie ein einheitliches Konzept von Genossenschaften. Produktivgenossenschaften des Ferdinand Lassalle standen den liberalen Vorstellungen eines Hermann Schulze-Delitzsch gegenüber. Erstere verloren bald aufgrund geringer Erfolge an programmatischer Bedeutung. So blieb es ab 1890 der Entwicklung von Konsumgenossenschaften vorbehalten, neben den Gewerkschaften und der politischen Arbeiterbewegung zur dritten Säule des organisierten Proletariats aufzusteigen, da sie ihren Mitgliedern unmittelbare ökonomische Vorteile bieten konnte.25 Der erhoffte Erfolg, den Karpeles an die Hammerbrotwerke knüpfte, wurde jedoch durch die Unterdrückungspolitik des christlichsozialen Bürgermeisters von Wien, Karl Lueger, verhindert. Erst die Kriegskonjunktur machte die Konsumgenossenschaft zu einem finanziellen Erfolg, erzielte große Gewinne und konnte der Partei während des Krieges erhebliche Ressourcen sichern. Wie hatte sich die österreichische Sozialdemokratie insgesamt durch die Ereignisse zwischen 1914 und 1918 verändert, als Olden nach Kriegsende durch Karpeles in ihren Dunstkreis geriet? Die Mehrheit der österreichischen Sozialisten gab in den Augusttagen des Jahres 1914 endgültig allen oppositionellen Schein auf und akzeptierte die hegemoniale Stellung des Staates. So ergriff der Nationalismus die arbeitende Masse, sowohl im Deutschen Reich als auch in der Habsburger Doppelmonarchie. Da der Internationalismus auf österreichischer Seite ohnehin stets abstrakt geblieben war und man sich tendenziell eher der eigenen nationalen Bürgerschaft verpflichtet sah, mündete die Entwicklung in einen großen Jubel der Bevölkerung über den Kriegsausbruch. Dabei waren die europäischen Arbeiterbewegungen insgesamt doch sensibilisiert gegenüber der Kriegsgefahr und versuchten diese durch zahlreiche Kampagnen zu bannen. Doch mit Kriegsausbruch blieben sie unfähig, auf die veränderten innenpolitischen Verhältnisse zu reagieren. Hilflos sahen die österreichischen Genossen zu, wie die Regierung durch ihre Maßnahmen vom 25. Juli 1914 faktisch eine Kriegsdiktatur etablierte und die Basis des Rechtsstaates quasi beseitigte. Eine aktive, legale politische Reaktion war unmöglich geworden. Die zur Passivität verurteilte Parteiführung lehnte jede Verantwortung für den Krieg ab. Sie betonte die Ohnmächtigkeit des Volkes gegenüber den Ereignissen. Antikriegsaktionen blieben aus. Politische wie gewerkschaftliche Auseinander-
24 Vgl. Göhler/Klein, in: Lieber (2000): S. 556. 25 Vgl. Notz, in: Weipert (2014): S. 100–107.
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setzungen wurden im Rahmen des Burgfriedens für die Dauer des Krieges abgelehnt. Der Krieg wurde als nationaler Verteidigungskrieg gerechtfertigt. Schon im August 1914 fand die offizielle Politik der Parteiführung durch Friedrich Adler einen prominenten Kritiker, wenngleich er anfangs recht isoliert war. Dennoch gab er seine Funktion als Parteisekretär aus Protest auf. Die Gruppe der neuen Linken in Österreich um den Sohn Victor Adlers, zu der auch Max Adler, Robert Danneberg, Therese Schlesinger und Gabriele Proft gehörten, lehnten den Deutschnationalismus und den Kriegsmarxismus der Partei ab. Zu einer Abspaltung kam es, anders als in Deutschland, nicht, obwohl Friedrich Adler nie eine Mehrheit für seine Positionen innerhalb der Führung der Sozialdemokratie im Krieg erreichte. Tief frustriert über die Aussichtslosigkeit seines Kampfes erschoss er im Oktober 1916 den Ministerpräsidenten Karl Stürgkh. Der Prozess gegen den Attentäter machte die Antikriegslinke insgesamt zu einer einflussreichen Strömung innerhalb der SDAP. Auch zu diesem Zeitpunkt, auf dem Parteitag im Oktober 1917, kam ein Austritt für die neue Linke, anders als für die SPD-Opposition im Reich, nicht in Erwägung. Man betonte die organisatorische Einheitsabsicht innerhalb einer immer größer werdenden Antikriegsstimmung. Die militärische Niederlage und zunehmende soziale Spannungen vor Augen führten die Vorstellungen Friedrich Adlers und Otto Bauers zu neuer Stärke in der Partei. Besonders das Festhalten am Reformismus durch die Parteiführung stand im Fadenkreuz der innerparteilichen Kontroversen. Die erfolgreiche Revolution in Russland schuf auch in Österreich ein neues Klima des politischen Radikalismus. Die im Januarstreik 1918 gegründeten Arbeiterräte begannen, mehr als nur ökonomische Forderungen zu stellen. Unter großen Anstrengungen gelang es der Parteiführung, die nach russischem Vorbild drohende Revolution durch die Arbeiterräte zu kanalisieren und diese durch ihre Autorität zu kontrollieren, was dazu führte, dass die Regierung in immer steigende Abhängigkeit zur SDAP gelangte. So konnte sie die Wiederaufnahme der Parlamentsaktivität und die Beendigung der Kriegsverordnungen durchsetzen. Gleichzeitig gelang es, die Linke mit der Mehrheit der Partei in gewisser Weise ideologisch wieder zu vereinen. Eine Eskalation lag nicht in deren Interesse. Auf diesem Wege war es möglich, die revolutionären Massen zu beruhigen und sie als Druckmittel gegenüber dem bürgerlichen Lager zu benutzen, um soziale und politische Reformen zu erreichen. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie im November 1918 machten sich die Sozialdemokraten zum stärksten Fürsprecher für die neue Republik. Besonders ihre Fähigkeit, mit den heimkehrenden Soldaten, den zahlreichen Arbeitslosen und den revolutionär eingestellten Massen umzugehen, trug dazu entscheidend bei. Die Gründung der Volkswehr am 3. November schuf die Möglichkeit einer Kontrollinstanz, die nur der Parteiführung rechenschaftspflichtig war und die die Arbeiter von der Durchsetzung einer Revolution nach russischem Muster abbringen sollte. Die Volkswehr übte vor allem eine stabilisierende Funktion aus und vermied nach der Ausrufung einer Räterepublik deren gewaltsame Niederschlagung auf österreichischem Boden. Die kommunistische Partei konnte nur marginale Erfolge erzielen. „So entgingen die Österreicher dem Schicksal der deutschen Sozialisten, indem sie es vermieden, die Rätebewegung mit Gewalt zu unterdrücken, während sie
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deren Radikalismus durch bedachtsame Führung kanalisierten.“26 Das linke Spektrum konnte integriert werden und die österreichische Sozialdemokratie begab sich auf den europäisch einmaligen Weg einer „radikalen Reformpartei“27.28 Für den väterlichen Mentor Oldens begannen die Spannungen zu seiner Partei kurz vor Kriegsausbruch. Karpeles musste von der Leitung der Hammerbrotwerke zurücktreten. Dem Burgfrieden seiner Partei, die den Krieg als Verteidigungskrieg zu legitimieren versuchte, stand er offenbar von Anfang an äußerst kritisch gegenüber. „Der Krieg war wohl das, was er am meisten auf der Welt hasste.“29 Seine entschiedene Kriegsgegnerschaft mündete Anfang 1918 in Der Friede. Den offenen Bruch mit der österreichischen Sozialdemokratie vollzog er durch seinen Austritt aus der Partei erst nach dem Tod von Victor Adler im November 1918. Der Grund mag darin zu suchen sein, dass es Karpeles im fabianischen Sinne um eine tatsächliche Interessenvermittlung zwischen dem Bürgertum und dem Proletariat ging. Der Bourgeoisie durch klassenkämpferische Rhetorik politische Zugeständnisse abzupressen, schien ihm nicht zukunftsträchtig. Revolutionäre Strömungen verhinderten seiner Ansicht nach einen wahren „Dienst an der Republik und der Demokratie.“30 Er sieht sich selbst als Vermittler zwischen unterschiedlichen politischen Ideologien, auch innerhalb der Arbeiterbewegung, die sich vom Rausch der errungenen Macht im Staat habe übermannen lassen.31 Dieser Funktion sollten auch seine beiden Zeitschriften nachkommen. Ihm ging es im Sinne des sozialen Friedens um einen inneren Ausgleich. „Eigentlich sollte sie [Der Neue Tag] doch die Bürger mit den neuen Dingen versöhnen.“ Aus der Kriegsniederlage zog Karpeles eine gesamteuropäische Friedensvorstellung. „Als ein österreichischer Mensch, der er aus voller Seele war, glaubte er an ein Mitteleuropa des Geistes, verbunden mit den westlichen Mächten die Junkerrache verhindern würde.“ Es müsse der Versuch unternommen werden, so Karpeles, „Deutschland und Österreich europäisch zu machen,“ nachdem der Krieg gezeigte habe, dass es nicht gelingen kann, „Europa deutsch und österreichisch“32 zu formen. Durch seine Mitarbeit an beiden Blättern bewegte sich der junge Journalist Olden fortan in einem Umfeld des linksliberalen Pazifismus, der seine Artikel künftig prägen wird und ihm auf der Suche nach seinem eigenen politischen Standort erste Orientierung intellektuellen Ausprobierens bot.33
26 27 28 29 30 31
Rabinbach (1989): S. 27. Hanisch/Wolfram (1994): S. 136. Vgl. Rabinbach (1989): S. 21–27; Kepplinger (1990): 39–43. R.O. Nachruf auf einen Freund, in: Neues Tage-Buch, 5.2.1938, S. 141. Karpeles, in: Sternburg (2009): S. 197. „Das Kaiserreich zerfiel, Viktor Adler starb, und Karpeles verliess die Partei in dem Augenblick, in dem sie Minister und Gesandtenposten zu vergeben hatte. Er fand, dass sie alles falsch machte, was sie machte, nun da sie an der Macht war.“ Vgl. R.O. Nachruf auf einen Freund, in: Neues Tage-Buch, 5.2.1938, S. 141. Folgende Zitate ebd. 32 Karpeles, in: Sternburg (2009): S. 195. 33 Vgl. Sternburg (2009): S. 194–198; Amann (1992): S. 16–18; Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft (1930): S. 885.
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Die Formierung seiner Vorstellungen von einem friedlichen Miteinander orientierten sich thematisch von Anfang an den Debatten der Zeit. In der Stunde des pazifistischen Aufbruches war der Diskurs innerhalb der Friedensbewegung durch die Frage determiniert, wie stark der Bruch mit dem alten gesellschaftlichen und politischen System ausfallen solle. Der Zustand des Pazifismus im Rahmen eines demokratischen Staates hing maßgeblich davon ab, welche Qualität die Revolution des Novembers 1918, auch durch das Wirken der Pazifisten, haben würde. Dem konnte sich Olden nicht entziehen. So setzte er sich in seinen Beiträgen für das Fremden-Blatt, den Friede und den Neuen Tag intensiv mit unterschiedlichen Aspekten seiner revolutionären Zeit auseinander, stellte seine politischen Positionen zur Novemberrevolution in Deutschland dar und suchte diese philosophisch zu begründen und einzuordnen. Inwiefern dies geglückt ist und welche ideengeschichtlichen Implikationen sein Revolutionsbild beinhaltete, wird nachzugehen sein.34 5.1.1 Evolution statt Revolution – Der geistige Neubeginn Mit Beginn der revolutionären Umwälzungen von 1918/19 stand für Olden fest, welche neuen staatlichen Strukturen auch geschaffen werden würden, die hässliche Fratze des Militarismus werde darunter erneut zum Vorschein kommen. Der sogenannten Revolution traute er nicht, sei sie von der militärischen Gewalt arrangiert. Die scheinbar staatliche Liberalisierung durch die Ausrufung der Republik diene nur dem Kampf um angenehmere Friedensbedingungen. „Ist Deutschland auch von der Revolution bewegt, erregt, durchpflügt, verändert, es ist doch Deutschland.“35 Die Zeit hätte des ausführlichen politischen Diskurses im Reichstag bedurft, doch war dieser als Akteur nicht sichtbar, spielte in der Wahrnehmung von Olden keine Rolle, was er bedauerte. Nur die Bühne des Parlamentarismus könne dauerhaft die adäquate Form revolutionären Handelns darstellen. Doch sei der Zweck des politischen Neuanfangs ein verfehlter, wenn man ihn einseitig auf die Erzielung eines allein für Deutschland gerechten Friedens bezieht. „Seinen Zweck hat der Deutsche eisern im Auge, aber die Form, die beredete Umkleidung des Handelns, das Wort vor allem, ist ihm, der sich seiner nicht kundig weiß, so sehr Nebensache, daß er dazu neigt, es völlig zu vernachlässigen, ja es zu verachten.“36 Darin unterscheiden sich die Merkmale der deutschen Revolution fundamental von dem der französischen, die er als Vorbild ansah. „Der Franzose ist der Meister der Form.“ Es gelang in Deutschland durch den eingeleiteten Verfassungswandel nicht, die militärische Führung entscheidend zu zähmen, wie der befohlene Flottenvorstoß in die Nordsee durch die Seekriegsleitung bewies. Die im Fahrwasser des Matrosenaufstandes improvisierten Arbeiter- und Soldatenräte waren zu Beginn nur daran interessiert, den Krieg sofort zu beenden. Erst in den kommenden Monaten sollte sich der Wille zu einer Neugestaltung des politischen und sozialen Zusammenlebens manifestieren. 34 Vgl. Holl (1988): S. 138. 35 R.O. Das Wort in der Revolution, in: Fremden-Blatt, 21.1.1919. 36 R.O. Das Wort in der Revolution, in: Fremden-Blatt, 21.1.1919. Folgendes Zitat ebd.
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Was setzte Olden dem entgegen? Worin bestand seiner Ansicht nach der wahre politische Zweck, dem die Revolution zu dienen habe? Das Ziel des Staates sei die Implementierung und Wahrung der Menschenrechte. Einzig deren Deklaration sei als universalistisches Dokument über alle Nationalismen erhaben und bereite den Boden für einen friedlichen Internationalismus. Dies gelte für alle Menschen in gleichem Maße, egal ob er Franzose oder Deutscher sei. Die in der droits de l'homme verfassten Grundsätze seien die „natürlichen Rechte des Menschen schlechthin. Das Ziel alles politischen Gemeinwesens wurde hier endgültig klargestellt, festgelegt.“37 Es war dieser entschiedene Rekurs auf die Menschenrechte, der Olden von vornherein Abstand zum Sozialismus nehmen ließ. Auf den sozialistischen Einfluss war es zurückzuführen, so Olden, dass sich der Siegeszug der Menschenrechtserklärung im deutsch-sprachigen Raum lange verzögert hatte, ein Umstand, der die junge Republik belastete. „1830 und 1848 hat sie ihre Rolle gespielt und hat erst ihren Einfluß verloren, als sie von den neuen internationalen Heilsätzen des Sozialismus abgelöst wurde.“ Die Handlungsmaxime des Staates sei durch die unveräußerlich angeborenen Rechte des Menschen definiert. Diese zu schützen und zu erhalten bildete für den jungen Kriegsheimkehrer das oberste Gebot jeder politischen Gemeinschaft. Für eine Ausgestaltung der Republik nach diesen Grundsätzen, die für Olden nur durch die Stärkung des Parlamentarismus erzielt werden konnten, bestanden äußerst ungünstige Voraussetzungen. Die Einbeziehung der Arbeiterund Soldatenräte empfand er als Hypothek für das parlamentarische System. Gewiß, in ihnen wird geredet, und da es ihrer fast überall gibt, kann man annehmen, daß unmäßig viel öffentlich geredet worden ist in diesen Wochen. Was man davon hört, ist viel Gezänk, auch Anderes, aber kein Wort, das bleibt, das irgendwo dauernden Widerhall findet. Und diese übervielen, kleinen Augenblicks-Parlamente können auch kein Boden für solche Worte sein.38
Er verkannte, dass die Führung der Mehrheitssozialdemokratie nicht gewillt war, die Stellung des Reichstages weiter zu stärken. Die Spannungen innerhalb des Rates der Volksbeauftragten über die künftige Regierungspolitik wuchs sich Anfang Januar 1919 zu einer veritablen Krise aus. Der Konflikt wurde durch den von der Mehrheitssozialdemokratie befohlenen Truppeneinsatz Ende Dezember in Berlin entfacht. Die Differenzen spiegelten die unterschiedlichen Auffassungen zwischen SPD- und USPD – Vertretern im Umgang mit der OHL wider. In der Militärpolitik waren die Gegensätze unüberbrückbar, was letztlich zum Austritt der USPD aus dem Rat führte. Die Mehrheitssozialisten regierten allein im Reich. Anders als in Österreich war der Versuch zur Gründung einer Volkswehr, die in Wien als Symbol zur Einschränkung des militärischen Machtapparates etablierte wurde, gescheitert. Nach Gründung der KPD wurde der Januaraufstand durch die Regierung mit reaktionären Freikorpseinheiten blutig niedergeschlagen. Diese politische Eskalation riss tiefe Gräben innerhalb des Proletariats auf. Die Wiederherstellung der organisatorischen Einheit der Arbeiterbe37 R.O. Der Internationalismus in der Revolution, in: Fremden-Blatt, 26.01.1919. Folgendes Zitat ebd. 38 R.O. Das Wort in der Revolution, in: Fremden-Blatt, 21.1.1919.
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wegung war endgültig gescheitert. Auf dem weiteren Weg der Republikgründung suchte die SPD-Führung den Schulterschluss mit dem ehemaligen kaiserlichen Offizierskorps, der führenden Bürokratie und den bürgerlichen Parteien.39 So dokumentierten die Ereignisse bis Ende Januar 1919 für Olden nur eines: Die Gabe des Wortes hat auch die Revolution den Deutschen nicht gegeben. Er ist der Alte geblieben, derselbe Deutsche, wie vorher, der schießen, aber nicht sprechen konnte. Wer aber nicht spricht, kann sich nicht verteidigen; er kann seine Gesinnung ändern, aber nicht die Welt von der Aenderung überzeugen. 40
Das, was Olden als obersten Zweck der politischen Gesellschaft definierte, bedürfe in seiner Perspektive zusätzlich der Ergänzung durch den Sozialstaat, denn jede Revolution habe auch ökonomische Ursachen. Arbeitslosigkeit, Teuerungen und Nahrungsmittelmangel machten zugleich empfänglich für die Versuchungen von ideologischen Demagogen. „So kann man als Grundsatz annehmen, daß ein Land vor der Revolution stets infolge Mangel an genügender Produktion gelitten hat, daß die Staatsleitung außerstande war, die Produktion so zu gestalten und zu verteilen, daß sie allgemeinen Bedürfnissen genügte.“41 In Deutschland stellten die wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges eine zusätzliche Hürde dar, um politische Stabilität zu erreichen. Revolutionen verschlechtern in der Betrachtung von Olden die wirtschaftliche Lage vorerst. Daran ändert ein bloßer Regierungswechsel nichts. Besonders das Bürgertum bekäme dies zu spüren. Für die Arbeiterbewegung seien die ökonomischen Bedingungen vor der Revolution schon äußerst ungünstig gewesen. Doch diese schwierige Ausgangslage sollte nicht dazu führen, dass politische Rechte und die Idee einer sozialen Republik gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Vielmehr seien sie zwei Seiten ein und derselben Medaille. Gerade für das Bürgertum würden die Veränderungen in der staatlichen Architektur ökonomische Härten mit sich bringen, die es zu ertragen lernen müsse. Das Recht auf Arbeit und das Recht auf finanzielle Unterstützung durch den Staat im Falle von Arbeitslosigkeit sei kein Attentat auf die (bürgerliche) Freiheit, zumal diese ohnehin nur universell gedacht werden kann. Olden befürchtete, dass die von der Regierung durchgeführte Sozialpolitik sich nicht als dauerhaft erweisen würden, um eine innergesellschaftliche Befriedung zu erreichen. „Wie 1789 und 1848 ist es auch der heutigen Revolution gelungen, die politischen Rechte der Bürger zu erweitern. Der Versuch, die Arbeitsbedingungen zu verbessern, ist noch im Gange, und es ist fraglich, ob bisher erzielte Erfolge Dauer haben werden.“ Soziale Reformen dienen dem friedlichen Miteinander in einer Gesellschaft und verhindern eine ideologische Polarisierung. In diesem Bemühen stand Olden nicht allein, da mit dem Ende des Ersten Weltkrieges die Erkenntnis wuchs, dass es keine Demokratie ohne einen bestimmten Grad an gesellschaftlicher Solidarität geben könne. Extreme soziale Fragmentierungen und Ungleichheiten stehen der geistigen Entwicklung einer demokratischen politischen Kultur im Wege. Eine Zusammenführung der liberalen und so-
39 Vgl. Kolb (2009): S. 15–23. 40 R.O. Das Wort in der Revolution, in: Fremden-Blatt, 21.1.1919. 41 R.O. Revolution und Arbeiterbewegung, in: Fremden-Blatt, 6.2.1919. Folgendes Zitat ebd.
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zialen Demokratie vertrat nicht zuletzt der erste Reichskanzler der Weimarer Republik, Gustav Bauer. Kollektive Teilhabe durch wirtschaftspolitische Maßnahmen muss mit persönlichen Freiheitsrechten verbunden sein. Im Auftrag des Volkes bedarf es einer gezielten Neuordnung der wirtschaftlichen Machtverhältnisse. Mit einer sozialen Demokratie verband nicht nur Olden die Zuversicht einer gesellschaftlichen Emanzipation und eines neuen Zusammenhalts. Partizipation war das leitende Prinzip für den Auf- und Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Elemente. Politische Gleichberechtigung braucht eine Entsprechung in der sozialen Realität. Fehlt diese, bleibt die Demokratie politisch eine leere Hülle. Besonders aus dem Bereich der Bildung müssten die Fähigkeiten und Voraussetzungen geschaffen werden, eine demokratische politische Kultur zu stiften, die dann ihre Fortsetzung auf dem Feld der Sozialpolitik findet. „Wir müssen die Waffen der Bildung und der Kenntnis an das ganze Volk verteilen“: Mit diesen Ideen befruchtete Bauer in seiner ersten Regierungserklärung am 23. Juli 1919 die politische Debatte über den Geist der neuen Demokratie. Ohne sich explizit auf den Kanzler zu berufen, begründete Olden von diesem Punkt aus sein weiteres politisches Denken.42 Pathetisch könnte man seine bisherigen Positionen und Stellungnahmen zu den revolutionären Ereignissen in Deutschland nach Ende des Ersten Weltkrieges wie folgt zusammenfassen: Eure Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube! Woran entzündeten sich seine Zweifel an der Aufrichtigkeit und Zweckmäßigkeit der politisch Handelnden? Mit einem Wort: am Idealismus. Schon die Mächte, die die Revolution arrangierten, wussten dessen Kraft zu nutzen. Das Urübel in einem Zeitalter der Ideologien sei „die Absicht und Fähigkeit eines Menschen seine Handlungen nicht nach dem ihm jeweils sich bietenden Vorteil, sondern nach einer allgemeinen, unpersönlichen Idee einzurichten.“43 Die politische Idee lasse den Menschen als Mittel zum Zweck verkommen. Bereits der Krieg sei eine „ideale Angelegenheit“. Seit der Antike werde er benutzt, um die Massen für den Krieg zu mobilisieren. Der Idealist maße sich an, einen bestimmten gesellschaftlichen Zustand, den er für erstrebenswert hält, allgemeingültig für alle Mitmenschen oder gar die gesamte Menschheit zu erklären. Selbst die demokratische Parteienpolitik unterliege dem Zwang der Idealisierung ihrer politischen Ziele, will sie wählbar erscheinen. Idealismus müsse als Utopismus gebrandmarkt werden. „Politik, die die Kunst des Erreichbaren sein soll, ist eben das Gegenteil: sie ist die Kunst, das Unerreichbare und Unmögliche mit dem unerträglichen Brustton der Überzeugung als nahe bevorstehend hinauszuposaunen.“ Liberalität habe in diesem System keine Überlebenschance. Die Parteien des politischen Liberalismus seien die Opfer des idealistischen Prinzips, auch und vor allem in der Demokratie. Und während diejenige Gruppe von Politikern, die das direkt Absurde als wünschenswert und in die Tat umsetzbar darstellt, immerhin noch einigen Anhang erringen, ist es das natürliche Schicksal der Mittelparteien, die Vermittlung der Extreme empfehlen, zerrieben zu werden.
42 Vgl. Müller (2014): S. 75–105. Zitat ebd., S. 86f. 43 R.O. Versuch gegen den Idealismus, in: Der Friede, 4.4.1919. Die folgenden Zitate ebd.
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Olden sprach den Deutschen in diesem Zusammenhang die politische Reife ab, wenn sie in ihrem Urteil einzig und allein dem Ideal frönen und folgen. Dabei habe in erster Linie die staatliche Erziehung versagt. Der Mensch sei in seiner kindlichen Anlage zunächst völlig unidealistisch. Das Bürgertum stehe sinnbildlich für dieses Versagen. Seine Bildung, auf die er sich viel zugute tut, besteht nur darin, daß er Erkenntnisse von gestern zur Täuschung seiner Kinder mißbraucht. Aus seinem sozialen Standpunkt heraus ist der Bürger blinder Anbeter der Macht, die seine wirtschaftliche Basis schützt, Verehrer des Militarismus.44
Wenn es einerseits zum Träger des Idealismus degradiert wird, bietet es andererseits die Möglichkeit zur Umkehr. Den Glauben an den politischen Gestaltungswillen des Bürgertums hatte Olden, trotz seiner Kritik, nicht verloren. Entscheidend ist die Dichotomie zwischen der revolutionären Tat und dem revolutionären Gedanken. Nur letzterer könne die Grundlage für eine wahre Revolution legen, in der der Bürger wieder zu seiner Bestimmung zurückfinden kann. Für den Bewusstwerdungsprozess neuen gesellschaftlichen Lebens sei nur der Gedanke konstitutiv. Allein eine Revolution des Geistes könne politischen Fortschritt bringen und die Demokratie langfristig stabilisieren. Die revolutionäre Tat diene dem Übergang. Sie solle kurzfristig dem revolutionären Gedanken zum Durchbruch verhelfen. „Revolution, deren eigentliches Wesen Geist ist, wird dann vorübergehend, einen Augenblick lang, Handlung, sprengt mit der den Mitteln der feindlichen Gesellschaft angepaßten Taktik der Gewalt deren Bestand und verpufft sofort im luftleeren Raum.“ Die Novemberrevolution und das Bürgertum seien über dieses Stadium nie hinausgekommen, um eine parlamentarische Demokratie zu errichten, in der allein der Reichstag dem revolutionären Gedanken die Form rechtsstaatlicher Gesetzgebung geben könne. Nachdem das politische System des Monarchismus beseitigt war, hatte das Bürgertum an der Aufgabe versagt, die Revolution auf erzieherischem Wege fortzusetzen. Das Parlament konnte seine ihm zugedachte Rolle nicht einnehmen. Die Aushandlung von Friedensbedingungen, die Abwehr der kommunistischen Gefahr und der Schutz der eigenen ökonomischen Interessen erschienen dem Bürger wichtiger als die Auseinandersetzung mit den Ursachen ihrer (politischen) Unmündigkeit. Die nach der Zerstörung sich wieder zur positiven Arbeit sammelnden Kräfte bilden die bürgerliche Reaktion nach der revolutionären Tat. Die Arbeitsmittel der Bürgerschaft sind Emsigkeit und Fleiß, das Motiv ihrer Handlungen ist der Trieb zur Erhaltung ihres Lebens, ihr Streben geht dahin, möglichst bald wieder in Bequemlichkeit und Wohlleben, in den Sumpf ihrer Geistesträgheit zu versinken.
Allerdings hielt Olden das Bürgertum aufgrund seiner relativen wirtschaftlichen Unabhängigkeit geradezu für prädestiniert, ein gesellschaftliches Klima zu schaffen, in dem der Geist der Revolution zivilisierend wirken könne. Letzten Endes hatte es der einzelne Bürger nicht mehr selbst in der Hand, erneuernd im Sinne des revolutionären Geistes zu wirken. Olden wies dem Schriftsteller und Dichter diese 44 R.O. Lob des Bürgers, in: Der Friede, 25.7.1919. Die folgenden Zitate ebd.
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Funktion zu. Voraussetzung, dass er diese als Träger des revolutionären Gedankens übernehmen kann, sei das Fernbleiben von jeglicher Form der politischen Macht. Dies käme sonst einer Entfremdung seiner „Sendung“ gleich und bringe letztlich sogar eine Gefahr für die Menschheit mit sich. Als eine Art erzieherischer Anarchist sollte er die Aufgabe annehmen, ausschließlich ein „Störer, Erneuerer, Erfrischer bürgerlicher Ordnung“ zu sein. Nur die bürgerliche Gesellschaft erlaube es dem literarischen Revolutionär auf die Gesinnung der Bevölkerung dauerhaft erzieherisch einzuwirken. „Darum ist es nötig, daß der Bürger, gleichgültig welcher Partei er sich zuschreibt, wieder fest die Leitung der Welt in die Hand nimmt. Dann wieder wird für den Revolutionär des Gedankens seine große Zeit gekommen sein.“ Bei allem Bestreben Oldens, die bürgerliche Ordnung für den Neuaufbau der Weimarer Republik fruchtbar zu machen, blieb er skeptisch, ob dies gelingen würde. Er erinnerte daran, dass sich das deutsche Offizierskorps mehrheitlich aus bürgerlichen Eliten („von Gesinnung waren sie Junker“45) zusammengesetzt hatte, die antisemitisch, konservativ bzw. nationalliberal und königstreu waren. Dem Heer und der Flotte standen sie unbedingt loyal gegenüber. Abscheu und Hass hegten sie gegen Frankreich und die Sozialdemokratie. Auch an dieser Stelle deutete Olden die verfehlte Rolle des Bildungssystems insgesamt an. Ihm galten z.B. die Universitäten als eine „Pflanzstätte des deutschen Normalbürgers, wie er war, vor allem, wie er sein sollte.“ Ihre Strukturen bestünden fort. Ende Oktober 1919 stellte er fest, dass weder Krieg noch Revolution an dieser Gesinnung etwas geändert habe. Der große Krieg, die Revolution sind vorbei. Von den tiefen Spuren, die beide im deutschen Volke zurückgelassen haben, wird viel gesprochen und geschrieben. Tatsächlich ist die politische Struktur des Reiches umgekehrt, auf den Kopf gestellt, die gesellschaftliche besteht. Die große Masse des Bürgertums ist geblieben, was sie war: monarchistisch, militaristisch, antisemitisch.
Die fortwährende Hetze und Gewalt gegen Juden oder die Verweigerung des Gehorsams gegenüber sozialdemokratisch orientierten Vorgesetzten in der Verwaltung bezeugten lauthals, dass eine geistige Revolution nie stattgefunden hatte. In Bezugnahme auf seinen Kollegen beim Neuen Tag Joseph Roth stimmte Olden die Einstellung der akademischen Jugend besonders nachdenklich. Statt der neuen Zeit vom Katheder aus den Weg zu ebnen, „klammert sie sich an die Erinnerung der Vergangenheit, in der die Völker Deutschland fürchteten, ohne es zu achten oder zu lieben.“46 Unter nationalistischem Vorzeichen trete sie nur für die Freiheit Deutschlands ein. Der Kosmopolitismus der akademischen Tradition verlange von den Wissenschaften und deren Vertretern eigentlich einen Aufschrei des Anstands gegen den kriegslüsternen Revanchismus, der in der Welt der Universitäten um sich griff. Mit Roth haben wir neben Olden im Umfeld der österreichischen Sozialdemokratie einen ersten Weggefährten identifiziert, den ebenfalls große Zweifel ob der Zweckmäßigkeit des politischen Wandels prägten. Nachdenklich formulierte er im November 1919: 45 R.O. Der deutsche Bürger, in: Der Neue Tag, 19.10.1919. Die folgenden Zitate ebd. 46 R.O. Die reaktionären Akademiker. Eine Auseinandersetzung, in: Der Neue Tag, 1.2.1920.
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Erneuerung! Erneuerung! Wo, frage ich, seht Ihr Erneuerung? Ihr habt keine Furcht mehr vor dem General? Ihr seid die Befreier vom Militarismus? Ihr predigt Menschenrechte? Es ist keine Erneuerung, solange nicht Einkehr ist! So ist es denn kein Jahr der Erneuerung gewesen. Höchstens ein Jahr der Neuerungen. 47
Auch ihn bewegte „die Sehnsucht nach dem Geist.“ Schließlich fordere der Idealismus unter demokratischen Vorzeichen einen tiefgreifenden Wertewandel, den sowohl das Elternhaus als auch die Schulen und Universitäten als eine neue pädagogische Aufgabe begreifen müssen. Die dargestellte Argumentation Oldens ist stärker ein politisches Fragment, als ein in sich geschlossenes System von Antworten auf die gesellschaftlichen Herausforderungen seiner Zeit. Zwar definierte er den Reichstag als eine Institution, auf deren Grundlage das neue Deutschland geschaffen werde müsse, doch traute er den darin verantwortlichen Politikern nicht zu, die gesellschaftlichen Defizite zu benennen. Sie seien durch falsche politische Zwecke daran gehindert. Bei aller Kritik an der Republik fällt auf, dass sich Olden über verfassungsrechtliche und staatsrechtliche Fragestellungen im Zuge der Debatte zur Weimarer Reichsverfassung nicht äußerste. Er bekundete im Allgemeinen eher seine Enttäuschung „über die geringe Leistung des jungen parlamentarisch-demokratischen Regimes“48, obwohl er ihr seine grundsätzliche Unterstützung nicht verweigern will. So fiel die Führung Deutschlands dem Reichstag wie eine überreife Frucht in den Schoß. Zu ihrer Eroberung hat er so gut wie nichts getan. Die Bekehrung zur parlamentarischen Demokratie ist ausschließlich eine Folge des völligen Versagens aller anderen Machtfaktoren. Bei aller prinzipiellen Anhängerschaft zum demokratischen Prinzip muß aber eins gesagt werden: ist die Demokratie nicht imstande, die schöpferischen Männer aus dem ganzen Volke heraus an die Spitze zu bringen, so ist sie keinen Pfifferling wert. 49
Dies schien in letzter Konsequenz die Ergänzung des Parlamentarismus durch eine Herrschaft der Weisen zu rechtfertigen. Sicherlich war damit kein uneingeschränkter Machtzugriff derjenigen verbunden, die Olden für qualifiziert genug hielt, am Aufbau der Demokratie mitzutun. Der Reichstag habe sich über seine Geschichte hinweg aber als lenkbar durch die jeweiligen Machteliten bewiesen. Vor allem das Militär und die Beamtenschaft mit ihrer bürgerlichen Herkunft blieben nach 1918 ein entscheidender Einflussfaktor auf die Politik der Mehrheitssozialdemokratie. So wie sich die Kritik Oldens auf das am militärischen Idealismus festhaltende Bürgertum manifestierte, so nahm er auch den Schriftsteller von Kritik nicht aus. Gerade diese soziale Gruppe sah er dem Trugbild des Kommunismus unterliegen. Ein Anschluss bzw. eine Verbindung zur KPD sei opportunistisch und unrevolutionär. Opportunismus sollte dem Bürger vorbehalten bleiben. Olden wollte den Dichtern eine klare Absage von der KPD und deren Machtmitteln abringen, sonst käme dies einer Verleugnung ihrer revolutionären Bestimmungen gleich. Eine wahrhafte Revolution des Geistes würde unterbunden. Die kommunistische Politisierung weiche vom erzieherischen Anarchismus ab. Unter diesen Bedingungen 47 Roth, in: Sternburg (2009): S. 200. Folgendes Zitat ebd., S. 201. 48 R.O. Preußentum und Sozialismus, in: Der Neue Tag, 28.3.1920. 49 R.O. Demokratie in Deutschland, in: Der Neue Tag, 4.4.1920.
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werde der gesellschaftliche Neuanfang nicht erfolgreich enden. Der Mangel an innerer Solidarität zum neuen Staat bzw. der Versuch die Diktatur des Proletariats zu etablieren, bietet keinen festen politischen Bezugspunkt. Wir haben keine Revolution erlebt, es war auch und ist keine Möglichkeit für den Revolutionär vorhanden, er bedarf einer soliden staatlichen Bindung, um an etwas rütteln zu können, und er fand ein Trümmerfeld, als er aus dem Schützengraben oder der Schutzhaft frei kam. 50
Der literarische Anarchist als Revolutionär bräuchte einen fest gefügten Aufbau des Staates, an dem er sich quasi abarbeiten kann. Gegenwärtig fristet er sein Dasein in den Resten einer Ordnung, die er nicht einmal selbst zum Einsturz gebracht hatte. Ihm fehle schlichtweg der politische Gegner, der auch ihn bekämpft. Er betreibe im Moment nur einen „Totentanz zwischen den Leichensteinen bürgerlicher Ordnung“. Wen sah aber Olden eigentlich zum Erzieher der Nation geeignet? Eine Person rückt in den Vordergrund, die für seine Positionen scheinbare intellektuelle Vorbildwirkung hatte: Die Rede ist von George Bernard Shaw, der „restlos die Auflösung des Programmatischen betreibt.“51 Der irische Dramatiker, Pazifist und Politiker gehörte zu den führenden Köpfen der britischen Labourpartei und engagierte sich seit 1884 aktiv für die Fabian Society. Es kann nicht verwundern, dass Olden ausgerechnet im Umfeld der österreichischen Sozialdemokratie auf ihn und seine Schriften aufmerksam wurde. Was prägte die politische Theorie der Fabier im Allgemeinen und die Positionen Shaws im Besonderen, die Olden in seinen eigenen Artikeln intellektuell zu verarbeiten suchte? Zunächst war der Sozialismus der Fabier eine auf Pragmatismus angelegte soziale Theorie, die nicht mehr den Anspruch erhob, eine konkrete institutionelle Neuordnung zu formen. Die Theoriebildung verlief jedoch keineswegs einheitlich. Aus verschiedenen ideengeschichtlichen Zusammenhängen griff man sich das scheinbar passende heraus. So wurde daraus eine Synthese unterschiedlicher Ideensysteme. „Die Fabier bündelten die heterogenen und unzusammenhängenden Geistesströmungen zu einer systematischen, praktikablen und konstruktiven Theorie, die breiteste bürgerliche Kreise mit den verschiedensten geistigen Traditionsbeständen anzusprechen vermochte.“52 Eine geschlossene Theorie war nie erkennbar. Vielmehr lassen sich aus den einzelnen literarischen Werken, tagespolitischen Traktaten und sozialwissenschaftlichen Schriften unterschiedlicher Mitglieder der Fabian Society drei spezifisch fabische Positionen ableiten. Anfangs muss von einem ethischen Sozialismus mit starker moralischer Ausrichtung gesprochen werden. Ihnen ging es vor allem um eine moralische bzw. kulturelle Erneuerung der Welt, nicht so sehr um eine rein ökonomische. Eine neue Moral von brotherhood und fellowship sollte die Grundlage der künftigen Gesellschaft sein. Dieses vage Ideal einer gewissen sozialen Gleichheit war in den Anfangsjahren das beherrschende Credo eines eher abstrakt bleibenden Sozialismus. Schon bald sollte unter dem Einfluss von Sidney Webb und Annie Besant eine stärker praxisorientierte 50 R.O. Gegen den Revolutionär, in: Der Friede, 1.8.1919. Folgendes Zitat ebd. 51 R.O. Versuch gegen den Idealismus, in: Der Friede, 4.4.1919. 52 Wittig (1982): S. 48. Folgendes Zitat ebd., S. 51.
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Politik verfolgt werden. Der Utopismus wurde langsam abgelegt. Spezifische Reformvorschläge erhielten den Vorrang gegenüber dem Systemdenken eines festen und übergeordneten Sozialismus. „Nicht ein vollständiger Kollektivismus, sondern ein munizipaler gas and water-Socialism war charakteristisch. Erziehung der Öffentlichkeit zu Gemeinschaftsbewußtsein hatte prinzipiell noch Vorrang vor staatlichen Eingriffen.“ Die praktische Wirkung der Politikkonzeption stand im Vordergrund, bevor es Ende der 1880er Jahre zu einer Straffung ihrer Ideologie kam. Unter der Führung von Webb und Shaw wurde eine Theorie des demokratischen Kollektivismus entwickelt, die von einem staatlich organisierten Sozialismus ausging. Auf demokratische und evolutionäre Weise setzte diese Vorstellung nicht mehr bei der Moral, sondern bei den Institutionen an. Doch damit waren keine politischen Institutionen gemeint. Die soziale Ordnung müsse völlig neu konstruiert werden. Aus der Ethik menschlichen Zusammenlebens wurde eine Vorstellung neuer institutioneller Sozialorganisationen. Der ethische Sozialismus wurde zu einem evolutionären, bei dem aus dem Studium der Institutionengeschichte, Schlüsse für eine praktische Politik zu ziehen seien.53 1889 gelang es durch die Veröffentlichung der Fabian-Essays das vielfältige Werk zu bündeln und geschlossen zu präsentieren. „Szientistisch-positivistische Gesellschaftsanalysen wurden mit einem utilitaristischen Politikverständnis und mit evangelikalen Handlungsimperativen verschmolzen.“54 Mit der Vorlage der Essays war die Theoriebildung quasi abgeschlossen. Auf dieser theoretischen und programmatischen Grundlage konzentrierte man sich künftig auf seinen politischen Erziehungsauftrag. Die Wirkungsgeschichte des fabischen Sozialismus wurde mit folgenden drei Aussagen identifiziert: Ablösung des Individualismus durch den Kollektivismus, Sozialismus als demokratischer Kollektivismus und evolutionärer Übergang zum Sozialismus. Der durch einzelne Personen bestimmte Kapitalismus befinde sich aufgrund der fortschreitenden Industrialisierung ohnehin in Auflösung. Die Zusammenschlüsse von Großunternehmen zu internationalen Trusts beispielsweise führen nahezu unbewusst zu einem strukturellen Kollektivismus innerhalb des Kapitalismus. Die Wirtschaft werde zu einer über-personellen Organisation, die durch den Staat zunehmend kontrolliert wird. Diese Kontrollfunktion muss der Sozialismus noch erweitern, z.B. dürfe es keinen privaten Besitz an Grund und Boden geben. Nicht das ethische Ideal bestimmt die Form gesellschaftlichen Zusammenlebens, sondern die politischen und wirtschaftlichen Organisationen. Der Sozialismus erweitert lediglich die politische Demokratie. Der Wähler bestimmt die Tätigkeit der politischen Institutionen. Gleiches gilt für die Kontrolle der Ökonomie durch die Gesellschaft. Die verschiedenen Funktionsbereiche in einem Staat würden gänzlich unterschiedlich in Form und Handlungsmöglichkeiten definiert. Es könne eine Ansiedlung auf kommunaler Ebene in Betracht gezogen werden bzw. auch eine auf nationaler Ebene organisierte Struktur. Bezogen bleiben sie aber auf den Staat als oberste Einheit. Die Art, wie kollektivistisch organisiert werden kann, reiche von bloßer Besteuerung, über staatliche Regulierung bis hin zu einer um53 Vgl. Wittig (1982): S. 46–54. 54 Wittig (1982): S. 139.
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fassenden Verstaatlichung. Letztlich bleibe aber die Strategie entscheidend, auf welchem Wege man einen sozialistisch definierten demokratischen Kollektivismus erreichen kann. Drei Merkmale seien für diesen Übergang elementar: Die Mehrheit der Bevölkerung müsse zustimmen, er könne nur graduell erfolgen und die Reformen müssen friedlich und im Rahmen der Verfassung vollzogen werden, d.h. mittels staatlicher Gesetzgebung und einer Wirtschaft, deren Funktionen öffentlich organisiert sind. Die Kompetenzen des Staates müssen über den Parlamentarismus gestärkt werden.55 Es entbehrt nicht einer gewissen Logik, Oldens Positionen zur parlamentarischen Demokratie, zum Sozialstaat und zur Rolle der Pädagogik auf das fabisch geprägte Umfeld der österreichischen Sozialdemokratie zurückzuführen. Eine weitere Plausibilität wird dieser Argumentation dadurch zuteil, dass Wien quasi eine Hochburg solchen Gedankenguts gewesen ist. Bereits 1893 gründete sich eine Fabier-Gesellschaft, der 1896 die Sozialpolitische Partei folgte und die beide Ideen der britischen Fabian Society rezipierte und in Österreich verbreitete. Als bekennender Fabier galt nicht zuletzt der Führer der SDAP, Victor Adler. Die kritische Auseinandersetzung, die Olden mit dem Idealismus führte, ging u.a. auf die Person Bernard Shaw zurück.56 Für ihn war Sozialismus nicht der Weg, um paradiesische Zustände auf Erden zu erreichen. Vielmehr sei dieser ein Programm, das ausschließlich ökonomische Fehlentwicklungen beseitigen soll. Einen Automatismus, der zugleich eine veränderte moralische und intellektuelle Neugeburt des Menschen durch den Sozialismus definiert, schloss Shaw aus. Dieser Idealismus erregte die Kritik Shaws. Der Marxismus sei eine impraktikable politische Idee, da sie von falschen theoretischen Prämissen in Bezug auf die Rolle des Proletariats bei der Errichtung einer neuen Gesellschaftsordnung ausging. Dem Proletariat fehle es eher an Klassenbewusstsein, um ein wirklich revolutionärer Machtfaktor zu sein. Der Absolutheitsanspruch würde zum Dogma. Kritisches Bewusstsein werde verhindert, verleugne jeden Anspruch auf eine realistische Umsetzung politischer Ziele und führe zu einer Unmündigkeit, die demokratische Grundprinzipien negiert. Jedes abstrakte Ideal verkenne das Individuum. Theoretische Erörterungen dürften nur dazu dienen, praktische Probleme im Zusammenleben der Menschen zu definieren und zu deren Behebung beizutragen. Man müsse sich von der Ethik, der Sozialphilosophie und erkenntnistheoretischen Überlegungen leiten lassen. Politische Tätigkeit erfolge unter einem moralischen Aspekt. Einen reinen Pragmatismus, wie ihn die meisten fabischen Denker proklamierten, lehnte Shaw ab. Seine Moralphilosophie erweiterte er auf die ökonomische Sphäre, d.h. bestimmte Formen der Moral oder Verhaltensweisen werden durch die wirtschaftliche Situation des Menschen deutbar. Es zeigt sich für Shaw, daß eine offizielle Moral dort, wo sie ihrem Charakter nach in Widerspruch zu den ökonomischen Verhältnissen und den daraus zu erwartenden Verhaltensweisen steht, besonders erfolgreich rezipiert wird und damit natürlich bestimmte Aufgaben übernimmt.
55 Vgl. Wittig (1982): S. 139–142. 56 Vgl. Holleis (1978)
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Sie ist von der aus ihr profitierenden Minorität vorformuliert, damit sie ihren Zielen entgegenkommt, so daß gleiche moralische Ideale in verschiedenen sozialen Gruppen vorhanden sind.57
Ziel bleibe die Herrschaftsstabilisierung und nicht die Regulierung gesellschaftlichen Zusammenlebens. Idealism und realism werden zu Kategorisierungsprinzipien seiner Moralphilosophie.58 Auf einem Unbehagen an den tatsächlichen Gegebenheiten beruht jede idealistische Position. Die zeitgenössische Lage werde als Bedrückung empfunden. Ideale verändern sich aber mit den gesellschaftlichen und intellektuellen Entwicklungen und werden inhaltlich durch neue ersetzt. Propagiert werden die Ideale in der Vorstellung von Shaw in der Literatur. Der moralische Idealismus habe die Aufgabe, gewisse Formen der Alltagspraxis, die teilweise sogar erstrebt werde, weil sie (politisch) als nützlich angesehen werden, mit dem Mantel der Integrität und Legitimität zu verschleiern. Relevanz habe nur, dass es nach außen so scheint, als verfolge man christliche, soziale oder legale Ziele. Unter dem Deckmantel des Idealismus hätten aber geradezu unchristliche, unsoziale und kriminelle Handlungen einen gesellschaftlichen Freibrief. Inhalt und Tragweite solcher Ideale werden letztlich bedeutungslos. Findet diese Form der Moral Eingang in die Gesetzgebung und wird bei Zuwiderhandlung bestraft, erweitere sich das Problem des idealism zu einer gesamtgesellschaftlichen Problematik. Sie ist zu institutionalisierten Konventionen geworden und wird mehrheitlich nicht mehr hinterfragt. Jenseits aller materiellen Unterdrückung werde dieser Mechanismus mit seiner subtilen Wirkung die herrschende Moral sogar stabilisieren, kommt sie dem gesellschaftlichen Anpassungswunsch und persönlicher Bequemlichkeit doch entgegen. „I attack the current morality because it has come to mean a system of strict observance of certain fixed rules of conduct.“59 Eine auf diese Art und Weise zusammengesetzte Gesellschaft lässt sich nur durch die wirtschaftlich-politische Praxis, unter deren Gesetzgebung sie steht, benutzen. Hinter einer problemfreien und idealen Oberfläche lauere politische Entmündigung und ökonomische Ausbeutung. Dem gegenüber stehe der Realist mit vier wesentlichen Charaktereigenschaften: Er sei durch ein persönliches Selbstvertrauen geprägt, dass seine Umwelt kritisch hinterfragt und reflektiert. Der Geist des Widerstandes zu den beherrschenden Normen mache ihn aus. Die Absicht eines vorformulierten Moralsystems ist die Verhinderung einer persönlichen Selbstfindung. „Originalität geistiger und moralischer Tätigkeit“ bleibt entscheidend, da sie „einer reibungslosen Integration in die gesellschaftliche Maschinerie und einer geistigen Affirmation ihrer Grundlage entgegen“60 wirkt. Letztlich müsse sich der Realist seiner Position als gesellschaftlicher Außenseiter bewusst sein und auf die Vorteile, die ein angepasstes Verhalten bietet, verzichten. Der Realist zeichne sich dadurch aus, dass er die standardisierten Werte Infrage stellt und angreift. Sein kritisches Verhältnis zu Staat und Gesellschaft komme in dem Versuch zum Ausdruck, den moralischen Idealismus zu ent57 58 59 60
Greiner (1977): S. 46. Vgl. Greiner (1977): S. 29–47. Shaw, in: Greiner (1977): S.54. Greiner (1977): S. 58.
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tabuisieren. Die realistische Position verpflichtet zu einem selbstbewussten politischen Handeln, um sowohl der Moral als auch der Politik an sich einen fortschrittlichen Weg zu ebenen.61 Für Olden war der Bezug auf ihn in drei Bereichen relevant. In seiner Kritik gegenüber dem Idealismus spiegelte sich die von Shaw vorformulierte Feststellung wider, dass die mit gewissen Idealen beladene bürgerliche Erziehung und die damit verbundene Moral, den verfassungsrechtlich verbrieften Rechten und Normen z.T. entgegen stehen und sogar unter einem demokratischen Regime zu einem Unterdrückungsinstrument werden könne. Die Veränderung der politischen Struktur erzeuge nicht automatisch die Bereitschaft, solche Ideale beiseite zu schieben. Vielmehr müssten gesellschaftliche Wandlungsprozesse unter dem evolutionären Vorzeichen einer neuen staatsbürgerlichen Erziehung stehen, um die Grundlage für ein friedliches Miteinander zu schaffen, die jeden neuen Militarismus ausschließe. Zweitens wendete Olden die Kritik, die Shaw an der Literatur übte, in ein positives Bild des realistischen Literaten als erzieherischen Anarchisten. Er proklamierte u.a. den irischen Dramatiker selbst als Vorbild, das zur Beseitigung des idealistischen Prinzips geeignet sei und so eine Revolution des Geistes erst möglich werden lasse. Diese politische Dimension wurde vermutlich durch eine persönliche Ebene ergänzt, auf der Olden sich angesprochen fühlte. Shaw schilderte den Realisten als eine Figur, die durch den Geist des Widerspruchs geprägt sei. Er habe sich in einem Prozess der Selbstfindung von einem vorformulierten Moralsystem gelöst. Vielleicht erkannte Olden in dieser Perspektive seine eigene (politische) Unmündigkeit, die ihn 1914 zu einem begeisterten Kriegsfreiwilligen hatte werden lassen und offenbarte ihm die gesellschaftliche Scheinwelt, in der er vor Kriegsausbruch wohl selbst zu leben schien. Inwiefern war Olden selbst mit seinem Blick auf die gesellschaftlichen Veränderungen innerhalb des Nachkriegspazifismus ein Außenseiter? Oder anders gefragt, wie repräsentativ waren seine Postionen im ideengeschichtlichen und politischen Umfeld der Weimarer Friedensbewegung? Der Pazifismus in Deutschland hatte sich durch die Ereignisse des Weltkrieges sowohl strukturell-organisatorisch, vor allem aber programmatisch gewandelt. Der Gedankenaustausch mit dem zuvor gemiedenen Sozialismus befruchtete die Inhalte des bürgerlichen Pazifismus, der sich fortan stärker mit innenpolitischen Themen befasste, als dies vor 1914 der Fall war. Insofern war Olden mit seinem Versuch der Synthese zwischen einem geistig erneuerten Liberalismus und einem undogmatischen Sozialismus ein Symbol für die breitere programmatische Grundlage des Nachkriegspazifismus. Es war allen Beteiligten klar, dass die Wirkung des neuen Pazifismus maßgeblich davon abhängen würde, ob man eine demokratische politische Grundordnung in Deutschland etablieren könnte. Für die Wiederherstellung des Friedens war eine neue politische Ordnung unabdingbar. Somit stand man unmittelbar nach Kriegsende fest auf dem Boden der durch die Revolution geschaffenen Strukturen. Der BNV übte auf die Linksintellektuellen und die literarische Avantgarde besondere Anziehungskraft aus. Am 10. November 1918 veröffentlichte der BNV auf einer Kundgebung das Manifest von René Schickele, das die 61 Vgl. Greiner (1977): S. 48–65.
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vorherige Position von einer reinen Verfassungsreform zu einer revolutionär-sozialistischen Richtung verschob. Nur die sozialistische Gesellschaft kann die Völker vor dem Verfall in die Barbarei retten. Zur Gründung der neuen sozialistischen Weltordnung rufen wir alle auf, die sich im gemeinsamen Ziel einig sind: der Ausrottung der Menschennot durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel – einig aber auch, dieses Ziel auf dem geraden Weg unter Bekämpfung sowohl des weißen als auch des roten Terrors zu erreichen.62
Dieser Appell richtete sich an die Gesamtheit des deutschen Volkes und nicht an einzelne Klassen, sodass andere Verbände wie die DFG dem zustimmte. Allerdings forderte sie stärker einen maßvollen Ausbau bzw. die konsequente Neugestaltung der Verfassung und Verwaltung im Geiste einer sozialen und freiheitlich-demokratischen Grundordnung und weniger eine sozialistische Gesellschaft. Die innenpolitischen Forderungen der DFG waren ohnehin nur mit Blick auf die Absicherung des internationalen Friedensprogramms relevant, was Olden in einer allgemeinen Form kritisierte. Zwar befürworteten die pazifistischen Organisationen die Revolution des Jahres 1918, aber gleichzeitig lehnte man die revolutionären Kampfmittel ab. Dem konsequenten Antimilitarismus begegnete man zwar mit Sympathie, doch stand die schnelle Rückkehr zu verfassungsmäßigen Zuständen im Vordergrund. Die Mehrheit votierte für eine rasche Einberufung der Nationalversammlung unter Ausschluss einer Räteverfassung. Die Arbeiter- und Soldatenräte hätten zwar zur Beseitigung des Militarismus beigetragen und z.T. sind viele ihrer sozialpolitischen Ziele mit denen der bürgerlich-gemäßigten Pazifisten kongruent, aber man könne sie nicht als Kontrollinstanz neben oder gar über dem Parlament dulden. Eine Ableitung von Sonderrechten aus den Revolutionstagen heraus könne man nicht rechtfertigen, da die Räte Vertreter partikularer Interessen seien. Die staatliche Neuordnung bedürfe aber einer politischen, wirtschaftlichen wie sozialen Allseitigkeit. Sozialismus bedeutete im gemäßigten Milieu eher den Versuch sozialer Reformen als den einer Diktatur des Proletariats.63 Für den radikalen Pazifismus genügte es nicht, die Demokratie als reines verfassungsrechtliches Prinzip durchzusetzen. Friede bedürfe immer der sozialen Absicherung. Zum einen wurde die Ansicht vertreten, dass erst eine Welt in Frieden den Aufbau des Sozialismus möglich machen könne. Andere vertraten die Position, es müsse in aller erster Linie der Kapitalismus beseitigt werden, um ein friedliches Miteinander zu erzielen. Man zielte auf die Errichtung einer sozialistischen Weltunion, in der die Nationen ihre kulturelle Autonomie beibehalten sollten. Um eine Republikanisierung der Bevölkerung, der Bürokratie, der Reichswehr und der Justiz zu erreichen, wurden unterschiedliche Strategien verfolgt. Der WLV als massenmobilisierende Organisation richtete sein Augenmerk von Anfang an auf die Abhaltung von Verfassungsfeiern oder Republikanischen Tagen, um die Ideen der Republik als demokratische politische Alternative zu proklamieren und zu verbreiten, während „es den pazifistischen Führungsgruppen in Berlin zunächst darum ging, durch Abbau spezifischer Strukturdefekte der Verfassung die Weimarer De62 Schickele, in: Eisenbeiß (1980): S. 176. 63 Vgl. Holl (1988): S. 132–145; Eisenbeiß (1980): S. 175–179.
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mokratie von dem Geflecht überkommener politischer Traditionen zu befreien und durch Fortbildung des nationalen Staats- und Strafrechts kriegsmindernde Barrieren zu errichten.“64 Für Küster und den WLV waren in der Beurteilung der Revolution und den Folgen des Krieges im Wesentlichen moralische Folgen von hoher Relevanz. Die staatstragenden Parteien hätten sich desavouiert und könnten keinen moralischen Neuanfang erzielen. Als Pazifist müsse man seine Anstrengungen innerhalb der Organisationen auf die Aufklärung und Information der Bevölkerung legen. Anders als in der Gesamtorganisation der DFG gründete der WLV immer neue Ortsgruppen, die fortan in Städten und Dörfern versuchten Aufklärungsarbeit gegen Nationalismus und Militarismus zu leisten. Betrachtete der gemäßigte Pazifismus die militaristische Tradition in Deutschland sowie deren Institutionen und Strukturen eher als zweitrangige Gefährdung für den neuen Staat, sahen die radikalen Pazifisten in der Abwehr des deutschen Militarismus und der ihn schützenden gesellschaftlichen Kräften die erste Aufgabe pazifistischer Tätigkeit. Dieser Einschätzung entspricht ein Politikbegriff, der in der Wahrheitsfindung und Aufklärung über die alte, hier militaristische Identität einer Gesellschaft die alleinige Chance sieht zu einem neuen gesellschaftlichen Bewußtsein und dessen Gestaltungskraft zu kommen.65
Insgesamt muss man festhalten, dass das Wort Sozialismus in der beunruhigenden politischen Situation der Jahre 1918 und 1919 ein sehr verbreitetes Schlagwort war. Es wurde zum Sammelbegriff für die verschiedenen Hoffnungen und Sehnsüchte auf eine friedliche Zukunft der heimkehrenden Kriegsgeneration und so auch für Olden.66 Wie repräsentativ seine politischen Einstellungen zu jener Zeit im Kreise der pazifistischen Außenseiter waren, belegen u.a. die Übereinstimmungen zu den Positionen von Carl von Ossietzky und Friedrich Wilhelm Foerster. Für Ossietzky war der Sozialismus ebenfalls nur insofern positiv besetzt, als dass er auf eine neue soziale Gerechtigkeit abzielte. Auch die Vorstellung einer direktdemokratischen Ergänzung des Parlamentarismus durch die Arbeiter- und Soldatenräte lag ihm fern. Wie Olden befürchtete er, dass die im Entstehen befindliche Republik zerrieben werde zwischen reaktionären und linksradikalen Kräften. Beiden ging es um die Rekreation des Humanismus, der nicht zuletzt durch die Ereignisse des Krieges Schaden genommen hatte. Erst eine seelische Revolution könne den politischen wie sozialen Veränderungen Dauer und Stabilität geben. „Revolution muß Reformation werden, Durchsetzung der Köpfe mit neuem Geist.“67 Im Frühjahr 1919 war beiden klar, dass dieser Übergang nicht geglückt ist und nie gelingen werde. Sie erkannten, dass der Bruch mit den alten Strukturen nicht tief genug vollzogen wurde. Was in ihren Vorstellungen z.T. einte, fasste Ossietzky treffend zusammen: Wir müssen den Menschen schaffen, der über keine Tradition mehr stolpert – sagt der Reformer; dem kein Staat, keine Partei mehr befehlen darf: Du sollst töten! – sagt der Pazifist; der 64 65 66 67
Scheer (1981): S. 470. Bock (1991): S. 21. Vgl. Scheer (1981): S. 399–405; Bock (1991): S. 18–22; Boldt (2013): S. 79f. Ossietzky, in: Boldt (2013), S. 86. Folgendes Zitat ebd.
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nicht mehr die Geißel des Hungers kennt – sagt der sozial Denkende; und schließlich sagt der Freidenker und nicht etwa ein auf Solidarität im Klassenkampf pochender Sozialist: Wir müssen den Menschen schaffen, frei in seinem Gewissen, von keiner Instanz beeinträchtigt. Wir wollen nicht mehr die Zwangsorganisation, die die alte Welt in den Abgrund getrieben hat.
Damit erteilten sie dem alten Staat, der u.a. durch das Militär gestützt wurde und über eine nationalistische Erziehung seiner Bürger auf den Krieg praktisch vorbereitete, eine Absage.68 Schon um die Jahrhundertwende formulierte der Pädagoge Friedrich Wilhelm Foerster seine Kritik an der preußisch dominierten Geisteshaltung der Deutschen, v.a. unter dem militärischen Gesichtspunkt. Unserem ganzen Organisationswesen fehlte der Respekt vor den droits de'homme. Das brachte uns in stärksten Gegensatz nicht nur zum Ehr- und Freiheitsgefühl der eigenen Arbeiterschaft, der eigenen Jugend und der eigenen Grenzbevölkerung, es machte uns auch im Verkehr mit fremden Interessen und Rechten jenseits unserer Grenzen unmöglich, die richtige Tonart gegenüber dem Nicht-Ich zu finden.69
Nur aus der Achtung der Menschenrechte könne eine auf Gegenseitigkeit beruhende Ordnung ein neues Staatsleben hervorbringen, sowohl im innen- als auch im außenpolitischen Diskurs. Dem deutschen Volk diese Hintergründe zu offenbaren, machte sich Foerster bereits vor 1914 zur Aufgabe und sah in der Umerziehung der Jugend die Möglichkeit einer Veränderung des preußisch-deutschen Charakters. Die geistige Führung des Kaiserreiches habe in diesem Punkt vollständig versagt und werde zu einer Art geistigem Verführer, der die wahren Belange der Gesellschaft verschleiere. „Der Krieg wird nur soweit überwunden, wie unter dem überwältigenden Eindruck der modernen Vernichtungstechnik die geistigen Führer der Menschheit eine ganz neue Erziehung der Jugend und der Erwachsenen durchsetzen.“ Es wäre nach Foerster die Aufgabe der Sozialdemokratie gewesen, sich vollkommen mit dem Gedanken der Bildung und Erziehung zu verbünden, um die verschiedenen Interessengruppen auf eine Ebene gegenseitiger sozialer Anerkennung zu heben. Nach 1918 sah Foerster in der Herstellung einer ausgewogenen Erziehung zwischen der militärischen Ausbildung und dem gesamt-pädagogischen Konzept eine der vordringlichsten Aufgaben. Es müsse mehr Wert auf einer unter moralischen Gesichtspunkten betrachteten Erziehung liegen, hauptsächlich bei der Soldatenausbildung. Er sprach von der Notwendigkeit zur sittlichen Ertüchtigung. „Foerster spricht sich für eine moralische Erneuerung des deutschen Volkes durch Selbsterkenntnis und Selbstkritik aus, weil nur so ein Verständigungsfrieden zustande kommen könne.“70 Die nicht demokratisch legitimierte Einflussnahme der revolutionären Räte fand bei ihm ebenfalls Kritik. Oldens Positionen waren in Bezug auf die Notwendigkeit einer neuen staatsbürgerlichen Pädagogik insofern repräsentativ, als sie sich auf die politik-theoretische Perspektive pazifistischer Außenseiter wie Foerster und Ossietzky stützte. Wichtig bleibt der Ansatz einer geläuterten Gesellschaft, die dann erst zu einer wahren Aussöhnung mit den ehemaligen 68 Vgl. Boldt (2013): S. 79–92. 69 Foerster, in: Rauch (1985): S. 88. Folgendes Zitat ebd., S. 91. 70 Max (1999): S. 147.
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Feinden in der Lage sei. Welche Bedeutung dieses Motiv für Olden hatte, wird an anderer Stelle nochmals deutlich werden, wenn es um die deutsch-französische Annäherung Mitte der 1920er Jahre geht.71 Fasst man die Positionen des Pazifismus in Deutschland zur Novemberrevolution zusammen, so ergibt sich grundsätzlich eine gewisse Polarisierung zwischen dem Versuch, die politische Entwicklung in Richtung einer sozialistischen Revolution zu verschieben bzw. allein durch einen bürgerlichen Verfassungsrevolutionarismus die neue Demokratie zu stabilisieren. Olden, dessen pazifistische Anschauungen sich wohl erst in den politischen Tumulten der Republikgründung formiert haben dürften, versuchte in seinem evolutionären Reformismus beide Pole miteinander zu verbinden, indem er Anleihe bei der britischen Form des Sozialismus nahm und die Revolution ausschließlich in parlamentarische Kanäle leiten wollte. Zwar griff er die sozialpolitischen Forderungen der Arbeiter- und Soldatenräte auf, wollte ihnen aber keine eigenständige verfassungsrechtliche Stellung zubilligen. Dahinter stand wohl der Versuch, die Positionen des gemäßigten und radikalen Pazifismus in Einklang zu bringen, wenngleich man durch den starken pädagogischen Einschlag durchaus einen Schwerpunkt auf den radikalen Pazifismus rechtfertigen kann. Mit seiner Berufung auf die französische Erklärung der Menschenrechte bezeugte Olden seine liberale Geisteshaltung. Seine Positionen erschöpften sich aber nicht in einer rein semantischen Befürwortung. Er suchte durch Kritik am Idealismus bzw. durch seine Ablehnung einer Diktatur des Proletariats ideelle Grundlagen zu identifizieren, auf denen der neue Staat aufgebaut sein müsste, um ein wiederholtes Aufleben des Militarismus zu verhindern. In diesem Zusammenhang war er eindeutig durch angelsächsische Denktraditionen geprägt, die ihm über den Umweg der österreichischen Sozialdemokratie zugänglich waren. Dass er nicht eine gezielte theoretische Auseinandersetzung in Form einer geschlossenen Theoriebildung betrieb, ist eher sekundär und vielmehr Ausdruck seiner eigenen politischen Identitätssuche, die durch Widersprüche und Defizite gekennzeichnet war. So entbehrten seine Artikel nicht einem gewissen Idealismus, wenn er die Revolution durch einen evolutionären Erziehungsprozess zu verlängern suchte, negiert diese Position den pragmatischen Handlungsdruck, dem die politisch Führenden in der unmittelbaren Nachkriegszeit ausgesetzt waren. Darüber hinaus lehnte er eine institutionalisierte Verankerung der Arbeiter- und Soldatenräte strikt ab, befürwortete aber den, wenn auch nur kurzweiligen, Anarchismus des Literaten als Handlungsanleiter für die politischen Eliten im Reichstag. Es zeigte sich eine innere Spannung bei Olden, die aber unausgetragen blieb, mutet die Vorstellung von einer Revolution des Geistes, aber auch die Kritik an der Anbetung der Macht sowie der dem Primat der Prosperität im Bürgertum selbst idealistisch an. Mit der Gründung von Räten geistiger Arbeiter, z.B. in Berlin durch Kurt Hiller, wurde der Versuch einer praktischen Umsetzung dieser theoretischen Position unternommen. Sie galten als Sammelbecken einer linksliberalen oder sozialistisch geprägten Künstler- und Schriftstellerszene, die aber gezielt die Abgrenzung zu radikal-spartakistischen Kreisen suchte. Eine grundsätzliche Modernisierung der Ge71 Vgl. Rauch (1985): S. 83–93; Max (1999): S. 150–167.
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sellschaft wurde angestrebt. Eine Neugestaltung der ökonomischen Besitzverhältnisse bzw. eine Verstaatlichung der Produktionsmittel blieb eher ein sekundäres Postulat. So blieb das Ziel Hillers, eine Herrschaft der Geistigen zu realisieren. Sein Rat erhielt durch die persönliche Verbindung Hillers zum Vorsitzenden des Berliner Soldatenrates, Hans-Georg von Beerfelde, einen Raum im Reichstag. In Aussicht stand die Beteiligung an der Kulturpolitik. Mit der Absetzung Beerfeldes verlor die Gruppe um Hiller einen wichtigen Fürsprecher. Auf einem Kongress verschiedener Räte geistiger Arbeiter im Juni 1919 stimmte eine knappe Mehrheit für die Mitarbeit in Parteien, was politisch das Aus bedeutete. Die dahinterstehende Idee bzw. Konzeption war aber durchaus vergleichbar mit derjenigen, die Olden formuliert hatte, wenngleich diese von ihm nicht derart radikal und eindeutig postuliert worden war. Nach Hiller sollte der Rat das Parlament teilweise ersetzen bzw. gerade im Bereich der Bildungspolitik dauerhafte Befugnisse besitzen. Er beantwortete damit gleichzeitig die Frage, die sich Olden nur ungenügend bzw. gar nicht stellte: Wie soll der Erziehungsauftrag des Literaten praktisch organisiert werden? Hiller gab darauf eine eindeutige Antwort und lieferte nach dem Scheitern verschiedener Rätekonzeptionen mit seiner Vorstellung einer Herrschaft der Funktionseliten bzw. Besten die Verleumdung der parlamentarischen Demokratie als staatsrechtlichen Relativismus. Somit könne es die Annahme politischer Gleichberechtigung gar nicht geben. „Hiller sah die Geistigen zur Herrschaft berufen. Er forderte kompetenzorientierte Entscheidung und übertrug letztlich die Funktionslogiken der Rechtswissenschaft und Philosophie auf die Sphäre politischer Entscheidungen.“72 So bestimmte schließlich die Elite über den Staatsentwurf. Das Wahlverfahren und das Prinzip der Mehrheitsentscheidung allein lasse die Demokratie zur „Diktatur der Mittelmäßigkeit“73 herabsinken. Stärker als dies Olden zu benennen wusste, wies Hiller mit seiner Idee auf ein demokratietheoretisches Problem hin: Das Mehrheitsverfahren beinhaltet große soziale und politische Risiken, wenn es nicht an Grund- und Menschenrechte gebunden ist. Beide repräsentierten mit den jeweiligen Konzepten einer neuen geistigen Führerschaft ihre Verwurzelung in der Krisenzeit des Fin de Siècle, die, zumindest im Falle des jungen Rudolf, maßgeblich seine Jugend und seine Stellung zu Politik und Staat geprägt hatte. Dem Vorwurf der Widersprüchlichkeit waren beide ausgesetzt, ließe sich das Modell der Elitenherrschaft autoritär missbrauchen. Sucht man in der Zeit bis etwa Mitte 1920 für Olden nach einer politischen Charakterisierung, so kann er als ein heimatloser, sozialliberaler Antimilitarist tituliert werden, der durch einen ideengeschichtlichen Eklektizismus geformt wurde.74 Von konservativer Seite wurden die in der Novemberrevolution geschaffenen Tatsachen systematisch diskreditiert, sei das deutsche Heer im Felde unbesiegt und nur von Sozialisten, Juden und Pazifisten kriegsunwillig gemacht worden. Für die Kapitulation bedurfte es eines Sündenbockes. Schon während des Krieges wurden jene politischen Kreise diffamiert, die sich für einen Verständigungsfrieden ein72 Münzner (2015): S. 112. 73 Hiller, in: Münzner (2015): S. 113. 74 Vgl. Münzner (2015): 107–115.
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setzten. Der Mythos vom Dolchstoß wurde zu Kriegszeiten vorgeprägt und mit der Niederlage 1918 zu einer Verschwörungstheorie ausgebaut, um das Versagen der politischen Rechten zu kaschieren und gleichzeitig ein einfaches Erklärungsmuster für den Verlust der politischen Machtstellung zu konstruieren. Sie wurde so zu einem manifesten Vorurteil, stabilisierte das politische Selbstverständnis und bot eine eindeutige Schuldzuweisung für den Verlust von deutscher Herrlichkeit und Weltgeltung. Die Verfechter der Republik wurden zu einer moralischen wie politischen Zielscheibe rechter Kampfrhetorik. Besonders den Pazifisten heftete man den Vorwurf des moralischen Landesverrates an. Obwohl ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss die Dolchstoßthese rasch mithilfe historischen Materials zu widerlegen wusste, konterten die Pazifisten der unmittelbaren Nachkriegszeit den chauvinistischen Anfeindungen der politischen Rechten zu halbherzig. Sie erkannten nur unzureichend, daß die Unterstellung der Nationalisten die Festigung der Republik und die Abkehr vom Militarismus der Kaiserzeit zu hemmen vermochte. Es mißlang, der Dolchstoßlegende unmittelbar nach ihrer Entstehung durch den Hinweis auf markante historische Belege die Grundlage zu entziehen. Je länger der Weltkrieg zurücklag, desto leichter konnte die Legende in den Rang einer Tatsache erhoben werden. 75
Schließlich war es Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, der Ende 1919 maßgeblich zu einer Popularisierung der These vom Dolchstoß beitrug. In diesem Zusammenhang ist ein schwärmerisches Portrait aus dem Mai desselben Jahres von besonderem Interesse, das Olden „Deutschlands – trotz allem – populärstem Mann“76 widmete. Unter Verweis auf die militärischen Siege Hindenburgs habe er sich „unverwischbar ins Vertrauen des deutschen Volkes“ gerückt. Seine Führung habe nach der Ansicht Oldens eine noch größere militärische Niederlage verhindert. „Hindenburgs Ansehen ist auf dem höchsten Gipfel gestiegen, wird auch nicht herabgezogen durch befremdende Politisierung der Obersten Heeresleitung.“ Er habe nach der Abdankung des Kaisers mit seiner Präsenz der Regierung die Unterstützung der Reichswehr gesichert. Die schwere Frage, vor die ihn die Revolution stellt, ob größere Treue als dem obersten Kriegsherrn, dem er geschworen hat, der Nation gebührt, er bejaht sie praktisch, ohne zu zögern; sichert so den folgenden Regierungen tätige Mithilfe tausender von Offizieren, die sonst zweifelnd beiseite gestanden wären.
Hindenburg verkörpere das Idealbild eines tüchtigen und pflichtgetreuen Soldaten, der das alte Preußen Wilhelms I. repräsentiere. „Zu verstehen ist er nur historisch. Nicht erst seit 1918, seit 1888 ist sein Typ von der Entwicklung überholt, überlebt.“ Die Form des Preußentums, die sich in Hindenburg personifiziere, sei eine tugendhafte. Kein Span in ihm von der geschäftigen Aufgeblasenheit des deutschen Handlungsreisenden, des Platz-an-der-Sonne-Mannes, dessen Ansager Wilhelm II. war und den die Welt unter dem Namen Deutscher haßt. Ohne Genialität, zeigt er die hohen Tugenden eines idealisiertesten Feldwebels.
75 Lütgemeier-Davin (1982): S. 123. 76 R.O. Hindenburg geht, in: Der Friede, 16.5.1919. Die folgenden Zitate ebd.
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So gelte es diese Ideale über die Person Hindenburgs für die neue Zeit fruchtbar zu machen, sei er „von dem Material, das einen Teil kommenden Deutschtums, soll es nicht untergehen, bilden muß.“ Es scheint, als habe hier noch einmal der preußisch erzogene Schuljunge des ausgehenden 19. Jahrhunderts und der begeisterte Kriegsfreiwillige des Jahres 1914, der später an der Ostfront unter dem Oberkommando des Generalfeldmarschalls seinen Kriegsdienst für das Vaterland versah, gesprochen. Er unterlag seiner eigenen Prophezeiung, indem er die vermeintlichen Tugenden des deutschen Kaiserreiches vor 1888 dem späteren Wilhelminismus, der in den Ersten Weltkrieg führte, expressis verbis gegenüberzustellen versuchte und idealisierte. Hindenburg und seinen Getreuen innerhalb der Reichswehr ging es vielmehr um die eigene Existenzsicherung, als um die Stärkung der Weimarer Demokratie. Erst in einer späteren Phase der Republik sollte Olden nicht zuletzt durch seine Hindenburg-Biografie die wahren Motive erkennen und sein Bild über den Generalfeldmarschall erheblich revidieren. Im Mai 1919 symbolisierte dieser Artikel seine eigene Widersprüchlichkeit, die den politisch Suchenden ausmachte und auf deren Grundlage er sich zu den Pariser Friedensverhandlungen und zur Kriegsschuldthese äußern sollte. 5.1.2 Die Pariser Konferenz – Friedensbedingungen von Versailles Der Versailler Vertrag war von Anfang an Objekt kritischer Auseinandersetzung. Sowohl die Weimarer Republik als völkerrechtlicher Nachfolger des Deutschen Kaiserreiches als auch einige Siegerstaaten empfanden die Friedensregelungen als Belastung für die Zukunft. Allerdings machten es die Voraussetzungen, die der Krieg geschaffenen hatte, nicht leicht, einen für alle annehmbaren Frieden zu stiften. Zu stark hatte der Weltkrieg das Klima auf beiden Seiten durch nationalistische Leidenschaften vergiftet. Zudem stellte das Deutsche Reich keinen ernsthaften Verhandlungspartner in Paris dar, da es aus einem Moment der Schwäche agierte. Man hatte erst kapituliert, als man nahezu kampfunfähig war. Eine Wiederaufnahme der Kampfhandlungen von deutscher Seite erschien aus Sicht der Alliierten unmöglich, weshalb man keinen Grund für eine Mäßigung sah. Sie agierten oberflächlich betrachtet aus einem Moment des totalen Sieges. Es sollte sich jedoch rasch zeigen, dass die Auseinandersetzung um die Friedensbedingungen nicht zwischen Besiegten und Siegern stattfand, sondern innerhalb des alliierten Lagers geführt wurde. Der umfassende militärische Triumph wollte von jeder Siegernation in einen vollständigen politischen Erfolg umgemünzt werden. Dies belastete die Ausgangslage der Verhandlungen mit dem Dilemma mangelnder Kompromissbereitschaft. Vor allem der Umgang mit der Sowjetunion und die Vielzahl territorialer Streitfragen überlagerte bei den Siegermächten die Frage nach den Bedingungen, die dem besiegten Deutschland gestellt werden sollten. Es wurde größeres Augenmerk daraufgelegt, eine Einigung innerhalb der Koalition zu erzielen, als in echte Verhandlungen mit den Besiegten einzutreten. Für Frankreich standen in erster Linie Sicherheitsinteressen im Vordergrund. Der mächtige Nachbar sollte dauerhaft durch hohe Reparationsforderungen,
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umfangreiche Gebietsabtretungen und Rüstungsbeschränkungen geschwächt werden. Den Briten ging es dagegen um ein Gleichgewicht auf dem Kontinent. Sie versuchten die starken französische Forderungen etwas abzuschwächen. Die englische Befürchtung bestand darin, dass die Weimarer Demokratie durch ein überzogenes Sicherheitsbedürfnis Frankreichs in die Arme des bolschewistischen Russlands getrieben werde, hatte England mit dem Waffenstillstandsabkommen seine Kriegsziele erreicht. Nach langen spannungsreichen Diskussionen zwischen Wilson und Llyod George auf der einen und Clemenceau auf der anderen Seite erhielt Polen die Gebiete Westpreußen und Posen zugesprochen. Im Westen ging ElsassLothringen zurück an Frankreich. Zu einer Annexion des linken Rheinufers kam es nicht. Man begnügte sich mit einer Entmilitarisierung. Das Saargebiet unterstand dem Völkerbund. So waren die Konzessionen Frankreichs gegenüber England und den Vereinigten Staaten Ausdruck einer realistischen Sicherheitspolitik, die nur im Einvernehmen und im Zusammenhalt der drei Länder sichergestellt werden konnte. Die französische Bevölkerung hingegen empfand das Resultat als ungenügend. In der Reparationsfrage stand Wilson auf verlorenem Posten. Nach langem Widerstand stimmte er letztlich, entgegen seiner eigenen Überzeugung, dem Konzept eines vollständigen Ersatzes der entstandenen Kriegsschäden durch Deutschland an die Siegermächte zu. Auf eine sofortige Festsetzung der Reparationssumme wurde angesichts der unterschiedlichen Schätzungen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Deutschlands zunächst verzichtet. Im Artikel 231 wurde festgehalten, dass das Deutsche Reich als Urheber des Krieges für alle, den Alliierten entstandenen Schäden, aufzukommen habe. So sollte der Reparationsanspruch juristisch abgesichert werden. Dies wurde zu einem politischen Trauma für die Zeit der Weimarer Republik und löste heftige Proteste aus. Weder die deutsche Regierung noch die gesellschaftliche Öffentlichkeit konnte sich zwischen Januar und Mai 1919 ein realistisches Bild über die Friedensbedingungen machen, da von den Pariser Beratungen kaum Informationen nach außen drangen. So hoffte man im Frühjahr 1919 auf einen Frieden zu den Bedingungen des US-Präsidenten und bereitete sich seinerseits auf mögliche Friedensverhandlungen vor. Die Reparationsfrage war eine zentrale Kategorie, suchte man nach einem Weg die ökonomische Potenz Deutschlands als Machtfaktor aufrechtzuerhalten und gleichzeitig höheren Forderungen zu entgehen. Einen Einfluss auf den Verlauf der Pariser Beratungen hatte man aber zu keiner Zeit. Der Schock mit der Übergabe des fertigen Vertragswerkes in Versailles fiel entsprechend groß aus. Unter der Überschrift Rechtsfrieden und Völkerbund verglich Olden den Wiener Kongress aus dem Jahre 1815, der nach den napoleonischen Kriegen eine restaurative Neuordnung Europas unternahm, mit der Konferenz in der französischen Hauptstadt. Auf Basis eines gesicherten Rechtsfriedens habe der Wiener Kongress eine erhebliche Weiterentwicklung des Völkerrechts bewirkt. Unter Bezug auf den französischen Historiker Albert Sorel rühmte Olden die Wiener Beschlüsse als den Versuch, Europa eine neue organisatorische Form zu geben. Die Verträge von Wien hätten es vermocht, künftige zwischenstaatliche Streitigkeiten und Auseinandersetzungen durch die Einrichtung von Schiedssprüchen zu nivellieren. Politisch rückte Olden den beratenden Charakter in den Vordergrund, bei dem kein beteiligter Staat
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außen vor bleiben dürfe, „denn wenn erst das Prinzip der Unterhandlung verletzt wird, wird die Gewalt unverzüglich wieder ihre Herrschaft antreten.“77 Inwiefern seine Beschreibung historisch zutreffend war, mag an dieser Stelle unbeantwortet bleiben. An jenem Maßstab gemessen, kam Olden, eingedenk der zeithistorischen Umstände, in der Beurteilung der Pariser Verhandlungen zu einem eindeutigen Fazit: Die augenblickliche Beratung der Sieger, die zu Unrecht Friedenskonferenz genannt wird, kann, weit entfernt, diesen Vorbedingungen zu entsprechen, nicht als Kongreß in solchem Sinne betrachtet werden. Findet sie doch vor allem in Abwesenheit der Staaten statt, deren Angelegenheiten verhandelt werden.
Er befürchtete, dass ein Diktat der Friedensbedingungen nicht zu einer friedvollen Annäherung der Staaten beitragen werde. Die Anlage der Friedensverhandlungen wären nicht auf Mäßigung, Liberalität und die Achtung fremden Rechts ausgerichtet. Die Sieger säßen über den Besiegten zu Gericht. Auf dieser Grundlage sei eine Völkerverständigung nicht möglich. Spürbar bleibt seine Hoffnung auf das 14Punkte-Programm für die politische Verwirklichung des Rechtsfriedens im Völkerbund auf Grundlage des Selbstbestimmungsrechtes. Obwohl den Deutschen bei der Verhandlung über die Friedensbedingungen keinerlei Mitspracherecht eingeräumt wurde, gab Olden mit diesem Artikel dem weit verbreiteten Gefühl in der deutschen Öffentlichkeit Ausdruck, dass sich die Vorstellungen des US-Präsidenten innerhalb der Siegerkoalition schon durchsetzen würden. Die Realität war Mitte Mai 1919 eine andere geworden, als die Alliierten der deutschen Delegation die Friedensbedingungen erstmals öffentlich vorlegten. Die einseitige Ausrichtung der Diplomatie auf den amerikanischen Friedensplan erwies sich als hoffnungslose Illusion und wurde von Olden kritisch kommentiert, auch wenn er selbst öffentlich einseitig Bezug auf die Ideen von Wilson nahm. Er verwies darauf, dass es während des Krieges nur wenige in Deutschland gab, die dem Programm des US-Präsidenten etwas Positives abringen konnten. Da kam der Zusammenbruch an der Front, mit ihm der Umsturz zu Hause. Über Nacht war das Bild wie ausgewechselt. Man schloß den Waffenstillstand auf der Grundlage der vierzehn Punkte; ganz Deutschland schwor auf sie, als ob sie ureigenstes Produkt der deutschen Seele, von jeher deutsches Glaubensbekenntnis gewesen seien.78
Im Angesicht der Niederlage sei man plötzlich auf diesen vermeintlichen Pfad der Tugend gekommen. Erst im Augenblick der militärischen Niederlage und inneren Unruhen hätte die Regierung in Wilson den Erlöser erkannt, weshalb sie sich der Selbsttäuschung bzw. der Täuschung des deutschen Volkes schuldig gemacht habe, besonders im Moment, da die Konditionen öffentlich wurden. „Endlich das Resultat: Versailles, Mitteilung der Friedensbedingungen. Und nun Wechsel der Szene. Aller Orten, in allen Herzen, Mündern und Zeitungsspalten Empörung über Wilson, den Verräter, dessen Lockungen man vertrauend (als das Heer der Übermacht er77 R.O. Rechtsfrieden und Völkerbund. Ein Vergleich, in: Fremden-Blatt, 23.2.1919. Folgendes Zitat ebd. 78 R.O. Deutsche Diplomatie, in: Der Frieden, 30.05.1919. Die folgenden Zitate ebd.
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lag!) ins Verderben folgte.“ Inwiefern Olden selbst dieser Täuschung unterlag, muss offenbleiben, äußerte er sich dazu nicht. Vielmehr beschrieb er das Dilemma, indem sich die deutsche Nachkriegsgesellschaft befinde. „Die Situation ist furchtbar genug. Streik der Besiegten bringt sicheres Verhungern, Unterschreiben dauerndes Siechtum.“ Wilson sei in dieser Situation der einzige Staatsmann, auf den sich die Deutschen, „nicht als Freund, aber als menschlich vernünftig Gesinnten“, verlassen könnten. Der entscheidenden Frage, ob die deutsche Delegation in Versailles die Bedingungen für den Frieden annehmen solle oder nicht, wich er aus und sie blieb seinerseits Ende Mai 1919 unbeantwortet. Aus welchen Gründen er ein eindeutiges Votum vermied, ließ sich nicht mehr feststellen. Nach Abschluss des Versailler Vertrages im Juni 1919 nahm Olden nur noch einmal zu den Friedensbedingungen insgesamt Stellung. Er bemühte sich nach eigenem Bekunden um eine objektive Betrachtung, die er aber einzig und allein, zum wiederholten Male, dem britischen Dramatiker Bernard Shaw zutraute, indem er auf seine Schrift Winke zur Friedenskonferenz Bezug nahm, die im März 1919 veröffentlicht wurde. Alle anderen Historiker und Journalisten besäßen nicht die Gabe, „historisch zu sehen, das heißt also im Geiste der Wahrheit und Gerechtigkeit über die Gegenwart zu denken und zu schreiben. Bernard Shaw ist das einzige mir bekannte Exemplar dieser Art von Rarität.“79 Dies lasse ihn zwar zum Politiker ungeeignet werden, allerdings verkörpere er dadurch die Form des anarchistisch unangepassten Literaten, der „die politischen Ereignisse des Tages historisch sieht und darstellt, daß er die Wahrheit sagt in einer Materie, in der die Welt die Unwahrheit zu hören und nachzusprechen als ihr heiliges Privileg betrachtet.“ Olden sah die Winke in erster Linie als Mahnung an alle Staatsmänner, v.a. im Völkerbund das Mittel zur Verhinderung weiterer Kriege zu sehen. Unter Berücksichtigung dessen, was Olden als moralisch-erzieherische Konsequenz des Krieges für Deutschland postulierte, richtete sich Shaw an die britische Nation mit der Notwendigkeit eines neuen moralischen wie ökonomischen Gesellschaftsprozesses. Er gehörte vor 1914 im Kreis der Fabier zu denjenigen, die einen großen europäischen Krieg für wahrscheinlich hielten. Der Militarismus und das Junkertum innerhalb der Länder haben ein Stadium an gesellschaftlicher Integration erreicht, die einen Kriegsausbruch geradezu provozierten. Daraufhin sprach sich Shaw für eine gegenseitige Abrüstung aus. Nicht nur in Deutschland allein dürften im Falle des Friedens den nationalistischen Chauvinisten die Mittel des Krieges aus der Hand geschlagen werde. Deutschlands chronischer Militarismusdünkel war unübersehbar. Damals profilierte sich Shaw zum Sprachrohr einer hypothetischen Zukunft, mittels derer er die populären Zeitideen umkrempeln wollte. Den Krieg stellte er in den Kontext des Friedens und den Frieden in den Kontext des Krieges. Eine Friedensethik hielt er für unabdingbar.80
Von der Losung der Internationalen bei Kriegsausbruch enttäuscht, forderte er die Arbeiterbewegung auf, im Frieden für bessere Bedingungen der nationalen Arbeiterschaft zu kämpfen. Ihr Blutzoll darf nicht vergessen werden. Das britische Welt79 R.O. Bernhard Shaw. Winke zur Friedenskonfernz, in: Der Frieden, 11.7.1919. Folgendes Zitat ebd. 80 Holroyd (1995): S. 658.
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reich solle durch den kriegsgestählten Sozialismus republikanisch und föderalistisch werden, da dies die einzig normativ politische Ordnung einer modernen Zivilisation sei, die künftige (dynastische) Kriege verhindern könne. So schien Bernard Shaw nicht nur als Literat, sondern auch als Pazifist Vorbild für Olden gewesen zu sein.81 In diesem Zusammenhang verwies er darauf, dass für alle Nationen der eigentliche Hauptfeind der militaristische Nationalismus ist und bleibt, den es, auch nach den Verträgen von Versailles, zu bekämpfen gilt. Diese Gemeinsamkeit des Hauptzieles muß erkannt werden. Es gilt, das Trennende zurückzusetzen, sich klar zu machen, was die Taktik verlangt, wonach die Not des Augenblicks schreit. Das ist Völkerversöhnung, Abbau der Grenzen, Vergessen der Sprachverschiedenheiten Zusammenfassung der Arbeit. Soll die europäische Zivilisation überhaupt gerettet werden, so ist das nur möglich durch die Herstellung großer Wirtschaftsgebiete und durch großherzigste gegenseitige Unterstützung dieser Gebiete.82
All dies sahen die Vereinbarungen von Paris nicht vor, was die Vermutung nahelegt, dass Olden ursprünglich gegen die Annahme des Versailler Friedensvertrages optiert haben könnte. Einen Beweis bleiben die Quellen schuldig. Was Olden sich im Sommer 1919 gewünscht hätte, brachte er später noch einmal auf den Punkt: „Ich träume von dem geeinigten Europa. Ein engeres Nationalgefühl halte ich nicht für zeitgemäß. Ich glaube, diese Einigung Europas wird sein oder Europa wird nicht sein.“83 Eine konkrete, institutionalisierte Darstellung eines geeinten Europas fehlte allerdings in dieser Frühphase. Der Pazifismus sei durch einen Mangel an Einsicht in die beschriebenen Notwendigkeiten gefährdet. Die Politik müsse aktiv auf die Einigung Europas hinarbeiten, was sie aber aus Hoffnungslosigkeit, Gleichgültigkeit oder Defätismus nicht tue. „Es gibt nur eine Organisation, die aktiv diese Politik betreibt: die Gruppe Clarté, die von den besten Männern aller Nationen geführt wird.“84 Sie ging zurück auf einen Kriegsroman von Henri Barbusse aus dem Jahre 1919. Darin beschrieb er die durch den Krieg stattfindende Wandlung eines kleinen Angestellten, konservativ geprägt und erzogen, zum Gefühlssozialisten. Der Krieg habe den Weg frei gemacht für den Aufbruch in eine neue gesellschaftliche Ordnung, der Weltrepublik, in die der Protagonist visionär hinein zu schauen versucht. Die auf Basis dieses Romans gründende Gruppe verstand sich als eine Intellektuellen-Internationale, der auch deutsche und österreichische Schriftsteller wie Heinrich Mann und Arthur Schnitzler angehörten. Barbusse stand ihr als Präsident vor und führte sie parteipolitisch neutral. Schon während des Krieges kam der Gedanke einer solchen Internationalen im Umfeld von Romain Rolland auf, doch erst Barbusse gab dieser Idee eine organisatorische Form. Die ersten politischen Stellungnahmen waren durch den Protest gegen den Versailler Vertrag gekennzeichnet. Im Aufruf Geistige Kämpfer in aller Welt forderte die Clarté die Intellektuellen in allen kriegsbeteiligten Staaten auf, der gegenseitigen Versöhnung eine Chance zu geben und fortan gemeinsam nationalistischer Hetze entgegen zu treten, damit künftig 81 82 83 84
Vgl. Holroyd (1995): S. 657–675. R.O. Klarheit!, in: Der Neue Tag, 6.1.1920. R.O. Wiener Töne, in: Tage-Buch, 24.9.1921. R.O. Klarheit!, in: Der Neue Tag, 6.1.1920.
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keine Kriege mehr geführt werden müssen. „Moralisch wurde das Vertrauen in die Menschenwürde, die Kraft der Vernunft beschworen, politisch die Hoffnung auf die Friedensvorschläge des amerikanischen Präsidenten Wilson artikuliert.“85 Die Ideen von 1914 sollten dem Geist von 1919 weichen, der in Deutschland sein organisatorisches Pendant im Rat geistiger Arbeiter um Kurt Hiller gefunden hatte und der den Verständigungswunsch mit Frankreich verstärkte, da das Zeichen zur Aussöhnung gerade auch aus der Grande Nation gewollt war. Kennzeichnend für die Positionen der Gruppe war ihr unerschütterlicher Glaube an die demokratische Umgestaltung der Gesellschaften nach westlichem, sprich amerikanischem, Vorbild. Nur dadurch sei eine Garantie gegen künftige Kriege gegeben. Das 14-Punkte-Programm von Wilson wurde zum Dogma, selbst als der Versailler Vertrag viele Mitglieder in große Ernüchterung stürzte. Ihre politische Haltung blieb der Versuch einer pazifistischen Bewegung zwischen Wilsonismus und proletarischer Revolution. Nur die starke Erschütterung des bürgerlichen Humanismus durch die Krise von Krieg und Nachkrieg macht begreiflich, dass sich hier vorübergehend ganz verschiedenartige Köpfe und Charaktere in gewissen Grundbestrebungen begegnen konnten.
Die persönliche Entwicklung von Barbusse selbst nahm schließlich eine höchst fragwürdige Wendung. Seine Annäherung an den Kommunismus führte zu einem Sprung von der bürgerlichen Demokratie hin zur Befürwortung des bolschewistischen Extremismus, in dem jedes Mittel legitim war. Fortan sollte er die Einrichtung eines Völkerbundes bekämpfen. Aus der Idee einer demokratisch aufgebauten Weltrepublik wurde die Ablehnung eines vereinigten Europas. Doch genau dem blieb Olden verpflichtet, sah die Grundkonzeption der Gruppe weiterhin als erstrebenswert an und betrachtete sie als einzige Organisation, die den europäischen Völkern nach Versailles den Weg zur Einheit, wie auch immer diese genau aussehen möge, ebnen könne. Festzuhalten ist, dass der Versuch der französischen Clarté-Gruppe über die Grenzen Frankreichs hinaus im Sinne der europäischen Verständigung zu wirken, die Funktion eines Katalysators übte, der die Entscheidungskrisen der Intellektuellen bei der Suche nach einer zeitgemäßen Position bewusst machte.
Dies traf auf Olden ebenfalls zu, befand er sich in einem Prozess beruflichen wie politischen Neuanfangs. Anders als bei Barbusse schien seine Verankerung im Kantianismus und seine Prägung durch den Sozialismus der Fabier ein Abdriften in eine antieuropäische Haltung zugunsten einer Diktatur des Proletariats nach sowjetischem Vorbild zu verhindern. Gleichwohl kann man womöglich davon ausgehen, dass er unter dem Einfluss von Barbusse, der den Versailler Vertrag in Der Schimmer im Abgrund als ungerecht verurteilte, ebenfalls ablehnte, da er jedem europäischen Einheitsgeist widersprach und dem Revanchismus Vortrieb leistete. Dem späteren Idealisten Barbusse, der im Kommunismus der Bolschewiki die Fortsetzung der Aufklärung sah, dürfte Olden eher kritisch gegenübergestanden haben.86
85 Müller, H. (2010): S. 162. Die folgenden Zitate ebd. 86 Vgl. Müller, H. (2003): S. 4-20; Ders. (2010): S. 161–174.
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Mit seinem zögerlichen Urteil über den Versailler Vertrag in der Frühphase der Republik war Olden innerhalb der Weimarer Friedensbewegung eine Ausnahme. Grundsätzlich lassen sich drei Strömungen in der Bewertung des Versailler Vertrages identifizieren. Die Gruppe um Quidde, Wehberg und Schücking, als Vertreter eines klassisch bürgerlichen Pazifismus innerhalb der DFG, empfanden die Pariser Bedingungen nicht vereinbar mit ihren pazifistischen Grundvorstellungen und lehnten eine Unterzeichnung des Vertrages ab. Dem WLV um Küster und Foerster hingegen galt der Vertrag als nicht unannehmbar, sondern sahen in ihm eine politisch wie moralische Verpflichtung Deutschlands. Angesichts der zu verantwortenden Kriegsschäden seien diese Bedingungen gerechtfertigt und anzunehmen. Erst eine Anerkennung der Erfüllungspolitik und damit eine positive Gesamtwürdigung des Vertragswerkes würde es den Deutschen in ihrer Gesamtheit ermöglichen, sich von der preußisch-deutschen Gewaltpolitik und ihren Vertretern loszusagen und politisch-moralisch zu gesunden.87
Eine dritte und eher weniger bedeutsame Richtung im Nachkriegspazifismus um Kurt Hiller sah die Pariser Vereinbarungen als ein imperialistisches Diktat Englands und Frankreichs an und plädierte in Abgrenzung zu diesen Siegermächten für ein Bündnis mit der Sowjetunion. Er folgte damit den Positionen der KPD und brachte ihn in Gegensatz zum Verständnis einer Außenpolitik, die auf Versöhnung und Verständigung mit Frankreich fußen wollte. Insgesamt bildeten diese drei Grundströmungen den Hintergrund der politischen Richtungskämpfe im Pazifismus der Zwischenkriegszeit.88 Bei der Masse der Pazifisten blieb, trotz aller Grundsätzlichkeit, das Urteil über die Friedensbedingungen eher abstrakt. Unter einem gewissen Entscheidungsdruck hingegen standen führende Pazifisten wie Quidde und Schücking, die als Abgeordnete in parlamentarischen Entscheidungsprozessen eingebunden waren oder sogar Teil der deutschen Delegation in Versailles gewesen sind. Je größer die Nähe zur politischen Verantwortung war, umso mehr stellte sich die Frage der Abwägung ihrer Folgen. Der Diskurs blieb von der Grundfrage bestimmt, ob und falls ja, warum sich die Unterzeichnung rechtfertigen lässt. Für die Gruppe um Foerster war die Annahme der Bedingungen Symbol und Chance zugleich auf einen überzeugenden politischen Neuanfang. Die Republik habe für den Militarismus des Kaiserreiches zu sühnen. Besonders jene Bestimmungen, die auf eine Abrüstung und Entmilitarisierung Deutschlands zielten, wurden begrüßt. Doch dies waren selbst in der deutschen Friedensbewegung eher Außenseiterpositionen. Für die Mehrzahl der Pazifisten sollte entscheidend bleiben, „ob dieser Friedensvertrag den im Krieg entwickelten Kriterien im Sinne der Formel vom Rechtsfrieden und von einem dauerhaften Frieden standzuhalten vermochte.“89 Das Friedensprogramm Wilsons als Maßstab für die Friedensbedingungen erwies sich als Illusion und mündete in Enttäuschung und massive Ablehnung. Quidde und seine Mitstreiter empfanden die Annahme des Vertrages als einen Verrat an dem Selbstbestimmungsrecht der Völ87 Donat, in: Holl/Wette (1981): S. 31. 88 Vgl. ebd., S. 27–32. 89 Holl (1988): S. 141.
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ker, den Wilson zulasten Deutschlands widerstandslos hinnahm. „So sehr es zutraf, daß der Versailler Frieden mit dem Ursprungsprogramm Wilsons unvereinbar war, so wenig erkannten die Pazifisten zunächst die objektiven Umstände, die das Scheitern bedingten.“90 Eine bittere Pointe mag darin gesehen werden, dass trotz mehrheitlicher und erheblicher Distanz der Weimarer Friedensbewegung zum Versailler Vertrag, die politische Rechte ihr den Abschluss anlastete und sie pauschal in der Verzerrung der politischen Realität als Vaterlandsverräter diffamierte. Die antipazifistische Stigmatisierung bekam bald die Form des blutigen Terrors, denkt man an die Ermordung des bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner oder des Schriftstellers und ehemaligen Marineoffiziers Hans Paasche.91 Mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrages war für die Friedensbewegung ein gewisses Dilemma verbunden: Die Pazifisten erkannten, daß (er) förmlich dazu prädestiniert war, die Reaktion zu stärken und die auf internationalen Ausgleich bedachten Gruppen in ihrer Wirksamkeit zu hemmen. Sie waren davon überzeugt, daß einerseits nur mittels einer pazifistischen Politik eine Revision des Vertrages möglich war, daß aber andererseits ausgerechnet dieser Vertrag die Bekehrung des deutschen Volkes zu pazifistischen Prinzipien erschwerte.92
Von Beginn an herrschte weitestgehende Einigkeit darüber, dass der Vertrag revidiert werden müsse. Nur die Frage nach dem Wie sollte künftig Unterschiede zutage fördern. Zunächst sah man aber im Völkerbund das geeignete Instrument zur Änderung der Bestimmungen, war diese Möglichkeit durch den Vertrag doch selbst vorgegeben. Zwar sei er nicht das Idealbild einer gemeinsamen Organisation, die das in Versailles geschaffene System zu revidieren vermag, aber man könne ihn ausbauen bzw. weiterentwickeln, d.h. Priorität habe der Beitritt, bevor eine Umgestaltung des Bundes eine Revision des Vertrages möglich werden ließe. Die Chiffre vom Rechtsfrieden beinhaltete die Vorstellungen eines Völkerbundes selbstbestimmter Staaten, die sowohl ökonomisch wie politisch gleichberechtigt sich in einer Rechtsgemeinschaft freier Völker wiederfinden. Es dürfe nicht das Recht des Stärkeren gelten. Solange die zwischenstaatlichen Beziehungen durch einen undemokratischen Frieden belastete seien, wäre es dem Pazifismus nicht möglich, im Sinne eines neuen internationalen, demokratischen Systems in Europa zu wirken. Im Interesse des Weltfriedens müsse eine Änderung der Friedensbedingungen verlangt werden. Die Durchsetzung einer friedlichen Revision der Pariser Verträge hing nicht zuletzt von der Rezeption des Pazifismus selbst ab.93 Angesichts der nahezu einhelligen Ablehnung des Versailler Vertrages im Kreise der Weimarer Pazifisten, stellt sich abschließend die Frage, warum Olden ein deutliches Urteil in dieser Frage vermied? Womöglich schlugen zwei Herzen in seiner Brust. Einerseits erhoffte er sich unter dem Einfluss des amerikanischen Präsidenten einen gemäßigten Frieden für Deutschland und eine Beteiligung der Weimarer Demokratie in der Rechtsgemeinschaft eines geeinten Europas. Ob damit die 90 91 92 93
Scheer (1981): S. 359. Vgl. Holl (1988): S. 138–142. Lütgemeier-Davin (1982): S. 128. Vgl. Scheer (1981): S. 356–364; Lütgemeier-Davin (1982): S. 122–130.
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konkrete Vorstellung des Völkerbundes verknüpft war, muss in Anbrachtet der wenig aussagekräftigen Quellen zwischen 1919 und 1920/21 fraglich bleiben, zumal er unter Verweis auf die Intellektuellen-Internationale der Clarté stärker den künstlerischen Eliten den Vorrang einräumte, eine Verständigung der europäischen Nationen zu befördern. Damit setzte sich der Impetus auf der außenpolitischen Ebene fort, den er auch für die innenpolitische Betrachtung und Analyse der Novemberrevolution vertrat. Er sah die Gruppe um Barbusse, Heinrich Mann u.a. als die einzig aktive politisch-elitäre Kraft, die eine wahre Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich erzielen könnte. „Barbusse und seine Gruppe Clarté zählen zu ihren Anhängern die klarsten und besten Köpfe aller Völker. Europa aber gehört der Unklarheit, der Dummheit, der Demagogie, dem Chauvinismus, dem Bruderhaß, der Selbstzerfleischung.“94 Der Vertrag von Versailles vermag dies nicht zu realisieren. Somit war Olden durchaus repräsentativ für die Mehrheitsmeinung im deutschen Nachkriegspazifismus und hätte die Unterzeichnung des Versailler Vertrages aus Enttäuschung über die vermeintlich mangelnde Durchsetzungsfähigkeit von Wilson ablehnen können. Andererseits mag die Unterzeichnung selbst dann gerechtfertigt gewesen sein, wenn man unter Bezug auf Foerster und den WLV die Hoffnung auf eine politischmoralische Gesundung der Deutschen in den Mittelpunkt rückt. Deren Argumentation für eine uneingeschränkte Annahme der Friedensbedingungen zielte auf die positive Gesamtwirkung des Vertragswerkes mit Blick auf eine Abkehr der deutschen Gesellschaft vom preußischen Militarismus, den Olden ebenfalls mit seiner Forderung einer neuen Erziehung zu bekämpfen suchte. Vielleicht erschien ihm diese Hoffnung als zu idealistisch, weshalb er sich nicht ausdrücklich diese Position im Sinne einer Umerziehung zu eigen machte. Von einer Revision des Vertrages war ebenso wenig die Rede. Ob damit eine heimliche Zustimmung zu den Vertragsmodalitäten verbunden war, bleibt Spekulation. Welche Gründe auch ausschlaggebend für sein Schwanken bzw. sein Zögern in dieser Frage gewesen sein mögen, sie dokumentieren seinen Zwiespalt. 5.1.3 Die Frage der Kriegsschuld – Auseinandersetzungen um den Artikel 231 In der Kontroverse um eine alleinige deutsche Kriegsschuld wurde auf dem achten Pazifistenkongress im Juni 1919 zwischen den verschiedenen Strömungen heftigst gerungen. Vertreter des radikalen Flügels und mit ihnen die Mehrheit auf dem Kongress bejahte die Frage nach der deutschen Kriegsschuld. Eine langwierige Analyse diplomatischer Dokumente lag ihnen fern. Die Grundlage ihrer Bejahung bildete die schiere Erfahrung, die sie mit der politischen Struktur Deutschlands hatten. Allein aus dem Machtgefüge der Hohenzollernmonarchie heraus speiste sich deren Urteil in dieser Frage. Mit dem klaren Bekenntnis zu einer allgemeinen deutschen Kriegsschuld sollte der klare Bruch mit der Vergangenheit vollzogen, eine Wiederholung der Ereignisse verhindert und ein unmissverständliches Zeichen moralischer 94 R.O. Dummheit, du siegst.., in: Der Neue Tag, 3.12.1919.
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Schuld in die Bevölkerung hinein gesandt werden. Nur so glaubte man, das Vertrauen in Deutschland wiederherstellen zu können. Das Schuldbekenntnis wurde zum Zeichen der Wandlung stilisiert. Eine Minderheit auf dem Kongress verneinte eine pauschale Schuldzuweisung und ließ die Beantwortung der Frage offen. Nach deren Ansicht sei eine abschließende Beurteilung ohnehin aufgrund der wenigen öffentlich zugänglichen Quellen nicht seriös und zuverlässig möglich. Das Hauptaugenmerk des gemäßigten Pazifismus lag stärker auf dem internationalen System als Ganzem. Sie sahen in der systematischen Unfriedlichkeit der zwischenstaatlichen Beziehungen die Verursacher des Weltkrieges, was die deutsche Verantwortlichkeit sichtlich abzuschwächen suchte und die Schuld auf mehrere Akteure verteilte. Quidde, Schücking und Wehberg glaubten nicht, dass ein vorauseilendes Schuldeingeständnis mildere Friedensbedingungen nach sich ziehen würden. Vielmehr versperre dies den Weg zu einer späteren Revision des Vertrages maßgeblich. Einig war man nur darin, die Frage der deutschen Kriegsschuld einer abschließenden Klärung zuzuführen. Dass dies in der Frühphase der Republik scheiterte, lag nicht zuletzt am Desinteresse der deutschen Sozialdemokratie und offenbarte die strukturelle Schwäche des Pazifismus. Fortan bestimmten die Gegner der Weimarer Demokratie in immer stärker werdenden Umfang die Diskussion der Schuldfrage, mit dem vorgegebenen Ziel, die Unschuld der Deutschen zu belegen und zu beweisen. Das pazifistische Dilemma um die Mitte des Jahres 1919 bestand aber darin, daß sich wegen der mit der deutschen Auslegung des Artikels 231 hergestellten engen Verknüpfung der Schuldfrage mit der konkreten Gestalt des Friedensvertrages ein Urteil über die Schuldfrage gar nicht aufschieben ließ und daß es gerade den Pazifisten abverlangt wurde.95
Um künftige Kriege zu vermeiden, wurde letztlich die Frage nach den Kriegsursachen mit der Verantwortungsfrage verknüpft. Schücking und Wehberg argumentierten, dass der Weltkrieg hätte verhindert werden können, wenn die völkerrechtlichen Institutionen und Methoden stärker verankert gewesen wären. So wurde die Anarchie des internationalen Systems zur Ursache des Krieges erklärt und eine konsequente Fortentwicklung des Völkerrechts mit Blick auf eine dauerhafte Friedenssicherung postuliert. Die Bestimmungen der Haager Konferenzen aus dem Jahre 1899 und 1907 hätten sich als untauglich erwiesen. Zukünftig müssten die Konfliktlösungsmechanismen besser operationalisiert und ein funktionsfähiges Krisenmanagement etabliert werden. Eine interessengeleitete Politik der bewussten kriegerischen Eskalation wurde ausgeblendet. Anders als die DFG wies der BNV noch während des Krieges der deutschen Politik eine eindeutige politisch-moralische wie juristische Verantwortlichkeit zu. Nachhaltiger als die Völkerrechtler um Schücking und Wehberg beeinflusste Foerster die Debatte um die Kriegsschuld. Das Kaiserreich verurteilte er eindeutig als Schuldigen. Es wurde zum Symbol der Hoffnung, dass die Alliierten auf die Anwendung einer Gewaltpolitik verzichten würden, wenn Deutschland sich zu seiner Schuld bekenne. Dies war nicht nur unter reinen Nützlichkeitserwägungen zu betrachten, 95 Holl (1988): S. 140.
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sondern man verband damit eine moralische Läuterung der Gesellschaft. Somit könne der Weg für eine neue deutsche Politik frei gemacht werden. Hierin trafen sich WLV und BNV, während Quidde und seine Anhänger keine Möglichkeit sahen, über das Schuldeingeständnis zu annehmbareren Friedensbedingungen zu gelangen. Ihnen galt die Frage des Artikels 231 nicht als eine nach der Gesinnung, sondern der historischen wie juristischen Forschung. Von einer Mitschuld sprach Quidde die Deutschen allerdings nie frei. Die Alleinschuldthese erregte seine grundsätzliche Opposition. Folglich ersuchte er die Öffnung der Archive zu erreichen, um unter Einsetzung einer internationalen Kommission die Schuldfrage zu klären. Daran sollten Pazifisten verschiedener Länder beteiligt werden. Das angemessene Verhältnis zwischen den Vertragsmodalitäten und der Kriegsschuldfrage wurde zur ernsten Belastungsprobe und führte schon zu Beginn der 1920er Jahre zu einem Riss innerhalb der Friedensbewegung.96 Vergleicht man die Positionen Oldens zur Frage der Kriegsursachen und der alleinigen deutschen Kriegsschuld mit der Mehrheitsmeinung im deutschen Pazifismus, so ergibt sich folgendes Bild: Zwei Aspekte seien ursächlich für den Kriegsausbruch, der Idealismus und der Nationalismus. Da die Mehrzahl der Menschen aus Idealisten besteht, so brauchte man ihnen diese Zumutung nur zu stellen, und sie folgten ihr nicht nur, nein sie brachen in sinnlose Jubelrufe darüber aus, gebärdeten sich, als sei ihr glücklichster Tag gekommen, schwenkten mit Fahnen, ließen die Erfinder dieser Zumutung hochleben und legten sich nicht nur selbst in den Dreck, sondern rissen den überwiegenden Teil der Menschheit mit sich hinein.97
Inwiefern Olden selbstkritisch seine eigene Haltung zum Kriegsausbruch im Sommer 1914 aufzuarbeiten versuchte, muss offenbleiben. In jedem Falle aber wies er der Idee des Nationalismus und Patriotismus die entscheidende Schuld zu, die die Länder Europas voller Begeisterung in die Schützengräben des Ersten Weltkrieges trieb. Dies ist nicht auf Deutschland zu beschränken. Mag es für den Deutschen der nationalistisch aufgeheizte Militarismus gewesen sein, der ihn freudig auf die Schlachtfelder zog, so war es für den Franzosen die Chance auf Gerechtigkeit und Rache für den verlorenen Krieg des Jahres 1870/71. Gleich welches Motiv tatsächlich ausschlaggebend war, immer sei der Idealismus die hauptsächliche Ursache gewesen. „Nichts in der Welt wäre im stande gewesen, diese Massen zu solcher Selbstaufopferung zu veranlassen; nichts auch, sie zur Tötung von Mitmenschen und Zerstörung fremden Eigentums zu bewegen, als die Idee.“ Olden sprach ein eindeutig moralisches Verdikt aus. Insofern stand er in diesem Punkt durchaus dem radikalen Pazifismus nahe, wenngleich er den idealistischen Vorwurf nicht nur auf die deutsche oder österreichische Gesellschaft beschränkte, sondern ihn universell zu fassen versuchte. Solange Europa als Ganzes von Idealisten beherrscht werde, seien Kriege weiterhin nicht zu verhindern. Hinzu trete das mangelnde Verständnis gegenüber dem jeweils Anderen und die nicht eingeübte Fähigkeit, sich in die Lage
96 Vgl. Scheer (1981): S. 365–370; Lütgemeier-Davin (1982): S. 124–128; Holl (1988): 139f; Bodendiek (1999): S. 79–89. 97 R.O. Versuch gegen den Idealismus, in: Der Frieden, 4.4.1919. Folgendes Zitat ebd.
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des politischen Nachbarn hineinzuversetzen. Um dies zu verdeutlichen, griff Olden die Parabel vom Turmbau zu Babel auf. Und der Krieg, auch unser Krieg, ist die Folge von Sprachverwirrung. Es war und ist jetzt noch mehr so, daß kein Staat eine Mitteilung ergehen lassen kann, die nicht von den anderen mißdeutet würde. Sicherung der Grenzen gilt dem Nachbar als Vorbereitung des Angriffes. Das ist das Bild der Verwirrung und Zerstreuung, das die Hochflut des Nationalismus gezeitigt hat. Den jenseits des Grenzpfahls nicht zu verstehen, seine Wahrheit für Lüge, sein Recht für Unrecht, seinen Anspruch für Grausamkeit, seine Wohltat für Betrug anzusprechen, ist die Forderung des Patrioten an seinen Mitbürger.98
Das gegenseitige Misstrauen und die immer schärfer formulierte Rivalität mündete in den Krieg und führte die europäische Kultur an den Rand des Untergangs, wie einst das biblische Babylon. Dabei hätte sich in allen Feldern der Gesellschaft eine gemeinsame Sprache entwickelt, sei es in der Wirtschaft, der Wissenschaft oder der Kultur, nur nicht in der Politik zwischen den Staaten. Die nationale Ehre werde aus diesem Grunde zu einem überindividuellen Interesse stilisiert, das in der Lage war, alle vorher über Grenzen hinweg gelebte Gemeinsamkeiten „zu trennen und zur gegenseitigen Zerfleischung aufzurufen.“ Wie zum Beweis zitierte Olden ausführlich diplomatische Akten mit den Anmerkungen des Kaisers aus der Zeit der letzten Wochen vor Kriegsausbruch. Einleitend schrieb er dazu: Hier soll heute nicht von Politik gesprochen werden, sondern vom Stil. Wir Deutschen schätzen die Bedeutung des Stils im allgemein geringer ein als andere. Unsere Vernachlässigung der Sprachpflege hat uns in der Welt mehr Schaden eingebracht, als andere größere Fehler.99
Die Dokumente offenbarten ein Staatsoberhaupt, das zur Führung einer großen Nation völlig ungeeignet war. Besonders auf dem internationalen Parkett sei dies ein verhängnisvolles Defizit gewesen. „Deutschland mußte an der Spitze der Nation einen Mann dulden, der so völlig jeder Erziehung, jeder Kultur entbehrte.“ Wilhelm II. war ein Abbild seiner Nation, der schon allein durch die Schulbildung eine militaristische Erziehung zuteilwurde und deren gesellschaftliche Eliten sich bereitwillig vor den nationalistischen Karren hätten spannen lassen. Für Olden waren in der Frühphase der Weimarer Republik Idealismus und Nationalismus zwei sich bedingende Ursachen für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. In Anbetracht dieser Charakterisierung des Kaisers: Trug er nach Oldens Auffassung die Hauptschuld am Kriegsausbruch und müsse er den Alliierten ausgeliefert werden? Zunächst habe die Politik Wilhelms nie die Absicht einer kriegerischen Auseinandersetzung erkennen lassen. Bei der Beurteilung seiner Rolle dürfe man die anderen europäischen Monarchen nicht außer Acht lassen. Er „war kein Pazifist, er arbeitete, wenn auch möglichst ungeschickt, mit dem alten System der Bündnisse und Koalitionen zusammen. Dies taten aber alle anderen Staaten auch. Er rüstete. Aber wer rüstete nicht?“100 Dies dem Kaiser allein anzulasten, verkenne die historischen Realitäten. Alle Seiten hätten sich auf einen künftigen Krieg vorbereitet und ihn erst wahrscheinlicher gemacht. Mitnichten sei er der Urheber des 98 R.O. Pfingsten und der Turmbau zu Babel, in: Der Frieden, 6.6.1919. Folgendes Zitat ebd. 99 R.O. Wilhelms Randbemerkungen, in: Der Neue Tag, 25.12.1919. Folgendes Zitat ebd. 100 R.O. Schuld am Kriege?, in: Der Neue Tag, 9.11.1919. Die folgenden Zitate ebd.
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Krieges gewesen. Er trage, wenn überhaupt, genauso viel Verantwortung für die Eskalation, wie alle anderen Staatsmänner Europas. „Allerdings, Wilhelm vergiftete dauernd durch seine haltlosen Schwätzereien die internationale Atmosphäre. Aber das war eben schlechte Politik und kein Gegenstand für den Strafrichter.“ Olden verengte die Perspektive auf die formaljuristische Schuldfrage des Kaisers als Einzelperson. Insofern reduzierte er die Komplexität der Kontroverse, die die Friedensbewegung umtrieb, auf die Ebene persönlicher Schuld des deutschen Staatsoberhauptes. Eine individuelle Verfehlung im strafrechtlichen Sinne könne er nicht erkennen. Eine Auslieferung und richterliche Aburteilung Wilhelms lehnte er als Siegerjustiz ab. Ohnehin sei die Frage der Kriegsschuld eine historische Frage und keine justiziable Angelegenheit. In seiner Begründung für diese Argumentation traf sich Olden mit den Vorstellungen der gemäßigten Pazifisten. Es war doch eben Anarchie, die auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen herrschte. Welcher Staat rühmte sich des Standpunktes, der mörderische Überfall auf ein ganzes Volk sei dem einzelnen Menschen justiziell oder auch nur ethisch gleichzuachten?
Die mangelnde Rechtsordnung zwischen den Staaten verhindere eine Gesetzgebung, die eine Aburteilung möglich machen würde. Erst die Beseitigung des anarchischen Systems in der internationalen Politik könne die Basis für eine gezielte Erhebung der Schuldfrage stiften, sowohl in moralischer als auch in juristischer Hinsicht. Die zwischenstaatliche Anarchie wurde bei Olden zur dritten Säule der Kriegsursachen, ohne sich konkret auf Schücking, Wehberg oder den gemäßigten Pazifismus zu berufen. Auch in Bezug auf die Schuldfrage eines österreichischen Diplomaten wandte er sich in einem offenen Brief an Alfred Fried eindeutig gegen eine persönliche Schuldzuweisung und betonte die Umgestaltung des internationalen Systems. Und daß die deutliche Beurteilung eines Systems, das einem Berchtold die Geschicke des Landes und der Welt in die Hände legten konnte, von größerer Bedeutung ist. Wir sind heute das Volk, das vielleicht am meisten zu leiden hat darunter, daß die internationale Anarchie in jedem Augenblick die Massen diesseits einer Grenze denen, die jenseits wohnen, bewaffnet entgegenstellen konnte. Seien wir die Vorkämpfer des Pazifismus, der das Recht an die Stelle von Gewalt setzen will. Der Pazifismus, der durch die Vorgänge zwischen den Staaten auf die Grundlage des Rechts stellen und durch die Erweiterung der Gesetzlichkeit die Zukunft der Völker regeln will, kann nicht dazu raten, auf ungesetzlichem Wege bestehendes Recht zu verändern.101
Mit diesen Worten bezeugte Olden seine ideelle Nähe zum gemäßigten Pazifismus, wenngleich er es vermied, den Artikel 231 abzulehnen und keine Vorschläge machte, wie seine Vorstellungen zu realisieren seien. Zum Völkerbund äußerte er sich nur wage in eher allgemeiner Form. Wie die Anmerkungen gegenüber Fried erkennen lassen, sparte er nicht mit Kritik an etablierten Pazifisten. Auch die pazifistische Idee als solche gelte es kritisch zu hinterfragen. Als bekennender Anhänger der Friedensbewegung konsta101 R.O. Offener Brief an Alfred H. Fried, in: Der Neue Tag, 19.1.1920.
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tierte er, dass die Idee des Pazifismus, „besonders in den besiegten Ländern, eine seit dem Kriegsende immer mehr kompromittierte Angelegenheit“102 geworden ist. „Es wird so viel darüber geredet und so wenig darin geleistet, daß es allmählich geradezu peinlich wird, sich als Pazifist zu bekennen.“ Er bezog diese Kritik auf eine Vielzahl von pazifistischen Kongressen, die im Wien der frühen 1920er Jahre regelmäßig stattfanden und seiner Ansicht nach durch ein niedriges Niveau gekennzeichnet waren, selbst wenn er ihre Positionen teilte. Damit biete man den politischen Gegnern unnötig weitere Angriffsflächen. Zudem redeten jene Personen am lautesten vom Pazifismus, die früher der kriegslüsternen Monarchie treu zur Seite standen. Da war auch nicht Einer, der schon 1914 gegen den Krieg gewesen wäre. Lauter Greise sind da versammelt, und kaum Einer dabei, der nicht einem von allen Pazifisten mit Recht verurteilten Regime treu gedient hätte. Wieder eine pazifistische Woche. Es sind schwere Zeiten für Pazifisten.103
Unter diesen Umständen nehme die Idee des Pazifismus weiter Schaden. Wieder einmal war es der Stil bzw. die Form, die Olden zur Kritik an der IFFF, an der DLV und an der Interparlamentarischen Union herausforderte. „Ich kann versichern, daß ein längerer Aufenthalt in Wien es jedem besseren Menschen unmöglich macht, sich Pazifist zu nennen, weil er sich ganz einfach genieren wird.“104 Es betrübte ihn, Eduard Bernstein und Walther Schücking in dieser Gesellschaft vorzufinden. Im Oktober 1921 gastierte Barbusse mit seiner Internationalen der Kriegsopfer zu einem zweiten Kongress in Wien. In seinem Kommentar zu dieser Veranstaltung wurde nunmehr ein distanziertes Verhältnis zum französischen Schriftsteller deutlich. „Der Pazifist wird erkennen, daß Barbusse einen großen Fehler beging, als er seine Bewegung mit der der Sozialsten verband.“105 Er sei zum Don Quijote des Nachkriegspazifismus verkommen. Als im Herbst 1918 die Kanonen schwiegen, konnte man glauben, die Idee der Gewaltlosigkeit müsse die Menschen gewonnen haben. Barbusse berichtet hauptsächlich von organisatorischen Mißerfolgen, die er erlebt. Während er sein Evangelium tönen läßt, sehe ich ihn: in eine Eisenrüstung gehüllt, mit dem rostigen Helm auf dem Haupte, die unförmig lange Lanze in der Rechten, zwischen die dürren Schenkel Rosinante pressend, gegen die Windmühlen reiten, die seine eigenen Anhänger für ihn aufgebaut haben.
An diesem Punkt ist nicht auszuschließen, dass er sich selbst als Erbauer jener Windmühlen fühlte. Diese Form des Pazifismus sei nur noch eine fixe Idee. Barbusse wandelte sich in den Augen Oldens zu einem vernarrten Idealisten, der durch seine Phantasterei vom Sozialismus zum Ritter von der traurigen Gestalt wurde. Schließlich bleibt festzustellen, dass er es bei der reinen Kritik beließ. Wie der pazifistischen Idee eine bessere gesellschaftliche Geltung verschafft werden könnte, beantwortete Olden nicht.
102 103 104 105
R.O. Pazifismus als weibliche Handarbeit, in: Tage-Buch, 6.8.1921. Folgendes Zitat ebd. R.O. Wieder einmal eine pazifistische Woche in Wien, in: Tage-Buch, 10.12.1921. R.O. Pazifistische Wiener Woche, in: Tage-Buch, 16.9.1922. R.O. Barbusse in Wien, in: Tage-Buch, 15.10.1921. Folgendes Zitat ebd.
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Die Schuldfrage, im Versailler Vertrag durch den Artikel 231 festgeschrieben, verurteilte den deutschen Angriff moralisch. Das Völkerrecht hingegen, welches 1914 in Geltung war, legitimierte die Form eines Angriffskrieges. Eine strafrechtliche Verfolgung von Personen war hingegen nicht vorgesehen. „Die Tatsache, daß der Versailler Vertrag im Gegensatz zu bisherigen Friedensschlüssen aus einer moralischen Prämisse eine juristische Folgerung zog, deutete auf ein Zurückbleiben des kodifizierten Völkerrechts hinter dem Rechtsempfinden der Völker hin.“106 Im Einstellungswandel der Völker zum Krieg offenbarte sich der Wunsch nach einer Verdammnis des Krieges als solchen. Olden gab diesem Gefühl durch seine Anleihen bei völkerrechtlich orientierten Pazifisten seiner Zeit Ausdruck, signalisierte die Diskussion der Schuldfrage allgemein den Beginn einer sittlichen Neuorientierung. Dass diesem Umschwung im Vertragstext selbst ungenügend Rechnung getragen wurde, griff er in seinen Stellungnahmen hingegen nicht auf. Eine mit aller Konsequenz verfolgte Ächtung von Kriegen wurde von den Siegermächten zu keinem Zeitpunkt institutionell verankert, was die lautstarke Kritik Oldens mit Blick auf die geforderte Umgestaltung des internationalen Systems hätte hervorrufen müssen. Lediglich ein Schiedsgerichtsverfahren wurde im Vorfeld möglicher militärischer Konfrontationen implementiert, wodurch der Krieg höchstens aufgeschoben werden konnte. Festzuhalten bleibt: Auf den ersten Blick waren die Positionen Oldens inkonsequent, indem er es vermied, in den außenpolitischen Schicksalsfragen der neuen deutschen Demokratie eine eindeutige Haltung zu zeigen. Aus seinen Beträgen wurde weder explizit seine Bewertung des Versailler Vertrages als Ganzes sichtbar, noch urteilte er deutlich hinsichtlich der Schuldfrage. Deren Reduzierung auf die juristische Verantwortlichkeit des Kaisers stellte eine klare thematische Verkürzung des inner-pazifistischen Diskurses dar. Gleichzeitig waren seine Positionen sowohl von Elementen des radikalen als auch des gemäßigten Pazifismus gekennzeichnet. Sie standen aber z.T. unvermittelt nebeneinander. Einen theoretischen Begründungszusammenhang innerhalb der pazifistischen Nachkriegstheorie herzustellen, war Olden nicht bemüht oder gewillt. Dies ist womöglich darauf zurückzuführen, dass er in der Vorkriegszeit nicht im bürgerlichen Pazifismus verankert war, sondern gegenteilig tendenziell eher den Kreisen der kaiserlichen Armee nahestand. Warum er diesen Wandel letztlich konkret für sich persönlich vollzogen hat, kann an dieser Stelle noch nicht abschließend geklärt werden. Die spätere Polarisierung innerhalb des Pazifismus zwischen Gemäßigten und Radikalen war aus seinen Ansichten zu Beginn der 1920er Jahre nicht erkennbar. Vielmehr waren die Grenzen in einem fließenden Übergang begriffen und deuteten nicht auf eine prinzipielle Unvereinbarkeit hin. Seine Beiträge zeigten sich vielfach in der Negation bzw. Kritik bestehender Verhältnisse, die durch die Ereignisse zwischen 1914 und 1918 ohnehin in Auflösung begriffen waren, und nur selten, wenn überhaupt, in konkreten politischen Forderungen für die Zukunft. Eine tiefgreifende, die historischen Fakten abwägende Analyse wäre von ihm allerdings nicht zu leisten und zu erwarten gewesen, befand er sich selbst auf der Suche nach einer neuen politischen Heimat. Zu 106 Lütgemeier-Davin (1982): S. 129.
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viel an vermeintlichen Gewissheiten, mit denen er aufgewachsen war, gerieten durch den Ersten Weltkrieg ins Wanken und provozierten ein starkes Infragestellen herkömmlicher Denkmuster. Mit welchen Mitteln er ein friedvolleres Miteinander der Völker künftig organisieren zu können glaubte, bleibt nach der Lektüre seiner Artikel vorerst fraglich. Dass die europäischen Völker nach dem schrecklichen Blutvergießen des Weltkrieges einen gemeinschaftlichen Neunanfang brauchten, davon war Olden überzeugt. In einem geeinten Europa, auf das es vor allem durch den Pazifismus hinzuarbeiten gelte, habe der Nationalismus, der Militarismus und der politisch vergiftende Idealismus künftig keinen Platz mehr. Im Zivilisationsprojekt Europa sah er die einzige Möglichkeit für eine friedliche Konfliktaustragung. Insofern lag sein Schwerpunkt auf einem scheinbar völkerrechtlich motivierten Ziel-Pazifismus. Der Bezug zu Schücking und seinen Schriften dürfte früh im Leben von Olden eine Rolle gespielt haben. Im August 1902 berief die Universität Marburg den jungen Schücking als ordentlichen Professor. Schon in den ersten Jahren war absehbar, dass er sich nicht als unpolitischer Wissenschaftler verstand. Geprägt durch den Göttinger Straf- und Völkerrechtler Ludwig von Bar brachte Schücking linksliberale Ideen mit in die hessische Kreisstadt, die dort auf fruchtbaren Boden fallen sollten. Besonders staatsrechtliche Fragestellungen weckten sein politisches Interesse und so fand er rasch im Umfeld der linksliberalen Führung der neukantianischen Schule enge Freunde. Fortan schloss er sich deren politischen Organisationen an und war einige Zeit sogar Vorsitzender der Ortsgruppe der Fortschrittlichen Volkspartei. Betrachtet man den akademischen Werdegang und das persönliche Umfeld Oldens im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, so ist nicht auszuschließen, dass er während seines Marburger Semesters 1904/05 gerade im Umfeld des Neukantianismus auf ihn aufmerksam wurde und sich fortan mit seinen Schriften befasste. Welchen Einfluss diese auf den jungen Olden ausübten, steht nur zu vermuten: Von Anfang an kritisierte Schücking die demokratischen Defizite des Kaiserreiches. 1913, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, legte er mit seinem Buch Neue Ziele der staatlichen Entwicklung. Eine politische Studie sein umfangreiches staatsrechtliches und politisches Werk vor, dass öffentlich eine große Verbreitung fand und heftigst diskutiert wurde. „Sämtliche führenden politischen Tageszeitungen widmeten dem Buch lange Leitartikel.“107 Es ist unwahrscheinlich, dass dem jungen Rechtsreferendar dieser Diskurs gänzlich entgangen sein könnte. Wahrscheinlicher scheint die These einer ideellen Vorbildfunktion, die Schücking auf den jungen Olden nach und nach ausübte, und die durch seine eigenen Kriegserlebnisse und Revolutionserfahrungen nachhaltig verstärkt wurde. Wie sich an konkreten Fällen zeigen wird, blieb Schückings Kritik am herrschenden staatsrechtlichen Positivismus auf Olden nicht ohne Wirkung. Beiden sollte es nicht um dessen Methode, sondern vielmehr um den unpolitischen Charakter gehen. Die Rechtsentwicklung sei der entscheidende Maßstab. Es gelte zu hinterfragen, ob das geltende auch das richtige Recht ist. Bestehendes Recht müsse evolutionär weiterentwickelt und den sozialen Bedingungen angepasst werden. Dies sollte in der Vorstellung von Olden umso mehr 107 Kohl, in: Blanke et al. (1988): S. 236. Folgendes Zitat ebd., S. 235.
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nach den sich gewandelten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gelten, als er von einer allumfassenden Erziehungsaufgabe sprach, die vor dem geltenden Recht nicht halt machen dürfe. Seinen Zeitgenossen und Kollegen in Marburg warf Schücking „Anpassung an das herrschende, durch den ostelbischen Junker geprägte System vor,“ wie Olden dies zwischen 1918 und 1933 mit Vehemenz in Bezug auf die juristischen, militärischen und z.T. politischen Eliten der Weimarer Republik vertreten wird, an denen die Revolution scheinbar unberührt vorbei gezogen war. Die Neuen Ziele waren ein verfassungspolitisches Reformprogramm, das seine Wirkung zumindest auf Olden gehabt haben dürfte, wenn man dessen demokratischen, sozialen und internationalen Gedanken als Grundlage nimmt. Diese Dreifaltigkeit machten die Positionen Oldens in den frühen 1920er Jahren aus: Forderung nach einem Übergang zu und Stärkung des parlamentarischen Regierungssystems, Ausgleich zwischen Kapitalismus und Sozialismus durch die Integration der Sozialdemokratie in den Staat und letztlich Verständigung der europäischen Völker durch Überwindung des Nationalismus hin zu einem neuen gemeinsamen Internationalismus. Zu einer effektiven Friedenssicherung bedürfe es einer funktionsfähigen internationalen Organisation. Darin schienen sich beide einig zu sein. Sie müsse die Schlüsselfunktion mit Blick auf einen dauernden Frieden übernehmen. Für Schücking blieb das Ziel der Rechtsentwicklung ein Weltstaatenbund, unter dessen Dach das Problem der Friedenssicherung am wirkungsvollsten erörtert und gelöst werden könne. Soweit ging Olden in seinen Positionen nicht mehr, suchte er die Einigung Europas voranzutreiben, um einen künftigen Krieg auf dem Kontinent unmöglich zu machen. Die Vorstellung eines Weltstaatenbundes hätte Olden inzwischen als pazifistischen Idealismus gebrandmarkt und abgelehnt, wie dies viele deutsche Völkerrechtler taten, da sie die Ansichten Schückings als viel zu weitgehend und nicht realisierbar betrachteten.108 In der Gesamtbewertung darf allerdings nicht die Bedeutung von Benno Karpeles außer Acht gelassen werden. Womöglich war er es, der Olden den entscheidenden Impuls gab: Nur in einer Europäisierung Deutschlands bzw. Österreichs läge eine friedliche Zukunft des Kontinents. Wie sich diese Position ausdifferenzieren wird, werden die nächsten Kapitel anhand thematischer Schwerpunkte versuchen zu zeigen. Einzig auf Basis der Anerkennung unveräußerlicher Menschenrechte ließe sich ein neues gemeinsames Miteinander der europäischen Staaten innenpolitisch vorbereiten und außenpolitisch realisieren, eine Position, die den Ideen Foersters nahestand. Inwiefern die Neugestaltung des Sozialstaates auf eine gesamteuropäische Ebene gehoben werden müsse, ließ Olden offen bzw. unbeantwortet. Wirtschaftlich tendierte er in Richtung einer europäischen Freihandelszone, die den Nationalismus als Ursache des Krieges suspendieren und durch gegenseitiges Vertrauen und Kontrolle den Frieden sichern helfen sollte. Ob er die konkrete Vorstellung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vor Augen hatte, wie sie in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts Wirklichkeit wurde, kann nicht belegt werden. Olden hatte sich aber vom begeisterten Kriegsfreiwilligen zu einem
108 Vgl. Kohl, in: Blanke et al. (1988): S. 230–241; Bodendiek (1999): S. 79–89.
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überzeugten Europäer gewandelt, der die friedensstiftende Chance eines geeinten Europas erkannte und fortan explizit postulieren wird. 5.2 „DIE REPUBLIK MUß ORGANISIERT WERDEN“ – DER ORGANISATOR IN ZEITEN DER BEWÄHRUNG So ausführlich und umfangreich seine politischen Analysen und Kommentare gewesen waren, seine berufliche Perspektive als Journalist stand weiterhin auf wackligem Untergrund. Nachdem 79 Ausgaben des Friede erschienen waren, wurde die pazifistische Wochenzeitschrift am 22. August 1919 eingestellt. Karpeles hatte sich mit der parallelen Herausgabe des Neuen Tag vermutlich selbst die Grundlage für eine Fortführung des Friede entzogen. Doch auch diesem war keine lange Lebensdauer beschieden. Überraschend kündigte das Blatt am 30. April 1920 die Einstellung der Produktion an. Die „Ungunst der Zeiten und der Existenzkampf, den die Zeitungen infolge der heftig gestiegenen Betriebskosten und der Papierdrosselung“ ausgesetzt seien, ließe es nicht zu, das Blatt so zu gestalten, „wie es unsere Absicht gewesen, oder seine Auflage über ein bestimmtes Maß zu erhöhen“109 gefordert hätte. Zwar beabsichtigte man zu einem späteren Zeitpunkt, bei einer besseren wirtschaftlichen Lage das Blatt wieder aufzulegen, doch dazu sollte es nie kommen. Nach nur 13-monatiger Existenz war auch dieses Projekt von Karpeles gescheitert. Redaktionskollegen wie Jospeh Roth wechselten nach Berlin, während Olden in Wien blieb. Inwiefern er sich um eine feste Anstellung bei anderen Blättern bemühte, kann nicht mehr festgestellt werden. Die kommenden zweieinhalb Jahre sollte er sich als freier Journalist durchschlagen, der für die Österreichische Rundschau, die Neue Freie Presse, den Österreichischen Volkswirt und das Tage-Buch Beiträge lieferte.110 Noch als freier Mitarbeiter berichtete er Ende 1922 über eine Deutschlandreise in einem Blatt, dass seine berufliche Zukunft maßgeblich prägte und stabilisierte. Die Wiener Tageszeitung Der Tag wurde seine publizistische Heimat. Die dortige Tätigkeit war die weitaus längste, kontinuierlichste, umfangreichste und vielfältigste Etappe seiner Entwicklung vom gescheiterten Literaten zum politischen Journalisten. Wie seine Mitarbeit genau zustande kam, muss offenbleiben. Allerdings liegt folgende Vermutung nahe: Mit Maximilian Schreier stand an der Spitze der Redaktion ein Mann, der mit Olden beim Neuen Tag zusammengearbeitet hatte. Auch andere frühere Kollegen wie Alfred Polgar oder Richard A. Bermann waren für die neue Zeitung tätig. Da Olden schon in der Startnummer vertreten war, könnten ihn seine journalistischen Weggefährten über die Neuerscheinung informiert 109 o.A. An unsere Leser!, in: Der Neue Tag, 2. Jg. Nr. 119, 30.4.1920. 110 Auf eine ausführliche Darstellung der Artikel aus der Österreichischen Rundschau, der Neuen Freien Presse und des Österreichischen Volkswirt wurde aufgrund des geringen Umfangs bewusst verzichtet. Olden veröffentlichte in diesen Blättern nicht mehr als jeweils drei Beträge. Die Artikel aus dem Tage-Buch in jener Periode wurden zuvor thematisch im Kapitel 5.1. heran- bzw. einbezogen.
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und womöglich sogar um einen Artikel in der ersten Ausgabe gebeten haben. Ab Mai 1923 gehörte er fest zur Redaktion. „Ich mache viel Journalismus, bin in der Redaktion des Tag und habe sehr viel zu tun. Im Ganzen etwas mehr, als ich tun kann. Immer habe ich zu wenig Zeit.“111 Zwischen November 1922 und Februar 1926 erschienen insgesamt über 170 Artikel, die die Grundlage für die folgenden Analysen bilden und in denen sich sein Pazifismus weiter ausdifferenzieren sollte. Erstmals verwandte er in den Artikeln für den Tag das Pseudonym „Adriaen“. Fortan wurde es neben den Kürzeln „R.O.“ bzw. „r.o.“ zu seinem publizistischen Erkennungszeichen. Unklar bleiben hingegen die Herkunft bzw. Bedeutung des Wortes. Weder Oldens Briefe an Verwandte, Freunde und/oder Kollegen geben darüber Auskunft, noch haben Weggefährten in ihren Erinnerungen Auskunft über den Künstlernamen gegeben, der ihn von nun an begleiten wird. 5.2.1 Das Krisenjahr 1923 Um zu einer stabilen Neuordnung der Welt zu gelangen, war es den Siegermächten darum zu tun, die finanziellen Folgen des Krieges anzugehen. Besonders der USA kam eine Schlüsselrolle zu. Seit dem Frühjahr 1920 betrieb sie gemeinsam mit Großbritannien eine deflationäre Politik zur Wiederherstellung der nationalen wie internationalen Ordnung. Die Inflation hatte nach Kriegsende alle Länder erfasst. Überall schossen die Preise durch die Abwendung vom Goldstandard und durch erhebliche Investitionen in den Wiederaufbau in die Höhe. Die Lebenshaltungskosten stiegen an und die Inflation erreichte für die Bevölkerungen greifbare Formen. Zwar gaben in der Weimarer Republik im Sommer 1920 die Preise nach dem gescheiterten Kapp-Putsch nach, allerdings sollte dies nicht von langer Dauer sein. „Dass die weltweite Wirtschaftskrise von 1920/21 nicht so lange andauerte, liegt nicht zuletzt daran, dass sie sich nicht auf alle Länder in gleichem Maße auswirkte. Den Bodensatz bildeten die hoffnungslosen Fälle, die mit Riesenschritten Richtung Hyperinflation marschierten.“112 Österreich und Deutschland zählten zu diesen Ländern, die durch den Versuch internationaler Stabilisierungsprogramme an staatlicher Souveränität einbüßen sollten. Die neue ökonomische Weltordnung polarisierte sich zwischen exzessiver Inflation und erdrückender Deflation. Die Vereinigten Staaten und Großbritannien trugen mit ihrer deflationären Politik dazu bei, die ökonomische Nachkriegsentwicklung einseitig zulasten der im Weltkrieg unterlegenen Staaten zu stabilisieren. Aus deren Sicht war der Versuch einer weiteren Friedenssicherung verknüpft. Frankreich, das selbst massive Kriegsschäden zu verzeichnen hatte, war mehr als zuvor auf äußere Hilfe angewiesen. Zwei Drittel des Kohlebedarfes mussten durch die Zerstörungen der Gruben im Norden des Landes importiert werden und das zu einem Zeitpunkt, als die ehemaligen Alliierten ihre Kohleexporte massiv reduzierten. Um die vorhandene Deckungslücke zu füllen, wurden von den deutschen Bergwerken massive Reparationen gefordert. 111 RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 21.5.1923, EB 79/020 B.02.0037. 112 Tozze (2015): S. 449. Die folgenden Zitate ebd., S. 454 und S. 458f.
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5 Wiener Jahre Die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland werden häufig nach einem allzu simplen Raster als der Kampf zwischen zwei rivalisierenden Nationalismen zu beiden Seiten des Rheins begriffen. Tatsächlich jedoch wurde die Reparationspolitik durch ein komplexes Geflecht an Einflüssen bestimmt, in das Paris mit London und New York verstrickt war.
So eröffnete die Reichsregierung im März 1921 die Reparationsverhandlungen im Wissen um den schwachen amerikanischen Rückhalt mit einem so niedrigen Angebot, von dem aus es nicht möglich war, einen Kompromiss finden zu können. Somit folgte am 13. März 1921 die Besetzung Duisburgs und Düsseldorfs durch französische und britische Truppen. Das Dilemma der französischen Sicherheitspolitik bestand darin, zwei Ziele gleichzeitig erreichen zu wollen: Begrenzung der Wirtschaftskraft Deutschlands als Brandmauer gegen einen möglichen Revanchismus und die Erzielung hoher Reparationen für den Wiederaufbau. Eine direkte Linie von den Reparationen zur Ruhrkrise und der Hyperinflation von 1923 lässt sich nicht ziehen. Andererseits kann nicht bestritten werden, dass die aufeinanderfolgenden Forderungen auf das Reparationskonto eine wichtige Rolle beim Absturz Deutschlands ins Chaos gespielt haben. Die Vorverteilung der Reparationszahlungen auf 1921 und 1922, Ausdruck des verzweifelten Kapitalbedarfs Frankreichs, setzte die Weimarer Republik unter massiven Druck.
Um sich diesem zu entziehen, war der Weg der Inflation der einfachste und politisch sicher der bequemste gewesen. Rhetorisch hielt die neue Regierung unter Joseph Wirth an der Erfüllungspolitik fest, indem sie den ausländischen Markt mit frisch gedrucktem Geld quasi überschwemmte, was im Inland bis Ende 1922 einen wirtschaftlichen Aufschwung und geringere Arbeitslosigkeit zulasten des deutschen Sparers bedeutete. Indem alles unternommen wurde, die Forderungen zu erfüllen, wollte man den Alliierten beweisen, dass die Durchführung der geplanten Reparationen nahezu unmöglich sei. Diese Strategie zielte auf eine Revision der verlangten Entschädigungen.113 In dieses Deutschland reiste Olden Ende November 1922 und lieferte mit seinen Berichten für den österreichischen Leser einen Spaziergang im Inflationsland. Bereits zu diesem Zeitpunkt zeigte er ein Gespür für politisch aktuelle Themen der Zeit, indem er die inflationsbedingten Umstände im Alltag der Reichshauptstadt schilderte. Der Zoologische Garten, der Stolz Berlins, ist wegen Kohlenmangel geschlossen, Die Hochbahnangestellten streiken, weil sie mit 19.000 Mark Monatsgehalt kein Auslangen finden. Plünderungen gehören zu den täglichen Ereignissen. Dabei gab es trotz Devaluationskonjunktur und Ausverkauf kaum je mehr Arbeitslose; die Produktion stockt, weil der innere Markt völlig versagt. Die Berliner sagen, die Fremden seien daran schuld, Mir scheint eher, die Berliner sind es.114
Nachdem er von Mitte Dezember 1922 bis Mitte April 1923 in Südamerika (Brasilien und Argentinien) weilen sollte und für den Tag zahlreiche Reiseberichte verfasste, war es von Juni 1923 an die Situation in Deutschland, die seine ganze journa113 Vgl. Tozze (2015): S. 441–461; Büttner (2008): 153–158. 114 R.O. Spaziergang im Inflationsland, in: Der Tag, 29.11.1922.
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listische Aufmerksamkeit und sein politisches Bewusstsein forderte. Als festes Redaktionsmitglied blieben vorerst die ökonomischen Folgen der Inflation im Vordergrund der Betrachtung. Von einer Reise in die bayerische Hauptstadt berichtete er: Die Läden Münchens sind vollgepfropft von Menschen, die ihre Markscheine von sich werfen, um Waren dagegen einzutauschen. Es sind auch viele Einheimische darunter. Die Kehrseite der Inflationsmedaille sieht gar nicht lustig aus. Zum Beispiel hatte München seit Kriegsende wieder einen ständigen Geburtenüberschuß. In den vier ersten Monaten des Jahres 1923 aber hat die Zahl der Sterbefälle die der Geburten übertroffen. Gestern zum Beispiel gab es in der ganzen Stadt keine Butter zu kaufen, die heute wieder, verteuert, für 36.000 Mark das Kilo, zu haben ist. Ein Entrüstungsschrei ertönt zum Beispiel, weil jetzt eine Semmel 250 Mark kostet und der Geldwechsler, den ich jeden Vormittag zu besuchen pflege, antwortete mir auf meine kindliche Frage, wie lange die Mark noch fallen werde: Erst, wenn die Franzosen nachgeben, kann es wieder besser werden.115
Ihn beschäftigten in aller erster Linie die sozialen Folgen der Inflationspolitik für den einfachen Mann auf der Straße. Während seiner Abwesenheit hatte sich die Situation dramatisch zugespitzt, als die Ende November 1922 ins Amt gekommene Reichsregierung unter Kanzler Wilhelm Cuno die Holz- und Kohlenlieferung an die Alliierten stoppte. Belgische und französische Truppen marschierten am 11. Januar 1923 ins Ruhrgebiet ein. Allen Staatsbediensteten wurde es im Rahmen des passiven Widerstandes untersagt, Weisungen der Besatzungsmächte zu befolgen. Die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln fiel vor allem der deutschen Bevölkerung zur Last, wenngleich es Frankreich nicht gelang, die Kohleförderung unter ihrer Führung maßgeblich zu steigern. Das Ruhrgebiet wurde zum politischen Faustpfand im Ringen um die Reparationsleistungen. Um den passiven Widerstand zu brechen, verhängten Franzosen und Belgier den Belagerungszustand, was zur Pressezensur sowie zum Streikund Demonstrationsverbot führte. Der passive Widerstand schwächte die ökonomisch ohnehin arg gebeutelte Republik zunehmend, da die streikenden Beamten und Arbeiter sowie ihre Familien aus öffentlichen Mitteln finanziert und betroffene Betriebe mit Zuschüssen bedacht wurden. Hinzu kam, dass die Devisenreserven dazu verwendet werden mussten, um die durch die Besetzung fehlende Kohle zu importieren, damit die deutsche Wirtschaft nicht gänzlich zusammenbrach. Nur durch Kreditausweitung und durch das Drucken frischen Geldes ließen sich all diese Ausgaben noch finanzieren. Im April 1923 waren lediglich 1/7 des Finanzbedarfes des Reiches aus regulären Einnahmen zu erzielen, was zu einer völligen Entwertung der Währung durch eine Hyperinflation führte. Dieses Währungschaos lähmte die Wirtschaft. Die Arbeitslosigkeit stieg dramatisch an und stürzte die Betroffenen in ein unfassbares Elend. Die Autorität des demokratischen Staates geriet in höchste Bedrängnis. Die Währungskatastrophe zog massive politische Verwerfungen nach sich.116 Im Juni 1923 stellte Olden fest: „Der Ruhrkampf ist eine direkte Folge davon, daß seine (gemeint war Walter Rathenau) außenpolitischen Prinzipien aufgegeben 115 R.O. Im Inflationsparadies, in: Der Tag, 23.6.1923. 116 Vgl. Büttner 2008: S. 164f. und S. 177–179.
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wurden.“117 Weiter fragte er sich und zugleich den Leser: „Also wäre Deutschland verloren, wenn der Ruhrkampf nicht siegreich für Deutschland endigte? Der deutsche Idealist Rathenau hätte schwerlich so gedacht.“ Olden missbilligte die Tatsache der Heldenverehrung des hingerichteten Schlageter118, sei er Repräsentant jener Gruppierungen, die durch die Ermordung Rathenaus den Weg für eine Konfrontation mit Frankreich frei machten. Womöglich hätte es die unter dem „idealistischen Europäer Rathenau“ nicht gegeben. Die Republik müsse sich auf die außenpolitischen Prinzipien ihres gemordeten Außenministers zurückbesinnen. Nur darin könne die Zukunft Deutschlands liegen. Davon zeigte sich Olden in der schweren Krise des Ruhrkampfes überzeugt. Die Republik müsse im Inneren mehr sein, als nur eine Verfassungsform. Aber ich frage mich zweifelnd, als ich den Saal verlasse, ob heute nicht mehr, nichts Überzeugungsvolleres, nichts Wärmers für Rathenau und für die Republik vor bürgerlichen Republikanern gesagt werden kann? Oder ob sich nur niemand findet, der es sagen will?
Welche politischen Prämissen waren es, die die beiden Männer ideell zu verbinden schienen, sowohl im innen- als auch im außenpolitischen Bereich? Zunächst sei eine rückblickende Betrachtung der innenpolitischen Positionen erlaubt, da die frühen Artikel Oldens keinerlei Verbindung zu Rathenau offenbarten. Erste Verknüpfungen reichen wahrscheinlich bis in den Weltkrieg hinein. 1917 legte Rathenau ein Buch mit dem Titel Von kommenden Dingen vor, das sich zum Ziel setzte, einen praktischen Weg in die neue politische Zukunft Deutschlands zu weisen. Besonders bei Soldaten wurde das Werk rasch zu einem Bestseller. Bedenkt man die persönliche Situation, in der Olden seinen Militärdienst zu dieser Zeit versah, entbehrt es nicht einer gewissen Logik, dass Skepsis und Enttäuschung ob des Kriegsverlaufes ihn empfänglich für den Versuch Rathenaus machten, zentrale Punkte und Elemente einer neuen staatlichen wie ökonomischen Ordnung zu definieren. Oldens Gefühl bzw. Gespür für die Notwendigkeit einschneidender wirtschafts- und sozialpolitischer Veränderungen könnten an dieser Stelle ihre Stimulanz erfahren haben, was in der Fortentwicklung, ja teilweisen Überwindung des kapitalistischen Systems der Vorkriegszeit, ihren Ausdruck fand, ohne aber den Weg des Marxismus zu betreten. Reformen müssten in die Umgestaltung der politischen Struktur münden, indem sie die neuen sozioökonomischen Rahmenbedingungen absichern und etablieren helfen, was primär die Aufgabe der kommenden politischen Eliten sein müsse. Die Forderung nach einem gewandelten Bürgertum scheint ein weiterer Aspekt der ideellen Identität zu sein, die sich Olden durch Rathenau angeeignet haben könnte. Beide riefen die Notwendigkeit einer neuen staatstragenden, demokratischen Gesinnung aus, der das Bürgertum ihre Unterstützung nicht versagen dürfe. Der Krieg als gesellschaftliche Zäsur mache dies er-
117 R.O. Rathenau – Erinnerungsfeier, in: Der Tag, 27.6.1923. Die folgenden Zitate ebd. 118 Beim Einsatz französischer Truppe am 31. März in Essen wurden 13 Arbeiter getötet. Im Falle des Studenten Albert Leo Schlageter verhängten und vollstreckten die Besatzer sogar ein Todesurteil wegen Sabotage. Den bekennenden Nationalsozialisten verehrte man als Märtyrer des Ruhrkampfes.
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forderlich. Während Rathenau die Frage der Realisierung 1917 offen ließ, glaubte Olden unmittelbar nach Kriegsende an die heilende Kraft der Bildung. Unbestreitbar hingegen scheint die Vorbildfunktion Rathenaus, wenn es um sozialpolitische Maßnahmen und Reformen geht, beharrte er darauf, die sozialen Errungenschaften der Revolution, wie das Stinnes-Legien-Abkommen, politisch nicht zur Disposition zu stellen und mit Blick auf die Etablierung einer neuen Gesellschaft weiter zu festigen. Rathenau hatte aktiv an der Vorbereitung des Abkommens mitgewirkt und setzte sich entschieden für die Einführung des Acht-Stunden-Tages ein. Einen Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit zu stiften, schien beiden in den Wirren der Revolution das Gebot der Stunde zu sein. Dieses Engagement sollte sich bei Rathenau später in seiner Tätigkeit für die Sozialisierungskommission fortsetzen.119 Im politischen Bereich einte sie die Ablehnung des alten militärisch-feudalen Systems. Symbolisch standen Olden und Rathenau, „gerade im Lager des neuen, mehrheitlich dem linken Flügel des Liberalismus zuneigenden Bürgertums“ für „die Hoffnung, dass man nun, unter den neuen Verhältnissen, in Kultur und Gesellschaft, in Politik und Wirtschaft einen großen Schritt vorankommen werde.“120 Die Kritik am Bürgertum setzte Rathenau nach Kriegsende weiter fort und blieb ein relevanter Bestandteil seiner Ideen. Besonders am unpolitischen Charakter ihres Handelns wurde Kritik spürbar, was Olden auf seine Weise aufzugreifen versuchte, indem er durch Umerziehung, jene Schicht für die Demokratie nutzbar machen wollte. Aus Enttäuschung über die Weimarer Realitäten veröffentlichte Rathenau im Oktober 1919 einen Essay unter dem Titel Die neue Gesellschaft, die den anfänglichen Bildungsoptimismus Oldens aufzugreifen und weiterzuentwickeln schien. Er erkannte die Unfähigkeit zur individuellen inneren Ein- und Umkehr. „Es gelte, so Rathenau, die nicht gebildeten Massen, das ganze Volk also zu bilden, nicht im Sinne einer Fachausbildung, sondern im Sinne einer allgemeinen, zum geistigen Austausch und zur geistigen Selbstständigkeit befähigenden Bildung.“ In diesem Sinne war Olden dem späteren Außenminister etwas voraus, verwundert es nicht, dass sich ihre Positionen auch in jenem Punkt treffen sollten, wenngleich Rathenau bemüht war, praktische Vorschläge für deren Realisierung zu unterbreiten. Es schien sie in diesem Punkt das geistige Koordinatensystem Kants zu einen, den durch das Kaiserreich politisch unmündigen und durch den Krieg materiell wie ideell gebeutelten Menschen bzw. Bürger aus seiner geistigen Unfreiheit zu lösen. Den Aufbruch der Moderne in eine neue Zukunft, den die Jahrhundertwende im Bereich der Kunst und Kultur sowie Gesellschaft und Politik bereitzuhalten versprach, wurde durch den Weltkrieg ad absurdum geführt. Nicht zuletzt durch die Inflation verschärften sich die inneren Konflikte maßgeblich. Die punktuellen Übereinstimmungen dürfen nicht nivellieren, welche verwirrenden Kehrtwendungen Rathenau in seinen Positionen vollzog, wenn er den Bolschewismus teilweise als positives System bezeichnete bzw. sogar an planwirtschaftlichen Plänen der Münchener Revolutionsregierung beteiligt war oder ihm für 119 Vgl. Gall (2009): S. 197–209. 120 Gall (2009): S. 213. Folgendes Zitat ebd., S. 217.
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das Waffenstillstandsangebot im Oktober 1918 jedes Verständnis fehlte und er Festigkeit verlangte. Inwiefern dies von Olden wahrgenommen und reflektiert in seine eigene Ideenwelt übernommen wurde, muss offenbleiben. Für die weitere Entwicklung seines Pazifismus war die Beurteilung des Ruhrkampfes in der zweiten Jahreshälfte 1923 unter Bezugnahme auf den ein Jahr zuvor ermordeten Rathenau von besonderer Bedeutung. Er sah in dessen außenpolitischen Prämissen nicht nur die Möglichkeit, den Ruhrkampf zu beenden, sondern Europa eine friedliche Zukunft zu sichern.121 Schon auf der Konferenz von Spa im Juli 1920 vertrat Rathenau in der Reparationsfrage einen eindeutigen Standpunkt. Die Verschärfung des deutsch-französischen Verhältnisses, das im Wesentlichen durch die Positionen Stinnes herbeigeführt wurde, sah er mit großem Unmut. Nur auf einer Neugestaltung der zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern könne ein Europa fußen, das sowohl wirtschaftlich wie politisch in Frieden leben könne. Ein Ausgleich zwischen Berlin und Paris biete die Chance auf ein gemeinsames Miteinander in der Zukunft und das zwischen allen europäischen Staaten. Als deutscher Sachverständiger auf der Konferenz gelang es Rathenau, die deutsche Regierung vom Eingehen auf die alliierten Forderungen im Rahmen der Erfüllungspolitik zu überreden. Mit der Ernennung zum Wiederaufbauminister Ende Mai 1921 unter der Weimarer Koalition von Joseph Wirth erhielt er erstmals die exekutive Möglichkeit, seine Vorstellungen eines Umbaus der internationalen Beziehungen zu verwirklichen. Das deutsch-französische Klima zu verbessern, machte er sich zur Hauptaufgabe. Probleme wie die Reparationsfrage sind nur durch internationale Zusammenarbeit zu lösen. Der Aufgabenbereich seines neuen Ministerium kam ihm durchaus entgegen, wurde es 1919 zur Umsetzung der wirtschaftlichen Bedingungen des Versailler Vertrages eingerichtet, um die Sachlieferungen in die kriegszerstörten Gebiete zu organisieren. Dies sollte der Ansatzpunkt sein, internationales Vertrauen für Deutschlands wieder zurück zu gewinnen und mit Frankreich auf eine Ära der Entspannung und Aussöhnung hinzuarbeiten. Mit dem Wiesbadener Abkommen machte Rathenau im Oktober 1921 einen ersten Schritt. Ziel war es, die Frage der Reparationsverpflichtungen vom moralischen Verdikt der Kriegsschuld zu lösen und in die Phase einer Entpolitisierung einzutreten. So kam es auf seine Initiative hin zur Einberufung einer Weltwirtschaftskonferenz im April 1922 in Genua, die unter Beteiligung aller Staaten den wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas zum Ziel hatte. Doch die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Abschluss wurden durch den erzwungenen Rücktritt von Aristide Briand als französischer Ministerpräsident jäh zerstört. In Frankreich hatten die Nationalisten unter Raymond Poincaré die Oberhand gewonnen. Rathenau hielt an seiner Idee einer wirtschaftlich fundierten Friedenssicherung und Ordnung in Europa fest, die weit über das Konzept der reinen Erfüllungspolitik hinausreichte. Nur in einer wirtschaftlichen Reorganisierung liege der Schlüssel für eine Befriedung und einem gemeinsamen Neuanfang in den zwischenstaatlichen Beziehungen. Für Olden schien die Ruhrkrise das Ergebnis der Aufgabe einer Vision zu sein, die 121 Vgl. ebd., S. 209–220.
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er sich selbst zu eigen machen sollte. Indem die offizielle deutsche Politik nach dem Tode Rathenaus und durch die Ausrufung des passiven Widerstandes die Prämisse und Strategie des gegenseitigen Ausgleichs suspendierte, sah er den Bestand der Republik gefährdet. Das Attentat auf Rathenau war ein Fanal, das sich durch die Ereignisse an der Ruhr weiter zuspitzte.122 Seine Kritik bezog sich im September 1923 konkret auf den am 13. August ins Amt gekommenen Reichskanzler Stresemann. Vor allem die Dolchstoßlegende entfaltete erneut ihre vergiftende Wirkung. Sie sei auf „der linken Seite des Volkes und Parlaments mehr gefürchtet, als von fern her zu erkennen ist. Und diese Furcht hat den Ruhrkrieg erst ermöglicht und hinderte heute seine Einstellung.“123 Der eingeschlagene Weg des passiven Widerstandes müsse vollends zu Ende gegangen werden. Er sei alternativlos, um nicht einer neuen Legende Nahrung zu geben. Wer den Widerstand begonnen hatte, sollte ihn beenden. Die nationalistische Politik (die nach der Ermordung Rathenaus in der Reparationsfrage einsetzte) sollte sich leerlaufen, damit eine wirkliche Erfüllungspolitik möglich würde. Es sollte nicht wieder eine Dolchstoßlegende den inneren Frieden stören, der für Olden in Anlehnung an die Ausgleichsbemühungen Rathenaus genauso wichtig war. Vor der Geschichte, der deutschen Bevölkerung und dem Ausland müsse der Beweis erbracht werden, wer tatsächlich den Frieden im inneren und in Europa bedrohe. Jene konservativen Kräfte um den ehemaligen Reichskanzler Cuno zur Verantwortung zu ziehen und diese eindeutig zu benennen, rechtfertige, so schwer es auch fallen möge, die Aufrechterhaltung des passiven Widerstandes. Die Gefahr für die Republik und den europäischen Frieden liege darin, dass es den Nationalisten erneut gelinge, ihre Verantwortlichkeit abzuwälzen, diesmal auf die Regierung der Großen Koalition unter Stresemann. Dies dürfe er unter keinen Umständen zulassen. Es bleibt die Frage, ob Stresemann sich der inneren Krise leichter entziehen kann, als der äußeren Verwicklung. Bis jetzt ist nur Unruhe im Reich, das Volk erträgt noch den Kursverfall der Mark unter den Sowjetrubel. Aber die nationalistische Bedrohung gilt für den Augenblick, in dem keine Ruhrgelder mehr gezahlt und die Arbeiter dort unter französischen Ingenieuren arbeiten werden. Tritt dieser Augenblick ein, so ist nicht nur Stresemann seiner Stellung und seines Lebens nicht mehr sicher, sondern dann kann auch das Wort, daß sein Ministerium, das letzte vom Parlament gebildete ist, wahr werden.
Zur Sicherung des inneren und äußeren Friedens war Olden bereit, massive ökonomische Verwerfungen durch den weiteren Verfall der deutschen Mark in Kauf zu nehmen. Die Republik werde ansonsten vom Nationalismus einer wiedererstarkten zweiten Dolchstoßlegende endgültig hinweggefegt, „diesmal nicht nur die Sozialdemokratie, sondern die ganze Reichstagsmehrheit von Scheide- bis Stresemann.“ Eine große Frage innerhalb des pazifistischen Gesamtdiskurses in der Weimarer Friedensbewegung war die nach der grundsätzlichen Legitimität von Gewaltanwendung. Während des Ruhrkampfes kam es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den passiven Widerstand leistenden Arbeitern und den Arbeitswilligen. Streikposten nahmen den zur Arbeit gewillten nach Möglichkeit 122 Vgl. ebd., S. 223–248. 123 R.O. Die deutsche Republik in Gefahr, in: Der Tag, 19.9.1923. Die folgenden Zitate ebd.
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ihre Arbeitsbescheinigungen ab oder sorgten z.T. für ihre Abschiebung aus dem besetzten Gebiet. „Gewalt war eine alltägliche Erfahrung, erst recht bei Arbeitskämpfen, wenn Zusammenstöße zwischen Arbeitswilligen und Streikbrechern an der Tagesordnung waren.“124 Besonders der Einzelhandel war aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus daran interessiert, ein Arrangement mit den Besatzern zu treffen. Zur Durchsetzung und Aufrechterhaltung des passiven Widerstands blieb Gewalt durchaus ein probates Mittel. Die Beantwortung der Frage, ob Olden zur Aufrechterhaltung Gewaltanwendung gegen Streikbrecher befürwortete, kann mit den vorliegenden Quellen nicht bestätigt werden. Nur eine Woche, nachdem er in seinem Artikel die Standfestigkeit der deutschen Politik durch die Aufrechterhaltung des passiven Widerstandes gefordert hatte, brach Stresemann den passiven Widerstand am 26. September ab. Die Wiederaufnahme der Reparationszahlungen folgte. Ein wesentliches Hindernis zu einer stabilen Währung war beseitigt.125 Anders als von Olden befürchtet, leitete der Abbruch des passiven Widerstandes „eine qualitative Veränderung der deutschen Politik ein, die sich auf den durch die Pariser Vorortverträge geschaffenen Status quo einstellte.“126 Außenpolitisch sollte eine Wende folgen. Stresemann zeigte sich durchaus in gewisser Weise in der Tradition Rathenaus stehend, überzeugt von der Notwendigkeit einer deutsch-französischen Verständigung, die auf einer tragfähigen Lösung der Reparationsfrage ruhen sollte. Die Strategie der bürgerlichen Rechtsparteien, den Krieg mit ökonomischen Mitteln fortzusetzen, mündete in einer Sackgasse und außenpolitischer Isolation, aus der heraus erst die Politik durch den Dawes-Plan führte. Insofern lag der Ruhrkonflikt am Anfang des Locarno-Prozesses, wenngleich das Verhältnis der beiden Staaten 1923 auf einem unbestreitbaren Tiefpunkt angelangt war. Der Ausgang der Krise bewies die These Rathenaus, dass Deutschland und Frankreich zumindest ökonomisch in großer Abhängigkeit zueinanderstehen. Nicht nur für Stresemann, sondern zugleich für Olden bezeugte der Ruhrkampf die Notwendigkeit eines europäisch fundierten Friedensprozesses auf Basis der deutschfranzösischen Verständigung. In der Begründung dieser Position diente ihm eine Denkschrift des Fürsten von Hardenberg aus dem Jahre 1807. Die Worte des preußischen Reformers zum Umgang mit dem napoleonischen Frankreich müssten als Blaupause für die Gegenwart dienen. Der leitende Sinn der Politik jener Tage war der: sich äußerlich ruhig verhalten, durch gewissenhafte Erfüllung aller Staatsverpflichtungen die Achtung der Welt zurückzugewinnen, das übermächtige Frankreich auf keine Weise reizen; in dieser Pause aber das ganze Volk auf jede Weise zusammenfassen, durch Abbau der Sondervorrechte und Beschränkung der Unternehmerwillkür alle Preußen zu bewussten Patrioten machen.127
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Krüger, in: Krumeich/Schröder (2004): S. 243. Vgl. ebd., S. 242–244; Büttner (2008): S. 179f. Mommsen, in: Krumeich/Schröder (2004): S. 305. R.O. 1807–1923, in: Der Tag, 25.11.1923. Folgendes Zitat ebd.
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Gleichwohl war ihm die Begrenztheit des Vergleiches bewusst. Heute bleibt für Deutschland eigentlich nur jener Weg: daß Frankreich selbst des imperialistischen Kurses müde wird. Auch dazu kann nur jene Politik dienlich sein, wie sie die Hardenberg und Stein trieben: strenge Rechtlichkeit nach außen, möglichste Gleichheit innen.
Nur ein geeintes und demokratisches Deutschland vermag dies zu leisten. Der Separatismus mancher Rheinländer sei schädlich, weil er nicht dazu beitrage, die französische Rheinpolitik abzuschwächen.128 Die Ruhr hatte seit jeher eine gesamteuropäische Rolle und Bedeutung sowohl für die politische Ordnung als auch für die wirtschaftliche Entwicklung. Sie gehörte zum schwerindustriellen Zentrum Europas, deren Beherrschung eine Schlüsselfrage der Politik wurde. „Das Ergebnis des Ruhrkampfes bestand auch darin, dass Barrieren gegen eine Rückkehr zur Hegemonie eines Staates beiseite geräumt waren.“129 Dass, was Rathenau und Stresemann zu Beginn der 1920er Jahre vorausdachten, sollte erst nach einem weiteren schrecklichen Weltkrieg 1950 mit dem Schuman-Plan Wirklichkeit werden. Auch Olden gehörte 1923 im Kontext des Ruhrkampfes zu jenen politischen Kommentatoren, die immer stärker eine gesamteuropäische Friedensperspektive beschrieben und postulierten. „Im Ernst, wie wäre es mit einem Pan-Austria? Da bis Pan-Europa doch noch ein längeres Stück Weges zurückzulegen ist.“130 Ende November 1923 berichtete er von einer angeblichen Begegnung mit einem Studenten, die ihn wohl nachhaltig prägen sollte, versuchte dieser ihm doch zu erklären, „er habe einen Plan gefunden, Europa zu retten. Es ergab sich folgendes: Frankreich, Deutschland und Italien sollten von der Schweiz annektiert werden, mit ihr die 'Groß-Schweiz' bilden.“131 Die Verfassung der Schweiz eliminiere durch ihre Einrichtung auf alle drei Sprachen, sowohl in Gesetzen als auch Verordnungen, den Sprachkampf in allen gesellschaftlichen Einrichtungen. Dies sei für die schulische Erziehung der Jugend von elementarer Bedeutung und biete die Chance auf eine friedliche Form der Konfliktaustragung. Die staatliche Organisation könne sich am Vorbild der Kantone orientieren. Zum Beispiel also könne auch in der Groß-Schweiz der Zukunft Frankreich, da es nun einmal an den Zentralismus gewöhnt sei, ein Kanton bleiben, während Deutschland, föderalistisch gesinnt, natürlich in mehrere Kantone zerfallen werde. Eine elsässische Frage werde es nicht mehr geben. Denn selbstverständlich würden die Elsässer, auch die Lothringer wahrscheinlich, mit Vergnügen die Gelegenheit ergreifen, eine relative Selbstständigkeit zu erlangen. Sie würden endlich ihren wahren Beruf erfüllen können, Mittler zwischen beiden Völkern zu sein.
Der junge Staatsrechtler und Ökonom ging von einer großen Anziehungskraft auf alle anderen Staaten in Europa, mit Ausnahme Englands, aus. Auch Fragen eines einheitlichen Zollsystems, Wahlrechts sowie Polizei- und Armeeapparats offenbarte ihm der Student.
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Vgl. Mommsen, in: Krumeich/Schröder (2004): S. 305–312. Loth, in: Krumeich/Schröder (2004): S. 315. R.O. Pan-Austria. Neues vom österreichischen Separatismus, in: Der Tag, 7.11.1923. R.O. Von Tag zu Tag. Groß-Schweiz, in: Der Tag, 27.11.1923. Die folgenden Zitate ebd.
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5 Wiener Jahre Ich wendete schüchtern ein, der Haß zwischen den Nationen sei dem Plan zurzeit nicht günstig. Der Staatengründer erwiderte: eben deshalb sei die Groß-Schweiz nötig. Das sei eben der wahre Sinn dieser europäischen Erlösung: die Begründung einer neuen Höflichkeit, der Höflichkeit zwischen den Nationen.
Als Olden auf das traurige Schicksal des europäischen Pazifismus mit Blick auf die Realisierung solch eines Projektes hinzuweisen versuchte, gab dieser an, dass dies keine Frage des Pazifismus „und er absolut keiner sei. Er denke nicht daran, die Menschen zu Engeln zu machen, noch weniger, die Staaten zu entwaffnen.“ Alle Einwände die Olden vorbrachte, schien der junge Student entkräften und widerlegen zu können, sodass er mit den Worten abschloss: „Aber ich gestehe, daß ich seitdem selbst Anhänger der Groß-Schweiz bin.“ Wie lässt sich diese überaus lange Gesprächswiedergabe zwischen Olden und dem Studenten interpretieren? Können wir wirklich davon ausgehen, dass dies so oder in ähnlicher Weise stattfand? Betrachtet man die Botschaft, die er gegenüber der Leserschaft womöglich aussenden wollte, bleiben diese Fragen eher sekundär. Bedenkt man seine eigentliche Profession der Schriftstellerei könnte er die sokratisch anmutende Darstellungsform bewusst gewählt haben, um sich in der aufgeheizten Auseinandersetzung der Ruhrkrise nicht selbst eines paneuropäischen Idealismus schuldig zu machen. Die Vermittlung jener Positionen könnte er geschickt über einen unbekannten und ungenannten Studenten vollziehen. Am Ende des Gespräches stünde so die reflektierte Selbstübernahme durch einen dialektischen Prozess zu einer positiven Bewertung einzelner Elemente der friedensstiftenden Funktion einheitlicher europäischer Regelungen. Seine Anknüpfung an bzw. die Wahrnehmung und Verfolgung des Pan-Europa-Prozesses wurde an dieser Stelle erstmals deutlich, wenngleich die Vorstellung nicht über die Idee eines Kerneuropas aus Deutschland, Frankreich und Italien hinausging. Unbestreitbar bleibt die Stimulanz, die jene Idee auf Olden ausgeübt haben dürfte, wie seine Positionen in der Mitte der 1920er Jahre noch zeigen werden. Der Glaube an ein in Frieden und Freiheit geeintes Europa könnte die Botschaft jenes Artikels gewesen sein, den Olden an sein Publikum vermittelt sehen wollte, ohne selbst als Akteur und Ideengeber eindeutig in Erscheinung zu treten. Inwiefern er die neue offizielle Regierungspolitik unter Stresemann im außenpolitischen Spektrum bewusst stärken wollte, muss unbeantwortet bleiben. Auffällig hingegen ist seine Anknüpfung an die Vorstellungen des Pan-europäischen Diskurses im unmittelbaren Nachklang des Ruhrkampfes durch die Aufgabe des passiven Widerstandes im September 1923. So sehr Olden den neuen außenpolitischen Kurs des Kanzlers begrüßte, umso kritischer sah er dessen Innenpolitik. Seine Haltung und sein Vorgehen sei durch eine gefährliche Inkonsequenz gekennzeichnet. Er zielte vor allem auf die Verhängung des Ausnahmezustands für das ganze Reich ab, als in Sachsen und Thüringen eine Regierung aus SPD und KPD gebildet wurde. In Dresden erzwang Stresemann sogar den Rücktritt der Koalition durch den Einmarsch der Reichswehr. Parallel ging er weniger energisch gegen die bayerische Staatsregierung vor. Deren antirepublikanischen Kurs unter Gustav von Kahr und dem Reichswehrgeneral Otto Hermann von Lossow begegnete er lediglich mit Appellen. Über diese Einseitigkeit in
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der politischen Beurteilung wollte Olden die deutsche Öffentlichkeit von Wien aus aufmerksam machen.132 Eine Enttäuschung ist Stresemann nicht für den, der seine politische Laufbahn kennt. Er hat in einem frischen Aufschwung den bankrotten Nachlaß Cunos liquidiert, hat sich mit den Sozialdemokraten verbündet und hat eine kluge Aussprache mit Poincare geführt. Er hat, als er nicht gleich etwas erreichte, den deutschnationalen Graf Kanitz zum Ernährungsminister gemacht, einen General als Diktator in Sachsen eingesetzt und Zeigner vertreiben lassen, er bereitet sich auf Einvernehmen mit Kahr vor und wird auch rechts regieren können, wenn man ihn lässt. 133
Es sei unverantwortlich, wenn man nicht wisse, auf welcher Seite der Kanzler als Hüter der Demokratie stehe. Die bürgerkriegsähnlichen Zustände machten eigentlich ein klares Bekenntnis notwendig. Hinter dieser Kritik stand eine ausgeprägte Skepsis gegenüber der politischen Entwicklung Stresemanns. Er war einmal in seiner Jugend nationalsozial, Schüler und Anhänger Naumanns, Gesinnungsgenosse Hellmuth von Gerlachs; er schwenkte damals zu den Nationalliberalen ab, weil er eine Industriekarriere machen wollte; er war im Krieg der treueste Schildknappe der Obersten Heeresleitung; er bot sich nach dem Umsturz den Demokraten an und wurde von ihnen zurückgewiesen; er führte die Deutsche Volkspartei zur Höhe, ohne jemals ein Wort über Republik oder Monarchie zu sprechen.
Diese Wandlung war für Olden nicht glaubhaft, sondern nur Ausdruck seines dialektischen Geschicks. Keine Spur von einem großen Staatsmann. Deutschland aber ist in einen historischen Prozeß eingetreten, in dem Charakter und aufrichtiges Bekenntnis weit wichtiger sind. Die Lager sondern sich, die Wege laufen auseinander, der Markstein ist bald erreicht, an dem sich jeder entscheiden muß. Ein Stresemann kann da nicht mehr Führer sein.
Innerhalb der Friedensbewegung hatte der Krieg die hoffnungsvollen Ansätze einer internationalen Gemeinschaft europäischer Friedensfreunde rasch zerstört und das deutsch-französische Verhältnis auf dieser Ebene erheblich belastet und entzweit. Eine Verständigung erschien nach 1918 nahezu unmöglich, wie dies in staatlicher und nationaler Hinsicht ebenso der Fall war. Zwar betonten deutsche Pazifisten die Notwendigkeit eines Dialoges mit den französischen Gesinnungsgenossen, gerade in Bezug auf den Versailler Vertrag, aber der Inhalt des Vertragswerkes schloss dies schnell aus. Dem Ziel auf eine Revision der Bedingungen stand das Beharren auf diesen Positionen gegenüber. Der neue Status quo schien auf französischer Seite unverrückbar. Zudem ging es ihnen um eine Anerkennung der deutschen Kriegsschuld. Quidde beschrieb das Klima der ersten Nachkriegsbegegnung 1919 als abweisend und verachtend. Die Zugeständnisse, die er dem Annexionismus machte, waren nicht vergessen. Das steckte den Rahmen für den Dialog ab: der traditionelle deutsche Pazifismus, repräsentiert von der DFG, stets durch die Rücksichtnahme auf vorgeblich nationale Interessen Deutschlands
132 Vgl. Kolb (2009): S. 54f. 133 R.O. Deutsche Köpfe. III Stresemann, in: Der Tag, 4.11.1923. Die folgenden Zitate ebd.
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5 Wiener Jahre gehemmt, aber immer vergeblich besorgt um sein Erscheinungsbild, das Zweifel an seiner nationalen Zuverlässigkeit nicht zulassen durfte – er war ungeeignet, das Eis zu brechen.134
Unbelastete Personen erschienen eher geeignet, den Dialog wieder aufzunehmen. Besonders die Frage der deutschen Reparationen sollte ein erster Prüfstein sein, inwiefern das Anliegen der deutschen Pazifisten ein ernsthaftes Interesse zum Dialog erkennen ließe. Der BNV symbolisierte bald die Hoffnung auf eine Annäherung. Die Erfüllbarkeit der Reparationen in Bezug auf die wirtschaftliche Stärke der Weimarer Republik war für den Bund eine ganz entscheidende Frage. In den Forderungen Frankreichs sah er eine moralische Verpflichtung zum Wiederaufbau der Schäden, die Deutsche im Weltkrieg auf französischem Boden angerichtet hatten und bekräftigte seitdem in mehreren Resolutionen die Erfüllungspolitik. Ende Dezember 1921 gab es erstmals seit Kriegsende wieder direkten Kontakt der pazifistischen Lager, indem Harry Graf Kessler an einem nach Paris einberufenen Kongress teilnahm und dort begeistert empfangen wurde, weil er die Pflicht zum Wiederaufbau erneut betonte. Ihm gelang es in den folgenden Gesprächen eine künftige Kooperation mit der französischen Menschenrechtsliga und dem BNV vorzubereiten. Diese Pläne wurden von Hellmut von Gerlach, Friedrich Nicolai und Otto LehmannRüßbüldt im Januar 1922 intensiviert und fanden ihren Ausdruck im Manifest An die Demokratien Deutschlands und Frankreichs. Jenes Papier legte entscheidende Grundsätze zu einer Normalisierung der deutsch-französischen Beziehungen innerhalb des Pazifismus. Folglich wurde der BNV in die DLM umbenannt. Sie und der FDK „konnten seither als die wichtigsten Träger der deutsch-französischen Verständigung im Rahmen des organisierten Pazifismus gelten.“ Quidde hingegen verweigerte dem Manifest die Unterstützung, was er u.a. auf den Entwaffnungspassus bezog. Gleichzeitig beanstandete er den fehlenden Hinweis auf die schwierigen wirtschaftlichen Möglichkeiten, Reparationen zu zahlen. Der Ruhreinmarsch 1923 überschattete den beginnenden Annäherungsversuch. Den deutschen Pazifisten blieb nur die Zustimmung zum passiven Widerstand. Gezielte Sabotageakte lehnten sie ab. Nur eine Politik der Verständigung könne den Weg aus der Sackgasse heraus weisen. Die Ablösung Cunos und die Aufgabe des passiven Widerstandes durch den neuen Reichskanzler Stresemann wurde von ihnen positiv begleitet und kommentiert. Mit seinen Vorstößen und seiner Bezugnahme auf einen Ausgleich zwischen den Erbfeinden stand Olden durchaus symbolisch für eine neue Generation von Pazifisten, die sich ohne historische Vorbelastung der Thematik anzunehmen vermochten. Folglich stand am Ende dieser Entwicklung seine Mitglieds- und Vorstandsarbeit in der DLM während der Berliner Jahre.135 Inhaltlich gestaltete sich seine Beziehung zur Weimarer Friedensbewegung in diesem Feld allerdings wesentlich differenzierter. Der passive Widerstand war nicht das Ergebnis einer pazifistischen Zeitenwende, in der sich jene Idee im alltäglichen Bewusstsein festgesetzt hatte. Vielmehr war sie Ausdruck der politischen wie militärischen Realität. Allerdings wollte der Pazifismus diese Form des waffenlosen Widerstandes nutzen, um sie als Kampfmethode gesellschaftlich salonfähig zu ma134 Holl (1988): S. 166. Folgendes Zitat ebd., S. 168. 135 Vgl. ebd., S. 165–174.
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chen. In diesem Zusammenhang ist für die Charakterisierung des Pazifisten Olden folgende Feststellung von besonderer Relevanz, unterstreicht sie Zuordnungen, die unmittelbar nach Kriegsende auffällig gewesen waren: Insbesondere antimilitaristisch orientierte Pazifisten mußten infolgedessen zur Unterstützung des Kampfes Initiativen ergreifen, um die Erfolgschancen eines tendenziell entwaffneten Staatswesens gegenüber einem militärisch stark gerüsteten Land bei entschlossener waffenloser Resistenz zu dokumentieren.136
Der organisatorische Pazifismus war weniger bestrebt, eine Kampfmethode theoretisch zu begründen, wenngleich festzuhalten ist, dass dies auch der Antimilitarist Olden nicht tat. Entscheidend war vielmehr der Weg zur Lösung des Ruhrkampfes, den Vertreter des organisatorischen Pazifismus vor allem juristisch begehen wollten. „Beide konkurrierenden Gruppen erkannten in der Ruhrbesetzung, bewußt oder unbewußt, die Chance, die Durchschlagskraft ihrer Ideologie signifikant nachzuweisen.“ Frühzeitig reagierte man auf die Verschärfung der zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich. Schon 1922 wurden die Grundzüge vordefiniert: Fortsetzung der Erfüllungspolitik als einzige Alternative, Gleichverteilung der Inflations- und Reparationslasten, insbesondere durch die Einbeziehung von Sachwertbesitzern und die Ablehnung einer militärischen Einheitsfront zur Abwehr der Besatzer. Während der Ruhrbesetzung markierten sie die Leitlinien der Friedensbewegung insgesamt. Als die Alliierten im Januar 1923 ins Ruhrgebiet einmarschierten, versuchte Schücking zu Beginn auf die Rechtswidrigkeit der Aktion abzuzielen. Für die DLM war dies keine Frage für eine juristische Auseinandersetzung. Ihr ging es darum, mäßigend auf das deutsche Volk einzuwirken und ein Eingreifen des Völkerbundes zu erreichen, wenngleich Schücking mit seinem Befund eines Rechtsbruchs durchaus analytisch zutreffend argumentierte. Obwohl von der Ausbildung her Jurist und obwohl durchaus eine ideelle Nähe bestand, unternahm Olden nicht den Versuch einer juristischen Bewertung der Vorgänge. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die Diskussion bzw. Erörterung jener Rechtsfragen um Quidde, Wehberg, Schücking und Hiller im Ergebnis fruchtlos war. Wie der Wiener Journalist behielt die deutsche Friedensbewegung den Grundsatz bei, mit Besonnenheit auf die Besatzung zu reagieren und am Willen zur Erfüllung festzuhalten, um den Wiederaufbau der im Krieg zerstörten Gebiete zu sichern. Umstritten blieb die Frage nach der Stellung zur Regierung Cuno. Verlangten die Radikalen des WLV den Sturz des Kabinetts, hielt die gemäßigte Führung der DFG an diesem fest, solange sie weiterhin den passiven Widerstand aufrechterhalte und ihre Verhandlungsbereitschaft signalisiere. Auf keinen Fall sollte eine linke Regierung mit dem Fehlschlag Cunos belastet werden. Am passiven Widerstand müsse unbedingt festgehalten werden. Unterschiedliche Prioritäten wurden sichtbar. Der WLV stellte die Pflicht zum Wiederaufbau im Rahmen einer wahren Erfüllungspolitik an erste Stelle und plädierte frühzeitig für einen Abbruch des passiven Widerstandes. Die Mehrheit der deutschen Pazifisten hingegen betonte ihn als Mittel zur Beseitigung des Militarismus. 136 Lütgemeier-Davin 1982: S. 217. Folgendes Zitat ebd.
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Keine Einigkeit konnte in der Frage der Gewaltanwendung erzielt werden. Zwischen den zahlreichen Einzelorganisationen blieb sie ungelöst. Ab Mai 1923 mehrten sich die Stimmen, die einen Abbruch des passiven Widerstandes forderten. Man sah aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage und der zunehmenden Gewalttätigkeit nationalistischer Kreise einen gewissen Handlungsdruck. Die Strategie der kampflosen Auseinandersetzung sollte zugunsten von Maßnahmen der Regierung gegen rechtsradikale Organisationen, Wiederaufnahme der Verhandlungen über die Reparationsfrage und die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund beendet werden. Eine rasche Lösung des Ruhrkonflikts sei nur so möglich. Eine Sicherung des Friedens könne nur die Entmilitarisierung des Rheinlandes unter der Kontrolle des Völkerbundes, verbunden mit dem deutschen Beitritt darstellen. Das alleinige Sanktionsrecht müsse beim Völkerbund liegen. Er allein wache als unparteiische Instanz über die zu leistenden Reparationen. Schiedsgerichtliche Regelungen sollten ebenfalls eingeführt werden. Die Weltorganisation des Völkerbundes sei der Schlüssel für einen dauerhaften Frieden, an dem Deutschland gestalterisch mitwirken müsse. Von Sabotageakten distanzierte man sich erneut eindeutig. Damit bringe man die Staatengemeinschaft nur unnötig gegen das Deutsche Reich auf und verschärfe die Währungsturbulenzen. Die Friedensbewegung sah ab Sommer 1923 in der Aufrechterhaltung des passiven Widerstandes die Gefahr eines Bürgerkrieges. „Das Krisenjahr 1923 bestätigte die Pazifisten in ihrer Überzeugung, daß im Mittelpunkt künftiger Politik mehr denn je die deutsch-französische Verständigung zu stehen habe.“137 Diese sollte im Rahmen der Staatengemeinschaft erzielt werden. Nur so könne die internationale Abrüstung künftig erfolgreich bestritten werden und Europa eine langanhaltende Friedensperiode schenken.138 Demgegenüber lief die Entwicklung Oldens und seiner außenpolitischen Positionen im Krisenjahr 1923 unter Bezugnahme auf z.T. ähnliche Argumentationsmuster quer zur Mehrheit der Friedensbewegung in Deutschland. Als sie zu Beginn des Ruhrkampfes den passiven Widerstand ausdrücklich guthieß, setzte er eindeutig auf den Versuch einer zwischenstaatlichen Verständigung. Bei ihm bildete die Rückkehr zu einer wahren Erfüllungspolitik den Kern seiner Positionen, wenngleich natürlich der Wunsch nach Ausgleich auf allen Seiten Konsens war, nur unterschiedlich gewichtet wurde. Insofern stand Olden anfänglich dem radikalen Pazifismus durchaus näher, auch wenn er sich nicht dezidiert zum passiven Widerstand geäußert hatte, zumal er dem juristischen Diskurs in dieser Frage wohl wenig bzw. gar nichts abzugewinnen vermochte. Die Besinnung auf das Vorgehen Rathenaus fand außerordentliche Beachtung in seiner Bewertung der Ruhrkrise. Mit der Zuspitzung des Konfliktes wurde seine Haltung in Bezug auf den passiven Widerstand eindeutiger. Gegen Ende des Ruhrkampfes standen antimilitaristische Überlegungen im Vordergrund, die eine Beibehaltung dieser Kampfmethode für ihn rechtfertige. Nun finden wir bei Olden jene Argumentation der DFG Führung wieder, die diese längst verlassen hatte. Wollte sie mit der zunehmenden Konfrontation und dem weiteren Verfall der deutschen Mark den passiven Widerstand 137 Scheer (1981): S. 456. 138 Vgl. ebd., S. 448–457; Lütgemeier-Davin (1982): S. 217–228.
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nicht mehr fortsetzen, betonte er die Notwendigkeit seiner Fortführung, um nicht eine Linksregierung mit den Folgen der Politik Cunos zu belasten, der er unter Stresemann durchaus einen Neuanfang in den internationalen Beziehungen zu Frankreich zutraute. Dazu bedürfe es aber der innenpolitischen Stabilität. Sah Olden im Abbruch eine Gefahr für die Demokratie und den inneren Frieden der Republik, so fürchtete die Friedensbewegung Ende 1923 in seiner Beibehaltung den Ausbruch eines Bürgerkrieges sowie eine verpasste Chance auf die deutsch-französische Annäherung. Für ihn stand plötzlich der Antimilitarismus wieder im Mittelpunkt der Betrachtung. Die innenpolitische Gefahr einer zweiten Dolchstoßlegende könne das gemeinsame Ziel aller Pazifisten zunichtemachen. Die nationale Stabilität müsse der internationalen vorausgehen. Auf dem Altar demokratischer Stetigkeit müsse man bereit sein, wirtschaftliche Opfer zu bringen, war dies genau das, was er 1918 mit Blick auf die politischen Umwälzungen der Revolutionen von einem geistig erneuerten Bürgertum verlangte und nun einforderte. Ihm war jedoch bewusst, was Geldentwertung und Wirtschaftskrise für den kleinen Mann bedeutete und dies nicht erst zu Zeiten der Hyperinflation. Allerdings dürfe es nie wieder möglich sein, nationalistisch-militaristischen Kreisen politische Munition gegen die Republik in die Hände zu legen. Dies war ihm mindestens genauso wichtig wie die deutsch-französische Verständigung. Eine Politik des Sowohl-als-auch war für Olden zwingend geboten, um den internationalen Frieden und die junge Demokratie auf Dauer zu festigen und aufrechtzuerhalten. Beides seien zwei Seiten ein und derselben Medaille und müssten Hand in Hand gehen. Schließlich zielte sein Verständigungswunsch weniger auf den Weltstaatenbund, als vielmehr auf ein gemeinsames Europa auf Grundlage des deutsch-französischen Ausgleichs. Die europäische Einigung mache erst den Frieden möglich. Stärker als die Weimarer Friedensbewegung, die im Völkerbund die entscheidende Instanz sah, begann Olden während der Ruhrkrise sich immer stärker mit Pan-europäischen Ideen zu beschäftigen und auseinanderzusetzen. Welche Rolle er dem Völkerbund zudachte, bleibt offen, doch seine Skepsis gegenüber dem Versuch einer international weit gefassten Organisation zur Friedenssicherung drückte sich erneut aus. Es sei allein die Aufgabe der europäischen Staaten selbst, auf dem Kontinent für eine friedliche Zukunft zu wirken, die auf einer wirtschaftlichen Verflechtung, zumindest von Frankreich und Deutschland, fuße. Vielleicht schwang auch die Enttäuschung darüber mit, dass Olden, der zunächst Anhänger des Wilsonismus war, feststellen musste, wie wenig überzeugend die Idee eines Völkerbundes selbst in den Vereinigten Staaten gewesen war, die den Beitritt im November 1919 nicht ratifiziert hatten. Ob er dessen Scheitern durch die Nichtteilnahme der USA vorausahnte und deshalb stärker eine europäische Lösung vertrat, bleibt ungeklärt. Nichtsdestotrotz gab die Vorstellung eines geeinten Europas mit Frankreich und Deutschland an der Spitze künftig Orientierung für Olden, die seinen Pazifismus weiter prägen wird. Letztlich ist nicht auszuschließen, dass er gewisse Steuerungselement des Völkerbundes durchaus als nützlich für eine europäische Organisation ansah. In rechten Kreisen rief der Abbruch des passiven Widerstandes große Empörung hervor. Man verschloss die Augen vor der Realität eines durch Inflation und außenpolitischer Isolation gebeutelten Landes. Wie Olden es befürchtet hatte, wur-
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de der Abbruch zu einer zweiten Schuld stilisiert, für die v.a. Stresemann und die Sozialdemokratie verantwortlich zu machen sei. Man warf ihnen Defätismus vor. Das parlamentarische Regierungssystem sollte nun endgültig beseitigt werden. Vor allem Bayern machte sich zum Vorreiter dieser Entwicklung, als es am 26. September den Ausnahmezustand ausrief. Die Ernennung von Gustav Ritter von Kahr zum Generalstaatskommissar sollte nur den Prolog darstellen. Das Republikschutzgesetz wurde unter seiner Leitung in Bayern außer Kraft gesetzt. Diese Entwicklung, welche auf eine gewaltsame Zerstörung der Weimarer Demokratie abzielte, war durch zwei Faktoren begünstigt: eine schleichende Entparlamentarisierung und die Tatsache kommunistischer Aufstände. Zum einen schaltete man den Reichstag durch mehrere Gesetze aus, um den Weg für schnelle Eingriffsmöglichkeiten frei zu machen. Dies schien zu Zeiten der Ruhrkrise und der Hyperinflation politisch opportun. Das Parlament räumte der Minderheitsregierung unter Cuno im Februar 1923 die Gelegenheit ein, bestimmte Bereiche staatlichen Handelns per Verordnungen zu regeln. Kritik der Abgeordneten und Einfluss auf die Entscheidungsfindung durch die Legislative, gerade in Bezug auf den Konfrontationskurs in der Ruhrfrage, war kaum möglich. Parlamentarische Debatte und Willensbildungsprozesse wurden 1923 durch Verordnungen und Ermächtigungen ersetzt, nicht zuletzt auf Basis des Artikels 48 der Weimarer Reichsverfassung. Dies traf ebenfalls auf die Regierung Stresemanns zu. Zum anderen lieferten die Ereignisse in Sachsen und Thüringen den willkommenen Anlass für die Extremisten, endlich losschlagen zu können, da die meisten erst nach einem kommunistischen Aufstand glaubten, die Reichswehr endgültig auf ihrer Seite zu haben. Ohne deren Unterstützung befürchteten sie, ihr Weg des gewaltsamen Verfassungswandels laufe ins Leere. Tatsächlich führte massive Arbeitslosigkeit zu einem Erstarken der KPD. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Reichsexekution [in Sachsen] gegen eine legal gewählte Regierung, die zwar erklärte Gegner der parlamentarischen Demokratie in ihren Reihen hatte, aber nicht gegen das Reich, seine Gesetze oder Anordnungen der Reichsregierung handelte, war fragwürdig und ein verhängnisvoller Präzedenzfall für die Zukunft.139
Als Reaktion darauf, trat letztlich die Sozialdemokratie am 2. November aus der Regierung aus. In Bayern übten die Machthaber immer offener den Aufstand gegen Berlin. Die Zuspitzung um die Absetzung von Kahrs, der Lossow nicht nachkam und die Vereidigung seiner Reichswehrdivision auf Bayern war ein klarer Verfassungsbruch, indem man versuchte, sich vom Reich zu lösen. In München unangefochten, entwickelte die Rechte unterschiedliche Pläne, um im gesamten Land eine nationale Diktatur errichten zu können. Allerdings zögerten sie mit der Verwirklichung ihrer Vorstellungen. Für den Staatsstreich legte man immer wieder neue Termine fest. Unentschlossenheit kennzeichnete die bayerischen Putschisten. Vielleicht war gerade dies der Grund, warum Olden am 4. November in seiner Reihe Deutsche Köpfe nicht mit Lossow oder von Kahr, sondern mit Hitler einleitete. An seiner Überzeugung ließe er damals den Wiener Beobachter nicht zweifeln. Seinen 139 Büttner (2008): S. 203. Folgendes Zitat ebd.
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unbändigen Machtwillen hatte Hitler bereits am 30. Oktober im Zirkus Krone eindeutig offengelegt. Deutschland sei erst gerettet, „wenn die schwarz-weiß-rote Hakenkreuzfahne vom Berliner Schloß weht“. Diese Passage zitierte Olden am Anfang seines Artikels sogar, was seine Kenntnis jener Hitler-Rede bezeugte und ihn veranlasste, sich mit ihm und seiner Partei erstmals kritisch auseinanderzusetzen.140 Bisher sei die Geschichte Hitlers die seiner Unterschätzung, gerade auf Seiten der Liberalen und Sozialisten. Dabei sei er doch derjenige, der „den Bestand der Demokratie in Deutschland tödlich bedroht.“141 Man fragt sich, „wie er zu dieser Macht geworden ist.“ Die Antwort Oldens war eindeutig. Allen anderen Protagonisten der radikalen Rechten habe er eine demagogische Fähigkeit voraus, die ihn zur unumstrittenen Führungsfigur gemacht habe. Hitler allein ist das sichtbare politische Haupt. Sein Name genügt, riesige Massenversammlungen zusammenzurufen, er bildet den gefeierten Mittelpunkt, wird umjubelt, wo er sich zeigt, er gebietet über ein großes publizistisches Organ und über militärische Kräfte von unbekannter Größe. Seine Leistung im demagogischen oder demokratischen Sinn ist also beträchtlich.
Jene Charakterisierung werde dadurch unterstrichen, dass die Partei an sich nicht über eine geschlossene politische Zielvorstellung verfügt. Eine feste Ideologie ist nicht auszumachen, wenn man die Artikel des Völkischen Beobachter verfolge. Er verfüge nicht über ein Programm, das irgendwie der Betrachtung wert wäre. Du findest, neugieriger Leser, darin die Notwendigkeit bewiesen, den Viehjuden Löw aus Kempten im Allgäu auszuweisen, weil seine schwarzhaarigen Töchter sich abweisend gegen Träger des Hakenkreuzes gezeigt haben; aber kein Wort darüber, was geschehen soll, wenn die schwarz-weiß-rote Hakenkreuzfahne denn nun endlich vom Berliner Schloß wehen wird.
Sowenig diese kurzen Zeilen eine eingehende und tiefergehende Analyse leisten konnten, umso deutlicher formulieren sie das Anliegen des Autors. Alle demokratischen Kräfte müssten sich dieser Gefahr für die Weimarer Republik bewusst sein. Politische Wachsamkeit gegenüber Hitler und seiner Bewegung sei dringend geboten. Ihre Bestrebungen gelte es ernst zu nehmen und weiterhin zu hinterfragen, welche tatsächlichen Ziele und Absichten sich hinter der demagogischen Maske verbergen. Führerkult und Antisemitismus seien erkennbare Bestandteile seiner Ideologie. Nur wenige Tage später sollte Oldens Prophezeiung wirklich werden. Enttäuscht und entsetzt über die Unentschlossenheit seiner Mitstreiter suchte Hitler das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen. Im Münchener Bürgerbräukeller hatten sich am Abend des 8. November zum fünften Jahrestag der Revolution die Mächtigen der bayerischen Politik zu einer Kundgebung versammelt. Hitler ließ das Gebäude von SA Einheiten umstellen und stürmte selbst auf das Rednerpodium, um die nationale Revolution auszurufen und die bayerische Regierung sowie die Reichsregierung für abgesetzt zu erklären. Gleichzeitige nötige er Kahr, Lossow und den Kommandeur der bayerischen Polizei Seisser die Zustimmung zur Prokla140 Vgl. ebd., S. 189–204. 141 R.O. Deutsche Köpfe. I. Hitler, in: Der Tag, 4.11.1923. Die folgenden Zitate ebd.
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mation einer provisorischen Reichsregierung ab. Schon wenige Stunden später widerriefen sie ihre Zustimmung und beschlossen, den Spuk des Putsches zu beenden. Allerdings formierten Hitler und Ludendorff am Morgen des 9. November ihre Anhänger zu einem Marsch durch die Innenstadt. Polizeieinheiten bereiteten der rechten Revolution schließlich an der Feldherrenhalle durch ein kurzes Feuergefecht mit den Aufständischen ein jähes Ende. Die Teilnehmer strömten auseinander und der Putsch war gescheitert. Hitler, leicht verletzt, floh in das abgelegene Landhaus eines Freundes. Zwei Tage später wurde er dort verhaftet. Noch am 9. November wurde die NSDAP durch von Kahr in Bayern verboten. Zwei Wochen später erfolgte ein Verbot für das ganze Reich. Die Ereignisse in München zeigten Hitler, wie Olden es beschrieben hatte, als selbstständig handelnden Akteur, den es ernst zunehmen gelte. Den Putsch selbst kommentierte er nicht. Mit dessen juristischer Facette befasste er sich umso mehr.142 Die Hauptverhandlung begann am 24. Februar 1924 vor dem Volksgericht. Eigentlich war der Staatsgerichtshof in Leipzig zuständig, den Prozess zum Schutze der Republik zu führen. Doch Bayerns Bemühungen, den Prozess in München stattfinden zu lassen, war erfolgreich, wollte man die Spannungen zwischen Bayern und dem Reich nicht weiter vertiefen. Eine Bloßstellung sollte verhindert werden, die ohnehin durch die Vorgänge im Herbst 1923 teilweise schon geschehen war. Verhandelt wurden lediglich die Ereignisse vom 8. auf den 9. November. Kahr, Seisser, und Lossow mussten nur als Zeugen auftreten und entgingen einer Anklage, hatten sie sich in diesem Zeitraum erst passiv, dann verfassungstreu gezeigt. Hitler, Ludendorff, Röhm und die anderen Verschwörer wurden wegen Hochverrats angeklagt. Bereits der Prozessauftakt erhitzte das Gemüt Oldens, hatten die Angeklagten unter Duldung des Gerichts ausführlich die Möglichkeit, führende Männer der Republik und die Staatsform zu beschimpfen sowie ihre Propaganda zu verbreiten, wie die Sitzungsprotokolle nachweisen. Das Tribunal wird zur Szene. Es ist ein böses Theater, das dort gespielt wird. Die Zeitungen sind so liebenswürdig das Ganze ein Gerichtsverfahren zu nennen. Aber ihre Korrespondenten täuschen sich nicht darüber, was in Wirklichkeit vorgeht. Man kann ihnen den Freimut nicht absprechen, mit dem sie zugestehen, was man ihnen zur Last legt. Wovor sollten sie sich eigentlich fürchten?143
Ohnehin sei die Anklagebank nicht vollständig. Von Kahr gehöre ebenfalls angeklagt, machte er mit seinem Vorgehen den versuchten Putsch erst möglich. Die Anklage ist erhoben worden, als die Staatsanwaltschaft dem Generalstaatskommissar unterstand. Während das Gericht verhandelt, ist Herr von Kahr noch immer Regierungspräsident von Oberbayern und Inhaber der vollziehenden Gewalt. Dieser Kahr ist ja der jetzt schon zweifelsfrei überführte Mitschuldige der Angeklagten. Die haben sich vielleicht gegen die Reichsverfassung vergangen. Aber die Reichsverfassung ist in Bayern schon seit 1920 nicht mehr als ein Papierfetzen.
Schon die Ereignisse des Kapp-Putsches hätten die Rechtsgrundlage des Prozesses suspendiert. Dies sei den Angeklagten bewusst, was sich in ihrem Verhalten aus142 Vgl. Kolb (2009): S. 55f.; Büttner (2008): S. 204–206. 143 R.O. Die Feldwebelfresse, in: Der Tag, in 2.3.1924. Die folgenden Zitate ebd.
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drückte. Das gesamte Verfahren gerate zur Farce. „Es wäre ja der klarste Rechtsbruch, wenn dieser Prozess mit einer Verurteilung endigte.“ Als von Kahr als Zeuge auftrat, wurde seine Aussage zu einer moralischen Niederlage und einer öffentlichen Blamage. Die Rechtfertigungsgründe, dass er nur zum Schein zugestimmt hätte, hielten dem Beschuss der Verteidiger und Angeklagten nicht stand. Die Lächerlichkeit ihrer Argumentation trat offen zu Tage. Die Zeugen drehten und wanden sich, während Hitler das Bekenntnis zur Verantwortung suchte, um weiter gegenüber den Mitangeklagten an Profil zu gewinnen. Andererseits wurde die Staatsanwaltschaft von der Verteidigung dermaßen in die Defensive gedrängt, dass der Erste Staatsanwalt Stenglein unter Protest den Saal verließ. Dies griff Olden in einer Anmerkung kritisch auf. Ziel war der Gerichtspräsident. Dieser Richter, der zuvor lange Zeit die heftigsten Beschimpfungen gegen die Republik ungeahndet ließ, könne einem Verfahren, das einen Putsch gegen diese Ordnung verhandele, nicht vorsitzen. Seine Prozessführung hätte den Staatsanwalt aus der Sitzung getrieben. Jene offensichtliche Bevorzugung der Verteidigung vor der Staatsanwaltschaft durch den Gerichtsvorsitzenden konnte aber in gewisser Weise den vielen ausländischen Zuhörern des Hitler-Prozesses ein zu günstiges Bild von deutschen justiziellen Gepflogenheiten geben. Vor allem die Angelsachsen unter ihnen werden meinen, daß der Präsident nur von seiner pflichtgemäßen Unparteilichkeit abgewichen ist. Sie können nicht ahnen, daß hier das gewohnte Bild vollkommen in sein Gegenteil verwechselt worden ist. 144
Diese Prozessführung offenbare vielmehr den konservativen Charakter des Vorsitzenden, womöglich des gesamten Justizsystems. Er fühle sich ermächtigt, über die Republik zu Gericht zu sitzen und nicht über die Taten der Angeklagten. „Der Grund seines ungewöhnlichen Benehmens ist, daß ihm Ludendorff und Genossen die wahre Legitimität zu verkörpern scheinen, während er die Republik als eine Improvisation ansieht. Für ihn sitzt die Staatsanwaltschaft auf der Anklagebank.“ Selbst die Tatsache eines Eingeständnisses von Seiten der Zeugen, sie hätten geplant, die Berliner Regierung ab- und die Verfassung außer Kraft zu setzen, erregte den Vorsitzenden Richter nicht. Das Gefühl der Empörung über den offen zugegebenen Hochverrat gegen die Republik, schien gänzlich abhandengekommen zu sein. Für Olden stand fest, dass sich dies auf das Urteil auswirken werde. Wer zugelassen hat, daß von Angeklagten, Verteidigern, Zuhörern und Zeugen die bestehende Staatsform der Republik in den Kot gezogen, verhöhnt und beschimpft wird, wie kann der ein Verbrechen sühnen, das eben in dem Angriff auf jene Staatsform bestehen soll? Wie immer dieses Urteil lauten wird, kann es nur ein Hohn auf Gesetz und Justiz sein, kann es mit Recht und Gesetz nichts zu tun haben, wird es nur Ausfluß von Politik sein können. 145
Der Prozess sei ein Anschlag „auf jedes Rechtsgefühl und jede Rechtsgrundlage.“ Die Justiz werde im Machtkampf zwischen Hitler und von Kahr missbraucht und politischen Zwecken dienstbar gemacht. Daher bräuchte es nicht viel Fantasie, davon auszugehen, dass kurzfristige Festungsstrafen ausgesprochen werden. Er sollte 144 R.O. Rechtsanwalt, Staatsanwalt und Richter. Anmerkungen zum Hitler-Prozess, in: Der Tag, 5.3.1924. Folgendes Zitat ebd. 145 R.O. Fazit des Hitler-Prozess, in: Der Tag, 30.3.1924. Folgendes Zitat ebd.
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Recht behalten. Als am 1. April das Urteil verkündet wurde, waren Hitler und einige Mitstreiter zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt und Ludendorff freigesprochen. Gleichzeitig wurde nach der Verbüßung von sechs Monaten die restliche Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Mutmaßlich gab es Absprachen hinter den Kulissen, um die Rolle der Reichswehrleitung während des Putsches nicht offen legen zu müssen. Nach seiner Entlassung am 14. Dezember 1924 konnte Hitler seine politischen Ambitionen gestärkt fortführen, hatte er die Zeit in Landsberg genutzt, um mit der Niederschrift von Mein Kampf das ideologische Profil der NSDAP zu schärfen.146 Spätestens dieser Prozess bestätigte für Olden seine 1919 geäußerte Notwendigkeit einer gewissen Umerziehung der gesellschaftlichen Eliten. Trotz Revolution und Umsturz blieb ein Teil der Arbeitsvorgänge im Staatsapparat seinen Traditionen verhaftet, die schon im Dienste der Monarchie für die Erhaltung der gesetzlichen Zustände Sorge zu tragen hatten. Man verstand sich als eine Art Amtsaristokratie. Herkunft, Kompetenz und eine ausgeprägte Amtsehre verband diesen nahezu homogenen Stand aus bestimmten sozialen Schichten. Ihre obrigkeitsstaatliche Erziehung, ihr streng rechtspositivistisches Denken wie die hierarchische Unter- und Überordnung ihres Dienstes bereiteten den Beamten bei der Anpassung an den neuen demokratischen Staat erhebliche Schwierigkeiten. Die wenigsten von ihnen konnten vergessen, daß diese Republik aus der Schmach der Niederlage und der Revolution hervorgegangen war.147
Dies traf besonders für die Justiz zu, die es schaffte, ihre Organisation und Prinzipien über die Novemberrevolution hinaus intakt zu halten. Die Anpassung an den Geist der neuen Zeit im Sinne eines demokratischen Verfassungsstaates konnte nie ganz vollzogen werden, wenngleich Gewaltenteilung und richterliche Unabhängigkeit eine gewisse Brandmauer symbolisierten und die Justiz als Ordnungsmacht eine entscheidende Rolle spielte, gerade mit Blick auf die Etablierung der Republik gegenüber antidemokratischen Kräften von links und rechts. Für die Rechtspflege konnte diese Zuschreibung aber gefährlich sein, betrachtet man die Stürme, der die Republik historisch zu Beginn der zwanziger Jahre ausgesetzt war. Bei bestehender Justizhoheit der Länder bestand die Gefahr einer Zerstörung der Reichseinheit, sollte die Justiz ihre Aufgabe als Ordnungsmacht in Händen der Zentralregierung nicht fortführen können. Scheitert die innerliche Gewinnung der im Kaiserreich ausgebildeten Justizbeamten für den neuen Staat, so sei nicht zu verhindern, dass die Rechtsprechung bei ihrem Einsatz gegen radikale Umstürzler in den Meinungsstreit der Politik hineingezogen wird. Dem war sich Olden spätestens seit dem Prozess gegen Hitler und Ludendorff bewusster denn je, hatte man in Berlin nach dem Rathenau-Mord mit dem Gesetz zum Schutz der Republik schon 1922 versucht, strafrechtlich den Schutz der Ordnung zu stärken. Politische Verbrechen, die gegen die Republik zielten, sollten künftig vor dem Staatsgerichtshof verhandelt und der Zuständigkeit der Länder entzogen werden. Der bayerische Boykott verhinderte
146 Vgl. Hannover/Hannover-Drück (1987): S. 145–151. 147 Petersen (1988): S. 22.
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eine strafrechtliche Behandlung des Putsches durch das Reich, mit bekanntem Ergebnis.148 Künftig sollte die Justiz nichts mehr belasten und verunsichern, als die Debatte über deren Unabhängigkeit bzw. Unparteilichkeit. Das Schlagwort Politische Justiz machte die Runde und löste großes Unbehagen aus, auch wenn von verschiedenen ideologischen und parteipolitischen Positionen aus, der Begriff unterschiedlich definiert wurde. Für Olden bedeutete der Prozess gegen Hitler und Ludendorff den Auftakt, sich mit dieser Problematik künftig intensiver und allgemeiner mit Blick auf den Bestand der Weimarer Republik zu befassen und die Rolle der Justiz zu kommentieren. Besonders Fälle, in denen Pazifisten unter dem Vorwurf des Hochoder Landesverrates bzw. des Geheimnisverrates der Prozess gemacht wurde, erregte in den folgenden Jahren mehr und mehr seine Aufmerksamkeit. Schon im Windschatten des Münchner Prozesses 1924 wurde z.B. Ludwig Quidde verhaftet, weil er in einem Zeitungsartikel über die Machenschaften paramilitärischer Verbände unter dem Dach der Reichswehr berichtete. Der klaffende Gegensatz in der Behandlung des politischen Idealisten Quidde zu der Behandlung der Hochverräter muß dazu führen, das Rechtsbewußtsein des deutschen Volkes bis auf den Grund zu erschüttern und der Rechtspflege in Deutschland, soweit politische Prozesse in Frage kommen, auch noch den Rest ihres Ansehens zu rauben.149
Andererseits analysierte der sozialdemokratische Pazifist Emil Julius Gumbel Formen des rechtsradikalen Terrors, einschließlich politischer wie sozialer Hintergründe. Wesentliche Beiträge zum pazifistischen Diskurs war seine Kritik der Politischen Justiz sowie die Enthüllungen über die heimliche Aufrüstung, was den radikalen Pazifismus weiter befruchten sollte, ihm persönlich Verfolgung und Ausbürgerung eintrug. Ein ähnliches Schicksal sollte Olden nach 1933 ereilen. Beide symbolisieren den Versuch, die Eskalation der Gewalt in den ersten Jahren der Republik, die ohne die Justiz in diesem Ausmaß kaum möglich gewesen wäre, kritisch zu fassen und die Politische Justiz zu einem zentralen Themenkomplex des linksrepublikanischen, radikal-pazifistischen Diskurses zu machen. Ihr Engagement in dieser Angelegenheit brachte sie später persönlich in der DLM zusammen.150 5.2.2 Rechtsruck: Gescheiterte Umerziehung – Reichswehr und Justiz Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Weimarer Republik bezeichnen die politische Entwicklung ab 1924 als Phase der relativen Stabilität.151 Im Inneren hatte sich mit dem vorläufigen Ende der wirtschaftlichen Turbulenzen und der politischen Unruhen eine gewisse Befriedung und Festigung eingestellt. Ein begrenzter wirtschaftlicher Aufschwung trug dazu bei. Allerdings vollzog sich dies alles auf einem eher dünnen Boden. Die Stabilisierung war bestenfalls oberflächlich. Von 148 149 150 151
Vgl. ebd., S. 22–26. Seger, in: Hannover/Hannover-Drück (1987): S. 150. Vgl. Lersch, in: Holl/Wette (1981): S. 175. Exemplarisch: Vgl. Kolb (2009/2010); Büttner (2008).
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einer Konsolidierung konnte objektiv nicht die Rede sein, weder politisch noch sozioökonomisch, wenngleich der außenpolitische Druck durch die Einleitung einer neuen Verständigungspolitik spürbar nachließ und die inneren Stürme der Republik ruhiger verliefen. Der Parlamentarismus und der Parteienstaat funktionierte einigermaßen so, wie sie 1919 im Rahmen der Reichsverfassung angedacht waren, ohne das parlamentarische Regierungssystem als krisenfeste Einrichtung etablieren zu können. Auch im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik konnte ein gewisses Konfliktpotenzial nicht beseitigt werden. Mit dem Verweis auf diese Defizite war nicht zwangsläufig das Scheitern der Demokratie verknüpft. Eine gesellschaftspolitische Determination auf den Ablauf der Ereignisse im Jahre 1932/33 verkennt rückblickend alternative Geschichtsverläufe, die durchaus denkbar gewesen wären. So machten Publizisten wie Olden auf die unübersehbaren strukturellen Defizite der Republik aufmerksam, die sich nach seiner Überzeugung negativ auf die Konsolidierung auswirkten und ihren Bestand künftig bedrohen würden. Entscheidend war, dass Olden von Wien aus nicht nur politisches und publizistisches Gespür für jene Faktoren entwickelte, die den demokratischen Bestand zu relativieren versuchten, sondern Mittel und Wege thematisierte, wie das System politisch und gesellschaftlich zu stärken wäre, um eine wirklich dauerhafte Konsolidierung zu erreichen.152 Eine nüchterne Erkenntnis stand am Anfang dieses Prozesses: Die Eliten des Militärs wie der Beamtenschaft lehnen Demokratie und Republik nach wie vor ab. Schon in der Nachbetrachtung des Kapp-Putsches wies Olden im April 1920 auf die kritische Einstellung der Reichswehr zum neuen Staat hin. Militante rechte Kreise versuchten einen Monat zuvor gewaltsam die Regierungsgewalt an sich zu reißen. Bereits im Juli 1919 hatten sich Wolfgang Kapp und Erich Ludendorff zum Ziel gesetzt, die Revolution rückgängig zu machen. Weitere Offiziere und Politiker sollten das Vorhaben unterstützen, was zu einem intensiven Kontakt mit General von Lüttwitz, dem Vater der Freikorps, führte. Die Bestimmungen des Versailler Vertrages zur Reduzierung der Truppenstärke auf 100.000 Mann wurde als Provokation empfunden. Diese Stimmung machten sich Kapp und Lüttwitz zunutze. Am 10. März forderte man letztmalig die Regierung auf, den Truppenabbau zu stoppen. Ebert und die gesamte Exekutive sollten mit ihrem Rücktritt den Weg für Reichstagsneuwahlen frei machen. Am Morgen des 13. März besetzten Truppen unter Führung von Lüttwitz das Berliner Regierungsviertel, um den Forderungen Nachdruck zu verleihen. Gleichzeitig wurde Kapp zum neuen Reichskanzler proklamiert. Der Streit innerhalb der Reichswehrführung, ob gegen die Putschisten mit Waffengewalt vorzugehen sei, endete ohne Entscheidung zugunsten der Regierung, woraufhin diese erst nach Dresden, dann nach Stuttgart flüchtete. Schließlich scheiterte der Putschversuch nicht deshalb, weil zahlreiche Reichswehrkommandeure ihre Unterstützung gegenüber Kapp und Lüttwitz verweigerten, sondern am Generalstreik der Gewerkschaften. Die Hoffnung darauf, dass die nach Berlin zurückgekehrte Reichsregierung rigoros gegen Personen im Militärapparat vorgehen würden, erfüllte sich nicht. Gustav Noske als Reichswehrminister musste sein Amt 152 Vgl. Kolb (2009): S. 74f.
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räumen. Obwohl General Hans von Seeckt die Reichswehr nicht zur Niederschlagung des Kapp-Lüttwitz-Putsches einsetzen wollte, wurde er neuer Chef der Heeresleitung. Schon damals wurde die Chance vertan, die demokratische Ordnung mit Hilfe einer erneuerten Armee zu stabilisieren.153 Obwohl Olden die Ereignisse Ende März 1920 selbst nicht kommentierte, erkannte er, welche Gefahr für die Republik davon ausging. Besonders die Rolle des Soldaten in der Armee der Republik müsse im Vergleich zu seiner kaiserlichen Kasernenerziehung neu gefasst werden. Seine politischen Ansichten gelte es zu verändern, um ihn für den Staat nutzbar zu machen. Vor 1914 galt seine Treue einzig und allein Wilhelm II. „Kaisertreue aber war die Voraussetzung, ohne die kein Regime im alten Deutschland über das Militär hätte verfügen können.“154 Insofern war der Soldat der Kaiserzeit per se nicht unpolitisch, wenn er den Eid auf den Kaiser als obersten Befehlshaber schwor. „Darin lag sein politisches Programm.“ Eine politische Gesinnung war quasi vorgeschrieben. Die Revolution von 1918/19 hätte die Aufgabe gehabt, die Lösung der politischen Fesslung des Soldaten in eine positive Interpretation seiner bürgerlichen Freiheits- und Bürgerrechte zu übersetzen, um ihn an das republikanische System ideell zu binden. Man sendete allerdings das falsche Signal aus, wenn man ihm eine gewisse Form der unpolitischen Haltung abverlange, sobald er seine neu gewonnene Freiheit nutzt, um sich deutschnational oder monarchistisch zu zeigen. Der diagnostizierte Zwang sich persönlich als Soldat scheiteln zu müssen, machte er der sozialdemokratischen Wehrpolitik seit der Revolution zum Vorwurf, denn die Lösung dieser Problematik könne am Ende nicht darin bestehen, dass der Reichswirtschaftsverband in einer Resolution seine Mitglieder auffordere „freiwillig auf ihr Wahlrecht zu verzichten, also der Revolution ihr großmütiges Geschenk zurück“ geben zu wollen. Gerade die bürgerkriegsähnlichen Zustände machten es nötig, dass der Soldat politisch sei. Nicht Partei zu nehmen, ist vielleicht für den abseits der Heerstraße hausenden Landwirt, für den Gelehrten möglich, nicht für den Beamten, noch weniger für den Soldaten. Er ist nichts anderes als der am besten gerüstete Parteimann. Will er seine politische Stellung nicht selber bestimmen, so muß er die Waffen niederlegen. Kann er sich ohne ihren Gebrauch, da er anderes nicht gelernt hat, nicht ernähren, so muß er verhungern.
Die Reichswehr dürfe unter dem Deckmantel des Unpolitischen nicht zu einem bedeutenden innenpolitischen Machtfaktor werden, der mit antirepublikanischen Kräften zusammenarbeitet. Unabdingbar schien Olden die Forderung nach einer Armee, die sich in den Dienst der Republik stellt. Der unpolitische Soldat war und ist unmöglich. Es heißt heute für jeden, für den Soldaten am meisten: Farbe bekennen. Daß dies mit Schießen verbunden ist, ist abscheulich. Aber im Bürgerkrieg ist es so. Die Tatsache feststellen, bedeutet nicht, sie billigen, sondern sie verwerfen. Die Schuld an ihr tragen die, die Gewalt als letzte Entscheidung zu verehren und uns Pazifisten zu verspotten die Welt gelehrt haben.
153 Vgl. ebd., S. 40f. 154 R.O. Militär und Politik, in: Der Neue Tag, 18.4.1920. Die folgenden Zitate ebd.
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Mit dieser Positionierung trat er eindeutig gegen die Vorstellungen von Seeckt an, der die Reichswehr zu einem Staat im Staate machen wollte. Weitestgehend von parlamentarischer Kontrolle frei, trachtete der General danach, den unpolitischen Charakter der Streitkräfte zu konservieren. Dies war Mittel zum Zweck, um die Forderung nach einer stärkeren Republikanisierung der Reichswehr als Versuch einer unzulässigen Politisierung ins Leere laufen zu lassen. Die unsichere Haltung und Stellung der Reichswehr galt Olden als Herausforderung für die innenpolitische Stabilität. Unter pazifistischen Gesichtspunkten war die Frage der Gewaltanwendung relevant, die er ausdrücklich nicht ablehnte. Solange reaktionäre Kräfte der Gewalt den Vorrang geben, solange dürfe der Pazifismus nicht passiv danebenstehen, so schwer es auch fallen möge. Rechte Kräfte zwingen den Pazifisten dazu, Gewaltanwendung im Sinne der Erhaltung der demokratischen Ordnung zu befürworten, was Olden als gezielte Diffamierungsstrategie zu erkennen glaubte. Es wird sich zeigen müssen, ob er mit dieser Haltung auf das Konzept einer wehrhaften Demokratie sowie eines Staatsbürgers in Uniform abzielte, die beide nach 1945 als Lehre aus Weimar in der Bundesrepublik als stabilisierende Faktoren erkannt und etabliert wurden. Festzuhalten bleibt an diesem Punkt, dass Olden als Pazifist nicht unisono die Anwendung von Gewalt als Mittel des politischen Kampfes abzulehnen schien, sondern sie in der praktischen Notwendigkeit der gesellschaftlichen Realitäten, zumal in den Anfangsjahren der Weimarer Republik, glaubte, begründen zu müssen. Das demokratische System müsse zu einer republikanischen Offensive gegen ihre Feinde bereit sein, um am Leben zu bleiben. Die Ermordung von Matthias Erzberger 1921 und von Walther Rathenau 1922 dürften diese Haltung verstärkt haben. Auch Demokraten und Pazifisten müssten ihre grundlegenden Werte entschieden verteidigen, gegebenenfalls mit Waffengewalt. Das Bild, welches sich bei Olden in Bezug auf die Reichswehr 1920 formiert hatte, wurde durch die Aktivitäten militanter Gruppierungen bis 1924 weiter verfestigt. Deren Agitation gegen die Republik werde unvermindert fortgesetzt und blieb eine Herausforderung für die Zukunft. Olden stützte seine Positionen auf einen Mann, der mit seinen Schriften eine besondere Wirkung auf ihn ausüben sollte. Die Rede ist erneut von Emil Julius Gumbel, denn „er ist der Historiker der deutschen Reaktion. Keiner ihrer Anhänger könnte mit so viel Fleiß und Eifer, man könnte fast sagen, mit so viel Liebe, die deutsche nationalistische Bewegung schildern, wie es dieser Feind der Reaktion tut.“155 Wer war dieser Gumbel, auf den Olden als intellektuellen Bezugspunkt so großen Wert legte und ihm die Dimension republikfeindlicher Kräfte offenbarte? 1891 in München als Sohn eines jüdischen Bankiers geboren, war er dem deutschen Großbürgertum verhaftet. Nach einem Studium der Mathematik und Nationalökonomie meldete er sich 1914 als Kriegsfreiwilliger. Wegen einer Krankheit wurde Gumbel 1915 beurlaubt. Fortan versah er seinen Militärdienst in der Verwaltung. Im gleichen Jahr fand er den Weg zum BNV. Anders als Olden versuchte Gumbel parteipolitisch heimisch zu werden, was ihn 1917 in die USPD trieb und später mit deren rechten Flügel wieder zurück zur Sozialdemokratie brachte. 1928 155 R.O. Verschwörer, in: Der Tag, 20.4.1924.
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trat er aus Protest gegen die unklare Haltung der SPD zum Panzerkreuzerbau aus der Partei aus. Erst 1931 wurde die Sozialistische Arbeiterpartei seine endgültige politische Heimat in der Weimarer Republik. „Gumbel war kein typischer Organisierter; eher gehörte er zu der parteiungebundenen, kritischen, linksliberal bis radikaldemokratisch und undogmatisch-sozialistisch orientierten Intellektuellengruppe.“156 Der entscheidende Fehler der Revolution sei gewesen, das Militär in seinen Prinzipien unangetastet gelassen zu haben, was er hauptsächlich der Sozialdemokratie zur Last legte. Hier sei eine entscheidende Chance für das Wohl und Wehe der Republik verpasst worden. Der Respekt gegenüber der Offizierskaste von Seiten der neuen Machthaber war ihm zu groß und ein tragischer Fehler, der seine Ausprägung in der Entstehung bewaffneter nationalistischer Geheimorganisationen fand. Den größten Erfolg hatten seine Schriften in den frühen zwanziger Jahren im Umfeld der Nie-Wieder-Krieg-Bewegung. In diesen Zeitraum (1924) fällt die Vorstellung seines neuen Buches unter dem Titel Verschwörer. Beiträge zur Geschichte und Soziologie der deutschen nationalistischen Geheimbünde seit 1918, dem Olden einen ausführlichen Bericht widmete. Diese Schrift war Gumbels erstes analytisch-zusammenfassendes Buch über die nationalistischen Organisationen. Er zählt allein an einer Stelle nicht weniger als 98 völkische Vereine, Bünde und Verbände auf. Aber diese 98 erschöpfen keineswegs die Zahl der nationalen Vereinigungen, von denen er berichtet, geschweige denn derer, die existieren. Es sind unter ihnen sicher viele kleine, aber auch viele, die tausende und mehr Mitglieder zählen. Vom Kapp-Putsch über die Morde an Erzberger und Rathenau, über Ehrhardt, Roßbach bis zum Hitler-Prozess ist alles Bekannte, vieles Neue in diesem Band vereinigt. Überzeugend beweist dieses ausgezeichnete Buch, daß das Verschwörertum, obwohl vielfach gespalten und uneinig, doch sehr stark in Deutschland ist.157
In richtiger Einschätzung seiner Brisanz brachte die DLM das Buch mit großem organisatorischem Aufwand auf den Markt. Sie sendete es an sämtliche Abgeordnete des Reichstages, was heftige Reaktionen auslöste. Die Kritik zielte vor allem darauf, dass mit den Veröffentlichungen besonders in der Abrüstungsfrage, Frankreich entscheidende Argumente geliefert werde, obwohl der Autor sein Werk nur auf öffentlich zugänglichen Berichten stützte. Schließlich wurde gegen Gumbel von der Universität Heidelberg ein Disziplinarverfahren eingeleitet und er vom Lehrund Forschungsbetrieb suspendiert. Stein des Anstoßes war nicht nur die präzise und schonungslose Aufdeckung verschiedenster Organisationen und Programme, bei denen er Namen und Adressen nannte, sondern hauptsächlich die Tatsache, dass er es wagte, brisante Querverbindungen zur Reichswehr offen zu legen. Die exakten Angaben zur sogenannten Schwarzen Reichswehr machte ihn selbst zum Ziel mehrerer Landesverratsprozesse, deckte er auf, dass die durch den Versailler Vertrag in ihrer Truppenstärke begrenzte Reichswehr, rasch zu einem größeren Heer ausgebaut werden kann. Ein überdimensioniertes Offizierskorps, viele Reserveoffiziere und die Struktur der Reichswehr sprächen dafür. Hinzu kamen die militärisch gut 156 Wolgast (1992): S. 2. 157 R.O. Verschwörer, in: Der Tag, 20.04.1924.
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ausgebildeten Paramilitärs. Diese Masse an bewaffneten und einsatzbereiten Mannschaften bedrohten nicht nur den außen-, sondern auch den innenpolitischen Frieden, da ihre Zielsetzungen eindeutig antirepublikanisch waren. Durch das Bündnis der sozialdemokratischen Regierung mit den Monarchisten hätten die Farblosen und die entschiedenen Gegner der Republik wieder die Macht gewonnen. Die Reichswehr und die gesamte Verwaltung sei von Republikanern gesäubert und ausgesprochen republikfeindlich eingestellt. Nur oberflächlich gesprochen ist Deutschland eine demokratische Republik; tatsächlich herrschen die alten militärischen Kräfte.158
Diesem Urteil folgte Olden nur teilweise. In erster Linie habe der Versailler Vertrag mit seinen Bestimmungen die Entstehung solcher Organisationen quasi provoziert und ein Wiedererstarken des Militarismus bewirkt, der den Keim für künftige Kriege in sich barg. Der Friedensvertrag hat Deutschland eine ungewohnte neue Wehrverfassung aufgezwungen. In dem neuen kaiserlichen Deutschland war nun einmal das Heer der Stolz eines großen Teiles des Volkes, war das Reserveoffiziertum die höchste gesellschaftliche Instanz des Bürgertums. Da man Deutschland im Augenblick der Niederlage die Waffenübung verbot – ein unerhörter Vorgang für ein freies Volk – so will es die allgemeine Dienstpflicht um jeden Preis ersetzen. Alle diese Vereine stehen in irgend einem näheren oder fernen Zusammenhang mit militärischer Ausbildung. Der kommende Krieg, die Revanche, ist der Traum aller dieser Patrioten. Sie können ihn nicht anders vorbereiten, als durch illegale Organisation. 159
Im Sinne seines Bildungspostulates hätte es durch die Friedensbedingungen der Alliierten gar nicht die Zeit und den Raum gegeben, um eine republikanisch geläuterte Armee im Dienst der Demokratie aufzubauen, musste die geforderte Abrüstung als gezielte Provokation erscheinen. Die Sozialdemokratie beging zwar nach Ansicht Oldens den Fehler, die Struktur des alten Heeres nicht zu zerstören, allerdings verkenne es die außenpolitische Dimension. Olden schien es eingängig geworden zu sein, dass 1918/19 bei einer kompletten Zerschlagung der kaiserlichen Armee sofort ein bewaffneter Bürgerkrieg gedroht, der durch die Heftigkeit die Alliierten auf den Plan gerufen hätte. Eine Besetzung des Deutschen Reiches als Ganzes wäre die Folge gewesen. Nichtsdestotrotz stimmte Olden Gumbel in der Beschreibung des Bedrohungspotenzials für den inneren Frieden der Republik zu. Jedem bewussten Republikaner und Demokraten müsse sein Buch als Warnung für das Kommende gelten, sollte man in dieser Situation der scheinbaren politischen wie wirtschaftlichen Normalisierung untätig bleiben. Trotz Kapp- und Hitler-Putsch ist die Gefahr noch keineswegs beseitigt. Zwei mißlungene Ausbrüche haben den Herd der Konterrevolution noch nicht erkalten lassen. Prüft man das ausführliche Material, so überzeugt man sich, daß Deutschland noch eine große Erschütterung bevorsteht.
Für Olden war die Entstehung der Schwarzen Reichswehr Symbol für den gescheiterten Versuch einer Integration und Aussöhnung des militaristisch erzogenen Bürgertums aus der Kaiserzeit mit den Idealen der Republik und Ausdruck einer sy158 Gumbel, in: Jansen (1991): S. 62f; Vgl. Wolgast (1992): S. 1–7; Jansen (1991): S. 9–23. 159 R.O. Verschwörer, in: Der Tag, 20.4.1924. Folgendes Zitate ebd.
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stemischen Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Die anfängliche Hoffnung auf das Bürgertum als neue aufgeklärte politische Kraft und Stabilitätsanker für die Demokratie hatte er zu diesem Zeitpunkt wohl aufgegeben, setzte er die Arbeiterschaft als Träger der Republik dem Monarchisten als Träger des Kapitalismus gegenüber. Anders als in Österreich oder Großbritannien könne es nicht zu einem Ausgleich zwischen diesen beiden Ideologien kommen, da bestimmte Kreise des Bürgertums den Militarismus unterstützen würden. Betrachtet man die Geschichte der Schwarzen Reichswehr insgesamt, so war die Einschätzung einer nicht stattgefundenen Emanzipation vom alten System durchaus zutreffend. Nach Ende des Ersten Weltkrieges existierten ca. 120 Freikorps, ein Relikt der alten Armee. Zwar war die deutlich überwiegende Zahl der Soldaten froh und erleichtert, als der Krieg beendet war und sie zu ihren Familien zurückkehren konnten, aber ein Teil von ihnen schloss sich unverzüglich militärischen Formationen an. Besonders niedrige Dienstgrade fanden den Weg in die Freikorps. Die jüngere Generation der Frontsoldaten fand in diesen Verbänden eine neue Heimat. Sie stellten die Hauptträger der Schwarze Reichswehr. Das Fronterlebnis war die zentrale Schlüsselerfahrung. Der Krieg sozialisierte sie de facto. Mit ihrer Rückkehr sahen sie sich mit einer Welt konfrontiert, die einen radikalen Wandel durchlebt und nichts mehr mit dem Dasein zu tun hatte, das sie kannten. Niederlage und Revolution waren so gesehen ein Schock. Ihr Hass zielte auf diejenigen, die sie für die Zerstörung verantwortlich glaubten: Sozialdemokraten, Pazifisten und Arbeiter- und Soldatenräte. Der innere Feind habe die Sicherheit des Kaiserreichs zersetzt und einen erfolgreichen Krieg verhindert. Auch im Frieden ließ die Männer ihre Erfahrung des Schützengrabens nicht los. Sie waren es gewohnt, in militärischen Mustern und Kategorien zu denken und zu handeln. Der Sprung ins Zivilleben fiel äußerst schwer. Kaum Chancen darauf, in die wesentlich kleinere Reichswehr übernommen zu werden, standen sie plötzlich ohne Ausbildung und Beruf da. „In ihnen wurde der Geist der Front in die Heimat übertragen, mit dem viele auch den Staat erneuern wollten, ohne dass von einem klar umrissenen Programm gesprochen werden konnte.“160 So war der Kapp-Putsch Ausdruck jener Gesinnung und der erste gezielte Versuch von rechtsradikaler Seite, die politische Ordnung gewaltsam zu stürzen. Zur Initialzündung für weitere Aktivitäten wurde die Ruhrbesetzung. Sie war es, die den passiven Widerstand in aktive Sabotage ummünzte, um eine Art Guerilla-Krieg gegen die französischen Besatzer zu führen. Als Polen seine Gebietsforderungen in Oberschlesien militärischen Nachdruck verlieh, hielt die Führung der Reichswehr es für nötig, dieser Bedrohung aktiv zu begegnen. Die Zeit schien günstig, die Einschränkungen des Versailler Vertrags mittels der Schwarzen Reichswehr einseitig aufzuweichen: Überplanmäßige Zeitfreiwillige wurden eingestellt und getarnt als Arbeitskommandos in den Kasernen des Reiches stationiert. Die Wehrkreiskommandos fungierten als Verbindungsglied zwischen der Reichswehr selbst und den illegalen Einheiten. Bis zum Sommer 1923 entstanden neben der legalen Reichswehr
160 Sauer (2004): S. 27.
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noch eine mobile Reservearmee von geschätzt bis zu 20.000 Mann.161 Diese ganze Entwicklung wahrnehmend, mündete bei Olden in ein Zwischenfazit unter folgender Fragestellung: „Sind die Deutschen“, man möchte fast hoffnungsvoll ergänzen, endlich „Republikaner“162 geworden? Könne man wenigstens für eine Mehrheit der Bevölkerung von einer geglückten (Um-) Erziehung zu Demokratie und Republik sprechen? Mit Blick auf die Ereignisse von 1918/19 stellte Olden ernüchternd fest: „Die deutsche Revolution war nicht das Resultat nationalen Aufschwungs, sondern der nationalen Erschöpfung.“ Er empfand dies offenbar als Makel, dass die Republik nicht von einer breiten Masse des Volkes erkämpft worden war. Gleichwohl konstatierte er, dass die Deutschen durchaus bereit waren, das alliierte Geschenk anzunehmen. „Als ihnen die neue Staatsform geschenkt ward, haben sie deutlich erklärt, dieses Geschenk nicht wieder fahren lassen zu wollen. Nachher hat doch die weit überwiegende Majorität der Nationalversammlung für die Republik entschieden.“ Schon zu Zeiten des Kaiserreiches hätte es eine nicht geringe Zahl an Wählern und Abgeordneten gegeben, die sich ein parlamentarisches System erträumten, „hätten sie auch vorher eine langsame Entwicklung, eine Evolution zur Demokratie hin bevorzugt, so wollten sie doch nachher bestimmt keinen Rückschritt zu einer überwundenen, niedrigeren Staatsform hin tun.“ Womöglich spielte Olden auf seine eigene Situation nach Kriegsende an. Wichtiger hingegen sei die Feststellung, dass nahezu die Hälfte der Bevölkerung bereits in der Monarchie republikanisch gesonnen war und dieser Bestand ausreichend sein müsste, um den anderen Teil zur demokratischen Grundordnung zu bekehren. Die Voraussetzung seien, trotz des von außen erfolgten Zwanges der Alliierten, günstig gewesen. Parallel gelte es eine Verschiebung der politischen Kampflinie festzustellen. Der Monarchismus als Antipode zum Republikanismus wurde vom Nationalismus verdrängt. Auch wenn sich die nationalistischen Bewegungen mit Vertretern und Symbolfiguren des Monarchismus schmückten, waren sie nach Auffassung Oldens nicht mehr „als ein Parasit des Nationalismus.“ Dies dürfte vor allem auf Ludendorff und seine Rolle während des Münchner Putsches gemünzt worden sein. Er brachte eine gewisse Art des Verständnisses für die Jugend auf, wenn sie sich solchen Bewegungen anschloss. Man könne es im Angesicht der Ereignisse um 1918 durchaus nachvollziehen, wenn selbst Bürger und Arbeiter den einfachen Parolen der Nationalisten folgten. Vier Jahre Krieg und dann diese Niederlage, eine unaufhörliche Reihe von Siegen und dann ein Friedensvertrag, der die Nation auf das schwerste demütigen mußte. Was anders sollte unter solchen Geschehnissen die deutsche Jugend werden, als nationalistisch, chauvinistisch, kriegerisch, revanchelustig?
Die Lebenschance der neuen Staatsform sei also durch den Versailler Vertrag erheblich eingeschränkt gewesen, obwohl die Mehrheit der Deutschen den Weg in Richtung Republikanismus eingeschlagen hatte. Die Friedensbedingungen verschoben quasi den Schwerpunkt des politischen Diskurses zugunsten nationa161 Vgl. ebd., S. 23–28 bzw. S. 45–51. 162 R.O. Sind die Deutschen Republikaner?, in: Der Tag, 13.7.1924. Die folgenden Zitate ebd.
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listischer Kräfte, eine überzeugende positive Gegenerzählung für Demokratie und Republik fehlte und der Zug fuhr eindeutig nach rechts. Nach Jahren des gewaltsamen politischen Kampfes setzte sich Olden erneut dafür ein, den Bürger mit großer Überzeugungsarbeit friedlich für die Republik zurückzugewinnen. Dem vermeintlichen Geschenk der Alliierten müsse innere Tiefe und Verbundenheit gegeben werden. Dies gelte es rasch nachzuholen. Erste erfolgreiche Schritt sah Olden bereits: Der 11. August, der Tag der Verfassungsannahme, wird festlich begangen werden; Republikanische Deutsche Tage werden schon jetzt da und dort gefeiert, und es sollen ihrer noch mehrere folgen; schließlich ist vor allem der Bund Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold gegründet worden. Kurz, die Republik hat eingesehen, daß es nicht genügt, auf dem Papier der Verfassungsurkunde zu stehen, sie will sich auch in den Geistern ausbreiten. Niemals kann sie ja sicher sein und feststehen, als wenn sie in den Menschen lebt.
Olden schien die Institutionen gefunden zu haben, auf denen er seine Hoffnungen für eine Umerziehung der Deutschen projizieren konnte. Wenn es schon nicht gelang, das Militär und seine Vertreter zu überzeugten Hütern der Verfassung zu machen, so gelte dies mit dem deutschen Volk weiter zu versuchen. Vor allem die Sozialdemokratie müsse Motor dieser Entwicklung sein. Der deutsche Arbeiter habe die Pflicht, die Republik zu sichern und zu verteidigen. Das Heil für eine friedliche Zukunft im Inneren läge nicht in einer kommunistischen Weltrevolution und einer Diktatur des Proletariats, sondern in einer aktiven Beteiligung der Sozialdemokratie an Staat und Gesellschaft, die zu einem entscheidenden Integrationsfaktor werde, gerade mit Blick auf die junge Generation. In der Rückschau zum Verfassungstag wiederholte Olden diese Aufforderung eindringlich, hätten sich die reaktionären Kräfte längst vom Schock der Niederlage erholt, während die eigentlichen Verteidiger der politischen Ordnung nur langsam begännen, ihre unheimliche Passivität abzulegen. „Die Republikaner haben fünf Jahre lang geschlafen. Aber sie sind, scheint es, erwacht. Sie verstanden, was die Republik für sie bedeutet.“163 Arbeiterschaft und demokratisch gesinntes Bürgertum seien die tragenden Säulen Weimars, die im Angesicht der drohenden Gefahr von rechts zueinander finden müssten. Kompromissfähigkeit sei die gefragte Tugend. Die Rolle von Verfassungssymbolen, wie die schwarz-rot-goldene Fahne, dürfe man nicht unterschätzen, sollen sie aktive Verbundenheit zur Staatsform stiften. Die Gründung des überparteilichen Wehrverbandes Reichsbanner und die Einführung des Verfassungstages am 11. August wurden von Olden ausdrücklich begrüßt und gewürdigt, böten sie die Möglichkeit einer verstärkten Identifizierung der Bevölkerung mit dem Staat. Die Realität sah anders aus: Im Mai 1924 demonstrierte das Ergebnis der Reichstagswahl, in welchem Ausmaß die schweren politischen und wirtschaftlichen Verwerfungen des Jahres 1923 nachwirkten. Alle Parteien, die zuvor an der Regierung beteiligt waren, mussten herbe Verluste einstecken. Die rechten und linken Extreme konnten erhebliche Zugewinne verbuchen. Eine regierungsfähige Mehrheit zu bilden, war schwieriger geworden. Zu groß erschien die Schwächung 163 R.O. Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, in: Der Tag, 12.8.1924.
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einer parteipolitischen Mitte, die den Staat bislang trug. Ohne die Deutschnationalen war es nicht möglich, eine Koalition zu bilden. Hauptsächlich die DVP war bemüht, eine Regierung unter Beteiligung der DNVP zustande zu bringen. Ausschlaggebend sollte deren Haltung zum Dawes-Plan sein, dessen Beratung im Reichstag zu dem innen- und außenpolitischen Kernthema des Sommers 1924 wurde. Im Wahlkampf hatte sie ihn vehement bekämpft. Die Sozialdemokratie verfiel unter dem Eindruck der Wahlniederlage in völlige Passivität und beteiligte sich nicht an den Bestrebungen der Regierungsbildung. Auf die Gefahr einer Berufung von DNVP-Ministern in das Reichskabinett machte Olden Ende August 1924 entschieden aufmerksam. Mit einem Kommentar versuchte er die wahren Drahtzieher hinter den deutschnationalen Bemühungen aufzudecken. Hauptsächlich seien es die konservativen Kräfte, die der alten Preußenherrlichkeit hinterher trauern. Das adlige Junkertum habe vorläufig zu neuer Stärke zurückgefunden. Ihre politischen Ziele seien nach wie vor die gleichen und hätten sich durch Revolution und Demokratie nicht geändert. Man schreit fleißig gegen die Dawes-Gesetze. Aber man stimmt für sie, wenn einem ein Sitz in der Reichsregierung geboten wird. Man verlangt den Reichskanzlerposten. Aber man meint das preußische Ministerium des Inneren. Hat man erst wieder die Provinzverwaltungen, und hat man auch die Polizei erst, und hat man vor allem die Landratsämter, kurz ist erst in Preußen wieder die Autorität, die von dem wiederauferstandenen Gott der Kreuzzeitung gewollte Obrigkeit entstanden, dann wird man auch mit dem Rest fertig. Und dann läßt sich auch weitersehen, was mit dem verhaßten allgemeinen Wahlrecht geschehen kann. 164
Der Kurs der DVP unter Stresemann mit Blick auf den Bürgerblock müsse unter allen Umständen verhindert und der Reichstag aufgelöst werden. Da man dies nicht tat, habe die Republik eine große Gelegenheit versäumt. DDP und Zentrum lehnten ein Zusammengehen mit der DNVP ab, was bedeutete, dass eine Neubildung der Regierung unter deren Einbeziehung ausblieb. Wie von Olden erhofft, löste man den Reichstag auf und setzte für den 7. Dezember 1924 Neuwahlen an.165 Von dieser Wahl müsse eine europäische Signalwirkung ausgehen. Die Geschichte Europas hänge von deren Ausgang ab. Ein Sieg der nationalistischen Kräfte hätte Auswirkungen auf die französische Politik, die sich gerade bemühe, einen europäischen Verständigungskurs einzuleiten. Zwar sei die Weimarer Republik gegenwärtig nicht in der Lage, einen erneuten Krieg mit Frankreich zu führen, allerdings befürchtete Olden, dass ein Sieg der Nationalisten auf der anderen Seite zur Radikalisierung beitragen werde. Der Friede in Europa könne nur gewahrt werden, wenn am Rhein die Waffen weiter schwiegen. Es läge in der Hand des deutschen Wählers, ob das Schweigen anhalte. An Frankreich aber ist Deutschland mit unlöslichen Ketten geschmiedet. Nur Verderben oder Brüderlichkeit kann es rechts und links vom Rhein geben. Man mag die erhoffte zukünftige Konstruktion auch Pan-Europa oder Vereinigte Staaten von Europa oder wie immer nennen. Immer wird am Rhein über Glück und Unglück des Erdteils entschieden. 166 164 R.O. Die Deutschnationalen, in: Der Tag, 31.8.1924. 165 Vgl. Kolb (2009): S. 80f. 166 R.O. Die Reichstagswahlen, in: Der Tag, 7.12.1924. Die folgenden Zitate ebd.
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Diese Wahl stelle die Weichen, in welche Richtung der Zug Europa künftig fahre. Olden rief sie zur Schicksalswahl aus, sowohl außen- als auch innenpolitisch. „Schwarz-Rot-Gold gegen Schwarz-Weiß-Rot, Republik gegen Monarchie, Europa gegen die unmoralische zerstörerische Gemeinschaft der Junker und Rüstungslieferanten. Heute muß der Sieg gelingen!“ Es dürfe nicht wiederholt werden, was acht Monate zuvor geschah. Die SPD brauche endlich den befreienden Schlag. Richtige Signale seien gesetzt, da die Parteien der Weimarer Koalition gemeinsam mit dem Reichsbanner die Wahlauseinandersetzung suchten, um eine breite Mehrheit der Wähler zu gewinnen. Im Falle eins anderen Ergebnisses könnten die Folgen für Deutschland und Europa verhängnisvoll sein. Wenn die Wähler die Ausschaltung der Deutschen Volkspartei nicht möglich machen, so wird der europäische Fortschritt wieder ein paar Jahre hindurch zweifelhaft sein. Der Zug nach Rechts muß vorbei sein, wenn nicht Europa in ein neues Chaos von Blut und Hunger versinken soll.
Nur in einem vereinten Europa mit Deutschland und Frankreich an der Spitze liege die Chance auf die Verhinderung künftiger Kriege. Trotz Stimmengewinne für die Sozialdemokratie und massiven Verlusten für die politischen Extreme erfüllt sich Oldens Hoffnung nicht. Die Schlüsselrolle lag bei der DVP. Rechnerisch gesehen gab es zwei Möglichkeiten für die Mehrheitsbildung: Große Koalition von SPD bis DVP oder Bürgerblock von Zentrum bis DNVP. Noch am Wahlabend favorisierte Stresemann einseitig die Bildung einer rechtsbürgerlichen Koalition. Im Januar 1925 nahm die Regierung Luther aus Zentrum, BVP, DVP und DNVP ihre Arbeit auf.167 Verlierer dieser Wahl sei der Parlamentarismus, der ernstlicher Existenzgefahr ausgesetzt sei. Für die innere Entwicklung des Landes bedeute es weit Schlimmeres als der Kapp oder Hitler-Putsch. Das Kabinett Luther ist doch nichts anderes als eine Fortsetzung der Krise. Dieser Krise, die jetzt fünf Monate dauert und deren Ende einfach nicht abzusehen ist. Es wäre ganz falsch, die ernste Gefährdung nicht zugeben zu wollen, die die parlamentarische Demokratie in Deutschland durch das Versagen der politischen Organisationen erleidet. Diese Gefährdung von innen heraus ist vielleicht bedrohlicher, als es die Angriffe der Diktaturanhänger gewesen sind. Der Parlamentarismus an sich wird diskreditiert, unterhöhlt, verliert an Glauben im Volk.168
Es genüge nicht, wenn ein Regierungssystem nur der Idee nach besteht und existiert. Sie müsse gelebt werden und selbst in der Stunde der Not ihre Bewährungsprobe bestehen, um im Volk Wurzeln zu schlagen. Dies sei seit 1919 nicht gelungen. Es brauche starke Befürworter des Systems, die durch Taten zu überzeugen wissen. Ja, die Hoffnung darf nicht aufgegeben werden, daß das deutsche Volk politisch wächst und mit der Zeit seine Rechte besser zu gebrauchen lernt. Aber diese Hoffnung darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß der jetzige Zustand unhaltbar ist. Kein stärkeres Lüftchen von außen darf wehen, sonst ist keine Kraft da, die ihn aufrechterhalten könnte.
167 Vgl. Kolb (2009): S.82. 168 R.O. Das Reichskabinett ernannt – Die Krise dauert weiter, in: Der Tag, 18.1.1925. Folgendes Zitat ebd.
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Oldens pessimistische Zukunftsperspektive verdunkelte sich weiter, als der einzige Mann starb, der für ihn wie kein zweiter Symbol für die Republik in dieser schicksalsschweren Stunde gewesen ist. Die Rede ist von Friedrich Ebert: „In ihm war die Hoffnung verkörpert auf die Vereinigung aller Deutschen in einem Staat; in ihm war zum erstenmal der deutsche nationale Wille personifiziert.“169 Eberts Aufstieg stand für „die Erlösung von der Schande des Halbabsolutismus, von der Lächerlichkeit der anderthalb Dutzend Dynastien, von der Schmach der Bevormundung durch die Junker- und Offizierskaste.“ Das Vakuum, was er hinterlasse, gebe diesen Kräfte mangels geeigneter Nachfolger und stabiler politischer Verhältnisse die Chance, wieder an die Schalthebel der Macht zu gelangen. Die Wahl des neuen Reichspräsidenten bestätigte Oldens schlimmste Befürchtungen. Ende März 1925 traten im ersten Wahlgang insgesamt sieben Kandidaten an. Keinem gelang es, die absolute Mehrheit zu erzielen. Die Parteien der Weimarer Koalition kritisierte er scharf, da sie den Wählern gleich drei Kandidaten präsentierten. Sie konnten sich nicht auf den aussichtsreichsten Kandidaten Wilhelm Marx einigen. Welche Unsumme an Eifer, Mühe, Arbeit, Begeisterung und Wahlgeldern muß durch diese schmähliche Entschlußlosigkeit verschleudert worden sein. Wären sie gemeinsam vorgegangen, hätten sie schon im ersten Wahlgang die Gegner werfen können. Zum mindesten aber hätte schon nach der Hauptwahl ihr sicherer Sieg für die Stichwahl festgestanden. 170
Als Ende April 1925 der zweite Wahlgang anstand, forderte Olden ein eindeutiges Bekenntnis aller demokratischen Kräfte für Marx, die ihn tatsächlich als Gesamtkandidaten unterstützten. Alarmiert durch diese Entscheidung, suchte die politische Rechte einen Kandidaten von noch höherer Popularität und fand ihn in der Person des Generalfeldmarschalls von Hindenburg, dessen Mythos als Sieger von Tannenberg ungebrochen war. Innerhalb weniger Monate wurde die Wahl zum Reichspräsidenten in Oldens Wahrnehmung erneut eine Schicksalswahl. Die Aufstellung des Kandidaten Hindenburg sei ein „furchtbares Vabanque-Spiel, denn nach sieben Jahren Republik, jauchzt halb Deutschland wieder der Uniform zu. Demokratie wäre keinen Pfifferling wert, wenn sie, wie es heute geschieht, das Volk verleitete, für einen schlimmen Instinkt seine Zukunft preiszugeben.“171 Die Revolution und die Parteien der Mitte hätten es nicht vermocht, die fatale Neigung der Deutschen, ihr politisches Schicksal in die Hände von Junkern und Militärs zu legen, zu brechen. Aus reiner Machtgier bedienten sich die Rechten dieses Mechanismus. Kühl kalkulierend setze man gegen Marx auf diesen Kandidaten, weil man um die deutsche Eigenheit wusste. Oldens Hoffnung auf eine Umerziehung des deutschen Volkes hatte sich endgültig in Luft aufgelöst. Die Armee zur Speerspitze der Republik zu machen, war gescheitert. Nun nehme es seine exponierte Stellung als aktiver politischer Akteur ein, um im Verbund mit den neuen Nationalisten die Demokratie auf scheinbar legalem Wege über die Wahlurne zu beseitigen. Der Militarismus stehe in neuer Bl169 R.O. Ebert gestorben, in: Der Tag, 1.3.1925. Folgendes Zitat ebd. 170 R.O. Der deutschen Zwietracht, in: Der Tag, 5.4.1925. 171 R.O. Furchtbares Vabanque-Spiel, in: Der Tag, 26.4.1925. Die folgenden Zitate ebd.
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üte. Hindenburg sei auch als Individuum und nicht nur als Vertreter des Junkertums ungeeignet für das höchste Amt im Staat. Nicht die Vergangenheit und seine Stellung im Kaiserreich sei es, von der die Gefahr ausgehe. Reaktionäre Kreise nutzten ihn lediglich als prominentes Aushängeschild und Marionette. Im Hintergrund zögen andere die Fäden. Wird Hindenburg gewählt, so ist die Clique wieder hoch oben. Keinen weniger komplizierten Kandidaten konnte sie finden. Er ist alt und schwer beweglich, und wäre er auch jünger, seine politische Unerfahrenheit würde ihm unmöglich machen, Phrase von Wahrheit, Schlagwort von Politik zu unterscheiden.
Ein Sieg Hindenburgs wäre so „eine Abkehr von Europa und die furchtbarste Demütigung für das unglückliche deutsche Volk.“ Auch nach dieser Wahl trat genau das ein, was Olden mit seinen Artikeln publizistisch zu verhindern gesucht hatte. Mit einer knappen Mehrheit siegte Hindenburg im zweiten Wahlgang gegen Marx und wurde am 26. April 1925 zum Reichspräsidenten gewählt. Er war gewillt, anders als befürchtet, sein Amt loyal zur Verfassung auszuüben, was eine große Enttäuschung bei denjenigen hervorrief, die mit seiner Wahl eine gezielte Umgestaltung der Republik erhofften. Plötzlich lobten Politiker und Publizisten den Generalfeldmarschall für seine Haltung, die ihn zuvor bekämpften und vor ihm gewarnt hatten.172 Erstaunt registrierte auch Olden das neue Stimmungsbild. Dieser positiven Kehrtwende gegenüber blieb er skeptisch und kritisch. Der Zeitpunkt sei unangebracht, um über die Amtsführung des neuen Präsidenten urteilen zu können. Ob und inwiefern er eine Gefahr für die Republik werden könnte, müssten die kommenden Jahre zeigen. Dies gegenwärtig zu tun, wäre verfrüht, da niemand in der Lage sei, die politische und wirtschaftliche Entwicklung vorauszusagen. Dauere die Phase der Stabilisierung an, muss seine Präsidentschaft nicht zwangsläufig in eine Beseitigung der Demokratie münden. Grundsätzlich verwies Olden aber auf die Machtfülle des Präsidentenamtes, die in schwer kalkulierbaren Händen läge. Gerade in Krisenzeit könne Hindenburg eine Belastung für die Zukunft der Republik sein. Wenn Deutschland in keine schwere soziale oder politische Krise gerät, so wird dieser Augenblick der inneren Gefahr nicht kommen. Wehe aber, wenn Hindenburg zu dem berüchtigten Artikel 48 der Verfassung seine Zuflucht nehmen, wenn er Reichswehr gegen rote Hundertschaften marschieren lassen oder zur Verteidigung irgend einer Reichsgrenze aufrufen muß. Diese Worte auszusprechen, bedeutet nicht etwa Mißtrauen in seine Aufrichtigkeit, sondern nur den Versuch, sich in die Seele eines alten Mannes zu versetzen, der so Verschiedenes erlebt hat.173
Man wisse nie, welche Akteure in seinem Umfeld, wie auf ihn einwirken, um seine Entscheidungen zu beeinflussen. So sehr manche Beobachter aus Hindenburg einen geläuterten Demokraten und Republikaner machen wollen, seine Präsidentschaft bliebe eine latente Gefahr für die außenpolitischen Beziehungen. „Das Mißtrauen des Auslandes aber ist nicht so leicht zu beschwichtigen, wie das der deutschen Republikaner.“ Es erscheint doch bemerkenswert, mit welchem Gespür Olden nach 172 Vgl. Kolb (2009): S. 84f. 173 R.O. Ist Hindenburg keine Gefahr?, in: Der Tag, 17.5.1925. Folgendes Zitat ebd.
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der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten in groben Zügen die Entwicklung der nächsten Jahre überblickte und sie richtig einzuordnen verstand. Gerade die politische Praxis der Präsidialkabinette ab 1930 basierte inflationär auf dem Gebrauch des Artikels 48 der Weimarer Reichsverfassung. Die Friedensbewegung in Weimar stand dem Gesamtkomplex der Reichswehr mit ihren Querverbindungen zu den paramilitärischen Verbänden und ihrer gesellschaftlichen Abschirmungsstrategie mit größter Aufmerksamkeit gegenüber. Man war durch zwei Faktoren herausgefordert: Einerseits durch den Charakter der Armee und andererseits durch ihre Führung. Wie würde sie und vor allem General von Seeckt im konkreten Fall eines politischen Umsturzes reagieren? Dies stellte die grundlegende Fragestellung dar, von der aus auch Olden die Rolle der Reichswehr kommentierte und einzuordnen versuchte. Er war als Beobachter und Kommentator von Wien aus durchaus Teil des Diskurses in Deutschland. Besonders die Vorgänge der illegalen Aufrüstung um die Schwarze Reichswehr blieb das beherrschende Thema. Einigkeit mit den Friedensfreunden im Reich zeigte Olden mit Blick auf die heimliche Rekrutierung neuer Mannschaften durch die Reichswehr aus einem hauptsächlich adlig-bürgerlichen bzw. bäuerlichen Milieu. Loyalität zur Republik stand bei der Auswahl gewiss nicht an erster Stelle. Das Heer zu einem Pfeiler der demokratisch-republikanischen Ordnung zu machen, war gänzlich unmöglich geworden. Dass dem SPD und DDP nichts entgegenzusetzen hatten und erst mit der Gründung des Reichsbanner einen Gegenangriff einleiteten, wurde allseits als Makel empfunden. Während es Olden vornehmlich um die gesellschaftliche Bedeutung dieser Entwicklung im Inneren ging, rückten die Weimarer Pazifisten verstärkt die außenpolitische Wirkung der illegalen deutschen Rüstung in den Vordergrund. Sie stellten dezidiert die Frage nach der Glaubwürdigkeit der offiziellen Außenpolitik. Wie aufrichtig die proklamierte Abrüstungspolitik im Lichte des Bekanntwerdens einer Schwarzen Reichswehr war, wurde massiv diskutiert. Ihre Kritik konterkarierte den Versuch einer konstruktiven Völkerbundpolitik. Der Kooperation zwischen Roter Armee und Reichswehr begegnete man mit größten Vorbehalten, während sie von Olden nicht thematisiert wurde. Der Eifer, die Machenschaften der Schwarzen Reichswehr aufzudecken und dadurch den Beweis zu liefern, dass der Militarismus zu neuer Stärke gelangt war, blieb bei ihm ungebrochen.174 Die innenpolitische Entwicklung determinierte für ihn maßgeblich die internationalen Beziehungen der Weimarer Republik. Die gesellschaftliche Stabilisierung müsse die höchste Priorität genießen. Den pazifistischen Organisationen mag man das Bemühen um den Ausbau und die Festigung der Demokratie nicht absprechen. Unter dem Eindruck des Küstriner Putsches, der als Gründungsbeleg der Schwarzen Reichswehr gilt, verlangte die DFG die Entwaffnung und Auflösung illegaler Reichswehrverbände. Die Republik müsse langfristig im Sinne eines pazifistischen Republikanismus ausgebaut werden, damit der innere und äußere Frieden erhalten bleibe. Dazu sei ein Zusammenschluss aller republikanischen Kräfte die wichtigste Voraussetzung. Die DFG erkannte, ähnlich wie Olden, dass eine prinzipielle Ableh174 Vgl. Holl (1988): S. 183–185.
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nung jeder Form der Gewaltanwendung, die Preisgabe der Republik selbst zur Folge haben müsse. Das Deutsche Friedenskartell (DFK) als pazifistischer Dachverband sprach sich ebenfalls für die Auflösung des Reichstages und die Abhaltung von Neuwahlen aus, um gegenüber der DNVP keine innenpolitischen Zugeständnisse machen zu müssen. Darin war Olden, wie belegt, mit der Friedensbewegung einig, wenngleich sie noch entscheidende Schritte in der Argumentation weiter ging. So müsse die Weimarer Koalition die Bürgschaft für die Ausführung des Dawes-Plans übernehmen sowie für einen deutschen Völkerbundbeitritt streiten. Diese konkrete Verknüpfung bleibt bei Olden unerwähnt. Welche Position er dazu einnahm, kann zunächst nicht beantwortet werden. Flugblätter der DFK belegen die ebenso bei Olden angelegte „Biopolarität: Der Wähler habe zwischen Reaktion und Fortschritt, Monarchie und Republik, Völkerverhetzung und Völkerverständigung, Krieg und Frieden zu entscheiden.“175 Die Reichstagswahl wurde so vereinfachend zum Kampf zwischen Gut und Böse verdichtet. Als dichotomes Stilmittel griff Olden dies auf, um seine Botschaft zu verdeutlichen. Es war mehrheitlich der gemäßigte Pazifismus, der 1924/25 begann, die Notwendigkeit eines republikanisch ausgerichteten Verbandes aus SPD, DDP und Zentrum zu fordern. Insofern war der Bezug Oldens auf das Reichsbanner folgerichtig. Einzig die DLV, die meistens in innenpolitischen Fragen Zurückhaltung walten ließ und die IFFF, deren feministische Positionen Vorrang hatten, bildeten eine Ausnahme. So war die Grundprämisse des Weimarer Pazifismus eindeutig: Er bedinge eine republikanisch-demokratische Gesinnung. Insofern war Olden in seinem Einsatz für eine Stärkung der errungenen Staatsordnung repräsentativ für die Friedensbewegung, unabhängig von partei- oder verbandspolitischer Zugehörigkeit. Dies erstreckte sich auch darauf, dass sowohl gemäßigte als auch radikale Pazifisten einig darüber waren, dass eine moralische Abrüstung notwendig sei. Das Motiv bzw. die Vorstellung, ein dauerhafter Frieden könne nur erreicht werden, wenn eine Abrüstung des Geistes erfolgt, zog sich wie ein roter Faden durch die Ideenwelt Oldens. Nur befürchtete er, dass solche Bemühungen angesichts der politischen Realität gescheitert waren. Womöglich erschienen ihm im Lichte dieser Entwicklung die Diskussionen zu konkreten pazifistischen Themenfeldern (Bekämpfung und Einschränkung der Rüstungsindustrie durch eine allgemeine materielle Abrüstung, Kriegsdienstverweigerung, Schaffung internationaler Schiedsgerichte, die allgemeine Wehrpflicht oder Abschaffung der Reichswehr) eher sekundär, solange nicht ein Umdenken in der Bevölkerung bzw. eine Loslösung von überkommenen Denkweisen stattgefunden hat. Die Umerziehung könne nicht beim Volk halt machen. Die Armee bedürfe derer umso dringender, damit sie als Schutzschild der Republik fungieren könne. Man gewinnt bei ihm den Eindruck, dass die Durchsetzung der Republikanisierung der Reichswehr symbolisch unabdingbar gewesen wäre, um tatsächlich eine Grundlage zu haben, auf der der Pazifismus als politische Kraft hätte wirken können. Dies sei an einem Beispiel kurz verdeutlicht. 175 Lütgemeier-Davin (1982): S. 140. Folgendes Zitat ebd., S. 164.
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In keinem seiner bisherigen Artikel äußerte er seine Position zur Abschaffung der Wehrpflicht, die von antimilitaristischer Seite her als der wertvollste Passus des Versailler Vertrages bezeichnet wurde. Der Antimilitarismus avancierte aber zu einem unbewussten Wegbereiter der Reichswehr, indem er durch seine postulierte Abstinenz des Militärischen den reaktionären Kräften allein alle Machtmittel des Staates ausliefert und in die Hand legte. Nicht die Existenz eines Berufsheeres an sich barg die Gefahr seiner Isolierung von der Gesellschaft in sich, sondern die soziale Rekrutierung der Reichswehr vereitelte ihre Integration in die Gesellschaft. Ihre Sozialstruktur stimmte mit der der Gesellschaft nicht überein. Die staatstragenden republikanischen Parteien waren in der Reichswehr fast überhaupt nicht repräsentiert, Monarchisten und rechte Nationalisten dominierten.
Insofern war es für Olden folgerichtig anzunehmen, dass mit dieser strukturieren Reichswehr alle Bestrebungen der Abrüstung reine Makulatur waren. Nicht umsonst forderte er massiv die Unterstützung des Reichsbanner nach dessen Gründung, weil er befürchtete, die Reichswehr und besonders die Mitglieder ihrer illegalen Formationen, endgültig für den republikanischen Staat verloren zu haben. Ihm war wahrscheinlich klar geworden, dass diese Entwicklung ein Versäumnis der Revolution und ihrer Vertreter gewesen war. Unentschlossenheit und Wankelmütigkeit kennzeichnete das Verhalten des Rates der Volksbeauftragten beim Aufbau einer republikanisch gesonnen Armee. Indem man glaubte, sich in dieser Phase einzig auf die kaiserlichen Offiziere verlassen zu müssen, war die Republikanisierung quasi gescheitert. Der Vorsatz blieb verbal. Über praktische Ansätze kam man nie hinaus. Teile der DFG und des BNV glaubten an die Schaffung einer solchen Organisation. Die Antimilitaristen um Kurt Hiller sahen die Möglichkeit einer erfolgreichen Integration nicht und forderten die Auflösung der Reichswehr, während Quidde und Gerlach befürchteten, durch so eine Entscheidung Gewalt und Feindseligkeit anzufachen. Dies galt wohl als der einzige Aspekt, indem die Gruppe um Hiller mit dem WLV übereinstimmte, da dieser ansonsten eher mit der DLM zusammenarbeitete. In diesem Punkt waren ideologische Kampflinien fließend, denn auch die Liga mahnte im November 1922, nicht vereinzelt Republikaner in die Dienste der Armee zu stellen, sondern Sorge zu tragen, dass sie grundsätzlich reformiert werde. Allerdings war diese Position Ende August 1925 innerhalb der Friedensbewegung nicht mehr mehrheitsfähig. Der WLV setzten sich durch. Zwar erkannte Olden das praktische Scheitern seiner Vorstellungen, ob er gleichzeitig auf die Linie einer Abschaffung der Reichswehr einschwenkte, war nicht zu belegen. Es zeigt aber das Dilemma, indem er sich Mitte der 20er Jahre befand. Wie kann ein Pazifismus, gleich welcher Spielart, aktiv auf die Politik und Gesellschaft einwirken, wenn wichtige Institutionen des Staates und sogar Teile der Bürgerschaft weiter reaktionär bzw. deutschnational eingestellt sind.176 Als Akteur sah er eindeutig das Reichsbanner gefordert, ohne aber konkret zu benennen, auf welche Art und Weise eine stärke Identifizierung der Bürger mit der Republik erreicht werden könne. Die Stärkung von Verfassungssymbolen oder die Abhaltung von Ver176 Vgl. Lütgemeier-Davin (1982): S. 139–169.
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fassungsfeiern wirkt rückblickend eher unbeholfen und wenig geeignet dem vorgegebenen Zweck zu dienen. Allerdings darf nicht vergessen, dass führende Verfassungsrechtler wie Gustav Radbruch nicht nur in repressiven Schutzmechanismen relevante Instrumente sahen. „Schon 1920 war er bei der Reichsschulkonferenz führend an der Abfassung von Leitsätzen zur staatsbürgerlichen Erziehung beteiligt und hatte damit kundgetan, welche Bedeutung er konstruktiven Bemühungen um die Sicherung der Republik beimaß.“177 Die Bildung eines staatlichen Gemeinschaftsbewusstseins sei die vordringliche Aufgabe. Gleichzeitig warb der sozialdemokratische Reichsinnenminister Adolf Köster 1922 für die Etablierung einer gemeinsamen republikanischen Tradition als elementarer Integrations- und Kristallisationspunkt durch Feiern, Hymnen und Symbole, drohte nach der Ermordung Rathenaus doch das Auseinanderbrechen der Republik. Die Bemühungen der Reichszentrale für Heimatdienst gingen in eine ähnliche Richtung, indem sie an Schulen eine breit angelegte Aufklärungsarbeit leistete, um für die neue Staatsform zu werben. Somit war Oldens Glauben an die Wirksamkeit des Reichsbanner und der staatstragenden Symbolik durchaus im Zeitgeist begründet. Rückschläge auf diesem Weg begannen seine Skepsis zu nähren. Man mag ihm vorwerfen, seine Konzentration auf den politischen Bildungsdiskurs und seiner Bedeutung für das friedliche Zusammenleben innerhalb Weimars sowie im europäischen Miteinander sei eine inhaltliche Verkürzung des pazifistischen Gesamtdiskurses, weil es wichtige Fragestellungen dieser Periode nicht zu behandeln schien oder ausblendete, allerdings verkennt es die beruflichen Umstände Oldens in dieser Periode. So war der Tag nicht das geeignete Medium, um eine dezidierte ideologische Debatte mit Blick auf den Pazifismus der Weimarer Friedensbewegung zu führen und zu allen relevanten Themen ausführlich Position zu beziehen. Zugleich betrachtete er die Geschehnisse lediglich von Wien aus und war nicht unmittelbar in die Vorstandsarbeit der DLM einbezogen. Dies bedeutete nicht, dass er die anderen Diskursstränge zwangsläufig nicht wahrnahm. Zum Sinnbild dessen, was Olden in dieser Phase zu Papier brachte, sollte eine Karikatur von Thomas Theodor Heine werden, die 1927 den Titel des Simplicissimus zierte. Darauf zu lesen: „Sie tragen die Buchstaben der Firma – aber wer trägt den Geist?“178 Noch auf einen weiteren politischen Bereich dehnte sich diese Diagnose aus. Während die Mitglieder der rechtswidrigen Einheiten kaum von der Strafverfolgung ernsthaft betroffen waren, wenn sie ihre Kameraden wegen vermeintlichen Verrats hinterrücks ermordeten, wurden die Pazifisten kriminalisiert. Die Aufdeckung der heimlichen Rüstung wurde mittels des Landesverratsparagraphen hart verfolgt. Man stellte diejenigen unter Strafe, die versuchten, die Machenschaften der Schwarzen Reichswehr anzuprangern. Im September 1923 holte die DLM mit Hilfe von Lehmann-Rußbüldt Erkundigungen über sie ein. Seine Artikel erschienen in verschiedenen Berliner Zeitungen, die daraufhin verboten worden. Selbst mit massiven Einschütterungsversuchen wurde gearbeitet, um weitere Veröffentlichungen zu verhindern, was nicht von Erfolg gekrönt war. So suchte die DLM die Unter177 Jasper (1963): S. 227. 178 Vgl. Simplicissimus Ausgabe vom 21.3.1927, 31. Jg., Nr. 51.
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stützung des Dachverbandes. Eine Anfrage an die Reichsregierung verdeutlichte, wie heikel diese Thematik in jenen Jahren war. Unter dem Hinweis, dass man gegenüber gesellschaftlichen Verbänden nicht verpflichtet sei, eine Auskunft zu geben, blieb die Anfrage unbeantwortet. Selbst die DLV stand in diesem Fall auf der Seite der Regierung. Das DFK trat in dieser Angelegenheit zunehmend auf der Stelle. Es verfügte zwar über authentisches Material, das zweifelsfrei die Existenz illegaler militärischer Formationen belegte, da aber die Reichsregierung nicht bereit war, dagegen einzuschreiten, blieb den Pazifisten als Ausweg nur die Flucht in die Öffentlichkeit, selbst auf die Gefahr hin, als Landesverräter bestraft zu werden. 179
Viele Medien schreckten davor zurück, da sie die Macht der Justiz fürchteten, genügten vage Andeutungen für die Einleitung eines Verfahrens bzw. gar ein Verbot des Blattes. Als Quidde am 10. März 1924 unter der Überschrift Die Gefahr der Stunde über die Schwarze Reichswehr berichtet, wurde er wenige Tage später inhaftiert. Mittels dieser Strategie wird man nicht an der Feststellung vorbeikommen, daß die intensive pazifistische Kritik an den Zuständen in der Reichswehr und den illegalen Organisationen, an Rüstungsmaßnahmen und Etatfälschungen in hohem Maße aufklärend gewirkt und die innen- und außenpolitische Problematik der Rechtsverletzung in das Bewußtsein der breiten Öffentlichkeit gehoben hat. Der Landesverrat wurde zum Berufsrisiko der pazifistischen Schriftsteller.180
Die deutsche Justiz setzte sich über bestehendes Recht hinweg, denn auch die Bestimmungen des Versailler Vertrages waren deutsches Reichsgesetz. Der Boden des Rechtsstaates wurde verlassen. Ihre politische Funktion wurde offenbart, da die meisten Prozesse unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden. Die Opposition des Pazifismus sollte mundtot gemacht werden, während die Dinge um die Schwarze Reichswehr bewusst verschleiert wurden. Die Fememorde durften nicht in großem Maßstab publik werden, damit niemand auf die Idee komme, das wahre Ausmaß der heimlichen Wiederaufrüstung zu enthüllen.181 Nicht nur im Militär, sondern auch in der Justiz scheiterte der Versuch, die alten Funktionseliten auszutauschen. Es stand nicht genügend Personal zur Verfügung. Der Wille, einen Wechsel herbeizuführen, war ebenfalls nur rudimentär vorhanden. Letztlich waren die alten Eliten nicht bereit, ihre Positionen zu räumen und nahmen eher eine starke politische Kampfhaltung gegen die Anhänger der Republik ein. „In der Weimarer Zeit maßte sich die Justiz den Standpunkt an, das politische und gesellschaftliche Leben von einer höheren Warte aus zu beurteilen, die in ihrer Wertehierarchie über dem Verfassungsrecht angesiedelt war.“182 Ihr Staatsverständnis ging davon aus, dass der militärische Machtstaat fortlebe. Der gegenwärtige Zustand wurde als Schwächephase dieser Ordnung interpretiert. Anders als vor 1914 artikulierte sich der Pazifismus der Zwischenkriegszeit durchaus lautstarker, worin 179 180 181 182
Lütgemeier-Davin (1982): S. 181. Scheer (1981): S. 492–493. Vgl. ebd., S. 473–493; Lütgemeier-Davin (1982): S. 174–181. Kramer/Wette, in: dies. (2004): S. 27.
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man eine Herausforderung für die eigene politische Ideenwelt sah. Er wurde als ernsthafte Bedrohung für den eigenen politischen Geltungs- und Gestaltungsdrang betrachtet. Man war nicht bereit, die Legitimität pazifistischer Forderungen anzuerkennen. Der innere Feind müsse bekämpft werden, eine Prämisse, die Olden nicht fern lag, wenngleich er auf der anderen Seite für eine wehrhafte Zivilgesellschaft eintrat und gegen die militarisierte Gesellschaft opponierte. „Bei uns ist das Richtertum der Monarchie als Ganzes in den neuen Staat hineingegangen...mit vollem Bewußtsein..., aber mit dem neuen Regime bekam der Richter nicht den neuen Geist“183 bekannte der Reichsgerichtspräsident Dr. Walter Simons äußert offen. Nach dem Verständnis Oldens müsse gelten: Der gute Mensch wächst als Richter weit über durchschnittliche menschliche Güte hinaus. Er wird, ohne daß das seiner Würde irgend etwas anhaben kann, menschlich nachsichtig. Er sieht sich einem Gequälten, Gepeinigten, Verwirrten gegenüber, über den zu urteilen er verurteilt ist; er muß die Schärfe des Gesetzes auf seine Tat anwenden, aber er kann ihm, solange noch kein Urteil geschöpft ist, die Illusion geben, daß die Gesellschaft nicht rachsüchtig, sondern menschlich-gütig sei. So ist der gute Richter. 184
Genau dieses Bild, diese Vorstellung werde zusehends durch die reale Praxis konterkariert, gerade und vor allem mit Blick auf die Rechtsprechung des Landesverrates gegen Pazifisten. Grundsätzlich war die Bekanntgabe offizieller militärischer Geheimnisse eine Straftat. Mit dem Versailler Vertrag und seiner Annahme änderte sich dies. Die Justiz wertete alles, was die Reichswehr betraf, sei es legal oder illegal, als Staatsgeheimnis. Veröffentlichungen darüber galten als Landesverrat, wie die Strafprozesse gegen Felix Fechenbach, Ludwig Quidde, Emil Julius Gumbel oder selbst Walter Bullerjahn zeigen. „Für das Reichsgericht genügt schon die Kenntnis antimilitaristischer Einstellung. Das ist Landesverrat“185 meinte Carl von Ossietzky. Bringt man dies in Verbindung mit den Urteilen der Fememordprozesse, so wird das Ausmaß deutlich, indem die Rechtsordnung in Auflösung begriffen war. Die Mitglieder der Organisation Consul, die mit der Ermordung von Erzberg und Rathenau in Verbindung gebracht wurden, erhielten, nachdem sie mutmaßliche Verräter in den eigenen Reihen ermordeten, nur eine Strafe, die auf Notwehr abzielte. Es wurde mit zweierlei Maß gemessen und bezeugte eine politische Doppelmoral des Reichsgerichts. Selbst als die Pazifisten persönlich Ziele von Anschlägen wurden, blieb die Justiz untätig, wie im Falle Gumbel.186 Noch sollte sich Olden mit diesen Prozessen im Bereich der Fememorde nicht dezidiert auseinandersetzen. Der Prozeß Ebert genügte ihm als Anschauungsmaterial, um die antidemokratische Gesinnung der Justiz weiter zu belegen. Im Dezember 1924 verhandelte ein Magdeburger Gericht die Klage des Reichspräsidenten gegen Erwin Rothardt. Als Redakteur der Mitteldeutschen Presse veröffentlichte dieser einen offenen Brief an Ebert, indem er als Landesverräter diffamiert wurde, weil er Anfang 1918 an einem Streik der Berliner Munitionsarbeiter beteiligt war. 183 184 185 186
Simons zitiert nach Müller, in: Kramer/Wette (2004): S. 144. R.O. Justitia fundamentum civitatis, in: Der Tag, 16.12.1923. Ossietzky, zitiert nach Müller, in: Kramer/Wette (2004): S. 149. Vgl. Müller, in: ebd., S. 143–157.
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In der Tat war Ebert der Streikleitung beigetreten, um ihn zu befrieden und zu beenden, was gelang. Die Rechte sah darin die passende Gelegenheit, ihm seine Vaterlandstreue im Krieg in Abrede zu stellen. Dagegen stellte er als Reichspräsident Strafanzeige. Der vorsitzende Richter Bewersdorff urteilte strafrechtlich, objektiv war die Beteiligung am Streik Landesverrat. Rothardt musste nicht wegen Verleumdung, sondern formal wegen Beleidigung eine dreimonatige Haftstrafe verbüßen. Eine Begründung, weshalb juristisch gesehen der Landesverrat bejaht und zugleich Rothardt verurteilt werden musste, gab das Gericht in seinem Urteil nicht. Selbst Kritiker dieses Richterspruches bekamen die Wucht des Systems zu spüren. Die Justiz war der Auffassung, daß Vertrauen in die Rechtspflege nicht erworben werden mußte, sondern daß Richter kraft ihres Amtes einen Anspruch hierauf hatten. Richterliches Urteilsvermögen wurde als gleichsam unfehlbar betrachtet und folglich war prinzipiell jede dies in Frage stellende Kritik bösartig.187
Das Entsetzen bei Olden war groß, kam es nicht mehr zur beantragten Berufung, da Ebert an den Folgen einer verschleppten Blinddarmentzündung am 28. Februar 1925 verstarb. Einmal mehr bewies ihm dieser Prozess, wer in der Gesellschaft im Hintergrund tatsächlich die Fäden zog, nämlich „Junkertum, Schwerindustrie, Generalität, hohe Bureaukratie; denn ist auch die Regierungsform demokratisch geworden, die Justiz ist darum erst recht reaktionär geblieben.“188 Sie haben das deutlichste Zeichen eines Komplottes der alten Kräfte gegen die junge Demokratie gesetzt. Gleichzeitig war es auch ein Beweis für das Versagen der Mehrheitssozialdemokratie, dem personifiziert Ebert zum Opfer fällt. Das Trauma der ideologischen Spaltung innerhalb der Arbeiterbewegung in Deutschland wird erneut zum Menetekel und zu einer Gefahr für die Demokratie. Hinzu trat nach Oldens Auffassung der Klassenaspekt. Dieser „verjunkerten Bürgerklasse“ sei es schon immer ein „unerträglicher Gedanke“ gewesen, „daß im demokratischen Gemeinwesen die Staatsmänner aus der Mitte des Volkes aufsteigen.“ Hatte er anfänglich die Hoffnung auf ein reformiertes Bürgertum, welches in der Lage sei, Träger des neuen Staates zu werden, ward sie Mitte der 1920er Jahre gänzlich zerstört. Nur die Sozialdemokratie könne ein Auseinanderbrechen Deutschlands verhindern. Ihr historischer Verdienst unter Ebert sei es, dass Deutschland nicht auseinandergebrochen sei. Vorbildhaft verkörpere er den Versuch einer demokratischen Vereinigung aller deutschen Stämme, die 1848 gescheitert war und deren Bildung durch die Republik 1919 dauerhaft Bestand gegeben werden sollte. „Deutsche Einheit als Vorbedingung europäischer Einigung“, das mache die politische Philosophie Eberts aus, so Olden. Dies entsprach seinen eigenen Vorstellungen. Nur ein friedliches, ohne politischen Revanchismus und Separatismus operierendes Deutschland vermag es, gemeinsam mit Frankreich, nach einem Prozess der Aussöhnung ein Europa guter Nachbarschaft zu entwickeln. Doch dazu brauche es den inneren Frieden der Weimarer Gesellschaft, den ewig Gestrige in Militär und Justiz mit Erfolg zu verhindern scheinen. Der Begriff des Antimilitarismus, in dessen Nähe Olden durchaus zu Beginn der 1920er Jahre stand, hatte 187 Schöningh (2000): S. 95. 188 R.O. Prozeß Ebert, in: Der Tag, 25.12.1924. Die folgenden Zitate ebd.
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sich in dieser Periode wesentlich gewandelt. Fortan verband man ihn stärker mit dem Gedanken der Kriegsdienstverweigerung und implizierte einen wehrverneinenden Pazifismus, dem Olden nicht bereit war, sich ohne weiteres anzuschließen. Besonders der radikale Flügel der Friedensbewegung vertrat künftig diesen Ansatz und wurde immer mehr zur bestimmenden Strömung, die ihren Höhepunkt Ende der 1920er Jahre innerhalb der Friedensbewegung erreichte.189 5.2.3 Ideeller Realismus: Die Vereinigten Staaten von Europa Die Weimarer Republik unter dem Außenminister und Vernunftrepublikaner Stresemann verfolgte eine nationale Außenpolitik. Dies war durchaus üblich, auch für andere europäische Staatenlenker dieser Zeit. Für Deutschland bedeutete dies die Verfolgung einer revisionistischen Politik, die durch die inneren Bedingungen der Republik determiniert war. Nationale Machtpolitik dürfe allerdings nicht eine Herausforderung für die Siegermächte des Ersten Weltkrieges darstellen, sondern müsse auf einen Ausgleich zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern abzielen. Das internationale System brauche eine neue Phase der Entspannung und Aussöhnung. Darin unterschied sich Stresemann von seinen Vorgängern. Nur im Rahmen eines langwierigen Prozesses aus Verhandlungen und Verständigungen sei dies zu erreichen. Besonders das deutsche Wirtschaftspotenzial konnte gezielt eingesetzt werden. Die Rückkehr Deutschlands in die Weltpolitik sollte über die Weltwirtschaft vorangetrieben werden. Gleichzeitig müsse man Frankreich signalisieren, dass sein Sicherheitsbedürfnis ernst genommen werde. Die deutsch-französische Zusammenarbeit ausdrücklich zu bejahen und zu intensivieren, bildete die entscheidende außenpolitische Maxime der Stresemannschen Außenpolitik. Indem der Dawes-Plan den ständigen Konflikt um die Reparationen entschärfte, war der Weg für eine kooperative Politik frei. Die Londoner Konferenz im August 1924 markierte eine Zeitenwende. Hatte der Ruhrkampf in Deutschland zu massiven wirtschaftlichen wie politischen Verwerfungen geführt, bezahlte Frankreich ihn, neben einer schweren Finanzkrise, mit einer Verschlechterung seiner bilateralen Beziehungen zu Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Tatsächlich sollten beide Seiten die Forderungen und Interessen der Gegenseite stärker in ihr politisches Kalkül einbinden. So trug Stresemann dem französischen Sicherheitsinteresse Rechnung, während die Alliierten dem Wunsch der Republik nach Souveränität und Gleichberechtigung entgegenzukommen versuchten. Die deutsche Seite ergriff die Initiative und legte im Januar 1925 einen Sicherheitspakt vor. Ein entsprechendes Memorandum wurde am 9. Februar in Paris übergeben. Ein Rückfall in die Zeiten von 1919 sollte verhindert werden. Endgültige Anerkennung der deutschen Westgrenze und gegenseitiger Gewaltverzicht bildete den Kern des Vorstoßes. Frankreich antwortete mit der Forderung nach einer Garantie, die die deutsche Ostgrenze zu Polen einschloss, um vorgeblich seine osteuropäischen Verbündeten zu schützen. Dazu war die deutsche Regierung nicht 189 Vgl. Scheer (1981): S. 496.
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bereit.190 Nur weitreichende Schiedsverträge kamen für Stresemann in dieser Frage in Betracht, sah man darin die Fortsetzung der 1921 begonnenen Alternative zum Völkerbundbeitritt. Für die Grande Nation hätte die Chance auf eine Verständigung mit Deutschland die Aufgabe seiner politischen, wirtschaftlichen und militärischen Hegemonialpolitik bedeutet, die bisher auf die einseitige Auslegung des Versailler Vertrages fußte. Auf deutscher Seite gestaltete man die Beziehungen zum Völkerbund seit dem Frühjahr 1925 eher auf technischer Grundlage und unabhängig von einem möglichen Beitritt. Bernhard Wilhelm von Bülow, Diplomat und Leiter des Sonderreferats für den Völkerbund im Auswärtigen Amt, vertrat anders als Stresemann die Ansicht, Deutschland müsse stärker an internationalen Konferenzen teilnehmen, als auf einen Beitritt hinzuarbeiten, der ohnehin nicht die Wiederherstellung des deutschen Ansehens stiften könne. Ihm ging es darum, dass die Republik nicht erneut dem moralischen Diktat der Sieger unterworfen werde. Folge dieser Strategie war die Einladung Deutschlands zur Genfer Konferenz Anfang Mai 1925. Eines machte diese mehr als deutlich: Selbst Frankreich glaubte nicht an die langfristige Bindungskraft des Versailler Vertrages. Das System des Friedensvertrages, welches 1919 als Schutz vor dem deutschen Revanchismus gebildet wurde, war an sein Ende gekommen und erwies sich in den politischen Sachfragen der Zeit als nicht mehr tragfähig. Die Beziehungen der Weimarer Republik zu den Alliierten im Allgemeinen und zum westlichen Nachbarn im Besonderen musste auf eine neue Grundlage gestellt werden, soll der Fortschritt auf diplomatischem Parkett sich nicht in rhetorischen Floskeln erschöpfen.191 Obwohl Olden von Wien aus stärker die innenpolitischen Konfliktlinien im Auge hatte, blieben ihm die außenpolitischen Vorgänge um einen möglichen Völkerbundbeitritt nicht verborgen. Dies offenbart ein Artikel aus den letzten Maitagen des Jahres 1925, der ein augenfälliges Licht auf seinen Pazifismus wirft und seine Position zum Völkerbund darlegt. Müsse der Pazifismus grundsätzlich der Gewalt entsagen? „Ob denn ein Pazifist zurückschlagen dürfe? Das ist eine Frage, die in diesen Tagen viel erörtert worden ist.“192 Kann die pazifistische Idee ausschließlich gewaltfrei gedacht werden oder ist Widerstand möglich, gar erwünscht? Olden fand für sich darauf eine eindeutige Antwort. „Ich halte mich für einen aufrichtigen Pazifisten, aber ich glaube, diese Frage trotzdem mit nein beantworten zu können.“ Rein aus der christlichen Tradition heraus, sei für ihn die Position des Gewaltfreien zu denken. Nur der aufrichtige und gute Christ dürfe für sich den absoluten Gewaltverzicht in Anspruch nehmen. Für alle anderen gelte dies nicht. Ohnehin seien in der Welt aber kam Christen einer solchen Beschaffenheit zu finden. Nicht einmal er selbst könne dies über seine Person aussagen. Nur den Tolstojanern, den Anhängern einer um die Jahrhundertwende verbreiteten Form des christlichen Anarchismus und Pazifismus, gestand er zu, Gewalt zu verwerfen. Mit Ausnahme dieser Bewegung, deren Effektivität er im Raum des Politischen anzweifelte, sei kein Pazifist anderen Typs berechtigt, dem 190 Vgl. Kolb (2009): S. 65–69; Büttner (2008): S. 357–359. 191 Vgl. Wintzer (2006): S. 490–493. 192 R.O. Zurückschlagen oder nicht?, in: Der Tag, 31.5.1925. Die folgenden Zitate ebd.
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gewaltsamen Widerstand abzuschwören. Ihnen stehe jederzeit und legitim das Recht der Notwehr zu. Ihre Form der Gewalt dürfe nicht präventiv, sondern lediglich reaktiv sein. Sodann gilt sie aber als gerechtfertigt. Wir anderen Pazifisten aber, die wir Politik als Kunst des Möglichen betreiben, wir bevorzugen andere weniger radikale und weniger friedliche Kampfmittel, für uns ist Pazifismus eine militante Bewegung. Und wenn wir empfehlen, den Friedensbrecher niederzuschlagen, so haben wir ein ganz gutes Gewissen dabei. Ja, wir können sehr wohl bedauern, daß den Anbetern und Ausübern der Gewalt nicht mit entsprechender Gewaltanwendung begegnet wird. Nie werden wir irgend jemanden empfehlen, zu schlagen. Aber zurückschlagen, das ist allerdings etwas anderes.
Grundsätzlich sei es die Aufgabe der Justiz, zumal in einem modernen Staatswesen, die Gewalt friedlich zu kanalisieren, was das Abwehrrecht aber nicht ausschließe. Die Forderung des absoluten Gewaltverzichts werde gegen die Pazifisten als rein politisches Kampfmittel eingeführt, um ihre Position in der Auseinandersetzung bewusst zu schwächen. Wenn einer den Pazifisten einreden will, sie dürfen sich nicht wehren, wenn sie angegriffen werden, so erleichtert es den Gewalttätigen damit nur das Spiel. Und wer den Antinationalisten zur Gewaltlosigkeit zuredet, der bewirkt nur, daß die Nationalisten siegreich das Feld behaupten.
Dieses Argument erscheint aus der Sicht Oldens umso verständlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, welch düsteres Bild er von der deutschen Jurisprudenz Mitte der 1920er Jahre zeichnete. Mit Blick auf die Verhandlungen in Genf bekräftigte Olden die Notwendigkeit einer stärkeren Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Beziehungen durch die Schaffung einer Schiedsgerichtsbarkeit. Impulse dazu müssten vor allem vom Pazifismus ausgehen. Und was wir Pazifisten wollen, das ist nichts anderes, als die Ausdehnung dieser konventionellen Anschauung auf das internationale Leben, auf das Leben der Staaten untereinander. Sie sollen sich nicht etwa unbedingt und immer miteinander vertragen – kein systematisch denkender Mensch wird das von ihnen verlangen – , sondern sie sollen nur, wie die Staatsbürger einander vors Bezirksgericht zitieren, ihre Uneinigkeiten vor einem Schiedsgerichtshof austragen.
Gleichzeitig dürfe es dem Gerichtshof nicht an Sanktionsmöglichkeiten mangeln, die selbst mit der Anwendung von Gewalt einhergehen müssen. Die Vorstellung eines ewigen Friedens war für ihn eine gefährliche Illusion. Vielmehr ging es um ein Verständnis von Frieden, dass auf der Grundlage eines allgemeinen Rechtssystems ruht. Die Politik habe die Aufgabe, gestalterische Rechtsnormen zu setzen, die einen Frieden überhaupt erst möglich werden lassen. Gegenwärtig müsse man sich allerdings erst einmal mit dem Bau eines internationalen Systems begnügen, das hauptsächlich die europäischen Staaten wieder zueinander finden lässt. Nur dies könne Voraussetzung für einen wahren Völkerbund sein. Ja, es gibt sogar ganz Bescheidene unter den Friedensanhängern, die vorläufig damit zufrieden wären, wenn erst einmal die Gewalt zwischen den Völkern West- und Mitteleuropas ausgeschaltet würde und die Vereinigten Staaten von Europa entstehen würden, dem amerikanischen
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5 Wiener Jahre Beispiel folgend. Das einige Europa wäre nur ein weiterer Schritt, dem dann erst der richtige Völkerbund zu folgen hätte.
Damit bestätigte sich die bereits geäußerte Vermutung, dass er den gegenwärtigen Zusammenschluss der Staaten für nicht geeignet ansah, um einen Frieden auf dem Kontinent stiften zu können. Dazu bedürfe es einer Instanz, die gezielt den Verbund der Länder Europas zu einem friedlichen Ausgleich suche. Sein Zielpazifismus setzte sich fort, wenn er erklärt, „auf das Prinzip kommt es an und nicht auf die Mittel.“ Bisher sei der Patriotismus solchen Bestrebungen aber hinderlich. Gleich welche Institution gewählt werden würde, um die (europäischen) Völker vom Patriotismus und Revanchismus zu befreien, sie müsste immer darauf fußen, dass die Nationalstaaten bereit seien, einen Teil ihrer Souveränität abzugeben. Nur ein Bundesstaat mit einem durchsetzbaren Kontrollrecht gegenüber seinen Teilstaaten könne den einzelstaatlichen Patriotismus suspendieren und eine neue Grundlage für eine friedliche Zukunft schaffen. Zwar sei die Unvollkommenheit der Genfer Konstruktion offensichtlich, aber der ideale Bund, von dem Wilson träumte, ist nur vorstellbar, wenn seine Glieder auf einen Teil ihrer Selbständigkeit verzichten. Ein reiner Staatenbund erweise sich als ungeeignet. Wenn das alte Rußland und das alte Österreich übernationale Gebilde waren, die dadurch existierten, daß sie ihre Nationen unterdrückten, so ist doch auch ein Überstaat denkbar, der seine Nationen erst zum vollen Leben bringt. Aber undenkbar scheint er ohne das Recht auf Kontrolle und Intervention, ohne Opfer der Gefühle, die wir heute patriotisch nennen. 193
So gesehen, müsse man die von Deutschland ausgehende Sicherheitsinitiative durchaus positiv bewerten. Deutschland hat den sogenannten Garantiepakt angeboten, der den Verzicht auf die Revanche, auf die Zurückeroberung Elsaß-Lothringen enthält und den Frieden am Rhein für lange Jahre oder ewige Zeit stabilisiert. Die jetzige deutsch-französische Grenze ist England bereit, zu garantieren. Ein solcher gemeinsamer, von den drei großen europäischen Völkern abgeschlossenen Pakt würde den Erdteil auf eine neue Basis stellen. 194
Mit der Konferenz von Locarno Mitte Oktober 1925 wurden die schwierigen diplomatischen Verhandlungen zu einem Abschluss gebracht. Das Vertragswerk sah sowohl den Garantiepakt als auch mehrere Schiedsabkommen vor. Belgien, Frankreich und Deutschland akzeptierten den Status quo der bestehenden Grenzen im Westen, die durch England und Italien garantiert wurden. Weimar verzichtete endgültig auf Elsass-Lothringen und Eupen-Malmedy. Zugleich wurde das Rheinland zur entmilitarisierten Zone erklärt und die Republik sollte als ständiges Ratsmitglied dem Völkerbund beitreten. Eine Einigung bezüglich der Ostgrenze zu Polen konnte nicht erzielt werden, allerdings bekannte man sich im Vertragswerk zum Prinzip einer friedlichen Veränderung der bestehenden Grenzen. Aus Protest gegen diese Bestimmungen verließ die DNVP die Regierung Luther, der sie seit dem 15. Januar 1925 angehört hatte. Die Weimarer Republik durchbrach mit diesen Ver-
193 R.O. Kontrollrecht und Patriotismus, in: Der Tag, 20.9.1925. 194 R.O. Der Garantiepakt, in: Der Tag, 14.6.1925.
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trägen die moralische und politische Isolierung, in der sie seit 1919 ihre Außenpolitik betrieb.195 Dies dürfe nicht darüber hinwegtäuschen, dass der neue deutsche Staat innenpolitisch weiterhin auf eher wackligen Füßen stand. Ja, es steht etwa matt und saftlos um den Republikanismus der Republikaner dieser Republik. Aber wenn solche nur auf ihre einträglichen Stellungen und die Ungestörtheit ihrer Machtausübung bedachten Männer überall die Hüter der Republik sind, so ist die Situation endlich doch nicht so sicher, so könnte uns doch eines schönen Tages die republikanische Verfassung in einem unbewachten Moment gestohlen werden. Wahrhaftig ist kein politischer Besitz sicher, den man nicht eifersüchtig bewacht und verteidigt.196
Die Schutzbedürftigkeit der erkämpften Demokratie gelte es weiterhin und gerade jetzt in einer Phase der scheinbaren Sicherheit einer neuen Außenpolitik zu betonen. Ihr Bestand sei dann am Stärksten bedroht, wenn man glaube, alle Bedrohungen seien endgültig beseitigt. Bedauerlicher weise stehe sie nur im Schutz einer Minderheit. Olden forderte weiterhin einen entschiedenen Einsatz für die Erhaltung des Staatswesens. „Rüsten wir uns zur Verteidigung der Republik durch die Erkenntnis, daß wir ein hohes Gut an ihr besitzen, dessen Verlust uns nicht wiedergutzumachenden Schaden zufügen würde.“ Freudig und kampfbereit müsse man diese Staatsform wollen und bejahen, notfalls gegen die Eliten aus Bürokratie, Justiz und Politik. Das Eintreten dafür bleibe kein innenpolitischer Selbstzweck. Nicht nur für Deutschland, sondern auch für Österreich, biete die Republik die Gewähr für den weiteren demokratischen Fortschritt, den diese Länder weiter zu gehen haben. Das Rad der Geschichte könne nicht mehr mit Gewalt zurückgedreht werden. Vor allem außenpolitisch sei die republikanische Staatsform der Garant für die Verwirklichung des europäischen Traums. „Für uns Deutsche und Österreicher ist die Republik die Gewähr dafür, daß jede Annäherung an die Vereinigten Staaten von Europa ohne innere Gefahr vollzogen werden kann.“ Zwar sei die Gegenwart dazu noch nicht ausreichend geformt, da die Exekutivgewalt und die Judikative teilweise in den Händen der Nationalisten liege, aber Frieden könne nur auf diesem Wege geschaffen werden. „Die Republik ist die Gewähr eines friedlichen Fortschreitens in Österreich, in Deutschland, in Europa. Darum schützen wir die Form des Staates, auch solange die anderen ihn noch verwalten.“ Die Gesellschaft betrachte zwar die Aktivitäten des Reichsbanner kritisch, jedoch sei dies jene Institution, die für eine bessere Zukunft aktiv eintritt, indem sie die Staatsform gegen ihre Feinde bewusst zu verteidigen sucht. Das Festhalten am und der Ausbau des republikanischen Gedankens war für Olden unverzichtbare Voraussetzung für das gemeinsame Europa. Für den Pazifisten könne es nur einen Weg dazu geben, nämlich durch die Idee eines Pan-Europa, verkörpert durch den Schriftsteller Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi. Zu dessen Vorstellung der Vereinigten Staaten von Europa bekannte er sich Ende Dezember 1925 ausdrücklich. Mit der Unterzeichnung der Locarno-Verträge am 1. Dezember in London durfte man endlich hoffen, dass diese Idee Wirklichkeit werde. 195 Vgl. Büttner (2008): S. 359f.; Kolb (2009): S. 69f. 196 R.O. Hoch die Republik!, in: Der Tag, 12.11.1925. Die folgenden Zitate ebd.
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5 Wiener Jahre Dieses Programm, das so lange allen Realpolitikern utopisch schien, dessen Verwirklichung die mit produktiver Phantasie Begabten aber längst als notwendig, als einzige Rettung des kulturell wichtigsten Erdteils vor dem Untergang erkannt hatten – es ist zum Bestandteil des offiziellen Wortschatzes geworden, es hat sich mit Riesenschritten der Realisierung genähert.197
Umso erstaunlicher empfand er es, aus welchem Winkel des politischen Spektrums Widerstand gegen diese Vorstellungen zu vernehmen war. Das man gegen rechts kämpfen musste, war ihm immer bewusst gewesen, doch da kam der Angriff von links. Zwei Gruppierungen seien es, die mit ihrer Propaganda beginnen würden, dem europäischen Programm den Glanz zu nehmen. Jene Kritik bezog sich einerseits auf die von Moskau gesteuerten Kommunisten und andererseits auf die von ihm als „Ultrapazifisten“ bezeichneten Gruppierungen, „die Paneuropa kurzweg deshalb verwerfen, weil es eben noch nicht den ewigen Frieden auf der ganzen Erde bedeutet.“ So sehr er den Idealismus 1919 als eine entscheidende Ursache für den Kriegsausbruch brandmarkte, umso mehr ward ihm zu Bewusstsein gekommen, dass ein positives europäisches Narrativ jene idealistische Tatkraft brauche, um gesellschaftlich zu mobilisieren, will es das friedliche Zusammenleben im Rahmen der Vereinigten Staaten von Europa Realität werden lassen. Denen, die das so gefasste Projekt Europa kritisieren und ablehnen, sei es von links oder von rechts, müsse die gesamte Geschlossenheit der Paneuropäer gegenübergestellt werden, die sich klar dazu bekennen und ein friedlicheres und sozialeres Miteinander der Völker schaffen wollen. Ihm war gleichwohl die Begrenztheit dieser Idee deutlich. Kriege werde es künftig weiter geben, darüber dürfe man als paneuropäischer Pazifist keine Illusionen hegen. Aber der Versuch müsse gewagt werden, zumal der Völkerbund seine Untauglichkeit bewiesen habe. Wir anderen aber, die systematischen Geistes sind, die planmäßig vorgehen und die Entwicklung lenken wollen, ideale Realisten, wir müssen für den Aufbau der Vereinigten Staaten von Europa wirken. Es wird mit der Wiederaufrichtung des wertvollsten und schönsten Erdteils eine Verbesserung der sozialen Lage seiner Bewohner bringen, deren Ausmaß wir in unserem jetzigen Elend noch nicht ahnen können.
Wie entschieden Olden sich dieser Idee offenbar verpflichtet fühlte, belegt der Schlusssatz seines Beitrages, der die wehrhafte Seite seines Pazifismus erneut zur Geltung bringt. „Der Vernünftige muß sich immer auch die linke Faust freihalten.“ Es schwang Bedauern mit, wenn er konstatierte, dass einige Pazifisten die paneuropäische Idee nur deshalb ablehnten, weil sie unmittelbar keinen großen Wurf zur Befriedung Europas darstelle, obwohl mit den Locarno-Verträgen erstmals seit Ende des Weltkrieges durch die gezielte Einbeziehung Deutschlands die Möglichkeit bestand, dem Nationalismus und Militarismus auf beiden Seiten eine entscheidende Niederlage beizubringen. Olden hatte sich gewandelt, von einem überzeugten Anhänger des Wilsonismus zu einem glühenden Paneuropäer. Nicht, dass er dem Völkerbund gänzlich misstraute, aber die bis Mitte der 1920er Jahre praktizierte Politik des Genfer Bundes ließ ihn in Zweifel verfallen. Seine Vorstellungen über eine friedenssichernde Institution im Rahmen einer Neugestaltung der zwischenstaatlichen Beziehungen ha197 R.O. Der Pazifist am Scheideweg, in: Der Tag 20.12.1925. Die folgenden Zitate ebd.
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tten sich in die Richtung der Vereinigten Staaten von Europa verschoben. Dazu dürften vor allem die Teilungsentscheidung über Oberschlesien im Oktober 1921198, die ausbleibende Intervention des Völkerbundes während der Ruhrbesetzung199 und die bis 1925 fehlende Beitrittsperspektive aufgrund des französischen Vetos beigetragen haben. Über den Charakter des Völkerbundes bestand nach seiner Gründung durchaus Einigkeit zwischen Olden und der Weimarer Friedensbewegung. Für beide war er anfänglich das Herzstück ihres pazifistischen Denkens. Doch die Realität war weit von ihrem Bild entfernt. Man erkannte, dass er einzig als Unterdrückungsinstrument gegen die Weimarer Republik genutzt werden soll. „Die Absicht der Sieger forderte zur Formulierung von Alternativmodellen heraus.“200 Dies ging soweit, dass der namhafte Pazifist Alfred Hermann Fried forderte, man müsse die Mitarbeit an einem solchen Völkerbund verweigern. Mehrheitlich bestimmten allerdings Quidde und Wehberg mit einer eher pragmatischen Linie die Position der Friedensbewegung zum Völkerbund. Ihre Prämisse ging davon aus, dass eine Revision der Friedensbedingungen nur im Rahmen der Weltorganisation möglich sei. Die Struktur des Völkerbundes selbst könne nur revidiert werden, wenn man sich an ihm beteilige. Für sie gab es kein alternatives Instrument zur Friedenssicherung. „Sich mit den realen Verhältnissen einstweilen abzufinden, den Völkerbund, wie er seit 1920 bestand, jedoch als reformierbar zu betrachten, barg auf jeden Fall größere Chancen, an seiner Weiterentwicklung durch eigene Vorschläge mitzuwirken.“ Sowohl die Vorschläge von Schücking als auch von Kessler zielten bei der Schaffung eines wahren Völkerbundes darauf ab, den Gedanken der Volkssouveränität als Grundlage der Friedenssicherung weiter zu etablieren. Während das regierungsamtliche Interesse an einem deutschen Beitritt immer weniger wurde, hielten die Weimarer Pazifisten unbeirrt an ihrer Position fest. Der Völkerbund sei grundsätzlich ein positives Prinzip, man müsse nur daran gehen, seine Mängel zu beheben, d.h. vor allem, dass alle Staaten, auch Deutschland, Teil der Organisation sein müssen, um die Dominanz der Sieger zu brechen. Im Rahmen der DLV bekräftigte Quidde 1922 die Reformbedürftigkeit, indem er den Völkerbundrat aufforderte, sich stärker für die allgemeine Abrüstung und einen besseren Minderheitenschutz einzusetzen. Grundsätzlich nahm die DLV ohnehin eine besondere Rolle in dieser Frage im gemäßigten Pazifismus ein. Sie diente dem Auswärtigen Amt als Vorfeldorganisation der eigenen Völkerbundpolitik und beheimatete gleichzeitig die völkerrechtliche Fachkompetenz der unabhängigen pazifistischen Köpfe und Kreise um Schücking, Wehberg, Quidde und Stöcker. Trotz allem blieb sie staatsnah. Der radikale Pazifismus hingegen übte stets Zweifel an der Reformfähigkeit, weshalb er grundsätzlich stärker die Kriegsdienstverweigerung und den Generalstreik in den Vordergrund stellte, um im Falle eines drohenden Krieges den Frieden zu erhalten. Innenpolitisch führte dies zu einer erheblichen Distanz zur DLV. Die Völkerbunddebatte blieb davon beherrscht, einen wahren Völkerbund zu 198 Vgl. Wintzer (2006): S. 243ff. 199 Vgl. ebd., S. 298ff. bzw. S. 313ff. 200 Holl (1988): S. 158. Folgendes Zitat ebd., S. 159.
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schaffen. Eine Mitgliedschaft dürfe nicht zum Selbstzweck werden. Gleichberechtigung, Souveränität und Universalität sollte den Bund künftig auszeichnen. Nur so könne der Versailler Vertrag langsam seinen einseitig diskriminierenden Charakter zulasten Deutschlands verlieren und die Basis für eine wirkliche Aussöhnung bieten. Zwar war Olden weiterhin daran gelegen, das Recht als leitendes Prinzip der internationalen Beziehungen einzusetzen, doch scheint es, habe er den Glauben an die Reformfähigkeit des Völkerbundes verloren, wenn er ausdrücklich für die PanEuropa-Idee Partei ergriff. Für ihn war dies die attraktivere Alternative zu einem Völkerbund, der nach wie vor nichts mit den Ideen gemein hatte, die Wilson propagiert hatte und zu dessen Anhängern er sich unmittelbar nach Kriegsende durchaus zählte.201 Der Gedanke eines Zusammenschlusses der europäischen Nationen auf ökonomischer wie politischer Ebene war keineswegs neu. Schon im 19. Jahrhundert betrachtete man ihn als ersten Schritt zur Beseitigung der zwischenstaatlichen Anarchie, damit die politischen Verhältnisse in Europa stabilisiert werden können. Fried diente das historische Vorbild des amerikanischen Kontinents als Vorbild für die Forderung nach den Vereinigten Staaten von Europa. Spätestens während des Krieges verlor die kontinentaleuropäische gegenüber der mondialen Konzeption des Völkerbundes innerhalb der Friedensbewegung zunehmend an Bedeutung, ganz im Kontrast zur Politik der politischen und militärischen Führung des Deutschen Reiches, der der Krieg die Chance zur Verwirklichung ihrer Mitteleuropa-Pläne zu eröffnen schien.202
Mit Kriegsende intensivierte sich innerhalb des DFG lediglich die Diskussion zu einer europäischen Zollunion als Vorstufe für einen weltweiten Freihandel. Nur indirekt zielte man auf eine eigenständige europäische Verständigung. Zwar könne eine wirtschaftliche Kooperation das politische Zusammengehen fördern, allerdings unterstütze man damit gleichzeitig das kapitalistische Wirtschaftssystem der Profitmaximierung durch eine Vergrößerung der Märkte. Daher schlossen sich europäische Vereine nicht dem DFK an. Doch nicht nur dies verhinderte eine Integration in die deutsche Friedensbewegung, sah sie die kontinental beschränkte Zusammenarbeit als gezielte Schwächung des Völkerbundes. „Die Idee eines vereinten Europas, wie sie von der 1923 von Rudolf Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi gegründeten Paneuropa-Union (PEU) vertreten wurde, verkörperte ihnen höchstens einen bedingten Pazifismus“203, der nicht bereit war, sich auf das Prinzip der Gewaltfreiheit festlegen zu lassen. Coudenhove gelang es nicht, die Vorbehalte zu zerstreuen, indem er darauf verwies, dass bei einem Scheitern des Völkerbundes der Zusammenschluss europäischer Staaten durchaus in der Lage sei, einen stabilen Frieden zu garantieren bzw. das die regionale Gliederung ein Schritt in die reformerische Richtung sei, dem Völkerbund seine angestrebte Universalität zu verleihen. Eine Umfrage der Friedens-Warte ergab eine ablehnende Haltung zur paneuropäischen Idee. Schücking sah in ihr eher eine Bedrohung für den ohnehin nicht gefestigten Völkerbund und lehnte sie entschieden ab. „Bis 1929 manifestierte sich 201 Vgl. Holl (1988): S. 158–165; Wintzer (2006): S. 45–50. 202 Wintzer (2006): S. 49. 203 Lütgemeier-Davin (1982): S. 77. Folgendes Zitat ebd.
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in der Friedensbewegung der Vorbehalt, daß die Europaidee die Autorität und Universalität des Völkerbundes untergraben könnte.“ Für Ossietzky war diese Art des Pazifismus wieder nur ein Projekt gesellschaftlicher Eliten, dem die gesellschaftliche Verankerung in der breiten Bevölkerung fehle, wie dies vor 1914 für die stark bürgerlich geprägte Friedensbewegung des Kaiserreichs der Fall war. Coudenhove kreiert eine Intellektuellenbewegung ohne Volk. Er nimmt Unterschriften prominenter Politiker, einem jungen, eleganten Aristokraten gern gegeben, schon für Tat. Er scheidet und siebt nicht und fällt damit zurück in die Anfänge des modernen Pazifismus, in die Tage der Suttner, wo man freundliche Aufrufe an die Machthaber der imperialistischen Staaten richtete und nichts erreichte als eine Sammlung liebenswürdigster gewährter Händedrücke. 204
In diesem Punkt stand Olden 1925 konträr zu den Hauptströmungen des Weimarer Pazifismus. Den Radikalen und deren Standpunkt der absoluten Gewaltlosigkeit warf er zerstörerische Passivität gegenüber den Feinden der Republik vor. Indem man selbst den Schutz der demokratischen Ordnung nicht bereit ist, in letzter Konsequenz aktiv gewaltsam zu übernehmen, führe dies unter dem Druck nationalistischer Kräfte zu einem Verlust rechtsstaatlicher Mechanismen und zur Auflösung aller staatlichen Bindungen, die eine friedliche Konfliktaustragung möglich machen würden. Gegenüber seinen völkerrechtlich motivierten Kollegen zeigte er, trotz grundlegender Übereinstimmung in Bezug auf die Schaffung eines neuen internationalen Systems, ein Unverständnis darüber, dass man die Idee eines Paneuropas nur deswegen verwerfe und ablehne, weil ihr europäischer Wirkungsradius eine Gefahr für die weltumfassende Ambition des Völkerbundes darstelle. Keine Gelegenheit dürfe in den Augen Oldens ungenutzt bleiben, um zwischen den Völkern Europas Frieden zu stiften, zumal, bei nach wie vor unbestreitbar bestehenden innenpolitischen Konfliktlinien. In allen relevanten Staaten eines künftigen Paneuropas wären republikanische Staatsformen etabliert, die in einem kleineren kontinentalen Maßstab effektiver auf eine Neuausrichtung der Beziehungen hinarbeiten könnten. Dadurch schaffe man erst die Voraussetzung, um zu einem wahren Völkerbund zu gelangen, den die breite Mehrheit der gemäßigten Pazifisten in Weimar seit 1919 anstrebten. Mit Blick auf den Diskurs der neu initiierten internationalen Verständigung durch einen Beitritt Deutschlands zum Völkerbund im Rahmen des Locarno Prozesses war Olden seit Ende 1925 nicht mehr dezidiert Teil der Debatte im Umfeld der Friedensbewegung. Gleichwohl bezeugten seine Artikel intime Kenntnisse der innerdeutschen Debatte, favorisierte er lediglich ein anderes Alternativmodell, das weniger die Begründung und Legitimierung einer neuen deutschen Staatssouveränität verfolgte, aber unbestreitbar auf eine deutsche-französische Verständigung bedacht war. Stand für Olden die politische Einigkeit Europas im Vordergrund, um die weltpolitische Rolle des Kontinents zu bewahren und einen künftigen Krieg durch Versöhnung zu verhindern, kritisierten die Gemäßigten die vermeintlich primär wirtschaftliche Ausrichtung jener Ideen, die den imperialistischen Kapitalismus wieder zu neuer Stärke führe. Dies sei in der Tat zutreffend, so Olden: „Es 204 Ossietzky, in: Boldt (2013): S. 372.
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kann einer Imperialist sein und Pan-Europa wollen; dann wird er eben paneuropäischer Imperialist sein.“205 Jene Erkenntnis dürfe aber nicht dazu führen, dass man als Pazifist beginnt, diese Vorstellungen zu bekämpfen, könne man den Schwerpunkt der Idee auf den friedensstiftenden und weniger auf den volkswirtschaftlichen Aspekt legen. Durch sein Bekenntnis zur paneuropäischen Idee war er vielmehr in die konkurrierenden Europaprojekte der Zwischenkriegszeit eingebunden, die vor allem in Wien, seiner neuen Heimstätte seit Kriegsende, ihr intellektuelles Zentrum hatte. Zunächst war es das redaktionelle Umfeld des Tag, das ihn näher an solche Ideen heranführte. So suchte das Blatt vor allem im Diskurs eines österreichischen Anschlusses an die Weimarer Republik eine paneuropäische Antwort zu geben. „Gerade im Tag wird seit langem eine äußere Politik vertreten, die einen engeren Zusammenschluss Deutschlands und Österreichs im Rahmen der Vereinigten Staaten von Europa will.“206 Im pro-europäischen Milieu Wiens waren es hauptsächlich zwei adlige Kosmopoliten, Karl Anton von Rohan und der bereits erwähnte Coudenhove-Kalergi, die jenen, wegen ihrer Erfolglosigkeit diskreditierten, Vorkriegseuropaplänen eine neue Wendung geben wollten. Dieser Europäismus war „durch seine therapeutischen und prophylaktischen Implikationen geprägt und gleichsam auf die Heilung der Kriegsfolgen bedacht.“207 In Übereinstimmung mit Olden war man der Auffassung, ein Friede in Europa sei hauptsächlich von einer politischen (und ökonomischen) Einigung der Staaten abhängig, dessen Fundament das deutsch-französische Verhältnis sei. Für die Europabewegung war es Dreh- und Angelpunkt, wobei dies auch für den pazifistischen Diskurs zutreffend war. Zwischen 1919 und 1925 rangierte für Olden die bilaterale bzw. gesamteuropäische Verständigung immer mehr vor der weltweiten Völkerverständigung. Das Unikum und der Impuls für die österreichische Debatte war der Zerfall des Vielvölkerstaates, der die Minderheitenfrage und das Aufkommen neuer Nationalstaaten zu relevanten politischen Themen machte. Diese Problematik hatten Rohan und Kalergi vor Augen, als sie zu Beginn der 1920er Jahre in ihren Büchern eine Europavision propagierten. „Besonderen Anklang fanden ihre Ideen bis zum Beginn der 30er Jahre in elitären liberalen und konservativen bis rechten Milieus.“ Beide Protagonisten einte die Ablehnung des Bolschewismus und des Kapitalismus als auch der parlamentarischen Demokratie bei gleichzeitiger Betonung eines Adels des Geistes, einer Idee, die Olden nicht ganz fremd gewesen sein dürfte, bedenkt man seine frühen Artikel aus der unmittelbaren Nachkriegszeit über die Rolle des Schriftstellers. Zugleich verwendeten sie den Begriff der Vereinigten Staaten von Europa als semantische Zielformel. „Mit seinem Bestseller Paneuropa warb Coudenhove seit dem Herbst 1923 für eine friedliche, auf Konsens, Gleichberechtigung und Toleranz gegenüber jeglicher Staatsform gegründete föderale Einigung der demokratischen Staaten Kontinentaleuropas.“ Anders als die Idee des Völkerbundes, könne man nicht auf eine kontinentale Untergliederung verzichten. Paneuropa stehe 205 R.O. Der Pazifist am Scheideweg, in: Der Tag, 20.12.1925. 206 R.O. Europa oder Großdeutschland, in: Der Tag, 12.2.1926. 207 Paul, in: Durchhardt/Németh (2005): S. 22. Die folgenden Zitate ebd., S. 25 und S. 30.
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nicht gegen den Völkerbund oder die anderen politischen Kontinente. Am Ende bedürfe es einer konstruktiven Zusammenarbeit mit ihnen, um den politischen und ökonomischen Verbund der europäischen Nationen auf freiwilliger Basis zu realisieren. Die paneuropäische Ordnung sei geeignet, einen künftigen Weltkrieg, die wirtschaftliche Verelendung und den Bolschewismus zu verhindern. Bei den Zeitgenossen fand die Idee eines Paneuropas über die Entwicklungsstufen einer paneuropäischen Konferenz, eines Systems gegenseitiger Schieds- und Garantieverträge, der Gründung eines Zollvereins und letztlich einer gemeinsamen Verfassung besonders bei der Jugend große Unterstützung. Oldens eindeutige Positionierung zugunsten der Paneuropavision könnte auch von anderer Seite her stimuliert worden sein, nämlich durch deren Gegenpart. Weltanschaulich zählte Rohan mit seiner Idee eines Kulturbundes zu den schärfsten Kritikern Kalgeris. Dieser sei grundsätzlich unpolitisch. Europas Zusammenschluss müsse organisch und nicht systematisch voranschreiten und sich verwirklichen. Dies dürfe nicht vor Ländergrenzen oder politischen Systemen halt mache. So könne auch England und Russland ausdrücklich Teil des Bundes werden. Zwar lag Rohan ebenfalls sehr viel an einer europäischen Erziehung der jungen Eliten zu mehr Verständigungsbereitschaft, aber der Hintergrund war ein anderer. Liberale, pazifistische, parlamentarisch-demokratische und andere westliche Ideen müsse man lernen abzulehnen. Ein katholisch universeller Reichsgedanke müsse im Mittelpunkt stehen. Der so erzogenen Jugend diente er sich als Führungsfigur an. National und korporative müsse der Kulturbund sein, bei dem die staatliche Leitung einer Person anvertraut werde, die sich auf die geistigen Funktionseliten der Nation stützen soll. Durch die Bewahrung des kulturellen Erbes jeder einzelnen Nation könne eine gesellschaftspolitische wie sozioökonomische Wiedergeburt des gegenwärtig gefährdeten Europas gelingen. Eine europäische Jugend müsse zunächst ihre eigene Kultur zu schützen versuchen. Dem kulturellen Zusammenschluss auf übernationaler Ebene folge dann der politische. Souveräne Nationalstaaten vereinigen sich zu den Vereinigten Staaten von Europa. Der Kulturbund bleibe unablässiger Impulsgeber. Voraussetzung sei neben gleichen deutsch-französischen Interessen, die Schaffung eines Wirtschaftseuropas. Dem konnte Olden so wohl nicht zustimmen, zumal als bekennender Pazifist, Demokrat und Republikaner. Rohan ging es um die geistige Einheit Europas. Sich dieser bewusst zu sein, bringe den Völkern erst die politische Einheit. Sprach er von Vereinigten Staaten von Europa, ging es ihm nicht um einen Bundesstaat oder Staatenbund. Der Weg zu Europa sei ausschließlich über die Nation realisierbar. Beeinflusst wurde er von einem Mann, dem Olden durchaus persönlich begegnet sein könnte, dem Dichter und Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal, ein enger Freund und Vertrauter von Jakob Wassermann und Arthur Schnitzler, der selbst wiederum gemeinsam mit Kurt Hiller, positiv die Ideen Coudenhoves rezipierte und so womöglich Olden in Wien mit dessen Ideen in Kontakt gebracht haben könnte. Den vieldeutigen Begriff der geistigen Einheit Europas erfüllte Rohan mit einer rechtskonservativen Abendland-Idee, an der Einflüsse des ewigen Österreich von Hugo von Hofmannsthal und des von Max Scheler begründeten katholischen Mitteleuropa ebenso erkennbar blieben wie
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5 Wiener Jahre seine unhistorische Vorstellung eines übernationalen Reiches, das aus Elementen des karolingischen Imperiums, des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und des verlorenen habsburgischen Vielvölkerstaates zusammengesetzt war.208
Indem er Liberalismus und parlamentarische Demokratie als westlich indoktriniere internationale Modelle ideologisch brandmarkte, begeisterte sich Rohan schon in den frühen 1920er Jahren mehr für den modernen Faschismus. So kann man das Narrativ zwischen Olden und dem Paneuropäismus indirekt als ein antifaschistisches Bündnis denken, indem er sich bewusst auf die Seite Kalergis stellte und zu seinen Prinzipien bekannte, nahm er seit 1923 den Nationalsozialismus als ernsthafte Bedrohung für den Bestand der Weimarer Republik wahr, im gleichen Jahr also, indem Kalgeri Paneuropa veröffentlichte. Sein ideeller Bezug zur französischen Romantik über Balzac als Lehrer der realistischen Schule und zur britischen Spielart des Sozialismus der Fabier machten ihn als Kosmopoliten offenbar immun gegen die Vorstellung einer kulturell betonten Differentialität als Grundlage einer politischen Einheit Europas. Ein beengter Patriotismus, gleich auf welcher Ebene er geforderte werde, verstelle den Blick auf die Möglichkeiten einer europäischen Diversität, in der er sich persönlich intellektuell gut aufgehoben fühlte.209 Neben der persönlichen Beziehung zur Paneuropa-Idee über Arthur Schnitzler und die Wahrnehmung des Europadiskurses um Rohan und Hofmannsthal könnte parallel die in Wien gegründete PEU, den Anreiz für seine Orientierung gesetzt haben. Generell galt Wien schon im 19. Jahrhundert, neben Paris als intellektueller Ausgangspunkt für die europäische Kooperation. Vor allem Bertha von Suttner prägte die Metropole in dieser Hinsicht. Sie machte sie zu einem Zentrum der internationalen Friedensbewegung. Gemeinsam mit Victor Hugo arbeitete sie seit den 1860er Jahren für ein Zusammendenken von Pazifismus und Europäismus, ein Erbe, dass manche Friedensfreunde nach der Brutalität des Ersten Weltkrieges und in den Wirren der 1920er Jahre bewusst oder unbewusst einer universalen Friedensidee opferten. So arbeitete der aus Wien stammende Alfred Hermann Fried eng mit von Suttner zusammen, was maßgeblich zur Gründung der DFG im deutschen Kaiserreich führte. Beide übten nachhaltig Einfluss auf jenen Coudenhove-Kalergi aus, der später für Olden zum Vorbild werden sollte. „Nichts im Paris der Nachkriegsjahre ist zu vergleichen mit der Paneuropa-Bewegung wie sie damals in Wien – mit Büro in der Hofburg – durch den Grafen ins Leben gerufen wurde.“210 Mit zahlreichen Kongressen, auch in Berlin, wurde eine große Aufmerksamkeit erzielt. Wien galt als ein laboratoires d'Europe. Das transnationale Momentum der ehemaligen k.u.k. Monarchie, welches nicht in der Lage war, die Nationalitätenkonflikte der Vorkriegszeit friedlich zu kanalisieren, transformierte sich in ein stark zivilgesellschaftlich getragenes Vorstellungsbild von den Vereinigten Staaten von Europa, an
208 Ebd., S. 30; Exemplarisch für den Politikbegriff bei Hofmannsthal: Vgl. Kunisch (1979): S. 277–301; Mattenklott (1993): S. 183–192; Meiser (2014): S. 189–308. 209 Vgl. Paul, in: Durchhardt/Németh (2005): S. 22–33. 210 Lützeler, in: Mokre/Weiss/Bauböck (2003): S. 43.
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dessen Entstehung maßgeblich die Wiener Pazifisten ihren Anteil hatten.211 Olden bedauerte es, wie wenig die amtliche Politik in Österreich die Ideen Kalergis aufgriff und versuchte, sie in praktische Überlegungen zu übersetzten. Man präferiere lieber den Anschluss an Deutschland. Der andere Weg, der zu den Vereinigten Staaten von Europa führen würde, ist hier von keiner offiziellen Stelle zur Kenntnis genommen worden. Privatleute sprechen wohl von ihm, aber so, wie von der Möglichkeit, nach Gold im Schneeberg zu graben oder Diamanten im Marchfeld zu finden. In dem Augenblick, in dem – endlich – ein europäischer Staat, in dem das große Frankreich sich aus eigenem Interesse zur Idee bekennt, die Rettung für Österreich, für die kleinen Staaten Europas bringen kann, geht dieses Österreich, blind für sein Schicksal, daran, sein Ministerium für äußere Angelegenheiten in ein Beamtenressort zu verwandeln. 212
Die Politik der österreichischen Republik sei durch Unstetigkeit gekennzeichnet, vor allem in außenpolitischen Fragestellungen mit Blick auf einen Anschluss. Besonders dem Parteivorsitzenden und zweimaligen Kanzler der Christlich-Sozialen Partei, Ignaz Seipel, müsse dieser Vorwurf gemacht werden, ziele er auf eine „Welt unter der Tiara – darum ist er Pazifist, Freihändler, der beste Internationalist, auf dem Wege dazu auch Anhänger der Donauföderation oder des alten Kaisertums“213 zu werden. Der politische Katholizismus Seipels schwanke zwischen Europa einerseits und Großdeutschland andererseits. Der Weg zu Europa, wie der zum größeren Deutschland, beide wurden von hier aus nicht beschritten. Zwischen ihnen steht zweifelnd und untätig das Kabinett, das von Dr. Seipels Partei gestellt wird. Europa – oder aber Großdeutschland, das ist, wenn wir ihn richtig verstanden haben, seine Forderung. Auf dem Parteitag hat er leider darüber nicht gesprochen. Aber man darf von ihm erwarten, ja verlangen, daß er ihr in seiner Partei und in der Regierung seiner Partei Geltung verschafft.214
Einen politisch tragfähigen europäischen Aufbruch, wie ihn sein Heimatland unter dem Außenminister Stresemann einleitete, suchte Olden in seiner Wahlheimat, trotz des Diskurses um Kalergi und Kohan vergeblich. Auf diesen Widerspruch zwischen ausgeprägter pan- bzw. kultur-europäischer Intellektualität und deren ideologischen Auseinandersetzungen einerseits sowie einer regierungsamtlichen Politik der Ersten Republik im Bereich der Außenpolitik andererseits aufmerksam zu machen, war ihm Mitte der 1920er Jahre mindestens genauso wichtig. Österreich müsse wie die Weimarer Republik ein Interesse an der Neugestaltung der internationalen Beziehungen zeigen, um aus dem Versailler System zugunsten einer europäischen Verständigungspolitik auszubrechen.
211 212 213 214
Vgl. ebd., S. 36–47. R.O. Wohin geht Österreich?, in: Der Tag, 25.12.1925. R.O. Oesterreichische Köpfe. I. Ignaz Seipel, in: Weltbühne, 3.2.1925. R.O. Europa oder Großdeutschland, in: Der Tag, 12.2.1926.
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5.3 DER HERAUSGEBER – ER UND SIE. WOCHENSCHRIFT FÜR LEBENSKULTUR UND EROTIK Es gab einen Moment in der Biographie Oldens, wo das Politische akut auf sein persönliches Leben Einfluss hatte, die Dinge für einen kurzen Augenblick miteinander verschmolzen und mit solcher Unmittelbarkeit auf ihn nieder gingen, das davon zu erzählen ist. Schon während seiner Tätigkeit für den Neuen Tag nahm Olden vereinzelt Stellung zu gesellschaftlichen Fragen und Problemen, die Moral und Sexualität betrafen.215 Der Tag kam ihm auch in dieser Hinsicht durchaus entgegen, da er diesen Themen einen hohen Stellwert einräumte. Maßgeblich für die inhaltliche Ausgestaltung war ein Mann, der auf Olden einen entscheidenden Einfluss in dieser Angelegenheit ausüben wird, der Wiener Journalist Hugo Bettauer.216 Als Schriftsteller veröffentlichte er ab 1920 zahlreiche Romane, die das Wien der Nachkriegsjahre darstellten. Politische Ereignisse und soziale Spannungen der Donaumetropole schilderte er in Das entfesselte Wien und Der Kampf um Wien. Antisemitismus als hervorstechendstes Gesellschaftsproblem verarbeitete er 1922 im Roman Die Stadt ohne Juden. Als Journalist waren sozialpolitische Themen in seinen Artikeln dominierend. Besonders in Fragen der Sexualität stellte er die überkommenen Wert- und Moralvorstellungen der Doppelmonarchie kritisch in Frage. Er provozierte mit Forderungen nach Straffreiheit für Homosexuelle, nach rechtlicher Gleichstellung von Mann und Frau oder der Legalisierung von Abtreibungen. Wirtschaftliche und sexuelle Not hätten einen zerstörerischen Einfluss auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Unzählige Leserbriefe zeugten vom großen Interesse der Bevölkerung, sich diesen Themen anzunehmen. Allerdings bot das progressive Blatt selbst nur eingeschränkten Spielraum für die Erörterung, sodass Bettauer bestrebt war, eine eigene Gründung vorzunehmen. Bei der Suche nach einem geeigneten Mitstreiter stieß er auf Olden, der durchaus nicht abgeneigt war, ihn in seinen Bestrebungen zu unterstützen. Allerdings haben sich keine Quellen erhalten, die es erlauben würden, den Verlauf der Gespräche und Vereinbarungen zwischen den beiden Männern nachzuzeichnen, die zur Gründung einer eigenen Zeitschrift führten. Ihre Bemühungen standen von Anfang an unter den Bedingungen neuer Pressegesetze. Konservative Kreise hatten 1922 ein Verbot des Verkaufs von sogenannter Schund- und Schmutzliteratur erreicht. Die Jugend sollte vor sittlich fragwürdiger Literatur geschützt werden. Die Anzahl der Beschlagnahmungen stieg mit dem Amtsantritt des neuen Bundeskanzlers Ignanz Seipel am 31. Mai 1922 spürbar an. Im Kampf gegen das vermeintlich Unmoralische wusste der Prälat pädagogische 215 Exemplarisch: Vgl. R.O. Meine Frau und die Revolution, in: Der Neue Tag, 26.4.1919; R.O. Die Abwaschfrau und der klinische Assistent, in: Der Neue Tag, 30.6.1919; R.O. Die sexuelle Aufklärung, in: Der Neue Tag, 18.11.1919; R.O. Auf Casanovas Spuren, in: Der Neue Tag, 25.3.1920. 216 Zur Biographie von Hugo Bettauer bis 1924: Vgl. Hall (1978): S. 9–19; Hacker (2009): S. 13– 21.
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Einrichtungen und Jugendschützer auf seiner Seite. In der Praxis oblag jener Kampf aber eher dem persönlichen Empfinden des jeweiligen Beamten. Grundsätzlich sahen sich die Geschlechter durch den Ersten Weltkrieg mit enormen gesellschaftlichen Veränderungen konfrontiert, die ihr jeweiliges Rollenbild herauszufordern begannen. Dieser Wandel und die akzeptierte Moral liefen stärker auseinander. Die Kriegsheimkehrer standen einem anderen Geschlechterverhältnis gegenüber: Selbstentdeckung und Berufstätigkeit der Frau lösten langsam die Versorgungsehe ab. Eine Art der Emanzipation brach sich Bahn, was zu schwerwiegenden Konflikten um das neue Körpergefühl der Frau führte. Angst und Unsicherheit machten sich vor allem in bürgerlichen Schichten breit. Seipel und sein regierender Bürgerblock richteten z.B. eine Sittenpolizei ein. Nächtliche Durchsuchungen sollten offiziell zur Verhinderung von Prostitution beitragen. Entsprechende Bücher und Zeitschriften wurden verboten und waren nur unter dem Ladentisch zu bekommen. Die Reichspost, publizistisches Organ der Christ-Sozialen, arbeitete mit persönlicher Hetze gegen Aufklärer wie Bettauer. Trotz Verbotes entstanden geheime Lesezirkel, die vom großen Interesse der Bevölkerung an jenen Themen zeugte. Der Bedarf an Aufklärung und Information schien groß zu sein. Selbst Arthur Schnitzler sah sich mit seinem Drama Reigen dieser Kluft ausgesetzt.217 Am 1. Februar 1921 wurde das Stück erstmals in Wien uraufgeführt, was zu massiven Ausschreitungen führte. Wenige Tage später erhielt es Aufführungsverbot, um Ruhe und Ordnung in der Öffentlichkeit wieder herzustellen. Der Antagonismus verlief zwischen politischem Katholizismus und Sozialdemokratie, wobei Seipel bemüht war, eine öffentlich, politisch-tragfähige Moralvorstellung zu etablieren. Dem Antisemitismus kam eine entscheidende Rolle zu. „Die Juden waren schuld am moralischen Niedergang Wiens. Der Reigen-Skandal war ebenso ein hervorragender Vorwand gegen Arthur Schnitzler, Autor jüdischer Herkunft, und dessen Schund- und Schmutzliteratur zu mobilisieren.“218 Ungeachtet dieses gesellschaftlichen Kontextes erschien am 14. Februar 1924 die erste Ausgabe der neuen Zeitschrift Er und Sie, die Olden und Bettauer mit dem programmatischen Untertitel Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik versahen. Finanziert wurde das Projekt aus eigenen Mitteln. Mit einer anfänglichen Auflage von 20.000 Stück kostete das Heft 2000 Kronen und hatte einen Umfang von 12 Seiten. Die zweite Ausgabe wurde auf 16 Seiten und 60.000 Stück erweitert, wodurch ca. 200.000 Leser erreicht wurden. Olden und Bettauer waren über den großen Erfolg bei der Leserschaft überrascht. Vorläufig nahm auch keine staatliche 217 Das Bühnenstück von Arthur Schnitzler erschien bereits 1903, wurde allerdings erst 1920 uraufgeführt. In zehn Dialogen schilderte das Stück den Beischlaf von zehn Paaren unterschiedlichster gesellschaftlicher Gruppierungen miteinander in ihrem jeweiligen Umfeld. „Die Dirne schlief mit dem Soldaten, der Soldat mit dem Stubenmädchen, das Stubenmädchen mit dem jungen Herrn, der junge Herr mit der jungen Frau, die junge Frau mit dem Ehegatten, der Ehegatte mit dem süßen Mädel, das süße Mädel mit dem Dichter, der Dichter mit der Schauspielerin, die Schauspielerin mit dem Grafen, der Graf - und damit schließt sich der Kreis - mit der Dirne.“ (Hoch 2009) Dieser Reigen sollte die Moralvorstellungen der Gesellschaft des Fin de siècle symbolisieren und charakterisieren. Er erfasste dabei alle sozialen Schichten. 218 Vgl. Hacker (2009): S. 81–89; Zitat ebd., S. 89.
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Stelle Anstoß an ihrem Blatt. „Er und Sie soll den vielen Lesern Aufklärung in populärer Weise bieten, sich mit Problemen des Lebens, vor allem erotischen, auseinandersetzen.“219 In leicht verständlicher Art sorgten zwei angestellte Fachärzte (Nervenarzt Dr. med. Werner und Frauenarzt Dr. med. Frist) für die medizinisch fachgerechte Behandlung von Sexualproblemen. Wöchentlich besprachen sie anonym die Fälle ihrer Patienten. Bettauer eröffnete jede Ausgabe mit einem Leitartikel zu Fragen der Moral und herrschender Gesetzeslage. Anschließend folgte die Rubrik Unsere Novelle, die den Leser bzw. die Leserin über das Liebesleben vergangener Zeiten informierte. Erotische Kurzgeschichten fand man unter der Überschrift Erotica aus aller Welt. Der Abschnitt Erinnerungen einer Hebamme. Von ihr erzählt wurde ab dem zweiten Heft eingeführt und symbolisierte durch die beruflichen Beschreibungen einer Hebamme den Kampf der Herausgeber gegen das Abtreibungsverbot und den (gesellschaftlichen) Gebärzwang. Zudem wurde in jeder Ausgabe der Fortsetzungsroman Bettauers, Die lustigen Weiber von Wien, veröffentlicht und Leserbriefe unter der Kategorie beantwortet. Kontaktanzeigen wurden ebenfalls abgedruckt. Zwischen Olden und Bettauer als gleichwertige Eigentümer und Verleger herrschte von Anbeginn an eine klare Aufgabenteilung. Redakteur, der für die inhaltliche Ausgestaltung verantwortlich war, war Bettauer. Olden verwaltete und organisierte diese Arbeit, trat aber nicht als Autor auf.220 Thematisch kämpfte man für eine erotische Revolution zur Aufhebung und Beseitigung der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Die industrielle Revolution habe nur eine scheinbare Gleichberechtigung für die Frau gebracht. Dies kulminierte in der Forderung nach einer selbstbestimmten Lebensweise durch die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in den ersten Monaten. Das Patriarchat legitimiere auf staatlicher Ebene Normen und Werte zur Unterdrückung der Frau, die dadurch zum reinen Objekt gemacht werde, so beispielsweise durch die Vormundschaft der Eltern bzw. später durch den Ehemann. Homosexualität sei eine private Angelegenheit und müsse straffrei bleiben. Bettauer spitzte in zahlreichen Bereichen die Kritik an den herrschenden Moralvorstellungen durch seine Leitartikel zu, weshalb die Resonanz aus der Leserschaft so enorm war, dürstete es ihr augenscheinlich nach umfassender Revision geltender moralischer Konventionen und Gesetzte. Die Motive für Oldens Beteiligung mögen darin zu sehen sein, dass er bereits vor dem Krieg sich für derartige Themen interessierte und durch die Lektüre wissenschaftlicher Texte sensibilisiert war. Den Mangel an Aufklärung in breiten Kreisen der Bevölkerung fand er schon als junger Justizbeamter beklagenswert, sodass er die Gelegenheit, sich mit Bettauer in dieser Angelegenheit zusammenzutun, ergriff, um jene Fragen allgemein verständlich und ernsthaft journalistisch aufzugreifen und zu behandeln.221 Sofort nach Erscheinen der ersten Ausgabe schritt die Polizeidirektion in Wien gegen das Blatt ein und empfahl dem städtischen Jugendamt einen Verbotsantrag 219 Hall (1978): S. 41. 220 Zum Aufbau und zur Struktur von Er und Sie: Vgl. Hacker (2009): S. 119f.; Hall (1978): S. 41. 221 Vgl. Hall (1978): S. 65–69. Zur Motivation von Olden: Vgl. o.A. Bettauer und Olden vor den Geschworenen, in: Der Tag, 19.9.1924.
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zu stellen, der allerdings ausblieb, da die Öffentlichkeit am Inhalt nichts Anstößiges fand. Knapp zwei Wochen später erwachte mit der dritten Ausgabe das Interesse von Justiz und Öffentlichkeit. Das Jugendamt reichte doch einen Verbotsantrag bei der Polizeidirektion ein. Julius Tandler, Leiter des Amtes, stützte seine Ansicht gegen das Blatt auf dessen bewußte Ausnützung jugendlicher Triebe. Mangels eines ausreichenden Verantwortlichkeitsgefühls bietet diese schrankenlose Propaganda für die Gesellschaft in gesundheitlicher, bevölkerungspolitischer und sittlicher Beziehung eine große Gefahr. Da sie an den Straßenecken und Lokalen für jedermann frei zu haben ist, bedeutet sie unbedingt eine ganz besondere Gefahr für die Jugend, die zur Erfassung dieser erotischen Revolution gänzlich ungeeignet ist. Diesen ungünstigen Wirkungen muss sich der Herausgeber und Verleger vollbewusst sein und dennoch bedient er sich der schrankenlosen und geradezu aufdringlichen Verbreitung.222
Bettauer und Olden wurde am 4. März ein Verkaufsverbot an Jugendliche unter 18 Jahren auferlegt. Eine Erklärung Bettauers führte eine Woche später zur Aufhebung des Verbotes. An diesem Beschluss war maßgeblich der Wiener Bürgermeister Karl Seitz beteiligt, an den sich beide zuvor hilfesuchend gewandt hatten. Allerdings führte dies im Streit um Er und Sie zu einer neuen Form der politischen Polarisierung. Fortan schaltete sich Ignanz Seipel ein. Dieser war entschieden, den Kampf gegen die vermeintliche Unsittlichkeit aufzunehmen. In einer Rede vom 12. März griff er Bettauer und die Sozialdemokratie frontal an und übte massive Kritik an dieser Form des gewissenlos pornographischen Journalismus, der auch durch die Ratsherren der Hauptstadt gefördert werde. Das Blatt wurde zum Politikum und ein Untersuchungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft Wien eingeleitet. Der Vorwurf lautete: Kuppelei, Geringschätzung von Ehe und Familie und Gefährdung der Sicherheit. Die bis dahin erschienenen fünf Ausgaben des Blattes wurden beschlagnahmt, was die Herausgeber auch in eine finanzielle Notlage führte. Der parteipolitische Zwist zwischen dem roten Wien und der schwarzen Bundesregierung erreichte endgültig Bettauer und Olden und sollte in den kommenden Wochen und Monaten weiterhin auf deren Rücken ausgetragen werden. Für die Planungen der sechsten Ausgabe hatte das zur Folge, dass Olden diese der Zensur vorlegen musste. Trotz vorheriger Absprache mit dem Pressestaatsanwalt drohte erneut eine Beschlagnahmung, worauf man sich zur Einstellung des Blattes entschloss, waren die angehäuften Verbindlichkeiten der Eigentümer schon so enorm, dass ökonomisch keine ausreichende Grundlage für eine Fortführung vorhanden war. „Er und Sie wird Vorwand für eine Auseinandersetzung, bei der die Vertreter verschiedener politischer und ideologischer Richtungen eine seltsame Einmütigkeit an den Tag legen: im Kampf gegen den Juden Hugo Bettauer.“223 Antisemitischer Hass ergoss sich fortan über Bettauer. Es ging weniger um die inhaltlichen Positionen. Völkische Kreise sahen darin die Möglichkeit, endlich mit ihm abzurechnen. Ihre Verachtung Bettauers war seit seinen Romanen stetig angestiegen. Obwohl Olden ebenfalls von jüdischer Abstammung war, trafen ihn die persönlichen Diffamierun222 Tandler, in: Hacker (2009): S. 94. 223 Hall (1978): S. 51.
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gen und Angriffe nicht. Das Blatt wurde in der Öffentlichkeit augenscheinlich mit Bettauer als Person gleichgesetzt. Die Anklage der Staatsanwaltschaft wurde aber nicht fallen gelassen und bezog sich weiterhin sowohl auf Bettauer als auch auf Olden. Nach Abschluss der Ermittlungen erhob man am 24. Juni 1924 Anklage. Beide hätten in der Zeit vom 14.02.1924 bis 13.03.1924 in Wien durch die Verbreitung der Wochenschrift die Sittlichkeit und Schamhaftigkeit gröblich verletzt. Die Erzählungen wirkten nichts weniger als belehrend und aufklärend, waren vielmehr offenkundig darauf angelegt, die Moralbegriffe zu erschüttern und Sinneslust zu erregen. Der Erfolg war somit nicht die Aufdeckung einer Pseudomoral, sondern eine Erschütterung und Gefährdung der öffentlichen Sittlichkeit.
Der Strafprozess begann drei Monate später.224 Am 18. September eröffnete das Wiener Landgericht den Prozess. Weite Teile der Verhandlung fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Beide Angeklagten erklärten sich für nicht schuldig und sahen in den Anstrengungen der Justiz einen Skandal. Olden erklärte zu Beginn: „Wir hatten das Unglück, daß unser Blatt in eine politische Atmosphäre geraten ist und gegen uns ein wahres Kesseltreiben entfesselt wurde. Wir wollten aufklären, und das hat man uns verwehrt.“ 225 Anschließend erfolgte die Vernehmung einiger Mitarbeiter. Schließlich musste das anwesende Publikum den Sitzungssaal verlassen, um mit der Verlesung der angeklagten Textpassagen in geheimer Sitzung fortzufahren. Noch am selben Tag erklärte die Staatsanwaltschaft, sie werde die Anklage gegen Olden zurückziehen, der in allen Anklagepunkten freigesprochen wurde. Tags darauf saßen die Geschworenen noch über Bettauer in einem einzigen Anklagepunkt zu Gericht. In ihrem Urteil stellten sie fest, dass in keinem der übrig gebliebenen 16 Passagen eine Verletzung der öffentlichen Sittlichkeit festzustellen sei, woraufhin auch er in allen Belangen freigesprochen wurde. Dies war zweifellos ein Erfolg, da ein Freispruch nicht abzusehen schien, bedenkt man das politische Klima. Antisemitische Verleumdungen und Aggressionen, auch von Seiten der Presse, zeichneten ein einheitlich negatives Bild des Angeklagten, was quasi einer Vorverurteilung Bettauers gleichkam.226 Die Freisprüche führten bei den Gegnern Bettauers und Oldens zu noch größerer Verbitterung, die sogar bis zur Gewaltbereitschaft reichen sollte. Der Prozess war ein Symptom für die gesellschaftliche und politische Atmosphäre jener Jahre. Morddrohungen gegen Bettauer gehörten zunehmend zum Alltag. Polizeischutz lehnte er allerdings ab. Die Behörden gingen den Drohungen ebenfalls nicht nach. Am 10. März 1925 streckte der 20-jährige Wiener Nationalsozialist Otto Rothstock, Bettauer in seinem Büro mit fünf Schüssen nieder. 16 Tage später erlag er seinen schweren Verletzungen. In einer Sonderbeilage der Wochenschrift, ein Blatt, dass beide gemeinsam direkt nach der Einstellung von Er und Sie im März 1924 herausgaben, äußerte sich Olden nach dem Attentat: Der Einzige, der zielbewusst und unerschrocken die Pflicht erfüllt hat, sexuelle Fragen in aller Öffentlichkeit und mit höchstem Ernst zu erörtern, ist Hugo Bettauer. Die furchtbaren Leiden, 224 Vgl. Hacker (2009): S. 93–97; Zitat ebd., S. 97; Zeyringer/Gollner (2012): S. 488f. 225 o.A. Bettauer und Olden vor den Geschworenen, in: Der Tag, 19.9.1924. 226 Vgl. Hall (1978): S. 70–73; Hacker (2009): S. 98–100.
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die er jetzt auf dem Krankenbett durchmacht, sind das Martyrium für eine gute, für eine edle Sache. Er hat für das verführte, verlassene Mädchen gekämpft, für das uneheliche Kind und für die uneheliche Mutter, für die unterdrückte Frau, gegen die Sklaverei des §144. Bettauer hat es verstanden, wie kein anderer zu den Herzen der Frauen zu sprechen, und das ist es, was ihm nicht verziehen worden ist.227
Für Olden stand Rothstock nur stellvertretend für jene gesellschaftlichen Kreise, die in ihrem politischen Kampf gegen Emanzipation und Gleichberechtigung auch vor persönlichen Diffamierungen bis hin zum Mord nicht zurückschreckten. „Immer hat das ausbeuterische Kapital den Lumpenproletarier gegen die Aufklärer und Befreier bewaffnet. Und sicher ist es wahr, daß weit schlimmer als der verkommene, depravierte Bursche die sind, die ihn gehetzt haben, und die, die ihn verteidigen.“ Unter großer Anteilnahme prominenter Journalisten, Schriftsteller, sozialdemokratischer Politiker und Teilen der Wiener Bevölkerung nahm man am 30. März Abschied von Hugo Bettauer. Sein Begräbnis wurde zur Demonstration. Der Täter wurde zwar des Mordes angeklagt, doch der Prozess am 5. Oktober geriet zum Fiasko.228 Rothstock selbst zeigte keinerlei Reue, rühmte sich mehr seiner Tat. Die Verteidigungsstrategie basierte bewusst darauf, seine geistige Unzurechnungsfähigkeit in den Mittelpunkt zu stellen. Daher bekannte er sich als nicht schuldig und hob, auf Anraten seines Verteidigers, die vermeintliche Unsittlichkeit Bettauers hervor. So gelang es geschickt, die Geschworenen zu beeinflussen. Am 6. Oktober stand der Freispruch, da sechs Geschworene ihn für geistig unzurechnungsfähig erklärten, die anderen sechs jedoch nicht. Er wurde in die Heilanstalt Steinhof eingewiesen, aus der er 18 Monate später wieder entlassen wurde. Für Olden stand fest, Bettauer sei im Schwurgerichtssaal ein zweites Mal getötet worden, die Schuld tragen nicht nur jene, die Rothstock verhetzten, sondern auch die Justiz. Der Mörder, der sich seiner Tat rühmte, der Verteidiger, der sie verherrlichte und der den Toten unmäßig beschimpft, sie wollten ihm nach dem Leben noch die Ehre rauben.229
Die Ereignisse um Bettauer und die Zeitschrift Er und Sie belegten die politische Instabilität der österreichischen Republik. Antisemitismus war weit verbreitet und man schreckte auch vor Mord nicht zurück. Der Justizapparat erwies sich als ungeeignet, der Demokratie Halt und Stabilität zu geben. Beide Prozesse verdeutlichten eher ihre antidemokratische Gesinnung zugunsten von Polizei und Regierung. Biographisch blieben die Ereignisse für Olden ein Schlüsselerlebnis, besonders im Hinblick auf sein eigenes gesellschaftliches Engagement. Sie wurden zum Prolog: Erstmals sah er sich im persönlichen Umfeld politischem Fanatismus und Antisemitismus sowie physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt. Ihre Bekämpfung war fortan eines der Hauptziele seiner journalistischen, juristischen und humanitären Arbeit. 227 Olden, in: Hacker (2009): S. 104. Folgendes Zitat ebd. 228 Vgl. o.A. Abschied von Hugo Bettauer. Eine imposante Trauerfeier, in: Der Tag, 31.3.1925; Vgl. Hall (1978): S. 80–85; Vgl. Hacker (2009): S. 102–106. 229 Olden, in: Hacker (2009): S. 112; Vgl. Hacker (2009): S. 108–112.
ZWISCHENFAZIT Das Leben Oldens im geistigen Sinne zu erfassen, bildete die argumentative Ausgangsposition seiner intellektuellen Biographie. Die unmittelbaren und politisch intensiven Nachkriegsjahre in Wien offenbarten den Versuch Oldens, die konstitutionellen Defekte der ersten Republik auf deutschem Boden zu beschreiben und sich kämpferisch für eine stabile Ordnung einzusetzen. Dem Wort Kurt Hillers ist zuzustimmen: Olden betrieb keine Politik des Dogmatischen. Vielmehr kennzeichnete die Suche nach einer alternativen Gesellschaftsidee sein Wirken in diesen Jahren. Als Mensch des Geistes suchte er die geistige Auseinandersetzung und war Symbol für gesellschaftliche Dynamiken, die mit dem Verlust ideeller Bindungen einherging. Die Biographie sah sich in zweifacher Hinsicht herausgefordert: Zum einen durch die Phase vor dem Ersten Weltkrieg und dessen Ausbruch im August 1914 und zum Zweiten in der Konfrontation mit dem neuen Nationalismus nach 1918 und einer Kultur der permanenten Krisen in der Weimarer Republik mit seinem Höhepunkt im Jahre 1923. Das großbürgerliche Milieu, welches Olden als jungen Menschen sozialisierte, war nicht prädestiniert, seine Entwicklung zum Pazifisten einzuleiten bzw. zu fördern. Umso wichtiger erscheint es, den Weg dieses Prozesses zusammenzufassen. Eine eindeutige Erklärung für die Motive seiner Hinwendung zur Friedensbewegung konnte nicht geliefert werden. Das Narrativ setzt zuvorderst bei der gesellschaftlichen Prägung durch die Familie an. Nationalliberal gesonnen und verankert in einem großbürgerlichen Milieu lernte Olden früh die gesellschaftlichen Konventionen der Kaiserzeit kennen, was dazu führte, dass er eine Laufbahn als Jurist einschlug. Auch Olden sollte Teil der gesellschaftlichen Elite des Kaiserreichs werden und seine staatstragende Funktion erfüllen. Zu dieser Rolle gehörte ohne Zweifel über eine Laufbahn als Reserveoffizier die Verbindung zum Militär. Zu beidem aber, Bürokratie und Armee, stand er als Jugendlicher eher innerlich in Distanz. Der Zwang zu gesellschaftlicher und familiärer Anpassung und die ökonomische Notwendigkeit obsiegten augenscheinlich. Politisch war er nie heimisch in diesem preußisch durchzogenen Deutschland. Die Sehnsucht nach einem Ausbruch aus diesen Verhältnissen kennzeichnete den jungen Olden um die Jahrhundertwende.1 Man kann nicht mit Bestimmtheit sagen, welche Aspekte der Gesellschaft er als Beengung empfand, kalkuliert man seine Unlust gegenüber einer militärischen Ausbildung und seine spätere Hinwendung zu pazifistischen Ideen mit ein, so könnte ihm die Vorstellung von der Armee als Schu1
Anfang 1923 gelang dieser Ausbruch kurzzeitig tatsächlich, als er für den Tag eine mehrwöchige Reportage-Reise nach Südamerika unternahm und seine Eindrücke und Erfahrungen in einigen Artikeln veröffentlichte: R.O. Fahrt nach Südamerika, in: Der Tag, 15.2., 16.2., 20.2., 23.2., 2.3., 3.3., 6.3., 7.3., 15.3., 17.3., 11.4. sowie 20.4.1923.
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le der Nation vor 1914 fremd gewesen sein, ohne damit eine politische Aussage zu verknüpfen. Olden war eher ein Schöngeist, mit Interesse an Kunst, Kultur, Literatur und Theater. Er begeisterte sich mehr für Heinrich Heine, William Shakespeare, Friedrich Nietzsche und Stefan George als für Helmuth von Moltke oder Alfred von Schlieffen. Sein beweglicher Geist versank gerne in kultureller Vielfalt anderer Länder. Militärischer Drill und die damit verbundene Denk- und Verhaltensweise missfiel ihm. Olden schien in jungen Jahren kosmopolitisch veranlagt zu sein, auch wenn seine bildungsbürgerliche Welt ökonomisch herausgefordert war. Sein persönliches Wesen schwankte in dieser Phase zwischen familiärer bzw. gesellschaftlicher Bevormundung und einem gewissen Maß an Renitenz gegen die herrschenden Verhältnisse. In diesem widersprüchlichen Verhältnis suchte Olden erstmals seine Beziehung zur modernen Welt neu zu justieren, was seine Zuneigung zur Wiener Moderne erklärbar machen würde. Deren emanzipatorischer Charakter war von enormer Bedeutung. Es verband sich mit ihr die Auflehnung gegenüber der elterlichen Herkunftswelt. Ein starker Individualismus prägte den jungen Olden, der gewisse narzisstische Züge in der Erforschung seiner eigenen Bedürfnisse und Seelenzustände aufwies. Das Individuelle wurde vor 1914 indirekt auch bei ihm zum Bezugspunkt einer Kulturkritik und stand im Zusammenhang mit einer gesteigerten Form menschlichen Selbstzwecks, in dem er Halt zu finden glaubte. Rasch erkannte er die janusköpfige Gestalt der Subjektivität. Wassermann und seine Figur des Daniel Nothafft symbolisierten einen Ausweg aus dem selbst verschuldeten Narzissmus, der nur in Vereinsamung münden kann. Natürlich hat dies alles nur bedingt etwas mit einem Pazifismus der Vorkriegszeit oder einem politisch gefestigten Weltbild preußisch-deutscher Herrlichkeit und Weltgeltungsambition zu tun. Vielmehr ist es ein Beleg für das Unwohlsein gegenüber seiner zeitgenössischen Kultur und Politik. Die Idee einer alternativen politischen Ordnungsvorstellung, mit der er eine stärkere Identifizierung verband, fehlte. Ausgehend von diesem Bild, erscheint seine anfängliche Kriegsbegeisterung folgerichtig, sah Olden in seinem Ausbruch die Chance auf etwas grundlegend Neues. Den Krieg verband nicht nur er mit einer befreienden Wirkung aus der Enge der politischen Kultur. Entscheidend bleibt der Hinweis, dass er keinem chauvinistischen Nationalismus frönte. Motivation zur Teilnahme am Krieg war eher der Versuch eines nationalen Befreiungsschlages von überkommenen Tugenden. Jene Gefühlslage ließ sich allerdings nur kurzfristig konservieren, war der Krieg eben nicht die kurze Sensation, die Olden erhofft hatte. Im September 1915 erlosch die Hoffnung auf Erneuerung endgültig. Das narzisstische Momentum der Vorkriegszeit gewann wieder die Oberhand, wenn er offensichtlich nur die Langeweile des Stellungskrieges an seinem Frontabschnitt ins Feld führte, scheinbar ungerührt von der Form des Krieges, der ab 1916 in Verdun sein grausames Antlitz zutage förderte. Die Feldpost zeugte zu keinem Zeitpunkt von einer reflektierten Wahrnehmung des massiven Blutvergießens seiner Kameraden im Westen. Ob dies ausschließlich der Zensur zuzuschreiben ist, muss unbeantwortet bleiben. Der Tod seiner Geliebten Stefanie sowie der eigene Gesundheitszustand dürften den Blick für die Realitäten des Krieges teilweise getrübt haben.
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Die Auseinandersetzung mit den Werken des französischen Schriftstellers Balzac lassen eine symbolische Deutung zu: Abkehr vom reinen Individualismus, wahre Humanität liegt zwischen Individuum und Kollektiv. Gesellschaftliche Konflikte werden nicht durch die individuelle Weltflucht oder gar durch die massenhafte Flucht in den Schützengraben in der Erwartung einer gesellschaftlichen und staatlichen Selbstreinigung lösbar. Kurz vor Ende des Krieges empfand Olden stärker mit Franz Marc oder Arnold Zweig: Letztlich habe er sich als untauglich erwiesen, Schöpfer eines neuen Deutschlands oder Europas zu sein. Das Gegenteil war der Fall. Trotz des Krieges blieb das Ausgangsproblem alternativer politischer Modelle ungelöst. Die Frage nach der Alternative wurde mit Blick auf ein baldiges Kriegsende verschärft gestellt und polarisierte zunehmend die politische Lage im Deutschen Reich. Aus den Briefen Oldens sprachen erstmals mit der Veröffentlichung des 14Punkte-Programms durch den amerikanischen Präsidenten positive Zukunftserwartungen. Sie bildeten für ihn eine optimistische Projektionsfläche künftiger politischer Ordnung. In Verbindung mit seinen Bezügen zu Balzac und seiner kosmopolitischen Orientierung vor Kriegsausbruch stand er westlichen Idealen unvoreingenommener gegenüber als viele seiner Landsleute, denen der Geist von 1914 offenbar nur deshalb nicht mehr tragbar schien, weil er einem raschen Friedensschluss im Wege stand, wie Olden kritisch anmerkte. Mit dem Ende des Krieges knüpfte er eine ideelle Verbindung zur deutschen Sozialdemokratie, die über einen rein personellen Bezug wie bei Ludwig Frank hinausgreifen sollte. Zwischen November 1918 und Januar 1919 bewertete er die politische Entwicklung in Berlin unter der Führung von Friedrich Ebert durchaus wohlwollend. Nachhaltigkeit erwuchs daraus nicht, verdunkelte sich sein Bild von der SPD dadurch, dass unter ihrer Führung die Spaltung der Arbeiterschaft zementiert wurde. Mit der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg am 15. Januar 1919 durch die unter staatlicher Obhut stehenden Freikorps war für Olden eine unpolitische Haltung kaum mehr möglich. Die in Wien eingeschlagene journalistische Karriere begann öffentlich mit dem Versuch einer persönlichen Auseinandersetzung über seine individuelle Rolle im (politischen und kulturellen) System. Kritisch die eigene gesellschaftliche Funktion im Kaiserreich hinterfragend, ging Olden daran, sich von seiner Selbstreferenzialität zu lösen. Symbolisch bleibt die Beschäftigung mit Christian Wahnschaffe, markierte sie den Beginn eigener Wandlung und Läuterung durch die Aufgabe des Ichbezogenen Denkens. Diese Auseinandersetzung mit der persönlichen und gesellschaftlichen Rolle führte zur Einsicht, dass er mit seinem Beruf als Journalist nicht mehr unpolitisch sein kann und darf. Jenes Privileg genieße nur der Künstler und Schriftsteller. Mit den revolutionären Ereignissen in Deutschland und Österreich verband sich eher eine allgemeine Politisierung seiner Ansichten. Unter zunehmendem Kontakt zur österreichischen Sozialdemokratie und den Vorstellungen von Benno Karpeles rang Olden um eine wahre parlamentarische Republik, wenngleich der pazifistische Impuls parallel durch den Friede und seine dortigen Kollegen angelegt war und idealtypisch sowie individual-biographisch nicht zu trennen ist von dem Versuch, die republikanische Grundordnung stabilisieren zu helfen. Dass es dazu nötig sei, offenbarte Olden höchst selbst, wenn er Zweifel an der demokra-
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tischen Gesinnung der Gesellschaft hegte. Parlamentarismus und Republikanismus stünden nicht am Ende eines Einsichtprozesses in die politischen Notwendigkeiten der Zeit, die er glaubte, für sich endgültig gefunden zu haben, sondern seien vielmehr ein friedenspolitisches Feigenblatt. Die staatliche Gemeinschaft diene gänzlich dem falschen Zweck. Der Weltkriege habe gelehrt, in welcher Funktion sie zu stehen habe: Jede Staatsordnung müsse sich als Hüter der Menschenrechte begreifen. Gleichzeitig müsse das Individuum selbst in einer Art innerem Reinigungsprozess die Frage der persönlichen Verantwortung übernehmen. Eine demokratischrepublikanische Ordnung gebe dazu einen geschützten Rahmen, nämlich die Sicherung individueller Menschenrechte durch den Rechtsstaat. In der Betonung des rechtsstaatlichen Verständnisses allein könne die diagnostiziere Oberflächlichkeit zur Staats- und Regierungsform nicht überwunden werden. Kodifizierte Freiheitsrechte, die durch den Staat zu garantieren sind, erforderten im Verständnis von Olden die Ergänzung durch eine neue und umfassende Erziehung des Volkes. Dem rechtlichen folgte ein moralisches Verdikt. Nur so sei der vorhandene Militarismus in der Gesellschaft dauerhaft zu bekämpfen und zu beseitigen. Dem republikanischen Rechtsstaat müsse es darum gehen, die Bürgerschaft für sich einzunehmen. Er müsse von einer breiten gesellschaftlichen Mehrheit geistig getragen werden, sonst bleibe der Parlamentarismus eine oberflächliche Angelegenheit. Da jener grundlegende Wertewandel ausblieb, sei die errungene Demokratie wertlos. Oldens Erzählung der Weimarer Republik rückte die Krisenanfälligkeit der politischen Ordnung von Anfang an in den Vordergrund der politischen Berichterstattung. Entscheidende Weichen für ein Gelingen des Parlamentarismus waren nicht gestellt worden. Er machte es sich zur Aufgabe, auf die entscheidenden demokratischen Defizite gesellschaftlicher Eliten aufmerksam zu machen. Insgesamt bedarf es einer stärkeren Identifizierung mit der Republik. Im kritischen Umgang mit der Novemberrevolution gelangte Olden über eine allgemeine Kritik des Militarismus in der deutschen Gesellschaft und über eine Beschäftigung mit den Kriegsursachen (Idealismus, Nationalismus und Anarchismus des internationalen Systems) in eine immer stärkere pazifistische Orientierung. Dies wurde durch das Wiener Umfeld um Karpeles eingeleitet. Die Dynamik der neuen radikalen Rechten, die die Republik herauszufordern begannen und die politischen wie ökonomischen Krisen der Weimarer Anfangsjahre katalysierten seine Vorstellungen von einem Pazifismus weiter. Insgesamt gewinnt man den Eindruck, dass das pazifistische Momentum, das demokratisch-republikanische Element zu Beginn der 1920er Jahre ergänzte. Anders ausgedrückt: Seine persönliche Republikanisierung, die ihn 1918/19 zu einem entschiedenen Verfechter des Weimarer Systems machen sollte, ging der Pazifizierung voraus. Seine Entwicklung nahm einen anderen Verlauf, als der vergleichbarer Pazifisten, die vor 1914 oder in den Jahren des Weltkrieges der Friedensbewegung nahe standen und die erst durch das Einsickern des sozialdemokratischen Milieus, sowohl personell als auch inhaltlich, stärker auf die innenpolitische Debatte des neuen Gesellschaftssystems reagieren mussten, was in dieser Form im Kaiserreich durch die Dominanz des bürgerlichen Milieus eher sekundär geblieben war. Wie wenig Olden vor 1914 im Pazifismus des Kaiserreichs verankert war, mag der Umstand belegen, dass er anders als angenommen, nicht den
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Versuch unternahm, die Ursachen für das Scheitern des Vorkriegspazifismus zu definieren. Andererseits bestätigte sich die allgemeine Annahme darin, dass es ihm im Verbund mit allen Pazifisten seiner Zeit daran gelegen war, innenpolitische Veränderungen herbeizuführen, um künftige Kriege zu verhindern. Insofern erscheint der Krieg für Olden selbst weniger eine biographische Zäsur zu sein, die ihn zu einem entschiedenen Pazifisten hat werden lassen, als vielmehr die verschärfende gesellschaftliche Dynamik der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die Bevölkerung habe es nicht gelernt, sich vom Militarismus loszusagen. In erster Linie war sein Pazifismus durch Fragen der Nahperspektive gekennzeichnet, was ihn grundlegend mit der Weimarer Friedensbewegung verband. Auf fester republikanischer Grundlage waren es die gesellschaftlichen Kontinuitäten alter Herrschaftseliten, die ihn entscheidend den Pazifismus näher brachte. Die Suche nach politischer Heimat kam an ihr Ende. Fortan bestimmten der Kampf für die Erhaltung und Stärkung der staatlichen Ordnung das journalistische Dasein. Pazifistische Motive wurden zunehmend erkennbar. Eine eindeutige Zuschreibung zum gemäßigten Pazifismus aufgrund seiner bürgerlichen Herkunft konnte nicht bestätigt werden. Seine Friedensidee zeigte eine gewisse Form der Anpassungsfähigkeit an die politischen Herausforderungen der Zeit. Übereinstimmungen zu den Hauptströmungen des Weimarer Pazifismus waren punktuell und dienten der Unterfütterung und Herausbildung eigener Positionen. Ein gedanklich geschlossener Kern, der ihn eindeutig zu einem gemäßigten oder radikalen Friedensfreund hätte werden lassen können, konnte nicht eingefangen werden. Olden erwies sich bis Ende 1925 nach beiden Seiten als anschlussfähig. Ohne Dogmatismus betrieb er einen Pazifismus des Sowohl-Als-Auch, der innen- und außenpolitische, moralische sowie rechtsstaatlich fundierte Prämissen vertrat. Eingebunden in pazifistische Organisationen war er in Wien offenbar nicht. Betrachtet man seine Kritik, die er dem Kongresswesen und dessen Kultur entgegenbrachte, blieb Olden stärker in der Beobachterroller, ohne sich dezidiert an den inhaltlichen Kontroversen der Hauptströmungen zu beteiligen. Auch organisatorische Fragen standen wenig im Mittelpunkt der Analyse, selbst wenn er versuchte, das Reichsbanner als Organisation insgesamt gesellschaftlich bedeutender zu machen. Für seinen Pazifismus hatte dies keinerlei Auswirkung. Sein Schwerpunkt lag auf einem Zielpazifismus, der die Form bzw. die Gestalt einer friedlichen Welt betrachtete. Innenpolitisch war es die wahre Republik, getragen von einer demokratisch gesonnenen Bevölkerung sowie politischer und gesellschaftlicher Eliten, die den inneren Frieden zu schaffen und zu sichern hätten. Das außenpolitische Pendant war die Idee eines Pan-Europa. Gewalt als Instrument zur Reaktion kann nicht ausgeschlossen werden. Auf beiden Ebenen ist die Frage nach der Anwendung von Gewalt als Abwehrrecht legitim, denke man an das Wort von Kant, auf das Olden eindeutig Bezug nahm: Republik sei Gewalt mit Freiheit und Gesetz. Rechtsstaatliche Konfliktlösungsmechanismen müssten präferiert werden. Die kodifizierten Menschen- und Bürgerrechte bezeugten den Willen zur friedvollen Zivilisation bzw. Kultur. In Oldens Verständnis waren sie Ausdruck von Zivilisation, die der Rechtsstaat schützen sollte.
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Er sah sich aber einem staatlichen System gegenüber, dass in der Rechtsprechung politische Gewalt sogar legitimiere, wie er am eigenen Beispiel in seiner Rolle als Herausgeber leidvoll erfahren musste. Mit seiner Kritik an Justiz und Reichswehr zielte er indirekt auf eine veränderte (politische) Kultur in Deutschland, die nur auf erzieherischem Wege erreicht werden könne. Ausgehend von diesem Problembewusstsein schuf Olden (s)ein geistiges Koordinatensystem, in dessen Verknüpfungen seine Idee des Politischen offenbar wurde. Evident erscheint der Hinweis, dass dies selbst im Falle Oldens nicht einer klaren Bewusstseinsstrategie folgte und nicht identisch mit dem Zeitgeist zu sein braucht. Die Betonung der Menschenrechtserklärung verband Olden mit der Vorstellung einer Sozialstaatlichkeit, die keine kommunistischen oder austromarxistischen Ideen kodifizierte, sondern einen sozialreformerischen Impetus nach britischem Vorbild verfolgte. Eine Synthese zwischen der individuellen Freiheit liberaler Ideen und sozialer Verantwortung sozialistischer Ideen war prägend für den Versuch, das Zusammenleben in der gesellschaftlichen Realität Nachkriegseuropas zu denken. Der Bezug zu Bernard Shaw verknüpfte die Vorstellung einer neuen individualisierten Moral mit einer veränderten Wirtschaftspolitik. Toleranz und Anerkennung von Vielfalt unter rechtsstaatlichem Schutz individueller Freiheitsrechte müsse die Republik als Garant für den inneren Frieden erscheinen lassen. Im Hintergrund wirkte das Menschenbild Kants, wenn er betonte, den Menschen nie nur als Mittel, sondern auch als Zweck zu betrachten. Insofern schloss Oldens Sozialismus-Begriff neben der sozialreformerischen auch eine ethische Komponente ein, die maßgeblich durch das Umfeld des Neukantianismus geprägt war. Gleichzeitig verschwimmen in seinen Positionen unreflektiert die materiellen Diskrepanzen zwischen dem aus der neukantianischen Schule hervorgehenden Revisionismus Bernsteins und dem Fabianismus. Betrachtet man die Unterschiede in der Ideologie-Genese, so fühlte sich Olden den Fabiern durchaus näher, da sie „in der Regel vom Liberalismus herkamen. Die Folge war, dass für sie zumindest gegenüber dem Marxismus keine legitimatorischen Probleme bestanden beim Versuch, eine ihren Voraussetzungen und Bedürfnissen adäquate Theorie zu entwickeln.“2 Wichtiger war für ihn ohnehin die Umgestaltung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung auf evolutionärem Wege. Philosophische Feinheiten waren eher sekundär. Ohne konkret auf einzelne wirtschaftspolitische Thematiken und Probleme näher einzugehen, kennzeichnete die Position Oldens das Bemühen um ein Zusammendenken von fabischen Ideen mit jenen Rathenaus, indem er unter Anleihe bei Bernard Shaw beide als gleichberechtigte Exponenten einer Aussöhnung zwischen Kapital und Arbeit bespricht und kommentiert. Ein theoretischer Begründungszusammenhang war nicht feststellbar. Entscheidender blieb der Einfluss von Rathenau auf Olden im zwischenstaatlichen bzw. außenpolitischen Spektrum und deren Diskursen. Ausgehend von dem Versuch einer wirtschaftlichen Gesundung Europas durch die Lösung der Reparationsfrage gelangte Olden über die Prämissen Rathenaus zur Einsicht einer deutsch-französischen Verständigung. Insofern kamen dessen Vorstellungen einer Scharnierfunktion gleich, die von den Mitteleuropa2
Frei (1979): S. 384.
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Ideen seines Freundes und Kollegen Karpeles zu den Pan-Europa-Ideen Kalergis führte. Eine starke europäische Friedensperspektive und Orientierung war die Folge. Was die Verknüpfungen innerhalb des Pazifismus anlangt, setzte sich der Versuch fort, juristische und moralische Aspekte miteinander in Einklang zu bringen. So urteilte Olden in der Frage der Kriegsschuld sowohl auf Basis des gemäßigten Pazifismus, indem er die rechtliche Verantwortung des Einzelnen, insbesondere des Kaisers, und des internationalen Systems als Ganzes in den Mittelpunkt rückte, als auch im Sinne des radikalen Pazifismus, wenn er das Ideal-hungrige Bürgertum mitschuldig für das Blutvergießen des Ersten Weltkrieges spricht. Es habe nach wie vor nicht erkannt, welcher fatale Mechanismus aus Idealismus und militaristischer Erziehung in den Untergang führte. Sein Pazifismus war der dialektische Versuch, eine Friedensidee zwischen dem gescheiterten Wilsonismus und der proletarischen Revolution auf der Grundlage westlich-demokratischer Werte und Ideale zu begründen. Das Umfeld um die österreichische Sozialdemokratie mit ihrem traditionell stark verankerten Bildungsanspruch ergänzte diese Idee hin zu dem Bemühen um ein positives Narrativ von Demokratie und Parlamentarismus. Nicht in der Vorstellung organischer und national-kulturell konstruierter Identitäten einer Mitteleuropa-Idee läge die friedliche Zukunft Europas, die innerhalb des Kontinents gesucht und institutionell hergestellt werden müsse, sondern in der Aufgabe aller Nationalismen und in der deutsch-französischen Aussöhnung als Motor der wirtschaftlichen wie politischen Einigung. Schließlich verbürge die republikanische Staatsform die außenpolitische Möglichkeit zu Verständigung und Annäherung.
6 BERLINER JAHRE (1926–1933) Der Journalist wider Willen hatte es Mitte der 1920er Jahre weit gebracht. Sein Name galt etwas. Innerhalb der österreichischen Presse entwickelte sich Olden zu einem profunden Kenner der Weimarer Verhältnisse. Außerdem berichtete er in zahlreichen Reportagen u.a. über die kleinen und großen Wirtschaftsskandale oder Korruptionsprozesse Wiens. Sein Bekanntheitsgrad dürfte durch den politischen Skandal um Hugo Bettauer und die Zeitschrift Er und Sie gewachsen sein. Rasch wurde Olden über die Grenzen seiner Wahlheimat hinaus bekannt. So blieb es den führenden Publizisten der Weimarer Republik nicht verborgen, welches journalistische Talent da in der fernen Donaumetropole herangereift war. Noch im März 1925 in Wien lebend, „bestellte Siegfried Jacobsohn für die Weltbühne eine Serie Österreichische Köpfe, in der Olden detailliert und doch aphoristisch, spitz und ironisch, dabei nie verletzend und bisweilen sogar zärtlich typische Vertreter Österreichs porträtiert und karikiert.“1 Während seiner Tätigkeit für den Tag schrieb er eine Porträt-Reihe unter dem Titel Deutsche Köpfe2, gut möglich, dass der Herausgeber der Weltbühne dadurch angeregt wurde, waren derartige Artikelserien fester Bestandteil des Blattes. Durch insgesamt elf Artikel brachte Olden dem deutschen Leser die Entwicklung und innere Verfasstheit der österreichischen Demokratie nahe. Die gesellschaftliche Realität nach 1918 sei gekennzeichnet durch Skandale in Politik, Wirtschaft, Justiz und Kultur. Die neue Staatsordnung übe keinerlei Strahl- und Bindungskraft auf die Bürger aus. Sie erstarre im Mittelmaß. Man muß, will man Oesterreich schildern, von den Außenseitern sprechen. Das ist nicht erst seit heute so, aber heute mehr als früher: daß die Offiziellen Mittelmäßigkeiten sind und die, die etwas bedeuten, sich abseits halten. Man sieht als seine legitimierten Vertreter so oft nur glatte Flachköpfe, von ländlich biederer Liebenswürdigkeit, die etwas unbeholfen Deutsch reden.3
Unter welchen Umständen diese erste zaghafte Zusammenarbeit zwischen Olden und der Weltbühne ab dem Frühjahr 1925 genau zustande kam, muss offenbleiben, da keine Aufzeichnungen oder Briefe aus jenen Jahren mehr erhalten sind, die darüber Auskunft geben könnten. Folgendes ist aber anzunehmen: Schon ab 1906 schrieb sein drei Jahre älterer Bruder Balder für das Blatt von Jacobsohn, wodurch eine familiäre Beziehung bzw. Tuchfühlung in den Kreis der Redaktion nicht auszuschließen ist. Ob und inwiefern Balder Olden einen wie auch 1 2
3
Müller, in: Blanke (1988): S. 183. Vgl. R.O. Deutsche Köpfe. I. Hitler, 2. Hillferding, 3. Stresemmann, in: Der Tag, 4.11.1923; Ebd. Deutsche Köpfe. 4. Ludendorff, in: Der Tag, 11.11.1923; Ebd. Deutsche Köpfe. 5. Kronprinz Wilhem, in: Der Tag, 18.11.1923. R.O. Oesterreichische Köpfe, in: Weltbühne, 19.1.1926.
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immer gearteten Einfluss geltend machen konnte, ließ sich nicht mehr rekonstruieren. Wahrscheinlicher ist allerdings die Fürsprache und Empfehlung anderer Kollegen, die mit Olden beim Wiener Tag zusammengearbeitet haben. So schrieb Alfred Polgar seit 1905 oder Egon Erwin Kisch seit 1911 für die spätere Weltbühne. Beide Journalisten begleiteten Olden seit 1922 intensiv auf seinem Weg zu journalistischer Reputation. Letzterem widmete er im November 1924 im Tag ein kleines Porträt anlässlich dessen Band Der rasende Reporter. Dort schrieb er über Kisch: Er sagt, ausführlich und präzise, was ist. Höchstes Lob des Reporters! Kisch ist nicht nur der erste Reporter deutscher Zunge, sondern auch ein Propagandist seines Gewerbes. Er betreibt seine Propaganda auf die vorzüglichste Art dadurch, daß er seine eigenen Reports gesammelt herausgibt. Sie sind geschrieben, um am anderen Tage durch die Rotationspresse zu laufen. Und dabei sind sie heute, nach zehn Jahren oder nach einem Jahre, noch so frisch, so interessant, so fesselnd, wie sie nur am Tage nach dem Erleben gewesen sein können.4
In diesem Sinne würdigte Olden ihn als den „wahren Lehrer des Volkes“. Die personellen Verknüpfungen und Beziehungskonstellationen, die hier lediglich angedeutet wurden, dürften durch thematische Schnittmengen zwischen den Positionen Oldens und der Weltbühne ergänzt worden sein.5 Sein Engagement für das Blatt stand symbolisch am Ende einer inhaltlichen Wandlung und Neuausrichtung nach 1918. Schon zuvor hatte eine junge Generation an Autoren um Hellmut von Gerlach oder Kurt Hiller den politischen Charakter geprägt. Jacobsohn und Tucholsky zeigten ein sicheres Gespür für die Herausforderungen der neuen Zeit. Das Politische gewann stärker an Kontur und wurde fortan konsequent betrieben. „Der Erste Weltkrieg schließlich entfaltete eine katalytische Wirkung und beförderte die Politisierung und Linksausrichtung des Blattes.“6 Thematisch stieß Olden mit seinen Wiener Beiträgen auf äußerst fruchtbaren Boden. Markant und in einer gewissen Übereinstimmung zum späteren Kollegen in der Weltbühne schrieb Tucholsky 1919 in seinem Artikel Wir Negativen: Wir stehen vor einem Deutschland voll unerhörter Korruption, voll Schiebern und Schleichern, voll dreimalhunderttausend Teufeln, von denen jeder das Recht in Anspruch nimmt, für seine schwarze Person von der Revolution unangetastet zu bleiben. Wir meinen aber ihn und grade ihn und nur ihn.7
Der Untertanengeist von Offizieren, Beamten, Politikern und Bürgern wurde zum beherrschenden Thema der ersten Nachkriegsjahre. In letztlich grundlegender Übereinstimmung zu den Positionen Oldens fuhr Tucholsky fort: „Wir sollen positive Vorschläge machen. Aber alle positiven Vorschläge nützen nichts, wenn nicht die rechte Redlichkeit das Land durchzieht. Was wir brauchen, ist diese anständige Gesinnung.“ Man versuchte Antworten darauf zu geben, warum der Geist Preußens in der deutschen Gesellschaft nicht verschwunden war, weshalb die Chance auf eine geistige Revolution nicht ergriffen wurde und verband dies mit einer Kritik am Mi4 5 6 7
R.O. Egon Erwin Kisch, der Reporter, in: Der Tag, 21.11.1924. Folgendes Zitat ebd. Vgl. zu den hier genannten Autoren und deren Tätigkeit für die Weltbühne: MadraschGroschopp (1983): S. 55–74. Gallus (2012): S. 52. Tucholsky, Wir negativen!, in: Weltbühne, 13.3.1919. Folgendes Zitat ebd.
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litarismus. Schließlich gehörte Tucholsky u.a. zu den Mitbegründern der Nie-Wieder-Krieg-Bewegung. Allerdings machte sich die Weltbühne nie zum Sprachrohr einer pazifistischen Organisation, wenngleich zahlreiche ihrer Mitarbeiter innerhalb der differenzierten Weimarer Friedensbewegung tätig gewesen sind. Eine zu enge Verbindung widersprach dem Unabhängigkeitsverständnis des Herausgebers, der das Blatt frei von organisiertem politischem Einfluss halten wollte. Thematisch blieb die Weltbühne dem pazifistischen Diskurs durchaus nahe. Immer wieder wurde die illegale Aufrüstung der Reichswehr besprochen und führte zu Strafanträgen gegen die Autoren und Herausgeber wegen Landesverrates. Die inneren Spannungen des Weimarer Pazifismus trugen die unterschiedlich orientierten und motivierten Friedensfreunde auch innerhalb des Blattes aus. „Für den General von Seeckt war sie ein wahres Pazifistennest.“8 Die Geschehnisse der Nachkriegszeit versuchte eine neue Riege von Journalisten und Schriftstellern auf dem politisch linken Spektrum zu kommentieren. So war es der aus dem Kreis der Weltbühne stammende Berthold Jacob, der unermüdlich die Enthüllungen über die Schwarze Reichswehr ab 1925 vorantrieb oder Carl Mertens, der aus der Verblendung des Nationalismus heraus über die DLM zur Weltbühne fand und aus der Innenansicht der Brigade Ehrhardt über die Fememorde zu berichten wusste. Fortlaufend erreichte das Blatt ein breiteres Themenspektrum, das politische Analysen mit ökonomischer Expertise und literarisch-künstlerischer Kompetenz verband und für einen intellektuell freischwebenden Journalismus stand, der auch die sozialen Folgen der anfänglichen Krisenjahre warnend hervorhob und früh auf die Gefahr des Nationalsozialismus und Antisemitismus hinwies. Anfänglich sprach man sich mehrheitlich gegen eine Räterepublik aus und stand fest auf dem Boden der neuen Verfassung. Das Bild einer noch zu vollendenden Revolution teilte Olden mit den Verfassern und Herausgebern. Die ideelle Verbindung zwischen dem Wiener Pazifisten und der Weltbühne verlief um 1925/26 entlang folgender Punkte: Bekenntnis zur republikanischen Staatsform, Kampf gegen Nationalismus und Militarismus, Aussöhnung mit Frankreich, Justizkritik und unter Einbeziehung der Positionen Oldens in Er und Sie der Kampf gegen die Kriminalisierung von Homosexualität und Schwangerschaftsabtreibungen. Die Mitarbeit in der Weltbühne orientierte und sensibilisierte ihn noch auf eine andere Art und Weise. Themen wie die Humanisierung des Strafvollzugs, Abschaffung der Todesstrafe oder die juristische Aufarbeitung der Fememorde waren gesellschaftlich relevante Diskurse, in die er nach der Anstellung beim Berliner Tageblatt explizit mit seinen Beiträgen eingreifen sollte, wie die weiteren Ausführungen zeigen werden. Auf die Person Olden und seine journalistische Arbeit bis Mitte der 1920er Jahre in Wien kann folgende Zuschreibung als durchaus zutreffend bezeichnet werden: „Die Sympathie der Weltbühne in der Frühzeit der Weimarer Republik galt linken Liberalen und Sozialdemokraten.“9 Dies mag schließlich einen Ausschlag dafür gegeben haben, dass Tucholsky und Jacobsohn ihn mit der Erarbeitung der Oesterreichischen Köpfe beauftragt hatten und somit seinen Weg in die Autorenschaft der 8 9
Madrasch-Groschopp (1983): S. 131. Gallus (2012): S. 59.
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Weltbühne ebneten, deren journalistisches Netzwerk ihn entscheidend beeinflussen wird. Die Verbindung zu jenem linken unabhängigen Milieu intellektueller Pazifisten stellte den Anfang einer weiteren journalistischen Entwicklung in seiner Biographie dar. Es symbolisierte endgültig den Weg in ein, wie Dieter Mayer es nannte, „linksbürgerliches“ Ideenspektrum und Denken, dass sich in der Tradition der Aufklärung sah, „einen besonderen Führungsanspruch des Geistes proklamierte und auf einen Zivilisationspessimismus verzichtete“10 und im Falle Oldens auf eine Synthese von Kultur und Zivilisation im Rahmen der Vereinigten Staaten von Europa verwies. Moralisch-reformerischer Sozialismus, Pazifismus und „die Vergeistung der Politik“11 bildeten zwischen ihm und der Weltbühne ein intellektuelles Koordinatensystem, das Olden quasi aus Wien mitbrachte und in den publizistischen Dienst der Republik stellte. Das Spannungsfeld zwischen idealistischem Anspruch sowie deren Kritik und notwendigen Kompromissen in der Realpolitik blieb weiter unausgetragen.12 So kurz sein erstes Engagement für die Weltbühne gewesen ist, umso bedeutender war ihre Rolle als Geburtshelfer für den Redakteur Olden beim Berliner Tageblatt. Schon Ende 1925 suchte Theodor Wolff in seiner Funktion als Chefredakteur des Blattes einen neuen Mitarbeiter für das Ressort Politik. Im Streit um die Nachfolge hatte Erich Dombrowski, der lange Zeit als Kronprinz Wolffs galt, das Berliner Tageblatt verlassen, da dieser aus ungeklärten Gründen von seinem bisherigen Mitarbeiter abgerückt war. Letztlich war dies wohl eine Frage des Gehaltes.13 Jene personelle Vakanz gereichte Olden zum Vorteil, da Wolff ausgerechnet bei Siegfried Jacobsohn nach möglichen Kandidaten für die Nachfolge anfragte. In der Korrespondenz zwischen ihm und Tucholsky heißt es am 2. Januar 1926: Ich habe Dir wohl schon geschrieben, daß Dombrowski geht, weil sie ihm nicht mehr als 1200 Mark zahlen wollen. Sie fragen mich nach einem Nachfolger. Ich nenne als geeignetsten, Rudolf Olden. Der verlangt 2000 Mark. Und sie erklären, daß das vollständig unmöglich sei.14
Doch als gänzlich unmöglich erschien die Anstellung Oldens nicht. Wenige Tage später bot Wolff ihm die Stelle tatsächlich an, wenngleich dessen Schreiben nicht mehr erhalten ist. Am 22. Januar 1926 schrieb Jacobsohn erneut an Tucholsky: „In Sachen des Dombro-Nachfolgers haben sie wieder eingelenkt, weil sie keinen finden, und verhandeln mit meinem Kandidaten aufs neue, schriftlich. Nenne vorläufig keinem seinen Namen: Rudolf Olden.“ Welche Wertschätzung er bei Jacobsohn genoss, wird aus weiteren Briefen deutlich, in denen er von ihm als „meinem Schützling“ sprach. Noch im Januar 1926 reiste Olden persönlich nach Berlin, um weitere Details mit Wolff zu besprechen. Am 23. Januar, wieder in Wien weilend, schrieb er an die Chefredaktion: „Auch ich hoffe, zum Berliner Tageblatt zu ko10 Mayer, in: Gallus (2012): S. 42. 11 Gallus (2012): S. 40. 12 Zur thematischen und organisatorischen Entwicklung der Weltbühne nach 1918: Exemplarisch Vgl. Madrasch-Groschopp (1983): S. 116–162; Gallus (2012): S. 34–44 bzw. S. 51–61. 13 Vgl. Sösemann (2000): S. 109f. 14 Brief Siegfried Jacobsohn an Kurt Tucholsky, 2.1.1926, in: Soldenhoff (1989): S. 357. Die folgenden Zitate ebd., S. 366f. und S. 391.
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mmen.“15 Offenbar war man soweit übereingekommen, dass Olden sich eine Übersiedlung nach Berlin und eine Anstellung als Redakteur beim Tageblatt durchaus vorstellen konnte. Es bot in ähnlicher Art und Weise inhaltliche Schnittmengen wie die Weltbühne als „liberal-demokratisch engagierte Zeitung“16 und war mit einem enormen Prestigegewinn für die journalistische Karriere verbunden. Weiterhin gab es ihm die Gelegenheit, unmittelbarer und direkter die politischen, juristischen und kulturellen Geschehnisse in der Republik zu verfolgen und zu kommentieren. Der finanzielle Anreiz dürfte ebenfalls seine Wirkung nicht verfehlt haben. „Ich bin auf der Grundlage von zweitausend Mark nach Berlin gerufen worden und glaube, es als selbstverständlich betrachten zu dürfen, daß diese Gage sich auch auf den Probemonat bezieht.“17 Noch Ende Januar oder Anfang Februar 1926 vollzog Olden den Wechsel in die Redaktion des Berliner Tageblatt. Eine Festanstellung, die er unmittelbar seinem Mentor und Befürworter Jacobsohn mitteilte, erfolgte nach einem Probemonat zum 1. April 1926. „Augenblicklich wird über Olden Kriegsrat gehalten, da heute abend sein Probemonat ausläuft. Ich bin gespannt. – Telefoniert soeben, daß er engagiert sei.“18 Ihm war der Aufstieg in den Olymp der deutschen journalistischen Elite gelungen. Allein die Größe der Redaktion und des Mosse-Konzerns insgesamt war Mitte der 1920er Jahre imponierend. „Die Zahl der Redaktionsmitglieder schwankte um die Größe einer Hundertschaft, die der freien Mitarbeiter war eine Legion. Es ist gleichgültig, welches Halbjahr man in den Jahrzehnten herausgreift, die entstehende Liste wird sich jedesmal wie ein Who's who lesen.“19 Sowohl Wolff selbst als auch die einzelnen Ressortleiter scharten ein Heer von Kollegen um sich. So heterogen die jeweilige Entourage dort war, dem Chef gelang die Integration. Die Mitwirkung in anderen Redaktionen war grundsätzlich möglich. Olden nutzte wie kein zweiter die möglichen Freiräume, indem er ebenfalls begann für die Zeitschrift Das Tage-Buch von Leopold Schwarzschild zu schreiben. Als journalistischer Neuling, der Olden auch 1926 noch gewesen ist, erfuhr er von Seiten Wolffs neben Victor Auburtin und Wolfgang Bretholz eine besondere Wertschätzung innerhalb der Redaktion. Er „schätzte die nüchterne und sachliche Darstellung und die präzise Analyse.“ Es verwundert nicht, dass Olden während seines Probemonats im März 1926 erste Leitartikel verfasste und dass, obwohl er lediglich als politischer Redakteur engagiert worden war. Innerhalb des Blattes stieg er rasch zu einem der zahlreichen Stellvertreter Wolffs auf. Als dieser hatte er gemeinsam mit Ernst Feder, dem Ressortleiter für den Bereich Innenpolitik, entscheidenden Einfluss auf die innere wie äußere Gestaltung jeder einzelnen Ausgabe. Weilte der Chefredakteur auf Reisen oder im Urlaub übernahmen beide die Leitung der Redaktion und führten die Geschäfte fort.20 Befördert wurde die Karriere Oldens parallel durch die freund15 16 17 18 19 20
Brief R.O. an Theodor Wolff, 23.1.1926, in: BA–NL207. Fischer (1972): S. 324ff. Brief R.O. an Theodor Wolff, 23.1.1926, in: BA–NL207. Brief Siegfried Jacobsohn an Kurt Tucholsky, 20.3.1926, in: Soldenhoff (1989): S. 388. Sösemann (2000): S. 244f. Folgendes Zitat ebd., S. 252. Zu den redaktionellen Tätigkeiten von R.O.: Vgl. Sösemann (1976): S. 28; Köhler (1978): S. 141; Sösemann (2000): S. 250.
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schaftliche Beziehung, die er zu Wolff aufgebaut hatte. Anders als Feder war er für ihn eher „menschlicher Nachbar und mehr“21. Nicht nur seine journalistischen Fähigkeiten überzeugten ihn. Über die berufliche Zusammenarbeit hinaus entstand eine privatere Beziehung zwischen den beiden, „lag Olden politisch ganz auf der Linie Wolffs“. Auf zahlreichen Gesellschaftsabenden sprach man nicht nur über Politik, sondern auch über Kunst, Theater und Musik. Der Chefredakteur pflegte ein großes Haus, in dem z.B. Kalergi über Europa dozierte oder Wassermann über einen abgeschlossenen Roman berichtete. Im April 1927 bezog Olden, nur wenige Gehminuten vom Haus der Familie Wolff entfernt, eine Wohnung in der Genthiner Straße 3 in Berlin, wodurch der private Kontakt noch enger wurde. 22 Die persönliche Freundschaft und Verbundenheit zu Wolff, die journalistische und menschliche Nähe zu den beiden Gerichtsreportern des Feuilletons, Gabriele Tergit und Walter Kiaulehn sowie die grundsätzliche Mitarbeit an der Gestaltung des Blattes schuf für Olden eine intellektuelle Keimzelle, aus der heraus er seine eigenen Positionen in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre weiterentwickeln konnte. Das Verhältnis zu Feder war aber nicht immer spannungsfrei. Besonders dessen Tagebuch lässt rückblickend eine Sicht auf Olden erkennen, die den zugereisten Wiener Kollegen als Rivale betrachtete und jede noch so kritische Bemerkung ihm gegenüber penibel festhielt. Die Bearbeitung der innenpolitischen und juristischen Kernthemen war bisher fest in der Hand Feders gewesen. Über die Beiträge Oldens kam es mehrfach zu offenen Auseinandersetzungen. So schrieb im November 1926 Feder nach dem letzten Prozesstag des Landsberger Fememordprozesses über Olden in sein Tagebuch: Ich sage ihm, ich fand seine Artikel nicht scharf genug; er meinte, ihm wurde ja schon manches als zu scharf gestrichen. Er unterscheidet nicht zwischen der Schärfe der Sache und Vorsicht der Form, es ist schwer mit ihm zu diskutieren, weil er zu jener großen Majorität gehört, die nur diskutiert, um recht zu behalten.23
Ob und inwiefern dies den redaktionellen Alltag beeinflusst hat, muss an dieser Stelle offenbleiben. Immerhin blieben beide bis 1931 dem Blatt treu und konnten in der täglichen Arbeit miteinander offenbar einen modus vivendi erzielen, engagierten sie sich gemeinsam gegen die stärker werdenden Eingriffe der Verlagsleitung um die Erhaltung der redaktionellen Selbstbestimmung. Beide waren durchaus selbstständige Persönlichkeiten. 6.1 DER JURIST – PRAKTISCHER PAZIFISMUS Das Frühjahr 1926 markierte für Olden in vielerlei Hinsicht einen entscheidenden beruflichen Einschnitt. Die endgültige Rückkehr nach Deutschland machte ihn schlagartig zu einem Teil der gesellschaftlichen Elite des Weimarer Journalismus. 21 Köhler (1978): S. 145. Folgendes Zitat ebd., S. 141. 22 Vgl. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Rosa Olden, 30.3.1927, EB 79/020 – B.02.0037; Vgl. Köhler 1(978): S. 233. 23 Feder, 11.11.1926, in: Löwenthal-Hensel/Paucker (1971): S. 84.
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Dies verband der examinierte Jurist mit einer Tätigkeit als Rechtsanwalt. „Sein Drang, sich einzumischen, reißt ihn nach vorne, an den Tisch des Verteidigers.“24 Doch war das Juristische schon immer Teil der Biographie. Ein stetiges Interesse an den Umständen der deutschen Rechtsprechung kennzeichnete Oldens Arbeit als Redakteur bereits vor 1926. Kenntnis- und erfahrungsreich führte sein Weg über das Jurastudium, den Justizvorbereitungsdienst in der Verwaltung Preußens und die Tätigkeit bei einem Kriegsgericht zu einer seismographischen Wahrnehmungsfähigkeit der Politischen Justiz in der Weimarer Republik. Die weitreichende Vertrauenskrise in Richter und Staatsanwälte und die daran manifest werdende öffentliche Kritik begleitete er beständig weiter und suchte selbst aktiv dagegen anzukämpfen. Fortan wollte er nicht nur rückwirkend das Dilemma beschreiben, sondern im Rahmen seiner Möglichkeiten auf Veränderungen des Systems hinwirken, wie sich in seinem Engagement für die DLM noch zeigen wird. Das Berliner Tageblatt kam ihm in dieser Orientierung durchaus entgegen. Nach dem Kapp-Putsch und dem deutlich beginnenden Zusammenspiel von reaktionären Kräften mit der Justiz räumte das Blatt dieser Entwicklung in ihrer Berichterstattung breiten Raum ein. Zwar war man nicht von den antidemokratischen Neigungen der Richterschaft überrascht, aber nun war das ganze Ausmaß sichtbar geworden. „Die spätestens seit jenen Tagen offenkundige Justizkrise der Weimarer Republik hat das Berliner Tageblatt bis in die letzten Monate hinein mit beharrlichem Reformverlangen zur Diskussion gestellt.“25 Für Wolff stand 1930 fest, dass die Justiz nie Träger der Verfassung gewesen sei, nie die Gleichheit vor dem Gesetz zum Wohle von Wahrheit und Gerechtigkeit zur obersten Maxime erhob. Ursächlich sei die Übernahme eines Systems des Rechts, dass durch Traditionen des Obrigkeitsstaates geprägt war und von dem Demokratisierungsversuch, den die Revolution anstrebte, unangetastet blieb. „Die Trennung von Staatsform und Wesen des Staates sah Theodor Wolff als die eigentliche Quelle der Weimarer Justizkrise und der aus ihr resultierenden mangelnden politischen Konsolidierung der Demokratie.“ Dies verurteilten Olden und seine Kollegen äußerst scharf. Man machte sich zum Sachwalter der institutionellen Ordnung und deren Repräsentanten. Die Autoren glaubten an einen inneren Einstellungswandel jener Kreise, der durch ihre Erziehung und ihr gesellschaftliches Standesbewusstsein nicht ohne Weiteres zu erreichen war. Dieses Dilemma zwischen der Einforderung eines demokratischen Bekenntnisses und eines ersehnten Sinneswandels der Beamten und Richter war die besondere Herausforderung, die unbewältigt blieb. Die Instabilität des neuen Staates führte rasch zu weiterer Geschlossenheit und bot die Möglichkeit, die Stellung dieser Bürokratie innerhalb der Gesamtgesellschaft eher zu festigen. Die Bereitschaft, einen entscheidenden Schritt weiter zu gehen, nämlich, die Unabsetzbarkeit der Richter temporär begrenzt aufzuheben, war nicht vorhanden.26 Wohl auch deshalb suchte Olden in seiner praktischen anwaltlichen Tätigkeit die schlimmsten Folgen für die Betroffenen auf rechtsstaatlicher Grundlage zu lindern 24 Lehnau, Berthold Jacob und Rudolf Olden, in: Weltbühne, 15.10.1946. 25 Schwarz (1968): S. 145. Folgendes Zitat ebd., S. 146. 26 Vgl. ebd., S. 142–148.
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und durch die Herstellung von politischer Öffentlichkeit Gerechtigkeit walten zu lassen. Offenbar erkannte er die geringe Reichweite einer rein journalistischen Justizkritik, sodass es zu der für ihn typischen Verknüpfung von analytischer Präzision und praktischer Rechtshilfe durch seine Rolle als Strafverteidiger kam. Dort, wo ihm der amtliche Apparat Grenzen aufzwang, wich er auf die vermeintlich passive Position des Beobachters zurück, von der aus Olden juristische Verfahren gesellschaftlich breiter diskutieren konnte. Kritik und Kontrolle synthetisierten sich in seiner Person. Sein Einsatz für eine Reform des Justizwesens und im speziellen des Strafrechts prägte das Bild des Juristen Olden weiter. Weder unter Journalisten noch unter Juristen gab es eine ähnliche Kombination.27 In dieser Hinsicht blieb er eine Ausnahme. Feder oder Tucholsky hatten zwar eine juristische Ausbildung erfahren, doch regelmäßig als Rechtsanwalt traten sie nicht auf. Dieser Arbeitsbereich Oldens lässt sich bis Ende 1931 nur äußerst bruchstückhaft schildern. Erste Hinweise auf eine Zulassung als Anwalt tauchen im Frühjahr 1926 auf. Im Herbst trat er als Strafverteidiger zum ersten Male in Erscheinung. Gemeinsam mit Gerhard Wilk, einem befreundeten Berliner Kollegen, verteidigte Olden eine Arbeiterin wegen Kindsmordes. Aus Verzweiflung über die Streichung der staatlichen Fürsorge, hatte sie ihr geistig behindertes Kind getötet. Die Verteidiger plädierten auf Schuldunfähigkeit aufgrund des geistig verwirrten Gemütszustandes während der Tatausführung. Tatsächlich erreichten sie einen Freispruch. Grossmann schrieb 1963 in seiner Ossietzky Biographie bezugnehmend auf seinen Freund und Kollegen Olden: „In seiner ersten Strafverteidigung entriß er dem Schwurgericht den Freispruch für eine arme Mutter, die wegen Kindsmordes vor Gericht stand.“28 Nach Abschluss des Verfahrens räumte er allerdings sein Büro in der Kanzlei Wilks wieder. Nicht mehr feststellbar war, ob er zu diesem Zeitpunkt die Eröffnung eigener Liegenschaften plante.29 Zwischen 1927 und 1931 akzentuierte sich sein Engagement in der Strafverfolgung im sozialen Bereich. So verteidigte er junge Frauen, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Notlage abgetrieben hatten oder sich in Scheidungsprozessen befanden. Olden wurde zum Anwalt der sozial Benachteiligten. Wie an anderer Stelle angedeutet, erblickte er im Recht die stärkste Waffe der Schwachen. Jenen zu ihren Rechten zu verhelfen, galt ihm als vordringlichste Aufgabe des Juristen. Sowohl im Bereich des Abtreibungs- als auch Scheidungsrechtes betonte er in seinen Artikeln die Reformbedürftigkeit der bestehenden Regelungen.30 Weniger bemittelte Klienten verteidigte er sogar unent27 Vgl. Petersen (1988): S. 113. 28 Grossmann (1963): S. 345. 29 Auf die Verbindung zwischen der Kanzlei Wilk und R.O. wurde der Autor durch Marco Finetti aufmerksam gemacht. Jener hatte im Rahmen seiner unveröffentlichten Biographie zu R.O. Zugang zum Privatarchiv des Berliner Rechtsanwalts Gerhard Jungfer. Dort befindet sich eine Gesprächsniederschrift zwischen Gerhard Wilk und Gerhard Jungfer vom 6. Juni 1984 unter der Überschrift Akte R.O., die auf jene Verbindung Oldens zur genannten Kanzlei hinweist. Darin ebenfalls enthalten, die genaueren Angaben über den tatsächlichen Verhandlungsverlauf, den Grossmann lediglich verkürzt in seiner Ossietzky Biographie wiedergab. 30 Vgl. R.O. Fünfunddreißig, in: Berliner Tageblatt, 11.3.1930 M.; R.O. Die Menschen nennen es Liebe, in: Berliner Tageblatt, 11.1.1930 M.; Adriaen, Das Zeugungsbarometer, in: Berliner
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geltlich und verzichtete auf sein Honorar. Am 8. August 1929 beantragte Olden seine Zulassung beim Berliner Kammergericht, der am 30. Dezember entsprochen wurde. In den kommenden Jahren rückten politische Verfahren in den Mittelpunkt seiner anwaltlichen Arbeit.31 Für internationales Aufsehen sorgte zweifelsohne die Verteidigung von Carl von Ossietzky im Weltbühne-Prozess. Zuvor war er als Rechtsberater der DLM aktiv und betrieb dort das Wiederaufnahmeverfahren im Fall Jakubowski, der zu Unrecht wegen Mordes 1926 hingerichtet worden war. Wir appellieren an das Gewissen des deutschen Volkes. Wir vertrauen darauf, daß die Stimme dieses Gewissens stärker sein wird als der Einfluß einiger schuldbewußter Beamter und feiger Politiker, die aus Bequemlichkeit den Fall Jakubowski in den Akten begraben möchten. 32
Das Engagement Oldens in der DLM wurde zum Fanal für die Abschaffung der Todesstrafe. Gemeinsam mit Paul Levi stritt er für ein Wiederaufnahmeverfahren im Falle des Lagerverwalters Walter Bullerjahn. Jener wurde 1925 nur deshalb zu 15 Jahren Zuchthaus und 10 Jahren Ehrverlust verurteilt, weil ein anonymer Zeuge im Verfahren gegen ihn aussagte. Die Anschuldigung lautete auf Geheimnis- und Landesverrat, da Bullerjahn im Dezember 1924 einem französischen Offizier der interalliierten Kontrollkommission ein verstecktes Waffenlager gemeldet haben soll. Erst 1931 erreichte die DLM durch Olden und Levi im wiederaufgenommenen Verfahren einen Freispruch vor dem Reichsgericht. In seiner Funktion als Beisitzer der Filmprüfstelle argumentierte er 1932 in der Verhandlung gegen Bertolt Brechts und Ernst Ottwalts Film Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt? gegen dessen Verbot. Die Verteidigung des ehemaligen Reichswehroffiziers Richard Scheringer sorgte ebenfalls für Aufsehen. Noch im Oktober 1930 wurde er wegen der Bildung nationalsozialistischer Zellen innerhalb der Armee zur Vorbereitung eines Staatsstreiches verurteilt. Ossietzky und Olden richteten in diesem Prozess ihren Protest gegen den Auftritt Hitlers als sachverständigen Zeugen. Während der Haft wandte sich Scheringer von der NSDAP ab und schloss sich der KPD an. 1932 stand er erneut wegen Vorbereitungen zum Hochverrat vor Gericht. Diesmal übernahm Olden die Verteidigung, allerdings ohne Erfolg. Es folgte eine Verurteilung zu zweieinhalb Jahren Haft. „Die drei großen Biographien, die er uns hinterließ, enthalten sein Vermächtnis als Schriftsteller, Historiker und Jurist. Sie sind gleichzeitig Dokumente des überlieferten Mangels an Rechtskultur in Preußen-Deutschland.“33 In all diesen Fällen, die zunächst nur kurz angedeutet wurden, war er konfrontiert mit den tiefgreifenden Problemen der Weimarer Rechtsprechung, die gleichsam zwischen 1926 und Mitte 1930 auch ein thematisches Übergewicht in seiner journalistischen Arbeit zur Folge hatten. Wie er im konkreten Einzelfall pazifistische
Tageblatt, 14.1.1927 M.; R.O. Keine Ehescheidungsprozesse mehr, in: Berliner Tageblatt, 12.7.1928 A.; R.O. Gilt der §218?, in: Berliner Tageblatt, 11.3.1931. 31 Vgl. Asmus/Eckert, in: dies. (2010): S. 34. 32 Grossmann, in: Olden/Bornstein (1928): S. 3 (Vorwort). 33 Müller, in: Blanke (1988): S. 190.
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Grundeinstellung und -überzeugung mit Justizkritik verband, werden die kommenden Ausführungen ausführlich darlegen. 6.1.1 Fememord und Schwarze Reichswehr – Juristische Aufarbeitung Mit der Ausrufung der Feme durch die Organisation Konsul erlebte zu Beginn der 1920er Jahre ein Begriff seine Wiedergeburt im Sprachgebrauch, der seit dem 13. Jahrhundert Symbol für eine im verborgenen waltende Straf- bzw. Rachegewalt war. 1924 hatte sich dieser Terminus „als Bezeichnung für Taten durchgesetzt, bei denen Angehörige vaterländischer Organisationen vermeintliche Verräter töteten.“34 Die Ermordung von Walther Rathenau und Matthias Erzberger waren sinnbildlich. Ausgehend vom Versailler Vertrag sollten die Vorgaben der militärischen Beschränkung weitreichende Konsequenzen für das Berufsheer mit sich bringen. Über die Einhaltung dieser wachte eine Interalliierte Kontrollkommission unter Führung Frankreichs. Das Reichsgericht konnte vor dem Inkrafttreten des Vertrages all jene militärischen Einheiten neben der Reichswehr als legitime Vertreter einer bewaffneten Macht ansehen. Künftig galt dies als eine Vertragsverletzung. Das öffentliche Bekanntmachen solcher bewaffneten Gruppierungen musste verhindert werden und dies in einem radikalisierten Umfeld der ehemaligen Freikorps, deren Kampf gegen die Republik mit allen Mitteln geführt wurde. In verschiedenen Teilen Deutschlands kam es zwischen 1920 und 1923 zu einer Reihe von Morden, deren Opfer verdächtigt wurden waren, Waffenlager oder paramilitärische Einheiten zu verraten. Der Versuch, die Reduzierung des Heeres dadurch zu erleichtern, dass man gewisse Truppenteile in sogenannte Arbeitsgemeinschaften umwandelte, war problematisch, schuf er für die rechtliche Aufarbeitung jener Morde eine juristische Grauzone. Damit konnten politische Tötungsdelikte als militärische Aktionen im Sinne des Staatsinteresses diskutiert, interpretiert und gerechtfertigt werden.35 Die Reichswehr war nicht bereit, auf eine Reserve an Mensch und Material, die in den illegalen Nachfolgeorganisationen der Freikorps konzentriert war, zu verzichten. Die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaften sahen es als nationale Pflicht an, gegen die Folgen der Bestimmungen des Versailler Vertrages zu kämpfen. Verschwiegenheit galt als hohes Gut. Wenn ein geheimes Waffenlager entdeckt wurde, reklamierte die Reichswehr den Fund als ihr Eigentum. Zivilbehörden erschwerte dies die Strafverfolgung gegen die eigentlichen Besitzer. Die gerichtliche Verfolgung konnte lange Zeit erfolgreich verhindert werden, indem von Seiten des Truppenamtes Gutachten erstellt wurden, die alle Vorwürfe für unbegründet erklärten. Zum Wohle des Staates seien jene Verbindungen geheim zu halten. „Diese Auf34 Nagel (1991): S. 14. Insgesamt gewährt Nagels Studie einen ergänzenden Einblick in ein wichtiges Kapitel der Rechtsgeschichte. Objektiv und unparteiisch arbeitet die Verfasserin die Geschehnisse deskriptiv auf, weshalb im Folgenden weiter auf sie Bezug genommen wird. Vgl. Braun (1994): Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 34, S. 667f. 35 Vgl. ebd., S. 21–29. Folgendes Zitat ebd., S. 50.
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fassung führte allmählich zu einer Verwirrung der Rechts- und Moralvorstellungen. Wenn nämlich Gesetzestreue verwerflich war, dann mußten Gesetzesverstöße gut und schützenswert sein.“ Pazifisten galten als Verräter der Nation, die dem Volk die Möglichkeit zur Landesverteidigung nehmen wollten. Je enger die Verbindung zwischen Angehörigen der Arbeitsgemeinschaften und der Reichswehr war, umso leichter konnten deren Aktivitäten als nationale Notwendigkeit gerechtfertigt werden. So flossen Gelder aus dem Reichswehretat auch an diese Organisationen. Disziplinarische Durchsetzungskraft vermochte die Armee nicht ausüben zu können, da man offizielle Kenntnisse über die Vorgänge innerhalb der Hilfstruppen leugnete. Lediglich einige Landesregierungen unternahmen Auflösungsversuche dieser Gruppen. Besonders sozialdemokratisch (mit-) regierte Länder unternahmen dahingehend große Anstrengungen. Dies steigerte die Angst vor Verrat. Die Zahl der Morde nahm zu. Es waren vor allem die DLM und die DFG, die kurz nach Inkrafttreten des Versailler Vertrages die illegalen Wehrverbände thematisierten, öffentlich diskutierten und aufdeckten. Sie forderten von der Reichswehrführung Aufklärung, erhielten jedoch nur die Androhung juristischer Verfolgung und Repression. Wenn eine Regierung mit allen Mitteln des Ausnahmezustands und Androhung einer Klage wegen Landesverrat die öffentliche Erörterung der berührten Fragen verhindern will, so ergibt sich daraus klar, daß Tatsachen vorliegen, deren Geheimhaltung nach Auffassung der Reichsregierung geboten ist, und daß wir mit unseren Besorgnissen also nur allzu Recht hatten 36,
schrieb im Januar 1924 Ludwig Quidde an die Reichskanzlei. Damit war er Stein des Anstoßes, denn bis dahin waren jene Vorgänge der Öffentlichkeit relativ unbekannt. Die vorsätzliche Tötung von Beteiligten konnte nicht mehr in der nahezu institutionell eingeübten Systematik der Leugnung beiseitegeschoben werden. Das Verlangen nach Aufklärung der Hintergründe, die zu den Morden führten, blieb virulent. Jeder Leichenfund, jede Vermisstenmeldung mündete zwangsläufig in Ermittlungen, die innerhalb des rechtsstaatlichen Rahmens vorangetrieben wurden. Die Staatsanwaltschaft in Preußen war schon vor 1920 angehalten, Strafverfahren größeren Ausmaßes an das Justizministerium weiterzuleiten und dieses über den Fortgang der Ermittlungen auf dem Laufenden zu halten. Konnte eine gewisse Tat einem Verdächtigen zugeordnet werden, erfolgte der Antrag auf die Eröffnung einer Voruntersuchung durch das Gericht. Ein Untersuchungsrichter am Landgericht wurde dafür bestellt. Durch schwerwiegende Verfahrensfehler kam es nur selten zu weiterführenden Ermittlungen: Zeugenaussagen, die den mörderischen Charakter der Hilfstruppen belegten, blieben z.T. unberücksichtigt bzw. wurden anfänglich nicht in Verbindung mit den Leichenfunden gebracht. Verdächtige wurden eher im kommunistischen Umfeld verortet oder konnten sich ihrerseits einer Zeugenvernehmung durch Flucht entziehen. Materielle Belohnungen, die zur Ergreifung der Täter hätten beitragen können, setzte man vergleichsweise niedrig an, wenngleich weitere anonyme Zeugen auf die Existenz einer Mordkommission unter Oberleutnant a.D.
36 Original: Schreiben von Ludwig Quidde an Reichskanzlei vom 16.1.1925 – BA, R43I, Bl. 15.
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Paul Schulz37 explizit hinwiesen. Jedoch fanden diese Informationen im seltensten Falle Eingang in staatsanwaltschaftliche Untersuchungsberichte. Die Verfahren wurden eingestellt. Die Stimmen, die Schulz als Auftraggeber der Morde nannten, wollten nicht verstummen. Erst ab August 1925 begann durch seine Verhaftung die justizielle Aufarbeitung der Fememorde. Mehr und mehr gewann man die Erkenntnis, dass die Fälle zusammengehörten. Die erhöhte Aufmerksamkeit der Medien wurde dadurch geweckt, dass Prozesse unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden. Besonders die Weltbühne entriss die Vorgänge dem Halbdunkel der Gerichtssäle.38 Es waren vor allem die Enthüllungen Carl Mertens, denen das Blatt eine Bühne bot. Organisationsstrukturen, Hintermänner und ihre Verbindungen zur Reichswehr, Anstiftungen zu Morden standen in vollem Licht, berichtete erstmals ein direkt Beteiligter, der seit August 1923 im Umfeld von Schulz im Wehrkreiskommando gearbeitet hatte. Verschiedene Tageszeitungen, darunter auch das Berliner Tageblatt, griffen die Berichterstattung der Weltbühne auf und ermutigten durch eigene Berichte weitere Mitwisser und Informanten zur Aussage. Am 1. Oktober 1925 wurde von Seiten der Berliner Polizei ein Dezernat eingerichtet, das die Fälle der Fememorde gemeinsam verfolgte und bearbeitete. Das Landgericht III war formal zuständig, wenngleich die Debatte darüber, ob die Fälle gemeinsam zu verhandeln sind, weiter schwelte. Nach weiterhin flüchtigen Tätern wurde seit Anfang 1926 mit Zeitungsartikeln und Plakaten gefahndet. Erst zum Ende des Jahres sollte sich Olden selbst zu den Vorgängen der juristischen Aufarbeitung im Kontext der Landsberger Fememorde äußern.39 Das dortige Schwurgericht verhandelte die Morde an Paul Gröschke, Alfred Brauer sowie die Mordversuche an Richard Janke und Fritz Gädicke. Die Taten lagen drei Jahre zurück und ereigneten sich im Sommer 1923 im Raum Küstrin. Zunächst wurde die Prozesseröffnung für März 1926 geplant. Doch die Aussage des ehemaligen Adjutanten von Paul Schulz, Wilhelm von Albert, vor dem Berliner Sonderdezernat über die Ziele der Schwarzen Reichswehr rückten die Fememorde in den Bereich des Hochverrats. In Absprache mit dem preußischen Justizministerium zog man den Antrag auf Eröffnung der Hauptverhandlung zurück und überwies ihn an das Reichsgericht in Leipzig. Nach Ansicht des Landgerichtes belegten die Aussagen Wilhelm von Alberts den Verdacht der Vorbereitung zur Etablierung einer Militärdiktatur und zur Ausschaltung des Parlamentarismus. Die Fememorde dienten nur zur Absicherung des geplanten Hochverrats. Schulz sowie Raphael und Erich Klapproth fanden sich vor dem Staatsgerichtshof wieder, der nach eingehender Verhandlung zu folgendem Urteil kam:
37 Zur Biographie von Paul Schulz: Vgl. Sauer (2008): S. 117ff. Lebensweg nach 1928 und seine Rolle innerhalb der SA bzw. NSDAP: Vgl. Hoffstadt/Kühl (2009): S. 273–285; Dies., in: Groß/Schweikardt (2010): S. 261–299. 38 Vgl. Nagel (1991): S. 87–102. 39 Vgl. ebd., S. 106–116.
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Hinreichende Anhaltspunkte für einen Zusammenhang der verübten Straftaten mit hochverräterischen Plänen waren dagegen aus den sehr umfangreichen hierüber gepflogenen Ermittlungen nicht zu gewinnen. Die Zuständigkeit des Reichsgerichts ist nicht begründet. 40
Folglich wurde die Hauptverhandlung in Landsberg am 26. Oktober 1926 eröffnet. Als Korrespondent für das Tageblatt kommentierte Olden Anfang November den Prozessverlauf zur Aufarbeitung der Mordversuche an Janke und Gädicke.41 1922 hatte Schulz in Küstrin ein erstes Arbeitskommando etabliert. Die Zahl der Mitglieder wuchs bis in den Sommer 1923 beträchtlich an. Mehrere illegale Kompanien besaßen Zugang zu Munitionsbeständen. Gädicke und Janke verschoben einen Teil dieses Arsenals und verkauften es an einen Altwarenhändler. Schulz und Klapproth wurden nach Entdeckung der Aktion über den Vorfall informiert und mit der Vernehmung von Janke und Gädicke beauftragt, in deren Folge beide unter Arrest genommen wurden. Während der Überführung Gädickes zum Fort Tschernow schlug ihn Klapproth auf den Hinterkopf, der dies nur knapp dank des einschreitenden Begleitoffiziers Leutnant Johannes Hayn überlebte. Gleichzeitig unternahm man den Versuch, Janke in seiner Zelle durch die Beimischung von Gift in dessen Mahlzeiten zu töten, was ebenfalls fehlschlug. In beiden Fällen unterblieb eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft aus Angst vor weiteren Tötungsversuchen. Erst im Herbst 1926 ging man in der Anklageschrift davon aus, dass Schulz als Anstifter der Mordversuche anzusehen sei, die Klapproth ausführte und zu denen Hayn auf Betreiben von Schulz Beihilfe leistete. Besonders die Anwälte von Gädicke, Georg Löwenthal und Max Falkenfeld, zeigten als Nebenkläger ein großes Interesse daran, die Hintergründe des Mordversuches restlos aufzuklären. Alle Angeklagten bestritten die ihnen zur Last gelegten Taten. Erstmals standen die Hintermänner der Schwarzen Reichswehr vor Gericht, was diesen Prozess von allen vorangegangenen deutlich unterschied. Die Öffentlichkeit verlangte nach Aufklärung. Die Anwälte beantragten eine Zusammenlegung der Fälle Gädicke und Gröschke, um den Angeklagten ihre Verstrickungen nachweisen zu können, was vom Gericht abgelehnt wurde. Nach der Aussage von Schulz gelang es ihnen aber nicht, einen Beweisantrag zu stellen, der die Glaubwürdigkeit jener Äußerungen ernsthaft in Frage zu stellen versuchte. Relevante Zeugenaussagen wurden als unerheblich erachtet, das Verfahren auf unbestimmte Zeit vertagt. Erst am 8. November 1926 erfolgte die Wiederaufnahme.42 „Die Verhandlung wegen des Mordversuches an dem Feldwebel Gädicke war vor zwei Wochen vertagt worden, nachdem Schulz über die engen Verbindungen zwischen Reichswehr und Arbeitskommandos berichtet hatte.“43 Der erste Prozesstag nach Wiederaufnahme stand ganz im Zeichen der Vernehmung Klapproths. Er verwies darauf, dass er nicht die Absicht hatte, jemanden zu töten, wenngleich seine Abneigung gegen Gädicke aus jedem Wort spürbar war. Zu 40 Sauer (2004): S. 158. 41 Vgl. Nagel (1991): S. 192–196; Sauer (2004): S. 146–158. 42 Vgl. Hannover/Hannover-Drück (1987): S. 166–168; Nagel (1991): S. 66–69 bzw. S. 196–209; Sauer (2004): S. 176–183. 43 R.O. Der Fall Gädicke vor Gericht, in: Berliner Tageblatt, 8.11.1926 A. Folgendes Zitat ebd.
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einer ersten Kontroverse zwischen dem Angeklagten und Löwenthal kam es, als dieser ihn fragte, ob ihm nicht bekannt gewesen sei, dass er als Teil einer internen Mordkommission angesehen wurde. Klapproth verweigerte daraufhin jede weitere Aussage. Olden, offenbar persönlich im Gerichtssaal anwesend, kommentierte seine Fassungslosigkeit ob des Verhaltens des Gerichtes wie folgt: Das Merkwürdige ist, daß der Vorsitzende sich nicht die Frage des Nebenklägers zu eigen macht, daß er sie nicht selbst stellt. Es steht außer Zweifel, daß diese Fragen geeignet sind, der Wahrheit näher zu kommen und daß die Art, wie Klapproth auf sie reagiert hätte, von höchstem Interesse gewesen wären. Aber der Vorsitzende versagt sich standhaft diesen Versuch zur Aufklärung und das Gericht gibt ihm recht.
Die Befragung der Angeklagten von Seiten der Nebenkläger zielte am zweiten Prozesstag in eine ähnliche Richtung. Das Gericht begegnete jenen Antragsversuchen erneut mit Ablehnung bzw. begründete deren Unerheblichkeit für den weiteren Verlauf. „Neue Beweisanträge wollen dartun, daß hier die Truppe der Gegenrevolution mit außerordentlichen Mitteln, härtester Disziplin zusammengeschweißt werden sollte. Aber es ist klar, daß darüber ein Beweis nicht zugelassen wird.“44 Besonders die Tatsache einzelner Gerichtsverfahren erregte die Kritik Oldens. Es sind ja die einzelnen Fälle auseinandergerissen worden, es wird jeder Fall als Einzelfall durchgeführt, so daß dieser Beweis des großen Zusammenhangs nicht geführt werden kann. Also ist es selbstverständlich, daß alle Beweisanträge, die auf Vernehmung von Ministern und Staatssekretären abzielt, wie die anderen, die die Existenz der Feme dartun sollen, der Ablehnung verfallen. Der Ausgang des Prozesses ist kaum noch zweifelhaft.
Am letzten Verhandlungstag beschloss die Kammer nur den Komplex an Fragen zu gestatten, der auf die versuchte Tötung oder Körperverletzung Bezug nehme, was massiven Protest von Seiten Löwenthals zur Folge hatte. Angesichts dieser Behinderung legten er und Falkenfeld ihr Mandat nieder, sodass Gädicke allein die Nebenklage führte. In dieser Einschränkung der Beweisaufnahme sah Olden einen erheblichen Rückschlag der postulierten moralischen Erneuerung der deutschen Gesellschaft. „Daß einem Anwalt das Wort im Gerichtssaal entzogen wird, ist ein außergewöhnlicher Vorgang. Und daß diese Wortentziehung gerade in diesem für das ganze deutsche Volk wichtigen Prozess geschehen ist, gefährdet den Gesundungsprozess, um den es hier geht.“45 Das Reichsgericht sei von einer gewissen Mitverantwortung nicht frei zu sprechen, verweigerte es die zusammenfassende Aufklärung und rechtsstaatliche Würdigung der Ereignisse im Kontext möglicher Hochverratsbestrebungen. Dementsprechend urteilte das Landsberger Schwurgericht äußerst milde. Schulz wurde freigesprochen. Klapproth erhielt wegen schwerer Körperverletzung eine Gefängnisstrafe von einem Jahr. Für Olden bedeutete dieser Prozess nur der Auftakt seiner juristisch-journalistischen Begleitung jener Verfahren gegen die Fememörder und deren Hintermänner. In den Jahren 1927/28 sollte ihn der Fall Wilms und seine Folgen beschäftigen.46 44 R.O. Der letzte Landsberger Femeprozeß. Wie man die Wahrheit erforscht, in: Berliner Tageblatt, 9.11.1926 A. Folgendes Zitat ebd. 45 R.O. Schwerer Konflikt im Femeprozeß, in: Berliner Tageblatt, 10.11.1926 A. 46 Vgl. Nagel (1991): S. 218–225; Sauer (2004): S. 183–185.
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Zwischen Februar 1919 und Juni 1920 war Wilms Angehöriger des Freikorps Lützow, das an der Niederschlagung der Unruhen in Berlin, an der Besetzung Braunschweigs sowie an den Kämpfen in München beteiligt war. Seine berufliche Laufbahn verlief nach Auflösung des Korps weniger erfolgreich. Die Staatsanwaltschaft in Kiel und Hamburg fahndete nach ihm wegen Unterschlagung. Seit April 1923 war Wilms flüchtig und tauchte in Berlin unter. Kurze Zeit später trat er dank einer Empfehlung aus der Parteileitung der Deutschvölkischen Freiheitspartei der Schwarzen Reichswehr bei und versah seinen Dienst in der Kommandantur der Zitadelle Spandau, bevor er nach Döberitz versetzt wurde. Zwischen dem dortigen Bataillonskommandeur von Senden und Wilms kam es rasch zum Konflikt, da Letzterer den Versuch unternahm, einen Soldatenrat zu gründen, der die Interessen der Unteroffiziere in Sachen Entlohnung, Dienst, Verpflegung, Urlaub und Beförderung vertreten wollte. Wilms musste sich daraufhin in Berlin vor Schulz verantworten. Nach seiner Rückkehr äußerte er im Rahmen einer geselligen Offizierscasino-Stimmung vor Zeugen die Absicht, alle Vorgänge um die Schwarze Reichswehr den Kommunisten zu verraten. Offenbar machte diese Äußerung ihn mehr als nur verdächtig. Nach massiven Misshandlungen während eines Verhörs in Döberitz wurde Wilms am 9. Juli 1923 auf Veranlassung von Schulz zurück nach Spandau gebracht, wo er zwei bis drei Tage blieb. Doch plötzlich war Wilms aus Spandau verschwunden. Erst am 24. Juli fand man seine Leiche mit einer Schusswunde am Hinterkopf in der Havel. Seine mutmaßlichen Mörder wurden derweil im Laufe des Jahres 1925 verhaftet. Die Beteiligung von Schulz hingegen musste in einem neuen Prozess geklärt werden, hatte er seine Aussage darüber, was er über die jeweiligen Morde wusste, wiederholt verändert, was Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit nährte. Der Wilms-Prozess sollte Aufklärung über seine Rolle bringen.47 Nach 16 Verhandlungstagen stand für das Gericht am 27. März 1927 zweifelsfrei fest: Nur der Wille von Schulz habe die Täter zu ihrer Tat animiert. Daraufhin wurde er zum Tode verurteilt. Die Strategie, die Schuld auf beteiligte Dritte abzuwälzen, war gescheitert. Wohl ebenso wichtig blieb die richterliche Feststellung einer moralischen Mitverantwortung der Reichswehr. Hatte sich nach dem Landsberger Prozess die öffentliche Debatte darauf konzentriert, dass die Befragung von Zeugen und Angeklagten eher einseitig verlief, die Nebenkläger in ihrer Verhandlungsführung beschnitten wurden und eine gemeinsame Behandlung der Fälle vor dem Reichsgericht wegen Hochverrats ausblieb, stellte der Wilms-Prozess in zweifacher Hinsicht einen Perspektivwechsel dar. Nun ging es um die Rechtfertigung der Taten, nicht mehr um deren Leugnung. Auch die Reichswehr änderte ihre Einstellung zu den illegalen Einheiten ab Anfang 1928 merklich. Man erklärte zwar keine eigene Schuld, suchte aber Verantwortung in Form von Begnadigungsinitiativen für die Verurteilten zu übernehmen. Besonders im Falle von Paul Schulz war man künftig sehr aktiv auf diesem Feld.48 Andererseits manifestierte sich auf Seiten der Weltbühne, die als maßgeblicher Akteur die juristische Aufarbeitung der Fememorde mit ihren Veröffentlichungen 47 Vgl. Nagel (1991): S. 71f. bzw. S. 225f.; Sauer (2004): S. 228–239. 48 Vgl. ebd., S. 234–240.
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vorantrieb, ein grundlegender Wandel. Schon wenige Tage vor dem Todesurteil gegen Schulz verwies das Blatt auf die Notwendigkeit, die Führung der Reichswehr anzuklagen, seien sie an der Spitze der militärischen Befehlskette für die Morde ebenso verantwortlich. Schulz hat Anspruch auf den ordentlichen Richter. Aber der soll nicht außer Acht lassen. Daß der Oberleutnant nur erteilte Befehle ausgeführt hat und daß man neben ihn auf die Anklagebank mindestens den Hauptmann Keiner und den Oberst von Bock, wahrscheinlich aber auch den Oberst von Schleicher und den General von Seeckt setzen müßte.49
Reichswehrminister Geßler, der aufgrund finanzieller Unstimmigkeiten bei der Etatplanung der Reichswehr (Lohmann-Phoebus-Skandal) im Januar 1928 zurücktreten musste, stellte auf Grundlage dieser Äußerung Strafantrag gegen den Verfasser, Berthold Jacob Salomon und gegen Ossietzky, als verantwortlichen Redakteur, wegen Beleidigung. Das Urteil lautete zwei Monate Gefängnis für Salomon. Ossietzky wurde zu einem Monat verurteilt.50 Olden machte sich diese Position durchaus zu Eigen und kritisierte in seinem eigenen Beitrag die Verurteilung seiner Kollegen. Die Ablösung des politischen Systems des Kaiserreiches durch die Republik provozierte im Bereich der Landesverteidigung bzw. Strafverfolgung einen Grundkonflikt, der erst den Raum für die Schwarze Reichswehr und die Fememorde schuf. Wie zwei verschanzte Lager haben sich jahrelang Reichswehrministerium und Polizeipräsidium gegenübergestanden, die Reichswehr immer darauf aus, ungesetzlich oder halbgesetzliche Rüstung vorzubereiten, sich in den vaterländischen Verbänden ein Rekrutierungsgebiet zu schaffen und die preußische Polizei damit beschäftigt, die Schliche der Reichswehr auszukundschaften und durch Alarmierung der Öffentlichkeit und der Parlamente ihr das Handwerk zu legen.51
Aus diesem Spannungsfeld heraus, sei es eine bedauerliche Selbstverständlichkeit gewesen, wenn die Arbeitskommandos sich ihre eigene Justiz zur Bestrafung von vermeintlichen Verrätern schufen. Der republikanische Rechtsstaat könne demgegenüber nur unter größter Schwierigkeit eine juristische Aufarbeitung betreiben. Umso entscheidender sei die Feststellung einer „moralischen Mitschuld der Reichswehrkommandos an den Fememorden“. Es bleibt allerdings zweifelhaft, ob Olden eine Anklage der Reichswehrführung vor Gericht forderte, die über die reine Anerkennung einer Mitschuld hinausgeht. Diese scheint für ihn ohnehin unstrittig zu sein. Aber ein eindeutiges Plädoyer für eine Anklage fehlte, womöglich deshalb, weil er den Aussagen von Seiten der Führung der Arbeitskommandos wenig bis gar keine Glaubwürdigkeit einräumte, um eine rechtsstaatlich abgesicherte Verurteilung der Armeeführung garantieren zu können. Auf der einen Seite Buchrucker und Schulz, auf deren anderen die Reichswehr, das sind zwei getrennte Lager, die sich gegenseitig mit dem größten Missbehagen betrachten. Denn Buch-
49 Berthold Jacob, Plaidoyer für Schulz, in: Weltbühne, 22.3.1927. 50 Vgl. Nagel (1991): S. 240–244; Sauer (2004): S. 277–279. 51 R.O. Gefängnis für Pazifisten, in: Argentinisches Tageblatt, 22.1.1928. Die folgenden Zitate ebd.
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rucker und Schulz meinen, man habe sie fallen lassen und sie müssten nun das ausbaden, was die anderen befohlen haben.
Aus dieser Zwiespältigkeit heraus ein klares und juristisch eindeutiges Urteil zu fällen, mag Olden augenscheinlich nicht postulieren, wenngleich normativ eine historische Chance vertan worden sei, indem man den Unschuldsbekundungen der Reichswehrführung Glauben schenkte und stattdessen die Pazifisten mit Gefängnisstrafen belegte. „Historische Notwendigkeiten existieren für diese Richter nicht, wenn sie der deutschnationalen Legende widersprechen. Sie haben die Schutzeide der Zeugen für wahrgenommen und die beiden tapferen Publizisten zu Gefängnisstrafen verurteilt.“ Insofern griff Olden seine Position aus dem Landsberger Prozess wieder auf, die die Art und Weise der juristischen Aufklärung als Gefährdung für den gesellschaftlichen Erneuerungsprozess, den er offenbar auf gutem Wege wähnte, ansah. Daran mag das Eingeständnis moralischer Mitschuld nichts ändern, habe dies nicht zu einem Austausch des Führungspersonals in der Reichswehr oder gar einer strafrechtlichen Sanktionierung geführt. Im Stettiner Fememord-Prozess im April 192852 stand für Olden weniger die angeklagte Tat selbst im Mittelpunkt, als vielmehr die Rolle der Reichswehr. Der Perspektivwechsel setzte sich somit fort. „Die Angeklagten, das Mass ihrer Schuld und ihr Schicksal, das alles ist heute zurückgetreten hinter wichtigeren Fragen, die dieser Prozess ausgelöst hat.“53 Politisch gesehen „wichtiger ist die Rolle, die die Reichswehr im Gerichtssaal spielt, ist die Rolle, die sie damals in der Provinz Pommern, die sie im Leben der Nation überhaupt gespielt hat.“ Auch in diesem Prozess werde das Zerwürfnis zwischen den hohen Herren des Militärs und den Angeklagten, ihren ehemals Verbündeten, deutlich; „der Eindruck ist kein anderer als der, den man in den früheren Reichswehrprozessen gewinnen musste.“ Olden vermochte dahinter ein gewisses System zu erkennen, dass von einer unklaren Rollenbeschreibung der Arbeitskommandos ausging. Diese sah in Schulz und seinen Anhängern lediglich beurlaubte Angehörige der legitimen Armee. Zu keiner Zeit seien sie mehr Teil der regulären Reichswehr gewesen, höchstens Zeitfreiwillige, die man nur im Notfall benötige. Was damit genau verbunden sei, so Olden, wurde im Unklaren gelassen. Die nachgewiesene Ausgabe von Waffen aus den Depots der Reichswehr an die Arbeitskommandos könne keinesfalls ein Beleg für ihre Verstrickung sein. Die Waffen, die das Wehrkreiskommando verteilte, waren in ihren Händen. Ist das nicht Beweis genug? Nein, sagt der General (von Pawelsz), das beweist gar nichts. Diese Waffen wurden an den Landbund gegeben und vom Landbund an die Gutsbesitzer verteilt. Wenn dann die Gutsbesitzer sich zur Verwahrung und Instandhaltung der Rossbacher bedienten, was geht das die Reichswehr an?
Gerade diese systematische Flucht vor jeglicher Verantwortung werde eine Belastung für die Zukunft der Weimarer Gesellschaft. Darauf lasse sich kein innenpolitischer Friede gründen. Es offenbare vielmehr eine Form der Staatskunst, die Teile 52 Vgl. Nagel (1991): S. 244–257. 53 R.O. Das System, in: Berliner Tageblatt, 21.4.1928 A. Die folgenden Zitate ebd.
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des politischen Spektrums in Gegnerschaft zur Reichswehr bringe, die eigentlich den Schutz von Demokratie und Rechtsstaat gewährleisten sollte. Zudem polarisiere sie die politische Auseinandersetzung zusätzlich, nicht nur mit den Vertretern des linken und pazifistischen Spektrums, sondern vor allem mit den radikaleren Kräften auf Seiten der Rechten. Das ist das System mit dem die Reichswehr sich in den vergangenen Jahren unter den linken Parteien so viele Gegner gemacht hat, so wenig Freunde geschaffen hat. Wenn die Rechte sich demgegenüber immer mit ihrer Freundschaft zur Reichswehr gebrüstet hat, nun, sie muss es heute erleben, dass ihre Parteihänger in aller Öffentlichkeit dieselbe Reichswehr aufs grimmigste befehden.
Hoffnungen auf einen Wandel projizierte Olden auf den im Januar 1928 neu ins Amt des Reichswehrministers gekommenen Wilhelm Groener. Noch während des Prozesses um die Ereignisse in Stettin begann die Fassade langsam zu bröckeln, als General von Höfer in einem Gutachten nochmals die moralische Mitverantwortung an den Morden explizit zum Ausdruck brachte, was Olden ausdrücklich begrüßte. „Militärisch trug die Verantwortung, wer Befehle gab und nicht die Mittel, sie auszuführen. Diese Worte eines Generals, keines pazifistischen Politikers, sollten auch auf die Reichswehr nicht ohne Eindruck bleiben.“54 Das Lügengerüst der Armee werde endlich zum Einsturz gebracht und der „Zivilmilitarismus“55 entlarvt. So dient der Prozess „in erster Linie der Gerechtigkeit und damit wird zugleich Lügnern und Verleumdern die Maske weggerissen und die ganze Schäbigkeit angemassten Heldentums schonungslos ans Licht des Tages gestellt.“ Für die Gesellschaft sei dies ein Akt der Befreiung, so zumindest die Hoffnung Oldens. Der Bürger solle erkennen, dass es die Aufklärung der Morde und deren Hintergründe sei, die den Staat in seinem Handeln verpflichten müsse und nicht eine „künstliche Verschleierung und Verdummung.“ Gerade jene bedürfen gesellschaftlicher Bewunderung und Anerkennung, die beigetragen haben, weitere Verantwortlichkeiten in der Reichswehrführung unter den Umständen einer konservativen und restriktiven Rechtsprechung aufzudecken. Die Verurteilung der Täter sei ohnehin zweitrangig. Es kann dahingestellt bleiben, wie weit es überhaupt möglich gewesen wäre, die historische, politische und militärische Verantwortung an der Bluttat für ihre rechtliche Beurteilung in Betracht zu ziehen; jedenfalls aber ist sie von grösserer Bedeutung und Tragweite als das Abwägen der Schuld, die die einzelnen Angeklagten tragen.56
Befremdet stellte Olden fest, dass die Aufdeckung der illegalen Waffendepots, die die Reichswehr angelegt und auf den pommerschen Rittergütern versteckte, nicht zu einem Aufschrei im Ausland geführt hat, verletzte diese die internationalen Verpflichtungen der Republik aus dem Versailler Vertrag. Das Entsetzen in Deutschland selbst über die zutage geförderten Dinge sei aber inzwischen aufrichtig. In 54 R.O. Ein Gutachten General Höfers. Der Stettiner Fememord-Prozess, in: Berliner Tageblatt, 22.4.1928 M. 55 R.O. Das Ende einer Lüge, in: Berliner Tageblatt, 28.4.1928 M. Die folgenden Zitate ebd. 56 R.O. Die Verantwortung, in: Berliner Tageblatt, 7.5.1928 A.
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Zuversicht sprach Olden aus: „Die alte Zeit ist tot, und was sich vor uns abspielt, sind die letzten Zuckungen.“57 Dass die einzelnen Verhandlungen nicht zusammengefasst worden, kritisierte er als Jurist allerdings weiterhin scharf. Alle Prozesse, die wegen der märkischen Fememorde geführt wurden, kranken daran, dass die Materie in einzelne Stücke zerrissen war. Ob die Selbstjustiz in der Schwarzen Reichswehr mit Wissen und auf Anordnung höherer Vorgesetzter ausgeübt worden ist oder nicht, davon wäre ein wirklich lückenloses Bild nur herzustellen gewesen, wenn alle bekannt gewordenen Fälle in einer einzigen Verhandlung abgeurteilt worden wären.58
So rücke die Frage der juristisch strafwürdigen Verstrickung der Reichswehrführung im System der Feme-Justiz weiter in den Hintergrund und eine strafrechtliche Verurteilung in den Bereich des Unmöglichen. Folglich forderte Olden den Rücktritt bzw. die Entlassung aller, „die eng beteiligt waren an der Aufstellung der illegalen Truppen. Soll mit einem bloßgestellten System gebrochen werden, so müssen die Kompromittierten weichen; dieser selbstverständlichen politischen Forderung ist noch immer nicht Genüge getan.“ Erst mit diesem Schritt könne die atmosphärische Spannung der Gesellschaft aufgeweicht und Lehren für die Zukunft gezogen werden. Für Olden rückten die Fememorde noch einmal im Mai 1930 in den Mittelpunkt der Berichterstattung. Seit einem Jahr waren zahlreiche Fememörder, darunter auch Schulz, wieder auf freiem Fuß, während die meisten kommunistisch orientierten Straftäter weiter in Haft saßen. Einzig Klapproth und Fuhrmann waren noch inhaftiert, als die Reichskanzlei und das Präsidialamt eine Reihe von Amnestiegesuchen erreichte. Darin hieß es, die Morde seien nur deshalb begangen worden, weil das deutsche Volk 1923 in einem existenziellen Kampf im Rheinland stand und aus politischen Gründen die Tötung von Verrätern zu entschuldigen sei. Dieser Amnestieversuch zeigte zunächst keinen Erfolg. Die Forderung nach einer Amnestie blieb aber bestehen und wurde künftig u.a. von Alfred Apfel in einer Denkschrift weiter verstärkt. Diese sollte auf eine innenpolitische Befriedung abzielen. „In weitherziger Weise, unparteiisch nach links und rechts, unter Ausdehnung auf Tötungsverbrechen“ mögen man sich für ein solches Amnestiegesetz einsetzen, das „alle Straftaten umfassen möge, die durch die außergewöhnliche Unruhezeit ausgelöst worden sind.“59 Emil Julius Gumbel, Heinrich Mann, Kurt Tucholsky u.a. unterzeichneten eine Erklärung, die diesen Vorstoß unterstützte, um eine sofortige Freilassung der Verurteilen zu erreichen, da ohnehin die meisten an Fememorden Beteiligten frei seien. Einzig Kurt Grossmann verwies darauf, dass mit der geplanten Rheinlandamnestie womöglich die letzte Chance zu einer vollkommenen Aufklärung der Fememorde aus der Hand gegeben werde. Mit Ausnahme des preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun, der ein strikter Gegner des Gesetzes war, blieb die weitere Erörterung von Zusammenhängen politisch nicht mehr gewünscht, wären womöglich Verstrickungen der Reichsregierung während des aktiven Ruhrkampfes 57 R.O. Schwarze und andere Reichswehr, in: Argentinisches Tageblatt, 27.5.1928. 58 R.O. Entgiftung?, in: Berliner Tageblatt, 29.5.1928 M. Folgendes Zitat ebd. 59 Schreiben des Ausschusses zur Förderung der Bestrebungen auf Erlass einer Amnestie aus Anlass der Rheinlandräumung vom 19.11.1929 – BA R43I, Bd. 1243, Bl. 305–309.
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ans Licht gekommen. Die geplante Ausdehnung der Amnestie auf die Fememörder fand bei Olden den schärfsten Widerspruch. Für ihn war es grotesk, dass DDP und Zentrum dazu ihr Einverständnis erklärt haben, nachdem sie zuvor dagegen stimmten. Das ist eine Sache, nicht des Tagesstreits, nicht der Opportunität, in der man einmal nachgeben darf, nein, eine Sache des Staats, der Moral, ja der Gerechtigkeit. Was haben Fememörder, die leichtfertig Kameraden hinschlachten, um nicht bei hochverräterischem Tun gestört zu werden, mit dem nationalen Fest der Befreiung zu schaffen? Wer hat es dazu gebracht, dass die fremden Truppen abmarschieren? Die Republik, die Erfüllungspolitik der linken Parteien, der Opfermut demokratischer Politiker. Erzberger und Rathenau sind dafür gestorben. 60
Mit dieser Amnestie betreibe man Geschichtsfälschung und mache die Täter zu „Nationalhelden und Vaterlandsrettern. Hier aber soll die Legende wieder aufgebaut und endgültig befestigt werden.“ Daran schloss Olden aber gleich an: Wir sind es nicht, die Gnade versagt wissen wollen, wir nicht, die nach Härte und Schroffheit im Strafrecht rufen, wir sind für Milde, wo sie nur immer angebracht ist. Wir haben uns auch nicht dagegen gewehrt, dass schon in weitem Mass Gnade an den Fememördern geübt wurde. An dieser Stelle ist nichts dagegen gesagt worden, dass die weiteste Auslegung aller Gesetze das ermöglichte.
Resozialisierung lehnte Olden keineswegs ab, wenngleich politisch hieraus ein Bedrohungsszenario für die Liberalität der Gesellschaft und die sie repräsentierenden Parteien entstehen könnte. Damit vermag er sich noch abfinden zu können. „Die Mittelparteien sind es, die von den Gesinnungsgenossen der Schwarzen Reichswehr bedroht sind, sie mögen sich mit dem Zuwachs abfinden, den ihre nationalsozialistischen Gegner erfahren.“ Entscheidend bleibe die Zielrichtung eines gerechten und gnädigen Staates. Von den Kriegsverbrechern, Soldaten des grossen Heeres, die durch das Weltunglück zu Uebeltätern wurden, die niemand als Revolutionäre bejauchzen wird, die nie das Verbrechen als Heldentum ausgaben, sitzen noch über hundert im Kerker. Ihnen gebührt die Gnade des Freudentags, wie anderen Sündern. Die Fememörder haben nichts mit dem Feiertag der republikanischen Nation zu tun, den wir der Republik, ihren Führern und Opfern verdanken.
Womit Olden sich aber keineswegs bereit war abzufinden, war die Stilisierung der Mörder zu gesellschaftlich bedeutenden Persönlichkeiten, die im Raum des Politischen wieder reüssieren und als Märtyrer „zum Triumph der Feinde des neuen Deutschlands herumgeführt werden.“ An diesem Punkt gab es keine Übereinstimmung zu anderen Pazifisten wie Gumbel und Tucholsky, die bereit waren, diese Gefahr durch eine umfassende Amnestie in Kauf zu nehmen. Wenn eine strafrechtliche Verfolgung der Reichswehrführung unmöglich war, so müsse man die überführten und verurteilten Täter nicht durch eine Amnestie dem kollektiven Gedächtnis wieder vor Augen führen. Schließlich bewahrheiteten sich die Befürchtungen Oldens zunächst nicht. Zwar stimmte der Reichstag am 2. Juli 1930 über das Amnestiegesetz, das mit einfacher Mehrheit angenommen wurde, ab, jedoch scheiterte seine Implementierung am Einspruch Preußens im Reichsrat. Erst der Rechtsruck 60 R.O. Die Amnestie, in: Berliner Tageblatt, 28.5.1930 A. Die folgenden Zitate ebd.
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im Zuge der Reichstagswahl vom 14. September beendete durch eine Gesetzesänderung Ende Oktober die laufenden Prozesse um die Fememorde und alle noch in Haft befindlichen Täter wurden endgültig entlassen.61 Für die Mehrzahl der pazifistischen Verbände stand aber im Zusammenhang mit den Fememorden stärker der Aspekt der geheimen Rüstungen im Mittelpunkt, als die gesellschaftliche Bedeutung der Aufklärung und Sühne der Täter. „Ein Großteil der Aktivität erschöpft sich in der Kampagne gegen diese.“62 Man machte Eingaben an die Parlamente, veröffentlichte und kritisierte zugleich Etatzahlen der Reichswehr und führte rüstungspolitische Analysen durch. Informationsvermittlung blieb in dem Feld der Wehrpolitik primär. Es waren eher einzelne Pazifisten wie Emil Julius Gumbel, Berthold Jacob und Rudolf Olden, die im Zuge der Prozessbeobachtung eine Erhellung des politischen Hintergrundes der Taten lieferten und auf die Verantwortung der Armeeführung in diesem Bereich verwiesen. Die intellektuelle Linke um die Weltbühne oder das Tage-Buch erregten die Aufmerksamkeit der Friedensbewegung und kreierten nicht zuletzt in der Person Oldens eine ideelle Verknüpfung. So wird man nicht an der Feststellung vorbeikommen, daß die intensive pazifistische Kritik an den Zuständen in der Reichswehr und den illegalen Organisationen in hohem Maße aufklärend gewirkt und die innen- und außenpolitische Problematik der Rechtsverletzung in das Bewußtsein einer breiten Öffentlichkeit gehoben hat.
Man schuf Sensibilität für das Versagen der Rechtsprechung in der Republik, die aufrechten Journalisten den Vorwurf des Landesverrates einbrachte, wenn sie die Rolle der Reichswehr bei den Morden thematisierten. 6.1.2 Pazifismus und Landesverrat: Kampf um die journalistische Freiheit Die mehrheitlich von Seiten der Weimarer Friedensbewegung verfolgte Strategie, Regierung und Parlament durch friedenspolitische Aufrufe oder Memoranden zur Einhaltung des Versailler Vertrags im Bereich der Entwaffnung zu zwingen, erwies sich als Fehlschlag. Militärische Planungen konnten durch diese Form der Kritik nicht an ihrer Realisierung gehindert werden. Lediglich die Enthüllung illegaler Rüstung versprach Abhilfe, was in gesellschaftliche Isolation, moralischer Diskriminierung und juristischer Verfolgung münden sollte. Der Wunsch nach Völkerverständigung kollidierte immer unverhohlener mit der Sehnsucht nach verlorener militärischer Weltgeltung. Dieser Konflikt schien für Teile der politischen und juristischen Elite nur durch Repressionen Andersdenkender lösbar. Journalistische Enthüllungen, die Verstöße gegen internationale Verpflichtungen anzeigten, wurden als Form des zivilen Ungehorsams nicht für legitim angesehen. Vermeintliche Staatsgeheimnisse sollten mit allen Mitteln geschützt werden. „Der Geheimnisbegriff blieb nicht auf solche Nachrichten beschränkt, die nachweislich geheimnis61 Vgl. Nagel (1991): S. 345–347; Sauer (2004): S. 281–287. 62 Scheer (1981): S. 487. Folgendes Zitat ebd., S. 492.
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bedürftig und geheim, also nur einem kleinen Personenkreis bekannt waren; vielmehr wurde er bewußt ausgeweitet, um berechtigte pazifistische Kritik zu unterdrücken.“63 Die Wahrung demokratischer Grundrechte, in Bezug auf Meinungsund Pressefreiheit, sah man herausgefordert, was nicht zuletzt in der Biographie Oldens zu einem entscheidenden Faktor des politischen bzw. juristischen Engagements werden wird. Nationale Freiheit und die Freiheit des Wortes standen sich in diesem Feld dualistisch gegenüber. Landesverratsprozesse, die vor dem Reichsgericht und seit 1924 erstinstanzlich auch vor Oberlandesgerichten der Bundesstaaten verhandelt wurden, stellen einen Bereich der politischen Justiz dar, in dem die strikte Schweigepflicht gegenüber Reichswehr-Geheimnissen die Rechtssicherheit im allgemeinen und das Ansehen der deutschen Gerichte im Besonderen erschütterte.64
Stets umstritten war §92 des Strafgesetzbuches, der auf einen diplomatischen Landesverrat abzielte und eine weitreichende Rechtsauslegung, was überhaupt als geheim zu haltende Information galt, legitimierte. Es konnten Zuchthausstrafen von nicht unter zwei Jahren verhängt werden. Im Vergleich zu den Verurteilungszahlen während des Kaiserreiches stieg die Zahl der Verfahren in der Weimarer Republik merklich an. Einem Vorkriegsdurchschnitt von 5 Verurteilten wegen Hoch- und Landesverrat und Spionage pro Jahr steht ein Durchschnitt von 164,3 Verurteilungen, wegen Landesverrat und Spionage allein, in den Jahren 1923-1925 gegenüber. Im Jahre 1927 haben nach Hergt, vermutlich bei allen Gerichten, 44 Verurteilungen wegen Landesverrat stattgefunden. Nimmt man selbst an, daß dies tatsächlich verurteilte Personen sind, so sind in dem einen Jahr 1927 weit mehr Personen wegen Landesverrat verurteilt worden, als in allen 32 Vorkriegsjahren zusammengenommen.65
Hinzu kam der Umstand, dass es nur einen bestimmten Teil von pazifistischen Journalisten betraf, die eine Anklage wegen Landesverrat zu fürchten hatte. Da selbst bei den Journalisten der zuverlässig demokratisch-republikanischen Großstadtpresse wenig Neigung bestand, sich an dem heißen Eisen die Finger zu verbrennen, verblieb der Friedensbewegung als Forum für ihre Enthüllungen nur die Presse der intellektuellen republikanischen Linken: allen voran Die Weltbühne Ossietzkys und Das Tage-Buch Leopold Schwarzschilds, neben pazifistischen Wochenblättern wie Gerlachs Welt am Montag oder Küsters Das andere Deutschland.66
Anders als bei der Aufklärung der Fememorde zeigte die Justiz in der Verfolgung vermeintlicher landesverräterischer Aktivitäten einen großen Ehrgeiz. Die zweite Prozesswelle ab 1927 zerstörte endgültig alle Illusionen auf eine gemäßigte Rechtsprechung, hatte der Landesverrat als solcher einen Bedeutungswandel durchlebt. Der Feind des Vaterlandes stand nicht mehr nur im Ausland, sondern auch im Inland. Die Fememordprozesse wurden zur Initialzündung. Republikanische Politiker und pazifistische Redakteure wurden in ihrem Kampf für einen friedvollen Staat zu 63 64 65 66
Lütgemeier-Davin, in: Steinweg (1990): S. 198. Petersen (1988): S. 72. Gumbel, in: Rasehorn (1985): S. 159. Holl (1988): S. 186.
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einem neuen Feindbild. Es ging um die Durchsetzung von Machtinteressen. Es kann nicht verwundern, dass der Reformversuch des §92 StGB durch die sozialdemokratische Reichstagsfraktion am fehlenden politischen Willen im Parlament scheiterte. Ganz im Gegenteil: Ein Entwurf für ein neues Strafgesetz zielte auf eine Verschärfung des Paragraphen. Künftig sollte der Tatbestand des Landesverrates dann juristisch strafbar sein, wenn ein Krieg drohte. Fortan sollte die Reichswehr und das Reichsgericht festlegen, wann dies der Fall sei. An ihrer Auslegung wollte man künftig die Einleitung von Strafverfahren ausrichten. Bis zu zehn Jahren Zuchthaus drohe demjenigen, der sich „Schriften, Zeichnungen, andere Gegenstände oder Nachrichten, deren Geheimhaltung vor anderen Regierungen für das Wohl des Reiches oder eines Landes erforderlich ist, in der Absicht verschafft, sie in einer das Wohl des Reiches oder Landes gefährdenden Weise zu verwenden.“67 Dies erscheint insofern Mitte der 1920er Jahre Paradox, als die Friedensbewegung mit der Politik des Friedensnobelpreisträgers Stresemann überein stimmte. Den Frieden ohne Waffengewalt auf Basis der Völkerversöhnung zu stiften, schien zwar die offizielle Außenpolitik mit dem Weimarer Pazifismus zu einen, doch die gleichzeitigen Verfahren wegen Landesverrates stellten einen problematischen Hintergrund für den gesellschaftlichen Stabilisierungs- und Aussöhnungsprozess dar, die von einem unterschiedlichen Verständnis des Staatswohls auszugehen schien.68 Der Pazifismus orientierte seine Vorstellung an einem gegenseitigen Miteinander zum Wohle aller Staaten. Rechtsstaatlichkeit ziele nicht nur auf die innenpolitische Sphäre, sondern vor allem auf die außenpolitische. Seit dem Prozess gegen Quidde im Jahre 1924 unternahmen das Reichswehrministerium in Kooperation mit dem Reichsgericht in Leipzig den Versuch, unter einer nationalistisch anmutenden Staatswohldoktrin den Pazifismus in Deutschland zu schwächen bzw. zu lähmen, um weitere Veröffentlichungen und Enthüllungen zu unterbinden, was mit Blick auf den gemäßigten Pazifismus teilweise von Erfolg gekrönt war. Olden gehört früh zu denjenigen, die auf die Gefahr dieses Vorgehens hinwiesen. „Das Reichsgericht aber und der Oberreichsanwalt haben ihre eigene politische Ueberzeugung und setzen sie auf ihrem Gebiet durch. Daß eine solche gefährliche Sonderpolitik von den politisch wirklich verantwortlichen Stellen nicht geduldet werden kann – das bedarf keines Wortes der Ausführung.“69 Paul Levi und Kurt Grossmann kritisierten auf dem Erfurter Friedenstag im Oktober 1927 ebenfalls die neue Praxis der Landesverratsbestimmungen, die immer deutlicher Parlamentarier und Journalisten darin hindern sollte, über die rüstungspolitischen Zustände in Weimar ein exaktes Bild zu erhalten. Als Sekretär der DLM orientierte sich Grossmann in seiner Kritik hauptsächlich an der Weimarer Reichsverfassung. Sie verpflichte das deutsche Volk zur Herstellung eines innen- und außenpolitischen Friedens als oberste politische Maxime, sodass die Verfolgung der Pazifisten als Landesverräter jenem in der Präambel geäußerten Verfassungsauftrag zu wider laufe. Darüber hin67 Lütgemeier-Davin, in: Steinweg (1990): S. 208. 68 Vgl. Schöningh (2000): S. 138–140; Petersen (1988): S. 72–74; Lütgemeier-Davin, in: Steinweg (1990): S. 207f. 69 R.O. Gefährliche Sonderpolitik, in: Berliner Tageblatt, 17.7.1927 A.
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aus dränge die Verfassung jeden Bürger der Republik zur Einhaltung des Völkerrechts, das laut Artikel 4 WRV bindender Bestandteil des Reichsrechts sei. Sie legitimiere die Aufdeckung des Verfassungsbruches durch die Nichteinhaltung vertraglich festgeschriebener Rüstungsbeschränkungen. Die Pazifisten handelten nach dieser Vorstellung durchaus verfassungskonform. In diesem Bemühen wurde die Friedensbewegung von den republikanischen Parteien nur unzureichend unterstützt, was vor allem Paul Levi scharf kritisierte.70 Als Jurist war er für Olden seit geraumer Zeit ein Vorbild. Anlässlich des Todes Levis 1930 schrieb er: „Vor bald zwanzig Jahren lernte ich Paul Levi in seinem Heimatstädtchen kennen.“71 Er würdigte ihn als „begnadeten Redner“ und „erkannte zum erstenmal das feine Judiz, das entschlossene Rechtsgefühl des geborenen Advokaten. Er war ein Stilist von grosser Form und vertrat seinen besonderen Standpunkt in vielen glänzenden Artikeln, er liebte seinen Beruf, und immer wieder nahm ihn ein Rechtskampf ganz gefangen.“ Offenbar fand ein politischer Austausch zwischen beiden statt, der nicht mehr im Detail zu rekonstruieren ist. Die Beziehung zwischen Levi und Rosa Luxemburg schien Olden von Anfang an mit erlebt zu haben. „Wenn ich in jener Zeit, nun in Frankfurt, mit ihm zusammen war, stets floss das Gespräch über in die Bewunderung der ausserordentlichen Frau, die von Beginn an den stärksten Eindruck auf den Geist Levis gemacht hatte.“ Auch nach seinem Tod blieb er für Olden der edle Ritter des Rechts72, der ihn zuvor für die großen Landesverratsprozesse der ausgehenden 1920er Jahre sensibilisierte. Zu einem der bekanntesten Fälle zählte das Verfahren gegen Berthold Jacob Salomon und Fritz Küster. Ausgehend von der Dichotomie zwischen gemäßigtem und radikalem Pazifismus sei darauf verwiesen, dass innerhalb der Friedensbewegung unterschiedliche Konzepte verfolgt wurden, um der widerrechtlichen Rüstung zu begegnen. Erstere suchten durch den direkten Kontakt zu Regierung, Verwaltung und Armeeführung Einfluss auszuüben. Ohne größere Öffentlichkeit trachtete man danach, die Verantwortungsträger der Politik zur Einhaltung der Bestimmungen zu bewegen, während zweitere durch Das Andere Deutschland bzw. Die Menschheit gezielt das Blitzlicht der medialen Aufmerksamkeit suchten. Die verschiedenen taktischen Herangehensweisen resultierten aus unterschiedlichen Einschätzungen der illegalen Rüstung. Quidde als Repräsentant des gemäßigten Flügels ging davon aus, dass die 1918 vorgenommene Entwaffnung ausreichend gewesen sei, um Deutschland künftig von einem neuen europäischen Krieg abzuhalten. Die geheime Rüstung gefährde lediglich den Frieden im Inneren. Der WLV um Friedrich Wilhelm Foerster und Fritz Küster betrachtete die Aufrüstung um die Schwarze Reichswehr als einen Bruch des Völkerrechts, da die Regierung klar die Absicht verfolge, einen weiteren Krieg als Revanche für die Niederlage von 1918 vorzubereiten. Darüber hinaus zielte der WLV 1925 auf einen breit angelegten Konsens im Kampf gegen die Wiederaufrüstung, der nicht nur Organisationen aus dem Umfeld der Friedens70 Vgl. Lütgemeier-Davin, in: Steinweg (1990): S. 208f. 71 R.O. Paul Levi †, in: Berliner Tageblatt, 10.2.1930 A. Die folgenden Zitate ebd. 72 Vgl. R.O. Ein Ritter, in: Argentinisches Tageblatt, 16.3.1930.
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bewegung einschließen sollte, sondern auch die DDP und SPD sowie das Reichsbanner versuchte zu umfassen, was nicht gelang. Republikaner und Pazifisten konnten sich nicht zu einer einheitlichen Vorgehensweise verständigen. Kurz nach dem Amtsantritt von Reichskanzler Hans Luther im Frühjahr 1925 wurden schwebende Verfahren eingestellt und das Ausbildungs- und Rekrutierungssystem der Zeitfreiwilligen gegenüber der breiten Öffentlichkeit regierungsamtlich bestätigt. Eine Abkehr davon verband man damit nicht, wenngleich man bemüht war, auf die Friedensbewegung beschwichtigend einzuwirken. So versicherte das Reichswehrministerium, dass nach dem 1. Oktober 1924 keine Zeitfreiwilligen mehr in Dienst gestellt wurden seien. „Es verfolgte eine Doppelstrategie: Einerseits förderte es die Ahndung mißliebiger Veröffentlichungen als Landesverrat, andererseits wurden informelle Kontakte zur Friedensbewegung aufgenommen.“73 Rasch wurde bekannt, dass das genannte Datum keineswegs zutreffend gewesen war. Jene Beteuerung der Reichswehr konnte als Lüge entlarvt werden.74 Bei Vetlheim an der Weser starben im Juni 1925 81 Männer bei einem Übungsmanöver. Küster und Jacob recherchierten die Umstände des Unglücks und stellten fest, dass unter den Verunglückten Personen waren, die erst kurz zuvor eingestellt worden waren. In ihrem Artikel behaupten sie, elf der Toten seien Zeitfreiwillige gewesen, die es längst nicht mehr geben sollte. Die Autoren stützen sich bei ihrer Beweisführung auf die jeweiligen Todesanzeigen der Betroffenen, in denen diese mit ihren zivilen Berufen genannt wurden. Militärische Dienstränge fehlten. Die Oberreichsanwaltschaft sah keine Veranlassung, strafrechtlich vorzugehen. Ein Verfahren wegen Landesverrats wurde erst von Seiten des Reichswehrministeriums beantragt, als mehrere Zeitungen begannen, den Beitrag Küsters und Jacobs in ihren Ausgaben abzudrucken. Wie in anderen Verfahren üblich, beauftragte das Gericht auch hier das Ministerium mit einem Gutachten. Erwartungsgemäß wurden die Angaben als falsch beschrieben und zugleich die Notwendigkeit der Geheimhaltung begründet. Daraufhin folgten zahlreiche Vernehmungen der Autoren, die standhaft auf ihrer Position beharrten. Vielmehr bekräftigten sie ihre Meinung, dass das System der Zeitfreiwilligen die Besetzung des Rheinlandes eher verlängert als verkürzt habe. Öffentliche Brandmarkung dieses Vorgehens sei eine nationale Verpflichtung und stehe im Interesse der Nation. Zum Schweigen waren beide nicht bereit. Die Voruntersuchungen setzten um die Jahreswende 1925/26 ein. Was folgte war die Anklage wegen Landesverrats am 21. Februar. Paul Levi übernahm u.a. die Verteidigung. Das Verfahren sollte bewusst verzögert werden, war man nicht bereit, den Pazifisten die Bühne des Prozesses zu überlassen. Man zielte vielmehr auf die Sanktionierung einer politischen Gesinnung. Die konkrete strafrechtliche Verurteilung blieb vorerst eine untergeordnete Absicht. Schließlich kam es nicht bezüglich des Artikels über die verstorbenen Zeitfreiwilligen in Veltheim zu einer Anklage, sondern aufgrund des Beitrages Weitermachen. Vor allem das Auswärtige Amt sah darin eine erhebliche Gefährdung des Reichswohls. Dies stand in Verbindung mit 73 Lütgemeier-Davin, in: Steinweg (1990): S. 202. 74 Vgl. ebd., S. 201f.; Lütgemeier-Davin (1982): S. 186f.
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einem anonym verfassten Text in der Weltbühne unter dem Titel Getarnte Reichswehr. Von einem Soldaten, der ausführlich über die Möglichkeiten einer widerrechtlichen Heereserweiterung berichtete. Jacob wurde die Autorenschaft zur Last gelegt. Die Hauptverhandlung gegen beide fand erst am 13. bzw. 14. März 1928 statt, an der Olden als Korrespondent teilnahm.75 In dieser Funktion schilderte er die Verlesung der Anklageschrift76, die Vernehmung der Angeklagten77 sowie die Aussagen der Sachverständigen78. Als Gutachter für die Angeklagten fungierten Ludwig Quidde und Hans Driesch. Beide grenzten sich bewusst von der politischen Strategie Küsters und Jacobs ab, allerdings argumentierten sie juristisch eindeutig: ihre Artikel seien nicht strafwürdig. Vertragsverletzungen aufzuzeigen und die Öffentlichkeit darüber zu informieren, sei die oberste bürgerliche Pflicht, zumal die Reichswehrführung durch gezielte Fehlinformation vorsätzlich getäuscht habe und auf Beschwerden der Zivilgesellschaft in keinster Weise einging. Den Angeklagten bleibe kein anderer Ausweg, als den Sachverhalt in ihren Blättern zu veröffentlichen. Die Verteidigung suchte darüber hinaus eine Entlastung der Angeklagten dadurch zu erreichen, dass man durch ein Gutachten des Auswärtigen Amtes einen politischen Antagonismus beider Ministerien sichtbar machen wollte. Dies scheiterte, da das Auswärtige Amt ebenfalls zulasten der Angeklagten argumentierte. Die Anwälte Schücking und Levi plädierten auf Freispruch, da der §92 veraltet sei und einen souveränen Staat voraussetze. Zudem müsse es jedem Bürger möglich sein, staatliche Rechtsverstöße über den Weg der öffentlichen Kritik anzuzeigen. In gewisser Weise sei dies ein legitimes Notstandsrecht und somit straffrei. Was dem Wohl des Staates diene, bestimme, so Levi, nicht die Regierung, sondern allein die rechtsstaatliche Ordnung. In ihrem Urteil machte sich das Reichsgericht keines der angeführten Begründungen für einen möglichen Freispruch zu eigen. Weiterhin undefiniert blieb die Begrifflichkeit des Staatswohls. „Das Gericht zog demnach nicht in Betracht, daß der Faktor der öffentlichen Meinung in einer Demokratie zumindest dann geschützt werden mußte, wenn sich die Staatsorgane selbst gesetzeswidrig verhielten.“79 So wurde dieser Prozess zum Fanal für den Kampf um das Grundrecht der freien Meinungsäußerung. Der Tatbestand des Landesverrates sei erfüllt, da der Bürger nach Ansicht des Reichsgerichts nur den staatlichen Institutionen gegenüber seine Kritik anzeigen kann. Internationale Verträge verpflichten lediglich den Staat an sich, aber nicht seine einzelnen Mitglieder. Das Urteil lautete deshalb auf je neun Monate Haft, weil das Gericht lediglich von einem versuchten Landesverrat ausging. Es bestritt den Wahrheitsgehalt der Artikel. In seinem Nachwort fand Olden unabhängig vom Urteil und von der Rechtfertigung des Verfahrens lobende Worte für die Art und Weise, wie es geführt wurde. 75 Vgl. Lütgemeier-Davin, in: Steinweg (1990): S. 202–207. 76 R.O. Landesverrat durch die Presse, in: Berliner Tageblatt, 13.3.1928 M. 77 R.O. Der Leipziger Landesverratsprozeß. Das System der Freiwilligen, in: Berliner Tageblatt, 13.3.1928 A. 78 R.O. Der Leipziger Landesverratsprozeß. Die Gutachten, in: Berliner Tageblatt, 14.3.1928 M. 79 Vgl. Lütgemeier-Davin, in: Steinweg (1990): S. 210–215. Zitat ebd., S. 214.
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Vermutlich die Szenerie und die Tumulte während der Fememordprozesse vor Augen, schrieb Olden anerkennend: Nichts kann, wenn man die Irrtümer der Justiz, an denen es nie fehlen wird, erleben und pflichtschuldig als das, was sie sind, bezeichnen muß, mehr zur Versöhnlichkeit, zum Verständnis gegenüber den Irrenden stimmen, als diese wahrhaft glänzende Form, in der der Präsident des fünften Strafsenats die Verhandlung gegen zwei radikale Pazifisten durchgeführt hat. 80
Wie auch das Urteil aussagt, sprach Olden den beiden Angeklagten nicht den „reinen Willen“ ab. Auf ihre Art und Weise trachten sie danach, Deutschland aufrichtiger im Umgang mit der geheimen militärischen Rüstung zu machen. Allerdings, und hier stellte er sich durchaus auf die Seite des Gerichts, sei „ihre Methode, nur den Splitter im eigenen Auge, nie den Balken im fremden Auge zu sehen, anfechtbar.“ In großer Deutlichkeit fuhr er fort: „Damit allein ist vielleicht schon genügend festgestellt, daß peinliche Anklage und Zuchthausdrohung, die gegen Verbrecher geschaffen sind, für solche politischen Ideologen nicht die geeigneten Behandlungsmittel sind.“ Als eigentlichen Gegenstand des Prozesses galt Olden etwas anderes: „Der Leipziger Prozeß drehte sich in Wahrheit um Berechtigung oder NichtBerechtigung politisch-journalistischer Verfahrensarten, über die ein Urteil zu fällen, eine ernste Aufgabe des Historikers, aber kaum des Strafrichters ist.“ Für alle politischen Lager sei der gleiche Maßstab anzulegen. Die Art der Auseinandersetzung von Seiten des rechten Spektrums wäre wesentlich verwerflicher als das, was den Pazifisten vorgeworfen werde. „Das Wort, daß die Nation die Fenster ersetzen müsse, die die Journalisten eingeworfen haben, bezieht sich, wie man weiß, keineswegs auf Pazifisten.“ Zu einer Anklage oder zu einem Strafverfahren komme es in jenem Falle aber nicht, kritisierte Olden, währenddessen eine Flut von Prozessen gegen linke Zeitungen und Zeitschriften geführt werde. Ohnehin könne dieses Verfahren, das sich auf einen Artikel aus dem Jahre 1925 beziehe, nicht mehr zur Reinigung der gesellschaftlichen Atmosphäre, die Olden damals im Sinne der Aufklärung der Vorgänge in Veltheim für wünschbar hielt, beitragen. Der politischen Klugheit wie Moral wird nicht Genüge getan, wenn nach drei Jahren ein Prozeß gegen sie durchgeführt wird, in dem man sie zwingt, von dem Beweis dessen, was sie für wahr halten, abzustehen, weil sie sonst höhere Strafe erwartet, als wenn sie die Unrichtigkeit zugeben. Ebensowenig überzeugend ist es, wenn zur Verurteilung die Voraussetzung konstruiert werden muß von der Begrenzung staatsbürgerlicher Kritik, über die die Behörde zu entscheiden hat.
Dies habe nichts mit demokratischer Verantwortlichkeit zu tun. Ein frühzeitig eingeleitetes Verfahren hätte für die Pazifisten die Möglichkeit eröffnet, eine juristisch tragfähige Definition von der Begrifflichkeit des Staatswohls zu stiften. Die Kritik, die Olden an dieser Stelle auszusprechen versuchte, zielte nicht nur auf die konservativen und rechten Kleingeister in Armee und Justiz, sondern hinterfragte auch die Form der pazifistischen Propaganda. Nicht das Urteil an sich, dass im Lager der 80 R.O. Demokratische Kontrolle. Nachwort zum Leipziger Landesverratsprozeß, in: Berliner Tageblatt, 15.3.1928 A. Die folgenden Zitate ebd.
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Friedensbewegung große Empörung hervorrief, war für ihn skandalös. Vielmehr verwies er auf den Umstand, dass politisch in der Form fragwürdige (z.T. journalistische) Agitationen in jeglicher Hinsicht nicht gleichwertig juristisch geahndet bzw. verfolgt werden. War, was im Jahre 1925 die jetzt zu Festungshaft Verurteilten über Illegalitäten der Reichswehr behauptet haben, unwahr, wie Reichswehrministerium und Reichsanwaltschaft angeben, so war der Weg, der gegen sie beschritten werden mußte, vorgezeichnet: eine sofort angestrengte und schnell durchgeführte Klage wegen übler Nachrede oder Verleumdung konnte das blanke Schild der Reichswehr erweisen, die leichtfertigen Verbreiter der falschen Nachrichten ihrer verdienten Strafe zuführen. Das wäre wirkungsvoll, überzeugend gewesen.
Die Taktik des Abstreitens und Verleugnens müsse endgültig durchbrochen werden. Dafür sei der Küster/Jacob-Prozess nur exemplarisch, wie das Beispiel der Phöbus-Film-Gesellschaft belege, deren Machenschaften Olden kurz vor Prozessbeginn in Leipzig noch einmal thematisierte. Dem Heer und der Marine standen seit dem Ruhrkampf große finanzielle Möglichkeiten im Rahmen von Sonderfonds zur Verfügung. Mit diesen Geldmitteln finanzierte man, vorbei an allen parlamentarischen Kontrollinstanzen, die illegale Aufrüstung. Kapitän Walter Lohmann verwaltete dies als Mitglied der Marineleitung. Um das ihm zur Verfügung stehende Kapital zu vergrößern, spekulierte Lohmann durch Investitionen in Unternehmen außerhalb der Rüstungsindustrie, was zu massiven finanziellen Verlusten in Höhe von 26 Millionen Reichsmark zu Lasten des Staatshaushaltes führte. Bereits im August 1927 wurde der Skandal öffentlich.81 Das System ist nicht schwer zu erkennen, es ist auch nicht schwer zu handhaben. Grundlage: der Friedensvertrag ist ungerecht. Verstösst eine Behörde gegen ihn, so handelt sie nur formell ungesetzlich, in Wirklichkeit aber rechtmässig. Die Mitteilung solcher Ungesetzlichkeiten aber ist jedenfalls strafbar. Nach diesem System können also Behörden in Deutschland treiben, was sie wollen, sie sind der öffentlichen Kritik dann bestimmt entzogen, wenn sie nur dabei eine Bestimmung des Friedensvertrages verletzten. Heimliche Aufrüstung, Umtriebe gegen die Republik, Verschleuderung von Staatsgeldern – alles ist erlaubt – alles darf nicht kritisiert werden, alles wird durch die obersten Juristen geschützt. 82
Zum wiederholten Male richtete Olden seine Aufmerksamkeit auf das große Ganze der gesellschaftlichen Entwicklung und der Gefährdung des inneren Friedens, die von diesem beschriebenen System ausgehe. In eine juristische Debatte, die lediglich das Klein-Klein des Landesverrats-Paragraphen umfasse, wollte er sich nicht hineinbegeben. „Diese Dinge sind heute schon von historischem Charakter. Wir haben in der letzten Zeit ganz andere, weit schlimmere Sachen mit der Reichswehr erlebt.“83 Dass er in grundsätzlicher Übereinstimmung mit den Positionen der Friedensbewegung stand, ist unstrittig. Eine diskursive Verkürzung der Debatte allein auf den Landesverrat als solchen, der lediglich erneut Sinnbild für eine Rechtsprechung sei, die politischen bzw. regierungsamtlichen Erwägungen folge, war für ihn unzulässig. Natürlich blieb in diesem Zusammenhang eine ideelle Verbindung zur 81 Vgl. Büttner (2008): S. 380. 82 R.O. Das System, in: Argentinisches Tageblatt, 8.4.1928. 83 R.O. Pazifisten als Landesverräter, in: Argentinisches Tageblatt, 15.4.1928.
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intellektuellen Linken bestehen, die mit ihrer Kritik der Politischen Justiz bei Olden auf fruchtbaren Boden traf. Wie im Zusammenhang mit den Fememorden gezeigt, trachtete er aber hauptsächlich danach, dass in Staat und Armee verantwortlich fühlende Demokraten die Geschicke der Republik bestimmen sollten, um den Teufelskreis des Revanchismus zu durchbrechen. Auf der Ebene des Politischen, zu der die Reichswehr als Machtfaktor zu rechnen sei, müsse die Saat gesät werden, die später auf der Ebene der Judikative aufgehen müsse. Dieser Schwerpunkt schloss Forderungen nach einer Reform des Justizwesens nicht aus. Womöglich ist damit die Zurückhaltung seiner Kommentare erklärbar, die Olden im Vergleich zu anderen Pazifisten gegenüber den Angeklagten zeigte, so wichtig auch ihm ihr thematisches Anliegen war. Die Redaktion des Anderen Deutschland sah ganz allgemein, unabhängig vom Urteil des Reichsgerichts, in diesem Prozess einen enormen Popularitätserfolg für ihre Autoren. Man fühlte Bestätigung für die eingeschlagene Strategie der publizistischen Veröffentlichung von vertragswidrigen Handlungen der Regierung und der Reichswehr. Auch Carl von Ossietzky hob in seinem Beitrag für die Weltbühne darauf ab, dass das Urteil einem politischen Kalkül folgte, Sinnbild für den weiterhin existierenden Militarismus sei und keinen rechtsstaatlichen Grundsätzen einer zivilisierten Rechtsordnung entsprach. Ossietzky forderte Gerechtigkeit für die Autoren, eine Kategorie, die bei Olden erstaunlicherweise nicht aufzufinden ist. Eindringlich verteidigte ebenso Kurt Tucholsky die Verurteilten, indem er den Landesverrat als notwendig beschrieb: „Wir sind Landesverräter. Aber wir verraten einen Staat, den wir verneinen, zugunsten eines Landes, das wir lieben, für den Frieden und für unser wirkliches Vaterland: Europa.“84 Trotz unterschiedlicher strategischer Ausrichtungen zwischen gemäßigten und radikalen Pazifisten stellten sich auch Hans Wehberg und Ludwig Quidde hinter Küster und Jacob. Ihrem Vorbild müsste gefolgt werden. Zu dieser eindeutigen Verteidigung der beiden Angeklagten fand sich Olden nicht bereit. Er hob eher den ideologischen Charakter ihres politischen bzw. pazifistischen Engagements in den Vordergrund, der ihn als liberalen befremdete, selbst wenn sie „keineswegs auf eine Schädigung des Reiches“85 durch ihre Veröffentlichungen zielten.86 Während des Prozesses gegen Küster und Jacob vertrat ein Mann als Oberreichsanwalt die staatlichen Interessen, der selbst bald im Mittelpunkt eines aufsehenerregenden Verfahrens stand, das zum Sinnbild für den Versuch werden sollte, Akteure einer konservativ gefärbten Justiz zur Rechenschaft zu ziehen. Die Rede ist von Paul Jorns. Nach dem Urteil gegen ihn, schrieb Jacob in der Zeitschrift das Tage-Buch einen anonymen Beitrag über die Rolle des Reichsanwalts während einer Untersuchung zu den Morden an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Der Vorwurf lautete, Jorns habe die Mörder laufen lassen und den Aufklärungsversuch gezielt verhindert. Das Blatt unter dem verantwortlichen Redakteur Josef Bornstein warf ihm „schwere Versäumnisse und Pflichtverletzungen bei Führung der 84 Tucholsky, in: Schöningh (2000): S. 144f. 85 R.O. Demokratische Kontrolle, in: Berliner Tageblatt, 15.3.1928 A. 86 Vgl. Lütgemeier-Davin, in: Steinweg (1990): S. 215f.
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Voruntersuchungen gegen die Täter“87 vor und kritisierte seine spätere Ernennung zum Reichsanwalt. Im April 1929 kam es nach einer Klage Jorns gegen Bornstein wegen Beleidigung und Verleumdung zum Prozess, dem offensichtlich Olden beiwohnte. Wie oft in solchen Prozessen, die ein öffentlich Beschuldigter anzustrengen gezwungen ist, sind die Rollen vertauscht. Der jetzige Reichsanwalt und frühere Kriegsgerichtsrat der GardeKavallerie-Schützendivision Jörns muss sich gegen den Vorwurf verteidigen, in der Untersuchung, die er wegen des Mordes an Liebknecht und Luxemburg führte, die Täter begünstigt zu haben.88
Olden begrüßte es ausdrücklich, dass der angeklagte Gegenstand diesmal in aller Ausführlichkeit vor dem Gericht besprochen und nicht erneut durch eine Verkürzung der wahre Kern des Verfahrens verschleiert werde. Die Rekonstruktion der Vorgänge am Mordabend und während der Untersuchung ist sehr schwierig, in Hast kann eine so feine prozessuale Arbeit nicht geleistet werden. Auch der Vorsitzende scheint sich dem nicht länger zu verschließen; wenn er heute sagt, er sehe ein, dass man am schnellsten vorwärts komme, wenn man jeden Beteiligten ausreden lasse, so hat er eine richtige Erkenntnis kundgetan. 89
Bereits vor der Verkündung des Urteils würdigte Olden diesen Prozess und verwies wiederholt auf seine Bedeutung und Relevanz für die Weimarer Gesellschaft und ihrer Entwicklung. „Was sich in den letzten zwei Wochen im Kriminalgericht abspielte, war eine Reproduktion, eine Wiederholung mit verminderten kriminalistischen Hilfsmitteln, aber weit grösserer geistiger Freiheit. Für die Wahrheitserforschung ist diese noch wichtiger, als jene es sein können.“90 Am 27. April 1929 wurde Bornstein freigesprochen. Levi gelang es als Verteidiger im Laufe des Prozesses den Beweis zu führen, dass der Bericht von Jacob der Wahrheit entsprach, Jorns den Mördern also Vorschub leistete, indem er Hinweise zur Aufklärung unberücksichtigt ließ und Spuren gezielt verwischte. Olden erkannte sofort die Relevanz dieses Urteils. „Die Entscheidung des Gerichts ist von grosser Bedeutung. Sie kann wichtige Folgen, über das Schicksal des Nebenklägers, Reichsanwalt Jörns, hinaus, haben.“91 Nach der Verkündung des Richterspruches soll er befürchtet haben, noch direkt im Gerichtssaal verhaftet zu werden. In einem weiteren Kommentar unterstrich Olden die Richtigkeit des Urteils und gab seinem Erstaunen Ausdruck, dass es eine Figur wie Jorns an die Spitze der Judikative geschafft habe. Wir kennen leider viele Irrtümer richterlicher Behörden aus den Sturmjahren der neuen Zeit, verfehlte Entscheidungen, die nur durch Voreingenommenheit erklärt werden können, wir erleben sie in der Hochverratspraxis des Reichsgerichts noch heute. Aber was hier einem hohen Beamten vorgeworfen wurde, fiel aus dem Rahmen des Denkbaren, es war niemand im Saal, den nicht die Scheu hemmte, zu glauben, dass so unerhörtes geschehen war, dass dieser ko-
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Hannover/Hannover-Drück (1987): S. 201. R.O. Der Mord an Liebknecht – Luxemburg, in: Berliner Tageblatt, 18.4.1929 M. R.O. Der Prozess des Reichsanwalts, in: Berliner Tageblatt, 21.4.1929 M. R.O. 1919 und 1929. Vor dem Urteil im Jorns-Prozess, in: Berliner Tageblatt, 27.4.1929 M. R.O. Freispruch im Jorns-Prozess, in: Berliner Tageblatt, 27.4.1929 A.
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rrekte, ältere Herr, jetzt im schwarzen Gehrock, der aber sonst in der ehrwürdigen roten Robe vor der Öffentlichkeit erschien, so furchtbar in seinem Amt gefehlt haben sollte.92
Die verantwortlichen Politiker müssten die Gunst der Stunde nutzen und den Reichsanwalt aus seiner Funktion entlassen, um so ein deutliches und entschiedenes Zeichen der Aussöhnung zu senden und der Demokratie auf ihrem begonnenen Weg weiter zum Durchbruch zu verhelfen. Erneut zielte Olden auf eine moralische Erneuerung von Staat und Gesellschaft. „Die moralische Gesundheit eines Landes wäre gefährdet, in dem nicht rechtzeitig eine reinliche Scheidung von solchen Elementen durchgesetzt werden kann.“ Der Ausgang dieses Prozesses symbolisierte für ihn Hoffnung und Zuversicht mit Blick auf eine Läuterung und Demokratisierung der Justiz, die endlich einsetze. Das Zeitalter der Politischen Justiz gehe seiner Dämmerung entgegen, auch dann, wenn das Reichsgericht selbst nach wie vor an seinem politischen Charakter festhalte. Die unteren Instanzen der Rechtsprechung befänden sich dem gegenüber auf dem gerechten Weg, die „alte Justizschande zu tilgen“93 und den Sieg der republikanischen Staatsordnung mit einzuleiten. Das deutsche Volk hat viel Geduld gehabt mit seiner Justiz. Zehn Jahre hat es ertragen, dass die Gerichte sich über die Republik lustig machten, dass sie Fememörder brave Soldaten nannte, dass sie Hitlerleute nicht verfolgten und Reichsbannermänner wegen Landfriedensbruch einsperrten. Zehn Jahre lang ist aber auch die republikanische Presse nicht müde geworden, die Gerichte zu kritisieren und ihnen ihr Unrecht vorzuenthalten. Endlich ist es erreicht, dass sich die Richter den Tatsachen anbequemen und Recht wieder Recht sein lassen. Hunderte von Republikanern bezahlten Jörns Rechtsbeugung mit ihrem Leben. Es ist ein seltener Zug historischer Gerechtigkeit, dass mit ihm auch die Reinigung beginnt. Die Richter haben es gemerkt, dass die alte Zeit vorbei ist.
Damit fand dieser Prozess noch lange nicht seinen Abschluss. Vor dem Berliner Landgericht I ging Jorns in Berufung, dass aber im Wesentlichen den Vorwurf der Vorinstanz bestätigte. Lediglich der im inkriminierten Artikel geäußerte Vorwurf gegenüber dem Mangel an dessen juristischen Fähigkeiten wurde sanktioniert. Das Gericht sah darin den Vorwurf der Beleidigung bestätigt und verurteilte Bornstein zur Zahlung einer Geldstrafe in Höhe von 100 RM. Olden sprach in diesem Zusammenhang vor allem dem Vorsitzenden Richter während des Berufungsverfahrens, dem Landesgerichtsdirektor Siegert, Dank und Erkennung aus. Sein Verdienst läge in der Erhaltung des „sittlichen Gehaltes des Staates.“94 Darin treffe er sich mit „dem Publizisten, der jenen Artikel über den Reichsanwalt verfasste, und dem Redakteur, der ihn abdruckte.“ Die Spruchpraxis des Reichsgerichts hingegen sei nicht zu loben, da sie Bürgerrechte behindere und beschneide. „Alle Gerechtigkeit ruht endlich auf Menschen, auf den Menschen, die die Gesetze anzuwenden haben. Wir wissen, was wir der konsequenten Menschenauswahl des preussischen Justizministers zu danken haben.“ Hier erlebte Oldens Postulat einer 92 R.O. Die Rote Robe. Nach dem Prozess Jorns, in: Berliner Tageblatt, 29.4.1929 A. Folgendes Zitat ebd. 93 R.O. Reichsanwalt Jörns verurteilt, in: Argentinisches Tageblatt, 25.5.1929. Folgendes Zitat ebd. 94 R.O. Der verurteile Reichsanwalt, in: Berliner Tageblatt, 15.2.1930 A. Die folgenden Zitate ebd.
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demokratisch und republikanisch gesinnten politischen Führerschaft, die entsprechend auf die Judikative durchschlug, in seiner Wahrnehmung ihre erste Blüte. Von einer entsprechenden Adaption bezüglich des Reichsgerichts sei man, so Olden, noch weit entfernt. Aber abgesehen von der Schuld, die Jorns trägt, – es geht über seine Person und ihre Bedeutung hinaus, dass dieser hohe Funktionär verantwortlich ist für den Geist der Männer, die in Leipzig an höchster Stelle richten, und damit auch für den Geist, der dem höchsten Gericht innewohnt. Unter schnell wechselnden Ministern hat der an Kenntnissen und geistiger Feinheit reiche Beamte seit vielen Jahren die Personalpolitik der Reichsjustiz souverän geleitet, und das Resultat ist so, wie es nach seiner Auffassung vom Wesen der Republik sein musste.
Dies sei verantwortlich für die Vertrauenskrise der Justiz, die vor allem auf Seiten der pazifistischen Linken große Enttäuschung, Verbitterung und Kritik hervorrief. Die Urteile in den Verhandlungen gegen Jorns hätten „die Ehre der Justiz wiederhergestellt“, wenngleich er die Erwartungen, was daraus zu werden vermag, deutlich nüchterner einschätzte. „Wie wichtig und bedeutungsvoll auch ein einzelner Fall solcher Reinigung ist, so kann er wahrhaftig kein Anlass sein, sich nun in dem Glauben zu wiegen, alles sei herrlich eingerichtet in der besten aller Welten.“ Ein guter Anfang sei zweifellos gelungen. In der zielstrebig eingeleiteten Anwendung wahren Rechts dürfe nicht nachgelassen werden. Wenn die Republik weiter bestehen bleiben soll, müsse der Staat „auch unnachsichtlich sein Recht durchsetzen können. Nur die Gerechtigkeit kann sein Fundament stärken, die nicht schielt, die rechts und links nach dem gleichen Mass misst.“ Dies verknüpfte Olden nicht nur mit der Entlassung von Paul Jorns aus der Reichsanwaltschaft, sondern ebenso mit personellen Konsequenzen auf der politischen Leitungsebene. „Die Stelle, die für die Menschenauswahl in der Reichsjustiz verantwortlich ist, muss ein Mann einnehmen, der für Staatsnotwendigkeiten den richtigen Blick hat. Dann wird kein Jorns mehr Anwalt des Rechtes sein. Und noch anderes wird anders werden.“ Seine Zuversicht wurde durch die Realität allerdings jäh zunichte gemacht. Eine beantragte Revision am Reichsgericht hob das Berufungsurteil am 7. Juli 1930 auf, da Bornstein nicht den Beleg führen konnte, dass Jorns absichtlich den Mördern Vorschub leistete. Das Verfahren wurde an das Berliner Gericht zurückverwiesen. Im Januar 1931 erfolgte die rechtskräftige Verurteilung Bornsteins zu 500 RM Geldstrafe wegen Beleidigung und übler Nachrede. Auch die Öffentlichkeit setzte sich, mit Ausnahme von Olden, verstärkt mit dieser Problematik auseinander. Es ließen sich keine Beiträge finden, in denen er auf diese Entwicklung publizistisch einging. Selbst der Reichstag in Gestalt der SPD-Fraktion führte den Vorstoß zur Entlassung Jorns bzw. zur Einleitung eines Disziplinarverfahrens. Beides scheiterte. Er konnte im Amt verbleiben und wurde 1936 Reichsanwalt am berüchtigten Volksgerichtshof.95 Auch der Prozeß gegen Walter Bullerjahn gehört zu der Serie von Landesverratsverfahren, deren politische Funktion darin bestand, die geheime Rüstung der Reichswehr abzusichern. Seine besondere justizgeschichtliche Bedeutung beruht jedoch darauf, daß in diesem Prozeß ein nur 95 Zum gesamten Verfahren Jorns/Bornstein: Exemplarisch, Vgl. Hannover/Hannover-Drück (1987): S. 200–214; Schöningh (2000): S. 146–148.
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in der politischen Justiz übliches Beweismittel, der geheime Zeuge, gründlich diskreditiert worden ist.96
Bullerjahn wurde bereits am 11. Dezember 1925 wegen Landesverrates zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt, weil er ein geheimes Waffenlager an die Interalliierte Militärkontrollkommission verraten haben soll. Der Zeuge, der ihn des Verrates bezichtigte, wurde vom Reichsgericht nicht in öffentlicher Sitzung persönlich vernommen. Der Inhalt seiner Aussage vor den ermittelten Kriminalbeamten genügte dem Gericht als Rechtfertigung für eine Verurteilung. Der Angeklagte hatte nie erfahren, wer konkret ihn des Verrates beschuldigte. Der Verteidiger hatte nicht die Möglichkeit, Rückfragen zu stellen, um die Glaubwürdigkeit des Zeugens zu prüfen. Rechtsstaatliche Verfahrensgrundsätze wurden bewusst von Seiten des Reichsgerichts negiert. In die breite Öffentlichkeit trug diesen Fall erneut der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und Jurist Paul Levi. Seine Kritik richtete sich an die strafrechtliche Verwertung einer im geheimen getätigten Zeugenaussage, die zur Schuldfeststellung und Aburteilung des Angeklagten herangezogen wurde. Der Verteidiger Bullerjahns, Ernst Emil Schweitzer, hatte sich daraufhin an Kurt Großmann und die DLM gewandt, was in der Konsequenz dazu führte, dass Levi auf dessen Anraten zum Mitverteidiger bestellt wurde. Das Schweigegebot des Reichsgerichts, über diesen Fall nicht ausführlich öffentlich zu berichten und auf das Fehlurteil aufmerksam zu machen, galt für Levi als Mitglied des Reichstages nicht. Seine Rede eröffnete für andere Journalisten wie Olden die Möglichkeit, über diesen Fall in ihren Zeitungen und Zeitschriften zu berichten und sich unter Federführung der DLM ab 1927 für eine Wiederaufnahme des Verfahrens stark zu machen. Rechtsanwalt Dr. Oscar Cohn verfasste im Namen der Liga im September 1929 den Wiederaufnahmeantrag beim Reichsgericht. Ein jahrelanger Kampf der DLM um die Rehabilitierung Bullerjahns sollte folgen. Unverständnis äußerte Olden vor allem gegenüber der Strategie des Reichsgerichts, eine solche Verhandlung und ein solches Urteil unter allen Umständen so lange wie möglich geheim zu halten. „Absurd war eben der Befehl zur Geheimhaltung überhaupt von Anfang an, und man fragt sich vergeblich, warum eigentlich das Reichsgericht ihn ausgesprochen hat.“97 Schon im Moment des Auffindes des Waffenlagers durch die Militärkommission hätte es nichts mehr Geheimzuhaltendes gegeben. „Sollte es das Verfahren gewesen sein, das die Reichsrichter nicht in der Öffentlichkeit erörtert wissen wollten?“ In gewisser Weise könne dies als zutreffend betrachtete werden, setzte sich das Gericht über die „klare Bestimmung des Gesetzes hinweg, das die unmittelbare und mündliche Vernehmung eines jeden Zeugen vorschreibt.“ Dass dieser Prozess in seiner Art und Weise, wie er geführt wurde, einem Grundprinzip des Strafprozessrechtes widersprach, blieb für Olden unter Bezugnahme auf Levi nie umstritten. Im Mai 1930, nachdem Bullerjahn fünf Jahre seiner Haftzeit im Gefängnis zugebracht hatte, kritisierte Olden die Reichsanwaltschaft, dass sie das Verfahren nicht wieder aufgenommen habe. Die Unschuld des Verurteilten läge offen zu Tage, nachdem bekannt wurde, wer der omi96 Hannover/Hannover-Drück (1987): S. 192. 97 R.O. Bullerjahn, in: Argentinisches Tageblatt, 6.1.1929. Die folgenden Zitate ebd.
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nöse Zeuge gewesen ist und unter welchen Umstände seine Aussage zustande kam. „Gegenüber so vielen zu Zweifel Anlass gebenden Anzeichen wäre es vom rechtlichen Standpunkt unverständlich, wenn das Reichsgericht die Wiederaufnahme versagte, darüber hinaus aber rechtspolitisch der schwerste Fehler.“98 Das Unrecht, was ihm widerfahren sei, muss umgehend rückgängig gemacht, Bullerjahn Gerechtigkeit zuteilwerden. „Es ist schmerzlich, diese Untätigkeit des hohen Justizfunktionärs zu sehen, wo es um Schuld oder Unschuld, um Leben im Zuchthaus geht.“99 Erstmals Hoffnung mit Blick auf die Realisierung einer Wiederaufnahme des Verfahrens hegte Olden im März 1931 mit der Gründung des Komitees Recht für Bullerjahn. Diesem gehörten eine Reihe von linken Juristen und Schriftstellern an. Seit dem Tod seines geschätzten Kollegen und Freundes Paul Levi ein Jahr zuvor kam wieder Bewegung in die Dinge. Eine Reihe von Rechtsgelehrten verfassten auf Bitten des Komitees zahlreiche Rechtsgutachten. Nun endlich kam etwas Erstaunliches und vielleicht das erste wirklich Erfreuliche, was in dieser trübseligen Angelegenheit zu vermerken ist. Fünf Professoren des Rechts, der frühere Reichsjustizminister und Reichstagsabgeordnete Radbruch, der Reichstagsabgeordnete und Vorsitzende der Strafrechtskommission Kahl, die Berliner Professoren James Goldschmidt und Kohlrausch, endlich der Giessener Professor Mittermayer haben solche Gutachten erstattet. Alle haben sich auf das dezidierteste dahin ausgesprochen, dass das Urteil revidiert werden müsse100
und das, obwohl sie unterschiedlichen politischen Lagern angehörten. Dies sei etwas einmalig Neues in der deutschen Geschichte. Es belege den Einstellungswandel eines Teils der politisch-juristischen Elite, die den materiellen wie formellen Respekt vor der höheren richterlichen Instanz im Falle grober Ungerechtigkeit abgelegt hätten. In diesem Zusammenhang sprach Olden vor allem Wilhelm Kahl, Alterspräsident des Reichstages, Mitglied der DVP-Fraktion, Professor für Rechtswissenschaften an der Berliner Universität und viermaliger Präsident des Deutschen Juristentages, seine große Anerkennung aus. Nach dessen Tod im Mai 1932 würdigte er sein entschiedenes Eintreten zugunsten Bullerjahns: Ein Bürger in dem älteren Sinn, mit dem die peinliche Schärfe des Begriffs Bourgeois nichts zu tun hat, national ohne Hysterie des Nationalismus, liberal in der Hochhaltung demokratischer und individueller Rechte, ein Jurist nicht nur dem Wissen und der Technik nach, sondern mit der tiefen Sehnsucht nach der Vermeidung und Wiedergutmachung des Unrechts. Hier kann ich anknüpfen, um zu sagen, was uns Jüngere und Radikalere zu ihm zog und mit ihm verband. Es ist zugleich ein persönliches Bekenntnis. Er war für unser Streben nach Besserung der Rechtspflege eine Reserve von höchstem Wert. Wir wussten, dass er nicht zu jenen gehört, die ohne schwere Bedenken ihren Namen unter den Protest setzen. Umso größer war die Bedeutung, wenn er nach eingehender Prüfung mitprotestierte. Wenn Bullerjahn heute in Freiheit ist und auf seine Rechtfertigung hoffen darf, so hat Kahls Wort dabei sein Teil getan. 101
98 R.O. Fall Bullerjahn. Oberreichsanwalt gegen Wiederaufnahme, in: Berliner Tageblatt, 20.5.1930 M. 99 R.O. Kampf um Bullerjahn, in: Berliner Tageblatt, 3.7.1930 A. 100 R.O. Bullerjahn. Gutachten deutscher Rechtsgelehrter verurteilen das Reichsgericht, in: Argentinisches Tageblatt, 1.3.1931. 101 R.O. Wilhelm Kahl †, in: Berliner Tageblatt, 14.5.1932 A.
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Er wurde zum Vorbild Oldens, als Jurist und Bürger. Nicht zuletzt durch das Engagement demokratisch gesinnter Juristen trat im Falle Bullerjahn sechs Jahre und vier Monate nach seiner Verurteilung die Wende ein. Am 19. Mai 1931 beschloss das Reichsgericht eine Wiederaufnahme zuzulassen. Bullerjahn kam Anfang Juni 1931 für drei Monate auf freien Fuß. Olden bezeichnete diese Entscheidung als ein „Ruhmesblatt in der Geschichte der Justiz“102, dem sich anzuschließen, eigentlich die Aufgabe des Oberreichsanwaltes hätte sein müssen, denn „die Staatsautorität wird nicht gestützt durch den Widerstand gegen notwendige Aufklärung, sie wird dadurch geschädigt.“ Am 3. November 1932 begann der zweite Prozess um Bullerjahn in Leipzig, diesmal öffentlich. Kurt Rosenfeld und Hugo Sinzheimer übernahmen die Verteidigung. Das wieder aufgenommene Verfahren endete mit einem Freispruch.103 Oldens Engagement gegen die Landesverratsjustiz fand damit nicht ihren Abschluss, im Gegenteil. Der Höhepunkt sollte erst folgen. Wie in keinem anderen Fall vor- oder nachher brachte er sich in ein Verfahren ein, dass in „vielerlei Hinsicht idealtypisch für die politische Justiz in Deutschland“104 war. Seinem Vorbild und Freund Levi folgend, zog es ihn auf die Bank des Verteidigers. „In einem Prozess, der als Kulminationspunkt der Landesverratsrechtsprechung des Reichsgerichts gilt“105, übernahm er die Verteidigung eines geschätzten Freundes aus dem Umfeld der Weltbühne, nämlich Carl von Ossietzky. Der weltweit aufsehenerregende Fall machte Olden selbst über die Grenzen seiner redaktionellen Tätigkeit für das Berliner Tageblatt hinaus in der Weimarer Republik bekannt. Anders als in den Verfahren gegen Bullerjahn, Jacob und Küster oder Quidde wollte er diesmal nicht abseitsstehen und erst im Nachhinein mit der Macht der Feder gegen eine ungerechte Rechtsprechung ankämpfen. Unter dem Pseudonym Heinz Jäger, hinter dem sich Walter Kreiser, Mitarbeiter der Weltbühne wie des Berliner Tageblatt sowie Mitglied der DLM und der SPD, verbarg, erschien am 12. März 1929 ein Artikel in der Weltbühne unter dem Titel Windiges aus der deutschen Luftfahrt. Im Auftrag der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion erstellte er ein Gutachten über die staatliche Subventionierung der Luftfahrt. In seinem Beitrag deutete Kreiser die Verwendung staatlicher Mittel zu militärischen Zwecken mit Blick auf den Aufbau einer neuen Luftwaffe an, was der Republik nach den Statuten des Versailler Vertrags untersagt war. Weiterhin zeigte er auf, dass in diesem Feld Einrichtungen des Militärs in der zivilen Luftfahrt weitergeführt wurden, beispielsweise in der Abteilung Küstenflug der Lufthansa, obwohl diese formal aufgelöst waren. Damit zielte man auf eine bewusste Täuschung der Landesregierung in Preußen, die dem Gebaren des Reichsverkehrsministeriums in der zivil genutzten Luftfahrt immer mehr misstraute. In einem Absatz, der mit Abteilung M überschrieben war, richtete der Verfasser den Blick auf die 102 R.O. Reichsgericht beschließt Wiederaufnahme des Prozesses Bullerjahn, in: Berliner Tageblatt, 20.5.1931 A. Folgendes Zitat ebd. 103 Vgl. zum Prozess gegen Bullerjahn und zum Wiederaufnahmeverfahren: Grossmann (1963): S. 235–248; Hannover/Hannover-Drück (1987): 192–199. 104 Müller, I. in: Böttcher (1985): S. 298. 105 Boldt (2013): S. 708.
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illegale Rüstung im Bereich der militärischen Luftfahrt. Dies war Teil eines Programmes, das die Armee zu restrukturieren suchte. Um dem näher zu kommen, arbeite man im Geheimen mit der Roten Armee zusammen, die an deutscher Waffentechnik interessiert sei und der Reichswehr für ihre Erprobungen ein passendes Gelände zur Verfügung stelle, so Kreiser. Er geißelte nicht nur den Versuch, eine verbotene Luftwaffe mithilfe der Sowjetunion aufzubauen, sondern auch die zahlreichen Fehlplanungen und die damit verbundene Misswirtschaft bei der Subvention der Luftfahrt. Der Haushaltsausschuss des Reichstages hatte der entsprechenden Abteilung im Verkehrsministerium schon erhebliche Mittel gekürzt. Für besonderes Aufsehen sorgte der Artikel anfänglich kaum. Das Reichswehrministerium legte über diesen Vorfall eine Aktennotiz an, die auch dem Reichsanwaltschaft übersandt wurde und in der Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens gegen Kreiser als Autor und gegen Ossietzky als verantwortlichen Herausgeber wegen Landesverrates und Spionage mündete. Weitere Schritte unterblieben vorerst. Man hoffte auf Einstellung des Verfahrens. „Daß im Weltbühne-Prozeß zweieinhalb Jahre zwischen Tat und Eröffnung der Hauptverhandlung lagen, hatte offensichtliche seine Ursache in Differenzen zwischen Reichswehrministerium und dem 1929 noch von Stresemann geleiteten Außenministerium“106 zu tun. Die Festlegung eines Verhandlungstermines erfolgte erst am 8. Mai 1931, worauf Olden einen Tag später in seiner journalistischen Funktion reagierte. Schon ein paar Mal ist in den letzten zehn Jahren eine Welle von Landesverratsverfahren über uns hinweggegangen. Es waren manchmal Dutzende und mehr Publizisten und verantwortliche Redakteure, darunter die angesehensten Deutschlands, die von Leipzig aus mit schweren Strafen bedroht wurden, weil sie angeblich Staatsgeheimnisse veröffentlicht hatten.107
Dass die Hauptverhandlung erst im November 1931 stattfinden sollte, quittierte er mit Unverständnis. Die Gründe für eine Verlegung seien fadenscheinige Ausflüchte, da dem Auswärtigen Amt der Artikel zwei Jahre bekannt sei und sich nicht in der Lage sah, einen entsprechenden Gutachter für dieses Verfahren von Seiten des Ministeriums zu bestellen. Zwei Jahre lang schleppt man ein unwahrscheinlich grundloses Verfahren im stillen hin. Dann schreckt man die Welt auf dadurch, dass das Hauptverfahren wegen Landesverrats gegen einen weithin geachteten politischen Schriftsteller eröffnet wird. Dann wird in der letzten Minute abgestoppt und die Welt wieder vor ein Rätsel gestellt.
Grundsätzlich müsse diese Strategie der Anklage dazu führen, das gesamte Verfahren einzustellen. Für Olden stand außer Zweifel, dass die bedrängten journalistischen Kollegen von ihrem Bemühen um Aufklärung und Kritik nicht ablassen werden. Im Gegenteil, ihrem Vorbild sei zu folgen. Die Republik bedürfe viel mehr solcher Impulsgeber aus der Zivilgesellschaft. Ihr Verantwortungsgefühl zeige ein richtiges Verständnis des Staatswohls. An dieser Stelle nutzte Olden nochmals die Gelegenheit, sowohl mit dem Versailler Vertrag an sich, als auch mit dem System politischer Justiz kritisch ins Ge106 Müller, I. in: Böttcher (1985): S. 303. 107 R.O. Rauch ohne Feuer, in: Berliner Tageblatt, 9.5.1931 A. Die folgenden Zitate ebd.
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richt zu gehen. Dem Friedensvertrag warf er seine Unmoral vor. Dabei zielte er auf die Bestimmungen der Rüstungsbeschränkungen. „In der allgemeinen Unmoral des Versailler Diktats ist ein besonders unmoralischer Teil der, durch den die Bewaffnung des kleinen Reichsheeres beschränkt ist.“ Dies habe sich zwar durch die Vereinbarungen von Locarno spürbar gelockert, doch „dürfte man einen Stand nie zwingen, gegen die Regeln seines Wesens zu handeln.“ Mit Blick auf die vermeintlichen Landesverräter habe dies eine relevante Folge. Die außenpolitischen Restriktionen, die der Weimarer Republik aufgebürdet werden, würden innerstaatlich zur Abrechnung und strafrechtlichen Verfolgung von politisch Andersdenkenden missbraucht. Die Justiz und deren Vorgehensweise schaffe ein Klima des Misstrauens, das bei den ehemaligen Kriegsgegnern erneut antideutsche Ressentiments schüre und Bemühungen um ein friedliches Miteinander künftig zunichtemache, da die Alliierten eine tatsächlich umfassende deutsche Wiederaufrüstung fürchteten, die in diesem gefühlten Ausmaß allerdings nicht der Realität entspreche. So wahrhaftig das wahr ist, so betrüblich ist es, zu erleben, dass der Zwang, der dem Reich obliegt, dazu benutzt wird, den Reichsbürgern Zwang aufzuerlegen. Und wenn sie, aus sehr guten Gründen, sich nicht zwingen lassen, so wird ein Apparat gegen sie in Bewegung gesetzt, der das Misstrauen Misstrauischer notwendig aufputschen muss. Denn, würde auch nirgends gezündelt, so sagen sie doch, da, wo so viel Rauch aufsteigt, da müsse auch Feuer sein.
Obwohl juristisch versiert, verließ Olden an diesem Punkt die rechtsstaatlich analytische Ebene des Rechtsgelehrten und argumentierte entschieden normativ, zeigt dies die besondere Verbundenheit, die er selbst zu diesem Fall mitbringen sollte und die künftig im Prozessverlauf weitreichendere Folgen annehmen wird. Die Hauptverhandlung gegen Ossietzky begann am 17. November 1931. Detaillierte Informationen über den Verlauf des Verfahrens sind kaum bekannt. Die gesamte Verhandlung fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Auch die Urteilsverkündung selbst war nicht öffentlich. Gleichzeitig wurde es allen Beteiligten untersagt, den erörterten Sachverhalt in irgendeiner Form der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Es galt ein Schweigegebot. Die Anklage zielte ursprünglich nur auf den Straftatbestand des Landesverrates entsprechend der Rechtsnormen des Strafgesetzbuches. Das Gericht folgte jedoch dem Verlangen der Reichsstaatsanwaltschaft, die auf eine Verurteilung im Sinne des Spionagegesetzes drängte. Eine Unterscheidung zwischen Spionage und Landesverrat drückte das Gericht in seinem Urteil nicht aus. Aufgrund des Gesetzes gegen Spionage verurteilte man die Angeklagten wegen Landesverrats zu je einem Jahr und sechs Monaten Gefängnis. Die Verteidiger erhielten nur eine Ausfertigung des Urteilsspruches. Der rechtliche Beistand, den Ossietzky in diesem Verfahren für sich und Kreiser genieren konnte, versammelte „vier Juristenköpfe, die eine schwer berechenbare Summe von Qualität verkörperte.“108 Zur Riege der Verteidiger gehörte neben Max Alsberg, Kurt Rosenfeld und Alfred Apfel auch Rudolf Olden, der über die berufliche Zusammenarbeit mit Ossietzky in der Weltbühne zu einer persönlichen Freundschaft fand und im Weltbühne-Prozess zu seiner anwaltlichen Tätigkeit führte. Olden und seine Kollegen rieten Ossietzky im August 1929 dazu, die Ab108 Ossietzky, zitiert nach Müller, I. in: Blanke (1988): S. 185.
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sicht des Artikels mit Blick auf eine Budgekritik zu begründen, dem er vorläufig folgte. Als Journalist habe er das Recht, die Verwendung öffentlicher Mittel kritisch zu hinterfragen. „Was Ossietzky auch immer gewollt oder ungewollt angerichtet hat, der Vorteil, den die Etatkritik als Gesamtzusammenhang genommen darstellt, heilt den Nachteil der mit ihr untrennbar verknüpften Hinweise auf unlautere Machenschaften des Militärs“109, so Alsberg in einer Eingabe gegenüber dem Reichsjustizministeriums. Man unterstrich den Punkt einer rechtskonformen Steuerverwendung und legalen Haushaltsaufstellung gegenüber dem Vorwurf des Landesverrates, der als Tatvorwurf ins Abseits gestellt werden sollte. Indem das Reichswehrministerium steuerliche Mittel unberechtigt zur Finanzierung eigener Sonderinteressen verwandt habe, dürfe man auf die Einhaltung des parlamentarischen Budgetrechts, das in der Reichsverfassung verankert ist, hinweisen. Nichts anderes habe der Artikel beabsichtigt. Obwohl sich rückblickend nicht mehr die einzelnen Standpunkte der jeweiligen Verteidiger in dieser Angelegenheit und ihre detaillierte Arbeit während des Prozesses nachvollziehen lässt, gibt Oldens Artikel aus dem Mai 1931 einen entscheidenden Hinweis. Auch er argumentierte auf Basis der aufgezeigten Verteidigungslinie zugunsten von Ossietzky und Kreiser. Etatkritik müssen sich alle Ministerien gefallen lassen, auch wenn sie den Ministern und Ministerialräten nicht immer angenehm ist. Es gibt nur ein Ministerium, in dem Ministerialbeamte auf die Idee kommen können, die Kritik an ihren Amtshandlungen sei ein erimen laesae majestatis und müsse mit ausserordentlichen Mitteln verfolgt werden. Wenn aus einem Amt Schriftstücke in die Welt flattern, in denen gesagt wird, Etatkritiker seien eben Pazifisten und Pazifisten bekanntlich vom Feind bestochen – ja, dann drängt sich wieder die Befürchtung auf, das Wohl des Reiches sei manchmal von denen bedroht, die den amtlichen Auftrag haben, es zu wahren. Denn eine solche, sagen wir gelinde, Übersteigerung der Polemik muss auf den Schützen selbst zurückprallen. Das ist aber genau so der Fall, wenn unzweifelhaft anständige Schriftsteller und Redakteure, weil ihnen nicht jede Verwendung öffentlicher Mittel gefällt, aus dem Spionagegesetz belangt werden.110
Das Reichsgericht berücksichtigte dies in seinem Urteil, allerdings anders, als von Olden und den anderen Anwälten beabsichtigt. Es stellte fest, dass es den Angeklagten nicht nur um eine Etatkritik gegangen sein konnte, da der berüchtigte Abschnitt M des Artikels mit keinem Wort auf haushaltstechnische Gründe Bezug nehme. „Das Reichsgericht trennte also die Hinweise auf illegale Rüstungen von der Etatkritik, womit der schützende salvierende Gesamtzusammenhang aufgelöst war.“111 Wie problematisch bzw. umstritten diese Strategie gewesen sein mag, dokumentierte nicht zuletzt der Zwiespalt, den Ossietzky mit sich und wohl auch seinen eigenen Anwälten ausfocht. Der Demokrat in den Angeklagten stand womöglich überzeugt zu jener Idee, auf die Etatkritik zu verweisen, indem die öffentliche Mei109 Alsberg, in: Boldt (2013): S. 713. 110 R.O. Rauch ohne Feuer, in: Berliner Tageblatt, 9.5.1931 A. 111 Boldt (2013): S. 713; Der bisherige kontextuelle Zusammenhang dieses Prozesses wurde aus Folgenden Titeln entnommen: Vgl. Grossmann (1963): S. 261–280; Müller, I. in: Böttcher (1985): S. 298–312; Boldt (2013): S. 708–713.
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nungsfreiheit als wesentlicher Teil eines liberalen Verfassungsdenkens zu stärken sei, da sie einen hohen Stellenwert innerhalb einer republikanisch verfassten Staatsordnung gegenüber dem Parlament und der Regierung einnehmen müsse. Dem pazifistischen Element andererseits obliege stärker das Interesse, auf dem Primat des Militärischen in der Politik und vor allem der Rechtsprechung hinzuweisen, das sogar in einer gezielt betriebenen politischen Justiz endet, die nicht mit gleichem Maß gegenüber linken und rechten Angeklagten messe. Kurt Rosenfeld berichtete, wie entschieden Ossietzky im Verfahren den pazifistischen Standpunkt mit Blick auf die Aufdeckung der illegalen Rüstung eingenommen habe. Ihm sei es um mehr gegangen, als eine reine Etatkritik. Dabei sei auf eine Bemerkung von Ossietzky verwiesen, die er Anfang Mai 1931 formulierte, als der Oberreichsanwalt Anklage erhob: Ein beträchtlicher Teil des Mißtrauens gegen Deutschland in der ganzen Welt ist auf diese Judikatur des höchsten deutschen Gerichts zurückzuführen. Wir haben es hier nicht mehr mit Rechtsprechung zu tun, sondern mit einem Komplott zwischen R.W.M. und Reichsanwaltschaft zur Niederhaltung der oppositionellen Presse und zur Aufrechterhaltung einer Sonderstellung der Herren Militärs.
Erst nach Abschluss des Verfahrens, in seiner Replik auf das ergangene Urteil, stellte er die „Budgetredlichkeit“112 in den Mittelpunkt. Damit folgte er nicht nur seinen Verteidigern, sondern auch der DLM, wobei dies als „Ersatzhandlung eines Demokraten“ gedeutete wurde, „dem es verwehrt war, gegen das illegale Treiben der Militärs energisch vorzugehen.“113 Schließlich hatte sich in diesem Verfahren eine erstaunliche Wendung vollzogen. Der Hauptangeklagte war zunächst Kreiser als Verfasser gewesen. Im Laufe der Verhandlung wurde aber Ossietzky als Herausgeber zum hauptsächlichen Akteur, da er den Inhalt des Artikels hart verteidigte und ihm daran gelegen war, die Gesellschaft über die geheime Rüstung zu informieren, gegen die er seit langem ankämpfte. Je nach politischer Färbung fiel das Urteil über den Ausgang des Prozesses in der deutschen Presse unterschiedlich aus. Das Berliner Tageblatt und die Frankfurter Zeitung verwiesen auf die Linie der Verteidigung und deren Etatkritik, die im Artikel Kreisers zum Ausdruck komme. Demokratische Kontrolle und Pressefreiheit sahen sie bedroht. Die katholisch-pazifistische Rhein-Mainische-VolksZeitung hob ebenfalls auf den Punkt des Budgetrechts ab, ebenso wie der Vorwärts. Großer politischer Protest der pazifistisch Linken blieb in den Monaten nach der Verurteilung von Ossietzky mit Blick auf seinen Haftantritt aber aus. Olden und seine Anwaltskollegen hatten mit dem Verweis auf das Recht, die Verwendung öffentlicher Mittel kritisch zu hinterfragen, juristisch die Möglichkeit offen gehalten, künftig ein Wiederaufnahmeverfahren in Gang setzen zu können. Dafür hatte man Material gesammelt, das den Nachweis führen sollte, der Artikel habe nur Informationen und Nachrichten geschildert und dargestellt, die der Öffentlichkeit bereits bekannt waren. Jene Bemühungen der Verteidigung wurden jedoch durch das Verhalten Kreisers zunichte gemacht. 112 Ossietzky, in: Boldt (2013): S. 715. 113 Boldt (2013): S. 716.
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Dieser hatte dem L’Echo de Paris nach seiner Flucht nach Frankreich Prozessmaterial übergeben, welches von diesem veröffentlicht wurde. Alfred Apfel hatte stenographische Verhandlungsmitschriften anfertigten lassen, die er Carl Mertens anvertraute, der diese wiederum selbst an französische Publizisten weitergab, die an einer Veröffentlichung des Materials interessiert waren. Mertens und Kreiser verfolgten eine klare pazifistische Intention. Sie sahen in dem Verhalten des Gerichts sowie der Reichswehrführung und deren Rüstung den Keim eines künftigen Krieges. Ihr Handeln zielte weniger darauf, die Einschränkung der politischen Meinungsfreiheit durch das Urteil im Weltbühne-Prozess zu geißeln, als vielmehr die Republik vom Geiste des Militarismus zu befreien, selbst wenn man dadurch verständigungsbereiten Pazifisten in Frankreich ihre Arbeit erschwerte. Bald schon unterstützte auch Fritz Küster die Bestrebungen Mertens, indem er Auszüge aus dem L‘Echo de Paris im Anderen Deutschland abdruckte. An diesem Punkt stand der Pazifismus in der Weimarer Republik im Allgemeinen sowie Olden, Ossietzky u.a. im Besonderen vor einem entscheidenden Dilemma, das der Verurteilte wie folgt zusammenfasste. „Küster verteidigen, das hieße, die Sache billigen, was ich durchaus nicht tue. Von ihm abrücken, das hieße, ihm noch in seinem Unglück einen Stoß geben, was ich erst recht nicht möchte.“114 Die unterschiedliche Strategie in der Beurteilung des und der Auseinandersetzung mit dem Weltbühne-Prozess und seinem Urteil wurde zur Zerreißprobe für die deutsche Friedensbewegung und deren Repräsentanten. Für die praktische Verteidigungsarbeit Oldens sollte das Vorgehen der radikalen Pazifisten schwerwiegende Folgen haben.115 Apfel hatte am 30. Dezember 1931 ein Gnadengesuch an Hindenburg gesandt. Darin hielt er erneut am Recht auf öffentlicher Etatkritik fest. Olden selbst war noch nicht beteiligt. Auch Alsberg ersucht im Februar 1932 beim Reichsjustizminister um eine Begnadigung, der diese an den Reichspräsidenten weiterleitete. Beide betonten in ihren Einlassungen die Motive Ossietzkys, die durchaus als ehrenhaft zu bezeichnen seien. Ohnehin habe seine Verurteilung negative Impulse im Ausland zur Folge. Schriftsteller wie Thomas Mann oder Arnold Zweig sowie der weltweit berühmte Physiker Albert Einstein schlossen sich durch eigene Bitten dem Gnadengesuch an. Ossietzky selbst rechnete nicht mit einer Begnadigung durch Hindenburg, was in den Briefen an Tucholsky zum Ausdruck kam. Ein wenig Hoffnung keimte bei ihm erst wieder auf, als Olden „beim überparteilichen Wahlbündnis für Hindenburg Krach schlug.“116 Darüber hinaus appellierte er im Berliner Tageblatt an den Reichspräsidenten, das Gnadengesuch zu unterzeichnen117, was jedoch ohne Erfolg blieb. Grundsätzlich stand Hindenburg dem aber nicht gänzlich abgeneigt gegenüber, wie Apfel später in der Emigration erinnerte. Die Affäre um Kreiser in Paris habe in diesem Zusammenhang einen schlechten Einfluss auf die Erfolgschancen ausgeübt:
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Ossietzky, in: Ebd., S. 723. Vgl. Grossmann (1963): S. 280ff.; Boldt (2013): S. 714–724. Boldt (2013): S. 726. Vgl. R.O. Gesinnungsvolle Opposition, in: Berliner Tageblatt, 26.3.1932 A.
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Der Reichsjustizminister und schließlich sogar Hindenburg neigten der Begnadigung zu oder doch wenigstens der Umwandlung der Strafe in Festungshaft. Sie wurde im letzten Augenblick nur deshalb abgelehnt, weil man über Publikationen des Echo de Paris verschnupft war, die den Inhalt des in Deutschland geheimgehaltenen Urteils preisgaben.118
Am 21. April 1932 wurden die Eingaben der Verteidiger offiziell abgelehnt. Fortan ging man im Kreise der Verteidiger daran, die Gefängnishaft in eine Festungshaft umzuwandeln. Dies scheiterte ebenfalls, weshalb Ossietzky seine Strafe am 10. Mai 1932 in Tegel antrat. Olden zählte zu den zahlreichen Anwesenden, die ihn vor dem Gefängnistor verabschiedeten, um damit nochmals gegen die politische Willkür des Reichsgerichts zu protestieren.119 Olden kehrte bald in den Gerichtssaal zurück, als gegen Ossietzky ein zweites Verfahren eingeleitet wurde. Der Vorwurf lautete diesmal: Beleidigung der Reichswehr. Zum Gedenken an den Kriegsausbruch hatte das Blatt am 4.8.1931 die Friedensbotschaft des Papstes aus dem Jahre 1915 abgedruckt, die damals aufgrund der Zensur nicht oder noch in abgeschwächter Form veröffentlicht wurde. Tucholsky, als Ideengeber des Artikels, ging es darum, die deutsche Öffentlichkeit mit dem vollständigen Text vertraut zu machen, indem Benedikt XV. eindringlich alle Staatsoberhäupter aufforderte, den Krieg zu beenden und Frieden zu schließen. Seine eigene Glosse ergänzte die päpstliche Botschaft durch eine scharfe Anprangerung des gesamten Krieges: „Da gab es vier Jahre lang ganze Quadratmeilen Landes, auf denen war der Mord obligatorisch, während er eine halbe Stunde davon entfernt ebenso streng verboten war. Sagte ich: Mord? Natürlich Mord. Soldaten sind Mörder.“120 Besonders der letzte Ausspruch provozierte einen erneuten Strafantrag von Seiten des Reichswehrministers. Die Ermittlungen zielten gänzlich auf Ossietzky als verantwortlichen Redakteur, da Tucholsky in Paris lebte und die deutsche Justiz ihm nicht habhaft werden konnte. Allerdings war die Rechtsprechung in diesem Falle nicht der eifrige Erfüllungsgehilfe der Reichswehr. Die Eröffnung eines Hauptverfahrens lehnte sowohl der Leiter der Berliner Staatsanwaltschaft ab, als auch das Gericht selbst. Der Tatbestand der Beleidigung sei nicht erfüllt, so die jeweilige Begründung, weshalb das Verfahren eigentlich eingestellt werden müsse. Schließlich erhielt die Staatsanwaltschaft von Seiten der vorgesetzten Behörde die Weisung, gegen den Beschluss der Kammer Beschwerde einzureichen. Auch diesmal übte die Führung des Reichswehrministeriums Druck auf die Judikative aus, was diesen Prozess erneut zu einem Fall politischer Justiz machte, da nach erfolgreicher Beschwerde am 26. Februar 1932 das Hauptverfahren eröffnet worden war. Alfred Apfel und Rudolf Olden übernahmen erneut die Verteidigung. Sie waren von der Unhaltbarkeit der Klage überzeugt und rechneten mit einem Freispruch ihres Mandaten. Ossietzky selbst zeigte eher ein skeptisches Stimmungsbild. Die Verhandlung begann am 1. Juli 1932.
118 Apfel, in: Grossmann (1963): S. 288. 119 Vgl. Grossmann (1963): S. 7–13; Müller, I. in: Blanke (1988): S. 185; Boldt (2013): S. 724– 729. 120 Tucholsky, Der bewachte Kriegsschauplatz, in: Weltbühne, 4.8.1931, S. 192.
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Apfel versuchte den Zusammenhang zum Prozess vom November 1931 herzustellen. Gegen den Einspruch der Staatsanwaltschaft setzte er die Verlesung des damaligen Urteils durch. „Hier ist ein politischer Prozeß, ein Politiker wird verfolgt, aus persönlichen Gründen wird er verfolgt. Warum er schon früher und mit welchen, guten oder schlechten, Gründen er verfolgt worden ist, kann für das Gericht nicht gleichgültig sein.“121 Im Laufe der Beweisaufnahme erfolgte die Verlesung der Glosse von Tucholsky; im Anschluss daran die der Friedensbotschaft des Papstes. Die Staatsanwaltschaft zeigte sich unbeeindruckt und hielt an ihrem Tatvorwurf fest, indem sie beantragte, Ossietzky zu einer Haftstrafe von sechs Monaten bezüglich der Diffamierung der Reichswehr zu verurteilen. Der Ausspruch Soldaten sind Mörder sei eine Beleidigung der Soldatenehre und ihres Berufsstandes. Olden und Apfel zielten in ihren Plädoyers darauf, die gesamte Konstruktion der Anklage zu unterminieren. Sie wiesen auf die politische Motivation des Verfahrens hin. Zunächst gelang es Apfel, die unterschiedliche Spruchpraxis mit Blick auf den Beleidigungsparagraphen zu belegen. In ähnlichen Fällen wurden Klagen von Seiten linker Aktivisten wegen Beleidigung abgewiesen, wie beispielsweise bei Max Hölz, der in einer nationalistischen Zeitung als Massenmörder bezeichnet wurde. Darüber hinaus verweise die Rechtsprechung des Reichsgerichts darauf, dass ein Kollektiv, eine Institution als solche sich überhaupt nicht beleidigt fühlen könne. Es müsse immer ein konkreter Kreis angesprochen sein. Olden führte das schwerwiegendste Argument gegen eine Verurteilung Ossietzkys an. Er trug zahlreiche Zitate von Philosophen, Literaten und Staatsmännern vor, die im Laufe der Weltgeschichte ebenfalls Soldaten als Mörder titulierten und nicht wegen Beleidigung angeklagt waren. Rechtsanwalt Olden trug die Masse der Zitate vor, von Laotse, Erasmus, Friedrich dem Großen, Voltaire, Kant, Goethe Klopstock, Herder, Schubert, Hoffmann von Fallersleben, Rosegger, Kaiser Friedrich III., Victor Hugo, Raabe, in denen Soldaten Mörder, Henker, Schlächter genannt wurden. Nie hat eine Armee deshalb Strafantrag gestellt, nie ein Staatsanwalt angeklagt, ein Gericht verurteilt. Er zeigte, daß es hier gar nicht um Pazifismus gehe, sondern um das Recht, richtig zu denken und logisch zu sprechen, und daß Zensur, geistige Unfreiheit, ein Volk auch soldatisch entnerven müsse.122
Die Idee, die Beweisführung auf diese Art und Weise zu unterfüttern, stammte ursprünglich von Kurt Tucholsky. Dieser unterbreitete von Paris aus Vorschläge für die Taktik der Verteidiger, da er selbst als Jurist mit der Materie vertraut war und ihn womöglich ein schlechtes Gewissen plagte, da er in Paris blieb und sich nicht den deutschen Behörden stellte, um seine Verantwortung vor Gericht zu übernehmen, sondern Ossietzky auf der Anklagebank Platz nehmen musste. In mehreren Briefen an ihn machte Tucholsky deutlich, dass derartige Bemerkungen über das Militär bzw. Soldaten keine Seltenheit darstellten. Ein Verweis auf diese Äußerungen könne günstig sein. Überzeugt von diesem Vorgehen, leitete Ossietzky diesen Vorschlag an Olden weiter, unter dessen Obhut eine Reihe von Mitarbeitern die entsprechenden Belege sammelten und für das Plädoyer aufbereiteten, das Olden 121 Apfel, in: Grossmann (1963): S. 317. 122 Grossmann (1963): S. 320.
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dem Gericht vortrug und das er mit einer weiteren Episode über den Reichspräsidenten abschloss.123 Während einer Fahrt Hindenburgs durch Hamburg erschallte aus dem Beifall der Menschenmenge der Ruf Massenmörder. Als daraufhin der Bürgermeister der Hansestadt sich entsetzt bei Hindenburg dafür entschuldigte und den Übeltäter als irrsinnig titulierte, antwortete dieser: Das ist Ansichtssache! Die Kammer sprach Ossietzky frei, da es nicht zu belegen sei, dass mit dem Begriff Mörder ehemalige Angehörige der kaiserlichen Armee gemeint waren. Die Gefahr einer Verlängerung seiner Haftstrafe war abgewandt.124 Die bisherige Analyse von Oldens Engagement im Spannungsfeld zwischen journalistischer Berichterstattung und juristischer Praxisarbeit, das so typisch für seine Biographie ab 1926 war, zeigte Eines ganz deutlich: Eine Trennung oder gar eine Unvereinbarkeit zwischen systematischer Justizkritik eines liberalen Demokraten und einer Kritik an der Reichswehr durch einen freischwebenden Pazifisten musste nicht zwangsläufig einen Widerspruch provozieren, wie es der Fall von Ossietzky in dessen persönlichem Dilemma aufzeigte. Pazifistische Kritik am Handeln des Militärs verwies für Olden notwendig auf die demokratischen Defizite der Rechtsprechung bei der strafrechtlichen Verfolgung seiner Kollegen. Die Art der jeweiligen Verhandlungsführung war für ihn Anlass, die Justizkritik in den Mittelpunkt der journalistischen Betrachtung zu stellen, weil so geführte Verfahren juristisch standhafte Verantwortlichkeiten der Reichswehrführung mit Blick auf die illegal betriebene Aufrüstung nicht leisten und feststellen konnte. Dies sei nicht nur zutreffend für die Landesverratsverfahren, sondern zeigte sich bereits bei der juristischen Aufarbeitung der Fememorde, in deren Rahmen eine auffällige rechtliche Sonderstellung der Reichswehr markant war. Jene Exemtion wurde gegenüber den vermeintlichen Landesverrätern fortgeführt. Bei aller berechtigten Kritik, die Olden an jenem System des Reichsgerichts übte, blieben anfänglich die pazifistischen Belange nicht unberücksichtigt, gerade in Momenten, wo er ausdrücklich verfolgte Pazifisten verteidigte, ohne sich immer mit ihren inhaltlich/weltanschaulichen Ansichten bzw. ihrem strategischen Vorgehen identifizieren zu können. Er verteidigte die pazifistische Grundidee als solche gegenüber einer militarisierten Rechtsprechung. Es kam nicht auf die unterschiedlichen Motivationen und Hintergründe der Verfolgten und deren Zugehörigkeit zu einem jeweiligen Lager innerhalb des Weimarer Pazifismus an. Die Differenzen innerhalb der Friedensbewegung, wie mit der geheimen Rüstung umzugehen sei, lässt sich anhand der Beiträge von Olden nicht nachvollziehen. Während Quidde und die Geschäftsleitung der DFG aufgrund ihrer eigenen biographischen Erfahrungen eher eine taktische Defensive verfolgte, die die Problematik unter Ausschluss der Öffentlichkeit thematisieren sollte, letztlich den parlamentarischen Gremien in Form eines Untersuchungsausschusses die Aufarbeitung und 123 Vgl. Frei (1966): S. 189ff.; Brief von C.v.O. an Kurt Tucholsky 10.3.1932, in: Suhr (1986): S. 131ff. 124 Zur Anekdote um Hindenburg: Vgl. Frei (1966): S. 194; Zur Prozessschilderung: Vgl. Grossmann (1963): S. 314–320.
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Beseitigung der Missstände anvertraute, sah Otto Lehmann-Rußbüldt für die DLM aber auch der WLV einen erfolgversprechenderen Weg in der journalistischen Veröffentlichung der illegalen Rüstung, um so Druck auf die politisch verantwortlich Handelnden auszuüben.125 Für Olden bestand unter diesem Gesichtspunkt kein nennenswerter Unterschied. Beides seien vielmehr zwei Seiten ein- und derselben Medaille und müsse gleichzeitig im Interesse einer stabilen Demokratie verfolgt werden. Die Zivilgesellschaft habe das verfassungsmäßig verbriefte Recht auf die Veröffentlichung staatsgefährdender Tendenzen. Gleichzeitig ging es ihm darum, auf die institutionellen Eliten von Weimar erzieherisch einzuwirken, um den innenpolitischen Frieden im Schulterschluss mit politisch progressiven Kräften zu schützen. Kritisch hingegen sah Olden, dass die Friedensbewegung ihren Kampf gegen die allgemeine Wiederaufrüstung (ausschließlich) im Inland führte, sei dies auch im benachbarten Ausland festzustellen. Ob er damit stärker eine internationale Kooperation und Verflechtung der pazifistischen Bewegungen in Europa anmahnte, muss an dieser Stelle unbeantwortet bleiben. Schließlich mißlang es, mittels spektakulärer Presseartikel und Eingaben die Einstellung illegaler Machenschaften durchzusetzen, wiewohl sie die Reichswehr und die Vaterländischen Verbände zwangen, die Aufrüstung noch heimlicher als bisher voranzutreiben. Die fortwährenden Enthüllungen verlangsamten zumindest den Aufrüstungsprozeß.
Dass die Reichswehr zweifelsohne ein entscheidender Machtfaktor sei, der weiterhin eine Gefahr für den innen- und außenpolitischen Frieden darstellte, war für ihn evident, ohne im Bereich des Juristischen sich konkret mit den Aspekten der geheimen Rüstung als Pazifist gezielt auseinanderzusetzen. Offenbar erfolgte dies eher im Zuge seiner Funktion als politischer Leitartikler. Hier blieb offen, welche Strategie Olden in Bezug auf die illegale Wiederbewaffnung vertrat bzw. welche pazifistische Strömung er präferierte. Das hinderte ihn keineswegs daran, personelle Konsequenzen in der Reichswehrführung anzumahnen und auf eine strafrechtliche Sanktionierung abzuzielen, die dann vor der Oberreichsanwaltschaft, wie im Falle Jorns, nicht Halt machen dürfe. Seine Hoffnung blieb manifest, wie in der positiven Kommentierung der Absetzung Geßlers durch Groener dokumentiert, in einem Wandel auf politischer Ebene, der nachfolgend eine Republikanisierung der Armee und ihrer Führung langsam mit sich bringen müsse. In der Konsequenz gelte dies auch für die Ebene der Judikative, um die unheilvolle Allianz von konservativer Rechtsprechung und revanchistischem (Zivil-) Militarismus in der Reichswehr und der deutschen Gesellschaft insgesamt zu durchbrechen. Beides im Sinne einer pazifistisch-demokratischen Kritik am Status quo zugunsten einer wahren und gefestigten Republik zu denken, war die Besonderheit seiner Biographie, die sich wie ein roter Faden durch die verschiedenen Lebensstationen zog. Ihm ging es darum, die Republik vor dem Zerreiben zwischen antagonistischen und antiliberalen Kräften zu schützen. Eine Gefährdung des Staatswohls, das am friedlichen Miteinander auf Basis einer republikanischen Grundordnung und einem europäischen Verständigungswillen zu messen sei, lag für Olden hauptsächlich in der Negierung bürger125 Vgl. Lütgemeier-Davin (1982): S. 186f. Folgendes Zitat ebd., S. 190.
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licher Grund- und Freiheitsrechte. Dies dürfte dazu beigetragen haben, dass er dem eher konservativen Rechtsgelehrten Wilhelm Kahl eine große Wertschätzung entgegenbrachte. So entschieden Olden den Aspekt einer geistigen Revolution im Leben des deutschen Volkes für notwendig postulierte, umso defizitärer gestaltete sich sein Bemühen um den Versuch eine republikanisch-demokratische Gesinnung institutionell zu implementieren. Wie ein tragfähiges Bürgerbewusstsein in dieser Richtung gestiftet werden kann, betrachtete Olden nicht. Dass es dazu innerhalb des gemäßigten Pazifismus in Gestalt des Rechtstheoretikers Hermann Ulrich Kantorowicz eine Persönlichkeit gab, die dies durchaus theoretisch durchdachte, blieb bei Olden unreflektiert. Vor allem durch veränderte Formen der Ausbildung und deren Inhalte an Schulen und Universitäten sollte im Bereich der Justiz eine neue Generation von Juristen etabliert werden. So beteiligte sich Kantorowicz 1921 an der Gründung des Republikanischen Lehrerbundes. In seiner Funktion als Hochschullehrer gab er Übungen und Vorlesungen in dem, aus den USA inspirierten, neuen Fach der Staatsbürgerkunde. Es ergänzte die innerwissenschaftlichen Reformbestrebungen des Freirechts, indem es die Jurisprudenz nach außen öffnete und popularisierte. Durch Einführung in die Grundbegriffe des öffentlichen Rechts und des Völkerrechts, sowie durch die Erläuterung der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten des einzelnen sollten in ihm soziale Solidarität, der Wille zur gerechten Völkerversöhnung, staatsbürgerlich-demokratische Gesinnung, aber auch echtes nationales Selbstbewusstsein breitesten Schichten der Bevölkerung vermittelt werden, um sie aus ehemaligen politischen Untertanen zu mündigen Bürgern der neuen republikanischen Ordnung zu machen.126
Neben Kantorowicz gehörte 1925 auch der von Olden hoch geehrte Wilhelm Kahl zum Kreis jener, die eine neue organisatorische Plattform für alle verfassungstreuen Professoren im Rahmen der sogenannten Weimarer Tagungen gründen wollten. Es steht zu vermuten, dass jener Ansatz wohl am ehesten den Vorstellungen Oldens entsprach, auch wenn ein Verweis auf die Schriften bzw. das Engagement von Kantorowicz in diesem Bereich nicht auszumachen war. Der Weltbühne-Prozess hatte seine Entwicklung hin zu einer stärkeren Betonung der demokratischen Grundfreiheiten verstetigt, wie an weiteren Beispielen kurz dokumentiert werden kann. Besonders das Recht auf freie Meinungsäußerung besaß für Olden den höchsten Stellenwert: Im März und April 1932 versuchte er den sozialkritischen Film Kuhle Wampe vor dem Verbot durch die Filmzensur zu bewahren. Das Werk schilderte die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise von 1929 auf die Arbeiterschaft in Deutschland am Beispiel der Berliner Arbeiterfamilie Bönike. Bertolt Brecht wollte exemplarisch die wirtschaftliche und soziale Verelendung von Millionen Betroffenen in dieser Zeit dokumentieren. Kritik an der kapitalistischen Wirtschaftsordnung verband er mit dem Hinweis auf die verschärfende Reaktion des Staates, der mit seinem Handeln von Seiten der Exekutive und Judikative, die gesellschaftliche Not verschlimmere. Aber auch die Arbeiterschaft selbst stand im Zentrum kritischer Betrachtung, da sie ihrem Untergang nicht ent126 Vgl. Muscheler (1984): S. 50–54. Zitat ebd., S. 53.
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schieden Widerstand leistete und stattdessen an tradierten Besitz- und Moralvorstellungen festhalte. Sie müsse wieder ihr Klassenbewusstsein stärken und auf die revolutionäre Veränderung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft drängen, so die politische Implikation des Films, die durch die Figur der Anni Bönike verkörpert wurde127, was Mitte März 1932 zur Prüfung durch die Berliner Filmprüfstelle, Kammer III, führte, in der u.a. Olden als Beisitzer fungierte. Auf Antrag des Reichsinnenministeriums wurde die öffentliche Vorführung in ganz Deutschland am 31. März verboten. In der Begründung hieß es: Der Bilderstreifen Kuhle Wampe ist kein reiner Spielfilm. Er ist eine Mischung zwischen Spielfilm, Propagandafilm und Reportage aus dem Zeltlager Kuhle Wampe und der Arbeitersportbewegung. Der Sinn der Geschehnisse und der bildlichen Wirkung des Films läuft darauf hinaus, die Masse der Arbeiterschaft mit Mißtrauen gegen den Staat zu erfüllen, zur Selbsthilfe als einziger wirksamer Hilfe hinzuweisen, während der Staat in seiner heutigen Form als unfähig und vernichtenswert hingestellt wird. Ein Film, der in so wirksamer Form in den Beschauern jedes Vertrauen in die Wirksamkeit und in den Hilfswillen des Staates im Kampf gegenüber Not und Elend untergräbt, erschüttert die Grundlagen des Staates, der sich auf einer republikanischen-demokratischen Verfassung aufbaut.
Mehrheitlich sei die Kammer zu der Auffassung gelangt, dass der Film in Gänze Ordnung und Sicherheit in der Republik ernstlich gefährde. Olden erhob in seiner Funktion als Beisitzer Einspruch gegen diese Entscheidung. Er könne in diesem Film keine Bedrohung für die Staatsordnung erkennen. Zu keinem Zeitpunkt gäbe er die realen Verhältnisse verzerrt wieder oder rufe zur Anwendung von (politischer) Gewalt auf. „Im Interesse der Staatserhaltung liegt es, eine maßvolle Kritik an den bestehenden wirtschaftlichen Zuständen, wie der Film sie übt, zuzulassen. Das ist ein notwendiges Ventil, dessen Verschließung weit eher geeignet ist, die Staatsinteressen zu gefährden, als es eine so geartete Kritik tun könnte“, so Olden in seiner Beschwerde gegen das Verbot. Er warf den Machern des Filmes sogar eher Schönfärberei vor. „Nein, die Not, die wirkliche Not wird nicht gezeigt, und wer zum Beispiel die Not kennt, weil er in der Wohlfahrt arbeitet, und würde den Film sehen, so müsste er sich empören. Die feineren, sensitiveren Naturen sind längst verzweifelt über die eigene Machtlosigkeit und Hilflosigkeit.“128 Das Urteil der Kammer sei symptomatisch für den Zeitgeist. Große Zuversicht, dass seiner Beschwerde ein Erfolg beschieden sein könnte, hegte Olden nicht. Zu Schweigen, wo Unrecht geschehe, könne er aber dennoch nicht. Die Grenzen, die mir dies Dabeisein zuweist, sind mir bewusst, meine Meinung zu sagen, verbietet es mir nicht. Wir schreiben es hier nur für die künftigen Historiographen auf, dass vorgestern ein wilder Zensurexzess in aller Stille verübt wurde. Kann sein, es kommt die Zeit, da dort wieder für bürgerliche Freiheiten geschwärmt wird, wo man sie jetzt mit dem Stiefel tritt. Wer dabei war, wird nicht vergessen, was über jede Notwendigkeit, über jede Nützlichkeit, über jede Klugheit, über jeden Sinn, über jede Vernunft hinaus geleistet wird an Unterdrückung bürgerlicher Freiheit.
127 Zum Inhalt des Films: Vgl. Gersch/Hecht (1971): S. 7–83. Die folgenden Zitate ebd., S. 115 und S. 131. 128 R.O. Kuhle Wampe, in: Berliner Tageblatt, 2.4.1932 M. Folgendes Zitat ebd.
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Eine Woche nach diesen Ausführungen, am 9. April 1932, wies die Film-Oberprüfstelle in Berlin die Beschwerde von Olden ab. Erst nach weiterem öffentlichen Protest durch die DLM z.B. wurde das Verbot Ende Mai aufgehoben, auch weil zahlreiche Szenen und Dialoge inhaltlich entschärft wurden. Ohne, dass es ihn persönlich betroffen hätte, blieb erneut Bitterkeit zurück, die er durch die Einschränkung der künstlerisch-intellektuellen Freiheit in diesem Falle verspürt haben muss.129 Im Frühjahr 1932 sollte er sich abermals für die freie Meinungsäußerung stark machen. Als Strafverteidiger und Reichsanwalt übernahm er Anfang April die Verteidigung eines Berliner Zeitungsspediteurs. Als Mitglied der KPD hatte Pogede 1931 eine kommunistische Ausstellung organisiert. Darin zu sehen waren u.a. vom Verband der Freidenker gestiftete Bilder und Zeichnungen mit atheistischen Motiven. Nach offenbar zahlreichen kritischen Artikeln in konservativen und kirchennahen Zeitungen wurde die Ausstellung wieder geschlossen und den Machern, insbesondere Pogede, Gotteslästerung vorgeworfen, was zur Anklage am Berliner Schöffengericht führte. Oldens Verteidigungsbemühungen liefen jedoch ins Leere, da das Gericht den Angeklagten zu neun Monaten Gefängnis verurteilte, vor denen ich ihn, als sein Verteidiger, vergeblich zu schützen versuchte. Hat der Angeklagte (die Bilder vorher) gesehen? Hat er sie früher, in den polizeilich nicht beanstandeten Ausstellungen, hat er sie nur auf der letzten gesehen? Niemand konnte darüber etwas mitteilen. Aber es kam auch darauf gar nicht an. Sondern: er war an der kollektiven Leitung der Ausstellung beteiligt, das hatte er selbst immer freimütig gesagt, und das genügte zur Verurteilung. 130
In einer Berufungsverhandlung erreichte er nur eine Reduzierung des Strafmaßes auf sechs Monate. Der Weltbühne-Prozess und das Verbot von Brechts Kuhle Wampe gehörte für ihn neben dem Fall Pogede in eine Reihe der politisch motivierten Justiz, die der Beschränkung von Freiheitsrechten willfährig den Weg, womöglich sogar in die Diktatur, ebne. Ossietzky, Kuhle Wampe, das rundet sich mit Pogede harmonisch ab. Während Hitler ante portas – wo er hoffentlich bleiben wird – alle Gemüter in Spannung hält, wird in Leipzig und Moabit erwiesen, daß der Spruch, den George Grosz unter seine berühmt gewordene Zeichnung setzte, prophetisch für den seither erreichten Zustand war: Maul halten und weiter dienen!
Als politischer Beobachter stellte Olden eine „allgemeine Verwilderung des Rechtsbewußtseins“131 fest. Zudem müsse man konstatieren, dass „die Verhöhnung, nicht nur die Verleugnung, liberaler Prinzipien, heute in Deutschland kein Echo mehr weckt.“ Um das „Bündnis von Justizreaktion und Militarismus“132 zu beenden, stritt er im Rahmen seiner Mitgliedschaft für die DLM für eine Reform des Gerichtswesens sowie des Strafrechts, um einer mangelhaften Demokratisierung der Rechtspflege entgegen zu wirken. Die politischen Entscheidungsträger hätten es 1918/19 versäumten, die Grundrechte der neu geschaffenen Verfassung in konkretes Recht zu überführen. Die in der Tradition des Obrigkeitsstaates stehenden Rechtsgrundsätze bestünden fort. 129 130 131 132
Vgl. Gersch/Hecht (1971): S. 132–148. R.O. Pogede, in: Weltbühne, 26.4.1932. Folgendes Zitat ebd. R.O. Sire, geben Sie Gedankenfreiheit, in: Weltbühne, 17.5.1932. Folgendes Zitat ebd. Lütgemeier-Davin (1982): S. 185.
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6.1.3 Der Humanist – Olden und die Deutsche Liga für Menschenrechte Anders als die DFG, die nach Kriegsende versuchte, an die bürgerlich dominierten Traditionen der Vorkriegszeit anzuknüpfen, brach der BNV schon durch seine Namensänderung mit bekannten Konventionen und Einstellungen. Die Erweiterung klassischer pazifistischer Positionen, die in der Umbenennung ihr augenfälligstes Symbol fand, ging auf das französische Vorbild und den Niedergang der Nie wieder Krieg-Bewegung um 1922 zurück. Für die Friedensbewegung im Allgemeinen wie auch für den Pazifisten Olden im Besonderen warf das Eintreten für Menschenrechte eine weitere große Schwierigkeit auf, nämlich die Frage nach der Durchsetzung jener Rechte allein bzw. ausschließlich mit friedlichen Mitteln.133 Der Monismus in Form des Deutschen Monistenbundes bildete vor 1914 eine Keimzelle von Friedensbewegten, die sich gegen Aufrüstung und für eine deutschfranzösische Verständigung engagierten. Aus ihnen heraus entstand der BNV, der den Pazifismus mit einer Demokratisierung von Staat und Gesellschaft verknüpfen wollte. Abseits dieses Grundkonsenses waren die Mitglieder in ihren grundlegenden ideellen Orientierungen äußerst heterogen. Völkerrechtler (Schücking und Wehberg), Frauenrechtlerinnen (Helene Stöcker, Anita Augspurg, Lida Gustava Heymann), sozialdemokratisch Ausgerichtete (Eduard Berstein, Kurt Eisner und Rudolf Breitscheid) und selbst Spartakisten (Ernst Meyer), Liberale (Hellmut von Gerlach), Schriftsteller (Rene Schickele) und renommierte Wissenschaftler (Albert Einstein, Ferdinand Tönnies und Georg Friedrich Nicolai) prägten das Bild der DLM in der Zwischenkriegszeit. Jenes Milieu schuf für Olden ein Klima intellektueller Zugehörigkeit und Identität, dass ihn in ein breiteres Engagement für die DLM und seine Mitglieder führte, auch wenn er selbst bestritt, jemals Mitglied in einer pazifistischen Vereinigung gewesen zu sein.134 Die Liga war für ihn mehr als eine reine Gruppierung von Pazifisten. „Nach dem Vorbild der Fabian Society gründete (sie) sich nicht als eine Partei, sondern als Arbeitsgemeinschaft, als ein Braintrust einflussreicher Persönlichkeiten, die in der Öffentlichkeit aufklärend und auf Regierungsinstanzen ratgebend einwirken wollte.“135 Nachdem 1924 der Monist Otto Lehmann-Russbüldt die Geschäftsführung übernommen hatte, bestand der Vorstand nahezu ausschließlich aus Pazifisten. Mit der Beendigung des Krieges und der politischen Umwälzung in Deutschland sah man die Aufgabe der Vereinigung in folgenden Punkten: Verwirklichung des Sozialismus auf Basis der Prämissen der britischen Fabier; Abschaffung jeglicher Form der Gewalt- und Klassenherrschaft zugunsten von Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit; geistige und sittliche Erneuerung des Einzelnen und gleichzeitig Pflege des Gemeinwohls; Völkerversöhnung. Jene programmatischen Leitlinien wurden nach der Umbenennung beibehalten. Jedoch sollten sich ab 1924 die Prioritäten verschieben. Besonders der Aspekt der Völkerversöhnung stand fortan 133 Vgl. Jansen, in: Kramer/Wette (2004): S. 75. 134 „Ich möchte nicht für pazifistische Vereine sprechen, von denen ich keinem angehöre oder angehört habe.“ R.O. Geplante Vorschriften, in: Weltbühne, 29.9.1931. 135 Boldt (2013): S. 168. Folgendes Zitat ebd., S. 171.
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im Mittelpunkt des Engagements. Das Postulat der Realisierung des Sozialismus wurde deutlich abgeschwächt und wohl eher als ein Relikt aus den Tagen der Novemberrevolution verstanden. Kurz gefasst ergab sich nun folgende Anordnung: Völkerversöhnung, Menschenrechte, Sozialismus und Persönlichkeit. Dem geänderten Programm wurde eine Erläuterung beigegeben, in der es heißt: Das Ziel aller Kultur erblicken wir in der freien Entfaltung der Persönlichkeit jedes Volksgenossen und in dessen Höherentwicklung auf der Grundlage wahrhafter geistiger und sittlicher Kultur. Voraussetzung hierfür ist die politische Freiheit und wirtschaftliche Unabhängigkeit des Individuums und somit die Gleichheit der gesellschaftlichen Entwicklungsbedingungen. Politische Freiheit und Gleichheit aber sind das Wesen der Demokratie, während wirtschaftliche Unabhängigkeit im Sozialismus ihre Erfüllung findet. Daher gilt es, durch Zusammenfassung von Demokratie und Sozialismus die Voraussetzung für den Neubau der Gesellschaft zu schaffen, die unter der Herrschaft des militärisch-bürokratischen und kapitalistischen Systems von Krise zu Krise taumelt.
Erst im Zuge einer Satzungsänderung 1927 verzichtete man auf die Forderung nach dem Aufbau einer sozialistischen Republik. Auch danach blieb die DLM selbst im Urteil von Ossietzky, der als Vorstandsmitglied in den 1920er Jahren tätig war, ein Kreis politisch handelnder Personen, den er als Außenseitertum bezeichnete. Die Erringung und Wahrung der Menschenrechte im Kontext zunehmender politischer Polarisierung von links und rechts müsse oberste Priorität eingeräumt werden, um die Zerstörung der Republik zu verhindern.136 Die Programmatik der DLM und ihre thematische Entwicklung seit 1918/19 traf in zunehmendem Maße auf eine ideelle Übereinstimmung zu den Positionen Oldens. Nicht nur die Synthese von innen- und außenpolitischem Frieden als pazifistischem Grundverständnis war eine markante Parallele, auch die Verknüpfung liberaler Freiheitsideen mit dem sozialistischen Grundgedanken der Fabier sprach ihn offenbar an. Die geistige Revolution als Voraussetzung für Völkerverständigung und Aussöhnung, gerade im Hinblick auf den westlichen Nachbarn, rundete die ideengeschichtliche Grundüberzeugung zwischen Olden und der Liga ab und schuf für ihn eine Plattform gesellschaftlicher Wirkungsmöglichkeit, auch wenn in der außenpolitischen Zielsetzung unterschiedliche Vorstellungen herrschten. Oldens Pan-Europa stieß innerhalb der DLM auf wenig Gegenliebe, sah man darin lediglich das Naumannsche Mitteleuropa in anderem Gewand. Zu Pan-Europa stehen wir in einem Gegensatz des Zieles. Wir lassen an Pan-Europa die Straffheit der überstaatlichen Organisation, das Verlangen des Abbaues der Zölle und alles das gelten, was die europäische Kleinstaaterei beseitigen will. Aber es würde nur eine neue Form des Imperialismus bedeuten, weil es Rußland und England schroff ausschließt.137
In den Wiener Jahren dürfte Olden die Liga und ihre Arbeit gezielt verfolgt haben. Ihr Kampf gegen die Schwarze Reichswehr führte im Frühjahr 1924 zur Versendung und Propagierung des Verschwörer-Buches von Emil Julius Gumbel, das Olden nicht verborgen blieb und ihn für diesen Themenkomplex maßgeblich sensibilisierte. Als er in der Verteidigung von Ossietzky argumentativ auf die Etatkritik 136 Vgl. ebd., S. 167–173. 137 Lehmann-Russbüldt (1927): S. 114.
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verwies, bewegte sich Olden auf der Linie der Liga, die seit 1924 durch mehrere Aufsätze von Otto Lehmann-Russbüldt über die Steigerungen informierte und berichtete. In den weiteren Jahren veröffentlichten zahlreiche bekannte Mitglieder ihre Denkschriften über die geheime Rüstung in Deutschland und die damit verbundenen Fememorde über die Formate der DLM, was, wie an der Person Olden dargelegt wurde, zu einer intensiveren Kritik der Zustände in der Reichswehr führte. Sie trug dadurch zu einer breiteren politischen Debatte im Reichstag bei und die Anliegen der Liga wurden einem breiteren gesellschaftlichen Publikum zugänglich. Seitdem der damalige BNV 1922 die Verbindung mit der Französischen Liga für Menschenrechte gesucht hatte, kämpfte man innerhalb des deutschen Pendats gegen jegliche Formen der Politischen Justiz. Unter Leitung von Kurt R. Grossmann wurde im Sommer 1926 im Zuge einer Um- und Neustrukturierung die Rechtsstelle der DLM ausgebaut. Die Liga war die einzige pazifistische Organisation, die sich auf die Auseinandersetzung und Bekämpfung der Politischen Justiz konzentrierte. 1923/24 setzte sich die DLM in zahlreichen Aktionen für die Freilassung von Felix Fechenbach ein, der wegen vermeintlichem Landesverrat verurteilt worden war. Ihrem Selbstverständnis folgend, gründete man 1924 einen Hilfsverein für die Angehörigen der politisch zu Unrecht Verurteilten. Gegen den Missbrauch der richterlichen Kompetenzen forderte man 1927 die Möglichkeit zur Absetzung von Richtern. Dieser Schritt sei zwingend erforderlich, um auf dem Gebiet der Rechtsprechung einen Beamtenapparat zu etablieren, der den neuen Staat geistig mittrage. Höhepunkt in diesem Bereich war zweifelsohne die im gleichen Jahr erschienene Denkschrift über acht Jahre politische Justiz. Diese behandelte nicht nur die großen politischen Prozesse vor dem Reichsgericht, sondern auch die Entscheidungen von Amts- und Schöffengerichten; sie dokumentiert die politischen Prozesse gegen Kunst und Literatur, die antisemitische Rechtsprechung, Urteile gegen Landfriedensbruch und Rohheitsdelikte mit politischem Hintergrund, das Vorgehen gegen linksgerichtete Anwälte und die Prozesse gegen Republikaner.138
In der Tradition jener Denkschrift sah auch Olden gegen Ende der 1920er Jahre seine Aufgabe als praktischer Jurist und Strafverteidiger zugunsten der republikanischen Verfassungsordnung und ihres garantierten Rechtes auf freie Meinungsäußerung im politischen Gesinnungsdiskurs, dem dieser Justizapparat feindlich gegenüber stand. Eine enge Zusammenarbeit der DLM mit der Republikanischen Beschwerdestelle war folgerichtig, da sie auf die Förderung einer republikanischen Einstellung in der Judikative abzielte. Erweitert wurde jene Phalanx um den Republikanischen Richterbund. „Friedensbewegung und Richterbund einte neben der gemeinsamen Kritik an der politischen Justiz eine humanitäre Einstellung. Sie lehnten die Todesstrafe ab und forderten eine umfassende Reform der Strafjustiz.“ In einer eigenen Zweimonatsschrift, Die Menschenrechte, arbeitete man an der Verbreitung der politischen Vorstellungen. Man publizierte Aufrufe und Memoranden, unterstützte Gutachten zu bestimmten Fällen politisch motivierter Verfahren und stellte seine Expertise auch gewissen Parteien zur Verfügung. Tagungen und Diskussions138 Riesenberger (1985): S. 190. Folgendes Zitat ebd., S. 192.
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abende zu tagesaktuellen Ereignisse wurden organisiert. Ihren Zielsetzungen entsprechend konnte es nicht verwundern, dass die Liga in den späten Jahren der Weimarer Republik dem Hass der Nationalsozialisten ausgesetzt war. Ihr Antifaschismus machte sie zur Zielscheibe. Grossmann beschrieb 1928 mit Blick auf den Geist, den die Republik von Weimar inzwischen beherrsche, von einem ideologischen Faschismus: „Gewiß Preußen ist noch nicht faschistisch, Berlin noch republikanisch, aber der Sturm auf die republikanischen Stellungen“ werde immer stärker und habe zu manch schwerem Verlust geführt. „Und dennoch, es gibt in Deutschland einen Faschismus! Wir haben zwar nicht den klassischen italienischen Faschismus, aber einen ideologischen, der heute mehr denn je Europa bedroht. Denn die Methoden, mit denen unsere Gegner arbeiten, sind brutale und blutige.“139 Unter der Führung von Grossmann erzielte die DLM eine wachsende politische Bedeutung. Die Zahl der Teilnehmer auf Veranstaltungen vervierfachte sich zwischen 1926 und 1932. Die Rechtsstelle als Indikator für den Umfang der Arbeit verzeichnete allein 1930 2484 Personen, die das Beratungsangebot nutzten. In 4043 Verfahren im gleichen Jahr leistete die Liga Hilfe bei Gerichtsverfahren. Insgesamt waren 150 Rechtsanwälte über das ganze Land verteilt aktiv für die DLM, um möglichst alle Mandanten umfassend zu betreuen und zu beraten. Die anwaltliche Vertretung war für den Betroffenen unentgeltlich. Auch die Zunahme wirtschaftlicher Potenz durch gestiegene Mitgliederzahlen, die auf der Einnahmeseite zu einer Steigerung der Beiträge von einem Drittel beitrug, fiel in diese Phase. Allein zwischen 1928 und 1929 konnte die Zahl der Mitglieder nahezu verdoppelt werden.140 Seit der Bestellung Grossmanns zum Generalsekretär der Liga am 10. Juni 1926 war Olden als Rechtsberater der Beschwerdestelle Teil der aufstrebenden politischpazifistischen Organisation. Sein juristisch-journalistischer Stern stieg mit der der Liga auf und sollte unter den Umständen der beginnenden nationalsozialistischen Diktatur, die politisch Andersdenkende gezielt verfolgte, wieder untergehen, zumindest ab 1933 für den deutschen Kontext. In dieser Funktion und im Auftrag der Liga betreute er den Fall Bullerjahn und später auch die Weltbühne-Prozesse im Kampf um Leben und Reputation von Ossietzky. Das Wiederaufnahmeverfahren im Mordfall Jakubowsky, das Olden für die DLM bearbeitete, wird im Laufe dieses Kapitels im Zentrum der Diskussion um eine Humanisierung des Strafrechtes durch die Abschaffung der Todesstrafe stehen. Auf welchem Wege Olden konkret zur DLM fand und wie der Kontakt zu Lehmann-Rußbüldt bzw. Grossmann entstand, konnte nicht mehr rekonstruiert werden. Seine dargelegten Verbindungen zur Weltbühne und deren Autoren dürften aber maßgeblich gewesen sein. Details über sein Engagement innerhalb der Liga sind nur wenige bekannt. Nachdem er ihr ab 1927 endgültig angehörte, wurde er 1931 in den Vorstand gewählt. Grossmann schrieb in seinen Erinnerungen: „Er fehlte bei keiner der zweiwöchentlichen Sitzungen. Die Ligaarbeit entsprach seinem Temperament, seinem Willen zur Gerechtigkeit. Als Redner oder als Vorsitzender trat er in vielen Ver139 Grossmann, in: Mertens (1997): S. 69. 140 Vgl. Lehmann-Russbüldt (1927): S. 118–120; Riesenberger (1985): S. 189–193; Brinson/Malet (1990): S. 57; Mertens (1997): S. 72f.
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sammlungen auf.“141 So war Olden Teilnehmer der letzten Vorstandssitzung der Liga am Abend des 30. Januar 1933. Kämpferisch und dennoch von Nervosität gekennzeichnet, beschrieb Grossmann später das Stimmungsbild jener letzten Versammlung. Man hoffte, die Arbeit der DLM künftig fortsetzen zu können, was sich als Illusion erwies. Als am 4. Februar Reichspräsident Hindenburg die Verordnung zum Schutze des Deutschen Volkes in Kraft setzte, wurde das Recht auf Versammlungs- und Pressefreiheit weitestgehend eingeschränkt. Im August 1932 (unter dem Eindruck des Preußen-Schlags) hatten Heinrich Mann, Harry Graf Kessler, Olden, Lehmann-Rußbüldt und Grossmann versucht, einen partei- und organisationsübergreifenden Aktionsausschuss unter dem Namen Das Freie Wort zu bilden, um für den Fall eingeschränkter Grundfreiheiten gemeinsam in Form einer politischen Nothilfe gewappnet zu sein. Grossmann selbst wurde dessen Sekretär und schlug als Reaktion auf die erlassene Notverordnung einen Kongress Das Freie Wort vor, um dem Protest von Liberalen, Sozialdemokraten und Kommunisten eine Plattform zu geben. Am 5. Februar meldete die Welt am Montag, am 19. Februar 1933 werde der Kongress stattfinden. „Nach außen galt Rudolf Olden als der eigentliche Einberufer und Organisator des Kongresses. An seine Adresse ging alle Post: sie wurde täglich zwei- oder dreimal von dort in das Ligabüro gebracht.“ Die Wertschätzung, die Olden bei seinen Zeitgenossen erfuhr, drückte Grossmann dreißig Jahre später wie folgt aus: „In diesen zwei Wochen des Februar 1933, in denen wir den Kongreß vorbereiteten, gab er seinen Namen für unsere Sache in gefährlichster Zeit.“ Bevor nach dem Reichstagsbrand die Flucht ins Exil unausweichlich wurde, unternahm Olden gemeinsam mit anderen Geistesgrößen der Republik einen letzten Versuch, die Freiheit einer republikanischen Grundordnung zu bewahren. „Diese Veranstaltung mit etwa 900 Teilnehmern war der letzte organisierte Protest gegen die Unterdrückung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie die letzte große linksdemokratische Manifestation gegen den aufkommenden Staatsterror des Dritten Reiches.“142 In seinem Einladungsschreiben bekräftigte Olden den Willen, die staatliche Ordnung und ihre demokratischen Grundfreiheiten nicht kampflos den Gegnern der Republik zu überlassen. Das deutsche Bürgertum müsse sich seiner politischen Tradition und Identität bewusst sein und „zur Bildung einer wirklichen Volksgemeinschaft auf breiter Basis“ beitragen. „Es sei dringend an der Zeit, dass alle im weitesten Sinne fortschrittlich Denkenden zusammenkommen, um für die Wiedererringung und Erhaltung dieser allgemeinen demokratischen Grundrechte (Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit sowie Rede- und Lehrfreiheit) eintreten.“143 Neben Olden unterzeichneten Albert Einstein und Heinrich Mann den Aufruf. An jenem Punkte zeigte sich das Dilemma einer in der DLM versammelten Intelligenz, das Kurt Sontheimer wie folgt beschrieb: Diese Männer wollten nicht Interpreten einer bestimmten Regierungs- und Parteiauffassung sein, sondern unabhängige Schriftsteller, Träger einer eigenen Idee. Von ihren Ideen der Humanität, der sozialen Gerechtigkeit, der Brüderlichkeit, des Pazifismus her vermochten die 141 Grossmann (1963): S. 345. Die folgenden Zitate ebd., S. 344. 142 Mertens (1997): S. 79. 143 R.O. Aufruf. Undatiert: Original BA, R58/391.
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Linksintellektuellen jedoch die politische Wirklichkeit der Weimarer Republik in zunehmendem Maße nur noch als Degeneration und Abfall begreifen. 144
Inwiefern dieses Urteil auf Olden anwendbar ist, muss an dieser Stelle noch unbeantwortet bleiben, rücken seine politischen Ansichten in der Spät- und Krisenphase der Republik an anderer Stelle in den Mittelpunkt. Zuvor gilt es, den Humanisten Olden zu analysieren, der an die Reformfähigkeit einer konservativen Rechtsprechung glaubte und dies in unzähligen Beiträgen anmahnte. Schon 1926 fiel sein Augenmerk auf die Anwendung der Todesstrafe im Zusammenhang mit dem Attentat bei Leiferder. Zwei junge Männer, Otto Schlesinger und Willy Weber, stahlen auf einer nahe gelegenen Baustelle zahlreiches Werkzeug, um einen Gleisabschnitt zwischen den Bahnhöfen Leiferde und Meinersen zu beschädigen, mit dem Ziel, den herannahenden Postzug zum Entgleisen zu bringen, um ihn auszurauben. Dabei starben 21 Menschen. Die beiden Täter wurden am 8. September 1926 verhaftet und ihnen der Prozess vor dem Schwurgericht in Hildesheim gemacht, den Olden für das Berliner Tageblatt begleitete. Die Hildesheimer, aber auch die Hannoveraner drängen sich in Scharen zum alten Bischofspalast, in dem jetzt das Landgericht haust. Aber es wäre jedem heutigen Menschen nützlich, die Erzählung von diesem Drama aus unserer Zeit so unmittelbar mit anzuhören. Wie zwei junge Leute aus gutem Hause, mit besseren Studien, nicht ohne Talent, in den Abgrund gedrängt werden, wie sie nur allmählich weichen, langsam der Not, den Hunger, der Verlassenheit, der Herzenskälte der Mitwelt nachgeben, wie sie plötzlich den Entschluß zu etwas Furchtbarem fassen, das sie retten soll und in die tiefe Krise reißt.145
Bei der Beurteilung dieses Verbrechens, so Olden, seien auch die Ursachen für ihr Verhalten und Vorgehen zu berücksichtigen, ohne aber die Tat selbst zu rechtfertigen. „Es ist selbstverständlich, daß die Umstände, die dazu mitwirken, um die jungen Männer zu Verbrechern zu machen, für die psychologischen Zusammenhänge in Betracht kommen müssen, die Erinnerung an die unheimliche Furchtbarkeit der Tat selbst aber nicht auszulöschen vermögen.“ Das Attentat halte der Gesellschaft den Spiegel vor. Dies müsse bei der Strafzumessung berücksichtigt werden. Darüber hinaus müsse gefragt werden, ob Schlesinger und Weber die tödlichen Folgen ihres Eingriffes vorher abzusehen in der Lage waren oder nicht. „Von ihrer Verantwortung hängt es ab, ob die an 21 Todesopfern Schuldigen zum Tode verurteilt werden können.“146 Olden war sich im Klaren, dass innerhalb der Grenzen des Strafgesetzbuches eine Verurteilung wegen Mordes zwangsläufig die Verhängung der Todesstrafe nach sich ziehe. Verurteilt die Kammer die Angeklagten lediglich wegen „Transportgefährdung mit tödlichen Folgen“147, wäre das Strafmaß lebenslängliches Zuchthaus. Hinter jener juristisch tragfähigen Deduktion stehe aber ein enorm großes menschliches Drama und eine gesellschaftliche Tragödie. Das Strafrecht in seiner jetzigen Form habe keinen Platz für die Berücksichtigung sozialer 144 Sontheimer (1992): S. 304. 145 R.O. Schlesinger. Urheber des Verbrechens, in: Berliner Tageblatt, 3.11.1926 A. Folgendes Zitat ebd. 146 R.O. Der Prozeß gegen die Leiferder Attentäter, in: Berliner Tageblatt, 4.11.1926 M. 147 R.O. Der Menschheit ganzer Jammer, in: Berliner Tageblatt, 4.11.1926 A. Folgendes Zitat ebd.
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Ursachen, die einer gewissen Tat womöglich zugrunde liegen. Dabei können sie ausschlaggebend sein, wie in diesem Falle. Der Staat und die Justiz dürften davor die Augen nicht verschließen. Es sei an der Zeit, sich diesen Ursachen entschiedener als bisher anzunehmen. Die Tragödie von Leiferde und ihre nicht weniger tragische Fortsetzung im Gerichtssaale muß doch noch etwas anderes auslösen als ein unfruchtbares Rachegefühl. Sie sind geeignet, uns aufzurütteln, im ganzen Volke die Überzeugung zu befestigen, daß die bestehenden Fürsorgeorganisationen keineswegs ausreichen, daß in diesem eng gewordenen Erdteil, in dieser in ihren Möglichkeiten so sehr beschränkten Gesellschaft mit viel weitergehenden Mitteln für die sozial Gefährdeten gesorgt werden muß, als es bisher der Fall ist. Leiferde ist ein Thema für den Reichstag. Dem furchtbaren Ernst, den diese Katastrophe predigt, kann sich keine Partei entziehen.
So golden diese Phase der 1920er Jahre in der Rückschau gewesen sein mag, Oldens Blick für die sozial Schwachen blieb ungetrübt. Schlaglichtartig verknüpfte er eine ablehnende Haltung gegenüber jenem Gefühl, dass hinter der Todesstrafe stehe, mit der Forderung nach sozioökonomischen Verbesserungen durch staatliche Maßnahmen zum Wohle der Schwächsten in einer Gesellschaft. Das Gericht verurteilte die beiden Angeklagten dennoch zum Tode. In seiner Nachlese sah Olden die Notwendigkeit, dem Vorwurf der „Sentimentalität“148 mit Blick auf die Täter zu widersprechen. Seine Aufgabe als Berichterstatter sah er nicht darin, „die Instinkte seiner Leser zu befrieden“; er habe „nicht Demagogie zu treiben“. Ohnehin stand das Urteil von Anfang an fest, da die Öffentlichkeit nichts anderes als ein Todesurteil von den Richtern erwartet habe. Von diesem Druck konnte sich der Vorsitzende nicht befreien. Umso mehr Grund, restlos aufzuklären, den Angeklagten (schon Verurteilten) auch nicht den kleinsten Teil ihrer Rechte vorzuenthalten. Auch wenn das Urteil feststeht, dürsten wir nach Wahrheit. Diesen Durst, nicht nur das Rachegefühl des Staates, hat das Gericht zu befriedigen.
So betrachtet, sei das Urteil auch juristisch zweifelhaft und der Vorsatz auf Tötung, dem es zugrunde liegt, anfechtbar. Nachdem der Richterspruch rechtskräftig wurde, stritt Olden für die Begnadigung von Schlesinger und Weber, indem er einen Auszug aus einer Entschließung der DLM an das Justizministerium seinem Beitrag voranstellte und ungeachtet aller politischen Polarisierung, die um die Problematik der Todesstrafe ausgefochten werde, mit den Worten schloss: Wir sind weit entfernt davon, die Schwere ihrer Tat zu verkennen, die furchtbaren Folgen stehen jedermann noch vor Augen. Wir verkennen nicht, daß diese Tat schwere Sühne verlangt, daß sie nicht durch Mitleid ungeschehen gemacht werden kann, daß endlich auch Abschreckung vor der Wiederholung eines so folgenschweren Verbrechens notwendig ist. Aber wir zweifeln daran, ob es der Würde der Gesellschaft entspricht, das alles durch die Vollstreckung der Todesstrafe erreichen zu wollen. Niemand darf vor sich selbst verbergen, daß die Mitschuld der Gesellschaft an dem Herunterkommen der beiden Jungen, die einmal brave Menschen waren, klar zutage liegt.149
148 R.O. Leiferde. Nachlese, in: Berliner Tageblatt, 6.11.1926 M. Die folgenden Zitate ebd. 149 R.O. Die Todesstrafe der Eisenbahnattentäter, in: Berliner Tageblatt, 18.1.1927 M.
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Es sollte ein knappes Vierteljahrhundert dauern, bis diese Idee bzw. Vorstellung einer einzigartigen dignitas nicht mehr nur auf das Kollektiv, sondern maßgeblich auf den verfassungsrechtlichen Schutz des Einzelnen, sogar vorkonstitutionell, gedacht und praktiziert werden wird. Darüber hinaus belegte es Oldens ideengeschichtliche Nähe und geistige Verwurzelung zur europäischen Aufklärung um Immanuel Kant, auch wenn eine philosophische/politik-theoretische Auseinandersetzung über die Thematik der Menschenwürde nicht unternommen wurde. Von weitaus größerer gesellschaftlicher Relevanz war der Fall des Mecklenburger Landarbeiters Josef Jakubowski. Schon am 26. März 1925 wurde er wegen der angeblichen Ermordung seines unehelichen Sohnes zum Tode verurteilt. Die Hinrichtung erfolgte am 15. Februar 1926. Die Zweifel an seiner Schuld wollten nicht verstummen. Die amtlichen Behörden reagierten nur halbherzig. Besonders der Strelitzer Oberstaatsanwalt Müller suchte die Kritik an dem Urteil zu zerstreuen, indem er auf die vermeintlich schlüssigen Indizien verwies, die das Verfahren zutage gefördert habe. An der Richtigkeit der Verurteilung könne nicht gezweifelt werden. Zur Beruhigung der Lage konnten diese Aussagen nicht beitragen. Vor allem das Tage-Buch in Person von Josef Bornstein wies in einer eigenen Recherche erhebliche rechtsstaatliche Mängel nach. Jakubowski hatte die Tat bis zuletzt geleugnet. Unmittelbare Tatzeugen gab es nicht. Dem Angeklagten wurde kein Dolmetscher während der Verhandlung zur Verfügung gestellt und das, obwohl er als ehemaliger russischer Kriegsgefangener in Deutschland der Sprache nicht in ausreichendem Maße mächtig war.150 Olden dürfte frühzeitig über die Umstände des Falls über die DLM informiert worden sein. Als im Januar 1928 die Großmutter des ermordeten Kindes angeblich auf dem Sterbebett liegend gestand, sie habe den kleinen Ewald gemeinsam mit ihren beiden Söhnen ermordet, hatte die DLM einen Rechtsanwalt mit der Nachprüfung des Verfahrens beauftragt und Olden schrieb in einem Beitrag: „Jakubowski, so heißt eines von den vielen Aktenstücken der Liga für Menschenrechte, das außer ihren Führern nur einigen befreundeten Juristen und Journalisten zugänglich gewesen war.“151 Zu diesem Kreis könnte er sich selbst gezählt haben, als er in der weiteren Schilderung die Ereignisse detailliert darstellte und aus den Akten der Liga das versuchte Revisionsverfahren rekonstruierte, denn „die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, den Fall genauer kennen zu lernen.“ Trotz der Geständnisse liege der Fall weiter im Halbdunkel. „Wir wissen nicht, wie Ewald zu Tode gekommen ist. Wir wissen nur, daß der Landarbeiter Jakubowski auf dem Hof der Landesstrafanstalt in Strelitz hingerichtet worden ist.“ Schließlich bekam der Fall eine weitere Wendung, als die Nachricht über den Tod und die Selbstbezichtigung der Großmutter als Fehlmeldung entlarvt wurde. Dies gab für Olden umso mehr Anlass, das ergangene Todesurteil und dessen Indizien kritischer zu hinterfragen. An den verantwortlichen Oberstaatsanwalt richtete die DLM die Forderung der Wiederaufnahme. „Aber der Oberstaatsanwalt war nicht gesonnen, diesem Verlangen nachzugeben. Er sandte statt dessen am 26. Januar 1928 der Mecklenburgischen Landes150 Vgl. Rasehorn (1985): S. 212–215; Schöningh (2000): S. 196–201. 151 R.O. Der Hingerichtete, in: Berliner Tageblatt, 10.1.1928 M. Die folgenden Zitate ebd.
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zeitung ein Schreiben, in dem er heftig gegen die Kritik der Presse polemisierte.“152 Zudem griff die Deutsche Richterzeitung Olden direkt an und warf ihm vor, in „unverantwortlicher Weise einzelne Sätze aus dem Schwurgerichtsurteil aus dem Zusammenhang“ herauszureißen und „gewissenlos die Ehre der Mitmenschen in leichtfertiger Weise zu verunglimpfen und die Justiz herabzusetzen.“ Wegen Beleidigung klagte Olden gemeinsam mit Leopold Schwarzschild schließlich gegen den verantwortlichen Redakteur. Ihm ging es weniger um seine Person als vielmehr um den Fall an sich. „Wäre das Verfahren gegen Jakubowski nicht von anderer Seite aufgegriffen worden, so konnte die Durchführung dieser Klage Gelegenheit bieten, den Fall von anderen Richtern wieder aufzurollen.“ Er begrüßte es, dass die neue sozialdemokratische Regierung in Mecklenburg-Strelitz weitreichende Anstrengungen unternahm, die Dinge aufzuarbeiten. Im Ergebnis erfolgte im Mai 1928 die Verhaftung von drei Tatverdächtigen, die aus dem familiären Umfeld des Opfers stammten und im ersten Prozess durch ihre Zeugenaussagen maßgeblich zur Verurteilung von Jakubowski beitrugen. Mahnend hob Olden allerdings den Zeigefinger: Die Konsequenzen aus dieser Mitteilung zu ziehen, wäre verfrüht. Wir haben nie behauptet, dass die Unschuld Jakubowskis erwiesen sei, wir haben nur gesagt, dass das Urteil keine Schuldbeweise erbrachte, und haben deshalb Wiederaufnahme des Verfahrens und eine neue Verhandlung verlangt. Wir erwarten auch heute nichts anderes, als dass ein Gericht noch einmal die Schuld prüft.
Politisch müsse daraus eine eindeutige Forderung abgeleitet werden. „Jakubowski ist tot, und keine Wiederaufnahme kann ihn wieder zum Leben bringen. Darum fort mit der Todesstrafe! Auch gelehrte Richter können irren, ihre Irrtümer dürfen nicht irreparabel sein.“ Für den politischen Kampf in Deutschland um eine Änderung des Strafgesetzbuches bzw. um eine Reform der Strafprozessordnung werde dieser Fall von enormer Signalwirkung für alle progressiven Kräfte sein. Erstmals verknüpfte Olden seine ablehnende Ansicht hinsichtlich der Todesstrafe mit dem Aufruf zu einer Gesetzesänderung. Das nach kurzer Zeit „die der Beteiligung an dem Morde und des Meineids verdächtigen Personen aus der Haft entlassen worden sind“153, empfand er als skandalös, machte dies die Aufklärung der Straftat unmöglich. Der Fall Jakubowski wird zum Politikum, „weil er durch seltsame und verworrene Schicksale zum Symbol des Kampfes um grosse politische Fragen geworden ist.“154 Aus einem Justizirrtum erwuchs Widerstand gegen die herrschenden Konventionen. Der gesellschaftspolitische Diskurs über die Todesstrafe hatte in Olden einen weiteren prominenten Teilnehmer. Seine Gegnerschaft speiste sich aus einem Buch, dass Ernst Moritz Mungenast, Kollege beim Berliner Tageblatt, 1928 unter dem Titel Der Mörder und der Staat. Die Todesstrafe im Urteil hervorragender Zeitgenossen herausgab. Dieses Werk werde, so die Hoffnung, dazu beitragen, „die Unklarheit, wie Deutschland sich
152 R.O. Jakubowski, in: Berliner Tageblatt, 10.5.1928 A. Die folgenden Zitate ebd. 153 R.O. Die Weiterführung des Falles Jakubowski, in: Berliner Tageblatt, 15.5.1928 A. 154 R.O. Der Tote lebt!, in: Berliner Tageblatt, 18.6.1928 A.
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entscheiden soll, in den Köpfen der Zweifelnden beseitigen.“155 Welche Wirkung von einer Abschaffung der Todesstrafe ausgehen würde, fasste Olden wie folgt zusammen: So bliebe es das für demokratisches Gefühl Erwünschtere, wenn Deutschland in seiner Mehrheit freiwillig, freudig, zielstrebig den Weg einschlüge, der von der Verpönung blutiger Staatsrache gekennzeichnet ist. Überwindung böser Empfindungserbschaft durch erkämpfte Erkenntnis. Es lässt sich kein schöneres Vorzeichen einer besseren Zukunft denken.
Jenem Auftrag folgte sowohl der Herausgeber als auch Olden, der darin einen Sieg zunehmender demokratischer Identität erblicken würde, um der Republik dauerhafte politische Stabilität zu verleihen. Die Beseitigung der Todesstrafe symbolisiere einen Akt der Humanisierung innerhalb der Rechtsprechung und die eingeforderte geistige Revolution. Besonders vorbildhaft und von ihm ausführlich zitiert, waren für ihn offenbar Gustav Radbruch und Romain Rolland, die mit ihren Positionen zur Abschreckungstheorie bzw. zum Verständnis der Todesstrafe als Zivilisationsverbrechen den ideellen Rahmen seiner eigenen Haltung abzustecken begannen. Zum Vorbild tauge auch der Rechtsanwalt von Jakubowski, den Olden ausdrücklich für sein Engagement würdigte. Er sei Symbol für den täglichen Kampf um mehr gesellschaftliche Gerechtigkeit. Gerade ihm verdanke die DLM überhaupt die Gelegenheit, den Fall der Öffentlichkeit ins Bewusstsein zu rufen. Wenn man manchmal in dem Kampf um Recht und Gerechtigkeit ermüden will, wenn man fürchten muss, dass die infame Art der Vertuschung und Vernebelung, die die Rechtspresse anzuwenden liebt, das Rechtsgefühl des deutschen Volkes abzustumpfen droht, dann ist die Erscheinung eines solchen Mannes, der, unbekümmert darum, dass seine Betätigung ihm gar keinen Vorteil, aber Nachteile der verschiedensten Art einträgt, aus nichts als Gerechtigkeitsliebe handelte, Trost und eine Stärkung. Der Kampf um ein besseres, gerechteres, unparteiischeres Strafverfahren wird in Deutschland nicht einschlafen, solange solche Männer leben.156
Nicht nur auf die gesellschaftlichen Geistesgrößen komme es an, so die verdeckte Botschaft. Entscheidend bleibt das ganz persönliche und aktiv gestaltete Beispiel überzeugter Republikaner und Demokraten am alltäglichen Einsatz für die verfassungsrechtliche Ordnung und deren Schutz durch eine unabhängige Justiz, die Recht und Gerechtigkeit miteinander in Einklang bringe. Augenscheinlich war ihm dieser Hinweis umso dringlicher geboten, wenn man seine, gemeinsam mit Leopold Schwarzschild und Paul Felix Schlesinger (genannt Sling, einem der bekanntesten deutschen Gerichtsreporter der Zwischenkriegszeit) unternommene Klage gegen die Deutsche Richterzeitung bedenkt. Bereits im Vorverfahren wurde Oldens Vorwurf zurückgewiesen, weil die Auslassung der Richterzeitung wohl kränkend, aber nicht ehrenkränkend sei – welch feine Unterscheidung. Hier darf straflos der beleidigt werden, der, ohne zu beleidigen, ein
155 R.O. Der Mörder und der Staat. Neue Waffen im Kampf um die Todesstrafe, in: Berliner Tageblatt, 21.7.1928 A. Folgendes Zitat. 156 R.O. Die Wahrheit ist auf dem Marsch, in: Berliner Tageblatt, 14.9.1928 A.
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6 Berliner Jahre falsches Todesurteil anzweifelt. Die Solidarität ihres Standes, Berufs und Bundes schützt sie vor Strafe.157
Damit vergrößere man die Kluft zwischen dem Richtertum als Repräsentanten der Judikative und der Bevölkerung. Fragen des Rechts wurden zu politischen Machtfragen uminterpretiert. Letztlich begann am 28. Mai 1929 das Wiederaufnahmeverfahren, das Olden als Sonderkorrespondent für das Berliner Tageblatt begleitete. Auch dieser Prozess schien nicht geeignet, der Wahrheit näher zu kommen, halte die Anklage an der Beteiligung von Jakubowski fest und bezichtige ihn der Mitschuld an der Ermordung seines Sohnes. Da man ihn hingerichtet habe, fehle er als wichtiger Zeuge, um durch seine Aussagen, die Schilderungen der Angeklagten zu kontrastieren. „Als Jakubowski geköpft ward, als die verhafteten Brüder wieder freigelassen, zur Verdunklung provoziert wurden, ist die Wahrheit verschüttet worden.“ Das Wiederaufnahmeverfahren könne daran nichts ändern. Daher die Forderung: „Immer bleibt die Mahnung: um der Gerechtigkeit willen, nicht zu töten.“158 Oldens Befürchtung sollte sich im Laufe der Verhandlung bestätigen. Nach Abschluss der Beweisaufnahme kommentierte er enttäuscht: Man muss sich bisher, und wahrscheinlich auch in Zukunft, damit abfinden, nicht weiter in die dunklen Umstände des Mordes hinein leuchten zu können. Es kann mit weiteren Geständnissen oder gegenseitigen Bezichtigungen im jetzigen Stadium nicht gerechnet werden; der Schwurgerichtssaal ist nicht der geeignete Ort, um Aussagen herbeizuführen, die in der Intimität des Einzelverhörs nicht erzielt wurden.159
Verschiedene Spuren und Beweise bzw. irreführende Zeugenaussagen verhinderten nach vier Jahren der Aufarbeitung eine restlose Aufklärung der Umstände des Mordes. Die Todesstrafe gegen Jakubowski sei auf einer „aufreizend leichtfertigen“160 Grundlage begründet worden. Dies habe der Prozess gegen die jetzt Angeklagten (die Großmutter des Ermordeten sowie ihrer Söhne und zwei weiteren Bekannten der Familie Nogens) bewiesen. August Nogens wurde wegen Mordes zum Tode verurteilt, die Strafe später in eine lebenslängliche Zuchthausstrafe umgewandelt. Ob Jakubowski als Mittäter anzusehen war, blieb weiter ungeklärt. „Das Gericht hat sich dem Antrag versagt, es hat eine ausdrückliche Entscheidung über seine Beteiligung nicht getroffen.“161 Ein weiteres Verfahren müsse dies klären. Von Justizmord sprach Olden dennoch, auch wenn die Frage nach Schuld und Unschuld bzw. Beteiligung und Nicht-Beteiligung nach wie vor offen war. „Nun mögen andere das Wort Justizmord nur anwenden wollen, wenn die Unschuld eines Verurteilten nachgewiesen wird; ich halte diese Auslegung für falsch.“ Bei der Beurteilung dieser Frage dürfe man sich nicht von Gefühlen und Instinkten leiten lassen. Wehrt man sich dagegen, dass auf einen Verdacht hin Strafe verhängt wird, so darf man auch nicht das Gefühl an die Stelle des Gegenbeweises treten lassen. In wem der Drang nach Recht wirklich Leben hat, der kann nicht ohne Erbitterung solche Floskeln an der Stelle hören, wo 157 158 159 160 161
R.O. Im Namen des Volkes, in: Berliner Tageblatt, 21.2.1929 M. R.O. Was ist die Wahrheit?, in: Berliner Tagblatt, 31.5.1929 A. R.O. Bisheriges Prozessergebnis, in: Berliner Tageblatt, 7.6.1929 M. R.O. Jakubowski und die Beweisaufnahme, in: Berliner Tageblatt, 11.6.1929 M. R.O. Es war Justiz-Mord!, in: Berliner Tageblatt, 15.6.1929 M. Die folgenden Zitate ebd.
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mit Geistesklarheit über Leben und Freiheit, wo über das höhere, das überpersönliche Gut der Gerechtigkeit entschieden werden soll.
Gerade dort, wo es um die mögliche Verhängung der Todesstrafe gehe, bedürfe es Eindeutigkeit und Klarheit. Fehle diese, müsse im Zweifel für den Angeklagten entschieden werden. Auf Vermutungen und Annahmen könne kein solches Urteil gefällt werden, ansonsten sei es Justizmord. „Ob Jakubowski von der Tat wusste, ob er sie förderte, sie auszuführen half, ich weiss es nicht, ich kann das Gegenteil nicht beweisen. Aber so lange nicht bewiesen ist, dass er es tat, so lange nenne ich das Urteil, das ihn verdammte, Justizmord.“ Gemeinsam mit Josef Bornstein hatte Olden im Auftrag der DLM 1928 eine Dokumentation veröffentlicht und wichtige Belege für ein Fehlurteil unter dem Titel Der Justizmord an Jakubowski geliefert. Dies bekräftigte er im Juni 1929 erneut.162 Welche gesellschaftliche Bedeutung der Diskurs um die Abschaffung der Todesstrafe für Olden hatte, beweist der Fall des Massenmörders Peter Kürten aus dem Jahre 1931. Dieser wurde vom Schwurgericht in Düsseldorf wegen neunfachen Mordes und sieben Mordversuchen zum Tode verurteilt. Ob die Hinrichtung vollzogen werden soll, darum entbrannte eine gesellschaftliche Kontroverse. Der preußische Staatsminister, Dr. Schmidt, war vor die Aufgabe gestellt, eine Entscheidung zu treffen und das, obwohl er als überzeugter Katholik die Todesstrafe ablehnte. Olden zeigte sich überzeugt: „Würde doch die Ablehnung eines sogenannten Gnadenerweises praktisch nichts anderes bedeuten als die Wiedereinführung der Todesstrafe, die tatsächlich schon abgeschafft ist.“163 Am 10. Juli 1928 hatte der Reichsjustizminister die Regierungen der Ländern aufgefordert, keine Todesurteile mehr zu vollstrecken, bis das Reich eine endgültige gesetzliche Regelung getroffen habe. Seither gelang es im Reichstag nicht, eine parlamentarische Mehrheit für eine progressive Strafrechtsreform zu mobilisieren, sodass im Fall Kürten die Frage der Anwendung der Todesstrafe virulent wurde. Auch das Ausland werde mit Spannung auf den Ausgang dieses Verfahrens blicken, da z.B. in Großbritannien die Debatte um die Todesstrafe ebenfalls gesellschaftlich breit diskutiert werde und die Howart-League, die für eine Abschaffung streite, eine Signalwirkung aus Deutschland erhoffe. Für Olden war vor allem die Frage nach der Rechtsgrundlage eine elementare. Sowohl der Indizienbeweis, wie im Fall Jakubowski, als auch ein Geständnis des Täters sowie psychologische Gutachten, die zu einem Todesurteil führen, könnten derart fehleranfällig sein, dass die Verhängung der Todesstrafe einen Unschuldigen irreparabel beträfe bzw. die sozialen Ursachen für eine Tat nicht ausreichend berücksichtigt. Der Fall Kürten zeige darüber hinaus die Unzulänglichkeit der beiden anderen Vollstreckungsgrundlagen. Wer zum Schaden des allzu sehr diskreditierten Indizienbeweises immer das Geständnis als den König der Beweise preist, der weiss nichts von solchen kriminalistischen Erkenntnissen. Trotzdem ist man im Fall Kürten in sehr erheblichem Mass auf Kürtens Geständnis angewiesen; sein Verteidiger versicherte mir, wenn er noch vor dem Urteil sein Geständnis widerrufe, 162 Vgl. Grossmann (1963): S. 199–208. 163 R.O. Kein klarer Fall!, in: Berliner Tageblatt, 30.4.1931 M. Die folgenden Zitate ebd.
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6 Berliner Jahre so werde nicht ein einziger Fall bewiesen werden können. Ist diese Überlegung auch nicht geeignet, die Richtigkeit der gerichtlichen Feststellung zu bezweifeln, so ist sie doch geeignet, das Geständnis als ausreichende Grundlage der Vollstreckung zu entwerten. Die Entscheidung über Vollstreckung oder Nicht-Vollstreckung in den Willen des Übeltäters zu legen, das widerspricht allerdings gröblich der Staatsmoral.
Im vorliegenden Fall die Hinrichtung unter Verweis auf die Irrationalität des Täters zu rechtfertigen, bediene leichtfertig den Hass und den Zorn des Volkes. Es ginge nicht um eine falsch zu verstehende humanistische Dusselei gegenüber Kürten. Wilhelm Kahl habe es auf den Punkt gebracht, wenn er formulierte: „Die, welche gegen die Todesstrafe angehen, kämpfen unter den Sonnenstrahlen von Kultur und Humanität.“ Olden selbst fügte hinzu: „Humanität nicht für Kürten, nicht für den einzelnen, nein für Deutschland, für die Welt“, darauf komme es an. Gesellschaftliche Fehlentwicklungen, wie z.B. eine unzureichende staatliche Sozialfürsorge, die in Oldens Weltbild bei der Strafzumessung berücksichtigt werden müsse, seien auszutragen und im Sinne des demokratischen Fortschritts zu korrigieren. Die Verhängung der Todesstrafe unterlaufe diesen Prozess, indem sie auf schnelle Antworten abziele, auf einfache Instinkte der Bevölkerung reagiere und vermeintlich staatliche Handlungsmacht demonstriere, hinter der mehr politische Willkür und Opportunismus stecke. Die Koalition, die in Preussen regiert, bestehend aus Zentrum und Sozialdemokraten, ist ohnehin durch die herannahende Neuwahl schwer bedroht. Keine der Parteien hatte Lust, sich noch durch eine Begnadigung des Werwolfs (Kürten) Wähler wegnehmen zu lassen.164
Das dieser Mechanismus auf den verehrten Wilhelm Kahl seine Wirkung nicht verfehlte, musste Olden mit Erschrecken feststellen. Zugleich bemängelte er die geringe Standfestigkeit der progressiven Kräfte in deren Überzeugungen mit Blick auf die Abschaffung der Todesstrafe. Er hatte große Hoffnung, dass der Fall Jakubowski und die eingeleitete Debatte um eine Strafrechtsreform, nicht zuletzt durch die legislative Flankierung der Liga Anstrengungen in Person von Kahl im Reichstagsausschuss, den Weg zurück zur Verhängung von Todesstrafen künftig unmöglich machen werde. Was heute zu sagen ist, wäre unvollständig, würde nicht von seiner Stellung zur Todesstrafe gesprochen. Hier ist er nicht zu einem festen Standpunkt gelangt. Prinzipieller Gegner, glaubte er, sie für unsere Zeit noch nicht entbehren zu können. Dann änderte er seine Meinung. Als die Mängel des Urteils über Jakubowski aufgedeckt worden waren, entschied er im Strafrechtsausschuss gegen die Beibehaltung der Hinrichtung, und es war eine Folge seines Votums, dass Jahre hindurch die Todesstrafe in Deutschland als abgeschafft gelten durfte. Nach dem Prozess gegen den Lustmörder Kürten wechselte er wieder zu der früheren Ansicht zurück. Er gab mit dieser schwankenden Haltung ein Bild der schwankenden Zeit, die zu gesetzgeberischen Entscheidungen nicht gelangen kann.165
In diesem Klima wurde gegen eine Begnadigung Kürtens entschieden und er am 2. Juli 1931 hingerichtet.166 164 R.O. Koalition und die Todesstrafe, in: Argentinisches Tageblatt, 24.5.1931. 165 R.O. Wilhelm Kahl †, in: Berliner Tageblatt, 14.5.1932 A. 166 Vgl. Rasehorn (1985): S. 219f.
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Für Olden markierte die Vollstreckung des Urteils einen weiteren Markstein auf dem Weg zur Selbstaufgabe. „Die Errungenschaften der Republik werden von den Republikanern selbst Stück um Stück preisgegeben.“167 Damit sei der Kampf um eine Abschaffung für die nächste Geschichtsperiode entschieden. Deshalb sage ich, dass hier ein letztes Wort zu dem Problem gesagt werden soll, ein letztes Wort für die lange Zeit, bis gesicherter Friede, wiederhergestellter Wohlstand, ein einiges Europa die ewigen Ideen des Liberalismus wieder zu Macht und Ehren bringen wird.
Die Anhänger der Todesstrafe, so Olden weiter, argumentierten ausschließlich aus Gefühlen und Emotionen heraus, besonders aus diffusen Affekten des Volkes, um ihre Position moralisch zu untermauern. Die Ratio als Grundlage eines jeden Rechtssystems verwerfe dies jedoch. Darin war sich Olden u.a. mit Gustav Radbruch einig. Statistisch sei längst bewiesen, dass die Abschaffung nicht zu einem Anstieg von Kapitalverbrechen führe. Man stehe in der Weimarer Republik vor einer „historischen Wende. Der Staat leidet schwer unter der Nichtachtung gegenüber Leib und Leben des Mitmenschen, die unter radikalen Parteien, im radikalisierten Deutschland überhaupt üblich geworden ist.“ Die politische Kultur habe nicht zuletzt durch die Entscheidung im Falle Kürten Schaden genommen, auch wenn das Urteil bei der Mehrheit der Bevölkerung auf Zustimmung stieß. „Ich glaube, ein aufrichtiger Demokrat zu sein; aber das ist mir zu viel Demokratie.“ Mit der Hinrichtung des Täters falle man hinter die Beschlüsse der Paulskirche zurück und unterbreche den Weg der „vorgeschrittenen Zivilisation“, der seitdem beschritten wurde. „Die grossen nationalen Tage sind die des Fortschreitens auf dem Weg der Entwicklung, der Ausbildung, der Vollendung der Menschheit.“ Seine Entwicklung in diesem Diskurs führte ihn von einer anfänglich eher zufälligen Beschäftigung mit der Problematik über den engagierten Einsatz im Falle Jakubowski zu einer dezidiert politisch verstandenen Dimension der Debatte im Fall Kürten, die auf den gesellschaftlichen Gesamtkontext und seine möglichen Folgen verwies. Der ideelle, ideengeschichtliche Horizont Oldens wurde bisher in keinem Augenblick vom historischen Subjekt selbst derart pointiert dargestellt, wie im Zusammenhang mit der Ablehnung der Todesstrafe: Sozialer Liberalismus als Synthese aus Paulskirche und (britischem) Sozialismus, eingebettet in die Friedensidee eines geeinten paneuropäischen Kontinents unter Berufung auf Humanismus und Menschenrechte kennzeichnete die Spannweite seines Denkens, ohne aber einem ideologischen Hedonismus zu frönen. Den Menschen zu mehr politischer Mündigkeit und sozialer Verantwortung im Rahmen eines rechtsstaatlich gesicherten Verfassungsstaates zu erziehen, blieb oberste Maxime. Unter diesem Gesichtspunkt warfen seine Artikel im Berliner Tageblatt auch einen Blick in die Volksseele der Zeitgenossen, deren Leben in zunehmender Form von politischen Antagonismen herausgefordert wurde. Sein Verweis auf die Frankfurter Reichsverfassung aus dem Jahre 1849 legte zum einen den Grundstein seines liberalen Grundrechteverständnisses, zum an167 R.O. Ein letztes Wort zur Todesstrafe, in: Berliner Tageblatt, 3.7.1931 M. Die folgenden Zitate ebd.
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deren war ihr Einfluss auf die Weimarer Reichsverfassung Ausdruck einer zeitgenössischen Rückbesinnung und Anknüpfung an die Revolution von 1848. In den letzten Monaten des Kaiserreiches kam es im Oktober 1918 durch den Parlamentarisierungsbeschluss zu einer entscheidenden Verfassungsänderung. Der Weg einer weiteren Reform der bismarckschen Verfassung aus dem Jahre 1871 wurde nicht verfolgt. Eine gänzlich neue Verfassung sollte erarbeitet werden. Die Frankfurter Reichsverfassung gilt als Vorbild, vor allem mit Blick auf ihren Grundrechtekatalog. Besonders der linksliberale Hugo Preuss, unter dessen Federführung der Regierungsentwurf zur Weimarer Reichsverfassung entstand, zog Frankfurt für seine verfassungsrechtliche Arbeit heran. Allerdings wollte er möglichst wenig Grundrechte aufnehmen. Inhaltlich nahm er dennoch Anleihe und musste in seinem späteren Entwurf dem Drängen Friedrich Eberts auf eine stärkere Betonung der Grundrechte nachgeben, sodass die Ausweitung der Grundrechtsbestimmungen innerhalb der Weimarer Reichsverfassung sich an die Frankfurter nahezu vollständig anlehnten. Schon in der ersten Lesung des Verfassungsentwurfes erinnerte Preuss daran, dass weite Teile der in der Paulskirche kodifizierten Grundrechte inzwischen ihre praktische Bedeutung verloren hätten, da sie durch einfache Gesetzgebung verwirklicht seien, besonders auf der Ebene der Gliedstaaten. Man könne auf eine breit angelegte Regelung von Grundrechten verzichten. Zwar vertrat Preuss weiter die Linie Eberts, allerdings machte Walther Schücking für die Linksliberalen deutlich, dass man diese Strategie ablehnte. Das Grundrechtewerk der Paulskirche wollte man durch die Kritik keineswegs herabwürdigen, jedoch verwies man auf das Fehlen relevanter zeitgemäßerer Grundrechte. Hier klang an, was von H. Oncken, H. Triepel und innerhalb der Nationalversammlung von F. Naumann, H. Sinzheimer und O. Cohn weniger allgemein ausgesprochen wurde, daß nämlich anders als in der Paulskirche jetzt soziale Fragen im Vordergrund zu stehen hätten.168
Im Verfassungsausschuss legte Naumann einen Gegenentwurf vor, der soziale Grundrechte mit klassisch liberalen Freiheitsrechten in Einklang zu bringen suchte. Zwar wurde der Entwurf abgelehnt, doch der Diskurs über die rechtspolitische Begründung einer Aufnahme von Grundrechten vertiefte sich. Man wies den Grundrechten einen Mischcharakter zu. Bürgerliche und sozialistische Anschauungen fänden darin ihren dialektischen Ausdruck, so die Auslegung, und bezweckten die Festlegung der Minderheitenrechte innerhalb der Verfassung. Damit hätten sie die angemahnte soziale Bedeutung erreicht. Das Gedankengut der Paulskirche wurde nicht ersetzt, sondern durch soziale Grundrechte ergänzt. Trotz der schließlichen Grundrechtsaufnahme bedeutete dieser Sieg der Frankfurter Grundrechte einen zwiespältigen Erfolg. Das Ringen um ihre Aufnahme zeigte bei Gegnern wie Befürwortern die übereinstimmende Annahme, daß die überkommenen Grundrechte schon weitgehend bis 1918 einfachgesetzlich verwirklicht gewesen seien. Diese Kontinuitätsannahme in der Weimarer Nationalversammlung wie auch die Widerstände gegen verfassungsverbürgte Grundrechte überhaupt, die auf der Sorge vor zeitraubenden Debatten wie in Frankfurt be-
168 Kühne (1998): S. 137. Folgendes Zitat ebd., S. 139.
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ruhten, verminderte die Bereitschaft, die Probleme verfassungsverbürgter Grundfreiheiten voll ins Blickfeld zu ziehen.
Dem Rechtsschutz der Grundrechte durch eine verfassungsgerichtliche Instanz wurde kaum Beachtung geschenkt. Daran mangelte in der Folgezeit die Entfaltungsmöglichkeit des Weimarer Grundrechtekatalogs. Ihr Verständnis in der Weimarer Zeit fasste der spätere preußische Verwaltungsrichter Drews wie folgt zusammen: Jedes Grundrecht kann vernünftigerweise nur mit einer ganzen Reihe von Ausnahmen festgesetzt werden, wie sie sich in den gesetzlichen Vorschriften über Verhaftung, Beschlagnahme, Enteignung, Pressefreiheit, Versammlungsrecht usw. befinden. Die Grundrechte der persönlichen Freiheit, der Unverletzlichkeit des Eigentums usw. ohne diese Spezialbestimmungen sind ein leerer Rahmen, Form ohne Inhalt. Ich möchte vorschlagen, der zweifellos sehr populären Forderung nach verfassungsmäßiger Sicherung der Grundrechte dadurch Genüge zu leisten, daß in der Verfassung gesagt wird: Jede Beschränkung der persönlichen Freiheit, des Privateigentums, des Briefgeheimnisses, der Preßfreiheit usw. darf nur durch Reichsgesetz erfolgen. Damit sind die Grundrechte an sich ausgesprochen. 169
Die verfassungsrechtliche Geltungskraft der Grundrechte wurde unter jener Perspektive entscheidend verstellt. Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass 1919 ausgerechnet große liberale Vorkämpfer und Vordenker wie Naumann, Schücking und Preuss den klassischen Wert der Grundrechte aus ihrer ideellen Tradition heraus weniger in den Mittelpunkt ihrer verfassungsrechtlichen Arbeit stellten. Es waren vor allem Sozialdemokraten und das Zentrum, die sich diesem Anliegen annahmen und eine Verfassungsverbürgung durchsetzten.170 Wie ist unter Berücksichtigung dieses Kontextes Oldens Verweis auf die Paulskirchenverfassung zu bewerten? Ohne eine staatsrechtliche Betrachtung und Analyse vorzunehmen, verwies er indirekt auf den Mangel an Kontinuität zu den politischen Freiheitsrechten aus der Frankfurter Reichsverfassung, die man 1919 glaubte, endgültig verwirklicht zu haben. Die politische Entwicklung der Republik hatte 1931 mit Blick auf die erneute Anwendung der Todesstrafe, in seinen Augen ein Stadium der politischen Spannung und Illiberalität erreicht, die die Verfassungsväter zuvor für endgültig überwunden hielten. Auch wenn Olden nicht einen verfassungsgerichtlich stärkeren Schutz der Grundrechte einforderte, belegten seine Artikel und sein Engagement im Bereich der Politischen Justiz zunehmend seine Sorge um die künftige Einhaltung und Wahrnehmung jener Rechte, die man durch Seiten des Gesetzgebers garantiert glaubte. So sehr ihm die sozialstaatlichen Errungenschaften weiterhin am Herzen lagen umso entscheidender muss zu Beginn der 1930er Jahre die Erinnerung und Rückbesinnung auf starke und stabile liberale Freiheitsrechte sein. Für den Erhalt der Republik, in deren Dienst er sich sah, sei dies von enormer Bedeutung. In seiner Person spiegelten sich in gewisser Weise die grundlegenden Diskurse der Verfassungsgeber aus dem Jahre 1919 zwischen Liberalen und Sozialdemokraten wider, diesmal unter anderen Vorzeichen, nämlich unter der Bedrohung der Demo169 Drews, in: Ebd., S. 140. 170 Vgl. Kühne (1998): S. 135–142.
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kratie durch den Faschismus in einer Phase antagonistischer Ideologien. Insofern war Oldens Sehnsucht nach einer Rehabilitierung und Stärkung liberaler Freiheitsrechte unter Bezugnahme auf die Frankfurter Reichsverfassung durchaus nachvollziehbar und folgerichtig, wenn nicht auch etwas von Naivität gekennzeichnet, da der Liberalismus in Weimar längst durch die politischen Realitäten um 1930 degeneriert war. Das Programm der Paulskirche blieb für ihn dennoch attraktiv und zukunftsweisend. Die Grundrechte widmeten sich dem Problem der Freiheit im weitesten Sinne.171 Der Frankfurter Grundrechtekatalog stellte ganz entschieden den Zusammenhang von bürgerlicher und politischer Freiheit wieder her, der entscheidend für ein westeuropäisches Verständnis der Grundrechte war, dem Olden in der Republik zu neuer Blüte verhelfen wollte. 1919 war man dem Vorbild nur teilweise gefolgt, was in seiner Betrachtung unter den aktuellen politischen Bedingungen zu einer Gefährdung der Republik führe. Ohne dies gezielt beabsichtigt zu haben, bezeugte Olden ideengeschichtlich eine weitere relevante Konzeption der Interessenvermittlung zwischen dem Staat und dem Einzelnen. Auf Basis einer Stärkung der Grundrechte solle der Gegensatz zwischen Gesellschaft bzw. staatlicher Ordnung und Individuum endgültig beseitigt bzw. so weit wie möglich verhindert werden. Sein humanistischer Einsatz, der hier geschildert worden ist, lässt diese Interpretation durchaus zu. Gerade im Diskurs um die Abschaffung der Todesstrafe versuchte er sowohl individualrechtliche Aspekte als auch das Gemeinschaftsinteresse miteinander in Einklang zu bringen und durch eine zivilisierte Rechtsprechung gesellschaftlichen Fortschritt zu erreichen, den er aufgrund seiner Erfahrungen mit der Politischen Justiz in Weimar an so unterschiedlichen Stellen und Themenbereichen für dringend geboten hielt. „Die Durchsetzung liberal-demokratischer Gerechtigkeitsvorstellungen, wie sie in den Grundrechten (der Paulskirche) zum Ausdruck kamen“, blieb augenscheinlich Oldens Antrieb innerhalb eines als defizitär empfunden Rechtsstaates. Im Angesicht der derzeitigen Forschung zur Paulskirchenverfassung wurde belegt, dass alle Versuche, das Frankfurter Werk als individualistisch, menschenrechtlich und/oder abwehrrechtlich zu deuten, wie dies in der Zeit der Weimarer Republik getan wurde, zurückzuweisen sind. Dies mag aus heutiger staatsrechtlicher Perspektive zutreffend sein. Für Oldens politische Entwicklung, die nach dem Schrecken des Ersten Weltkrieges maßgeblich von der französischen Erklärung der Menschenrechte ausging, blieb dies kein Widerspruch. In staatsrechtlichen Kategorien zu denken, bezeugten zumindest die Mehrzahl seiner Artikel aus dieser Zeit nicht. Vielmehr war die Paulskirche als Chiffre zu sehen und zu interpretieren, die 171 „Entsprechend den vormärzlichen Gefährdungslagen widmeten sie sich der Freiheit im weitesten Sinne mit alleiniger Ausnahme der Organisation des Gesamtstaatsverbandes. Auf diese Weise finden sich in ihnen individuelle, assoziative und organisatorische Rechte und von der Dimension her Abwehr- und politische Teilhaberechte (§§ 132, 184, 186 I) bis hin zu objektiven Leistungsrechten (§157 FRV). Daneben stoßen sie ebenso in die besonderen Gewaltverhältnisse vor, enthalten erste Formen einer Drittentwicklung und kennen neben einer eigenen Grundrechtemündigkeit (§158) bereits eine Frühform funktioneller Selbstverwaltung (§156).“ Kühne (1998): S. 527. Die folgenden Zitate ebd., S. 529 und S. 524.
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nicht darauf zielte, im Einzelnen sich mit bestimmten Grundrechten und ihrem verfassungsmäßigen Rang und Schutz zu beschäftigen. Aus der historischen Kenntnis ihres Freiheitsverständnisses heraus, glaubte er den Deutschen ein anderes Modell gesellschaftspolitischen Miteinanders ins Gedächtnis rufen zu müssen, um den weiteren Weg in die Diktatur zu verhindern, die seit der Weltwirtschaftskrise und dem Bruch der Großen Koalition 1930 unter den Bedingungen der Präsidialkabinette konkretere Formen annahm. Dies sprach Olden so unmittelbar nicht aus, jedoch bleibt in der Rückschau auf sein juristisches Engagement evident, dass es ihm, augenscheinlich in der Tradition von Frankfurt stehend, um einen gemeinschafts- und staatsorientierten Freiheitsbegriff ging, der das Individuum und seine kodifizierten Menschenrechte im Einklang und ohne Gegensätzlichkeit zwischen dem Einzelnen und dem Staat sah. Sein Linksliberalismus war von der „Abschöpfung und Hinlenkung der Einzelinteressen auf das Staatsganze“ geprägt, das „besonders eindrucksvoll“ in der Frankfurter Reichsverfassung hervortrat, ohne die sozialen Notwendigkeiten der Weimarer Republik in diesem Zusammenhang außer Acht zu lassen. Dem später ausgrenzend benutzenden Begriff der Volksgemeinschaft versuchte er in den frühen 1930er Jahren eine positive Konnotation entgegenzusetzen, die die Gesellschaft wieder zueinander bringe und das auf freiheitlich-liberaler wie sozialdemokratischer Grundlage. Der Schutz individueller (politisch wie sozialer Freiheits-) Rechte und das Gemeinwohl bedingen und begrenzen sich in dieser Vorstellung gegenseitig und seien einheitsstiftend. Das Freie Wort war Ausdruck jenes sozialliberalen Verständnisses. Darüber hinaus wirkte Olden in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre entschieden an einer Reformierung des Rechtsstaates mit, um eine Harmonisierung und Mäßigung zwischen Individual- und Gesamtstaatsinteressen zu erreichen. Zunächst legte er deutlich dar, dass die Richterschaft in ihrer Amtsführung eine gesellschaftlich/politische Funktion wahrzunehmen hätte. Die Justiz bedürfe einer republikanischen Grundlage. Von ihnen müsse eine „bewusste Stärkung der Weimarer Verfassung“ ausgehen. Gerade in der Strafjustiz sei „die Bindung an eine bestimmte Staatsgesinnung, nämlich an die republikanische Staatsgesinnung“172 von entscheidender Bedeutung. Dies müsse bei der Besoldung der Richterschaft in Anbetracht ihrer Funktion in Staat und Gesellschaft berücksichtigt werden, da die niederdrückenden Einschränkungen des Lebensstandards, oft wirkliches Elend und als Folge Verbitterung, Unsicherheit und Unfreudigkeit in der Versehung der Amtsgeschäfte, politische Verhetzung und nicht selten schlimme Folgen für die Bevölkerung, die den Entscheidungen des notleidenden Beamtentums unterworfen ist173,
nach sich zögen. Oldens Befürchtungen zielten darauf, dass „der wirtschaftliche Zusammenbruch den geistigen und sittlichen und damit den Verfall des Rechtsstaats“ folgte. Justizirrtümer, so die Annahme, hätten ihre Ursachen auch in einem Mangel an sozialer Sicherheit auf Seiten der Richterschaft. Für progressive Juristen und Rechtsgelehrte sei es ökonomisch gesehen eher unattraktiv, im Dienst an Staat 172 R.O. Justiz und Politik, in: Berliner Tageblatt, 30.6.1926 A. 173 R.O. Deutsche Richternot, in: Berliner Tageblatt, 17.9.1927 M. Die folgenden Zitate ebd.
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und Demokratie Erfüllung zu finden. Eine Stärkung des Rechtsstaates werde so unnötig erschwert. Wir waren immer der Meinung, daß ihnen unter einschneidender Verminderung ihrer Zahl und Funktionen, eine ganz besondere Stellung im Staatsleben eingeräumt werden müsse, daß sie auf ein weit höheres Piedestal gestellt werden müßten, als alle anderen Staatsbeamten, wo sie völlig unbekümmert um häusliche Sorgen einen wirklich freien Blick über die Gesellschaft genössen.
Eine derart verstandene Justizreform sei in den Augen Oldens weit dringlicher geboten als eine Reform des Strafrechts an sich. Solange dies nicht geschehe, müsse die Richterschaft selbst dafür Sorge tragen, „ihre Reihen rein zu halten und rücksichtslos alles zu beseitigen, was ihr Ansehen und das der Justiz mindern kann.“ Gegebenenfalls müsse man bereit sein, einen Richter abzusetzen. Parallel forderte Olden unablässig eine Abänderung der Strafprozessordnung, die bei offiziellen Voruntersuchungen der Staatsanwaltschaften die Rechte von Angeklagten stärken sollte. So begrüßte er 1926 die Einführung von Haftprüfungsverfahren.174 Im Herbst 1927 kommentierte er für das Berliner Tageblatt unablässig die Debatten um den Entwurf eines neuen Strafgesetzes. Die darin enthaltenen Verschärfungen der Paragraphen wegen Hoch- und Landesverrats fanden die Kritik Oldens, begründeten sie eine Form des „richterlichen Absolutismus“175, den er ablehnte. Sie zeigen nichts Erstaunliches für den, der die Tendenzen des Reichsjustizministeriums erkannt hat, eine Tendenz, die dahin geht, die Gerichte nicht etwa zu entpolitisieren, sondern ihnen politische Funktionen zugleich mit einer stark verwehrten Machtfülle zu geben, sie auf diesem Wege zu einer Art von politischen Aufsichtsbehörde für das deutsche Volk zu machen.
Bedurfte es in der alten Fassung des Strafgesetzbuches des Nachweises, dass dem Hochverrat ehrlose Motive zugrunde lagen, wäre in Zukunft die Grenze beträchtlich weiter gedehnt, über die Achtung, der die Beweggründe des Täters wert sind, hätte das Gericht vollkommen souverän zu befinden, die politischen Neigungen der Richter wären an die Stelle präziser Feststellungen gesetzt. Es könnte wohl dazu kommen, daß regelmäßig nationale Beweggründe eines Hochverräters für achtenswert, internationalistische, menschheitliche, pazifistische aber stets für nicht achtenswert befunden werden.
Auch in Sachen des Meineides und dessen Bestrafung gehe man an den Realitäten vorbei, wenn man lediglich die Strafe für eine uneidliche Falschaussage zu erhöhen suche und den Meineid als solchen strafrechtlich künftig nicht stärker sanktioniert, um der „Meineidsseuche“176 zu begegnen. Das Mensuren künftig straffrei bleiben sollen, wertete Olden wie folgt:
174 Vgl. R.O. Aber Menschenopfer unerhört…, in: Berliner Tageblatt, 24.12.1926 A. 175 R.O. Das Gericht als politische Instanz, in: Berliner Tageblatt, 6.10.1927 A. Die folgenden Zitate ebd. 176 R.O. Der Geist des Strafgesetzentwurfes, in: Berliner Tageblatt, 9.11.1927 A. Die folgenden Zitate ebd.
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Man darf sich billig wundern, daß eine Regierung an der das Zentrum teilnimmt, diese Bestrebungen dem Parlament vorlegt. Unseren Standpunkt haben wir schon früher dargelegt. Wir vermögen ein Gesetz nicht zu billigen, das das deutsche Volk in zwei Teile teilt, einen niederen Ranges, dem der Raufhandel verboten ist, und einen mystisch erhöhten, dessen Ehre und Kampfspiele von besonderer Art sein sollen. In der Demokratie ist das ein unmöglicher, unter jeder Staatsform ein unmoralischer Zustand.
Schließlich solle künftig derjenige mit einer Zuchthausstrafe von bis zu zehn Jahren bedroht werden, der einen anderen zum Selbstmord verleite. Diese neue Regelung gehe in der Perspektive Oldens völlig an der gesellschaftlichen Wirklichkeit fehl, da „die Ausbreitung des Freitodes in Wahrheit eine soziale Erscheinung ist, der mit dem Strafrecht nicht beizukommen“ sei. Mit dem Blick auf das, was über Oldens Bezug zur Paulskirchenverfassung geschrieben wurde, sei an dieser Stelle durch den Geist des Strafgesetzbuches folgendes festzuhalten: Tendenziell bezeugte es eine Form der Rechtspolitik, die in eine Vertrauenskrise hineinführe, da die Vorschriften über politische Delikte ausgebaut werden sollen. Die Möglichkeiten richterlichen Eingreifens sowie Aufsicht und Bevormundung würden absichtsvoll ausgedehnt. „Wer aber wirklich ein Vertrauensverhältnis zwischen Justiz und Volk wünscht, der muß sich gerade gegen diese Art von Rechtspolitik wehren.“ Diese treffe umso mehr auf die Änderungen im Bereich der sogenannten Sittlichkeitsparagraphen zu: „Nichteinmischung des Staates in das sexuelle Leben der Erwachsenen soweit es fremde Interessen nicht verletzte“177, lautete der Grundsatz Oldens in diesem Punkt. Somit lehnte er die Strafverschärfung bei Ehebruch oder die anhaltende Strafverfolgung von Homosexuellen weiterhin strikt ab und bezeugte mit der Sensibilität für jene gesellschaftlichen Probleme ein gewisses Maß an Kontinuität zu seiner Wiener Zeit, als er gemeinsam mit Hugo Bettauer in der Zeitschrift Er und Sie genau jene Themen bereits diskutierte. Die Vertrauenskrise in der Beziehung zwischen Volk und Justiz könne nur beseitigt werden, wenn in aller erster Linie „ein neues Richtertum, das anders ausgewählt wird und auf einer anderen Lebensbasis steht als das jetzige, das die Sprache des Volkes nicht spricht noch versteht.“178 Die Reform einzelner Gesetzte sei dazu nicht tauglich, wie es dennoch im Bereich des Strafgesetzes an so vielen Stellen erprobt werde. Die Richter dürften nicht nur „juristische Techniker“ sein, sondern „Menschen, die menschlich ihrem hohen Beruf gewachsen sind.“ Auf welchem Wege dies erreicht werden soll, war für Olden eindeutig: Vereinfachung des Gerichtswesens, Entlastung von allen Aufgaben, die nicht unbedingt richterlicher Natur sind, die Verminderung der Richterzahlen auf einen Bruchteil der jetzigen, eine Bezahlung der wenigen Richter weit über dem Stand der viel zu vielen von heute.
Orientierung bot ihm der frühere liberale Reichsjustizminister Eugen Schiffer mit seinem Buch Die deutsche Justiz, indem er eine Grundlage und einen Sammelpunkt für die Reformdebatte sah. Ganz entscheidend für Olden war die Einrichtung von Bezirks- und sogenannten Obergerichten anstatt der Amts-, Land- und Oberlandesgerichte. „Ein großer 177 R.O. Strafgesetzentwurf und Sittlichkeit, in: Berliner Tageblatt, 14.12.1927 M. 178 R.O. Zweierlei Sprache, in: Berliner Tagblatt, 30.1.1928 A. Die folgenden Zitate ebd.
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Teil der freiwilligen Gerichtsbarkeit wird Rechtspflegern gegeben, die keine Richterqualität haben. Die erste Instanz wird grundsätzlich stets von einem Einzelrichter versehen.“179 Nur wer das 35ste Lebensjahr vollendet hat, könne Richter werden. Darüber hinaus dürften sie weder wählbar noch Mitglieder einer politischen Vereinigung sein. Olden war sich bewusst, wie kontrovers diese Vorstellungen diskutiert werden würden. Allerdings belegten sie eindeutig den Wunsch, dass unter einer künftigen Justizreform das Wichtigste die Persönlichkeit des Richters zu sein habe. Zwischenzeitlich spielte er sogar mit dem Gedanken, ob Richter für Fehlurteile, ähnlich wie Ärzte im Bereich des Kunstfehlers, nicht haftbar gemacht werden könnten. Eine schlüssige Antwort auf diese Frage gab er nicht.180 Eine besondere Würdigung durch Olden erfuhr im Juli 1929 die Reform des Strafvollzuges in Preußen. Deren Geist sei geprägt von der „Gewährung der Selbstverwaltung an die Strafgefangenen. Das preußische Justizministerium hat einen entschlossenen Schritt vorwärts getan, um den sozialen Staat auf einem Teilgebiet der Verwirklichung näher zu bringen.“181 Bisher beherbergte jede Strafanstalt alle Arten von Strafgefangenen. Dieses Prinzip werde durchbrochen. „Die Haft wird zu einer Art nicht nur erzwungener Gemeinschaft, das Gemeinschaftsgefühl wird geweckt, eine wesentliche Vorbedingung zur Anpassung an die Freiheit.“ Olden sprach von einer „sittlichen Kraft der Demokratie“, die im Dienste der Erziehung des straffällig Gewordenen zu stehen habe. Zivilkleidung, die Einführung von regelmäßig gewährtem Hafturlaub, im Fortgang der Haftstrafe weitere Vergünstigungen bis hin zur Möglichkeit einer geregelten Arbeit aus dem Gefängnis heraus nachzugehen, wurde als zweckmäßig angesehen und von ihm als ein Symbol der Entwicklung zur Republik begrüßt; sie bedeutet weit mehr für den Geist der Republikanisierung als ein Parteibuch. Im Autoritätsstaat wäre sie schlechthin unmöglich gewesen. Sie soll den Gefangenen, die von der Freiheit abgeschieden sind, das Bewusstsein geben, dass sie Staatsbürger geblieben, dass sie nicht rechtlos geworden sind.
Der militarisierte Staat des Kaiserreichs könne durch den von ihm verlangten Gehorsam weder den Straffälligen noch den in Freiheit Lebenden erziehen. Das Prinzip der Besserung durch die Haft sei Dank der Reform positiv besetzt. „Der zivilisatorische Wille seiner Verfasser ist ruhmvoll für die Republik.“ Zwar könne daraus nicht sofort eine Veränderung sichtbar werden, da die Beamtenschaft in diesem Geist erst neu erzogen werden müsse, um als geeignetes Vorbild zum Erzieher zu werden. So sehr Olden anfänglich an die Möglichkeit glaubte, die Richterschaft in seinem Sinne zu demokratisieren, umso wichtiger erschien ihm es Anfang der 1930er Jahre ein Korrektiv gegenüber dieser Kaste zu betonen. Seine Hoffnungen richten sich auf die Beteiligung von Laien an der Rechtsprechung. „Der Bürger als Richter, das ist die älteste Einrichtung jeder Demokratie. Die Durchdringung der Gerichtsbarkeit mit Bürgern war darum immer eine demokratische Forderung in Deutsch-
179 R.O. Weniger Richter – Besseres Recht, in: Argentinisches Tageblatt, 25.10.1928. 180 Vgl. R.O. Sollen sie Richter sein?, in: Berliner Tageblatt, 25.1.1929 A. 181 R.O. Zurück in die Gesellschaft, in: Berliner Tageblatt, 4.7.1929 A. Die folgenden Zitate ebd.
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land.“182 Mit Entstehung der Republik wäre es eine Selbstverständlichkeit gewesen, dem Bürger dieses Recht zu geben, so Olden. Gesetzesentwürfe scheiterten jedoch. Im Gegensatz dazu wurde der Laeineinfluss eher vermindert. Dies sei „ein entscheidender Schritt in der Entdemokratisierung der Justiz gewesen.“ Zwar könne man stolz auf die Unabhängigkeit der Richterschaft sein, aber einige wenige fühlten sich unabhängig vom Gesetz, sodass das Element der Laien in der Urteilsfindung zwingend geboten wäre. Man geht wohl nicht zu weit, wenn man das ganze so auslegt: der Laienrichter wird geduldet, wenn er zustimmt. Widerspruch ist tadelnswert. Nicht als ob das immer so wäre. Es gibt Richter sehr verschiedener Art. Ich generalisiere nicht und verwahre mich dagegen, dass man mir Generalisierung unterschiebt.183
Weder der Schöffe noch der Geschworene dürfe nur als Gehilfe des Richters aufgefasst werden. Ihre Rolle beschrieb Olden daher wie folgt: „Der Laienrichter verkörpert ein Stück Volkssouveränität, ähnlich wie der Abgeordnete.“ Das es darüber in einer republikanischen Demokratie eines Diskurses bedarf, belegte in seinen Augen „nur, wie sehr der demokratische Geist in der Justiz verschüttet und verdorben ist.“ Diese Kritik richtete er vor allem an den Landesgerichtsdirektor Julius Siegert, der als „offener Gegner“ der Laienrichterschaft galt. Oldens Resümee am Ende der Debatte um die Reform des Justizwesens war von großer Enttäuschung und Sorge um die Zukunft der Republik gekennzeichnet. Sie hat ihre vornehmste Aufgabe versäumt, als sie es schwachmütig unterliess, ein der Zahl nach vermindertes Richtertum über alles Beamtentum herauszuheben, nachzuholen, was das Kaiserreich nicht leisten konnte, die Richter zu dem zu machen, was sie sein müssen: der erste Stand im Staat. Sie stünde heute fester, hätte sie diese Pflicht nicht leichtfertig, verständnislos vernachlässigt, hätte sie das Fundament des Staates, die Justiz, so errichtet, dass auch die Aufmerksamkeit verantwortungsvoller Beobachter noch mehr Anlass zu Preis und Lob, weniger zur Schelte, fände.184
Die republikanisch gesonnenen Eliten trügen daran die Schuld, die es nicht vermocht haben, eine zukunftsweisende und progressive Justizreform auf allen Ebenen für das gesamte Land durchzuführen. An die Adresse des zwischenzeitlich verstorbenen Freundes und Vorbildes Wilhelm Kahl richtete Olden den Vorwurf, dass seine „Bemühungen um die Strafrechtsreform fruchtlos geblieben“185 sind, auch deshalb, weil er in Sachen der Todesstrafe keinen festen und unumstößlichen Standpunkt eingenommen habe. Republikaner und Demokraten hätten stärker ihre Positionen vertreten und durchsetzen müssen, um dem Staat eine feste Basis zu geben, auf der ein innerer Ausgleich und Friede ruhen könnte. Nicht zuletzt durch dieses Defizit habe man den Gegnern der Republik das Feld einer aus liberaler Sicht falsch formulierten Justizkritik überlassen. 182 R.O. Reichsgericht gegen Laien-Justiz, in: Berliner Tageblatt, 19.4.1930 M. Folgendes Zitat ebd. 183 R.O. Der Laie, in: Berliner Tageblatt, 30.7.1930 A. Die folgenden Zitate ebd. 184 R.O. Nach Schluss der Debatte, in: Berliner Tageblatt, 7.3.1931 A. 185 R.O. Wilhelm Kahl †, in: Berliner Tageblatt, 14.5.1932 A.
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6 Berliner Jahre Der kritische Kampf in der Justiz ging in den vergangenen republikanischen Jahren um Gesetzesauslegung, um Rechtsanwendung, um Würdigung von Tatbeständen. Andere Zeiten andere Sitten. Es muss also konstatiert werden, dass die Justizkritik aus dem Gebiet des Geistigen mehr ins Persönliche übergeleitet wird.186
Mit dem Blick auf die zunehmende Stärke der Nationalsozialisten stellte Olden fest: Viele unter den Juristen hängen mit allen Begriffen am Gewesenen, das Ergebnis ihrer amtlichen Tätigkeit passte nicht zu dem Gewordenen. Systematische Beobachtung durch die Öffentlichkeit, öffentliche Diskussion konnte dazu beitragen, die Kluft langsam auszufüllen, die Entwicklung ging in diese Richtung. Nun wird‘s anders.
Im folgenden Jahr 1932 sollte sich dies aus der Perspektive Oldens in dramatischer Weise bewahrheiten. Staatliche Eingriffe in das Strafrecht und die Prozessordnung sollten den Schutz des Bürgers gegenüber den staatlichen Justizbehörden erheblich gefährden. Das Präsidialkabinett von Papen reagierte im Frühjahr 1932 im Zusammenhang mit den Wahlen zum Reichstag durch derartige Eingriffe massiv auf die bürgerkriegsähnlichen Szenen auf deutschen Straßen zwischen den paramilitärischen Einheiten der Nationalsozialisten und Kommunisten. Die Reichsregierung hatte im Juni 1932 durch zwei Notverordnungen eine Reihe von Grundrechten eingeschränkt, um zu versuchen, die öffentliche Sicherheit wieder zu stabilisieren. Die Verordnung vom 9. August zielte auf die Einrichtung von Sondergerichten in jenen Gebieten, die vom politisch-ideologischen Terror der beiden Extreme besonders betroffen waren. Die Rechte der Angeklagten und Verteidiger wurden massiv beschnitten. Politisch motivierte Gewalttäter sollten durch drakonische Strafen abgeschreckt werden. Daher sah man weitreichende Kompetenzen für die Sondergerichte vor. Sie avancierten zur einzigen rechtsprechenden Instanz für diese Straftaten. Voruntersuchungen waren ebenso wenig gestattet wie die Zulassung von Rechtsmitteln gegen die Urteile. Zugleich erfolgte die Erhöhung des Strafmaßes für fast alle Gewaltdelikte und die breite Ausdehnung der Todesstrafe.187 Dass Olden diese Form der Gerichtsbarkeit entschieden ablehnte, kann nach ausführlicher Darstellung seiner Positionen nicht im Geringsten verwundern. Keinesfalls seien diese Maßnahmen geeignet, die öffentliche Sicherheit wiederherzustellen. Daß die Einrichtung von Sondergerichten eine Verschlechterung der Rechtspflege bedeuten, daran zweifelt natürlich niemand. Es gehört zu den schlimmsten Erscheinungen des politischen Lebens, seitdem wir Republikaner sind, daß solche Reformen ohne öffentliche Diskussion und ohne Parlament durchgeführt, von der Ministerialbureaukratie dekretiert werden. 188
Rechtsgarantien stünden allen Bürgern der Gesellschaft zu. Besonders heftig kritisierte Olden die Verkürzung und Vereinfachung der Verfahren. Staatliche Organe bekämen eine nahezu unbegrenzte Vollmacht gegenüber fundamental in ihren Rechten beraubten Angeklagten und Verteidigern. In besonderem Maße abträglich sei die Machtfülle der Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden. Nur auf Grund186 R.O. Erneuerung der Justizkritik, in: Berliner Tageblatt, 23.7.1932 M. Folgendes Zitat ebd. 187 Vgl. Huber (1984): S. 1052ff. 188 R.O. Sondergerichte, in Weltbühne, 16.8.1932. Folgendes Zitat ebd.
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lage ihrer Darstellung und Wertung des Tatablaufs erfolgte der Prozess. Darauf könne kein Recht gesprochen werden. Prinzipiell sei es „ein kaum erträglicher Gedanke: Schnellgerichte mit Todesstrafe und ohne Rechtsmittel – das Zusammentreffen ist es, das uns der Barbarei annähert.“ Dem „behördlichen Absolutismus“189 in Form der Justizwillkür sei damit der Boden bereitet. „Es ist zugleich die Preisgabe der Tradition des Rechtsstaats.“190 Oldens Befürchtung, Richter und Staatsanwälte würden ihre Macht zu Lasten linksorientierter Angeklagter missbrauchen, wurde traurige Realität, wie der Fall Hans Litten belegt. Ende August 1932 wurde er im sogenannten Felseneck-Prozess von einem Berliner Gericht als Strafverteidiger ausgeschlossen. Dort verteidigte Litten mehrere Kommunisten, die des Mordes an einem SA Mann angeklagt waren. Gegen den Ausschluss seines Kollegen protestierte Olden entschieden und befürchtete ein „Ende der freien Advokatur. Da wären wir bald angekommen, wenn die Anordnung des Vorsitzenden im Felseneck-Prozess aufrecht erhalten bliebe.“191 Jeder Bürger habe das klar verbriefte Grundrecht auf eine anwaltliche Vertretung gegenüber den staatlichen Behörden in Polizei und Justiz. Die Verteidigungsmöglichkeit eines Angeklagten werde in dem Moment massiv behindert. Das Gericht dürfe den Verteidiger die Ausübung seines Mandats nicht in der Gestalt einschränken. Damit zerstöre man erneut eine relevante Stütze des demokratischen Rechtsstaates. Es könne nicht Gegenstand der Kontroverse sein, „dass das Gericht dem Verteidiger nicht den Mund verbieten darf und ihn nicht aus dem Zimmer werfen darf, wie das der Advokat reden darf, was er für richtig hält, ohne deshalb verfolgt zu werden.“192 In diesem Vorgehen sah Olden eindeutige Vorzeichen für ein „faszistisches Regime“, das künftig kommen werde. Eine politische Gesinnungsjustiz opfere demokratische Grundrechte und rechtsstaatliche Normen. Warnend sprach er aus: Am Anfang einer Entwicklung stehen immer kleine Dinge, erst später wachsen sie sich aus. Die Sorglosen sehen sie als Lappalien an, die Mißtrauischen als Symptome. Wir könnten uns ein paar Jahre später darüber unterhalten, wer recht hatte. Aber vielleicht ist es dann zu spät.
Die prophetische Kraft dieser Worte sollte sich am Ende der 1930er Jahre in trauriger Gewissheit realisieren. Nicht nur im Felseneck-Prozess, sondern auch im sogenannten Eden-Palast-Prozess zog sich Oldens Freund Hans Litten den Zorn der Nationalsozialisten auf sich. In einem brutalen Überfall auf eine Festveranstaltung des sozialistischen Jugendverbandes Die Falken wurden zahlreiche Jugendliche von einer SA Einheit verletzt. Vor Gericht vertrat Litten die Nebenklage der Opfer und lud Hitler als Zeuge vor. Durch seine Befragung gelang es ihm, den prominenten Zeugen in Widersprüche zu verstricken, was dem ein Verfahren wegen Meineides einbrachte. Unmittelbar nach dem Reichstagsbrand wurde Litten verhaftet und interniert. Aus dieser Haft kam er nie wieder frei, da ihn die Haftbedingungen im Konzentrationslager Dachau 1938 in den Freitod trieben. Oldens anhaltende Freundschaft reichte 189 190 191 192
R.O. Wer schwört gewinnt, in: Tage-Buch, 15.10.1932. R.O. Das oberste Gesetz der Gerechtigkeit, in: Berliner Tageblatt, 16.8.1932 M. R.O. Der missliebige Verteidiger, in: Berliner Tageblatt, 26.8.1932 M. R.O. Gefängnis für ein Plaidoyer, in: Tage-Buch, 17.9.1932. Die folgenden Zitate ebd.
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über den Tod hinaus, als er Litten im Vorwort eines Gedenkbuches, das die Mutter Irmgard Litten verfasste, nochmals ein Denkmal setzte.193 Aus heutiger forschungsaktueller Perspektive ist Oldens Beschreibung der Vertrauenskrise in die Justiz das große Schlagwort. Wie sein Beispiel exemplarisch zeigte, ging es in der Sache um das politische Strafrecht und die Einseitigkeit der Richterschaft. Für die breite Masse der Bevölkerung war dies lange Zeit überhaupt kein gesellschaftlich relevantes Thema. Erst in der Phase relativer Stabilität änderte sich dies. Zwei Gründe dürften ausschlaggebend gewesen sein: Im Bereich des politischen Strafrechts eskalierte die verfehlte Rechtsprechung, sodass sie nicht mehr übersehen werden konnte. Die Praxis der Justiz wurde nicht mehr nur von republikanischen Kräften kritisiert, auch rechtsstehende Zeitungen und Zeitschriften nahmen sich dieser Problematik verschärft an. Zum anderen war es die Zeit des Nachdenkens über gesellschaftliche Veränderungen und ein Recht, das dieser Entwicklung nicht folgte. Nicht nur, aber hauptsächlich angesichts der unzähligen von der Presse veröffentlichten und kommentierten unmenschlichen und unhaltbaren Urteile auf dem Gebiet des unpolitischen, vor allem des Sittenrechts, entwickelte sich eine umfassende Diskussion über das geltende Strafrecht, aber auch das Selbstverständnis der Republik als liberaler Staat.194
Für diese Entwicklung des öffentlich geführten Diskurses stand auch Olden. Wie kein zweiter trug er als Leitartikler und Gerichtskorrespondent dazu in den zeitgenössischen Debatten bei. Seine thematischen Schwerpunkte zeigten durchaus Parallelen zum Gesamtdiskurs, auch wenn die inhaltliche Verlagerung der Themen zeitlich verzögert bei ihm stattfand. Die Auffassung, dass nicht neue Gesetzte nötig seien, sondern vielmehr eine moralisch neu erzogene Richterschaft, dominierte die Presse mehrheitlich bis etwa 1925, eine Position, die Olden nach seiner Rückkehr aufgriff und die den Tenor seiner eigenen Beiträge bis 1930 markant kennzeichnete, bedenkt man die Korrektivfunktion der Laiengerichtsbarkeit, die Olden betonte. Eine Kommentierung des neuen Strafgesetzentwurfes oder der preußischen Reform des Strafvollzuges blieb dennoch nicht aus. So sehr er auch eine neue, in demokratisch-republikanischem Geist erzogene Ritterschaft postulierte, sie blieb freilich bis 1933 eine Ausnahme. „Die Regel, der (erz-) konservativen, der Republik gleichgültig bis ablehnend gegenüberstehende Richter war derjenige, über den in der republikanischen Presse am häufigsten geschrieben wurde und der nach ihrer Auffassung die Krise heraufbeschworen hatte.“ Verbundenheit und Identifikation fehlten. Man trennte Staat und Staatsform; dem Staat als solchen diente man, aber nicht zwangsläufig seiner Form als Republik. Die Justizkrise repräsentierte nur einen Teilbereich der weiter tiefer liegenden gesellschaftlichen Spannungen und Probleme. Das Zeitalter der Krise hatte Konjunktur. Vieles wurde in Frage gestellt, nicht zuletzt durch weiter fortschreitende Technisierung, Rationalisierung, Spezialisierung und Verwissenschaftlichung. Der eingeübte gesellschaftliche Zusammenhang begann sich von den rapid ablaufenden Anpassungs- und Umgestaltungsprozessen 193 Vgl. Litten (1940); Müller, in: Asmus/Eckert (2010): S. 115f. 194 Schöningh (2000): S. 228. Folgendes Zitat ebd., S. 233.
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loszulösen. Gesellschaftspolitische Veränderungen und Wandlungen vermochten es nicht, da Schritt halten zu können. Die Diskrepanzen einer, wie Detlev Peukert es nannte, „verstörten Modernität“195 fanden so ihren Niederschlag im juristischen wie politischen Bereich. Die Reformanstrengungen des Strafgesetzes und Strafvollzuges zeugten von dem Versuch, gesellschaftliche Strömungen und Störungen in Einklang zu bringen. Insofern waren sie Indikatoren für die Entwicklung der Republik. In der Rechtsprechung stand der Einzelne mit veränderten Ansichten und Lebensgewohnheiten einem Rechtskanon gegenüber, dem diese Entwicklungen fremd waren und die seine Repräsentanten ablehnten, sie sogar bekämpften. Olden stand symbolhaft für jene Autoren (z.B. Kurt Hiller), die insbesondere dem Strafrecht einen hohen Stellenwert für die politische Kultur eines Landes beimaßen. Aus der Arbeit als praktischer Jurist und Journalist bleiben aus seiner Perspektive die Ursache für verloren gegangenes Vertrauen sichtbar: Fehlurteile, politisch einseitige Richter und ein überkommenes formales Recht. Daran mochten für Olden die zahlreichen Referentenentwürfe aus dem Reichsjustizministerium oder dem Rechtspflegeausschuss des Reichstages zwischen 1926 und 1930 nichts ändern. Der Geist des neuen Strafrechtes blieb umstritten und für ihn in dessen Charakter nicht richtig greifbar, da die Versuche einer Novellierung durch christliche Anschauungen geprägt waren, vor allem im Bereich des Sittlichkeitsrechts, die mit seiner Vorstellung von Liberalität nicht vereinbar schienen. Darüber hinaus war für die Position Oldens auch eine Haltung aus der damals modernen Strafrechtsschule bedeutsam, die ein Verbrechen oder eine Straftat als „sozialpathologisches Phänomen“ ansah. „Der Verbrecher war danach nicht mehr der aus freien Stücken Böse, sondern zu einem Großteil ein im metaphysischen Sinne unschuldiges Produkt aus Erlittenem, aber auch Ererbten, aus ökonomischen Faktoren und seinem sozialen Milieu.“196 Ausdruck fand diese Haltung in seinem Einsatz für die Laienbeteiligung. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre richtete sich die Justizkritik der republikanischen Presse nicht nur gegen Berufsjuristen, sondern auch gegen Schöffen und Geschworene, waren sie für falsche Urteile mitverantwortlich. Die Richterschaft beschwerte sich über deren Desinteresse. Widerwille und Stumpfheit kennzeichne ihr Handeln. Man forderte eine sorgfältigere Auswahl. Die Bedeutung der Laiengerichtsbarkeit wurde zuvor von Seiten des Gesetzgebers massiv eingeschränkt, indem man 1924 die Geschworenengerichte abschaffte. Faktisch besaßen Laien nur noch eine beisitzende Funktion, was nicht zur Attraktivität beitrug. Allein der Richter kannte die Aktenlage. Machtlosigkeit, auch in fachlicher Hinsicht, prägt das Verhältnis, indem sich meist der juristische Experte mit seiner Auffassung durchsetzen konnte. Dies widersprach dem Grundprinzip der Schwurgerichte. Die in Europa hart erkämpfte Laiengerichtsbarkeit trachtete danach, Verbrechen nicht nur nach Paragraphen zu beurteilen. Motive, Begleitumstände und soziale Verhältnisse zu einer Tat müssten angemessen berücksichtigt werden. Das Volk selbst sollte sozusagen Recht sprechen. Dies hatte Olden vor Augen, wenn es ihm im Rahmen
195 Peukert, in: Ebd., S. 234. 196 Vgl. Schöningh (2000): S. 228–245. Zitiert nach ebd., S. 241f.
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einer Stärkung der Laienbeteiligung um ein Stück Rückgewinnung der Volkssouveränität ging, die er seit Juli 1930 massiv bedroht sah. Zu diesem Zeitpunkt orientierte sich das Regierungshandeln erst seit wenigen Monaten an der Applikation des Artikels 48 der Weimarer Reichsverfassung. Sofort nach der allseits erwarteten Abdankung von Reichskanzler Hermann Müller am 28. März 1930 erhielt der Vorsitzende der Zentrumsfraktion Heinrich Brüning einen Auftrag zur Regierungsbildung. Reichspräsident Hindenburg stellte unmissverständlich klar, das neue Kabinett solle nicht auf der Grundlage einer Koalition mehrheitlich gebildet werden. Die parlamentarischen Schwierigkeiten seien zu groß. Man drohte mit der Auflösung des Parlaments und der Ansetzung von Neuwahlen. Schon in den Anfangsjahren der Republik hatte es Minderheitsregierungen ohne eine parteipolitische Koalitionsbindung gegeben oder wurde der Artikel 48 legislativ gegen den Reichstag eingesetzt. Nichtsdestotrotz stellte dieses Vorgehen einen „verfassungspolitischen Wendepunkt“ dar, den Olden an dieser Stelle zum Ausdruck brachte. Zuvor wurde jener Weg stillschweigend durch die Parlamentsmehrheit mitgetragen. „Nie waren die Rechte des Reichspräsidenten benutzt worden, um die Suche nach einer Regierungsmehrheit von vornherein zu unterbinden und das Parlament zur Unterwerfung unter den Willen des Staatsoberhaupts und der von ihm erwählten Regierung zu zwingen.“197 Auch in diesem Feld der Justizkritik blieb Olden in gewisser Weise seiner ehemaligen österreichischen Wahlheimat verbunden. Seine Sichtweise auf den Juristen und den Apparat, der ihn formte, wurde maßgeblich durch einen früheren Kollegen geprägt. Die Rede ist von Walther Rode, dessen Werke er ausführlich besprach. Der Wiener Rechtsanwalt und Publizist wurde 1879 geboren und galt zwischen 1905 und 1928 als einer der versiertesten Juristen des Landes. Im Rahmen seiner übernommenen Fälle kämpfte er leidenschaftlich gegen das System der Justiz und für seine Mandanten. Seine juristischen Angriffe zeugten von großer stilistischer Qualität, Sachverstand und historischer Bildung. Wie Olden, war er durch die Ereignisse des Ersten Weltkrieges gezeichnet. Gemeinsam mit Friedrich Austerlitz, der für Olden in Berlin noch eine wichtige Bezugsperson blieb198, verfasste Rode für die österreichischen Sozialdemokraten eine Anklage gegen die Militärjustiz. Sein Protest zielte auf „die Barbarei der Gerichtsbarkeit überhaupt“, „die Verkünstelung und den Formalismus des Rechtsgangs und der Rechte, den Sieg der List und Ränke vor Gericht“199. Beide erlebten diese Form der Rechtsprechung aus nächster Nähe: Olden als Beisitzer eines Kriegsgerichts kurz vor Kriegsende; Rode als Jurist beim Landwehrdivisionsgericht in Laibach 1914/15. Die ersten persönlichen Be197 Büttner (2008): S. 399. 198 „Auf dem Leipziger Parteitag (der SPD), wo er die österreichische Partei vertrat, und sich nochmal als hinreissender Redner bewährt, hatte ich die Freude, Friedrich Austerlitz noch einmal zu sagen, dass ich mich als seinen Schüler im Rechte fühle, weit mehr als irgend eines Professoren, bei denen ich gehört habe. In langen Gesprächen, die ich dort mit ihm führte, habe ich nicht geringe Aufklärung zur internationalen und österreichischen Politik gewonnen.“ R.O. Friedrich Austerlitz. Journalist, Politiker, Kämpfer fürs Recht, in: Berliner Tageblatt, 7.7.1931 M. 199 Rode, in: Noll (2014): S. 339.
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gegnungen fanden in der Redaktionsstube des Friede statt, für den beide bis 1919 schrieben und Rode sich den Ruf als „österreichischer Tucholsky“ erwarb. Sie einte die Vorstellung einer „gründlichen Loslösung vom Alten.“200 Die geistige Abrechnung mit der Vergangenheit wurde von Beiden postuliert; das Recht müsse dem Schutz der Schwachen dienen. Anders als Olden vertrat Rode seine Positionen radikaler. „Ich kenne keine Strafgerichtsbarkeit, die es vermag, den Schwachen, den Redlichen gegen den Mächtigen zu beschützen.“201 Von daher suchte er vehement die Konfrontation vor Gericht. Seine Erfahrungen als Rechtsanwalt mündeten in die Bücher Justiz (1929) und Knöpfe und Vögel (1931), die beide von Olden im Berliner Tageblatt vorgestellt wurden. Zu ersterem schrieb er: In einer Zeit der Krise, wie wir sie durchleben, ist dies Buch ein hervorragendes Mittel der Belehrung. Wenn man von Reformen, wie z.B. von der Reform des Strafgesetzes spricht, sind immer viele geneigt, alles Heil von der neuen Zusammenstellung von Bestimmungen zu erhoffen, die mehr oder weniger alt sind. Es ist nützlich, wenn dann jemand die Dinge von innen heraus zeigt. Man sieht, wie wenig es auf Gesetzesfassungen ankommt und wie sehr auf die historische und soziale Situation.202
Diesen gesellschaftspolitischen Bogen schlugen auch die Beiträge Oldens immer mehr. Welches Vorbild Rode für ihn darstellte, bezeugte sein Artikel zum bekanntesten Werk des Wiener Advokaten. „Mir gefällt das gute Gericht über alles. Nur das schlechte Gericht empört mich. Und ich hoffe, nur darin meinem Freund Rode zu gleichen, dass ich das gute vom schlechten Gericht unterscheiden kann.“203 Knöpfe und Vögel bot eine Typologie der politischen Justiz, die dem Leser lehrte, durch welche Eigenschaften sie sich auszeichne. Damit blieb die Frage der Gerechtigkeit verbunden, „denn: Justiz hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun“204, so Rode. Ob er glaubte, diese durch eine Reform erreichen zu können, blieb unbeantwortet. Für Olden hingegen bildete es eindeutig den Zweck jeglicher Bemühungen im Bereich einer Neugestaltung der Rechtsprechung, besonders mit Blick auf diejenigen, die Recht zu sprechen haben.205 6.2 DER POLITISCHE LEITARIKLER – BERLINER TAGEBLATT ALS MEDIUM Das Jahr 1931 markierte für Oldens journalistische Laufbahn und sein persönliches Leben ein einschneidendes Erlebnis. Den Weg der Republik in die Diktator konnte er für das Berliner Tageblatt nicht mehr in gewohnter Manier begleiten und kritisch kommentieren. Unfreiwillig schied er zum Jahresende aus der Redaktion aus, die 200 201 202 203 204 205
Strigl, in: Knie/Noll/Strigl (2015): S. 69. Rode, in: Noll (2014): S. 338. R.O. Walther Rode. „Justiz“, in: Berliner Tageblatt, 16.5.1929 M. R.O. „Lesebuch für Angeklagte“, in: Berliner Tageblatt, 22.5.1931 M. Rode, bei: Strigl, in: Knie/Noll/Strigl (2015): S. 78. Vgl. Noll (2014): S. 335–344; Strigl, in: Knie/Noll/Strigl (2015): S. 69–80.
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ihm seit 1926 Lohn und Brot, nicht zuletzt aber die Plattform für seine politische Meinungsbildung bot. Wie kam es, dass der Kämpfer für die Republik seines ureigensten Mediums beraubt wurde und nahezu stillschweigend den Untergang der Demokratie entgegensehen musste? Oldens Entlassung zum Jahresende 1931 markierte das Ende einer langjährigen Konfrontation der Redaktion mit der Verlagsleitung. Politische Auseinandersetzungen und persönliche Aversionen vergifteten das interne Betriebsklima des Blattes zusehends, das ohnehin durch die Weltwirtschaftskrise in schwere Turbulenzen geraten war. Beide Entwicklungen wirkten zusammen und verstärken sich. Lachmann-Mosse ging es mehr um persönlich wirtschaftlichen Erfolg, als um die Aufrechterhaltung eines starken politischen Meinungsblattes.206 Seit 1924 gärte der innere Konflikt, da der Verleger durch Einsparungen im redaktionellen Bereich des Berliner Tageblatt den Gesamtverlag großzügig ausbauen wollte. Auch sein individueller Lebenswandel machte das Einsparen von Kosten zulasten der Angestellten aus seiner Sicht unausweichlich. Die Gehälter der Redakteure und die Honorare der Mitarbeiter waren ohnehin vergleichsweise niedrig. Über Jahre blieben sie auf diesem Niveau. Lediglich Wolff, Feder und Olden bildeten eine Ausnahme. Entlassungen wurden dennoch vorgenommen. LachmannMosse kürzte wiederholt den redaktionellen Teil des Blattes, um durch die Schaltung von zusätzlichen Annoncen mehr Einnahmen zu generieren. Seiner Auffassung nach behindere die liberale Ausrichtung des Tageblatts den wirtschaftlichen Erfolg. Der politische Teil sollte weiter reduziert bzw. in seiner Darstellung und Kommentierung klar rechts orientiert ausgerichtet werden. Häufig in Eigenregie, ohne Abstimmung mit der Redaktion, wurden diese Maßnahmen durch die Verlagsleitung durchgesetzt, was ab 1927 zu einem offenen Konflikt führte. Olden und seine Kollegen in der Chefredaktion fürchteten um ihre journalistische Unabhängigkeit und den Ruf des Blattes. 1928 drohte Wolff mit Rücktritt. Die ohnehin angespannte ökonomische Lage des Verlages verschlechterte sich durch die Weltwirtschaftskrise 1929 erheblich. Die Einnahmen aus Abonnementverkäufen und Anzeigen gingen um die Hälfte zurück. Weitere Einsparungen und Entlassungen waren die Folge. Im Januar 1930 wurde ein Redaktionsausschuss gebildet, der gegenüber dem Verleger mehr Mitsprache in allen Bereichen einforderte. Auch Olden gehörte diesem Ausschuss an. In immer neuen Entschließungen richtete man sein Engagement gegen weitere Kürzungen durch den Verlag. Erfolg war Olden und seinen Kollegen nicht beschieden. Nach der Reichstagswahl vom 14. September reduzierte Lachmann-Mosse den Teil der politischen Berichterstattung erneut deutlich. Das Blatt sollte einen unpolitischen Charakter bekommen. Eine weitere Welle von Entlassungen folgte, dessen erstes prominentes Opfer Ernst Feder war, den man im Dezember 1930 entließ. Eine weitere Rücktrittsdrohung Wolffs verhinderte zunächst den Vollzug der Kündigung, doch Feder entschied sich im Mai 1931 für einen freiwilligen Rückzug aus der Redaktion. Im März 1931 kam es zum wiederholten Male zu einer Kürzung des Etats für den politischen Teil der Redaktion. Weiteren Redakteuren und Korres206 Vgl. Eksteins (1975): S. 104ff.
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pondenten wurde gekündigt. Das Blatt als Bollwerk gegen den Faschismus war spätestens ab 1931 nahezu vollständig gelähmt. Trotz des Versuches von Theodor Wolff, weitere Sparmaßnahme zulasten des Politik-Ressorts zu verhindern, wurde dessen Abwicklung ungerührt forciert, was zum Jahresende 1931 auch zur Entlassung von Olden führte. Es konnte nicht mehr rekonstruiert werden, unter welchen Umständen die Kündigung erfolgte. Lediglich ein kurzes zeitliches Raster kann Auskunft geben.207 Aus einem Brief vom 26. August an seine Kollegin Gabriele Tergit ging hervor, dass er zu diesem Zeitpunkt wohl noch Mitglied der Redaktion gewesen ist. Bis Ende November 1931 erschienen regelmäßig weitere Beiträge Oldens im Berliner Tageblatt. Er verließ Berlin noch im Dezember und ging nach Heidelberg. Von dort aus schrieb er am 24. Januar 1932 erneut an Tergit. Dabei nahm er u.a. Bezug auf seine Entlassung nahm. Es kann wohl als relativ wahrscheinlich angenommen werden, dass Olden zum Jahresende 1931 entlassen wurde.208 Damit war die individualbiographische Zäsur vollzogen, auch wenn seine journalistische Tätigkeit nicht gänzlich an ihr Ende gekommen war. Enttäuschung und Verbitterung ob des unfreiwilligen Abschiedes aus Berlin dürfte Olden in dieser Phase gekennzeichnet haben. Es kann nicht verwundern, dass sein geschildertes Engagement als Rechtsanwalt bzw. Strafverteidiger in politischen Prozessen und seine Arbeit für die DLM in dieser Phase ihre Blüte erlebte, bevor im Nachklang des Reichstagsbrandes seine Flucht aus Deutschland unausweichlich wurde. Die wenigen Monate, die Olden noch geschützt in der Republik als Autor wirken konnte, verbrachte er als freier Journalist. Hier zeichnete sich folgendes Muster ab: In fast allen Artikeln des Jahres 1932 griff Olden journalistisch auf, was er direkt als Jurist begleitete oder aber womit er indirekt in Berührung kam. Eine feste Stelle als Redakteur sollte Olden in der Weimarer Republik nicht mehr begleiten. Zwischen dem 26. März 1932 und dem 1. März 1933 veröffentlichte er insgesamt nur noch 33 Artikel für drei unterschiedliche Blätter, dem Berliner Tageblatt sowie den Wochenzeitschriften die Weltbühne und das Tage-Buch. Dass er überhaupt wieder für das Blatt von Lachmann-Mosse schrieb, lag nicht zuletzt daran, dass er nach wie vor gute Kontakte in die Redaktion besaß. Die Freundschaft zu Gabriele Tergit und Walter Kiaulehn bestand auch nach seiner Entlassung weiter. Thematisch dürfte Olden zusätzlich überzeugt haben, zumal seine journalistischen Fertigkeiten keineswegs vergessen waren und es den übrig gebliebenen Mitgliedern der Redaktion wohl an Erfahrung mangelte. Seine Beiträge waren daher fast ausschließlich Leitartikel. Auch zum Kreis der Autoren der Weltbühne hatte Olden den Kontakt augenscheinlich nie abreißen lassen, was ihm in dieser Phase zugutekam. Das Engagement für die DLM blieb auch für die berufliche Perspektive hilfreich, waren zahlreiche Mitarbeiter der Weltbühne gleichzeitig mit Olden in der Liga aktiv gewesen. Dort knüpfte er wohl ebenfalls den Kontakt 207 Vgl. Feder, 11.11.1927, in: Löwenthal-Hensel/Paucker (1971): S. 144ff.; Ebd.: 2.7.1928, S. 186; 14.7. und 1.8. 1928, S. 189; 30.5.1929, S. 216f.; 19.9.1929, S. 226; 11.1.1930, S. 236ff.; 13.12.1930, S. 278; 19.12.1930, S. 280. 208 Vgl. RO – DNB/DEA: Brief R.O. an Gabriele Tergit, 24.1.1932, EB 79/020.
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zum Herausgeber des Tage-Buch, Leopold Schwarzschilds. Als Mitte Oktober 1932 die Mitarbeit beim Berliner Tageblatt endgültig beendet wurde, kam dies dem Ende seiner journalistischen Laufbahn insgesamt gleich. Bis Anfang März 1933 erschienen lediglich drei Artikel im Tage-Buch. Schon im August 1932 hatte er sein Engagement für die Weltbühne nicht fortgeführt. Nach Gründen für den abrupten Abbruch seiner Tätigkeit als Journalist suchte man vergeblich. Mit seiner vorläufigen Emigration nach Prag im März 1933 endete Oldens Rolle als prägende Figur des Weimarer Journalismus. Von Großbritannien aus sollten später weitere Beiträge folgen, die dem antifaschistischen Kampf in Europa eine Stimme gaben. Bevor das Exil seine Stimme von Gerechtigkeit und Freiheit endgültig aus den deutschen Dingen riss, bleibt es lohnend, einen Blick auf das zu werfen, was Olden als politischer Leitartikler seinen Landsleuten ins Stammbuch zu schreiben beabsichtigte und was wohl zum Besten gehörte, was der freie und liberale Geist jener Jahre zum Schutz von Demokratie, Republik und Frieden hervorgebracht hatte. 6.2.1 Die deutsche Jugend: Segen oder Fluch? Welche Rolle die gesellschaftlichen Eliten im Gesamtkonstrukt der Weimarer Republik einnahmen, thematisierte Olden in seinen Beiträgen immer wieder. Ihre Funktion mit Blick auf die demokratische Stabilität der Republik wurde analysiert, beschrieben und wie im Falle der Richterschaft, kritisch kommentiert. Orientierung boten seine Zuschreibungen und Ansichten hinsichtlich der Aufgaben gesellschaftlicher bzw. politischer (Funktions-) Eliten. Besonders im Mittelpunkt stand deren ideologische Gesinnung als Prüfstein für das Weiterbestehen der neuen Staatsform. Es kann nicht verwundern, wenn er die künftigen Träger der Demokratie ebenfalls in seine Betrachtungen einbezog und in einigen Beiträgen die Öffentlichkeit dafür sensibilisierte, was die politischen Ordnungsvorstellungen der jungen Generation anbelangte. Vor allem mit der Studentenschaft und dem allgemeinen Geist der akademischen Tradition in Deutschland ging er in eine kritische Auseinandersetzung. Um ihre bisherige Stellung im staatlichen Gefüge zu beschreiben, griff Olden auf eine Schrift zurück, die Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlicht wurde und schon damals große Kontroversen hervorrief. Es mag bezeichnend sein, dass er an dieser Stelle auf Ludwig Quidde, den „altbewährten Demokrat und Friedensfreund“209, zurückgriff und seine Satire-Schrift Caligula aus dem Jahre 1894 in den zeitgenössischen Diskurs der Republik holte. Gleichzeitig wirft dies einen Blick auf Olden selbst, der wohl in seiner Jugendzeit jene Schrift mit großer Begeisterung gelesen hatte, auch wenn er politisch nicht vom Pazifismus Quiddes inspiriert wurde. Erstmals 1926 offenbarten seine öffentlichen Beiträge eine Kenntnis von Schriften aus dem Umfeld des bürgerlichen Vorkriegspazifismus.
209 R.O. Caligula, in: Berliner Tageblatt, 14.6.1926 A. Folgendes Zitat ebd.
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Man greift nach dem roten Bändchen, um die Erinnerung an einen starken Jugendeindruck aufzufrischen, – und man findet sich bald aufs Aktuellste angeregt. Mitten hinein in die politischen Ereignisse des Tages führt uns die Erzählung, die noch lange nicht vergilbt sein wird.
Damals hatte die Selbstverliebtheit des deutschen Kaisers den Historiker Quidde mit großem Unmut erfüllt. Dessen Staatsführung erinnerte den Pazifisten immer mehr an den römischen Kaiser Caligula, der mit seinem Auftreten und Habitus vom Wahn eines Cäsaren zeugte. Unter dem Deckmantel einer alt-historischen Untersuchung der römischen Geschichte plante Quidde mit dieser Satire die Bloßstellung des deutschen Kaisers. Zwar über Caligula schreibend, konnte aber dem aufmerksamen Beobachter nicht entgehen, welche Bezüge zu Wilhelm II. gezogen wurden. Anlass bot dem Autor das kaiserliche Porträt mit dem lateinischen Zusatz „odernit dum metuant“, zu Deutsch „mögen sie hassen, wenn sie nur fürchten“. Dieser Ausspruch wurde für gewöhnlich von Caligula häufig gebraucht und stiftete die Idee zu Quiddes Buch. Nach der Veröffentlichung machte es den Urheber im ganzen Reich bekannt, brachte ihm den Vorwurf der Majestätsbeleidigung ein.210 32 Jahre nach Erscheinen der Erstausgabe müsse der Vergleich relativiert werden, so Olden, und die Bedeutung und Interpretation des Werkes auf eine gänzlich andere Ebene bezogen werden. „Wir, die wir das Leben Wilhelms miterlebt haben, wir wissen, wie anders es verlaufen ist, wie viel geringeres Format, gerade im Bösen, seine Natur hatte, wie viel schwächer sein Wollen war und daß er bei besten Absichten eigentlich nur in Worten gesündigt hat.“211 Die Parallelen zwischen beiden Persönlichkeiten hätten nur für wenige Jahre bestanden. Ohnehin seien die damaligen Proteste der Kreuzzeitung bewusst politisch motiviert gewesen, mit Blick auf einen in der Sache eher vagen Vergleich, den Quidde vielmehr als Warnung für künftige Entwicklungen anstrengte. „Kurz, man achtete gar nicht darauf, daß hier ein angesehener Geschichtsforscher sprach.“ Die Kritik verrate zugleich etwas über die Leserschaft, die „heiß-hungrig die vermeintliche Schmähschrift verschlang“, und deren Gesinnung. „Viel wichtiger und bedeutungsvoller als der Aufsatz selbst, ist, wie mir scheint, das Publikum, das er fand. Das gute Bürgertum von 1894 also war es, dessen Geschmack von der Lektüre der grauenhaften Charakterisierung seines Kaisers so sehr gereizt und befriedigt wurde.“ Es war diese gesellschaftliche Schicht, die den Kaiser weitere zwanzig Jahre getragen bzw. verherrlicht hat. „Welch eine schwerverständliche und verderbliche Entwicklung zur Kritiklosigkeit, zum Mißverstehen der vor Augen liegenden Historie unserer Tage!“ Unter den Bedingungen der Republik sei es von entscheidender Bedeutung, dass die Leserschaft als Bürger und nicht mehr als Untertan zur freien Meinungsäußerung herangezogen werden müsse, verlange sie „die offene Diskussion, die Herausbildung politischen Urteils im Streit der Parteien und Presse (sowie) ihr Niederschlag in den Wahlen.“ Auf dieser Grundlage solle die Leitung des Staates erfolgen. Gerade die Demokratie bedürfe dieser Freiheiten und vernunftorientierten Überzeugung.
210 Vgl. Sirges (2013): S. 79f. 211 R.O. Caligula, in: Berliner Tageblatt, 14.6.1926 A. Die folgenden Zitate ebd.
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6 Berliner Jahre Jene Schicht, die 1894 teils mit boshaftem Schmunzeln, teils mit ernsthaftem Verständnis den Caligula las und mehr oder weniger zu dem literarisch-politischen Ereignis schwieg, es ist dieselbe, die heute einen Lessing brot- und heimatlos machen, die ihn um Amt und Plattform bringen möchte, weil er den Reichspräsidenten, noch ehe er es war, seiner Kritik unterworfen hat.
In diesem Zusammenhang interpretierte Olden das Werk als eine Mahnung an die Nation, in ihrer mangelnden Fähigkeit zur Kritik an politischen Eliten, die nach 1918 fortbestand, selbst einer gewissen Form des „Byzantinismus“ anzuhängen, die der Entstehung von Cäsarenwahn förderlich wäre. Die stumpfe Bewunderung und aufdringliche Glorifizierung des Kaisers oder gegenwärtig des Reichspräsidenten gehe hauptsächlich von der verantwortlichen Oberschicht aus. Man finde nach wie vor, und nicht zuletzt an den deutschen Universitäten, die Bereitschaft, Cäsarenwahnsinn hinzunehmen, ja zu erzeugen, wenn sich nur einer fände, der den Cäsar abgeben wollte. Die mystische Inbrunst, die seit langem den Diktator herbeisehnt, der irrationale Wunsch nach den geborenen Führern, der sich bis in die kleinste Zelle der Vereine und Verbände fortsetzt, sie sind nichts anderes als die Kompensation zu der Roheit und gehässigen Verfolgungssucht, die sich gegen den Außenseiter der politischen Betrachtung richten.
Besonders in Teilen des Bürgertums und der akademischen Jugend sei diese Sehnsucht besonders ausgeprägt, was nicht zuletzt der Umgang mit politisch Andersdenkenden belege. „Diese akademische Jugend, aber auch dieser Teil des Bürgertums, der ihr Beifall klatscht und nachäfft, sie wollen nichts anderes als Gott oder den Teufel, sie stürzen jetzt den Dissentierenden in den Tartarus hinab, aber noch viel lieber möchten sie sich vor dem, der da kommen soll, anbetend im Staub wälzen.“ Um den Erhalt der Demokratie auf Dauer sicher zu stellen, müsse der Wunsch nach Führung bzw. nach einem Führer nachhaltig ausgerottet werden. Ein neuer (akademischer) Geist sei notwendig. Mit dem Caligula-Buch verband Olden diese Lehre, stellte es ein Scharnier vom 19. ins 20 Jahrhundert, vom Autokratismus zum Demokratismus, dessen Übergang die Nachkriegsgesellschaft nicht vollständig vollzogen habe, dar. Auf das Erlernen demokratischer Grundtugenden zu verweisen, kennzeichnete die Biographie Oldens zum wiederholten Male und markierte als roten Faden die Bedeutung dieser Forderung im Verlauf der 1920er Jahre. Er sprach unterschiedliche gesellschaftliche Eliten an, denen er eine wichtige Funktion bei der Etablierung der Republik zuschrieb, nicht zuletzt, um die politische Polarisierung der Gesellschaft innenpolitisch zu befrieden. Der Krieg habe zwar äußerlich in Gestalt der Reichsverfassung symbolisch das geschichtliche Byzanz hinter sich gelassen, doch „der Byzantinismus, der den Cäsar und Deutschland mit ihm ins Verderben führte, lebt noch.“ Daraus sei folgende Konsequenz zu ziehen: „Es darf kein Mittel unversucht bleiben, keine Anstrengung darf gescheut werden, keine Bemühung kann hartnäckig genug sein, die geeignet wäre, ihn aus dem Geistesleben deutscher Jugend auszuroden.“ Mehr als diesen Appell blieb er allerdings schuldig. Damit war aber der Grundstein für Oldens journalistische Betrachtung der deutschen Studentenschaft und deren Verbände gelegt. Ihre politische Entwicklung blieb Teil seiner Berichterstattung. Am Intensivsten verfolgte er die Organisation Deutsche Studentenschaft (DSt.).
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Die Generation der Nachkriegsstudenten war durch die gesellschaftspolitischen Veränderungen und die ökonomische Situation deutlich herausgefordert. Im Vergleich zur Vorkriegsgeneration vollzogen sie eine gewisse Wandlung. Bis 1923 verließen die Jahrgänge der Kriegsstudenten die Universitäten. „Die nachfolgende übernahm den antibürgerlichen Geist der Jugendbewegung, politisierte, radikalisierte und militarisierte ihn aber.“212 Das Erlebnis der Front fehlte ihnen. Revolution, Putsche, Hunger und Inflation erlebten sie als Versagen des neuen Staates jedoch hautnah mit. Auch die zweite Zwischenkriegsgeneration, die gegen Ende der 1920er Jahre an die Hochschulen strömte, sah sich angesichts der Weltwirtschaftskrise und der Eruption des politischen Systems massiv in ihren beruflichen und privaten Aussichten bedroht. Zwischen 1918 und 1933 galt für die deutsche akademische Jugend Folgendes: Allen Generationen waren Enttäuschungen, Skeptizismus und Zynismus eigen, aber auch ein eng mit der Hoffnung auf einen Aufbruch, auf etwas Großes und Neues verbundener Idealismus, der neues Volksleben aus der Zertrümmerung der Gegenwart schaffen wollte, eng verzahnt mit einer besonderen Anfälligkeit für das Grundrauschen der völkisch-antisemitischen Publizistik der Weimarer Jahre.
Inwiefern Olden dies bei seiner Einschätzung der Entwicklung der DSt. berücksichtigte, wird im Fortlauf zu klären sein. Als autonomer, nationaler und überparteilicher Zusammenschluss aller deutschsprachigen Studenten entstand sie im Sommer 1919 unter dem Eindruck der Pariser Verträge. Man zielte auf eine völkische Einheit und wollte in diesem Sinne als großdeutsches Vorbild wirken. Die DSt. bildete sich aus den öffentlich-rechtlichen Allgemeinen Studentenausschüssen (AStA) der einzelnen Universitäten und Hochschulen. Über eine Zwangsmitgliedschaft und die verpflichtende Abgabe von Beiträgen trachtete man danach, die Überlebensfähigkeit zu sichern. Den Studenten war ein allgemeines Wahlrecht garantiert. 1922 erhob man den großdeutschen Gedanken zum angestrebten politischen Grundsatzprinzip, das auf eine wahre, durch gemeinsame Sprache, Abstammung und Kultur bestimmte, deutsche Volksgemeinschaft zielte. Gleichzeitig vertrat man die studentischen Interessen im Bereich des Hochschulunterrichts und der Hochschulreform sowie man intern das Disziplinarrecht durchsetzte. Die Konfrontation mit der staatlichen Autorität entstand um die Frage des Staatsangehörigkeitsrechts, da die meisten Landesregierungen dem preußischen Studentenrecht folgten, das dem Grundsatz des völkischen Prinzips widersprach.213 Der Zusammenschluss in der DSt. War der gelungene Abschluss einer Entwicklung, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen organisatorischen Verband aller Studenten in Form allgemeiner Ausschüsse anstrebte. Nun war sie Ausdruck bestimmter zeithistorischer Einstellungen zur Überwindung gesellschaftlicher Probleme und der Artikulation politischer Ordnungsvorstellungen. Die Strömungen und Grundhaltungen wechselten durchaus, wenngleich von einer gewissen Repräsentativität gesprochen werden kann, für die der Verband gegenüber der Gesamt212 Lönnecker (2005): S. 2. Folgendes Zitat ebd. 213 Vgl. ebd.: S. 3f.
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studentenschaft stand. Wohl nicht zuletzt deshalb kommentierte Olden ihren Werdegang. Das Bekenntnis zum großdeutschen Studentenstaat war für die DSt. von Anbeginn eine große Herausforderung in der politischen Auseinandersetzung, stand diese Forderung im Widerspruch zu den internationalen Verträgen, die Deutschland und Österreich nach 1918 banden und die Grenzen ihrer Territorien eindeutig festlegten. Allerdings war ihr nationaler Grundgedanke eine bewusste politische Entscheidung, für die man bereit war, zu kämpfen. In der praktischen Umsetzung wurden die Probleme offenbar, auch intern. Von Seiten der Studenten in Österreich postulierte man, dass rein nach rassischen Kriterien die Zugehörigkeit zum Verband definiert werden dürfe. Auf deutscher Seite präferierte man den Staatsbürgergrundsatz. Antisemitische Tendenzen konnten noch nicht festgestellt werden. „Die grundsätzliche Verfassungsüberlegung wurde organisatorisch dahin abgeschlossen, daß man die am Anschluß an das Deutsche Reich verhinderten Gebiete als deutsch-österreichischen achten Kreis in die Zahl der übrigen, die DSt. unterteilenden, reichsdeutschen Kreise aufnahm.“214 Eine nationale Haltung kennzeichnete alle Mitglieder. So sollten innerhalb der DSt. Ausländer weder Stimmnoch Mitgliedsrecht besitzen. Die Anfangsjahre waren von einem Dualismus zwischen Nation und Volk geprägt, der entlang reichsdeutscher und österreichischer Studenten verlief und das völkische Denken im Reich in gewisser Weise durch eine schärfere und unbedingtere Auslegung stimulierte. Trotz dieses Spannungsfeldes ging man mit großem Eifer daran, den Staat in seiner neuen Form aufzubauen. Noch war man von der Grundhaltung bestimmt, eine „Hinwendung zur neuen demokratischen Ordnung“ vorzunehmen. Zugleich war man national im großdeutschen Sinn; keineswegs aber völkisch, also auch noch nicht durchweg antisemitisch. Bei aller politischen und konfessionellen Neutralität wollte man politische und staatsbürgerliche Bildungsarbeit in vaterländischem Sinne betreiben und damit den sozialen Gedanken, die Gesundung der Volksgemeinschaft, besonders im Hinblick auf den Abbau der Klassengegensätze, fördern.
Doch 1925 brach der Konflikt über jene Verfassungsfrage mit großer Heftigkeit aus, als der Heidelberger AStA seine Satzung zugunsten des Staatsbürgergrundsatzes änderte und sich vom völkischen Prinzip verabschiedete. Dies bot im Mai 1926 dem preußischen Landtag die Gelegenheit, eine derartige Abänderung von allen Studentenschaften zu verlangen, was auf massiven Widerstand der DSt. stieß, besonders bei den österreichischen Vertretungen, die glaubten, ausgegrenzt zu werden. Das Parlament mit seinen linksorientierten und bürgerlichen Parteien wurde zum Feindbild des tatenlosen „Systemstaates“. Folglich lehnte man den Vorstoß des preußischen Kulturministers Carl Heinrich Becker ab. „Statt auf den Boden der Rechtsstaatlichkeit führte der Vorstoß des Ministers vielmehr von der Beschränkung auf die Pflege der völkischen Gesinnung fort zum politischen Aktivismus der Studenten – ihnen wurde nun auch äußerlich der völkische Zug eigen.“215 Für das Berliner Tageblatt sollte es Olden sein, der Mitte Juli 1927 den 10. Deutschen Stu-
214 Schwarz, J. (1971): S. 183. Die folgenden Zitate ebd., S. 187. 215 Lönnecker (2005): S. 5f.
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dententag in Würzburg journalistisch begleitete und kommentierte, auf dem dies zum ersten Male fühlbar wurde. Die Radikalisierung nahm zu. Auch die NSDAP erhielt über ihre Hochschulgruppen immer mehr Einfluss innerhalb der DSt. Dem sollte Ende September 1927 ein neues Studentenrecht folgen, das wiederum vom linksliberalen Kultusminister Becker ausging. Es erwies sich als fataler Fehler, die Studenten selbst darüber abstimmen zu lassen. In einer beispiellosen Hetzkampagne gegen Becker griffen die studentischen Nationalisten die geplante Reform an. Bei einer Wahlbeteiligung von achtzig bis neunzig Prozent votierten 74% der Studenten gegen den Vorschlag. Die Reaktion Beckers war entsprechend: Der DSt. wurde die staatliche Anerkennung entzogen, finanzielle Beiträge fielen künftig weg und dem Verband drohte die Auflösung. Nur noch in Sachsen, Braunschweig, Mecklenburg, Bayern und Württemberg bestanden die Studentenschaften auf alter Grundlage fort. Nach Verhandlungen mit den Verbänden bildete die DSt. im Februar 1928 freie Studentenschaften. Deren Beitragsgrundlage war auf Freiwilligkeit angelegt, auch wenn man den Anspruch auf allgemeine Vertretung der Studenten nicht aufgab. So blieb sie selbst nach 1927 die führende Kraft in der Repräsentation der Hochschüler. Ein Kompromiss mit staatlicher Seite war allerdings nicht mehr vermittelbar. Studentenschaft und Republik waren entzweit. Zugleich erstarkte der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund (NSDStB), der in den kommenden Jahren zusehendst an Boden gewann, sowohl in den Studentenparlamenten, als auch innerhalb der DSt. Es war diese Entwicklung, die Olden seit Mitte der 1920er Jahre aufmerksam registrierte und der er mit immer größer werdender Sorge um die politische Einstellung der künftigen Eliten in Staat und Gesellschaft entgegensah. Jene Wandlung veranlasste ihn zu einer Reihe von Artikeln und Beiträgen, in denen er seinen Standpunkt ausführlich entwickelte.216 Die Entstehung der DSt. war für ihn „ein Spiegelbild der allgemeinen nationalen Vorgänge.“217 Auch ihren demokratischen Grundansatz würdigte Olden rückblickend ausdrücklich. „Sie war demokratisch, obwohl sich ihre Träger nicht Demokraten nannten. Ihre Führer standen rechts, wollten aber von völkischer Absperrung nichts wissen.“ Wie festzustellen war, galt dies nicht uneingeschränkt, wenn man die frühen Beschlüsse der Studententage um 1920 bedenkt. Olden sah den Verband zunächst aus organisatorischem Blickwinkel. Der demokratische Optimismus, den er mit der Gründung verband, blieb spürbar, sah er in ihr trotz rechter Ausrichtung eine wertvolle Institution für die Etablierung der Demokratie. Die jungen Studenten seien dort in der Lage, demokratische Grundtugenden einzuüben, die seine Generation nie gelernt habe. Die Tatsache, daß die Studenten an Selbstbestimmung und Selbstverwaltung dachten, daß sie nicht nur für Examen und Brotstudium arbeiten wollten, daß ihnen noch anderes am Herzen lag, als Kneipen und Mensuren, war vor allem zu begrüßen. In der Demokratie soll jeder die 216 Vgl. Schwarz, J. (1971): S. 174–187; Lönnecker (2005): S. 3–10; Für die „Eliten im Wandel: Die Konstruktion des neuen Studenten – Soziale Identität in der Krise“, Levsen (2006): S. 189ff. 217 R.O. Deutsche Studentenschaft, in: Berliner Tageblatt, 29.9.1926 M. Die folgenden Zitate ebd.
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6 Berliner Jahre Sorge für das allgemeine Schicksal mittragen, und diese demokratische Pflicht wollten die Kriegsstudenten in ihrem Kreise üben, auch wenn sie sich dem Wort nach nicht zur Demokratie bekannten.
Mit Erstaunen vernahm Olden, was die Erben dieser Kriegsgeneration beabsichtigten. Sie seien das ganze Gegenteil ihrer Vorgänger. Terror markiere ihre Strategie. Die Kontinuität in der politischen Orientierung junger Studenten vermochte er nicht zu sehen. In der Glorifizierung der unmittelbaren Nachkriegshochschüler zu geistig gereiften Demokraten blieb in der späteren Betrachtung deren völkisch-nationalistische Anfälligkeit unberücksichtigt. Die Verbände in Österreich könnten nur als „antisemitische Kampfausschüsse“ verstanden werden. Davon habe man sich im Reich anstecken lassen, was Olden mit großem Bedauern feststellte. „Die deutschen Studenten sind eben auch im Grunde völkisch gesinnt und sehen mit Behagen den Unfug, den die Auslandsdeutschen treiben. Das heißt, mutwillig das schwer erkämpfte organisatorische Werk aufs Spiel setzen.“ Dies träfe inzwischen auf eine Mehrheit in Deutschland zu, die mit ihrem Terror Andersdenkende unterdrücke. Sie müsse „Selbstzucht üben, sie darf nicht rechtswidrig gegen die Opposition handeln. Die deutsche Studentenschaft kann nicht mit einer terrorisierten Minderheit bestehen.“ Es bestehe die Gefahr, so Olden, dass dieses Vorgehen aus dem Schatten der radikalisierten Jugendbewegung und Studentenverbände heraustrete und zum Zusammenbrechen der gesamten Gesellschaft führe. Der „Ungeist von völkischer Gewalttätigkeit und Unaufrichtigkeit“ könne seine Wirkung nicht nur auf diesem Felde entfalten. Am Ende bedrohe dies den Erhalt des organisatorischen Zusammenschlusses insgesamt und vermittle ein völlig falsches Bild von demokratisch-politischer Konfrontation. „Es ist der Machiavelli in der Westentasche, der da als Ideal des Politikers den jungen Leuten präsentiert wird.“218 Auf diese Form der Vertretungskörperschaft möchte er verzichten, so notwendig ihre Gründung im Jahre 1919 gewesen sein mag. Als Tummelplatz von Antisemiten, der die DSt. zu werden drohe, müsse man ihr jegliche (staatliche) Unterstützung versagen, auch wenn man einmal gedacht hat, die allgemeinen Studentenschaften sollten als Übungsplätze für spätere Parlamentarier dienen. Die völkischen Studenten mögen sich untereinander koalieren, wie sie wollen, das ist ihr gutes Recht. Aber weder soll man ihnen öffentliche Gelder, die zwangsweise eingehoben werden, anvertrauen, noch sollen sie eine legalisierte Vertretung der Allgemeinheit darstellen.
Würde der Verband aufhören zu existieren, wäre es um ihn in seiner jetzigen Gestalt nicht schade, auch wenn die Grundidee mit ihr verloren ginge. Die sie gründeten, dachten, es werde sich über alle Gegensätze hinweg Gemeinschaftsgefühl in studentischer Selbstverwaltung entwickeln und unter den Jünglingen Vorarbeit für späteres öffentliches Wirken geleistet werden können. Aber das ist wohl nur ein Traum gewesen,
dem Olden selbst augenscheinlich anhing. Die Realität sollte diese Hoffnung zunichtemachen, wie der 10. Deutsche Studententag in Würzburg 1927 belegte. 218 R.O. Wird die „Deutsche Studentenschaft“ bestehen?, in: Berliner Tageblatt, 9.12.1926 M. Die folgenden Zitate ebd.
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Seinen Artikel überschrieb Olden wohl bewusst mit dem Titel Wandlung oder Auflösung?, um den wegweisenden Charakter der Tagung zu unterstreichen. Er forderte von diesem Studententag nichts weniger als die Scheidung der deutschen Geister vom völkischen Ungeist der österreichischen „Vereinigungen, die in ihrer Zusammensetzung parteipolitisch bedingt sind und einen rein völkischen, insbesondere antisemitischen Charakter tragen.“219 Damit könne sie als demokratische Institution für die Republik aufrechterhalten werden, die in Zukunft als Reservoir treuer Diener den Staat stütze. Doch das Einladungsschreiben des Vorstandes stimmte ihn eher skeptisch. „Das Programm bietet kein tröstliches Bild.“ Zudem stehe die Veranstaltung unter der Leitung von ausgesprochen völkisch eingestellten Parteipolitikern, die nicht mal mehr selbst Studenten sind. Ebenfalls für ein Referat eingeladen, war Ottmar Spann mit einem Vortrag über Den wahren Staat, den Olden als „unklaren völkischen Romantiker“ qualifizierte, „dessen wissenschaftliche Qualitäten im umgekehrten Verhältnis zu seinem Einfluß auf die rechtsradikale Jugend steht.“ Inwiefern er Spann an dieser Stelle treffend charakterisierte bzw. welche umfassenden Kenntnisse Olden von seinem Werk hatte, mag offenbleiben. Relevanter erscheint der Hinweis, dass Spann ihm nicht geeignet schien, für eine Demokratisierung der Studentenschaft zu werben oder wie er es nannte, „zu einer Klärung des Nebels beizutragen.“ Keinesfalls dürfe man mit Gleichgültigkeit darauf schauen, welchen Heros sich die Jugend intellektuell zum Vorbild nehme. „Im Interesse der Gesundung unserer akademischen Zustände ist es wünschenswert, daß in den studentischen Kreisen der Einfluß völkischer Wirrköpfe, die Führung durch kindische Berufspolitiker, Wortbrecher und Phrasendrescher ein Ende nimmt.“ Bezieht man Oldens Ausführungen zur Justiz und Richterschaft in die Analyse mit ein, so schließt sich das Bild von der Notwendigkeit einer demokratisierten Ausbildung gesellschaftlicher Eliten, die in der Lage sein müssen, ein reformiertes Strafrecht adäquat anwenden zu können. Im Augenblick sei man davon weit entfernt, sollten sich jene Kräfte in der organisierten Studentenschaft durchsetzen, die all dem widersprechen, für das der linksliberale Olden einstand. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit waren als republikanische Tugenden in der Heranziehung der Jugend für den neuen Staat unverhandelbar. Schließlich begrüßte er es, dass durch die Initiative des preußischen Kultusministers eine Entscheidung und Abstimmung herbeigeführt wurde. Die Studierenden seien zur Abgabe eines eindeutigen politischen Standpunktes aufgerufen. Er selbst positionierte seine Haltung vor der Abstimmung eindeutig, indem er von der derzeitigen DSt. als „Mißgebilde“220 sprach. Sie müsse sich zweifelsfrei zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Republik bekennen, da „staatlicher Schutz und staatliches Vorrecht auf die Dauer denen nicht gewährt werden kann, die staatliche Grundprinzipien nicht achten wollen.“ Große Erwartungen in dieser Richtung hegte Olden nicht mehr.
219 R.O. Wandlung oder Auflösung?, in: Berliner Tageblatt, 15.7.1927 A. Die folgenden Zitate ebd. 220 R.O. Die Unverantwortlichen, in: Berliner Tageblatt, 11.11.1927 A. Die folgenden Zitate ebd.
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6 Berliner Jahre Der Zusammenschluß der deutschen Studenten, Jahrzehnte hindurch ersehnt, und endlich von den Kriegsteilnehmern erkämpft, wird zu Ende sein. Daß dieser Nachwuchs aber mit solchen Irrlehren vergiftet wird, daß er sich auf diese Art belehren und vergiften läßt, das ist weit schlimmer.
So sehr Olden auf die Jugend als künftigen Pfeiler der Demokratie setzte, umso spürbarer blieb seine Enttäuschung, zumal nicht nur aus ihren Reihen der Ungeist des Antirepublikanismus strömte. Auch von Seiten der Professoren würden sie in ihren falschen Ansichten bestätigt und erzogen. Damit vertiefe man den Graben zwischen Volk und Elite. Für Olden war die breite Masse inzwischen demokratischer und republikanischer geworden als die gebildeten und akademischen Kreise. „Das ist der trübe Aspekt, den der Endkampf um die Deutsche Studentenschaft bietet.“ Widerstand gegen den Staat werde absichtsvoll bei jenen erzeugt, die „dann Richter über das deutsche Volk, Lehrer der deutschen Jugend“ werden sollen. Nach der Abstimmung am 30. November 1927 kommentierte er ernüchtert: Es ist kein Zweifel, daß die Mehrheit des akademischen Nachwuchses wirklich demokratischen Grundsätzen ohne Verständnis gegenübersteht, und das ist das wahrhaft Bedauerliche. Die Republik muß ihre Konsequenzen ziehen, muß die Antwort geben, die allein geeignet ist, den richtigen Eindruck auf jener Seite zu machen, wo man auf Schalmeientöne nicht hört und sich gegen gütliche Überredung die Ohren verstopft.221
Vor allem für die berufliche Zukunft darf dies nicht ohne Folgen bleiben. Die Republik habe die Pflicht, bei der Auswahl ihrer Beamten künftig eine genaue Prüfung vorzunehmen, „welche Anwärter geeignet sind, der Republik eine wirkliche Stütze zu sein. Heimlichen Feinden dürfen keine Pfründe gewährt“ werden. Nur ein solches System könne eine Wende erzwingen, davon zeigte sich Olden ernstlich überzeugt. „Das Wunder einer republiktreuen Studentenmehrheit wird plötzlich Ereignis sein.“ Man müsse Sorge tragen, dass die Republik nicht zu „wahrhaft Metternichschen Zwangsregeln“222 greife. Republikanismus dürfe nicht in Isolationismus übergleiten. Zusammenfassend sprach Olden über die Rolle der jungen Akademiker im Staat: Sie seien „das Kreuzlein in Siegfrieds Rücken. Das ist die Tatsache, daß viele, sehr viele alte Korpsstudenten amtliche Macht in der Republik ausüben, und daß auch die jungen Korpsstudenten sich zu ihr drängen.“223 Auch wenn die verwundbare Stelle vermeintlich noch so klein sei, von ihr drohe dennoch die größte Gefahr für die Existenz der staatlichen Ordnung, die, wie aus der Siegfried-Saga entnommen, in ihren Untergang bzw. Tod münden könne. „Die jungen aber müssen sich klar darüber sein, daß Studenten mit ihrer politischen Erziehung nicht Anwärter für den republikanischen Dienst sein können.“ Gewiss gäbe es unter ihnen auch treue Demokraten, doch deren Zahl sei zu gering. Staatliche Stabilität und Freiheit gerate zukünftig in ernste Gefahr, aus der auch die nachwachsende Generation nicht schadlos hervorginge. Der tragische Tag im Leben dieser Jugend, an dem sie mit völkischer Gesinnung und politischer Unmoral erzogen ist, dann der Republik eine halbe, faule Treue, eine niedere Treue schwört, – 221 R.O. Der Spuk ist verflogen, in: Berliner Tageblatt, 1.12.1927 A. Die folgenden Zitate ebd. 222 R.O. Nachruf, in: Berliner Tageblatt, 8.12.1927 A. 223 R.O. Die höhere Treue des S.C., in: Berliner Tageblatt, 27.2.1928 A. Die folgenden Zitate ebd.
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der tragische Tag, er steht klar vor unser aller Augen, und kein Rausch von Worten wird darüber wegtäuschen.
Auf welches konkretes Bedrohungsszenario für die Republik Olden zielte, blieb unbeantwortet. Die Gesellschaft, besonders die parteipolitische, mache es der politisierten Jugend, zumal wenn sie demokratisch gesonnen ist, nicht leicht, heimisch zu werden. Vor allem die liberalen Parteien hätten entscheidend versagt. Die Jugend verlässt die Fahnen der Mittelparteien, ohne dass radikaler Drang sie zu den Flügeln triebe. Sondern Unlust stösst sie in abseitige Ecken, und die Unfähigkeit, von der staatsbürgerlichen Autonomie Gebrauch zu machen. Nur ein grosses, wohnliches Parteihaus, in dem nicht jeder Bewohner ängstlich fragt, was beim Nachbarn vorgeht, in dem durch offene Fenster frische Luft weht und am Portal gastlich Willkommen geboten wird, könnte sie in feste Mauern locken.224
Die Reichstagswahlen vom 20. Mai 1928 endeten mit einer Schwächung der bürgerlichen Parteien. DDP und DVP konnten nicht von den Stimmverlusten der DNVP profitieren. Dieser Trend, so Olden, sei nicht mehr umzukehren, im Gegenteil. Bei den nächsten Wahlen fürchtete er eine Marginalisierung des Liberalismus, der in der parteipolitischen Spaltung seine Ursache habe. „Überall wirkt Vereinzelung abstossend, und nur eine grosse Partei ist anziehend. Wenn die Entwicklung weiter in diese Richtung geht, so werden die nächsten Wahlen verstärkt zeigen, was bei den letzten zutage trat.“ Gut drei Jahre später war eingetroffen, was Olden stets befürchtete. Die Republik habe eine Führungselite herangezogen, die diametral den demokratischen Grundsätzen entgegenstehe. Die Universitäten bildeten Staatsfeinde auf Kosten des Staates aus225, die wiederum ihrerseits eine weitere junge Generation zu Gegnern der Republik erziehe. Mit Erschrecken müsse man konstatieren, dass es niemanden gäbe, der dem mit Mut, Initiative, Gläubigkeit, aber auch Strenge begegne. Ein Aufbäumen gegen diese Entwickelung konnte Olden 1931 nicht mehr feststellen. Diese Schwäche werde zur Gefahr, wobei es selbst den Universitäten an überzeugten Demokraten mangelte. Vom Ideal der Volksbildung einer breiten Masse zur liberal-demokratischen Gesinnung kann nicht mehr die Rede sein. Die Not der arbeitenden Bevölkerung werde verhöhnt durch den Übermut der Akademiker. Diese Spaltung der Gesellschaft sei sträflich. Beispielgebend für das, was Olden zuvor nur beschrieben hatte, wurde 1931 der Fall Gumbel. Sein Liga-Kollege und pazifistisches Vorbild erhielt im August 1930 eine außerordentliche Professur an der Universität in Heidelberg. Als vorheriger Privatdozent wurde er mehrfach bei der Besetzung derartiger Stellen übergangen. Die Ernennung führte auf Seiten der Fakultät und der Studenten zu heftigen Protesten. Der NSDStB rief in Zusammenarbeit mit der DNVP und dem Stahlhelm zahlreiche studentische Verbindungen zu einer großen Protestveranstaltung am 7. November 1930 in der Stadthalle von Heidelberg auf. Auch im Lehrkörper der Hochschule war die Abneigung gegen Gumbel nicht gering. Nur drei Professoren lehnten den 224 R.O. Baut ein neues Haus, in: Berliner Tageblatt, 8.7.1929 A. Folgendes Zitat ebd. 225 Vgl. R.O. Staatsfeinde auf Staatskosten, in: Berliner Tageblatt, 1.7.1931 A.
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Aufruf unter dem Hinweis auf die Autonomie der Universität und der Wissenschaftsfreiheit ab. Angriffe auf Dozenten wegen ihrer politischen Gesinnung könnten nicht toleriert werden, so die Aufforderung an den Senat der Universität. Auf eine öffentliche Gegenerklärung verzichtete man aber. „Gleich zu Beginn der von fast 2000 Bürgerinnen und Bürgern, Studentinnen und Studenten besuchten Protestversammlung erklärte ein Korporationsstudent in aller Klarheit: Der Protest [gilt] nicht so sehr der Person, denn diese ist für uns nichtig, sondern dem System.“ Sein Name stehe für den Verrat des deutschen Volkes und für eine „seelische Verseuchung“226. Sozialistische Studenten, die Gumbel verteidigen wollten, erhielten nicht das Wort und mussten unter Drohungen den Saal verlassen. Am 25. November fand eine weitere Protestkundgebung statt, zu der erneut zahlreiche Besucher erschienen. Fehlende Solidarität mit Gumbel durch die Fakultät und den Senat der Universität gaben den Nationalisten weiter Ansporn. Studentische Redner hielten an den Hassaufrufen gegen den ungeliebten Professor fest, sodass im Herbst 1930 die Lage eskalierte und das Ministerium im Januar 1931 die Auflösung der verfassten Studentenschaft beschloss. Es kam zu nicht gekannten Ausschreitungen mit Besetzung und polizeilicher Räumung der Universität; man forderte Gumbels Entlassung, was in Teilen der Dozentenschaft ebenfalls befürwortet wurde. Die Ausschreitungen setzten sich mit ungehinderter Härte fort, als die Polizei Ende Januar das Verbot einer Veranstaltung des NSDStB durchsetzte. Erst als der Hochschulverband Verständnis für diese Art der politischen Meinungsäußerung zeigte, kam es zu einer breiten Solidarisierung mit dem Betroffenen von pazifistischen und sozialistischen Hochschullehrern. „Mehr als 80 von ihnen, darunter die prominentesten wie Albert Einstein, Max Horkheimer, Emil Lederer, Theodor Lessing, Gustav Radbruch, Arthur Rosenberg, Anna Siemsen, Bruno Taut, Friedrich Tönnies und Theodor Wiesengrund (Adorno), protestierten öffentlich.“ Auch die DLM organisierte im April 1931 eine Kundgebung gegen die Reaktionäre an deutschen Hochschulen. Der Fall Gumbel stand im Mittelpunkt. Die Ereignisse in Heidelberg ließen auch Olden in Berlin nicht ungerührt.227 Sein Fall werde zum Sinnbild für die gezielte politische Denunzierung und juristische Verfolgung der Friedensbewegten in der Weimarer Republik, die unnachgiebig diesen Feind bekämpften. Es sei die pazifistische Gesinnung derer, die nicht dem patriotischen deutschen Geist folgen, denen im Kontext der frühen 1930er Jahre jeglicher rechtsstaatliche Schutz fehle. Vom ewigen Frieden nur zu sprechen, sei inzwischen höchst gefährlich für das persönliche Leben. Sich zum Pazifismus zu bekennen, das ist weit ärger in den Augen vieler deutscher Patrioten, als etwa einen Mord begangen zu haben. Im Gegenteil, verurteilte, abgestrafte und geständige Mörder werden von denselben jungen Burschen auf das Höchste gefeiert, die es nicht ertragen können, dass einer sich zum ewigen Frieden bekennt.228
Ob Olden damit persönliche Erfahrungen verband, konnte nicht mehr rekonstruiert werden. Unabhängig davon, entwickelte er ein feines Gespür dafür, welchen Bedr226 Vgl. Jansen (1991): S. 31. Folgendes Zitat ebd., S. 35. 227 Vgl. ebd.: S. 28–35. 228 R.O. Der Fall Gumbel, in: Argentinisches Tageblatt, 3.5.1931. Die folgenden Zitate ebd.
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ohungen die Pazifisten künftig ausgesetzt sein würden. Eine entscheidende Verschiebung im Umgang mit friedenspolitischen Äußerungen habe inzwischen stattgefunden. Seine Worte verhehlten nicht ein Mindestmaß an Frustration ob der klaffenden Lücke zwischen den guten Absichten der internationalen Politik (KelloggPakt) und der gesellschaftlichen Ablehnung dieser Bemühungen in der Republik durch breite Bevölkerungskreise, selbst auf Seiten des akademischen Spektrums. Wenn Olden abstrakt von einer Gefahr sprach, die in diesem Zusammenhang von den universitären Eliten drohe, so meinte er nicht zuletzt die Bedrohung durch einen erneuten Krieg. Seit Jahren sind die deutschen Professoren, und nicht sie allein, damit beschäftigt, den Nationalisten nachzulaufen, die ihnen doch immer wieder davonlaufen. Es ist ein unaufhörlicher Wettlauf nach rechts, rechts, rechts, – keiner kommt an, es gibt anscheinend kein Ziel, es ist unvorstellbar, wie lange das noch dauern soll, und wird nicht früher enden, als bis wir doch wieder Frankreich siegreich geschlagen haben.
In diesem Wettlauf sei der Fall Gumbel nichts anderes als ein weiteres „Attentat auf die Freiheit der Lehre, auf jene berühmte akademische Freiheit, von der sonst dieselben Studenten so viel zu reden pflegen.“ Nur knapp zwei Jahre später war der Lauf endgültig zugunsten eines Führers entschieden, der ihnen im Rausch des nationalen Gefühls das Heil versprach. Für einen Pazifisten mag es rückblickend erstaunlich anmuten, dass Olden der Jugend ausgerechnet einen General zum Vorbild empfahl und große Hoffnungen auf ihn setzte, um die Eliten der Reichswehr mit der Republik zu versöhnen bzw. sie überhaupt zu republikanisieren. Die Rede ist von Wilhelm Groener, dessen Wechsel an die Spitze des Wehrministeriums im Januar 1928 ausdrücklich mit großen Erwartungen begrüßt wurde. In ihm sah er einen ehrlich Bekehrten. „An dem Tage, an dem der letzte Versuch, die Monarchie zu retten, an der Erbärmlichkeit des Monarchen gescheitert ist, an diesem Tage ist er Republikaner geworden.“229 Von Geßler habe er ein Ministerium bzw. eine Armee geerbt, die „innerlich gespalten“ und „moralisch zerrissen“ sei. Man könne es ihm zutrauen, die politisch relevante Aufgabe zu übernehmen, „diese kleine Wehrmacht endlich mit wirklich republikanischem Geist zu erfüllen.“ Damit dies gelinge, brauche man eine andere Art der Rekrutierung. Wie mit Blick auf die Auswahl der Ministerialbürokratie und Beamtenschaft forderte Olden die wehrhafte Republik. Standhaft die Feinde des Staates von Schlüsselpositionen auszuschließen, empfahl er auch hier als Strategie, war sich aber bewusst, dass „praktisch die Wege wohl denkbar sind, auf denen dieses Ziel erreicht werden könnte. Aber es wird langjähriger Arbeit und der größten Energie, dazu einer unerschütterlichen Gesinnungstreue bedürfen, um diese Aufgabe durchzuführen.“ Mit der Ernennung Groeners habe man einen ersten Schritt zu mehr Aufrichtigkeit getan, um die Reichswehr aus dem national-revanchistischen Dunkel ins demokratische Licht zu führen. Rückblickend muss dies als Fehleinschätzung angesehen werden, ging es ihm, in Zusammenarbeit mit Kurt von Schleicher, ab 1928 weiterhin um eine Mili229 R.O. Der neue Wehrminister, in: Argentinisches Tageblatt, 19.2.1928. Die folgenden Zitate ebd.
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tarisierung der Gesellschaft, wenn auch in begrenzter Form, ein Ideal, dass durchaus in weiten Teilen des Offizierkorps auf Zustimmung traf. Man akzeptierte die Republik als politische Realität, nicht zuletzt mit der Hoffnung auf Realisierung der eigenen Ziele. In einer bedingten Zusammenarbeit wollte man den Staat für seine Zwecke benutzen. The militarization of society had two distinct elements: the promotion of military values in society; and the formation of reserve units to circumvent the limits imposed by Versailles. The promotion of military values was a moral project, but the army had more specific ideas about instutionalizing the militarization of society.230
Groener erkannte, dass eine im geheimen ablaufende Wehrhaftmachung nicht nützlich und zielführend war. Es wäre effektiver gewesen, wenn die Regierungen jene Bemühungen öffentlich unterstützt hätten. „The limitations of Versailles meant that the army had to use the civilian administration to carry out the military mission. When Groener and Schleicher had initiated the policy of cooperating with the republic, they saw it as a means of strengthening Germany's military power.“ Aus der Sicht Oldens mag es positiv zu bewerten sein, dass man die Wehrhaftmachung lediglich auf einen Verteidigungs- und nicht auf einen erneuten Angriffskrieg ausrichtete, zumal der neue Minister die grundlegenden Position der Stresemannschen Außenpolitik akzeptierte. Doch die Strategie der bedingten Kooperation hatte in der Krise der frühen 1930er Jahre fatale Folgen, zumindest für jene, die eine pazifizierte Republik anstrebten. Die Reichswehr konnte unter den Bedingungen des Präsidialregimes ihre Forderungen ungehindert durchsetzen. So blieb der Etat für die Armee und Wiederaufrüstung von den Haushaltskürzungen der Regierung Brüning unberührt. Groener ging es weiterhin darum, an Schulen militärisch gefärbten Sportunterricht zu bewerben, um der Jugend die damit verbundenen Werte einzuschärfen.231 Für Olden kam es auf die entgegengesetzten Werte an, die der jungen Generation vermittelt werden sollten, sei es an der Universität oder bei der Reichswehr. Vor allem ab 1929 zeigten seine Beiträge den Versuch, die unheilvolle Wirkung jenes Geistes, der die Jugend weiter wie einen Virus zu befallen drohe, zu beschreiben und sich mit ihm kritisch auseinanderzusetzen. Nur die Demokratisierung der Reichswehr über eine Reform der Wehrfassung könne Abhilfe schaffen. In den vergangenen zehn Jahren, so Olden, kennzeichnete eine große Ungewissheit die Gesellschaft, wie die Armee sich im Falle eines Umsturzes der republikanischen Verfassung verhalte. Bisher könne er keine Anzeichen für einen Vorschlag erkennen, der Reichswehr eine andere Wehrverfassung zu geben, damit sie im Verteidigungsfalle die Staatsform tatsächlich zu schützen vermag. Die Strukturen einer Berufsarmee gefährden tendenziell den Staat. Olden fasste sie als einen „Fremdkörper innerhalb des Volksganzen“232 auf, denn die „besondere militärische
230 Mulligan, in: McElligott (2009): S. 94f. Folgendes Zitat ebd. 231 Vgl. ebd.: S. 92–97. 232 R.O. Das reinste Abbild des Staates, in: Berliner Tageblatt, 2.1.1929 A. Die folgenden Zitate ebd.
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Grundanschauung vom Staat“ neige zur Vernichtung desselben, sodass dessen Geist ausgeschlossen werden muss. Daraus sei folgende Konsequenz zu ziehen: Nicht nur die Wehrprogramme, die in diesem Winter schon veröffentlicht wurden und noch der Veröffentlichung harren, stellen darum die Forderung auf, die Reichswehr in ihrer geistigen Struktur der großen Mehrheit des Volkes denkbar eng anzugleichen. Für die große Mehrheit des deutschen Volkes aber, die heute nicht nur an den Bestand der Republik glaubt, sondern ihn auch will, ist dieses Postulat eine Selbstverständlichkeit.
Nochmals verweist Olden darauf, dass die breite Masse vermeintlich demokratischer eingestellt wäre und die Republik aus voller Überzeugung bejahe. Dem stünden die antirepublikanischen Gesinnungen der Eliten aus Reichswehr, Justiz und Wissenschaft gegenüber, die hauptsächlich in der jungen Generation ihr leicht zu beeinflussendes Publikum fänden. Die Vorschläge zu einer Reform der Wehrverfassung krankten hauptsächlich an einem Punkt, der falschen Auslese. In Bezug auf das Offizierskorps bedeutete dies: Solange nämlich über den Ersatz ausschließlich von den Truppenoffizieren bestimmt wird, droht die schwere Arbeit der Reform undurchführbar zu werden. Beginnt aber die Umstellung nicht bei den Offizieren – und zu ihr genügt die stärkere Berufung aus dem Mannschaftsstande gewiss nicht –, so werden auch gesetzliche Bestimmungen zur Sicherung einer unparteiischen Rekrutierung nicht verfangen. In ruhigen Zeiten wird die Gesinnung einer Armee immer die ihrer Führer und Unterführer sein.
Hinter dieser Problematik trete die Frage, ob eine Berufsarmee oder ein Volksheer zu präferieren wäre, zurück. Die Umstände der Auswahl und Ausbildung waren für Olden eher entscheidend. Die zunehmende Technisierung der Kriegskunst mache große Massenheere ohnehin in naher Zukunft überflüssig. Im Ernstfall eines europäischen Krieges käme es vielmehr darauf an, dass „die Reichswehrangehörigen zu Führern der Massen werden; dass das nicht gelingen könnte, wenn das allgemeine Vertrauen zur Gesinnung der Reichswehr so gering wäre, dafür muss man kaum einen Beweis antreten.“ Der im Augenblick festzustellende Klassengegensatz zwischen der breiten Masse und dem Offizierskorps schwäche die Wehrkraft der Republik. Die Reichswehr stehe volksfremd da und falle als Machtfaktor zum Schutz der Demokratie aus. Das Volk neige ihr längst zu. Damit sei jegliches Vertrauen verspielt. Der alte Standesdünkel habe sich nach 1918 bedauernswerterweise erhalten und vergifte damit die nachfolgende Generation aufs Neue. Ohne die Demokratisierung der Reichswehr wird die Republik nie ganz fest stehen. Ein Heer ist, was ein Offizierskorps ist; es ist kein Volksheer, solange nicht die Offiziere sich aus allen Volksteilen rekrutieren.233
Unter den Bedingungen der neuen staatlichen Ordnung könne es keine „geschlossene Gruppe im deutschen Volkskörper“234 mehr geben, der „mit vollkommen eigentümlichen und scharfen abgegrenzten Begriffen“ der offenen Gesellschaft ge233 R.O. Heer und Offizierskorps, in: Berliner Tageblatt, 25.7.1929 A. 234 R.O. Das deutsche Offizierskorps, in: Berliner Tageblatt, 19.4.1930 M. Die folgenden Zitate ebd.
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genüberstehe. Dennoch habe sie weiterhin enormen Einfluss „auf das Akademikertum, auf die Kaufmannschaft, auf die Gewerkschaften und auf die Sozialdemokratie.“ Die Soziologie des preußischen Wesens bestimme noch immer „den Typus des Deutschen unserer Zeit.“ Im Exil sollte Olden diesen Eindruck in Form seiner Hindenburg-Biographie weiter Ausdruck geben und selbst näher erläutern. In diesem Zusammenhang kommentierte Olden im Sommer 1930 den Vorstoß des ehemaligen Chefs der Heeresleitung, Hans von Seeckt, die Reichswehr als Berufsarmee künftig beizubehalten, auf 200.000 Mann auszudehnen und auf die Wiedereinführung der Wehrpflicht zu verzichten, äußerst kritisch. Ein Volksheer spiegele den Volkswillen wider. Die Kreise um Seeckt misstrauen aber jenem Willen, so Olden. Die Berufsarmee werde zur Abwehr des demokratischen Durchbruchs missbraucht. Der Zustand, den er wieder herbeiführen will, ist der, der in Preussen bis 1806 bestanden hat. Die Umwälzung der Wehrverfassung wurde in dem nächsten Jahr von den grossen idealistischen Soldaten Scharnhorst und Gneisenau durchgeführt, und es war das preussische Volksheer, das 1813 die Franzosen, das 1866 die österreichischen Berufssoldaten und 1870 wieder die Franzosen schlug.235
Seeckt vertrete mit seiner Haltung symbolisch die militärische Reaktion, der es in letzter Konsequenz um die Beseitigung der Weimarer Reichsverfassung gehe. Damit stelle man sich aber gegen die Mehrheit des deutschen Volkes. Trotz dieser historischen Anleihen, blieb offen, ob Olden unter den aktuellen gesellschaftlichen Umständen für die Wiedereinführung der Wehrpflicht eintrat. So kenntnisreich seine Artikel bezüglich der historischen Sachverhalte zu Zeiten der Befreiungskriege gewesen sein mögen, eine eindeutige Folge bzw. Ableitung für die Gegenwart zog er nicht. Vielmehr verstand er es als öffentliche Artikulation einer Alternative zum Geist und zur Gesinnung ehemaliger und aktueller Entscheidungsträger auf Seiten der Reichswehr. Womöglich war ihm bewusst, dass die Siegermächte einer Wiedereinführung der Wehrpflicht und sei sie noch so gut mit Blick auf die demokratische Stabilität der Republik begründet, niemals zustimmen würden. Es ging ihm in dieser Debatte nicht darum, eine eindeutige Stellung zu beziehen. Die schwierige Abwägung aus innen- und außenpolitischen Aspekten hatte ihre Wirkung in seinem zurückhaltenden Kommentar nicht verfehlt. Die Kräfte, die auf eine Umgestaltung des Staates durch den Aufbau einer von demokratischem Geist rein gehalten Reichswehr zielten und im Sinne des aristokratisch gehorsam geprägten Offizierskorps erzogen waren, wollte er klar und deutlich markieren sowie deren Absichten kennzeichnen. Der „schweigende Gehorsam“236 typisiere das Militär. Darauf komme es in der Demokratie nicht an. Der Sozialismus der jungen Offiziere „ist der, den Spengler in Preussentum und Sozialismus dargestellt hat. Nicht das Wahlrecht kann seine Grundlage sein, bei dem jeder gleich viel zu sagen hat, sondern eine tragfähige Führerschicht, die die Aristokratie bilden muss.“ Dies wäre der Kreis, indem man politisch zu diskutieren pflege. Olden wurde nicht müde zu betonen, dass es jene vergiftenden Gedanken waren, die die Ju235 R.O. General Seeckt will Zweihunderttausend Mann, in: Argentinisches Tageblatt, 20.7.1930. 236 R.O. Offiziere, in: Berliner Tageblatt, 26.9.1930 A. Die folgenden Zitate ebd.
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gend gegen den Staat aufbringe. Wie am Ulmer Reichswehrprozess ausführlich darzustellen sein wird, war nicht zuletzt Richard Scheringer ein Produkt dieser Propaganda. Hinzu gesellte sich der Konflikt der Generationen. „Wie soll man es wagen, den Leutnants von heute mit unseren Erfahrungen zu nahen? Wir sind für ihn die Generation, die den Krieg verloren und sich gebeugt hat, das hat uns das Rückgrat gebrochen. Sie aber, die Jugend, ist ungebrochen und darum so viel mehr wert.“ Indem die Republik es versäumt habe, dem tüchtigen Republikaner innerhalb der Reichswehr seinen Platz zu geben, entstand erneut eine homogene Kaste von Offizieren in ihr. An einem Scheringer trage die Gesellschaft insgesamt ihre Mitschuld. Beschweren wir uns nicht über die Jugend, sie hat recht, weil sie Jugend ist. Aber dieser Prozess, so unerfreulich er ist, er hilft zu der Erkenntnis, wie diese militärische Jugend beschaffen ist. Und sie ist nicht in allem so, wie wir es für Deutschland wünschen müssen, so werden wir gut tun, ihr daraus keinen Vorwurf zu machen. Sie ist so, wie die Zeit sie werden liess, – und die Erziehung, die ihr zuteil wird.
Das, was Olden seit der Revolution 1918 öffentlich angemahnt hatte, die moralische Erneuerung der Deutschen durch Umerziehung, musste er 1930 teilweise für gescheitert erklären. Nicht ohne Tragik konstatierte er, dass es ausgerechnet die jungen Eliten waren, die künftig eine Gefahr für die Stabilität der Demokratie in Deutschland darstellten. In Justiz, Wissenschaft und Armee wirkte der antirepublikanische Geist Preußens in einer neuen Generation weiter. Daran trug die Gesellschaft als Ganze eine entscheidende Mitverantwortung, weil sie es erlaubte, dass aus den Hoffnungen der Revolution für die Jugend ein Weg in die politische Sackgasse des Radikalismus wurde. Andererseits „ist die Pazifizierung Deutschlands fortgeschritten, und das ist es, was sie nicht wollen.“237 Die Periode der Stresemannschen Außenpolitik brachte in der Anschauung Oldens diesen Erfolg. Eine Mehrheit der Bevölkerung sei bereit, diesen eingeschlagenen Weg weiter zu gehen, zumindest in der internationalen Politik. Im Inland erzeugten Arbeitslosigkeit, die Regelung der Reichsfinanzen und der Wankelmut des parlamentarischen Regierungssystems neue Herausforderungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und polarisierte das politische Klima. Sich dem als Pazifist und republikanischer Demokrat zu stellen, wurde schwieriger, die politischen Ränder in der Auseinandersetzung extremer. Die liberalen Parteien der Mitte fanden darauf, zum Bedauern Oldens, keine schlüssige Antwort mehr. Die Jugend missbrauchte die historischen Vorbilder des frühen 19. Jahrhunderts für ihre eigenen falschen politischen Zwecke. Nicht Unterdrückung war deren erklärtes Ziel, sondern innere Befreiung als Voraussetzung für äußere Freiheit. „Was heute unter dem Namen Pazifismus den tiefsten Abscheu der Nationalisten hervorruft, das war den Befreiern von 1813 nicht fremd.“238 Auch das gehöre zum Geiste Preußens und spiegelte Oldens eigenen pazifistischen Horizont wieder, dem es wichtig war, die Basis der Republik zu stärken. Was er über die preußischen Reformer schrieb, bildete in seinem zeithistorischen Kontext den Rahmen seines Engagements: 237 R.O. Der ethische Boden, in: Berliner Tageblatt, 29.9.1930 A. 238 R.O. „Wie die Väter...“, in: Berliner Tageblatt, 7.10.1930 M. Die folgenden Zitate ebd.
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6 Berliner Jahre Sie lösten die Fesseln, die das Landproletariat banden, und stellten die Städte auf demokratische Grundlage, ihr unablässiges Bestreben ging darauf, dem König eine Verfassung abzuringen, und eine National-Repräsentation zu schaffen. Sie waren Feinde der Diktatur des Absolutismus, weil sie wussten, dass nur Männer, die ihr politisches Geschick selbst bestimmen, kriegerischen Elan aufbringen können und dass ein Offizierskorps, um führen zu können, im innigsten Einklang mit der Nation stehen muss.
Olden war kein Politiker. Er strebte die Befreiung von den geistigen Fesseln an, wenn auch nur mit der Macht der Feder. Wenn Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein von einem „europäischen Staatenbund“ sprach, disqualifiziere er sich als Vorbild für die Nationalisten der Gegenwart. Mit dem Wechsel in der Leitung der Reichswehr Ende 1930 war der Weg vorgezeichnet, den die Armee künftig nehmen werde. Mit der Ablösung von Wilhelm Heye durch Kurt von Hammerstein-Equord verband Olden die endgültige Abschottung der Armee von der Republik. In seinem Begrüßungsschreiben an die Truppe formulierte Hammerstein: „Ich habe das Amt des Chefs der Heeresleitung angetreten. Ich werde dem Heer seinen nationalen Schwung, seine innere Geschlossenheit, seine Disziplin und seinen kriegerischen Geist erhalten.“239 Für Olden klang diese Äußerung „wie ein Kanonenschuss.“ Symbolisch stehe jener Satz für den Geist, der in der Reichswehr wieder Einzug halten solle. Mit Hammerstein werde die ideologische Homogenität zwischen Heeresleitung und Offizierskorps wiederhergestellt, die zuvor unter Heye nicht mehr existierte. Er hat einmal in einer Rede bei der Eröffnung der Dresdener Infanterieschule ein sehr deutliches Wort gesprochen: wer sich der Republik nicht anpassen wolle, der könne gehen. Aber dieser Energieaufwand gegenüber den Feinden der Republik hat ihm die Anerkennung des Offizierskorps nicht eingebracht. Er galt nun einmal für weich, für schlapp, was der schlimmste Fehler in den Augen der preussischen Offiziere ist.
Die Worte Hammersteins kämen dem Nahe, was Scheringer während des Hochverratsprozesses in Leipzig äußerste. In der gegenwärtigen Lage, so Olden, käme es mehr denn je auf die Haltung der Reichswehr zugunsten der Republik an. „Die Regierung wird vielleicht darauf angewiesen sein, die unbedingte Zuverlässigkeit der Armee zu erproben.“ Unter dem neuen Chef der Heeresleitung sei diese keineswegs gewiss. Doch er sollte sich täuschen. Mag der General in seinen Antrittsworten semantisch Anleihe bei den Ulmer Putschisten genommen haben, seine Amtsführung verrate einen anderen Kurs, als er im Mai 1931 einen Erlass für junge Offiziere herausgab, der politische Leitlinien für die Unterrichtung der Offiziersanwärter enthielt. Hammerstein schrieb darin, dass jedem Soldaten bewusst sein müsse, dass die Armee keinesfalls ein Sonderleben innerhalb des Staates führen dürfe. Sie solle lebendiger Bestandteil der Gesellschaft sein. Dies fand die uneingeschränkte Unterstützung Oldens. Man weiss, dass wir nicht selten fanden, die Reichswehr gleiche in ihrer Zusammensetzung und Haltung nicht genug dem Volksganzen. Aber der Gedanke des Generals, auch nur als Wunsch empfunden und weitergegeben, als Leitgedanke für die Zukunft, lässt Günstiges und 239 R.O. Der Wechsel in der Reichswehrleitung, in: Argentinisches Tageblatt, 7.12.1930. Die folgenden Zitate ebd.
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Heilsames erhoffen. Uns scheint der Chef der Heeresleitung im Ganzen auf dem richten Weg zu sein, auf dem Weg der Vernunft und des gesunden historischen Verständnisses.240
Beide teilten die Ansicht, dass die Reichswehr das Werkzeug und nicht Träger der Politik sein kann. Einige unverbesserliche junge Offiziere konnte dies nicht beeindrucken, wie der Ulmer Reichswehrprozess ein Vierteljahr zuvor eindrucksvoll belegte. Der Prozess wegen Hochverrates gehörte zu den wichtigsten innenpolitischen Ereignissen der Republik. „Einerseits beleuchtet er schlaglichtartig das Wiederaufleben der seit 1924 für tot gehaltenen nationalsozialistischen Bewegung, andererseits spiegelt sich in ihm das Verhältnis der Reichswehr zur NSDAP.“241 1929 gab es von Seiten einiger junger Offiziere den Versuch einer Annäherung. Während des Kapp- und Hitlerputsches trugen sie einen innerlichen Konflikt zwischen Pflichtbewusstsein der Armee gegenüber und ihrer eigenen politischen Neigung aus. Dies wollte man künftig dadurch vermeiden, dass frühzeitig Verbindungen zu nationalen Verbänden gesucht werden sollten. Besonders drei Angehörige des Ulmer Artillerieregiments Nr. 5 waren in dieser Angelegenheit sehr umtriebig: Leutnant Richard Scheringer und Hans Ludin sowie Oberleutnant Hans Friedrich Wendt, alle wenige Jahre nach der Jahrhundertwende geboren. Im Frühjahr 1929 erörterten sie intern die Lage der Reichswehr als Instrument pazifistischer Parteien. Frühe Versuche, weitere Personen als Unterstützer zu gewinnen, schlugen fehl, eine Zusammenarbeit mit dem Stahlhelm kam nicht zustande. Ihre Vorstellungen von einem nationalen Befreiungskampf, der unbedingt mit der Reichswehr zu führen sei, liefen ins Leere. Die Annahme des Young-Plans im Mai 1929 eröffnete völlig neue Möglichkeiten für die drei Ulmer, da ihn die rechten Kreise gänzlich ablehnten und einen Volksentscheid darüber anstrebten. Aus Besorgnis darüber, dass dieser mehrheitlich keine Zustimmung finde, nahmen die drei gezielt Kontakt zur NSDAP auf. Vor allem zur Ortsgruppe in Ulm knüpften Scheringer und Ludin enge Beziehungen. Mit Gewalt wollte man die Geißelung durch den Versailler Vertrag beenden und das Vaterland befreien. Die Armee sei verpflichtet, die Wehrhaftigkeit der Gesellschaft zu stärken. Die Ulmer zielten auf den Sturz der verfassungsmäßigen Regierung unter tätiger Mithilfe der Reichswehr, während die führenden Figuren der Nationalsozialisten, mit denen sie im Austausch standen, vorgaben, ihre Ziele auf legalem Wege zu erreichen. Zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung dürfe die Armee niemals eingesetzt werden. Vor allem Wendt oblagen künftig die Rekrutierungsreisen. Weil man glaubte, die Kommunisten könnten die Reichswehr politisch untergraben, schlug Scheringer als Gegengewicht den Aufbau nationalsozialistischer Zellen unter den Offizieren vor. Die Bildung jener Zellen trieb man systematisch voran. Eine rege Reisetätigkeit in andere Garnisonen setzte ein, um weitere Offiziere für ihren Plan zu gewinnen. Es zeigte sich eine erstaunliche Übereinstimmung zu der Einschätzung Oldens, dass die Gesellschaft friedliebender geworden sei. Auch Ludin und Scheringer nahmen eine erhebliche wehrfeindliche Einstellung in großen Teilen des Volkes wahr. 240 R.O. Politische Leitgedanken für junge Offiziere, in: Berliner Tageblatt, 14.5.1931 M. 241 Bucher (1967): S. 1. Folgendes Zitat ebd., S. 27.
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6 Berliner Jahre Die Behauptung der vaterländischen Kreise, die Reichswehr sei eine linksgerichtete Organisation ähnlich dem Reichsbanner wollte Ludin widerlegen durch eine Fühlungnahme von Reichswehroffizieren mit Vertretern der rechtsstehenden Parteien und Verbände, vor allem mit der NSDAP. Die Aktionen beider sollten aufeinander abgestimmt werden.
Keinesfalls darf es in Zukunft wieder zum Konflikt mit ihnen kommen. Hauptsächlich die jungen Offiziere müssten sich zusammenschließen, um einen Anschluss an die Vaterländischen zu realisieren. Nur so könne der nationale Gedanke in der Reichswehr selbst gerettet und gestärkt werden. Zwar forderten sie eine geistige Erneuerung des deutschen Volkes, allerdings mit Blick auf einen aktiven Nationalismus. In diesem Geist müssten die Mannschaften und Offizierseinheiten erzogen werden. Die Reichswehr habe die Pflicht, im Falle eines Bürgerkrieges, den Staat auf Seiten der Nationalisten in ihrem Sinne umzustürzen. Unter diesem Zweck konspirierte man mit den Nationalsozialisten, da deren Wehrprogramm ihren Vorstellungen am nächsten stand. Die Verhältnisse innerhalb der Armee empfand man als verwahrlost. Die Aktivitäten der Ulmer blieben natürlich nicht unbemerkt. Untersuchungen innerhalb der Reichswehr waren die Folge.242 Das Bataillonskommando wurde am 2. Dezember 1929 von Scheringers Ideen informiert. Jedoch sah man sie nicht als den Versuch einer Zellenbildung zugunsten der NSDAP innerhalb der Reichswehr, sondern lediglich als einen Verstoß gegen die militärische Disziplin. Scheringer als Kopf der Gruppe erhielt ausschließlich Redeverbot, wurde aber nicht festgenommen. Bei Vernehmungen stritt er entschieden ab, einen gewaltsamen Sturz der Regierung geplant zu haben. Scheringer gelang es glaubhaft zu versichern, dass er keinerlei Kontakt zu irgendeiner politischen Partei hergestellt habe. Intern sah man die Angelegenheit mit der Verhängung von drei Tagen Stubenarrest als erledigt an. Mit einer Ermahnung und Belehrung aller Ulmer Offiziere wurde der Sachverhalt abgeschlossen, vorerst.243 Weitere Aktenvermerke ließen bald erkennen, dass nicht nur Scheringer und Wendt, sondern auch Ludin verwickelt waren. Die Ermittlungen wurden sofort wieder aufgenommen, sodass am 25. Februar 1930 der Fall an die Reichsanwaltschaft übergeben wurde. Groener, in seiner Funktion als Reichswehrminister, stellte den Antrag, ein Verfahren wegen der Vorbereitung zum Hochverrat einzuleiten. Am 6. März 1930 beantragte man einen Haftbefehl gegen Scheringer, Ludin und Wendt. Eine Woche später erfolgten die Festnahmen. Die Hauptverhandlung vor dem IV. Strafsenat des Leipziger Reichsgerichts begann am 23. September 1930. Wie in den unzähligen Fememord-Prozessen zuvor, berichtete auch in diesem Fall Olden für das Berliner Tageblatt.244 Man müsse den Vorgesetzten zum Vorwurf machen, dass sie Ludin und Wendt unter den Einfluss von Scheringer haben geraten lassen, da dessen politische Überzeugungen eine Gradlinigkeit angenommen hätten, „die man populär Sturheit nennt. Alles ist klar und einfach: man muss den Vertrag von Versailles kündigen, den Young-Plan zerreissen, die Reparationen nicht weiter bezahlen, und wozu hat 242 Vgl. ebd.: S. 15–37. 243 Zu den näheren Umständen der militärischen Untersuchung: Vgl. ebd.: S. 38–46. 244 Zur Hauptverhandlung: Vgl. ebd.: S. 60ff.
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man Gewehre und Kanonen, wenn man nicht mit ihnen schiessen soll?“245 Die Aussagen der geladenen Zeugen am zweiten Verhandlungstag entlarvten für Olden endgültig den Geist, der innerhalb der Reichswehr bei den jungen Offizieren herrsche. Oberleutnant Geist schilderte ein Gespräch, das er mit Scheringer über Fragen der Weltanschauung führte. Auch Oberleutnant Häfker ging auf die Erörterung einer Denkschrift, die von Scheringer verfasst wurde, ein. In seiner Aussage kam die weitverbreitete Unzufriedenheit und der Gewissenskonflikt über die Zustände innerhalb der Armee zum Ausdruck. Die alte Gesinnung blieb spürbar. Zwar gaben beide an, nichts über die Verbindungen der Angeklagten zur NSDAP gewusst zu haben, der „alte Soldatengeist“246 war aber auch ihnen eigen. Sowohl die genannten Zeugen als auch die Ulmer lehnten das soldatische Beschwerderecht ab und forderten eine uneingeschränkte gesinnungsgemäße Gehorsamspflicht aller ein. In der Konsequenz ihrer Theorie könne „der wahre Schutz des Vaterlandes in einem Angriff auf die Regierung und also auf die Verfassung bestehen.“247 Damit seien die Probleme beschrieben, die mit einer Berufsarmee verbunden sind, so Olden. Aufgrund ihrer Abgeschlossenheit könne man in der Gesellschaft nur wenig über ihre internen Vorgänge und Denkweisen erfahren. „Mehr frische Luft müsste, der Eindruck bleibt, unbedingt in das Offizierskorps hineinblasen.“ Ihre Vorstellungswelt, die der Prozess zutage förderte, offenbare keinen Zweifel, wie das junge Offizierskorps eingestellt ist. Ihre politische Terminologie ist ohnehin nicht ohne weiteres der allgemein gültigen gleichzusetzen. Wenn sie parteipolitisch sagen, so hat das einen Beigeschmack, es bezeichnet ein Übel. Man erfährt aber gleich drauf, dass damit links gemeint ist. Sagen sie vaterländisch, so ist das lobend. Gemeint ist aber rechts. 248
Vor allem mit Hitler verbänden sie ihre glühende Vaterlandsliebe. Den Demokraten und Sozialisten spreche man dies in diffamierender Weise ab. Ihre Werbereisen an die verschiedenen Standorte waren nicht dazu gedacht, um sich gegenseitig ihre politische Haltung und Weltanschauung zu bestätigen. Der IV. Strafsenat verurteilte die Angeklagten am 4. Oktober 1930 zu je einem Jahr und sechs Monaten Haft. Aus der Reichswehr wurden Scheringer und Ludin entlassen. Die Kammer sah den Beweis als erbracht an, dass sie im Glauben an den baldigen Umsturz der Regierung durch die NSDAP daraufhin arbeiteten, Teile der Reichswehr zu veranlassen, nicht mit Gewalt gegen die Nationalsozialisten vorzugehen. Die Vorbereitung zum Hochverrat sei erwiesen.249 Olden kommentierte: Dieses Urteil war nach dem Gesetz geboten, und es war notwendig, um die Klarheit über die Pflichten der Reichswehrangehörigen wiederherzustellen. Diese Klarheit muss bestehen, wenn der Staat bestehen soll; wollte der Staat darauf verzichten, sie mit dem Ganzen Gewicht, das ihm innewohnt, zu stabilisieren, so gäbe er sich selbst auf. 250
245 246 247 248 249 250
R.O. Offiziere vor dem Reichsgericht, in: Berliner Tageblatt, 24.9.1930 M. Bucher (1967): S. 68. R.O. Zeugen-Aussagen in Leipzig, in: Berliner Tageblatt, 25.9.1930 M. Folgendes Zitat ebd. R.O. Heimliche „Werbereisen“, in: Berliner Tageblatt, 27.9.1930 M. Vgl. Bucher (1967): S. 110–113. R.O. Ulmer Offiziere wegen Hochverrat verurteilt, in: Berliner Tageblatt, 4.10.1930 A. Folgendes Zitat ebd.
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Für einen Soldaten der Republik kann es keinen Widerspruch zwischen dem Schutz des Vaterlandes und der Verfassung geben. Beides gehöre zusammen, ansonsten muss er aus dem Offizierskorps entfernt werden. Diesen vermeintlichen Konflikt nahm Olden als konstruiert wahr. Man habe lediglich versucht, einen Vorwand zu finden, um die Legitimität der Republik zu leugnen. „Wer die Volkssouveränität nicht anerkennt, der ist mit dem Soldateneid zerfallen.“ Das Urteil habe ein gerechtes Strafmaß für die Verschwörer gefunden, zumal in der Rechtsprechung gegen Kommunisten der Tatbestand des Hochverrats massiv ausgelegt wurde. „Zum ersten Mal seit zehn Jahren ist der Schleier zerrissen, der das unbekannte Bild der Reichswehr deckte.“251 Eine Änderung ihrer Einstellungen erwartete Olden durch das Urteil nicht. Der Prozess zeigte eindeutig ihre ablehnende Haltung gegenüber der parlamentarischen Demokratie. Nicht zuletzt darum widmete sich Olden in seinem journalistischen Kommentieren jenem Teil der Weimarer Gesellschaft. Die Ulmer als Repräsentanten der Jugend standen für punktuelle inhaltliche Schnittmengen mit den Nationalsozialisten, denen er kämpferisch gegenüberstand. Die Befreiung Deutschlands vom Joch Versaillers, die Wiederwehrhaftmachung des Volkes und der Schutz der Reichswehr vor pazifistischen Angriffen und sozialistisch-marxistischen Unterwanderungen bestimmten die politische Konformität zwischen den Offizieren und der Führung der NSDAP, wenngleich es Abgrenzungspunkte gab. Olden ging es weniger um die Frage, ob Scheringer, Ludin und Wendt überzeugte Nationalsozialisten wahren. Wichtiger erschien ihm die Konsequenz, die ihre Ansichten und Forderungen für den Fortbestand der Republik und Demokratie als solche hätten und welchen Einfluss sie auf die junge Generation ausüben konnten, in die Olden seine Hoffnung für eine stabile politische Ordnung setzte. Hier offenbarten sich weitaus größere Bedenken. Rassistische Implikationen zeigten ihre Postulate nicht, aber die Reichswehr sollte als Schild und Schwert der Nationalisten die linksgerichtete Erfüllungspolitik der Regierung endgültig im Verbund mit allen nationalistischen Organisationen beiseitedrängen. Ob dies unter Mithilfe des Stahlhelms oder der Nationalsozialisten gelinge, war sekundär. Der Pazifist Olden, sich in der Tradition Rathenaus wähnend, sah dem mit Blick auf den Frieden in Europa mit ernsten Sorgen entgegen, zumal „die von den Angeklagten geäußerten Gedanken und Beschwerden von den in der Hauptverhandlung des Leipziger Reichswehrprozesses gehörten militärischen Zeugen ausnahmslos unterstützt wurden.“252 Der gewaltsame Sturz der Regierung durch Teile der Armee müsse verhindert werden, gleich welchen politischen Ideologien sie anhängen mögen. Vielfach wurde in der Erforschung des Ulmer Reichsprozesses darauf verwiesen, dass „der Generationsunterschied sich ausgewirkt habe, der sich in dem Verhältnis zwischen den Vorstellungen des jungen Offizierskorps und der Politik der Reichswehrführung bemerkbar gemacht habe.“ Zurecht fügte man den Einwand hinzu, auch ältere Offiziere hätten im Prozess offenbart, deren Vorstellungswelten zu teilen. Allerdings läuft jener Hinweis in der Beurteilung von Oldens Positionen ins Leere. Ihm ging es im Allgemeinen um die Beschreibung und Schilderung einer 251 R.O. Die Flöte des Leutnants, in: Argentinisches Tageblatt, 26.10.1930. 252 Bucher (1967): S. 137. Folgendes Zitat ebd., S. 138.
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nationalistisch politisierten Jugend, auch innerhalb ihrer eigenen Verbände, die ihre Demokratie vergiftenden Ansichten an Universitäten und im Umgang mit unliebsamen Dozenten glaubten ausleben zu müssen. Wichtiger war ihm der Vergleich mit der unmittelbaren Nachkriegsgeneration und deren Umgang mit den gesellschaftlichen Herausforderungen, auch wenn an diesem Punkt eine idealisierende Rückschau seine Positionen prägte. Die politische Wandlung der jungen Generation weckte die Aufmerksamkeit Oldens, da sie als künftige Elite den Staat und die Gesellschaft auf allen Ebenen zu tragen habe. Man dürfe es nicht zulassen, wenn innerhalb der Armee sich Kreise bilden, die bereit sind, eine amtierende Regierung nur deshalb gewaltsam zu entfernen, weil sie nicht den eigenen ordnungspolitischen und nationalen Vorstellungen entspricht. Demokratische Partizipation erfolge über den Stimmzettel und nicht über Waffengewalt. Auch das sei ein Teil des Erziehungsauftrages des demokratisierten Staates gegenüber seiner Jugend, der sträflich vernachlässigt wurde und sich zur Gefahr für den Bestand der Republik als solcher auswachsen könne. Der Nationalsozialismus in Gestalt Hitlers warte nur darauf, aus dem ideologischen Dickicht heraus, den eigenen Machtanspruch mit Hilfe jener gesellschaftlicher Eliten zu manifestieren.253 Die Beziehung zwischen Scheringer und Olden war keineswegs beendet. Nachdem das Gnadengesuch abgelehnt war, überführte man den Anführer der Ulmer in die Festung Gollnow, wo er seine Haft Ende Oktober 1930 antrat. Dort waren zahlreiche Kommunisten inhaftiert, denen es bald gelang, den jungen Mithäftling ideologisch zu beeinflussen. Zwar unternahm er aus der Haft heraus noch einmal eine Reise nach Berlin, um den Kontakt mit der NSDAP wieder aufzunehmen, doch das Treffen enttäuschten ihn. Über die Rede eines kommunistischen Reichstagsabgeordneten erklärte er am 19. März 1931 offiziell, mit der NSDAP gebrochen und sich der KPD angeschlossen zu haben. „Und so erlag der Reichswehrleutnant wieder der Verführung.“254 Selbst nach diesem Gesinnungswechsel blieb er politisch aktiv, indem er zahlreiche Zeitungsaufsätze verfasste, was man mit verschärften Haftbedingungen sanktionierte. Unbeeindruckt setzte er sein Engagement fort, sodass von Seiten des Oberreichsanwalts am 15. Februar 1932 erneut Anklage erhoben wurde. Vom 7. bis 11. April fand die Hauptverhandlung statt. Olden übernahm u.a. die Verteidigung Scheringers, was weder mit persönlicher noch politischer Verbundenheit zu erklären war, hatte er ihn zuvor als einfältig und stur beschrieben. Seine gewonnenen kommunistischen Überzeugungen vermochte Olden nicht zu teilen. Aber seine Lossagung von den Nationalsozialisten sei respektabel. Es läßt sich manches vorbringen gegen den frischgebackenen Marxisten, dem das mehr konfektionierte als angemessene kommunistische Gewand gar so gut paßt. Anders als einfach wird das Weltbild nie sein, das sich in diesem Kopfe malt. Aber darüber hinaus ist das ein ganzer Kerl, den Respekt kann ihm nun niemand mehr versagen. 255
Zunächst mag dies ein Grund für die Übernahme der Verteidigung gewesen sein. Gewichtiger war, dass Olden die Anklage für politisch motiviert ansah. 253 Vgl. ebd.: S. 137–141. 254 R.O. Die Wandlung des Leutnants Scheringer, in: Berliner Tageblatt, 20.3.1931 A. 255 R.O. Zweimal Scheringer, in: Tage-Buch, 16.4.1932, S. 597f.
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Ihm gelang es zu belegen, dass Scheringer keinesfalls direkt mit Angehörigen der Reichswehr Absprachen traf und kommunistische Propaganda betrieb. Der Vorwurf der Zersetzung sei obsolet. Trotz seines Bekenntnisses zur KPD war er niemals Mitglied noch Funktionär dieser Partei. Erst dann hätte eine Anklage wegen Vorbereitung zum Hochverrat überhaupt erfolgen dürfen. Vielmehr müsse sein Einsatz für den Kommunismus als Lösungsansatz gewertet werden, die sozialen und nationalen Probleme der Republik zu lösen. Jeder Bürger habe das verfassungsmäßig verbriefte Recht auf freie Meinungsäußerung. Das Gericht folgte dem in seinem Urteil nicht. Der bloße Vorsatz sei in diesem Falle ausreichend. Scheringer wurde zu zwei Jahren und sechs Monaten Festungshaft verurteilt. Wieder einmal war der Beleg einer einseitigen Rechtsprechung zulasten linker Angeklagter erbracht. Die Gesinnungsjustiz habe im Falle des Kommunisten Scheringer ihre hässliche Fratze erneut zum Vorschein gebracht, während man Hitler und seinem Legalitätsversprechen gerne Glauben schenkte.256 Der Fall der Ulmer Offiziere weist grundsätzlich noch auf ein anderes Phänomen hin, das Olden indirekt mit ihm verband, nämlich auf das Verhältnis von Armee und Politik in Zeiten der ersten Republik. Ausgehend von der Phase der Revolution um 1918/19 fällt auf, dass die Armee nicht bereit war, für die alte Ordnung zu streiten, sich aber auch nicht eindeutig auf die Seite der Revolutionäre stellte. Zwar löste sie sie aus, aber die Folge war die Spaltung der Truppe in kaisertreue und revolutionäre Gruppen. Ein restaurativer Versuch zur Verteidigung der alten Ordnung fand nicht statt. Mangels eigener politischer Konzepte nahm man weder mäßigend noch verschärfend Einfluss auf die Geschehnisse. „So ging die Armee vorläufig jeder Subordination im Sinne des Primats der Politik verlustig.“257 Sie wurde zum passiven Machtfaktor. Man begann „rein militärspezifische Ziele entsprechend dem traditionellen Militarismus wie die Sicherung ihrer Sonderstellung in einer neuen Staatsordnung“ zu formulieren. Olden erkannte früh, welches Eigenleben die Reichswehr von Anbeginn an führte, führen wollte. Die Gefahr einer autonomen Organisation des Militärs für die Demokratie trieb ihn in all seinen Beiträgen um, zielte die OHL auf die Gestaltung der Armee und nicht auf die der staatlichen Ordnung. Gleichzeitig bildeten der Rat der Volksbeauftragten und die zahlreichen Arbeiter- und Soldatenräte rivalisierende politische Machtzentren. Vor die Frage gestellt, Republik oder Rätesystem ging man ein Bündnis mit der provisorischen Regierung ein. Militärisch lieferte man Unterstützung bei der Niederschlagung des SpartakusAufstandes; als Gegenleistung wurde der Aufbau eines Volksheeres verhindert. Das Konzept der Hamburger Punkte zur Umgestaltung der Armee hatte keinerlei Folgen. So wurde aus dem anfänglichen Gegensatz von Politik und Militär am Ende des Ersten Weltkrieges ein Nebeneinander in der Phase der Revolution und schließlich ein Bündnis von Ebert und Groener. Daran, so zeigten die Beiträge Oldens, krankte das Verhältnis zwischen Militär und Politik entscheidend bis ans Ende der Republik, an dem nationalistisch eingestellte junge Offiziere den Staat an die rech256 Vgl. Bucher (1967): S. 130–137; Scheringer (1979): S. 216ff. 257 Dietz (2011): S. 207. Die folgenden Zitate ebd., S. 208 und S. 209.
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ten Extremisten zu verraten bereit waren. Es waren pazifistische Stimmen, wie die seine, die mahnend die Etablierung einer demokratisierten Armee, womöglich sogar durch die Wiedereinführung der Wehrpflicht, einforderten. Mit dem Aufbau der Reichswehr und ihrer Zuordnung zum Reichspräsidenten wurde im März 1919 eine schrittweise Subordination vorgenommen. Zwar war sie wie zuvor dem Staatsoberhaupt unterstellt, doch sicherte der Reichswehrminister eine parlamentarische Verantwortung. „Eine Integration in den neuen Staat fand in der revolutionären Phase nicht statt. Militär- und Zivilgesellschaft schieden sich deutlich voneinander.“ Es war diese Entwicklung, auf der die Positionen Oldens aufsetzten und in Gestalt der Fememorde oder des Ulmer Reichswehrprozesses kritisch kommentiert wurden. Das Ideal eines Staatsbürgers in Uniform war Scheringer, Ludin und Wendt gerade nicht. Ohne es zu wollen, blieben monarchistische Traditionen bestehen, die sich am Ende der 1920er Jahre mit einem ideologischen Radikalismus, gerade auf Beitreiben einer jungen Generation, mischten und die Republik an den Abgrund führte. Die Unterordnung des Militärs unter die zivile politische Führung verlor durch das Präsidialregime seine Grundlage. Das Bild, welches heute die Forschung zum Teil bestimmt, geht davon aus, dass die „Entwicklung der Armee zum Staat im Staat bereits 1919“ begann und konstant blieb. Dies scheinen die Beiträge Oldens auf den ersten Blick zu bestätigen, da nach dem Ersten Weltkrieg nicht das Militär neu aufgebaut wurde, sondern der Staat. Er empfand und schilderte dies in seinen Artikeln. Gleichzeitig waren es die politischen Eliten, die die militärische Wiederaufrüstung anstrebten und forcierten. Trotz des Machtvakuums in der zivilen Leitung der Reichswehr gab es in Gestalt der Sozialdemokratie Kräfte, die eine Wehrhaftmachung der deutschen Gesellschaft postulierten. Die These der bellizistischen Republik258 stellte entscheidend den Ansatz vom Staat im Staate in Frage. Lassen wir in den folgenden Ausführungen einen Zeitzeugen zu Wort kommen, der auf pazifistischer Basis den Versuch der Aufrüstung und dessen Folgen journalistisch begleitete und kommentierte. Dem ungeachtet bleibt festzuhalten, dass die Reichswehr einerseits eingefügt war in die Staatsorganisation Weimars, andererseits nie zum integralen Bestandteil wurde.259 6.2.2 Wehrhaftigkeit und Pazifismus: Republikanische Aufrüstung Als am 23. März 1933 der Reichstag dem Ermächtigungsgesetz zustimmte, war das Ende der Republik besiegelt. Der historische Schlagabtausch zwischen dem wenige Monate zuvor ins Amt des Reichskanzlers gekommenen Adolf Hitler und Otto Wels als Vorsitzendem der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion galt als letztes Aufbäumen der Demokratie. Für die SPD verurteilte Wels den Terror der Nationalsozialisten, der seit dem 30. Januar in Deutschland Einzug gehalten hatte. Die in die Opposition verbannte Partei, so der Vorsitzende, sei trotz ihrer Wehrlosigkeit nicht ehrlos. Dem entgegnete der Kanzler mit dem Vorwurf, dass sie genügend Zeit 258 Exemplarisch für das folgende Kapitel: Vgl. Bergien (2012). 259 Vgl. Dietz (2011): S. 296f.
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in der Regierung Verantwortung getragen hätte, um das Volk von der Entwürdigung des Versailler Vertrages zu befreien. Er schloss mit der Drohung: „Der Landesverrat konnte von Ihnen genau so beseitigt werden, wie er von uns beseitigt werden wird!“260 Um die Stoßrichtung der Worte Hitlers einordnen zu können, bedarf es einer kurzen Erläuterung, wie im allgemeinen Sprachgebrauch der Zeitgenossen, der Begriff Landesverrat verstanden wurde. „Er bezeichnete Widerstand gegen und Kritik an Geheimrüstung und Wehrhaftmachung.“261 Welche dramatischen Auswirkungen dies im Rahmen der Fememorde hatte, wurde ausführlich dargelegt. Wer kritisch mit der Reichswehr ins Gericht ging, galt auf Seiten der Rechten als Landesverräter. Selbst vor Politikern machte jener Vorwurf nicht halt, wie das Beispiel Philipp Scheidemann zeigte, dem landesverräterische Absichten unterstellt wurden, als er Ende 1926 in einer Rede die Kooperation zwischen dem Militär und der Roten Armee öffentlich machte. DNVP und NSDAP warfen den Regierungen vor, dies nicht verhindert zu haben. Demokratisch ins Amt gekommene Exekutiven brandmarkte man als wehrfeindlich, weil sie diese Umtriebe dulden würden. „Der Vorwurf der Wehrfeindschaft aber war die vielleicht wirksamste jener diskursiven Keulen, mit denen die Rechte die Legitimität der republikanischen Staatsform zu zerschlagen trachtete.“ Damit war das entscheidende Narrativ in der Welt. Selbst nach 1945 hielt es sich. Jenes Geschichtsbild wurde einerseits von den Zeitgenossen in ihren Memoiren als Argument der Rechtfertigung benutzt oder zur Stilisierung der eigenen Gegnerschaft zur Reichswehr und Wiederaufrüstung gefestigt, indem man die wehrfeindliche Republik positiv im Sinne eines Antimilitarismus besetzte. Andererseits trug die Forschung zur Langlebigkeit dieses Bildes bei. Nicht zuletzt die Sonderwegthese ging von einem Dualismus zwischen ziviler Politik und Militär aus. Indem man beide Felder getrennt voneinander bzw. gar als antagonistisch betrachtet, bleibt die Verantwortung für die Aufrüstung einzig dem Militär zugewiesen. Inwiefern die Republik selbst Anteil hatte, wird nicht berücksichtigt. Wehrhaftmachung und Wiederaufrüstung galten (und gelten) also als Projekte der alten Eliten, des Offizierskorps und des nationalen Lagers. Sie besaßen folglich, so bis heute der Konsens in der Forschung, eine dezidiert gegen die Republik gerichtete Stoßrichtung. Den zivilen Eliten der Republik blieb nur die Rolle der entweder kritischen oder aber passiven Beobachter. Das Geschichtsbild von der einerseits wehrfeindlichen, die geheime Rüstung andererseits tatenlos hinnehmenden Republik erwies sich als stabil.
Für was stand die Republik? Für einen Staat, der zwar massiv abgerüstet habe, aber auch für ein Versagen der gesellschaftlichen Eliten, die an der Integration von Militaristen und Revanchisten scheiterte und für die fehlende Bindung der Reichswehr an die verfassungsmäßige Ordnung, also für einen rüstenden Staat im Staate. So bleibt Weimar die schwache Demokratie, die den Vorstellungen einer starken Volksgemeinschaft von Seiten der Nationalsozialisten unterlag. In jenen Deutungsmustern korrespondieren militärische Entwaffnung und Wehrlosigkeit gegen die inneren Feinde der Demokratie miteinander.
260 Hitler, in: Bergien (2012): S. 13. 261 Bergien (2012): S. 14. Die folgenden Zitate ebd. und S. 15.
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Neuere Ansätze sprechen dagegen von einer Bellizität der Weimarer Republik und vertreten die These eines Wehrkonsenses zwischen zivilen und militärischen Eliten in Fragen der Sicherheitspolitik. Manifestiert werde diese anhand der Unterstützung der Aufrüstung durch Staat und Gesellschaft. Die Wehrhaftmachung, so die Annahme, sei ein von allen Lagern getragenes Projekt gewesen, was durch die Umstände des polarisierten politischen Systems erst möglich wurde. Die DFG habe darauf in der Zwischenkriegszeit mit ihren Publikationen hinweisen wollen, zumal der angenommene Konsens stets unterschiedliche Formen zeigte bzw. Ausprägungen fand. „Aus dem republikanischen, auf den Schutz der Republik abzielenden Wehrkonsens der Anfangsjahre wurde ab 1920 ein defensiver, ab 1929/30 schließlich ein offensiver Geheimrüstungskonsens.“262 Die Leitbegriffe, anhand derer sich der Wehrdiskurs gruppierte, waren einerseits Landesverteidigung, andererseits alle mit Wehr- ergänzten Begriffe. Ausgehend von einer kurzen Phase zwischen Oktober und November 1918 hatte der Verteidigungskonsens, der seit Kriegsausbruch die Debatte beherrschte, seine Bindung verloren. Nur kurze Zeit nach dem Zusammenbruch der staatlichen Ordnung hatte sich ein neuer wehrpolitischer Konsens unter dem Primat der Sicherheit herausgebildet. Darin fand der Begriff der Landesverteidigung seine Reaktivierung, die aus innen- und außenpolitischen Bedrohungen gespeist wurde. Selbst nach deren Abklingen, blieb er Leitbegriff, der in dreifacher Definition Verwendung fand. Zunächst war er auf Seiten der Sozialdemokraten das Synonym für eine republikanische Wehrpolitik. Für Paul Levi bedeutete Landesverteidigung der Schutz der Verfassung als Errungenschaft der Massen aus Zeiten der Revolution. Die neue Ordnung sei bedroht und müsse aktiv geschützt werden, notfalls mit militärischen Mitteln. Republikschutz und Landesverteidigung erhielten eine Schnittmenge. Der Begriff wurde ebenfalls zur Vorbereitung der Infrastruktur auf einen künftigen Krieg gebraucht. Vor allem die Fachleute des Militärs beanspruchten diese Verwendungsweise. Letztlich verband man damit ein Synonym für die geheime Rüstung. Als Beleg dient die Denkschrift von Seeckts aus dem April 1923. Unter der Überschrift Fragen zur Landesverteidigung fasste er Maßnahmen zusammen, die eine Wiederaufrüstung unter Umgehung des Versailler Vertrages vorsahen. Zwar ist die Annahme einer direkten Kausalität schwer belegbar, dennoch ergab sich ein indirekter Zusammenhang „zwischen der Bezeichnung der Geheimrüstung als Landesverteidigung durch das Militär und deren Unterstützung durch die Politik,“263 indem ihre Repräsentanten Sprechweisen übernahmen. Davor war auch die Sozialdemokratie nie gefeit, wie Gedanken zum Grenzschutz 1932 belegten. Zusammenfassend sei von folgender Prämisse auszugehen, die den Wehrkonsens in der Weimarer Republik entscheidend prägte, vor allem nach 1920: Die militärischen Eliten und das nationale Lager waren mit der Übernahme der Leitvokabeln der progressiven Wehrdiskurse des 19. Jahrhunderts bereits vor dem Ersten Weltkrieg in den
262 Ebd.: S. 18. 263 Ebd.: S. 62. Folgendes Zitat, S. 63.
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6 Berliner Jahre Besitz eines trojanischen Pferdes gelangt, mit dessen Hilfe sie nach der Kriegsniederlage den republikanischen Eliten militärische Wirklichkeitsdeutungen übermitteln konnten.
Es stand eine gemeinsame Sprache zur Verfügung, wenn man auf Landesverteidigung und Wehrhaftigkeit in der politischen Auseinandersetzung Bezug nahm. Dies wurde von pazifistischen Gruppierungen wahrgenommen, aufgegriffen und massiv kritisiert, wie Autoren des Anderen Deutschland belegten. Nichtsdestotrotz handelte es sich lediglich um einen Minimalkonsens, da man auf unterschiedliche und antagonistische Ordnungsvorstellungen zielte, die einander ausschlossen. In diesem Zusammenhang war der Gegensatz zwischen Landesverteidigung im Sinne eines Schutzes der Republik sowie dem Anspruch auf politischer Teilhabe und der Vorstellung einer entgrenzten Kriegsführung nicht bedeutungslos. Über das Ziel der Landesverteidigung bestand zu keinem Zeitpunkt Einigkeit. Es kann von republikanischen und nationalen Bellizisten gesprochen werden, wenngleich erstere daran scheiterten, eine Republikanisierung der Reichswehr zu erreichen bzw. extreme Feinde der Republik auszuschließen. Auch anhand der Frage, wie künftig die wehrhafte Gesellschaft aussehen soll, entzündete sich der innenpolitische Streit: Zivilgesellschaft freier Bürger versus wehrhaftes Volk mit einem ideologisierten Wehrgedanken bildeten die beiden Pole. Innerhalb dieses Spektrums bewegte sich der Leitbegriff der Wehrhaftmachung und zeigte erneut eine republikanische und nationale Form. Selbstverteidigung und Selbstbehauptung umfassten erstere, während zweitere auf nationalistischen Ideologien beruhten. Sie ging nicht von einem emanzipatorischen Charakter aus, der etwa Anreize setzte, um republikanische Potenziale innerhalb der Bevölkerung dauerhaft zur Verteidigung des Staates und seiner verfassten Ordnung heranzuziehen. Der Wehrwille wurde konstitutiv für die nationale Gemeinschaft. Dies bedeutete in der Folge einen Ausschluss von sogenannten Wehrfeinden, die Disqualifizierung von Pazifisten als Landesverräter. Homogenität der Gesellschaft wird zur Grundvoraussetzung. Zusammenfassend kann über die Faktoren des Wehrkonsenses, die jenem Ansatz der bellizistischen Republik zugrunde liegen, Folgendes ausgesagt werden: Aus der Verwendung von Leitbegriffen, die die Wehrpolitik prägten, wurde auf unterschiedliche Konzepte geschlossen. Dahinter stand jeweils ein mit ihm gekoppeltes Gesellschaftsmodell. Entsprechende Deutungsmuster rundeten das Bild eines republikanischen und nationalistischen Bellizismus ab. Landesverteidigung und Wehrhaftigkeit waren als begriffliche Leitmotive über alle politischen Lager hinweg anschlussfähig. Dies ermöglichte erst den Wehrkonsens, wenngleich die daraus folgenden Ordnungsvorstellungen antagonistisch waren. Ihre Legitimität erwuchs aus der preußisch-deutschen Tradition seit 1807 und den politischen wie sozioökonomischen Transformationen seit der Reichsgründung sowie der anschließenden Jahrzehnte bis zum Ende des Weltkrieges. Die Schnittmengen in den wehrpolitischen Ansichten entstanden erneut, wenn auch zwischen höchst divergenten Lagern. Allerdings reduzierten sie sich zunehmend im Laufe der 1920er Jahre, als die unmittelbare Bedrohung der Republik abnahm, sodass zu Beginn der 1930er Jahre kaum noch Berührungen existierten. Als Antwort darauf, warum eine
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weitreichende Wehrhaftmachung mit den zivilen Eliten möglich war, sei der Umstand relevant, dass Weimar nie den Übergang in eine Friedensgesellschaft vollzog. Die Nachkriegszeit, so die These, ging 1924/25 in eine Vorkriegsgesellschaft über. Selbst nach 1923 sei die Republik weiter ungefestigt. Die soziale Praxis der Kooperation mündete in eine begriffliche Anpassung, die in den frühen 1930er Jahren besonders stabil war.264 Dem gegenüber steht in Teilen der neueren Forschung weiterhin die Annahme von einer isolierten Reichswehr, die gegen die Republik im Geheimen vorging und aufrüstete. Exemplarisch gilt es an dieser Stelle auf die Arbeit von Ursula Büttner zu verweisen. Ihr Ausgangspunkt bildet die Ernennung des Generals Hans von Seeckt zum Chef der Heeresleitung im März 1920. Dieser habe dafür Sorge getragen, dass die Armee als Ganzes unpolitisch sei, was in der Folge zu einem sehr homogenen Offizierskorps führte, sowohl politisch wie sozial. Nach seinem Willen geformt, fühle es sich lediglich dem Staat an sich verpflichtet. Die demokratische Verfassung werde nur geduldet, aber als geltendes Recht anerkannt. Die innere Geschlossenheit, so Büttner, wiege höher, weshalb die zivile Kontrolle de facto nicht bestand, da Seeckt seine Kompetenzen ausweitete und Reichswehrminister Geßler an den Rand drängte. Zwar sollte sich die Situation 1926 grundlegend ändern, da sein Nachfolger, General Wilhelm Heye, stärker als Seeckt bereit war, die Autorität der zivilen Führung zu achten. Aber die geheime Aufrüstung wäre ängst nicht unter Kontrolle. Sie verweist darauf, dass erst mit der Aufdeckung der Rüstungskooperation mit der Sowjetunion der Regierung das volle Ausmaß der illegalen Rüstung bekannt wurde. Als Kronzeuge diente Philipp Scheidemann und seine Rede vom 16. Dezember 1926 vor den Abgeordneten des Reichstages. Hier prangerte er die Machenschaften der Reichswehr an, die rechtsradikale Gruppen mittels zwielichtiger finanzieller Mittel förderte. Der Wechsel von Geßler auf Groener an der Spitze des Reichswehrministeriums sei nicht das Ergebnis einer gezielten Politik, aber er sei als der Versuch zu interpretieren, sich um mehr Transparenz innerhalb des Militärbetriebes zu bemühen. Wie die Artikel Oldens belegten, verband man mit Groener sowohl aus Sicht der Zeitgenossen als auch aus der einiger Historiker einen positiven Einschnitt.265 In diesem Spannungsfeld der Forschung haben biographische Studien den Vorzug, Ambivalenzen sichtbar zu machen. Inwiefern eine Aufrüstung abhängig war von der Haltung führender Politiker zeigten in den letzten Jahren die Biographien über Gustav Noske, Walther Reinhardt, Joseph Wirth und Otto Geßler. Vor deren Hintergrund verblassen vermeintliche Einschnitte, die entlang der Wechsel an der Spitze der Reichswehr gedeutet worden sind und lassen stärkere Kontinuitäten hervortreten. Gerade im Falle Groeners sprechen Biographen von einer Kooperationspolitik266. Die von ihm initiiere Ausdehnung der Wiederbewaffnung seit 1928 sei mit den zivilen Kollegen in der Regierung exakt abgesprochen gewesen, wie das vom Kabinett beschlossene Rüstungsprogramm aus dem Oktober 1928 sowie die 264 Vgl. Bergien (2012): S. 59–71. 265 Vgl. Büttner (2008): S. 375–382. 266 Vgl. Bergien (2012): S. 24–27. Die folgenden Zitate ebd., S. 27.
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Richtlinien zum Grenzschutz aus dem April 1929 belegten. Einen engen Austausch pflegte er mit dem späteren Generaloberst Friedrich Fromm. Über die Aktivitätsfelder Fromms zeichnet dessen Biograph das Bild einer Wehrhaftmachung, welche die Weimarer Republik nicht allein durch ihren expansiven – die finanziellen Ressourcen der Republik überschreitenden – Charakter zu sprengen geeignet war. Er betont vor allem die Destruktivität nicht intendierter und nicht kontrollierbarer Nebeneffekte der Wehrhaftmachung: der zivil-militärisch-paramilitärischen Verflechtung, der Konstituierung rechtlicher Grauzonen und der Verwilderung des Rechtsverständnisses von Justiz und Verwaltung.
Daraus hätten sich die schwersten Belastungen für den Staat von Weimar ergeben. Von der angesprochenen Verwilderung der Rechtsprechung zeugten die Beiträge Oldens. Die These eines weit ausgreifenden Konsenses in der Wehrfrage entstand bisher auf der Basis von Biographien und Analysen zu Politikern und Angehörigen der Reichswehr. Die Wahrnehmungen der Friedensbewegung spielten kaum und wenn nur eine untergeordnete Rolle. Sie findet am Rande eine kurze Erwähnung. Es wird die Frage sein, ob ebenfalls Vertreter aus der Zivilgesellschaft heraus dies im damaligen Kontext sahen, also die Regierung in ihrem aktiven und kooperativen Wehrwillen kritisierten oder ihr diesen gänzlich absprach. Welche Haltung nahm Olden zum Aspekt der Wiederbewaffnung am Übergang von einem defensiven zu einem offensiven Rüstungskonsens um 1928 ein? Hinzu kommt Folgendes: Eine Analyse von Wehrpolitik und Wehrhaftmachung, die ihren Schwerpunkt nach 1923 legt, kann den Wehrkonsens nicht mehr als Ergebnis von innerem und äußerem Druck werten. Demzufolge, so die Annahme, kommen „jene der politischen Kultur der Republik seit ihrer Gründung inhärenten bellizistischen Denkmuster und Deutungssysteme“ hinzu. Sie werden als „Strukturbedingungen des politischen Handelns“ gedeutet. Nahm Olden anhand der Rüstungspolitik der späten 1920er Jahre eine derartige moralisch unbewusste Disposition wahr und fand er darin eine Erklärung für die aus seiner Sicht bisher gescheiterte Umerziehung und Pazifizierung der gesellschaftlichen Eliten? Jene Fragen reichen über die reine Rekonstruktion seiner Friedensideen hinaus und verweisen auf den Zusammenhang zwischen sozialer Praxis und politischer Idee. Als Symbol für den Versuch einer Wiederaufrüstung galt Olden der Panzerkreuzerbau der Großen Koalition unter dem sozialdemokratischen Reichskanzler Hermann Müller ab 1928. Während die Friedensbewegung als Ganzes auf einer strikten Entwaffnung und auf einer Angleichung der internationalen Militärpotenziale beharrte, die am deutschen Rüstungsstandard zu orientieren sei, zielte die offizielle Regierungspolitik auf eine durch Verabredungen mit den Siegermächten gegründete Wiederbewaffnung. Innerhalb der Erfüllungspolitik blieb der militärische Bereich ausgespart. „Die von Anbeginn an bestehende Parallelität von Verständigungspolitik einerseits, legaler wie illegaler Rüstungspolitik andererseits war eine bewußt intendierte politische Strategie.“267 Eine Politik reiner Machtsicherung durch das Potenzial der Reichswehr stand der Versuch einer aktiven Friedenssicherung gegenüber. Deren Ziele waren internationale Kooperation und großflächige europäische Abrüstung 267 Lütgemeier-Davin, in: Steinweg (1990): S. 187.
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auf deutschem Niveau. Für die Parteien des Weimarer Systems war damit ein großer innenpolitischer Konfliktstoff in einer ohnehin polarisierten Struktur verbunden, wie der Streit um den Panzerkreuzer A belegte. Nach den Reichstagswahlen vom 20. Mai 1928 konnte eine Regierung ohne Beteiligung der Sozialdemokraten praktisch nicht gebildet werden. Die SPD ihrerseits war bereit, ihre oppositionelle Haltung aufzugeben. Hermann Müller in seiner Funktion als Vorsitzender der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion erhielt den Auftrag zur Regierungsbildung. Innerhalb des Zentrums und der DVP gab es enorme Vorbehalte mit Blick auf eine Koalition. Erst eine Intervention Stresemanns bewirkte das Zustandekommen. Allerdings waren die sie tragenden Parteien nicht verpflichtet, das Kabinett förmlich zu unterstützen. Außenpolitisch bestand weitestgehend Einigkeit. Nur innenpolitisch blieb der Handlungsspielraum der Regierung massiv eingeschränkt. Die auseinanderfallenden Interessen blockierten eine aktive Politikgestaltung. Der Streit um den Bau des Panzerkreuzers A führte rasch zu einem ersten Zerwürfnis in der Koalition. Noch unter der Regierungsverantwortung des Bürgerblocks aus Zentrum, BVP, DVP und DNVP in Gestalt des vierten Kabinetts Marx wurde er beschlossen, jedoch konnte nicht begonnen werden, da die finanziellen Ressourcen fehlten. Die SPD hatte den programmatischen Anspruch, für eine allgemeine Abrüstung zu streiten. Demzufolge hatte man sich im Reichstagswahlkampf verpflichtet, den Bau der Schiffe zu verhindern. Gleichzeitig versprach man eine Reduzierung des Militäretats von 700 auf 500 Millionen Reichsmark. Die Losung lautete: Kinderspeisung statt Panzerkreuzer. Am 10. August 1928 gab man aus koalitionstaktischen Überlegungen heraus dennoch seine Zustimmung, vor allem aus Rücksicht auf die DVP. Ein großer Aufschrei innerhalb der SPD war die Folge. Nicht nur da blieb die Empörung spürbar, als der Bau des Panzerkreuzers realisiert werden sollte.268 Für Olden war die Entscheidung zugunsten der Flottenrüstung ein verhängnisvoller Fehler, den die Sozialdemokraten teuer bezahlen würden. Nicht nur verliere man dadurch entscheidende Mandate bei künftigen Wahlen, sondern vor allem für die Partei selbst bedeutet dies eine Zerreißprobe zwischen dem rechten Flügel, der mit der Aufrüstung in den bescheidenen Grenzen des Versailler Vertrages einverstanden ist; dem linken Flügel, der schroff gegen jede Rüstungsmassregel auftritt, und endlich die Mitte, die einfach mitgeht, wenn die sozialdemokratischen Minister etwas beschlossen haben.269
Die Republik habe eine einmalige historische Chance gleichsam vertan. „Sie konnte, da sie nun einmal abgerüstet war, während die früheren Feinde aufrüsteten, eine bewusste und entschlossene Politik gegen den Militarismus treiben.“ Die jeweiligen Regierungen ließe diese Gelegenheit ungenutzt verstreichen. Sie hätten das Potenzial nicht erkannt. Deutschland sei zwar hervorragend in der Abrüstungskommission durch Graf Bernstorff vertreten, „aber, dass man von hier aus mit heissen Atem antimilitaristischer Propaganda den Militärstaaten ihre stählerne Rüstung 268 Vgl. Wieland, in: Steinweg (1990): S. 171f.; Vgl. Kolb (2009): S. 89. 269 R.O. Panzerkreuzer und die Folgen, in: Argentinisches Tageblatt, 7.10.1928. Die folgenden Zitate ebd.
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hätte wegschmelzen können, das ist bisher noch nie geistiges Eigentum einer Reichstagsmajorität geworden.“ Mit Erstaunen stellte Olden fest, dass es keinen Konflikt innerhalb der Exekutive über den Kreuzerbau gab. Eine Drohung von Seiten der DVP, die Koalition platzen zu lassen und die Regierung in eine Krise zu führen, brauchte es nicht, denn „die Sache war schon vorher ausgemacht und das Terrain applaniert.“ Ende August 1928 beteiligten sich Gruppierungen der Weimarer Friedensbewegung an den Vorbereitungen zu einem Volksbegehren gegen den Kreuzerbau. Das Organisationskomitee tagte am 29. August. Zwar von der KPD distanzierend, setzte sich die DFG für das Volksbegehren ein. Auch die DLM warb eigenständig dafür. Eine Zusammenarbeit mit den Kommunisten in dieser Frage wurde nur von der GRP befürwortet. Grundsätzlich blieb eine Beteiligung daran aber kaum umstritten. Widerspruch regte sich hauptsächlich beim äußersten rechten Flügel und einigen Sozialdemokraten. Trotz unterschiedlicher Haltung zur KPD erreichte man ein einmütiges Votum zu dieser Frage; man plädierte für die Eintragung in die Listen zum Volksbegehren, die zwischen dem 3. und 16. Oktober auslagen. Dadurch, dass die Kommunisten allein aktiv vorgegangen sind, ist die taktische Situation verändert worden. Gegen das Volksbegehren sprechen sich heute sozialdemokratische wie demokratische Zeitungen mit aller Entschiedenheit aus. Ihre Argumentation ist ungefähr folgende: die Kommunisten seien nicht wirklich pazifistisch.270
Für Olden war diese Interpretation eine „verlogene Halbschlächtigkeit“. Er begrüßte den Unterstützungsaufruf der DFG. Rein militärisch betrachtet, sei der Kreuzerbau völlig irrelevant im Vergleich zum internationalen Kräfteverhältnis, da das Ausland ohnehin erst durch den inneren Konflikt darüber Kenntnis erlangte. Viel entscheidender sei der Vertrauensverlust, der damit verbunden sei, dass die Sozialdemokraten im Wahlkampf sich gegen den Bau gerichtet hätten und in der Regierung den Weg frei machten. „Hier ist der Angelpunkt für das englisch-französische Interesse an dem Panzerkreuzer.“ Die ausländische Presse ziehe den Schluss, so Olden, dass sich in Deutschland selbst nach dem Krieg nichts geändert hätte: Das Volk sei immer friedliebend gewesen, während ihr Staatsoberhaupt vor 1914 mit dem Säbel rasselte. So wäre der Weltkrieg nicht das Produkt des Volkswillens gewesen, weil Deutschland keine Demokratie war. Dieser Mechanismus sei unverändert in die Republik übernommen worden. Die Generäle entschieden über das Wohl und Wehe des Staates. Mit seiner Wahlentscheidung zugunsten der SPD habe sich die Mehrheit des Volkes gegen den Kreuzerbau entschieden. Dass es nun anders komme, beweise, man kann der deutschen Demokratie nicht vertrauen. Gegenüber solchen Erwägungen, mag man ihn zustimmen oder nicht, tritt das Interesse daran, ob die Kommunisten einen taktischen Erfolg erringen könnten, und ebenso daran, ob die deutsche Marine klein oder noch etwas kleiner ist, zurück. Aussenpolitisch würde es ein grosser Schaden sein, wenn in der Welt sich die Meinung festsetzen könnte, dass auch heute die Entscheidungen in Deutschland gegen den Willen des Volkes fallen.
270 R.O. Das Volksbegehren, in: Argentinisches Tageblatt, 28.10.1928. Die folgenden Zitate ebd.
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Viele Wähler, so die Hoffnung, würden der Parole der DFG folgen. Doch es sollte anders kommen. Nur 1,2 Millionen Wahlberechtigte trugen sich in den Listen ein. Es gelang nicht, eine breite Masse gegen den Kreuzerbau zu mobilisieren. Mit diesem Ergebnis bestanden nur noch geringe Chancen, eine Einstellung der Flottenrüstung zu erzielen. KPD und SPD allein verfügten nicht über eine ausreichend große Mehrheit, um eine Ablehnung zu erzielen. Der sozialdemokratische Antrag auf die Beendigung des Panzerkreuzerbaus wurde mit 257 zu 202 Stimmen im Plenum verworfen, war der Führung der SPD nicht an einem Erfolg gelegen, um die Koalition nicht zu gefährden. „Die Kampagne gegen den Schiffsbau erwies sich für die Friedensbewegung als doppelter Fehlschlag. Es blieb nicht nur das aktuelle Ziel der Verhinderung der Aufrüstung der Marine durch die Aktivierung der Massen unerreicht, sondern die Friedensbewegung schmälerte durch ihre Taktik, mit den Kommunisten faktisch, wenn auch nicht offiziell, zusammenzuarbeiten, auch langfristig ihre Rekrutierungsbasis.“271 In einem Kommentar Oldens dazu heißt es: „Das Militär triumphiert. Der grossen Niederlage im Weltkrieg, die man längst vergessen hat, steht eine unaufhörliche Reihe von Siegen gegenüber, die die Reichswehr über alle Zivilgewalten der Republik erfochten hat.“ Exekutive und Legislative hätten vor dem „Kampfmut der deutschen Marine“272 kapituliert. Eine stringente Argumentation entwickelte Olden daraus aber nicht, wie seine Beiträge über linke Wehrprogramme zeigen, in denen er eine grundlegende Veränderung diagnostizierte.273 Deutschland schien in den ersten Jahren nach Kriegsende so, als könne es „nie wieder seelisch zu einer Militärmacht werden.“274 Besonders innerhalb der deutschen Sozialdemokratie stellte er eine große Abneigung „gegen jede Beschäftigung mit dem Wehrgedanken“ fest. Positiv sei festzuhalten, dass auch der linke Flügel der Partei zu der Erkenntnis komme, dass die Reichswehr eine Gefahr für die Republik bleibe, wenn sie weiter „volksfremd“ agiere. Das Wehrproblem müsse auch von linken Kräften ernsthaft diskutiert werden. Das von einer Kommission ausgearbeitete Wehrprogramm beschreite exakt den richtigen Weg zur Republikanisierung. „Gelingt der Linken ihr Vorhaben, so wird die deutsche Reichswehr zwar innenpolitisch anderen Geistes, zugleich aber wirklich ein gefährliches Werkzeug nach aussen werden.“ Der inzwischen errungenen diplomatischen Großmachtstellung müsse eine gleichberechtigte militärische folgen, die die Ordnung Europas auf eine andere Grundlage stelle und wegführe von den Strukturen Versailles. Nur eine „Militärkonvention und ein politisches Bündnis zwischen den beiden kontinentalen Hauptmächten“ könne die europäische Ordnung endgültig stabilisieren. Was dies genau bedeutet, darauf ging Olden nicht näher ein. Folgendes war angedeutet: Der kommende Young-Plan beende die finanzielle Abhängigkeit der Republik von den westlichen Siegermächten. Der Völkerbund habe als System kollektiver Sicherheit versagt, sodass Europa selbst seine Archi271 272 273 274
Lütgemeier-Davin (1982): S. 256. R.O. Neo-Militarismus, in: Argentinisches Tageblatt, 16.12.1928. Vgl. Lütgemeier-Davin (1982): S. 249–256; Holl (1988): S. 182–184. R.O. Locarno bis Lugano, in: Argentinisches Tageblatt, 27.1.1929. Die folgenden Zitate ebd.
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tektur in diesem Bereich gestalten müsse. Deutschland und Frankreich bräuchten eine Partnerschaft (auch und vor allem militärisch) auf Augenhöhe, um dies zu realisieren. Olden ließ jedoch offen, ob damit eine Anpassung des Reiches an die französische Schlagkraft, sprich eine begrenzte Aufrüstung der Reichswehr wünschenswert wäre, um dem Kontinent Frieden zu geben oder umgekehrt, d.h. auf eine militärische Abrüstung in Paris baute. Seine Kritik am Bau der Panzerkreuzer zielte aber vor allem auf die sozialpolitischen Folgen für die deutsche Gesellschaft: „Lohndrückerei, hungernde Kinder und doch Kreuzerbau.“275 Die Wehrprogramme linker Parteien, allen voran natürlich der Sozialdemokratie, warfen für Olden die Frage nach dem Verhältnis von Wehrhaftigkeit und Pazifismus auf. Aller Orten, selbst innerhalb der DLM, werde derzeit darüber beraten und diskutiert. Die reine pazifistische Lehre der Gewaltlosigkeit, für die Gandhi oder Tolstoi symbolisch standen, spielten bei diesen Erörterungen kaum eine Rolle, so seine allgemeine Feststellung. „Die Agitation gegen die Wehrdienstleistung, die in Deutschland hauptsächlich von dem General von Schoenaich geführt wird, die These, dass man tolstoiisch dem Bösen nicht widerstehen soll, die Nachfolge Ghandis, - von dem allen ist nichts zu hören.“276 Zwar könne man nicht behaupten, dass zehn Jahre nach Kriegsende die deutsche Gesellschaft nicht nach wie vor den Krieg verabscheue, aber die Zeit sei wieder reif, in Ruhe darüber nachzudenken, inwiefern man das Reich bewaffnen kann. Drei Faktoren hätten dazu beigetragen: Die Aufrüstung Frankreichs, der Ausbau der militärischen Ressourcen bei den östlichen Nachbarn, allen voran Polens und die Haltung der Sowjetunion, die sich von ihrer entschieden propagierten pazifistischen Haltung verabschiedete; das alles habe „dazu beigetragen, dass das deutsche Volk, nicht nur die Militaristen und Nationalisten sondern sozialistische Intellektuelle und Arbeiter sich ohne entrüstete Abwehr darüber unterrichten lassen, wie Deutschland am besten wieder eine Militärmacht werden kann.“ Es erstaunt den Leser, wenn man rückblickend den meinungsfreudigen Journalisten und Pazifisten mit folgendem Satz zu zitieren hat: „Das soll hier weder gelobt noch getadelt werden.“ Eine Stellung innerhalb dieser konstatierten Debatte bezog Olden zunächst nicht. Liest man weiter, wird deutlich, welche Position er einnahm. Was er in den offiziellen Programmentwürfen der Sozialdemokratie vorfand, sei nichts anderes als die „Phrasen mit denen zu allen Zeiten die Militärs ihre Rüstung begründet haben.“ Man müsse pessimistisch zur Kenntnis nehmen, dass der Krieg daran nichts geändert habe. Trotz internationaler Bemühungen, wie dem Aufbau des Völkerbundes oder dem Kelloggpakt zur Ächtung des Krieges, stehe man weiter an derselben Stelle wie 1914. Solange die Bemühungen um die obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit und die solennen Erklärungen, dass Krieg ein Verbrechen sei, in Wahrheit immer noch nicht den anarchischen Zustand Europas beseitigt haben, werden stets die durchdringen, die die Notwendigkeit der Verteidigung in irgend einer Form behaupten. 275 R.O. Neo-Militarismus, in: Argentinisches Tageblatt, 16.12.1928. 276 R.O. Wehrprogramm der Linken, in: Argentinisches Tageblatt, 3.2.1929. Die folgenden Zitate ebd.
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An diesem Punkt werden schließlich Vorbehalte gegen eine Wiederaufrüstung deutlich, die allen voran auf Betreiben der SPD forciert wurde und sich nicht ausschließlich in der Unterstützung des Panzerkreuzerbaus erschöpfte. Begrüßt wird hingegen der Versuch, die Reichswehr zu republikanisieren, dies sei der Grundkonsens aller Reformentwürfe. Allerdings ginge es um eine veränderte Zielrichtung. Nicht die innenpolitische Sicherung gegen einen Umsturzversuch der Reichswehr stehe im Vordergrund, sondern der Gedanke einer nach außen militärisch wertvollen Armee, die durch eine „gesinnungsgemäße und organisatorisch eng mit dem Volksganzen“ verbundene Struktur ihre Schlagkraft zurückgewinne. Darauf liefen alle Reformen hinaus. Deutschlands Möglichkeit zur militärischen Verteidigung sollen besser gestaltet, sprich, es soll, wiederholt, „zu einer stärkeren Militärmacht“ geformt werden. „Bis heute fühlt sich die Reichswehr wie ein Staat im Staate. Sie glaubt ihre Pflichten am besten zu erfüllen, wenn sie niemand in ihre Karten sehen lässt.“ Gelänge es der parteipolitischen Linken, mit ihren Ansichten durchzudringen, dann sei die Armee zwar einerseits nicht mehr ein Fremdkörper innerhalb der Gesellschaft, doch wäre sie andererseits selbst dafür verantwortlich, für ihre Ausstattung zu sorgen, ihre Ansprüche zu bewilligen. Damit sei das Dilemma beschrieben: „Es ist klar, dass das ein Weg ist, der vom Pazifismus weit ab führt.“ So sehr Olden die Republikanisierung der Reichswehr anmahnte, umso größere Befürchtungen plagten ihn mit den Folgen einer linken Wiederbewaffnung. Ein eigenes Konzept, welches zwischen der absoluten Gewaltlosigkeit, die er für sich bereits ausschloss, und den im Diskurs befindlichen Programmatiken zur Wehrhaftmachung von Seiten der Sozialdemokratie vermittelt, fehlte. Es wird lediglich deutlich, dass er den beschrittenen Weg der Linken für falsch halte. Er sei ein Irrweg und führe die Völker Europas erneut an den Rand eines Krieges. Eine Reform der Reichswehr hatte für ihn offenbar nur eine innenpolitische Dimension, während es allen anderen Reformern ebenso um die Wiedererlangung außenpolitischer Handlungsfähigkeit und Gleichberechtigung auf militärstrategischer Ebene ginge, so zumindest die Anschauung Oldens. Augenscheinlich lag eine verfehlte Wahrnehmung seinerseits über den Charakter des Pazifismus innerhalb der deutschen Sozialdemokratie vor. Bis in das Jahr 1918 hinein vertrat in erster Linie die USPD eine Abrüstung auf Grundlage der deutschen Kriegsschuld. Eine Mehrheit innerhalb der MSPD griff pazifistische Forderungen lediglich aus taktischen Interessen auf. Sie war nicht bereit, eine Abkehr vom Motiv des Verteidigungskrieges vorzunehmen. Eine allgemeine Abrüstung war nie das Ziel. Erst nach der Revolution sprach man allgemein von einer gleichzeitigen und gegenseitigen Abrüstung. Mit dem Vertrag von Versailles wurde Deutschland zu einer einseitigen Abrüstung verpflichtet, was auf die Programmatik der Partei Einfluss nahm, indem man eine internationale Abrüstung proklamierte. „Da der Vertrag die Republik bereits militärische Restriktionen auferlegt hatte, betrachtete die SPD sie im Vergleich zu ihren westlichen und östlichen Nachbarn als abgerüstet.“277 Man sei schutzlos den Interessen anderer ausgeliefert. 277 Wieland, in: Steinweg (1990): S. 164. Folgendes Zitat ebd., S. 169.
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Dies bedeute eine erhöhte Kriegsgefahr und trage nicht zur Friedenssicherung bei, wenn lediglich das im Krieg besiegte Deutschland weiter abrüsten müsse. Diese Ansicht wurde von führenden Sozialdemokraten wiederholt dargelegt. Man habe das moralische Recht auf eine Abrüstung der anderen Staaten. Dass Olden dieser Ansatz nicht gänzlich fern lag, wurde bereits betont. Semantisch gesehen war dies die gleiche Formel, die auch in bürgerlich konservativen Kreisen vorherrschte und die nicht gewillt war, die Nachkriegsordnung anzuerkennen. Deren Strategie war auf Langfristigkeit angelegt. Die Grundlagen des militärischen Wiederaufstiegs sollten unter dem Deckmantel der Reichswehr gelegt werden. Darin unterschieden sich nach Oldens Auffassung gegen Ende der 1920er Jahre die Absichten zwischen links und rechts nicht mehr. Die Distanz zu einem entschiedenen Pazifismus war für den Beobachter Olden offensichtlich und bedauernswert. Er lehnte es ab, Pazifismus und nationale Interessen auf diesem Feld für vereinbar zu halten, im Gegensatz zur SPD, für die alle Maßnahmen ohnehin nur provisorischen Charakter hatten. Anders als der liberale Leitartikler sah man erst in der Errichtung des Sozialismus eine dauerhafte Basis für den Frieden in der Welt. Davon hatte sich Olden längst abgewandt. 1925 gab Rudolf Hilferding die Losung eines realen Pazifismus aus, der zwar antikriegerisch sei, aber das Militär bejahte. Die Sozialdemokratie vermochte es nicht, eine Trennung von marxistischen Interpretationsmustern in der Außenpolitik zu vollziehen. Die Republik wurde lediglich als Zwischenstation zum Sozialismus gesehen. Die Forderungen, die in ihren Wehrprogrammen zum Ausdruck kamen, war die „ungebrochene Tradition der Sozialdemokratie, dem Staat eine Wehrmacht zum Zwecke der Selbstverteidigung zu gewähren, da andernfalls seine Souveränität gefährdet sei.“ Die Bedrohung durch imperialistische und faschistische Staaten wäre real, weshalb man keine weitere einseitige Abrüstung akzeptierte. Ein Potenzial zur Landesverteidigung müsse aufrechterhalten werden. Auf eine Wehrmacht dürfe nicht verzichtet werden. Um mit den Worten von Carl Severing, dem von 1928 bis 1930 amtierenden Reichsinnenminister, zu sprechen: „Wer die Reichswehr zu einem zuverlässigen Instrument der Republik machen wolle, der müsse ihr nicht nur Gelder, sondern auch moralisch Kredit gewähren.“278 Allgemeine Ansprüche auf Abrüstung waren somit reine Lippenbekenntnisse, wie der Bau des Panzerkreuzers zeigte. Diese Politik gefährde die Republik noch auf einem anderen Gebiet, nämlich der Reparationsleistungen.279 Der Abschluss des Young-Plans, so Olden, bringe die Gelegenheit, den deutschen Staatshaushalt zu stabilisieren, da er eine endgültige Summe festsetze. Zwar seien die Summen der Entschädigung nach wie vor enorm, doch ökonomisch tragfähig für die Republik, allerdings nur dann, wenn nicht weiter aufgerüstet werde. Deutschland werde es umso leichter fallen, die geforderten Beträge zu zahlen, wenn man sich in ganz Europa zu einer „inneren Abrüstung“280 verständigt. „Entschliesst sich Europa zur Vernunft, wird durch eine deutsch-französische Allianz der inner278 Severin, in: Ebd.: S. 171. 279 Vgl. Wieland, in: Steinweg (1990): S. 163–171. 280 R.O. Zehn Jahre Versailles, in: Argentinisches Tageblatt, 28.7.1929. Die folgenden Zitate ebd.
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europäische Friede gesichert, und kann daher auch der Etat für die Reichswehr vermindert werden.“ Die Aussöhnung und Friedensstiftung am Rhein durch die sichere Gewährung der Rückzahlungen könne die Kriegsgefahr derart reduzieren, dass es nicht mehr notwendig sein wird, den Etat für die Armee weiter aufzustocken, so seine Hoffnung. Nur sehe er dafür keine ausreichenden politischen Mehrheiten. Es kann aber in der Politik nicht darauf ankommen, eine Befreiung von jenen Zahlungen zu erreichen. Dies sei höchst unwahrscheinlich bzw. unvermeidlich. Vielmehr bedarf es einer geordneten Regelung, die es der Republik erlaube, unter stabilen ökonomischen und politischen Verhältnissen jenen Verpflichtungen nachzukommen, um ein Zeichen gegen einen neuen Krieg zu setzen. Der Grund für eine Wehrhaftmachung entfalle. Olden wiederholte seine europäische Perspektive, die in der Schaffung einer finanziellen Sicherheit für die Siegermächte das Vertrauen in die Republik rechtfertige. Zudem gebe es dem Revanchismus auf beiden Seiten keine weitere Nahrung. Aus deutscher Sicht blieben die alliierten Forderungen berechen- und überschaubar. Gleichzeitig „kann auch in einem ganz anderen Masse planvoll an dem Aufbau der Reichseinheit und an der Ersparnis von Reichsausgaben gearbeitet werden.“ Damit sei dem Frieden in Europa am besten gedient. Die Weltwirtschaftskrise machte diese Zuversicht zunichte. Eine zunehmende Wehrfreundlichkeit griff Raum. „Das Häuflein der Pazifisten in Deutschland ist klein geworden.“281 In der Republik ist der Begriff des Friedensfreundes inzwischen ein verpönter und verfemter, sodass ein Bekenntnis zu ihm schwerfällt. Das leichtfertig in die Welt getragene Wort von der Wehrwende muss vor allem außenpolitisch als Gefahr betrachtet werden. Eine Debatte darüber komme zur Unzeit. „Es ist der Weg der Nationalsozialisten, an dem solche Redeblüten wachsen; ein Weg, von dem wir wissen, dass er eine Partei zu vielerlei Vorteilen verhelfen kann – dass er aber die Nation, ginge sie ihn mit, in neues Verderben führen würde.“ Eine weitere deutsche Abrüstung sollte für ein europäisches Interesse an Deeskalation stehen. Weimar muss Vorbild und Vorkämpfer auf diesem Gebiet sein. Nur so könne ein Appell „an die Völker Europas gelingen, dass sie alle Kraft aufwenden, sich ihrer drückenden Militärlast zu entledigen.“ Eine Verstärkung der eigenen Bewaffnung wäre das falsche Signal und zudem militärisch im Vergleich zum Potenzial der Alliierten lächerlich. Das Geschrei nach Aufrüstung diene nur dazu, weitere politische Mandate zu erringen. Im Sinne der europäischen Einigung bedarf es der Abrüstung, würde ein solcher Beschluss von der politischen Reife und Verantwortlichkeit eines gewachsenen politischen Systems im letzten Jahrzehnt zeugen. In der Freiwilligkeit der Beschränkung läge das entscheidende Signal für eine friedliche Zukunft. Solange der Vertrag von Versailles seine Gültigkeit und Restriktionskraft habe, müsse man vor allem von einer „geistigen Aufrüstung sprechen.“282 Ein erneuter Krieg, zeigte sich Olden überzeugt, führe zum Untergang Europas. Den Kriegstreibern „hat man den Raum allzu bereitwillig überlassen,“ besonders in dem Moment, als mit den Wahlen vom September 1930 der Weg der Außenpolitik ein281 R.O. Wehrwende?, in: Berliner Tageblatt, 20.1.1931 A. Die folgenden Zitate ebd. 282 R.O. „Eine tiefbedauerliche Art, die Jugend zu führen“, in: Berliner Tageblatt, 1.10.1931 A. Die folgenden Zitate ebd.
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schneidend verändert und der Kurs Stresemanns verlassen wurde. „Nur mit Zivilcourage wird Deutschland wieder hochkommen, wird es patriotisch, selbstbewusst und glücklich sein.“ Zuvor stehe aber das Rüstungsproblem im Mittelpunkt aller europäischen Entscheidungen. Der Versuch, eine Abrüstungskonferenz im Jahre 1931 zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen, beschäftigte den Pazifisten Olden weiter. Von Anfang an gehörte die Abrüstung zu den Zielen des Völkerbundes, wie in seiner Satzung durch Artikel acht kodifiziert. 1925 richtete er eine Konferenz hierzu ein. Jedoch standen deren Bemühungen bald vor großen Herausforderungen. Die Republik von Weimar zielte auf eine vollständige Gleichberechtigung, während Frankreichs Sicherheitsbedürfnis die Leitlinien des westlichen Nachbarn prägte. In den 1920er Jahren blieben die Anläufe zu einer Rüstungsbeschränkung eher schwach. Erst im Februar 1932 tagte in Genf eine Abrüstungskonferenz unter der Zielstellung einer Realisierung der Völkerbundsatzung bzw. der Locarno-Verträge und des Briand-Kellogg-Pakts, die allesamt auf militärische Abrüstung setzten.283 Ein Jahr vor Genf erinnerte Olden die Regierenden in Berlin an diese Absicht. In unzähligen Vorkonferenzen haben sich die Mächte endlich auf eine Art von Schlüssel geeinigt, nach dem die Abrüstung zu Land bemessen werden soll. Das soll von der Ausgabenseite her, vom Etat aus, geschehen. Über die Prozentziffer der Herabsetzung soll die endgültige Abrüstungskonferenz entscheiden, die auf das Frühjahr 1932 festgesetzt ist. Dieser Einigung steht der deutsche Standpunkt schroff gegenüber.284
Der deutsche Vertreter halte dagegen daran fest, dass die ausgebildeten Reserven und die Summe des Kriegsgeräts an sich zur Basis des Ausgleichs gemacht werden müsse, ansonsten sei ein gerechter Vergleich kaum möglich. Nach dem Versailler Vertrag wurde Deutschland auf eine zwölfjährige Dienstzeit verpflichtet. Es darf weder Reserven ausbilden noch kontrollieren. Bei einer bloßen Herabsetzung der Rüstungsausgaben gegenüber den Ländern mit kurzer Dienstzeit gerate die Republik rasch wieder ins Hintertreffen. Zwar sei diese Ansicht durchaus zulässig, so Olden, jedoch stehe man damit völlig isoliert. Wer glaubhaft eine internationale Abrüstung anstrebe, der müsse auf diesen Punkt verzichten, denn die Rüstungsbeschränkung, eine, wenn auch dem Ideal gegenüber noch so ungenügende, würde doch eine internationale Basis des Rechts schaffen, auf der weitergearbeitet werden könnte. Sie würde auch eine internationale Kontrollkommission mit sich bringen, und das wäre auf jeden Fall ein Fortschritt von grosser Bedeutung.
Für Olden war es nicht an der Zeit, an nationalstaatlichen Maximalforderungen festzuhalten. Seit Kriegsende geschehe auf diesem Gebiet überhaupt nichts. Will man überhaupt vorankommen, so muss sich vorläufig mit weniger zufrieden gegeben werden. Der Weg einer politischen Lösung ist steinig und schwer. Komme man nicht zu einer Einigung, werde das Wettrüsten erneut beginnen, so seine Befürchtung. Gerade auf deutscher Seite seien Kräfte am Werk, die sich dann nicht mehr 283 Vgl. Möller (1998): S. 59; Bernecker (2002): S. 366–368. 284 R.O. „Dann sind wir frei“, in: Argentinisches Tageblatt, 22.3.1931. Die folgenden Zitate ebd.
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an die Beschränkungen des Versailler Vertrages gebunden fühlten. „Dann hätten wir Rüstungsfreiheit.“ Gewonnen habe man damit nichts, betrachtet man die ökonomischen Umstände, nicht zuletzt unter dem Aspekt der Reparationsverpflichtungen. Wenn wir nicht mehr zahlen können und wollen und wenn wir gezwungen sind, eine Herabsetzung der Reparationen zu verlangen, was soll uns dann die Rüstungsfreiheit, die Wehrwende? Wir verbrauchen augenblicklich für das Hunderttausend-Mann-Heer und die minimale Flotte fast achthundert Millionen Mark im Jahr. Welcher Staatsmann könnte den Mut haben, auf Grund der wiedergewonnen Freiheit eine beträchtlich höhere Summe für Rüstung zu verwenden?
Das Resultat wäre die endgültige internationale Isolation und der Abzug aller Kredite. Nicht ein Politiker allein wird es sein, in dessen Verantwortung die weitere Ausgabe von „vielen Millionen für ein Kriegswerkzeug“285 liegen wird. Es war die sozialdemokratische Reichstagsfraktion mit Blick auf die Bewilligung des Panzerkreuzers B. „Will sie die Regierung halten, will sie die Gefahr vermeiden, dass die Macht an die radikale Rechte übergeht, so wird sie ihren Grundsätzen zuwider handeln müssen“ und das in einer Phase starker Arbeitslosigkeit. Dies sei die „reinste Hybris.“ Diese Lage bringe die Republik in höchste Verlegenheit, zumal die Führung der Reichswehr nicht wirklich mit ihr verknüpft ist. Die Stimmung im Offizierskorps sei anhaltend antirepublikanisch. So sehr Olden für eine international abgestimmte Rüstungsbeschränkung bzw. Abrüstung stritt, die innenpolitische Polarisierung verlange von der SPD die Unterstützung der zweiten Serie des Panzerkreuzers, um die Republik vor ihren Feinden aus dem rechten Lager zu schützen, die ohnehin ein beachtliches Maß an parlamentarischer Repräsentation errungen haben. So wie die Dinge heute stehen, kann man zwar nicht sagen, wie der Kampf ausgeht. Aber die historische Situation verlangt von der Sozialdemokratie, dass sie ihre Popularität weiter aufs Spiel setzt und auch den schweren Brocken des Kreuzers schluckt. Wer A sagt, muss auch B sagen.
Dies werde die Fraktion tun, um die Regierung Brüning weiter zu stützen, selbst dann, wenn die Opposition in den eigenen Reihen immer stärker werde. Der Erhalt der Republik legitimiere dieses Vorgehen. Diese Panzerkreuzer sind zu einer Art Gespenst in der internationalen Politik geworden. Tatsächlich lohnen sie ihrer Grösse und Kampfkraft und auch ihrem Baupreis nach in keiner Weise die Wichtigkeit, die ihnen aussenpolitisch und innenpolitisch beigelegt wird. Aber das nützt nichts. Diese Wichtigkeit ist nun einmal vorhanden, und es muss mit ihr gerechnet werden. 286
Für die Sozialdemokraten hänge daran ihr politisches Überleben. Im Vorfeld der Abrüstungskonferenz könne die Reichsregierung kein „vertrauensvolles Entgegenkommen“ gegenüber Frankreich zeigen.
285 R.O. Der Panzerkreuzer B, in: Argentinisches Tageblatt, 5.4.1931. Die folgenden Zitate ebd. 286 R.O. Um den Panzerkreuzer, in: Argentinisches Tageblatt, 4.10.1931. Folgendes Zitat ebd.
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Mit ihrem Handeln in dieser Frage trug die deutsche Sozialdemokratie Ende der 1920er Jahre einem Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung der Wehrhaftigkeitsidee Rechnung. Der Versuch der SPD, mit ihrem Wehrprogramm zur Klärung der in ihren Reihen umstrittensten Fragen zu gelangen, hatte das erstrebte Ziel eines Ausgleichs mit der Reichswehr und der Heranführung des Heeres an die Republik im wesentlichen verfehlt.287
Mit dem Ulmer Reichswehrprozess und dem abgelegten Legalitätseid Hitlers verlor das Wehrproblem in der innenpolitischen Debatte seine Relevanz und wurde von anderen Fragen überschattet. Schon vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten war der Teildiskurs um die Armee abgerissen. Bücher, Zeitschriften und Filme mit pazifistischem Inhalt fanden kaum noch Interesse. Stattdessen erlebte eine kriegsverherrlichende Literatur neuen Zulauf. In den ideologischen Diskussionen war der Begriff Abrüstung vieldeutig. Er unterlag einer Konkurrenzsituation in seiner Bedeutung. Einerseits positiv besetzt als Zielidee und programmatische Vokabel der Parteien, in der die Forderung nach einer allseitigen Abrüstung verdichtet wurde. Andererseits negativ, als Mittel der Stigmatisierung und Abgrenzung zum politischen Gegner. Die Einseitigkeit des Postulats und das Ausbleiben von Abrüstungsinitiativen auf Seiten der Alliierten wurde angegriffen und kritisiert. Indem Olden das Wort von der Rüstungsfreiheit aufgriff, offenbarte er seine Teilnahme an diesem Diskurs, wurde der Begriff von Seiten der DNVP polemisch geprägt und in die Debatte eingeführt. Ihr „stand als angefeindete Minorität eine in ihren Zielsetzungen wie Methoden heterogene Friedensbewegung gegenüber.“ Der Vorkriegspazifismus in seiner bürgerlich linksliberalen Ausrichtung zielte eher auf eine Reduzierung der Rüstung als auf die gänzliche Beseitigung von Waffen schlechthin. Rüstung sei ohnehin nur Ausdruck der nicht ausreichend organisierten Staatenbeziehungen. Vollständige Abrüstung könne nur als Ergebnis einer neuen internationalen Ordnung angestrebt werden. Der Aufbau jener transnationalen Rechtsordnung habe Vorrang gegenüber der Abrüstung. Dieser passive Ansatz erfuhr schon vor 1914 eine massive Kritik durch Bertha von Suttner und Ludwig Quidde. Im Eingriff in den jeweiligen Staatshaushalt erblickte man das geeignete Mittel zur allgemeinen Abrüstung. Gleichmäßige Reduzierung der Militärausgaben aller Länder wurde gefordert. Jedoch verstanden sie Abrüstung nicht gänzlich als Verzicht auf Rüstung im Allgemeinen. Der Krieg als Mittel der Politik sollte unangetastet bleiben. Erst mit der totalen militärischen Niederlage sprach sich die DFG im Oktober 1919 für eine vollständige Abrüstung aus. Die Wehrpflicht sollte abgeschafft und nichtstaatliche Rüstungsbetriebe stillgelegt werden. Eine einseitige Entwaffnung Deutschlands durch den Versailler Vertrag sah man hingegen kritisch, sollte die Abrüstung einen allgemeinen Charakter erhalten und nicht dogmatisch betrieben sein. Einseitige nationale Abrüstung forderten besonders die radikalen Antimilitaristen. Selbstabrüstung wurde zum Synonym für Kriegsdienstverweigerung.
287 Eitz, in: Ders./Engelhardt (2015): S. 190. Folgendes Zitat ebd., S. 154.
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Sämtliche Flügel der Friedensbewegung waren sich darüber einig, daß die materielle, technische Abrüstung durch die Umstellung der menschlichen Gehirne, eine moralische Abrüstung begleitet werden müsse. Strittig war nur, ob die moralische Abrüstung Voraussetzung der materiellen sei oder ob beide gleichzeitig in Angriff genommen werden könnten.288
Pazifisten, die von Friedrich Wilhelm Foerster angeregt waren, verstanden unter moralischer Abrüstung die Anerkennung der Kriegsschuld und damit die notwendige Abkehr von den Ideen des preußischen Militarismus. Es ging ihnen um die politische Diskreditierung des Systems der Monarchie. Grundsätzlich beharrten Reichsregierung und Friedensbewegung auf der Gleichberechtigung in Sachen Militärpolitik. Man zielte auf eine Anpassung des militärischen Potenzials an den deutschen Standard. Während die Reichskabinette unter der Parole Gleichheit der Sicherheit die Beendigung des militärischen Vorsprungs der übrigen Staaten, allen voran Frankreichs, durch Weltabrüstung oder eigene Aufrüstung verstanden, akzeptierten die Pazifisten nur die Reduzierung der Armeen sämtlicher Staaten auf das deutsche Niveau und verwarfen deutsche Aufrüstungsbestrebungen unter der Flagge der nationalen Sicherheit.
Aus einem System der nationalstaatlichen Sicherheit wollte man ein System der kollektiven Sicherheit machen. Der Völkerbund sei die geeignete Institution. Um Kriege künftig zu vermeiden, müsse die Abrüstung mit einer vorbehaltlosen Schiedsgerichtsbarkeit verknüpft werden. Innerhalb der Weimarer Friedensbewegung bestanden aber enorme Unterschiede in den Methoden und Ziele der Abrüstung. Die DLV erteilte der radikalen Abrüstung eine Absage und zielte auf eine Reichswehr mit einer Präsenzstärke von 200.000 Mann. Damit bestand eine grundsätzliche Einigkeit zu von Seeckt und provozierte entschiedenen Widerstand aus den Reihen der anderen Organisationen. So könne das Misstrauen gegenüber der Republik nicht abgebaut werden. Ludwig Quidde sprach von einem regionalen Abrüstungsvertrag für Mittel- und Westeuropa. Die radikalen Pazifisten identifizierten sich stärker mit den Ideen aus Moskau: allgemeine und vollständige Abrüstung sämtlicher Land-, See- und Luftstreitkräfte. Kriegsächtung und totale Abrüstung wurden gekoppelt. Die DLM legte einen Forderungskatalog vor, der erste Maßnahmen zur allgemeinen Abrüstung enthielt: Beschränkung der Streitkräfte, des Kriegsmaterials, des Heeresbudgets; Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht; Errichtung einer Kollektivverteidigung gegen Friedensbrecher; Strafbestimmungen gegen Kriegspropaganda; Streichung des Rechts auf Kriegserklärung aus den Verfassungen; Verstaatlichung der Rüstungsbetriebe.
Hatte sie zuvor radikale Abrüstungsforderungen vertreten, nahm die DLM ab 1930 mit diesen Postulaten eine pragmatische Haltung ein. Der Friedensbewegung als Ganzes war bewusst, dass es einen breiten Rüstungskonsens in der Weimarer Republik gab. Die soziale Zusammensetzung der Reichswehr war häufig Thema im Reichstag. Veränderungen erfolgten jedoch kaum. Dabei forderte man unentwegt Impulse in Richtung einer anderen Rekru288 Lütgemeier-Davin, in: Steinweg (1990): S. 189. Die folgenden Zitate ebd., S. 190 und 191.
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tierung der Armee und deren Integration in die demokratische Gesellschaft. Niemand aus der Legislative zog den Schluss, die Reichswehr zu beseitigen. Weimarers Pazifisten standen vor einem Dilemma. Der dauernde Kampf um die Wehrpflicht, ihre Beibehaltung oder Abschaffung galt als Tabu und Orientierung zugleich. Das Heer zu republikanisieren und zu demokratisieren galt als schwierig. Schon in den Anfangsjahren war man bemüht, den Regierungen die Notwendigkeit einer republikanisch denkenden Offiziersschicht zu verdeutlichen. Da dies scheiterte, war es aus Sicht der radikalen Pazifisten konsequent, der Reichswehr ihre Zustimmung zu verweigern und deren Abschaffung zu fordern. Doch das blieb ohne Realisierungschance. Fortan drängte man auf die Kürzung einzelner Teile des Reichswehretats. „In diesen Nachkriegsjahren bildete sich auf der Grundlage des Verteidigungskonsenses der späten Monarchie der Wehrkonsens der Republik heraus.“289 Situativ erfuhr er in den folgenden Monaten eine Institutionalisierung. Ab 1926 intensivierte die Friedensbewegung die Kritik am Haushalt für die Armee. Die freiwerdenden Gelder sollten sozialen Zwecken zugutekommen. Darin bestand zwischen der DFG und dem radikalen Flügel ein breites Einvernehmen. Die Etatkritik blieb das Schlüsselelement der Friedensbewegung im Diskurs um die Abrüstung. 1929 regte die DFG aus Anlass der Pariser Reparationsverhandlungen erhebliche Abstriche am Reichswehretat an. Es sei gegenüber dem Ausland nicht glaubhaft darzustellen, warum die Republik aufgrund einer wirtschaftlichen Schwäche eine Reduzierung der Reparationen einfordere, aber gleichzeitig eine hohe Millionensumme für die Armee aufwende. Man müsse zum Vorreiter einer radikalen Abrüstung werden. Dies sei die entscheidende Bedingung für die Schaffung einer europäischen Wirtschaftsunion, so die DFG. Der Bau einer Serie von Kreuzern widerspreche zudem der Unterzeichnung des Kellogg-Pakts.290 Fasst man die Positionen Oldens zusammen, so fällt auf, dass er die Republik als abgerüstet betrachtete. Der Versailler Vertrag hatte seine Wirkung nicht verfehlt. In der Unterlassung einer weiteren Aufrüstung liege die Stärke einer Demokratie in der Mitte Europas, selbst dann, wenn Frankreich und andere Staaten weiter rüsten. Die moralische Forderung auf anhaltenden Selbstverzicht kennzeichnete die Haltung Oldens zu dieser Frage. Damit verband er eine Signalwirkung, die keine der bisherigen Regierung im Ansatz verstanden hätte. Die Verständigungspolitik zielte ebenfalls auf eine maßvolle Aufrüstung und militärische Wehrhaftmachung der Republik. Würde Deutschland den Versailler Vertrag einseitig brechen, wiege der Verlust an internationalem Vertrauen in die Absichten der deutschen Außenund Sicherheitspolitik enorm und führe zu fatalen Folgen für den europäischen Frieden. Ein Ausgleich mit Frankreich rückte in weite Ferne. Gerade in den deutschfranzösischen Beziehungen sah Olden den Kern für eine friedliche Zukunft des Kontinents. Um den tendenziell in der Wiederaufrüstung angelegten Spannungen in der internationalen Politik entgegen zu wirken, müsse man entschieden gegen die Aufrüstung, gleich welcher Art, auftreten. Sie sei militärisch unbedeutend und 289 Bergien (2012): S. 76. 290 Vgl. Lütgemeier-Davin, in: Steinweg (1990): S. 186–197; Lütgemeier-Davin (1982): S. 150– 157.
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politisch fehlgeleitet, weshalb alle Bemühungen zu unterstützen sind, die dies zu verhindern suchen. Ob die Kommunisten das Volksbegehren gegen den Bau der Panzerkreuzer befürworteten, bleibt eine sekundäre Frage. Wie die gemäßigten Pazifisten innerhalb der Führungsspitze der DFG sprach sich auch Olden für das Volksbegehren aus. Es sei nicht die Zeit, ideologische Differenzen zu den Kommunisten zu pflegen. Dies richtete er vor allem an die Adresse der Sozialdemokratie. Nachdem das Volksbegehren scheiterte, verwies Olden nicht auf die organisatorischen Folgen für die Friedensbewegung. Er hatte die innen- und außenpolitischen Konsequenzen im Blick. In dieser Perspektive zeigte sich, wie wenig er in die Organisationsstrukturen der pazifistischen Verbände eingebunden war. Ihm ging es nicht um die Rekrutierung neuer Mitglieder oder die Verbreiterung der institutionellen Basis, die der Fehlschlag des Volksbegehrens erschwerte. Olden stand freier und unabhängiger neben der Weimarer Friedensbewegung, wenngleich die inhaltlichen Forderungen für eine allgemeine Abrüstung deckungsgleich waren. Wehr- und Sozialpolitik blieben in seiner Diagnose untrennbar miteinander verbunden und offenbarten einen Wandel in der Gesellschaft, vor allem mit Blick auf die politische Linke. Was in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein Tabu darstellte, diskutierte man intensiv – den Wehrgedanken. Olden verurteilte diesen Diskurs nicht, aber die Stoßrichtung missfiel ihm. Dass die Reichswehr in ihrer aktuellen Zusammensetzung eine Gefährdung für die Republik darstellte, blieb evident, die Forderung nach einer Republikanisierung folgerichtig. Darin bestand zwischen Olden und der Sozialdemokratie Einvernehmen, bildete es die Fortsetzung seines umfassenden Postulates einer geistig-moralischen Erneuerung, das sich wie ein roter Faden durch die Nachkriegsbiographie zog. Doch verschloss es ihm nicht die Augen vor den Ambivalenzen einer linken Wehrhaftmachung, die zwar innenpolitisch die Armee mit Staat und Gesellschaft aussöhne, aber außenpolitisch zu einer Belastung der Beziehungen zu Frankreich werden könnte. Sämtliche Wehrprogramme, gleich welcher politischen Couleur, zielten in seiner Anschauung auf eine Aufrüstung ab. Wenn er von (militärischer) Augenhöhe sprach, meinte er wohl eine französische Abrüstung auf das deutsche Niveau als Grundlage der angesprochenen Militärkonvention im Rahmen eines politischen Bündnisses als Korsett des paneuropäischen Projekts. Dass Deutschland weiter allein einseitig abrüstet, lehnte Olden ab. Für die Republik müsse aber jeder Versuch der Aufrüstung und sei er vermeintlich noch so klein und unbedeutend, unterlassen werden. Die internationalen Beziehungen kennzeichneten noch ein Maß an Anarchie, welches den Ruf nach Verteidigung und Sicherheit durch eine Wiederaufrüstung legitimiere. Für Olden bedurfte es des Ausbaus der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit und der breiteren Anerkennung und Verankerung des Kriegsächtungsgedankens aus dem Kellogg-Pakt. Nur so könne der anarchistische Zustand Europas langsam aufgehoben und die vermeintlich begründete Aufrüstung ad absurdum geführt werden. Die materielle Abrüstung Frankreichs bedarf parallel einer verbal/inneren aller europäischen Staaten. Die Rhetorik der Wehrhaftmachung und die Betonung des Sicherheitsbedürfnisses führten unter den anhaltenden Bedingungen der internationalen Anarchie an die Schwelle von 1914. Schlüssel zur Befriedung, Aussöhnung
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und letztlich zu einer deutsch-französischen Allianz sei die Leistung der Reparationszahlungen. So entstünde Vertrauen in die Aufrichtigkeit der deutschen Politik, die in Konsequenz vor allem Frankreich überzeugen könnte, selbst auf eine Aufrüstung zu verzichten und so einen Spielraum für Berlin eröffne, weiter abzurüsten, um der gemeinsamen europäischen Perspektive näher zu kommen. Die aufkeimende Weltwirtschaftskrise ließ jenen Optimismus rasch enden, was Oldens Position verschob. Abrüstung und Kürzung des Etats für die Reichswehr diene als Voraussetzung dem Zweck, die geforderten Zahlungen aus dem Young-Plan erfüllen zu können. Die Republik müsse freiwillig ihr militärisches Potenzial reduzieren und den Alliierten ein Signal der Friedfertigkeit übermitteln. Als Instrument sei eine Rüstungsbeschränkung durch eine Verminderung der Haushaltsgelder für die Reichswehr zu präferieren und auf einer internationalen Abrüstungskonferenz allseitig festzulegen, nicht nur allein für die Weimarer Republik. Sie müsse als Vorbild voran gehen, selbst dann, wenn es zu ihren Ungunsten gehe. Die Vertrauensbildung muss der entscheidende Maßstab mit Blick auf die Frage der Rüstung bleiben. Zudem entlaste man den Staatshaushalt, der durch die ökonomischen Verwerfungen vor allem sozialstaatlich an seine Grenzen stoßen werde. Dieser Prozess in der Beurteilung der allgemeinen Wehrhaftigkeitsbestrebungen fand eine tragische Fortführung zu Beginn der 1930er Jahre. In dem Moment, wo das Kabinett Brüning unter Druck gerät, unterstützte Olden den Weiterbau der Panzerkreuzer-Serie explizit. Es sollte die Republik innenpolitisch stabilisieren helfen und die Nationalsozialisten von der Macht fernhalten. Wenn der Zeitgeist nach einer neuen Phase der Aufrüstung verlange, dann wenigstens durch Demokraten und Republikaner, sah sich die nationalistische Rechte ohnehin nicht an Abrüstungsbemühungen und Konferenzen gebunden. Ist eine starke Wiederbewaffnung unausweichlich, und dies empfand Olden, dann muss sie durch die Sozialdemokratie in eingehegter Form betrieben werden, sonst drohte ein weiterer Abschnitt entgrenzter Wettrüstung, die den Frieden in Europa unmöglich mache. Ihm war gleichwohl bewusst, welch unversöhnliches Signal damit von Berlin aus nach Paris gesandt wird. Vertrauen als Währung der zwischenstaatlichen Beziehungen war wertlos geworden. Der Bau des Panzerkreuzers, des zweiten aus einer Serie, deren erster die Regierung Hermann Müller zu bauen beschloss, ist gewiss in der Zeit schlimmster Arbeiternot eine arge Belastung für eine proletarische und friedensfreundliche Partei gewesen, aber nicht die ärgste. Wenn schon die schlimme Lage, in die die kapitalistische Krise unserer Zeit das deutsche Volk und besonders das deutsche Proletariat bringt, von dem politisch unbelehrten Teil der Wählerschaft den regierenden Parteien, aber auch der tolerierenden Partei, zur Last gelegt wird und wenn das unvermeidlich aber auch unabwendbar ist – so kommt dazu, dass das Ausland die Fehler der deutschen äußeren Politik – und zu ihnen gehört die Art, wie die Abrüstungskonferenz vorbereitet wird – auch der Sozialdemokratie mit auflastet, dass der Kredit jetzt bedroht wird. Geht dieser Schatz an Vertrauen verloren, wie soll man sich den Beginn einer neuen besseren auswärtigen Politik vorstellen?291
291 R.O. Kommende Entscheidung, in: Berliner Tageblatt, 6.6.1931 M.
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Mit der Haltung, die Olden in Bezug auf die Frage der Aufrüstung einnahm, zeigte er eine Parallelität zum linksliberalen Pazifismus der Vorkriegszeit, wenn eine Verrechtlichung der Staatenbeziehungen zur Beseitigung der internationalen Anarchie angemahnt wird. Auch ihm ging es um eine reduzierte Form des gerüsteten Staates und nicht um eine gänzliche Beseitigung militärischen Spielraums. Der jeweilige Stand der Waffenarsenale muss sich am Grad der zwischenstaatlichen Organisationsverbindung orientieren. Anders als in der Zeit vor 1914 sah Olden in abgerüsteten Staaten die Bedingung für eine weitere internationale Verflechtung. Sie galten nicht mehr als deren Ergebnis. Die Gleichmäßigkeit in der Reduzierung der Rüstungsausgaben teilte er mit Quidde und Suttner, die dies bereits vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges darlegten. Krieg als Mittel der Politik war für ihn aufgrund der Erfahrungen zwischen 1914 und 1918 undenkbar. Dies trennte ihn von den Vorstellungen der gemäßigten Vorkriegspazifisten. Einer einseitigen Abrüstungsforderung unter Anerkennung einer alleinigen deutschen Kriegsschuld widersprach Olden entschieden. Damit stand er nach 1918 auf Seiten der gemäßigten Pazifisten in Weimar, während die Radikalen in der DFG für eine nationale deutsche Abrüstung stritten. Jene Form der Kriegsdienstverweigerung machte sich Olden nie zu eigen, wenngleich es ihm im allgemein-moralischen um eine Pazifizierung der Köpfe ging. So unterschiedlich die jeweiligen Schattierungen innerhalb der Weimarer Friedensbewegung waren, darin bestand lagerübergreifend Einigkeit. Für Olden selbst blieb markant, dass beides, materielle wie geistige Abrüstung Hand in Hand gehen müsse. Gleichberechtigung wurde zum Schlüsselbegriff und öffnete erneut das Narrativ für das Bild eines gerechten Friedens in Europa, indem jede einzelne Nation Sicherheit durch Gleichheit erreiche. Da durch den Versailler Vertrag die Republik auf ein Minimum abgerüstet sei, müsste allen voran Frankreich abrüsten, um jener Forderung Rechnung zur tragen. Dies war die übereinstimmende Anschauung zwischen Olden und den Gemäßigten. Gleichzeitig idealisierte man den Verzicht auf eine deutsche Aufrüstung, die den politischen Realitäten in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre nicht mehr stand hielt und 1931 in der Befürwortung weiterer Flottenrüstung erodierte. Über den Völkerbund als geeignete Institution kollektiver Sicherheit schrieb Olden nicht, wenngleich er das Mittel der Schiedsgerichtsbarkeit gestärkt sehen wollte, um damit einem Frieden durch Recht zum Durchbruch zu verhelfen. Während die radikalen Pazifisten die Idee der Kriegsächtung mit umfassender Abrüstung verknüpften, tat dies Olden eher auf Grundlage des Forderungskataloges der DLM. Ziel war sowohl eine materielle Reduzierung über eine beschränkte Truppenstärke, über einen verminderten Etat und die Errichtung eines kollektiven Systems der Sicherheit, als auch eine moralische Abrüstung über die Stärkung des Kriegsächtungsgedankens. Gemäßigter und radikaler Pazifismus verschmolzen in Oldens Position und stellten in seiner Person keine ideologischen Gegensätze dar. Gleichwohl konnte er als Liberaler eine Verstaatlichung der Industrie im Rüstungsbereich oder aber die Abschaffung der Wehrpflicht nicht unterstützen. Wie dargelegt, dürfe die Armee keinesfalls volksfremd sein. Alle Schichten der Gesellschaft müssen in ihr in Form eines Volksheeres integriert und repräsentiert sein. Alte Klassenschranken und dünkel müssen fallen. Genau das meint Demokratisierung bzw. Republikanisier-
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ung. Anders als zahlreiche radikale Pazifisten glaubte Olden an ein Gelingen, weshalb er zu keiner Zeit die Abschaffung der Reichswehr verlangte. Mit seiner Strategie der Etatkritik stand er gänzlich auf dem Boden der Weimarer Friedensbewegung, die in all ihren Spielarten mit den Millionen aus dem Budget der Reichswehr eine sozialstaatliche Politik verfolgten, eine Brücke zu den deutschen Reparationszahlungen schlugen und unter den wirtschaftlichen Bedingungen der weltweiten Rezession nach Abrüstung trachteten. Mögen im Detail weitere Differenzen bestehen, so kennzeichnete dies den Grundkonsens zwischen Olden und den Weimarer Pazifisten im Komplex der nationalen Rüstung, wenngleich ihm die politischen Herausforderungen der Zeit eher eine pragmatischere Haltung zu diesen Fragen um 1931 aufzwangen. Er war bereit, sein Abrüstungsideal aufzugeben, um die Republik vor der Gefahr von rechts zu schützen. Neben der Sozialdemokratie gab es in Gestalt der DDP eine weitere Partei, die intensiv das Spannungsverhältnis zwischen Wehrpolitik und Pazifismus diskutierte und Oldens Positionen geprägt haben könnte. Schon 1919 sprach sie in ihrer Programmatik von einer Wehrverfassung, die dem Prinzip des Volksheeres folgte. Eine allgemeine Wehrpflicht war obligatorisch. Aus innenpolitischen Gründen griff sie wie die SPD das Postulat der Republikanisierung auf. Die Reichswehr sollte im Falle einer monarchistischen Konterrevolution als Machtfaktor künftig ausfallen. Linksliberalismus und gemäßigter Pazifismus fanden entlang dieser Punkte eine politische Übereinstimmung, die nicht nur auf Olden, sondern auch auf Quidde und Schücking zutraf. Dahinter stand zugleich die Ablehnung einer alleinigen deutschen Kriegsschuld. Lange Zeit verfügte die DDP über Otto Geßler im Amt des Reichswehrministers einen direkten Zugang zur bewaffneten Macht. Dies bot erhebliche Chancen auf eine Realisierung des eigenen wehrpolitischen Programms. Die tatsächlichen Verhältnisse gestalteten sich anders. Unter seinem Einfluss blieb die Reichswehr in ihrem ursprünglichen Zustand. Ein republikanisches Gebilde wurde aus ihr nicht, im Gegenteil: geheime Rüstung und sogar nationalsozialistische Zellenbildung, wie der Ulmer Reichswehrprozess offenbarte, standen am Ende dieser Unterlassung Geßlers. Die Truppe wurde gezielt von republikanischen Einflüssen freigehalten. „Die ministeramtliche Abschirmungspraxis erhielt eine wirksame Ergänzung und Stütze durch die deutsche Rechtsprechungspraxis bis hinauf zum Reichsgericht, weil hier der Tatbestand des Landesverrats eine extensive Auslegung“292 erfuhr. Jene Entwicklung spiegelte die journalistische Biographie Oldens und seine thematische Schwerpunktsetzung wider. So ist es erklärbar, dass er trotz der inhaltlichen Schnittmengen zur DDP, die Absetzung Geßlers im Januar 1928 im Zuge der Lohmann-Phoebus-Affäre wohlwollend kommentierte. Auch in seiner eigenen Partei war der Minister ab 1922 umstritten. Schon 1923 forderten parteiinterne Kritiker seinen Rücktritt, wenngleich es in Person von Theodor Heuss oder dem seit 1924 amtierenden Parteivorsitzenden Erich Koch-Weser nicht an Befürwortern mangelte. Dieses innerparteiliche Spannungsverhältnis mündete nicht selten in eine gewisse Form der tagespolitischen Selbstparalyse und 292 Holl, in: Ders./Wette (1981): S. 139.
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macht die DDP in Fragen der Wehrpolitik praktisch unbeweglich, zumal man grundsätzlich um das Überleben der Partei besorgt war. Es sollten national gestimmte Wähler in ihr integriert bleiben. Zugleich besaß man mit dem Friedensnobelpreisträger Quidde ein international anerkanntes Parteimitglied. Der gemäßigte Pazifismus als solcher war in zahlreichen Mitgliedern der DDP organisiert. Unter der Mitgliedschaft der DFG befanden sich parallel ca. ¼ Anhänger der Partei. Die Integrationsanstrengungen zielten auf diese Unterstützer, was bei Olden durch die praktische Politik des Reichswehrministers nicht gelang. Trotz zahlreicher thematischer Übereinstimmungen in Fragen der Wehrpolitik und seiner sozialliberalen Grundorientierung fand er nicht den Weg in die Strukturen der DDP. Zum Bau der Panzerkreuzer nahm sie eine kaum weniger sprunghafte und zwiespältige Haltung ein als die SPD. Schöpferisch in die Debatte um die Wehrhaftmachung einzugreifen, war sie nicht in der Lage. Verschiedene Gruppierungen rangen miteinander, weshalb eine geschlossene wehrpolitische Konzeption unvermittelbar war.293 Aus Sicht der Bellizismusthese erscheint es gerechtfertigt, mit Blick auf SPD und DDP von der Verknüpfung einer jeweils unterschiedlich motivierten Integrationspolitik mit einer Rüstungsexpansion ab 1924 zu sprechen. Bisher spricht die Forschung für die Jahre zwischen 1924-1929 von einer Phase der (relativen) Stabilität. Neuere Ansätze betonen die Grenzen dieser. Der Staat, der 1919 von einer breiten gesellschaftlichen Mehrheit legitimiert war, verlor seine Massenbasis zusehend. Der Stahlhelm oder der Bund der Frontsoldaten propagierte erfolgreich einen neuen Nationalismus. „Eins war dieser Zeitabschnitt aus der Perspektive der Reichswehrführung ganz sicher nicht: eine Zeit der wehrpolitischen Mäßigung, die grundsätzlich von der Rüstungskooperation ab 1930 abzugrenzen wäre.“294 Über die Stiftung eines Wehrkonsens die nationale Integration aller Klassen in den Staat zu realisieren, scheiterte jedoch. Ein neuer Burgfriede blieb aus. Am Komplex der Landesverteidigung war die gesellschaftlich anhaltende Polarisierung weiter sichtbar. Militär und linksrepublikanisches Lager standen vermehrt unversöhnlich gegeneinander. Zu einer gemeinsamen Konzeption der Wehrhaftmachung kam es nicht. Eine Integration unterblieb. Wehrfeindliche Teile der Gesellschaft sollten verstärkt ausgeschlossen werden. Dafür warben nicht nur Vertreter der Rechten, sondern zunehmend auch die Führung der Reichswehr und die Reichsregierung. „Wollte man weiter aufrüsten, blieb nur noch die Transformation des politischen Systems, die Marginalisierung der Wehrfeinde und spalterischen Kräfte in Gestalt der Sozialdemokratie und KPD.“ Jener Konsens, so die These, unterlag einer gewissen Entwicklung. In kooperativer Form bestand er seit der Gründung der Republik und wurde nach der Ruhrbesetzung weiter systematisiert, die Geheimrüstung quasi verstaatlicht. Von einem plötzlichen Übergang kann nicht die Rede sein. Auf Reichsebene zeigte sich die zivil-militärische Rüstungskooperation in den Jahren ab 1924 aber seltener, wenngleich ihr eine handlungsleitende Funktion zugeschrieben wird. Vor allem die Arbeit der Interalliierten Militärkontrolle be293 Vgl. ebd.: S. 135–148. 294 Bergien (2012): S. 132. Die folgenden Zitate ebd. und S. 149f.
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schränkte die Fähigkeiten zur Geheimrüstung innerhalb einer außen- wie innenpolitisch vorläufig beruhigten Lage. Die kurzfristige Zielsetzung des Republikschutzes verlor an Bedeutung. Die Wehrhaftmachung war auf Mittelfristigkeit angelegt. Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auf die Intensivierung der Rüstungskooperation mit der Sowjetunion oder den Lohmann-Skandal. Franz Kempner und Erwin Planck, Staatssekretäre in der Reichskanzlei, formten sie zu einer Schaltzentrale der zivil-militärischen Kooperation. Der wehrpolitische Konsens behielt kontinuierlich seine beabsichtigte Manifestation. Die Ministerialbürokratie (z.B. in den Ministerien für Finanzen, Verkehr und Fernmeldewesen) arbeitete eng mit dem Reichswehrministerium zusammen. Explizit sichtbar war dies vor allem auf regionaler und lokaler Ebene. Im ländlichen Raum blieb es nicht unbemerkt, insbesondere mit Blick auf die Basis von Sozialdemokraten und Kommunisten. Die DFG und die DLM in Person von Mertens, Gumbel oder Quidde griffen jene Alarmmeldungen auf und machten sie mit ihren Publikationen reichsweit öffentlich. Eine verstärkte republikkritische Haltung war die Folge. Scharfe Kritik an diesem System kam nur von einer Minderheit aus der Sozialdemokratie, wie die Reichstagsrede von Philipp Scheidemann belegte, in der er über die Kooperation zwischen Reichswehr und Roter Armee informierte. Seine Enthüllungen waren aus der Perspektive des Offizierskorps nichts anderes als Verrat. Es erschwerte die Bemühungen jener, die aktiv für eine Integration republikanischer Bevölkerungsgruppen in den Komplex der Landesverteidigung bemüht waren. Olden muss zu diesem Kreis gerechnet werden, freilich von Seiten der Friedensbewegung und nicht von Seiten des Militärs. Zu fragile war das Verhältnis der Offiziere zum republikanischen Verfassungsstaat. So entstand nicht ganz zufällig das gegensätzliche Bild von nationalem/wehrfreundlichem und republikanischem/wehrfeindlichem Lager. Jedoch nahmen sie Ministerialbürokratie, Provinzverwaltung und, mit Einschränkungen, auch die Reichsregierungen weniger als Repräsentanten der Republik als des Staates wahr. Daher stand einer Vertiefung der zivil-militärischen Rüstungskooperation ab 1927 trotz des unerfreulichen Zwischenspiels der Scheidemann-Rede aus militärischer Sicht zunächst nichts im Wege.
Dies galt nur solange, bis weiter Geld an die Militärs zur Finanzierung ihrer geplanten Wehrhaftmachung floss. Dagegen wandte sich nicht nur Olden, wenn es ihm künftig um eine Reduzierung des Etats für die Reichswehr im Einvernehmen mit einer breiten Mehrheit der Weimarer Friedensbewegung ging. Es kann nicht verwundern, dass dies vor allem im Nachgang zur Lohmann-Affäre einsetzte, hatte sie zwei entscheidende Implikationen. Zunächst institutionalisierte und normierte man auf Reichsebene die Rüstungsfinanzierung. Der Mitprüfungsausschuss (MPA) wurde Ende November 1927 installiert, dem Vertreter des Reichswehrministeriums, des Finanzministeriums und des Rechnungshofes angehörten. Man prüfte die Ausgaben der Reichswehr für die Geheimrüstung und setzte haushaltsrechtliche Regelungen für den Bereich der Schwarzen Reichswehr durch. De facto legalisierte man sie und übernahm die politische Verantwortung. Zweitens verzichtete die Opposition darauf, aus dem Skandal politisches Kapital zu schlagen. SPD und DDP standen an der Seite der Regierung. Lagerübergreifend hatte sich der Konsens erneut als tragfähig erwiesen. Die
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Oppositionsparteien wurden aus Sicht der Regierung zu Handlangern der Abschirmung des Skandals und gleichzeitig gab es der Sozialdemokratie die Gelegenheit, ihre Wehrfreundlichkeit zu beweisen. Nach der Rede Scheidemanns war dies von enormer Bedeutung, wollte sie regierungsfähig erscheinen. Mit dem Regierungsantritt der Großen Koalition unter Reichskanzler Hermann Müller glaubte man zumindest theoretisch an die Chance, eine Republikanisierung endlich durchzusetzen, um die Entwicklung seit dem Kapp-Putsch zu korrigieren. Müller verfügte aber über diese Korrekturmöglichkeit nicht. Die Präsidialherrschaft von 1930 war in der Wehrpolitik bereits 1928 anzutreffen. In den folgenden Monaten entwickelte die SPD eine loyale Haltung gegenüber einem derartigen Wehrkonsens dessen offensichtlicher Ausdruck die Bewilligung des Panzerkreuzers A war und seine Fortsetzung in der Bewilligung eines geheimen Wehretats oder in der Zustimmung zu den Richtlinien über den Grenz- und Landesschutz fand, die den Ausbau des Landesschutzes zu einer zivil kontrollierten Wehrersatzorganisation billigte.295 Konsens und Kooperation fußten auf geteilten Schnittmengen von Denkstilen und Ordnungsvorstellungen. In gewisser Weise beeinflussten sie die Handlungen politisch-administrativer Eliten. Der Wehrkonsens zeigte sich allen voran in Entscheidungssituationen. Einem ideengeschichtlich bedingten Konsens stand ein praktischer zur Seite. Er erweiterte die Untersuchungsebene und öffnete ein weiteres Analysefeld für die Positionen Oldens. Waren in seinen Augen die zivil-militärische Kooperation und deren bellizistischen Deutungsmuster Resultat gewohnter politisch-sozialer Praxis, d.h. situativ bedingt und anhand gewisser Akteurskonstellationen strukturiert? Relevant erscheint der praktische Blick auf die Reichsebene und die dortige Entwicklung einer Verstaatlichung der Geheimrüstung ab 1927 unter dem Aspekt der Etatisierung. Der systematischen Aufrüstung ging eine massive staatliche Anschubfinanzierung in Form des Ruhrfonds voran, der keine einmalige Zuwendung war, sondern sich in eine Vielzahl systematischer Subventionen zur Landesverteidigung einreihte. Als Verfahren wandte man u.a. die Besetzung von Abteilungen eines zivilen Ministeriums, das über verwendbare Gelder verfügte, mit ehemaligen Militärs an. So leitete das Reichsverkehrsministerium Teile seiner Mittel in die Aufrüstung der Luftwaffe um. Von größerer quantitativer Bedeutung war die Steigerung der Haushaltsgelder für die Reichswehr. Schon 1928 erreichte diese Position mit 830 Millionen Reichsmark in der Nachkriegszeit nicht gekannte Höhen. Der Finanzbedarf war damit keineswegs gedeckt, weshalb weitere Gelder aus den Zivilressorts der Wehrhaftmachung zugeführt wurden. Die Führung der Reichswehr erhob regelrecht Anspruch darauf. Man sah es als vorteilhaft an, den zivilen Ministerien selbst die Erfüllung und Finanzierung der Rüstung anzuvertrauen, Gelder also nicht erst zu transferieren. So stellten sie Mitverantwortlichkeit her. Zivile und militärische Etats wurden miteinander verflochten und dies nicht mehr infrage gestellt. Es galt zu Beginn der 1930er Jahre als Normalität. Mit der Einrichtung des MPA institutionalisierte die Reichsregierung den Einfluss der Finanzbürokratie.296 295 Vgl. ebd.: S. 131–167. 296 Vgl. ebd.: S. 201–206.
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Zur Beantwortung der eingangs aufgeworfenen Fragestellungen lohnt abschließend ein Blick zurück auf das, was Olden als exzellenter Beobachter im Komplex der Fememorde bzw. des Landesverrates anmerkte. Zwar interessierten ihn in jenen Ausführungen hauptsächlich juristische Aspekte, dennoch standen dahinter auch Fragen der Wiederbewaffnung, Wehrhaftmachung und Aufrüstung. Diese thematisierte er eher unterschwellig, wenngleich sie aber nicht zu lösen sind von der strafrechtlichen Würdigung. Es verrät somit mehr über den damaligen Fokus ihres Verfassers. Nichtsdestotrotz offenbaren diese Beiträge und Artikel in der Rückschau eine interessante Sichtweise auf den unterstellten Wehrkonsens der späten 1920er Jahre. Im Bereich der Fememorde waren es vor allem die Verteidigungsaussagen der Angeklagten, die Olden erstmals nachdenklich gestimmt haben dürften. So wollten die Anwälte der Mörder behaupten, „es sei Pflicht, und zwar die durch hohe Staatsorgane auferlegte Pflicht gewesen, jeden Verrat der Waffen zu verhindern. Da ein anderes Mittel als Selbstjustiz ihnen zur Abwehr des Verrats nicht zur Verfügung gestanden habe, so hätten sie nicht rechtswidrig gehandelt.“297 Aus dieser Feststellung zog er Ende April 1928 noch keine Schlussfolgerung. Vielmehr war Olden durch seine Rolle als Prozessbeobachter sensibilisiert für eine derartige Argumentation, deren Glaubwürdigkeit zwar anfänglich in Abrede gestellt war, wohl aber zunehmend Zweifel erregte, ob der staatlichen Beteiligung an den Mordtaten. Schließlich schrieb er, „dass die Verantwortung noch andere als die Angeklagten belastet.“ Nicht umsonst begann Olden in dieser Phase vom Oxymoron des „Zivilmilitarismus“298 zu sprechen. Seine Aufmerksamkeit hinsichtlich der Rolle staatlicher Stellen war geweckt und fand seine Fortsetzung. Mit Verwunderung kommentierte er eine gewisse Teilnahmslosigkeit, die zutage trat, als bekannt wurde, dass die geheimen Depots der Reichswehr gehörten. Zunächst handelt es sich, wie jetzt offen anerkannt wird, um Waffen der Reichswehr, Waffen, die nach dem Friedensvertrag und dem entsprechenden deutschen Gesetz hätten abgeliefert werden sollen, tatsächlich aber von der Reichswehr auf pommerschen Rittergütern versteckt wurden. Die Rossbacher waren Verwahrer solcher Waffen. Zwar leugnet das die Reichswehr und der Staatsanwalt mit ihr, aber es ist klar, dass es tatsächlich so gewesen ist. Interessant ist aber die Aufrichtigkeit, mit der heute jene flagrante Verletzung des Friedensvertrages zugegeben wird, ohne dass in der Welt ein Hahn danach kräht. 299
Von einer gezielten Kooperation oder gar von einem Konsens mag noch nicht die Rede sein, wenngleich Verquickungen kenntlich gemacht wurden, zum einen durch Aussagen der Angeklagten, zum anderen durch Enthüllungen der links-pazifistischen Presse. Gleichzeitig überwog die Vorstellung von der Armee als autonomen Verband innerhalb der Republik:
297 R.O. Reichswehr, Rossbacher und Landbund, in: Berliner Tageblatt, 21.4.1928. 298 R.O. Das Ende einer Lüge, in: Berliner Tageblatt, 28.4.1928. 299 R.O. Schwarze und andere Reichswehr, in: Argentinisches Tageblatt, 27.5.1928.
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Es mangelt denn nicht an unaufgearbeiteten Resten aus der Periode, in der die Reichswehr meinte, sie müsse – Staat im Staate – eine selbstständige, selbstherrliche Politik, unabhängig von den Führern der Republik, zugunsten ihres eigenen Staatsbegriffs treiben 300,
so Olden Ende Mai 1928. Umgekehrt wird daraus zugleich erkennbar, welche Sicht er auf die Jahre hatte, in denen von Seeckt (1920–1926) die Geschicke der Reichswehr lenkte. Anders als aus Perspektive der forschungsaktuellen Bellizismusthese sah er das Militär als einen Staat im Staat und keinen Wehrkonsens unter dem Primat des Republikschutzes. Allerdings erscheint es möglich, dass mit der Aufdeckung der Lohmann-Affäre ein Wendepunkt in der Einschätzung erreicht war. Kurz nach deren Bekanntwerden schrieb er im März 1928 von einer gezielten Unterstützung des Systems der Zeitfreiwilligen durch die Exekutive im Kampf gegen den Versailler Vertrag. „Es war im Jahre 1925, als die Reichsregierung offen erklärte, daß sie sich unter besonderen Umständen gezwungen geglaubt hatte, die Reichswehr durch, vom Friedensvertrag und Wehrgesetz ausgeschlossene, kurzfristig dienende Soldaten zu ergänzen.“301 Der Skandal um die Rüstungsfinanzierung im Bereich der Marine legte das gesamte System endgültig offen. „So wird es gemacht. Man glaubt an gewissen Stellen man könne für nichts zur Verantwortung gezogen werden, wenn man die wirklichen oder angeblichen Interessen der Landesverteidigung in irgendeinen Komplex hineinmischt.“302 Die Kritik am Finanzierungsverfahren der Aufrüstung (nicht zuletzt über den Ruhrfonds) ist spürbar. Olden sprach von einer „widerlichen Verfilzung nationaler Politik“, deren Enttarnung durch die „obersten Justizbehörden“ verhindert werde. Die juristischen Eliten, allen voran das Reichsgericht in Leipzig, verkomme zum Schild und Schwert einer bellizistischen Republik. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass in der juristischen Praxis die Landesverratsprozesse von vielen Richtern und Staatsanwälten als politische Waffe gehandhabt wurden. In ihrem Ausgang oft abhängig von Gutachten, die Reichswehroffiziere als militärische Sachverständige erstellten, erfüllten die Prozesse in der politischen Kommunikation der Weimarer Republik die Funktion, die Grenzen des Sagbaren enger zu ziehen und Geheimrüstungsgegner zur Not präventiv zu bestrafen.303
Diese Interpretation wird durch die zeitgenössischen Kommentare Oldens und dessen Engagement im Bereich des Landesverrates weiter bestätigt und verstärkt. Auf dem Feld der Rechtsprechung war es hauptsächlich eine akteursbezogene Kritik der dritten Gewalt im Staat zur Tarnung eines Wehrkonsens, auch wenn er dies explizit nicht ausdrückte. Die verantwortlichen Juristen in Leipzig blieben sein kontroverser Gegenstand, ohne das Olden auf eine personelle, durch soziale Praktiken determinierte Kooperation zwischen zivilen und militärischen Eliten überhaupt einging. Deutlicher kam es in seinen Artikeln zum Ausdruck, deren Gegenstand explizit die Aufrüstung beschrieb, wobei sich Ambivalenzen und Widersprüche zeigten. 300 301 302 303
R.O. Entgiftung?, in: Berliner Tageblatt, 29.5.1928 M. R.O. Demokratische Kontrolle, in: Berliner Tageblatt, 15.3.1928 A. R.O. Das System, in: Argentinisches Tageblatt, 8.4.1928. Die folgenden Zitate ebd. Bergien 2012: S. 156f. Folgendes Zitat ebd., S. 170.
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Maßgeblich im Diskurs um den Bau des Panzerkreuzers A wurde dies deutlich. Zu einer Regierungskrise wegen der Flottenrüstung innerhalb der Großen Koalition zwischen DVP und SPD, so stellte Olden fest, kann es eben gar nicht kommen. Die Dinge seien zwischen den Koalitionspartnern längst beschlossen. Seine Wahrnehmung trog schließlich nicht. Obwohl keine Rede von einer gezielten zivil-militärischen Kooperation war, empfand er die Flottenrüstung augenscheinlich als gemeinsames Projekt von Politik und Militär. Nachhaltigkeit erwuchs daraus nicht, wenn nach Abschluss des Volksbegehrens wieder von einem Sieg des Militärs gesprochen wird, wobei der ausführlich zitierte Abschnitt eine andere Deutung zulässt. So kann mit Zivilgewalt auch die am Volksbegehren interessierten pazifistischen Verbände gemeint sein und weniger die Reichsregierung und deren zivile Vertreter als solche. Olden ist an diesem Punkt nicht eindeutig. An anderer Stelle sprach er hingegen erneut vom Bild der Reichswehr als Staat im Staate, was den Blick auf einen anhaltenden Wehrkonsens womöglich trübte. Innerhalb der Regierungsparteien war es für ihn eindeutig, dass es zwischen den beiden vermeintlich politischen Polen – DVP als Befürworter der Flottenrüstung, SPD als Gegner und Pazifisten – inzwischen einen breiten Konsens in der Frage der Wehrhaftmachung gab. Dahinter trete vielleicht die Frage einer zivil-militärischen Kooperation zurück. Wenn dies der Fall gewesen sein sollte, rücken für die Beurteilung der Positionen Oldens stärker die inhärenten bellizistischen Denk- und Deutungssysteme in den Mittelpunkt. Geht man auf die Beurteilung der gesellschaftlichen Realität nach dem Scheitern des Volksbegehrens zurück, wird sichtbar, dass Olden ein derartiges militaristisches Denkmuster zu erkennen glaubte. Krieg als Mittel der Politik werde zwar weiterhin gesellschaftlich abgelehnt, ein Wehrdiskurs zugleich aber begrüßend geführt, auch bei der politischen Linken. Deutschland erneut zu einer Militärmacht zu machen, war in seiner Anschauung konsensfähig. In den Programmen der Parteien komme nichts anderes zum Ausdruck, als das Denken und die Begründungen von gestern. Die Phrasen des Militärs hätten zum wiederholten Male den gesellschaftspolitischen Diskurs geprägt. Nach Oldens Anschauung führen sie an den Rand eines neuen Krieges, der durch die Bemühungen um eine Wehrhaftmachung provoziert werde. Im Zusammenhang mit dem Bau des Panzerkreuzers sah er die Existenz eines gewissen bellizistischen Denkmusters, dass selbst innerhalb der Sozialdemokratie über die Figur von Rudolf Hilferding personifiziert war. Oldens Umschlag ins Pragmatische in der Rüstungsfrage, zum Schutz der Regierung Brüning, zeigt an, dass selbst er sich nicht gänzlich frei von äußeren Umständen machen konnte. Die Wirkmächtigkeit derartiger Denkmuster ließ die Grenzen verschwimmen. Evident erscheint der Hinweis, dass Olden nicht zum Militaristen konvertierte, wenn er für eine Fortführung der Rüstung plädierte. Vielmehr determinierte die Polarisierung des politischen Systems seine Haltung in dieser Frage. Zum Schutz und zum Erhalt der republikanischen Ordnung griff er das bellizistische Denkmuster auf. Darin mag sich die Tragik seines Pazifismus am Ausgang der 1920er Jahre manifestieren, auch wenn darin nicht die Ursache für die gescheiterte Umerziehung und Pazifizierung gesellschaftlicher Eliten gesucht wurde. „Um das Jahr 1930 herum wurde die Wehrhaftmachung in der Weimarer Republik zu einem Mittel, mit dem ein nationalistisch-bellizistischer Gesellschaftsent-
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wurf durchgesetzt werden sollte.“ Sie begann sich aus der Einbettung in den republikanischen Staat zu lösen. Die Reichswehrführung sah nach dem Auseinanderbrechen der Großen Koalition nicht mehr die Notwendigkeit, die Wehrhaftmachung in Einklang mit der republikanischen Ordnung zu bringen. Wohl auch deshalb zielte Olden auf die Fortführung der Aufrüstung, hoffte er vermutlich, dass damit der Weg einer Republikanisierung des Militärs gangbar bleibe und die Zügel staatlichen Handelns weiter in Händen überzeugter Republikaner liege. Ob damit eine falsche Wahrnehmung der Kanzlerschaft Brünings verbunden war, muss an dieser Stelle offenbleiben. Grundsätzlich sprach er den einzelnen Parteien untereinander den Willen zu einem aktiven und kooperativen Wehrwillen zu. Gleichzeitig drückte das Regierungshandeln, nicht zuletzt in Form einer politisierten Justiz, eine kooperative Zusammenarbeit mit der Führung der Reichswehr aus, die ihre Fortsetzung in der staatlichen Haushaltsplanung fand. Diese Systematik wurde anhand seiner Beiträge sichtbar, sodass wie folgt geschlussfolgert werden muss: Das bestehende bellizistische Denkmuster schuf zu Beginn zwischen SPD und DVP eine grundlegende Einigkeit mit Blick auf die Aufrüstung, wenngleich unterschiedliche ordnungspolitische Vorstellungen dahinterstanden. Vor allem in der Etat-Frage wird dies zu einer expliziten zivil-militärischen Kooperation gedeutet, die auf dem Feld der Fememord- bzw. Landesverratsprozesse angedeutet und wahrgenommen wurde. Insofern war seine Sicht auf den praktischen Bellizismus der Republik teilweise situativ – in der Rechtsprechung, der Flottenrüstung und der Finanzpolitik – bedingt und anhand individueller (Fememörder und Landesverräter) und kollektiver (parteipolitischer) Akteurskonstellationen strukturiert. Die Reichweite dieser Interpretation ist begrenzt, schließt sie aufgrund eines Mangels an Äußerungen, Komplexe des Republikschutzes in Form der Einwohnerwehren oder einer Wehrhaftmachung in Gestalt der späteren Landschutzorganisationen als relevante Narrative des Wehrkonsens nicht mit ein. Abschließend sei auf die ordnungspolitischen Kontinuitäten zu verweisen, die den Pazifisten Olden, ausgehend von der Wien-Periode bis zu seiner Rolle als politischer Leitartikler, kennzeichneten. Mit Beginn des Jahres 1928 prophezeite er die Ausrufung von Reichstagsneuwahlen. Vor allem Stresemann arbeite darauf hin. „Dieser ausgezeichnete Politiker – zu Hause schwarzweissrot und draussen schwarzrotgold – dessen Lebensaufgabe es zu sein scheint, mit Deutschnationalen pazifistische Politik zu treiben, wünscht, dass die deutschen Wahlen bald stattfinden.“304 Dies habe hauptsächlich außenpolitische Gründe. Für den neuen Reichstag erwarte man eine linke Mehrheit, die, so die Hoffnung des Außenministers, dazu beitragen könne, die Wahlen in Frankreich zu beeinflussen. Einen Sieg rechter Nationalisten in der französischen Nationalversammlung wollte man verhindern, um die Verständigungspolitik fortsetzen zu können. „In Deutschland dagegen ist mit Sicherheit eine Wendung nach links zu erwarten, und mit dem Hinweis auf einen republikanischen Sieg in Deutschland werden Sozialisten und Radikalsozialisten in Frankreich eine gute Wahlperiode haben.“ Um der europäischen Einigung Willen 304 R.O. Vor den Neuwahlen, in: Argentinisches Tageblatt, 29.1.1928. Die folgenden Zitate ebd.
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unterstützte Olden dieses Vorhaben. Es werde Zeit, mit den Linken eine versöhnliche Politik gegenüber dem westlichen Nachbarn zu treiben, trage man damit den veränderten innenpolitischen Konstellationen in Weimar Rechnung. Stresemann müsse „die Wendung nach links, die im deutschen Volk eingetreten ist, für seine Zwecke ausnützen.“ Ein grundlegendes taktisches Prinzip seiner Politik müsse anerkannt werden, „das Primat der Außenpolitik über die Innenpolitik.“ Der überzeugte Anhänger einer parlamentarischen Demokratie war bereit, jenen Pragmatismus seiner eigenen Position zuteilwerden zu lassen und für eine Auflösung des Reichstags zu stimmen. Unter diesem Blickwinkel erscheint der Streit um die Schulfrage (Gemeinschafts- vs. Konfessionsschulen) lediglich ein willkommener Anlass, als die wahre Ursache für das spätere Scheitern der Koalition zu sein. Am 20. Mai 1928 wurden Neuwahlen angesetzt. Oldens Maßstab blieb ein außenpolitischer: „Das kommende Jahr und die Neuwahlen in Deutschland, Frankreich und England werden schicksalhaft für Europa sein. Mit der Diskussion über die Reichstagswahl ist man in das entscheidende Stadium eingetreten.“ Übergeordnet spiegelte jene Haltung Oldens Sicht auf den Begriff der staatsbürgerlichen Treue und Pflicht wider, die besonders den Pazifisten abgesprochen werde. Für ihn war das Staatswohl ein nicht zu definierender Begriff. Es gehe vielmehr um die Gesetzestreue des Bürgers, da jedes Individuum eine andere Vorstellung vom gesellschaftlichen Gemeinwohl habe. „Nehmen wir zum Beispiel die Pazifisten an. Ihnen ist der Friede das höchste Gut, und sie werden eine leichte Schädigung des eigenen Staates hinnehmen, wenn sie dadurch einen Krieg vermeiden können.“305 Insofern erscheint eine Parlamentsauflösung durchaus legitim. Pointierter brachte es Olden, wohl auf sich bezogen, auf den Punkt, indem er schrieb: Oder nehmen wir weiter einen Paneuropäer an, der gewiss ein ausgezeichneter Staatsbürger sein kann. Für ihn wird nie das Interesse eines einzelnen Staates ausschlaggebend sein, sondern das Interesse Europas. Würde die Entscheidung des Haager Schiedsgerichtshofes in irgendeinem Streitfall – und zwar zu Unrecht – gegen seinen eigenen Staat ausfallen, so würde er sich zweifellos diesem Spruch beugen, um eine Zerreissung Europas auf jeden Fall zu vermeiden.
Leider herrsche in der Weimarer Republik eine nationalistische Gesinnung in weiten Teilen der Gesellschaft vor, die dieser Haltung unversöhnlich gegenüberstünde. Somit umreißen die wenigen Äußerungen Oldens im zeithistorischen Kontext der republikanischen Aufrüstung seine ordnungspolitischen Ideen. Außenpolitisch hält er weiter an der Vorstellung eines geeinten Europas unter paneuropäischer Perspektive fest, während die Innenpolitik zwar im Grundsatz auf dem Fundament einer parlamentarisch/republikanischen Demokratie ruhen müsse, sie aber in gewisser Form von Überlegungen einer internationalen Politik der Friedenssicherung determiniert war. Seine friedenspolitischen Hoffnungen, die er in eine Neuwahl zu projizieren schien, erwiesen sich als trügerisch. „Wenn heute (Januar 1929) Neuwahlen wären, man wüsste nicht, ob sie wieder mit einem Sieg der Linken ausgehen würden. Ein halbes Jahr Hermann Müller war eine Serie von Niederlagen.“306 Es sollte erst der Anfang vom Niedergang der demokratischen Ordnung sein, den Olden 305 R.O. Der Über-Hegel, in: Argentinisches Tageblatt, 10.6.1928. Folgendes Zitat ebd. 306 R.O. Ein halbes Jahr Regierung Müller, in: Argentinisches Tageblatt, 20.1.1929.
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journalistisch zu begleiten hatte und an dessen Ende die Flucht aus Deutschland stand. 6.2.3 Demokratie in Gefahr! – Das Weimarer Präsidialregime Bevor die Republik durch den Tod ihres Außenministers Gustav Stresemann und durch die heraufziehende Weltwirtschaftskrise in das politische Dunkel der präsidentiellen „Halbdiktatur“307 stürzte, zeichnete Olden ein von Optimismus und Zuversicht gekennzeichnetes Bild des Weimarer Staates. Er habe sich quasi konsolidiert. Als im Juni 1929 im Reichstag eine erneute Verlängerung des Republikschutzgesetzes abgelehnt wurde, weil eine 2/3 Mehrheit nicht zustande kam, wurde dies von Olden unter dem Aspekt einer staatlichen Konsolidierung begrüßt. Das Gesetz zum Schutz der Republik ist gefallen. Die Republik ist deshalb nicht in Gefahr. Verfassungen werden nicht durch Strafgesetze geschützt. Es ist gut, ein Warnzeichen aufzurichten für die geistig Armen, die die Zeichen der Zeit verkennen. Es ist gut für sie selbst, damit sie sich nicht unnötig in Gefahr begeben, damit Leichtsinnige nicht zu Schaden kommen. Die Republik kann schwerlich noch durch den Übermut Unvernünftiger gefährdet werden. (Sie) ist nicht bedroht,308
wenngleich dennoch defizitär, wie er gleichzeitig betonte. Es mag eine Anomalie darstellen, dass Olden die Republik zum einen als nicht mehr in ihrer Existenz bedroht ansah, um nur wenig später, im Rahmen einer Bilanz anlässlich ihres zehnjährigen Bestehens, fundamentale Kritik zu üben. Die politische Realität stehe nicht mehr im Einklang mit der Verfassung, was als Hypothek für ihre Zukunft interpretiert wurde, da politische Stabilität maßgeblich von einer Übereinstimmung des Verfassungsgeistes mit den aktuellen politischen Begebenheiten abhängig sei. Er bezog sich auf Ferdinand Lassalle. Seine Charakterisierung gilt heute genau ebenso, sie wird schwerlich je ihre Gültigkeit verlieren. Immer wird, solange es Staaten gibt, der Satz klassisch sein, dass bei Gefahr eines Konfliktes die geschriebene Verfassung mit der realen übereinstimmen muss, und der Vergleich beider wird immer den Prüfstein bilden für die Güte und Dauerhaftigkeit des Verfassungsgesetzes. 309
Aus seinem Resümee werden die Kontinuitäten in seinen Positionen deutlich sichtbar, wenn im Mittelpunkt der Kritik die antidemokratische und antirepublikanische Gesinnung der Eliten stand. Insofern fasst seine Bilanz nach zehn Jahren Oldens innenpolitische Diagnosen und Prognosen zwischen 1926 und 1929 zusammen. So hätte die Justiz mit ihrer angewandten Rechtsprechung eher „in die halbabsolutistische Periode Wilhelm II. gepasst, aber unserer Staatsverfassung grob“ widersprochen. Ungeklärt sei weiterhin das Verhältnis von Militär und Beamtenschaft zur Republik. Damit verbunden, ein Mangel an Bereitschaft, die Republik und Demokratie positiv gestalten zu wollen. Dies müsse man vor allem an die Adresse von Parteien und Politikern artikulieren, die geschworen hatten, den Staat zu ver307 Vgl. R.O. Die Dolchstoßpartei, in: Berliner Tageblatt, 12.4.1931 A. 308 R.O. Die Würde des Hauses, in: Berliner Tageblatt, 29.6.1929 A. 309 R.O. Bilanz nach 10 Jahren, in: Berliner Tageblatt, 16.8.1929 A. Die folgenden Zitate ebd.
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teidigen. Ihnen fehle es an Durchsetzungsfähigkeit. Sie hätten, so lautete sein Vorwurf, die wilhelminische „Clique“ nicht nur in ihren Ämtern belassen, sondern deren Stellung durch ihre eigene Energielosigkeit und eine mehr als halbherzige Personalpolitik gefestigt. Es kann nicht verwundern, wenn die deutsche Jugend als aktiver Gestaltungsposten für die Zukunft der Republik auszufallen drohe, da Lehrer und Professoren ohne Konsequenzen Parolen gegen den Staat verbreiten dürften. Wehrverbände in ihrer paramilitärischen Organisation vergifteten die geistige Wachsamkeit der Jugendlichen zusätzlich und stellten zudem einen realen Machtfaktor dar. Der Artikel 148 der Verfassung schreibt vor, dass Unterricht im Geist der Völkerversöhnung erteilt wird. Auch hier ist, wie in der inneren Verwaltung, in diesen zehn Jahren ein ermüdender Stellungskrieg geführt worden, um die Realität dem Gesetz anzugleichen, und trotz mancher Erfolge ist ein voller Sieg noch keineswegs erkämpft.
Zugleich gelte es eine Mahnung an alle politisch Verantwortlichen zu senden, den Verfassungsauftrag in jenen Bereichen zu erfüllen, die 1919 bewusst der späteren Gestaltung anheimgestellt worden. Dies sei hauptsächlich die Neugliederung der Länder, die Arbeitnehmermitbestimmung und die Verstaatlichung von Teilen der Privatwirtschaft. Würden diese Absichten realisiert, gäbe man „dem Reich ein neues Gesicht und baue die Verfassung fester als alle Vorschriften.“ Der politische Sprengstoff, der geeignet war, die Republik zu zerreißen, bestand nach Auffassung Oldens aus der Schwäche politischer Entscheidungsträger, ungelöster sozioökonomischer Probleme und einem geringen Maß an Akzeptanz bei gesellschaftlichen Eliten. Bei einer Verschlechterung der Rahmenbedingungen könnte dies zu einer Detonation führen, die die Republik für immer zerstöre. „Eine solche Zwiespältigkeit mag geraume Zeit dauern, ohne dass sie ausgetragen wird, sie mag den Staatsbürgern zur Gewohnheit werden, wenn die Zeiten ruhig sind; so kann sie trotzdem zur Katastrophe führen, wenn unruhige Zeiten kommen.“ Insofern erscheint ihm sein Einsatz für Paneuropa eine „fruchtlose Diskussion“310, wenngleich er dessen pazifistischen Impetus betonte. Kalgeris „Plan ist nicht einfach pazifistisch, sondern er enthält eine ganz bestimmte territoriale Konzeption“, die Olden wohl selbst in all ihren Einzelheiten nicht zu teilen bereit war, da „er vielmehr eine geradlinige Fortsetzung des deutschen Nationalismus aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts als ein Weltfriedensplan“ ist. Wichtiger erscheint der Appell an ein „europäisches Gefühl“ zu sein, dass von seinen Vorstellungen ausgehen soll, da nationale Einstellungen mehrheitlich den politischen Diskurs bestimmten. Weder Stresemann noch Briand hätten diesen Impuls versucht aufzugreifen. „So mit der üblichen Anerkennung des idealistischen Zieles etc. wurden mehr die Schwierigkeiten hervorgehoben, als dass man die Vorteile besprochen hätte.“ Nach dem Tod des deutschen Außenministers am 3. Oktober 1929 schlage die politische Entwicklung in der Weimarer Republik ohnehin eine Richtung ein, die langsam auf eine tiefere Spaltung 310 R.O. Die „Vereinigten Staaten von Europa“, in: Argentinisches Tageblatt, 6.9.1929. Die folgenden Zitate ebd.
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des Staates und der Gesellschaft hinauslaufe. Paneuropäische Vorschläge dürften immer weniger Gehör finden. In Oldens Nachruf wurde schließlich jenes Bild von Stresemann gezeichnet, dass seine Fortsetzung in der wenig später erscheinenden Biographie fand, an der er seit über einem Jahr gearbeitet hatte. Grundlegend beschrieb er eine Wandlung Stresemanns, die er am Ende ausdrücklich begrüßte. Zwar würdigte Olden seine Verdienste im Bereich der Außen- und Wirtschaftspolitik bereits 1924, was aber nicht bedeutete, dass er dessen politische Entwicklung für glaubhaft hielt. Der ehemalige Nationalliberale lasse sich eher von zeitgemäßen Opportunitäten leiten, als von wahrer Einsicht, so der Vorwurf. Erst fünf Jahre später traf Olden ein anderes Urteil. Die Versöhnung mit den europäischen Nachbarn, allen voran Frankreichs, und seine innenpolitisch konstante Rolle und Bedeutung in nahezu allen Reichsregierungen als Garant und Rückhalt für die Republik, veränderte seine Sichtweise. Voller Überzeugung hob er die vernunftgeleitete Politik Stresemanns hervor, der bereit war, aus politisch persönlichen Fehlern zu lernen. Von dem Kriegspolitiker bis zum Träger des Nobelpreises hat Stresemann einen weiten Weg zurückgelegt. Die Phasen und Etappen dieses Weges zu beobachten, eine lehrreiche Aufgabe für jedermann. Als schönste Frucht wächst aus solcher Bemühung die Erkenntnis, dass er – im Wandel der Anschauungen – sich selbst treu geblieben ist.311
Auch wenn die praktischen Ziele seiner Politik im Laufe der Geschichte wechselten, er verfolgte sie mit großer Hartnäckigkeit und Leidenschaft. Wenige Monate vor Stresemanns Tod strich Olden diese Sichtweise heraus, wenn er darauf verwies, dass er „der einzige große politische Führer des neuen Deutschland ist, von dem allein noch eine Gesundung des Parteilebens erwartet werden kann.“312 Nur er hätte die geistige Überzeugungskraft, die liberalen Parteien neu aufzustellen, um aus ihnen heraus, der bürgerlichen Mitte eine reformierte politische Heimat zu geben. Stresemann soll sich von seiner bisherigen Parteibindung losmachen und aus dem aufgelockerten Teig ein neues politisches Gebilde herstellen. Die Republikanische Partei oder die Staatspartei soll entstehen, der sich die Gutgesinnten der bisherigen bürgerlichen Parteien der Mitte anschließen würden. Der Wunsch nach einer Konsolidierung der Mitte ist sicher noch in seiner Seele lebendig.
Inwiefern er dazu körperlich überhaupt in der Lage sei, hinterfragte auch Olden. „Ob die Kräfte seines Körpers noch frisch genug sind, weiß man nicht.“ In der Rückschau hätte vor allem die DVP weiter seines Einflusses bedurft, habe er die fliehenden Kräfte innerhalb der Partei zusammenhalten können, die nun dank freier Entfaltung zur Belastung für die Republik werden. Sie stehe inzwischen für eine Politik der „einseitigen Belastung der arbeitenden Massen, der Arbeiter, der Arbeitslosen, der Angestellten.“313 Schon immer habe sie Verrat an der bürgerlichen Ordnung geübt, doch jetzt wo Stresemann tot sei, würden die verschiedenen Flügel 311 R.O. Führer der Nation, in: Berliner Tageblatt, 4.10.1929 M. 312 R.O. Um die Seele Stresemanns, in: Argentinisches Tageblatt, 14.4.1929. Die folgenden Zitate ebd. 313 R.O. Die Dolchstoßpartei, in: Berliner Tageblatt, 12.6.1931 A. Die folgenden Zitate ebd.
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ohne Rücksicht auf ihren eigenen Vorsitzenden eine interessengeleitete Politik der „sozialen Reaktion“ betreiben. „Diese Partei kennt keine Treue“, so das vernichtende Urteil Oldens. Die Abfassung einer Biographie über Gustav Stresemann war der Versuch, „das oft mißdeutete Bild des Lebenden zu erklären. Das Unglück Deutschlands wollte es, daß meine Studie zum Nekrolog wurde.“314 Von linken Gegnern wegen seiner nationalistisch gesinnten Vergangenheit kritisiert, von rechten Neonationalisten aufgrund seiner Friedens- und Verständigungspolitik angefeindet, wollte Olden mit seiner Arbeit Stresemann ein Stück Gerechtigkeit zu Teil werden lassen. Ihm erschien die öffentlich erbittert geführte Debatte über seine Politik unbrauchbar. Er wollte zu einer Versachlichung der Debatte beitragen, die, emotionalisiert, sonst nicht zum Ziel führen kann. In der Aufarbeitung war Olden durchaus von Selbstkritik geleitet, wie der eingangs dargestellte Nachruf belegte. Anhand eines ausführlichen Quellenverzeichnisses lässt sich erkennen, auf welcher breiten Materialiengrundlage er 1928 bei seiner Recherche agierte. Er bezog die Geschichte des deutschen Liberalismus ebenso mit ein, wie Darstellungen über die persönliche Entwicklung und die Historie Deutschlands seit der Reichsgründung. Ergänzt wurden diese Quellen mit zahlreichen Memoiren, nicht zuletzt aus der Zeit von 1914 bis 1918. Da die meisten dieser Werke erst in der Mitte der 1920er Jahre veröffentlicht worden waren, zeigen sie den damaligen Stand der Forschung recht aktuell an.315 Es war der junge Historiker Theodor Eschenburg, der Olden bei der Auswertung des umfangreichen Quellenkanons unterstützte. Der Kontakt kam über seinen Halbbruder, Peter Hans Olden, zustande, der gemeinsam mit Eschenburg studiert hatte. Mit einer Promotion über Ernst Bassemann, den ehemaligen Vorsitzenden der Nationalliberalen Parteien vor 1914, hatte Eschenburg im letzten Lebensjahr von Stresemann dessen Interesse geweckt, was dazu führte, dass er den Außenminister 1929 gelegentlich auf Reisen begleitete. Dieser, wenn auch kurzzeitige, persönliche Zugang gereichte Olden für seine Studie zum Vorteil. Eschenburg avancierte zu einem Ratgeber, der Textentwürfe las sowie historische und sachliche Fehler anmerkte und korrigierte, wenngleich er keinen Einfluss auf die Anlage der Biographie oder deren Aussagen nahm.316 Der Verleger Ernst Rowohlt sorgte für die Verbreitung des Buches. „Als er starb, war meine Arbeit zu drei Vierteln fertig.“317 Die Fertigstellung des Manuskriptes schloss Olden zügig ab. Sein Nachwort datierte auf den 1. November 1929. Schon am 17. November, also sechs Wochen nach dem Schlaganfall Stresemanns und dessen Tod, erfolgte eine erste Vorankündigung
314 Olden (1929): S. 275. 315 Vgl. ebd.: S. 274f. 316 Diese Informationen gehen auf die unveröffentlichte Arbeit von Marco Finetti zurück, der in persönlicher Korrespondenz mit Theodor Eschenburg stand und über seine frühen Verbindungen zu R.O. im Rahmen der Erarbeitung der Stresemann Biographie Auskunft gab. Dem Verfasser liegen kurzen Passagen des Briefwechsels vor; Vgl. Finetti (1990): S. 284. (unveröffentlicht) 317 Olden (1929): S. 275. Die im Folgenden in Klammern stehenden Seitenangaben wurden diesem Werk entnommen.
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der Biographie in einer Annonce des Berliner Tageblatt.318 Mit einem Umfang von 276 Seiten, sechzehn Abbildungen und einer Auflage von 7000 Exemplaren kam das Werk in die deutschen Buchhandlungen. Das Bild, welches Olden in seiner Biographie über den Friedensnobelpreisträger Stresemann entwarf, schilderte in neun Kapiteln das Leben eines Mannes, dessen persönliche wie politische Entwicklung durch zahlreiche Brüche gekennzeichnet war. Als Interessenvertreter der Industrie beginnend, wurde er 1917 Politiker. Mit Beginn des Krieges sprach er sich für die Annexion besetzter Gebiete an allen Fronten und in den Kolonien aus, um die deutsche Macht zu vergrößern, während er in den zwanziger Jahren zum politischen Vordenker einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur avancierte, die ihm gemeinsam mit Briand den Friedensnobelpreis eintrug. Anhand wichtiger zeithistorischer Geschehnisse und Stationen schilderte Olden die Wandlung eines monarchistischen Nationalisten zu einem republikanischen Europäer. Entscheidend dafür waren nach seiner Meinung vor allem persönliche Eigenschaften, die nicht zuletzt politische Vorstellungen formten. „Es waren die Jahre um 1890, in denen der Knabe Stresemann die entscheidenden Eindrücke empfing.“ (S. 15) Gerade die Hauptstadt verfehlte ihren Einfluss nicht. „Berlin und das Berliner Leben war nüchtern in einem Maß, das uns unvorstellbar ist.“ Das Milieu der „Köpenicker Straße inmitten mittlerer industrieller Betriebe, kleiner Geschäftshäuser, Arbeiterkasernen“ prägte ihn. In dieser kargen Umgebung „wohnt darum die Romantik“, die politische Ansichten stimulierte und Träume schuf. „Das Meer, Kolonien, die Größe der Nation, ein freies Volk auf freiem Grund, das Kaisertum, die Großen der Erde, Friedrich, Napoleon, Goethe füllte sie aus.“ (S. 16) Jenes Kleinbürgertum wollte vom Sozialismus nichts wissen. Die Helden standen auf nationalem Sockel und Bildung versprach individuellen Aufstieg. Es waren diese Faktoren, die die Person Stresemanns bestimmten. Man war nicht dekadent, man öffnete weit sein Herz der Herrlichkeit vergangener Literatur und den Wundern der Geschichte, die zugleich Verheißung war. Man war nicht absprechend, nicht revolutionär, man war gläubig. Man stand fest auf dem Boden der Nüchternheit, die in Haus und Familie wohnte. Und man weihte sich der Romantik, die aus allem Großen sprach. Nüchternheit und Romantik blieben auch später die Welten, in denen Stresemann lebte. Dazu trat der Machtwille. (S. 17f.)
Für Olden war Stresemann eine Symbolfigur des degenerierten Bürgertums der Vorkriegszeit. „Hohlheit und Dünkel greifen um sich, und eine unerträgliche Anmaßung schreibt alle Erfolge, die eine glückliche Konstellation hervorruft, den eigenen glänzenden Eigenschaften zu. Das ist die Periode, in der das Deutschtum sich den Haß der Welt zuzieht.“ (S. 18) All das führte dazu, dass Stresemann nach der Jahrhundertwende ein „Imperialist von reinstem Wasser“ (S. 48) gewesen sei, dessen Vertrauen in die politisch-militärischen Repräsentanten des Kaiserreichs selbst im Weltkrieg nicht verloren ging. „Ludendorffs Bild stand all diese Jahre in Stresemanns Arbeitszimmer, sein romantisches Bedürfnis, hoffnungsvoll zu sein, an den Sieg zu glauben, war so groß, daß er sich an diesen Bürgern des Erfolgs 318 Vgl. Berliner Tageblatt Jg. 58, Nr. 545, 17.11.1929 A.
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klammerte.“ (S. 74) Gegen Ende des Krieges lebte er in einer Phase der Selbsttäuschung, die auch das ganze deutsche Volk erfasst habe. „Jede Hemmung, über die sein Inneres verfügte, wehrte sich gegen den Durchbruch des Eingeständnisses. Sein Gefühl stand felsenfest, daß das Militär gut, der Minister untauglich sei.“ (S. 85) Doch waren die Missstände auf fast allen Gebieten der militärischen Führung mit Händen greifbar, so Olden. Der Obersten Heeresleitung als eigentlichen Inhaber der Macht gegen Ende des Krieges hätte sich ein Parlamentarier entschieden entgegen stellen müssen. Genau das tat Stresemann nicht. Er verschob, so der Vorwurf, „die reale Verfassung, er verdrängte, was der Heeresleitung zur Last fiel. Sein Gefühl will, daß die Generäle die Retter seien.“ (S. 92) Eine geistige Parlamentarisierung Stresemanns habe selbst im Juli 1919 nicht stattgefunden, wenngleich „die Ereignisse in ihm (auch) einen Umschwung hervorriefen.“ (S. 117) Ausgelöst wurde dies in der Anschauung Oldens durch den Umstand, dass Stresemann militärisch den Sieg im Weltkrieg noch für möglich hielt bzw. für eine Fortsetzung der Kampfhandlungen plädierte, die Heeresleitung aber entschied, einen Waffenstillstand zu erreichen. „Aus der ungeheuren Enttäuschung, da er seine Götter zerschlagen sieht, reift er zum Machtwillen. Donnergrollen über die gestürzten Götter.“ (S. 119/122) Ohne jede Hemmung breche sich in den Artikeln und Reden von Stresemann die Desillusionierung Bann. Sein Vertrauen in das Militär war verfehlt, er getäuscht. „Alles war falsch. Die großen Ziele zerschlagen. Die Basis seines Lebens, die Partei, ihm unter den Füßen weggezogen.“ (S. 129) Folglich könne es nicht verwundern, wenn es Stresemann schwerfalle, eine wahrhafte innere Wandlung zu vollziehen. Die Zeit, in der Stresemann die Republik mit seinem Leben zu decken bereit sein würde, – diese Zeit war noch nicht abzusehen. Noch war er machtlos. Er hatte, was er an Macht besaß, verloren. Was er von ihr in der Republik wiedererobert hatte, war gering. Zu gering, um für die republikanische Legitimität zu fühlen. (S. 140)
Olden beschrieb das zähe Ringen seines Protagonisten im Prozess der eigenen persönlichen Demokratisierung sehr ausführlich. In der Biographie Stresemanns war die zweite Phase zwischen 1918 und 1923 ganz entscheidend. Sie umreißt die Entwicklung vom Kriegsende bis zu seiner Kanzlerschaft. Nach Ansicht Oldens fielen in diese Periode die größten Wandlungen und bedeutendsten Leistungen seiner Figur. Die Abwendung Stresemanns von Monarchismus und Nationalismus sei das Resultat der beschriebenen Desillusionierung über das Versagen des Kaisertums und seiner Generäle während des Weltkrieges. Gleichwohl verlief seine Entwicklung nicht konsequent, sondern sie war in der Beurteilung von Olden immer wieder durch den Rückfall in überkommene politische Positionen gekennzeichnet. Einerseits sahen die republikanischen Kräfte im Machtwillen Stresemanns eine harte Bewährungsprobe für die neue politische Ordnung, andererseits hatte dieser selbst die Republik anfänglich bestenfalls nur akzeptiert. Zu einer offensiven Verteidigung fand er sich erst in den letzten Lebensjahren bereit. Es war eine Zeit nicht der Untätigkeit, aber der vergeblichen Spannung. Stresemanns Temperament drängte vorwärts, sein Blick war in die Weite gerichtet, Ziele, die fern lagen, sah er
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nahe. Er war zurückgeworfen worden und hatte sich sofort daran gemacht, den verlorenen Boden wiederzugewinnen. Andere regierten, zu deren Geist und Charakter sein Glaube nicht unumstößlich feststand. Er hatte einmal vertraut, hatte treueste Gefolgschaft geleistet – und war enttäuscht worden. Seitdem ist er mißtrauisch. (S. 156)
Mit Bewunderung sprach Olden über die Leistungen von Stresemann während seiner nur hundert Tage andauerten Kanzlerschaft seit August 1923. „Mit der historischen Situation (des Ruhrkampfes) hat auch er sich gewandelt.“ (S. 170) Er sei ein anderer geworden, zumal für jene, die ihn aus der Zeit des Krieges kannten. In dieser Zeit der Konfrontation an Rhein und Ruhr wäre es populär gewesen, flammende Reden zu halten. Dass Stresemann, dem dies in der Betrachtung von Olden gesehen nicht schwergefallen wäre, darauf verzichtete, nötige dem Biographen Bewunderung ab. „Hatte ihn nationale Leidenschaft früher blind gemacht, jetzt schärfst sie seinen Blick. Als alles ringsum niederbrechen will, bleibt er aufrecht. Die Romantik hat ihn wieder erfaßt, aber es ist eine andere Art geworden. Sie erlaubt ihm jetzt, nüchterne Politik des Tages zu machen.“ (S. 183f.) Ob der Politik des Reichskanzlers Stresemann und im Angesicht der Beendigung des Ruhrkampfes sprach ihm Olden seinen höchsten Respekt aus. „Seine große Stunde war, als der den Ruhrkrieg einstellte.“ (S. 187) Stresemann verkörperte seither für ihn das, was Politik wirklich ist: Sie „ist Kunst, nicht Wissenschaft. Staatsmann ist, wem sich zu rechter Zeit Erkenntnis zur Tat gesellt.“ (S. 34) Wie er selbst und die deutsche Gesellschaft insgesamt sei dies ein Produkt eines „inneren Wandels, der not tat.“ (S. 200) Stresemann ging in aller Öffentlichkeit jenen steinigen Weg der Umkehr. „Jetzt begibt er sich selbst daran, Deutschlands Schicksal auf Konferenzen zur Entscheidung zu stellen, Deutschland dem Weltfriedensbund zuzuführen. Es ist der Funke des Genies, daß ihn im richtigen Augenblick die neue Empfindung ergreift.“ (S. 201) In den Kapiteln, die Stresemanns Politik als Außenminister bis 1929 zum Gegenstand haben, ging Olden vergleichsweise knapp vorüber. Ohnehin blieb ihm nichts anderes übrig, als eine „Politik des Als Ob“ zu betreiben. Deutschland ist, trotz der Niederlage, trotz der Entwaffnung, eine der großen europäischen Nationen geblieben. Wer es führen will, muß Politik machen, als ob sein Land nicht besiegt, nicht entwaffnet worden wäre. Erfüllen wir den Vertrag von Versailles, so sind wir gleichberechtigt. Es ist dann, als ob der Vertrag wirklich ein Vertrag wäre, nicht ein auferlegter Zwang. (S. 202)
Niemand könne diese Strategie besser verfolgen als Stresemann, wie Olden anhand von vier Etappen seiner Außenpolitik (Dawesplan, Locarno, Völkerbundbeitritt und Haager Konferenz) kurz illustrierte. Jene Beschränkung mag vor allem darauf zurückzuführen sein, dass das Auswärtige Amt 1929 noch keine offiziellen Akten herausgab, die es Olden als Verfasser erleichtert hätten, ausführlicher Stresemanns Außenpolitik in die Biographie einfließen zu lassen. Womöglich mussten jene Passagen zudem, nach dem raschen Tod des Ministers, unter erheblichem Zeitdruck eingearbeitet werden, um zeitnah eine Veröffentlichung der Biographie zu realisieren. Das Werk endet mit der Bewunderung seines Autors über Stresemann, der trotz seiner schlechten gesundheitlichen Verfassung nie in seinem Bemühen nachgelassen habe, Deutschland zu einer anerkannten und geachteten Nation in Europa zu machen. „Der Mann mit dem Tod im Herzen, der zum letztenmal vor der Welt
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sprach, er liebte jetzt die deutsche Zukunft, wie vordem die deutsche Vergangenheit, er sah sie, in dem neuen Europa, groß vor seinen Augen stehen.“ (S. 270f.) Mit Blick auf die harsche Haltung und Beurteilung der Person, die nicht zuletzt auch Olden zu seiner Studie bewogen hatte, schloss er: „Umstritten bleibt Stresemanns Figur. Bewundert und geliebt, gescholten und gehaßt“, drückte es selbst die Phasen aus, die er in der Beurteilung des „Staatsmanns, Europäers und Patrioten“ (S. 273) durchlief. Betrachtet man die zeitgenössische Rezeption, so wurde das Buch sowohl von der Leserschaft als auch von den feuilletonistischen Kritikern wohlwollend kommentiert und besprochen. Die Startauflage war rasch vergriffen. Eine zweite mit 8000 Exemplaren sollte folgen.319 1930 erschien zudem eine amerikanische und 1932 eine französische Ausgabe.320 In Zeitungen und Zeitschriften erschienen Vorabdrucke.321 Besondere Würdigung erfuhr die Objektivität in der Darstellung, die Stärken und Schwächen hervorhob, um Stresemanns widersprüchliches Wesen zu charakterisieren. Sinnbildlich sei es Olden gelungen, dessen persönliche und politische Wandlung als Parabel für die der deutschen Gesellschaft insgesamt deutlich zu machen. „Alles in allem eine Lebensbeschreibung, wie sie sein soll. Knapp, klar, wesentlich und aufschlußreich bis in die tiefsten Gefühlsverästelungen des Helden.“322 Kritik kam in Gestalt von Ernst Feder aus den eigenen Reihen, der dem Werk und seinem Verfasser vorwarf, keinerlei neue Erkenntnisse über die Person Stresemann zu liefern. Darüber hinaus unternahm Feder den Versuch, eine Rezension des Buches durch das Berliner Tageblatt in Person von Emil Ludwig zu unterbinden. In sein Tagebuch notierte er, die Studie sei ein „liebliches Beispiel der Lobesversicherung auf Gegenseitigkeit. Olden erhebt Ludwigs Juli 1914 in den Himmel, jetzt soll (dieser) dasselbe mit (seinem) Buch tun.“323 Von dieser Argumentation konnte der Literaturkritiker des Blattes, Fritz Engel, nicht überzeugt werden. Feders Einwände blieben folgenlos, Ludwigs Artikel erschien, wenngleich es der Tagebuch-Schreiber sich nicht nehmen ließ, jede kritische Anmerkung zu Oldens Arbeit festzuhalten. Sofern ihn überhaupt die Kritikpunkte aus dem privaten Umfeld und Rahmen erreichten, schadeten sie dem öffentlichen Ansehen seiner Arbeit nicht. Der Erfolg der Biographie war in keiner Weise beeinträchtigt. Ohnehin standen bald wesentlichere politische Turbulenzen im Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit, die durch den Zusammenbruch der New Yorker Börse und einer bis dahin beispiellosen Weltwirtschaftskrise ausgelöst wurden. Das Vermächtnis von Stresemann mahne alle Politiker, die in Verantwortung stehen, Mut zu zeigen oder anders ausgedrückt, es gehe um Zivilcourage als einer 319 Vgl. die Angaben „8.–15. Tausend“ auf der Rückseite des Titelblattes der zweiten Auflage. Das genaue Erscheinungsdatum lässt sich nicht mehr ermitteln. 320 Vgl. R.O. Stresemann, New York [Dutton] 1930, 226 S.; Ebd., Paris [Gallimard] 1932, 219 S. 321 Vgl. R.O. Die schmale Stube, in: Berliner Tageblatt, 6.10.1929 M; Ebd. Stresemanns letzte Pläne, in: Kasseler Tageblatt, 8.12.1929; Ebd. Stresemanns große Stunde, in: Nord und Süd, 52 Jg., 1929. Sondernummer: Dem Andenken Gustav Stresemanns, S. 953–1003. 322 Le Beau: Rudolf Olden. Stresemann/Rudolf Coamer: Gladstone als christlicher Staatsmann, in: Kölnische Zeitung Nr. 106, 23.2.1930 M. 323 Feder, 19.11.1929, in: Lowenthal-Hensel/Paucker (1971): S. 230; Vgl. ebd.: 9.12.1929, S. 232.
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demokratischen Tugend. Fehlt oder mangelt es in Zukunft an dieser, so sei die Demokratie als Ganzes bedroht. „Wenn den Führern das Beispiel Stresemanns lebendig vor Augen steht, das Beispiel an Mut und Verantwortung, das er gab, so können sie und wir mit ihnen hoffnungsvoll in das neue Jahr hineingehen“324, so Olden um die Jahreswende 1929/30. Nur knapp drei Monate später zeugte das Auseinanderfallen der Großen Koalition von einem tiefen Einschnitt in seine persönlichen Hoffnungen und markierte nicht nur für ihn den entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte Weimars. Was Olden im August 1929 zum zehnjährigen Bestehen der Republik als Warnung formulierte, trat schneller ein, als von ihm befürchtet. Das demokratische System war inzwischen derart defizitär, dass die Behebung einzelner Ursachen und Symptome nicht mehr eine wirksame Medikation darstellte. Es könne vorläufig nur um eine Existenzsicherung gehen. Zwischen den Regierungsparteien bestanden erhebliche Gegensätze zu Fragen der Finanzpolitik, auch wenn der Wille zum Erhalt der Koalition fortbestand, zumindest solange, bis der Young-Plan unterzeichnet sei. Das Kabinett konnte am 9. Dezember 1929 nochmals eine Einigung über ein Finanzprogramm erzielen, das zwar Widerstände im Reichstag provozierte, aber durchgesetzt wurde. Dem Finanzplan drohte vor allem von Seiten des Reichsbankpräsidenten Schacht große Gefahr, übte er massive Kritik an den vorgeschlagenen Maßnahmen der Regierung Müller, was zum Rücktritt des Reichsfinanzministers führte. Das Verhältnis zwischen der Reichsbank und der Regierung hatte sich infolge der Finanzschwäche des Reiches und der gezielten Machtpolitik Schachts umgekehrt: 1924 war die Reichsbank dem Einfluss der Regierung entzogen worden, inzwischen diktierte ihr Präsident den Politikern seine Bedingungen. 325
Schließlich trat Schacht aus Protest gegen den Young-Plan am 7. März 1930 zurück. Einen tragfähigen Kompromiss in der Haushaltsgestaltung für das Jahr 1930 war trotz neuer Anläufe einer Einigung nicht zu erreichen. Die Gegensätze zwischen den Koalitionsparteien blieben unüberbrückbar, vor allem in der Frage der Arbeitslosenversicherung. Hatten die Sozialdemokraten in der Wirtschafts- und Steuerpolitik Zugeständnisse gemacht, durfte der sozialpolitische Bereich nicht angetastet werden. Eine Beitragserhöhung sei nicht zu verhindern, um den Finanzbedarf zu decken. Die DVP bestand dagegen auf einer Reduzierung der Versicherungsleistungen für Arbeitssuchende. Weitere Kosten für die Wirtschaft gelte es zu vermeiden. „Außerdem wusste sie zu dieser Zeit bereits von der Absicht des Reichspräsidenten und seiner Berater, nach der Annahme des Young-Plans im Reichstag die SPD aus der Regierung auszuschalten.“ Die Kompromissbereitschaft sank auf ein Minimum, war sie nach dem Tod Stresemanns ohnehin geringer. Die DVP bekräftigte auf ihrem Mannheimer Parteitag am 21./22. März ihre Haltung. Zuvor nahm der Reichstag am 12. März den Young-Plan und die damit verbundenen Gesetze in dritter Lesung an, was die SPD in ihren Verhandlungsmöglichkeiten massiv einschränkte. 324 R.O. Zum neuen Jahr – Mut!, in: Berliner Tageblatt, 31.12.1929 A. 325 Büttner (2008): S. 392. Folgendes Zitat ebd.
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Ihren bürgerlichen Partnern in der Regierung war sie entbehrlich geworden. Anhänger und Gewerkschaften erwarteten weiter einen entschiedenen Einsatz zur Verteidigung des Sozialstaates. Am Morgen des 27. März präsentierte Heinrich Brüning eine Lösung, die die Frage der finanziellen Konsolidierung der Arbeitslosenversicherung vertagte. Eine Beitragserhöhung entfiel und der Zuschuss aus dem Reichshaushalt wurde begrenzt. Für die Erben Stresemanns war dies akzeptabel, konnte der Abbau sozialstaatlicher Transferleistungen später realisiert werden. Bei der SPD stieß der Vorstoß naturgemäß auf Widerstand, auch wenn Reichskanzler Müller um der Regierungsbeteiligung willens dem Plan zugestimmt hätte. Die Mehrheit der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion lehnte ab. Für den Haushalt 1930 existierte somit keine parlamentarische Mehrheit. Mittels des Artikels 48 der Verfassung dem Kanzler zu Hilfe zu kommen, war Reichspräsident Hindenburg nicht bereit. Was folgte, war der Rücktritt der Regierung am Nachmittag des 27. März 1930. Die Gegensätze der Koalitionsparteien erwiesen sich als zu mächtig, um in Sachfragen die breite parlamentarische Mehrheit konstruktiv zu nutzen. Gegenüber der Demokratie, dem Parlament und den Parteien wuchs die Abneigung derart an, dass die rechten Koalitionspartner nach anderen Formen und Alternativen suchten. Ihr heil glaubten sie, in einer autoritären Ordnung zu finden. Zu schlecht funktionierte in ihren Augen ein Parteienstaat, der auf Kompromisse angelegt war. Zudem gab ihnen die Verfassung das Recht, so zu handeln. Die Bindung der Flügelparteien an mächtige Interessengruppen war zu groß. Die Bereitschaft industrieller Kreise zur Zusammenarbeit mit der organisierten Arbeiterschaft erlosch, das soziale Klima blieb nachhaltig zerstört. Die Krise des Parteienstaates wurde schon von den Zeitgenossen je nach politischer Einstellung mit Sorge oder Häme registriert. An der Schwere der Krise gibt es keinen Zweifel. Dennoch war der Übergang zum Präsidialsystem keine aus der Not geborene, zwangsläufige Reaktion, sondern er wurde mit dem Ziel des dauernden Verfassungswandels über längere Zeit bewusst vorbereitet.
Einer dieser aufmerksamen Beobachter war Rudolf Olden.326 Industrielle, Großagrarier und Militärs machte er für den eingeschlagenen Regierungskurs verantwortlich. An deren Spitze stehe der Reichspräsident, der dem autoritären Kurs den Anschein von Legalität vermittelte. Nur mit Unverständnis könne man reagieren, wenn man betrachtet, wie leichtfertig die Große Koalition ihren politischen Gestaltungsraum frei gab. Der weiteren politischen Entwicklung stand Olden ratlos gegenüber. Aus der Schwäche der parlamentarischen Demokratie resultierte eine lange Reihe von Reichsregierungen, die allesamt in ihrem Bemühen scheiterten, den Staat zu stärken. Seine Prognosen zielten auf Abwarten und Zurückhaltung. Wo ist die Mehrheit, die fertig an die Stelle der gestürzten treten könnte? Sie ist trotz aller arithmetischen Bemühungen nicht herauszurechnen. Und wo ist die Gruppe, deren Aufruf eine
326 Vgl. ebd.: S. 391–395; Zitat: S. 395.
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neue Mehrheit in Wahlen fordern, hoffen könnte? Wer hat eine Parole, wer hat das klare, starke, durchsichtige, hinreissende Wort, mit dem er vor die Volksversammlung treten könnte? 327
Auch Olden fand auf seine Fragen keine befriedigenden Antworten. Zu verschieden waren die von ihm diskutierten Lösungsansätze zur Klärung der politischen Krise. An eine neue parlamentarisch tragfähige Mehrheit glaubte er nicht, ebenso wenig wie an die Stärkung demokratischer Parteien durch die Ausrufung von Neuwahlen. Zu stark sei der Vertrauensverlust der Bevölkerung in die zerstrittenen Parteien der Großen Koalition. Und weit gefährlicher noch der Versuch, die nicht vorhandene Mehrheit künstlich zu konstruieren, sie durch eine schmähliche Anleihe bei den Staatsfeinden zusammenzupumpen. Diese Mehrheit, die sauber und deutlich begrenzt dastehen muss, durch eine zweideutige Helfershelferschaft zu kompromittieren, das wäre der schmachvollste Ausweg, den kein Politiker von Anstand gehen kann.
Eine Regierungsbeteiligung der DNVP mit den anderen bürgerlichen Parteien lehnte Olden strikt ab. Die Möglichkeit der Verfassung, mit Artikel 48 ein Minderheitenkabinett zu etablieren, das ohne Zustimmung des Reichstages regiert, empfand er als bedrohlich. „Wenn das Ausnahmerecht an die Stelle der parlamentarischen Entscheidung treten sollte, so wäre das nichts anderes als ein Flickwerk, als ein falsch angwendetes Hilfsmittel, – denn wo ist das Äußerste in unserer Lage zu entdecken? – es wäre nur ein Abweg, ein Weg, fort vom Geist des Staates.“ Pessimismus, ob der aktuellen politischen Lage, kennzeichnete seinen Beitrag. Die Situation, in die man sich hineinmanövriert hat, kann nur gefährlich sein für die Männer selbst, die das Steuer zu führen berufen waren. Und Gewinn ziehen können aus ihr nur die anderen, die bis jetzt bei Seite standen, weil ihr guter Wille nicht bei der Republik, nicht beim Staat ist, die böse und feindlich auf das neue Deutschland blicken und die ihre Feindschaft nicht einmal mehr verbergen.
Wie die Republik zu retten ist, davon schrieb Olden nicht. Er sah kein Szenario, das ihn zukunftsweisend für den Erhalt der Demokratie und des Parlamentarismus weiter hoffen ließ. Es ginge nur darum, Schlimmeres zu verhindern, zumal inzwischen politische Fakten geschaffen waren. Reichspräsident Hindenburg hatte am 28. März 1930 auf Vorschlag des Chefs der Wehrmachtsabteilung im Reichswehrministerium, General Kurt von Schleicher, den Zentrumspolitiker Heinrich Brüning beauftragt, eine neue Regierung zu bilden. Dies knüpfte das Staatsoberhaupt an die Auflage, die Exekutive nach rechts zu erweitern und die Sozialdemokratie nicht zu beteiligen. Das neue Kabinett sollte nicht mehr auf der Bindung von Parteien in einer Koalition fußen. In seiner ersten Regierungserklärung drohte Brüning indirekt mit einer Auflösung des Parlamentes, das ohnehin nur die Entscheidungen des Kabinetts und des Reichspräsidenten absegnen sollte. Dies markierte den „verfassungspolitischen Wendepunkt.“328 Zwar gab es zuvor ebenfalls Minderheitsregierungen ohne parlamentarische Basis, die 327 R.O. Beim Ersten seid ihr frei, in: Berliner Tageblatt, 29.3.1930 M. Die folgenden Zitate ebd. 328 Büttner (2008): S. 399.
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mittels des Artikels 48 die gesetzgeberische Kompetenz an sich rissen, doch in jenen Fällen existierte ein gewisses Stillhalteabkommen mit der Legislative. Die Machtbefugnisse des Reichspräsidenten wurden nie zuvor benutzt, um die Bildung einer Koalitionsregierung zu verhindern bzw. den Reichstag dem Willen des Staatsoberhauptes und seiner eingesetzten Exekutive zu unterwerfen. In derartigen Einschüchterungsversuchen des Parlamentes sah Olden einen klaren Verfassungsbruch. Es sei darauf hinzuweisen, dass dieser Abschnitt der Verfassung nur als „äußerstes Mittel“329 zur Anwendung kommen dürfe, z.B. dann, „wenn im Deutschen Reich die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet“ wäre. Als Druckmittel, um das Parlament gefügig zu machen, verkenne seine Anwendung den eigentlichen Zweck. Was der Artikel 48 will und soll, wozu er eingesetzt und was sein korrekter Gebrauch ist, das ist nicht schwer zu verstehen. In keinem Fall ist er dazu da, Politik gegen das Parlament zu machen, der Minderheit den Sieg über die Mehrheit zu geben, Massregeln durchzusetzen, die sonst nicht durchzusetzen wären.
Rückblickend bezeichnete Olden die frühere Anwendung des Artikels in Teilen als Fehler. Nicht immer sei es berechtigt gewesen, damit zu regieren. In der jetzigen Lage ist es erst recht nicht legitim. Er wertete dessen Benutzung als den Versuch, die Verfassung durch ihn zu ersetzen und abzuschaffen. „Wir wissen nicht, was kommen wird. Aber kommt das, was droht, das Notgesetz ohne Not, die nicht ist – so werden wir nicht müde werden, zu sagen, dass das die Verfassung brechen heisst.“ Brüning helfe so mit, „als Demokrat das Grab der Demokratie (zu) graben.“ Oldens Warnungen verhallten ungehört. Nur wenige Monate später, im Juli 1930, löste der Reichskanzler mit Unterstützung einer präsidentiellen Vollmacht das Parlament auf, weil es dessen staatliches Sparprogramm abgelehnt hatte. In der Folge brachte das Kabinett ein neues Programm auf den Weg, diesmal ohne eine Konsultation des Reichstages als Notverordnung. Am 14. September sollte die Neuwahl stattfinden.330 Den folgenden Wahlkampf führten die politischen Parteien mit großer Härte. Während die Radikalen mit einfachen Parolen auf einen Erfolg hofften, fiel es den gemäßigten Wettbewerbern schwer, sachliche Argumente vorzutragen, zu sehr nahm man das parlamentarische System, für das sie standen und warben, als funktionsunfähig war. Hinzu trat die schlechter werdende Konjunktur der Weltwirtschaft. Die SPD stritt in ihrem Wahlkampf für den Erhalt der Demokratie und stellte die Verteidigung der Verfassung in den Mittelpunkt. Der Regierung warf sie den Bruch jener vor. Die Arbeiterklasse werde im Interesse des Großkapitals unterdrückt, die ärmeren Teile der Bevölkerung zu deren Gunsten belastet. Mit großem Nachdruck warnte man vor der Gewaltbereitschaft von KPD und NSDAP, die im Rahmen ihrer diktatorischen Staatsvorstellungen den Terror zum Prinzip erhoben. Die Wahlchancen des Bürgertums sollten durch die Bildung einer großen Mittelpartei begünstigt 329 R.O. Ultima Ratio, in: Berliner Tageblatt, 26.6.1930 A. Die folgenden Zitate ebd. 330 Zur Wirtschafts- und Finanzpolitik Brünings in Zeiten der ökonomischen Krisen Vgl. Büttner (2008): S. 401–405.
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werden. Eine Einigung für den Zusammenschluss von DVP und DDP kam nicht zustande, sodass in einer überraschenden Aktion der Vorstand der DDP am 27. Juli ein Bündnis mit der politischen Organisation des Jungdeutschen Orden und einigen Mitgliedern der DVP einging. Gemeinsam trat man unter dem Parteinamen Deutsche Staatspartei an. Der ehemals linke Flügel der DDP, um Ludwig Quidde und Hellmut von Gerlach, verließ daraufhin die Partei und gründete die Radikaldemokratische Partei. Auch wenn der Jungdeutsche Orden sich nach der Reichstagswahl aus dem Bündnis mit der DDP löste, behielt sie den neuen Namen ab November 1930 formal bei. Der Parteivorsitzende Erich Koch-Weser, Initiator des Zusammenschlusses, musste zurücktreten. Auch der Ansatz ehemaliger DNVP-Mitglieder eine neue konservative Volkspartei zu gründen, scheiterte Mitte Juli. Die Wählerschaft leistete ihnen keine Gefolgschaft. „Das Ergebnis aller dieser Versuche, das bürgerliche Lager durch Zusammenfassung der gemäßigten, verantwortungsbewussten politischen Kräfte zu stärken, war seine weitere Zersplitterung.“331 Die Parteien, die sich zur Stützung Brünings bereitfanden, gingen aus dem Urnengang stark dezimiert hervor. Das Zentrum und die BVP verloren vergleichsweise nur wenige Prozente. Drastische Verluste mussten die liberalen Parteien hinnehmen. Die DVP errang von ehemals 8,7% jetzt nur 4,7% der Stimmen. Die Staatspartei lag lediglich bei 3,8%. Auch der Stimmenanteil, den die Sozialdemokraten mit 24,5% einfuhren, war durch einen dramatischen Rückgang gekennzeichnet. Die KPD konnte dagegen zulegen. Der große Gewinner stand rechts. Den Nationalsozialisten gelang eine Steigerung der Anteile von 2,6% auf 18,3%. Mit 107 Abgeordneten zogen sie in den neuen Reichstag ein. „Als Ausdruck einer Panik im Mittelstand deuteten zeitgenössische Beobachter 1930 den Sieg der NSDAP.“332 Für Olden war der Ausgang der Wahl zugleich Symbol für eine „bürgerliche Selbstaufgabe.“333 Die Gefahr einer Diktatur drohe, auch wenn ihm nicht klar war, ob von links oder rechts. An die Adresse der liberalen und bürgerlichen Parteien wandte er eine Warnung für die Zukunft, sollte die Republik überhaupt eine haben: Man kann sich nicht behaupten, wenn man dem Gegner nachläuft, statt ihn zu bekämpfen, wenn man seine Ideale annimmt, statt die eigenen zu pflegen, wenn man den hoffnungsvollen Versuch macht, im Radikalismus mit denen zu konkurrieren, die nun einmal ihrer Natur nach radikaler sind.
Olden verlangte von den Mittelparteien als Lehre aus diesen Wahlen eine andere taktische Herangehensweise in der Konfrontation mit ihren politischen Gegnern. Gleichzeitig bedarf es einen wahrhaft geeinten parteipolitisch organisierten Liberalismus. Seine Spaltung und Marginalisierung führe in den Abgrund. „Ein Bürgertum, dass sich selbst aufgibt, darf nichts hoffen, und am allerwenigsten von der Gnade seiner Feinde.“ Seit dem Tod Stresemanns mangele es an Führungsstärke in der politischen Klasse, die zur Bewältigung dieser Krise geeignet wäre. Oldens Fazit lautete: „Es ist nicht allein die Weltwirtschaftskrise, nicht allein die erschreckende Ziffer der Arbeitslosen, es sind nicht Zahlen allein, die Deutschland in seine 331 Büttner (2008): S. 419. 332 Vgl. ebd.: S. 418–420; Zitat: S. 420. 333 R.O. Selbstaufgabe, in: Berliner Tageblatt, 17.9.1930 M. Die folgenden Zitate ebd.
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jetzige Krise gebracht haben. Es wäre nicht so weit gekommen, und man könnte auch der näheren und nächsten Zukunft mit Sicherheit vertrauen, wenn (Stresemann) lebte.“334 Es könne nicht verwundern, wenn in Teilen des Auslandes seit dem Wahlausgang am 14. September von einer erhöhten Kriegsgefahr gesprochen und berichtet werde. „An vielen Orten, aber nicht nur in den kleinen Cafés, wird seit Wochen, man hört es von allen Frankreichreisenden, über jenen imaginären Zeitpunkt diskutiert.“335 Olden selbst stimmte dieser Wahrnehmung nicht zu. Vielmehr müssten die Alliierten den Ausgang der Reichstagswahl als ein Signal für eine veränderte Reparationspolitik verstehen. Die deutsche Bevölkerung sei mehrheitlich keineswegs an einem neuen Krieg interessiert. Ihre parteipolitische Wahl müsse als Ausdruck des Protestes verstanden werden und zwar gegen die erdrückende Last sozialer Einschnitte, die aus Oldens Perspektive nur deswegen unerbittlich seien, weil die Zahlungsverpflichtungen in Form von Reparationen trotz wirtschaftlicher Rezession in voller Höhe zu leisten wären. Der Ausgang der deutschen Wahl war kein Zeichen von Kriegslust. Aber er war eine Anmeldung des Protests zum Beispiel dagegen, dass in der Zeit, in der jegliches Einkommen empfindlich herabgesetzt wird, allein die Reparationszahlungen in voller Höhe bestehen bleiben sollen.
Ihre Festsetzung habe jeglichen Sinn verloren und alle Schuldnerstaaten seien von einem Preisverfall betroffen. Der Versuch, Europa einen dauerhaften Frieden zu geben, stehe somit in Zweifel. „Ist ein großes Land vom Sturm bedroht, so weht er über den Erdteil.“ Unter diesem Aspekt wäre die Zeit für eine Verständigungspolitik abgelaufen. Im Mittelpunkt der Debatte müsse endlich die europäische Einigkeit stehen, d.h. Frankreich müsse eine weitblickende Politik betreiben und nicht auf den augenblicklichen Vorteil bedacht sein, so zumindest der Appell. Es könne sich für die Zukunft nicht einen europäischen Nachbarn leisten, der verbittert und missgünstig den Weg der Diktatur einschlage. „Die Sicherheit bedrohen kann immer nur ein Volk, das unter Zwang gehalten wird, keines, das sich freien und gerechten Vereinbarungen beugt. Auch hier soll das Wort gelten: mehr als Verständigung – Einigkeit!“ Die Reichstagswahl im September 1930 war ohne Zweifel von enormer Bedeutung für den Fortgang der deutschen Geschichte. Zum einen war die NSDAP künftig aus dem politischen Leben der Republik nicht mehr wegzudenken. Zum anderen bedeutete der Entschluss zur Auflösung des Parlaments, der die Neuwahlen erst möglich machte, die Etablierung einer neuen Verfassungswirklichkeit, indem der Reichstag als Kontrollinstanz der Regierung ausgeschaltet wurde. Durch Zugewinne von Nationalsozialisten und Kommunisten war die Bildung einer positiven Mehrheit nicht mehr möglich. Die DNVP war nicht willens, das Kabinett zu unterstützen. Einzig die SPD gab ihren Oppositionskurs gegenüber Brüning auf, hatte sie erkannt, dass ihr dieser nichts Konstruktives einbrachte, im Gegenteil. Die präsidiale Regierung war nicht beseitigt und demokratische sowie republiktreue Kräfte wurden massiv geschwächt. Entgegen großer Widerstände in der eigenen Partei 334 R.O. Nur ein Jahr ist Gustav Stresemann tot, in: Berliner Tageblatt, 3.10.1930 M. 335 R.O. Sicherheit – für Alle!, in: Berliner Tageblatt, 6.11.1930 A. Die folgenden Zitate ebd.
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rangen sich die Sozialdemokraten zu einer Tolerierung des Kabinetts von Brüning durch. Sie lehnte künftig alle Misstrauensanträge gegen ihn ab und stützte dadurch dessen System. Parlamentarische Anträge, die auf eine Aufhebung der Notverordnungen zielten, unterstützte sie nicht. Somit erfolgte die Gesetzgebung des Reiches weiterhin auf Grundlage von Artikel 48. Dieser Kurs erschien der SPD durchaus folgerichtig, wollte sie die Existenz ihrer Koalition in Preußen, bestehend aus Zentrum und DDP, unter dem dortigen Ministerpräsidenten Otto Braun nicht gefährden. Würde das Kabinett Brüning durch das Agieren der Sozialdemokraten stürzen, drohte ihnen andererseits der Austritt des Zentrums aus ihrer eigenen Koalition in Preußen. Damit verlöre sie ihre wichtigste machtpolitische Bastion im Reich. Dazu war die Parteiführung nicht bereit. Stellte bereits die Art und Weise, in der das Kabinett Brüning vorbereitet und installiert wurde, eine erste Stufe im stillen Verfassungswandel von der parlamentarischen Demokratie zum Präsidialsystem dar, so kann die seit Herbst 1930 parlamentarisch tolerierte Präsidialregierung Brüning als zweite Stufe in diesem Prozeß bezeichnet werden. (Dabei) gelangte er von seinem Selbstverständnis her nie über das Bewußtsein hinaus, sein Amt lediglich im Auftrag des Reichspräsidenten und in Verpflichtung der ihm anvertrauten Mission zu führen. 336
Wie in den Artikeln Oldens angedeutet, lag die Priorität in der Politik Brünings auf der Erfüllung der Reparationsvereinbarungen. Die staatliche Wirtschaftspolitik werde dem untergeordnet. Deutschland wolle Vertragstreue demonstrieren und alle Zahlungen fristgerecht durchführen. Gleichzeitig sollte damit aufgezeigt werden, dass es für die Republik unmöglich sei, die Reparationen zu begleichen. Auf einer Streichung der Schulden lag das politisch angestrebte Ziel, selbst wenn dies Massenarbeitslosigkeit und wirtschaftliche Verelendung weiter Bevölkerungskreise bedeutete. Brüning war bereit, dies auf Jahre hinaus in Kauf zu nehmen und lehnte ausländische Hilfskredite ab, hätten sie seine außenpolitische Aktionsfreiheit massiv behindert.337 Welches Urteil fällte Olden über die Regierung Brünings bis Ende 1931? Anfänglich konzentrierte sich die Bewertung stark auf die Person des Kanzlers selbst. Für ihn war Brüning das Symbol für Integrität, Sachlichkeit und ein klares politisches Verantwortungsgefühl. Dies könne nicht in Zweifel gezogen werden und man müsse hoffen, dass ein Mann mit diesen Eigenschaften noch lange die Geschicke der Nation leiten werde. Wie Brüning unangefochten durch das Spalier hindurchgeht, weder den Ton steigert, noch seine Linie verlässt, wie er in Ruhe den Weg weitergeht, nicht gereizt wird, aber auch nicht zurückweicht, das zeigt den inneren Gehalt des Mannes, die Sicherheit seiner Seele und die Klarheit des Kopfes. Er wird, zum Nutzen der Nation, noch lange am wichtigsten Platz bleiben,
so der „Wunsch“338 Oldens. Brüning lasse sich nicht von der Hetze der Auseinandersetzung treiben und bewahre eine Ruhe, die bewundernswert sei, wenngleich seine „Entschlüsse langsam reifen“. Die „Klarheit seines Verstandes“ bleibe davon 336 Kolb (2009): S. 135. 337 Vgl. ebd.: S. 130–137. 338 R.O. Männlich und mutig, in: Berliner Tageblatt, 27.1.1931 M. Die folgenden Zitate ebd.
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ungerührt. Aus diesen Attributen heraus, müsse man die Hoffnung haben, „dass die Politik, die er treibt, bleibt, was sie war, – mutig und männlich.“ Ausgehend von diesen persönlichen Attributen und Zuschreibungen bewertete Olden seine Politik inhaltlich durchaus ambivalent. Brüning stehe für einen konservativen Nationalismus, der „uns politisch fernsteht.“ Die Auflösung des Reichstages sei ein schwerer politischer Fehler. Gegen die ökonomische Krise und den Aufstieg der Nationalsozialisten sei der entschlossen verfolgte Sparkurs ein richtiges, politisches Mittel, so Olden im Januar 1931. Gleichzeitig bemühe sich Brüning, die notwendigen und harten Einsparungen sozial verträglich durchzuführen und den Schaden für die Sozialpolitik zu begrenzen, z.B. dadurch, dass er Forderungen der Industrie ablehne, die Löhne per Notverordnung weiter zu senken. Dies hätte nur den Nationalsozialisten weiter Auftrieb gegeben und die massenhafte Verelendung verschärft. Vorsichtig, aber darum doch kühn, warnt er davor, die Rationalisierung in der Notzeit weiter auf die Spitze zu treiben, Arbeitshände freizusetzen im Augenblick, in dem es darauf ankommt, so viele als nur möglich sich rühren zu lassen. Vorsichtig, aber nicht undeutlich, nicht unmissverständlich, warnt er davor, in Lohnstreitigkeiten politische Überlegungen hineinzutragen und kündet an, so wenig wünschenswert Notverordnungen seien, die Staatsautorität auch solcher Theorie gegenüber zu wahren. Der Staatsmann, der so spricht, muss einen tiefen Blick getan haben in eine Küche, in der Böses zusammengebraut wird. Wir freuen uns, dass er jetzt und hier zum Kern vorgedrungen ist, von dem der Krankheitsstoff durch den Volkskörper getrieben werden soll.
Bis in den Sommer 1931 hinein wurde für Olden immer deutlicher, dass diese positive Bewertung der Politik Brünings eine Fehleinschätzung war, erkannte er, dass es dem Kanzler tatsächlich einseitig darum ging, die Lasten der Reparationen zu beseitigen. Die Bekämpfung der Wirtschaftskrise und der Massenarbeitslosigkeit hatten keine Priorität, sondern waren untergeordnete politische Ziele. Die Krisenentwicklung spitzte sich zudem bis in den Juli 1931 weiter zu. Weitere Notverordnungen verband die Regierung mit dem Aufruf der baldigen Beendigung der Reparationszahlungen, was in der Folge dazu führte, dass noch mehr dringend benötigtes Kapitel aus Deutschland abgezogen wurde. Die Finanznot stieg weiter, als im März der Vorschlag einer deutsch-österreichischen Zollunion scheiterte, weil die Alliierten diesem Projekt eine Absage erteilten und mit dem Abzug weiterer Geldmengen sanktionierten. Als auch in Österreich die dortige Creditanstalt in die Pleite rutschte, führte dies in Deutschland zu einer schweren Bankenkrise. Tag für Tag musste man zusehen, wie Kunden und Gläubiger an den Schaltern ihre Einlagen und Kredite kündigten und auf Rück- und Auszahlung drängten. Schließlich erfolgte durch eine Notverordnung der Regierung die Schließung aller deutschen Banken für zwei Tage und im Anschluss die Begrenzung der verfügbaren Guthaben am Bankschalter. Erst am 5. August lief der Zahlungsverkehr wieder normal. Die Börsen blieben bis zum 3. September geschlossen. Trotz einer beachtlichen Deckungslücke im Reichshaushalt von 600 Millionen Reichsmark stellte das Kabinett zur Stützung der Banken eine Milliarde Reichsmark zur Verfügung.339 339 Vgl. Büttner (2008): S. 428–435; Kolb (2009): S. 137f.
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Mit scharfen Worten kritisierte Olden die Politik des Kanzlers. Man habe dem Ausland mit zu vielen innenpolitischen Fehlentscheidungen eine Vorgehensweise aufgezwungen, die Deutschland zum Schaden gereiche. Dies alles habe mit dem Tod von Gustav Stresemann begonnen. Die bewusste Abkühlung gegenüber Frankreich, die einheitliche Resistenz bei den Genfer Verhandlungen, die die Abrüstungskonferenz vorbereiteten, endlich die Verrücktheit der Zollunion mit Österreich; damit Hand in Hand der Panzerkreuzerbau, die Agrarpolitik, die Septemberwahlen, das Wiederaufleben des Stahlhelms, die Verfolgungen wegen literarischen Landesverrats. Blind gegen die Warnungszeichen, an denen es nicht fehlte, taub gegen jede Warnung hat die deutsche Politik dem Augenblick zugestrebt, hat sie ihn selbst herbeigeführt. 340
Allein die Fehler zu diagnostizieren reichte nicht aus. Bewusst rückte er die Konsequenzen in den Mittelpunkt seiner Betrachtung, wenngleich außen- und innenpolitische Dinge im Vordergrund standen und weniger ökonomische und soziale Implikationen. Brüning führe die Republik mit dieser Politik einer totalen Isolation in Europa entgegen, welche katastrophalere Folgen als der Versailler Vertrag mit sich bringe. Zudem nütze dies innenpolitisch den Feinden der Weimarer Demokratie. Dabei brauche „dieses Volk nur Frieden, nur eine vernünftige Politik der Ruhe, um alle Wirren der Gegenwart zu überwinden.“ Davon sei man weit entfernt. Eine Alternative zu Brüning sah Olden nicht. Er müsse im Amt verbleiben und dürfe es nicht riskieren, die Unterstützung der SPD zu verlieren. Sollte dies eintreffen, wäre der politische Handlungsspielraum endgültig aufgebraucht. Ihm war bewusst, welch „arge Belastung“ es für die Sozialdemokratie darstellte, dass Kabinett Brüning zu unterstützen. Sie sei „zutiefst proletarisch und pazifistisch“341, aber dennoch gebe sie ihre meisten sozialen Forderungen auf und trage die Aufhebung eigener Errungenschaften mit. Sie werde mitverantwortlich für die Wirtschafts- und Rüstungspolitik Brünings gemacht. Umso größeren Respekt verdiene ihre Haltung, weil sie entgegen der eigenen Interessen das Überleben der Regierung ermögliche und den Staat als Ganzes bewahre, ins politische Chaos zu stürzen. Kritik allein war Oldens Sache nicht, wie seine Bewertung Brünings nach der Auflösung des preußischen Landtages zeigte, die der Stahlhelm, die DNVP, die NSDAP und auch die KPD mit einem Volksentscheid erzwingen wollte. Dass sich der Reichskanzler gegen dieses Vorhaben aussprach, ließen Oldens kritische Töne in den Hintergrund treten. Vor allem der Einsatz Brünings führte nach seiner Ansicht zum Scheitern der Initiative. Es bestehe „Hoffnung auf ein besseres Gedeihen und eine neue Befestigung der Republik. Es kommt darauf an, was wir daraus machen.“342 Seinem Optimismus gab er wenig später im Rahmen der Verfassungsfeierlichkeiten am 11. August weiter Ausdruck. Selbst die harsch verurteilte Anwendung des Artikels 48 wurde relativiert. Aber so sehr wir uns gewehrt haben gegen seine erste Anwendung zu Beginn der politischen Periode, in der wir stehen, auch er ist ein Teil der Verfassung; auch dieser muss uns willkommen sein, auch er soll gefeiert werden, wenn er dazu dient, die Republik zu retten. Wir sind 340 R.O. Vor Olmütz?, in: Berliner Tageblatt, 11.7.1931 M. Folgendes Zitat ebd. 341 R.O. Kommende Entscheidung, in: Berliner Tageblatt, 6.6.1931 M. 342 R.O. Volksentscheid für Vernunft, in: Berliner Tageblatt, 10.8.1931 A.
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6 Berliner Jahre nicht mit allem einverstanden, was heute geschieht, und wir pflegen deutlich zu sagen, dass wir es nicht sind. Aber den festen Willen des Reichskanzlers Brüning und seiner engeren Verbündeten, mit dem, was sie tun, die Verfassung der Republik zu erhalten, bezweifeln wir nicht. Wir vertrauen darauf, dass das seine letzte, innerste Absicht ist. 343
Die wahre Gefahr komme nicht von links und rechts, sondern „ist die Not, die diese Feinde erst gross werden lässt.“ Nur durch eine europäische Verständigung, durch weitere Annäherung der Völker und eine Festigung des Friedens kann sie beseitigt werden. Dies entspräche selbst dem Sinne der Verfassung. „Gegen den Geist der Verfassung, der sich darin ausspricht, ist am meisten in den jüngst vergangenen Jahren gesündigt worden.“ Sein journalistisch-pazifistisches Lebenswerk und seine politische Grundanschauung brachte Olden an dieser Stelle am pointiertesten auf den Punkt, wenn er schrieb: „Die Republik ist der Friede. Dienen wir dem Frieden, so dienen wir der Republik. Dienen wir der Republik, so dienen wir dem Frieden.“ Eine Mehrheit der Gesellschaft, zeigte er sich überzeugt, wolle weiterhin beides. Sie stünde „unermüdlich, unbeugsam und unerschütterlich“ in diesem Dienst. Anfang Oktober reagierte Olden bestürzt und erneut mit scharfer Kritik, als der Reichskanzler auf Drängen von Reichspräsident Hindenburg sein Kabinett umbildete und die letzten liberalen Minister entließ, allen voran Außenminister Julius Curtius von der DVP. Die Exekutive geriet in immer größere Abhängigkeit zum Staatsoberhaupt und der Armee. Zum Parlament wuchs die Distanz. Diese Regierungsumbildung war für Olden ein Experiment, das unverantwortlich sei. Er lehnte es entschieden ab. Seine Verurteilung des Vorgangs betraf sowohl den Akt der Umbildung an sich, als auch dessen Zeitpunkt und deren Begleitumstände. In Bad Harzburg traf die nationalistische Opposition aus DNVP, Stahlhelm und NSDAP zusammen, um mit allen Mitteln zu versuchen, einen Regierungssturz herbeizuführen. Zeitgleich zeigte die Krise der Wirtschaft immer drastischere Folgen und die Verelendung weiterer Bevölkerungsgruppen verschärfte die Lage zusätzlich. Leichtfertig habe Brüning das Risiko einer Kabinettsumbildung gewagt. Aber das überhaupt ein Wechsel der Regierung herbeigeführt werden konnte, in einem Zeitpunkt, in dem das Schicksal der Nation möglicherweise einer schweren Erschütterung ausgesetzt ist, das ist bedeutsam, das ist bedauerlich, es ist, sprechen wir es aus, nicht zu billigen. Vor der Geschichte wird die Störung des Regierungsgeschäfts nicht leicht zu verantworten sein.344
Es war eine persönliche Enttäuschung für Olden. Es ist Zeit, Illusionen abzuschreiben, titelte das Berliner Tageblatt am 9. Oktober 1931. Seiner Überzeugung nach konnte es nur verheerende Folgen haben, da das internationale Vertrauen in die deutsche Politik endgültig verspielt sei und Stabilität vorläufig nicht erreichbar ist, weder politisch noch finanziell. Innenpolitisch bestehe die Gefahr einer nationalen Regierung aus DNVP und NSDAP, die Brüning unter Mithilfe der SPD hätte verhindern müssen. „Das, was kommen könnte, wäre schlimmer, als das bisher Dagewesene. So wenig hier Alarm geschlagen werden soll, so sei doch gesagt, dass die 343 R.O. Tag der Republik, in: Berliner Tageblatt, 11.8.1931 A. Die folgenden Zitate ebd. 344 R.O. Es ist Zeit, Illusionen abzuschreiben, in: Berliner Tageblatt, 9.10.1931 A. Die folgenden Zitate ebd.
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leichtfertige Resignation, die gegenüber dem Erwartbaren, dem zu Fürchtenden besteht, eine sehr üble und sehr gefährliche Erscheinung ist.“ Das Bewusstsein für die Gefahren fehle. Soll die drohende Katastrophe abgewendet werden, „so muss erst Europa befriedet, so muss eine Stabilität erreicht sein, die auf zugleich annehmbaren und festen Formulierungen beruht, die ein vertrauensvolles Zusammenwirken der beiden europäischen Herzvölker garantiert.“ Dies war womöglich unter den gegebenen Bedingungen illusorisch, wenngleich Olden an seiner europäischen Einigungsidee auf Grundlage einer deutsch-französischen Aussöhnung festhielt. Es wirkt wenig überzeugend, wie er von der Herstellung einer außenpolitischen Verständigung zu einer Beruhigung der innenpolitischen Polarisierung gelangen wollte. Umso mehr ist seine Verbitterung verständlich, die gerade in dem Moment eintrat, als die ideologischen Ränder Mitte Oktober 1931 im Reichstag versuchten, Brüning und sein Kabinett durch ein Misstrauensvotum zu Fall zu bringen. Muss man also mit dem Sieg der Regierung zufrieden sein, weil er Schlimmeres verhütet, das sonst mit Sicherheit zu fürchten wäre, so ist doch zum Jubel kein Anlass. Die Bewunderung für sein persönliches Auftreten kann nicht darüber täuschen, dass Brüning die Konsequenzen aus seinen politischen Erkenntnissen bisher noch nicht gezogen hat. Und wer weiss, ob er nicht so lange damit zögert, bis es zu spät ist.345
Es kann nur die „Hoffnung auf rechtzeitige Umkehr“ bleiben, gäbe es bereits Stimmen, die eine kurzzeitige Machtübernahme einer nationalen Regierung begrüßten. Die Nationalisten ahnen kaum etwas davon, wie weit verbreitet in der Mitte und bei den Linken der Wunsch ist, endlich einmal möge die Opposition die Last der Regierung tragen, endlich einmal sollte nicht mehr die Ungunst der Zeiten zermürbend und zerstörend immer dieselben staatserhaltenden Parteien belasten, endlich einmal werde den glücklichen Nichts-als-Agitatoren die bittere Pflicht der Geschäftsführung auferlegt werden, endlich einmal würden ihre Träumereien mit der Realität zusammenstossen.
Nüchtern betrachtet war sich Olden selbstverständlich im Klaren darüber, dass Brüning weiter zu unterstützen ist, um „der Gefahr, die der Demokratie unzweifelhaft durch die Regierung der Faschisten entstünde“, abzuwehren. Die Unterstützung gründete nicht mehr auf Sympathie, sondern auf der bitteren Erkenntnis der Notwendigkeit, den Staat und die Republik mit allen Mitteln zu schützen und zu erhalten. Dies schloss die Unterstützung der Reichswehr mit ein. Mit Blick auf die allgemeine politische Situation schrieb Olden: Seit den Reichstagswahlen vom September 1930, die den grossen nationalsozialistischen Erfolg brachten, ist die Verfassung in Deutschland bedroht. Sie parlamentarisch zu verteidigen, ist schwierig, es wird nach einer neuen Wahl vielleicht noch schwieriger sein. Der stärkste außerparlamentarische Machtfaktor ist die Reichswehr. Will sich das Regime unbedingt gegen den nationalsozialistischen Angriff halten, so muss es sich hauptsächlich auf diesen starken Machtfaktor stützen.346
Für den Pazifisten Olden markierte dies einen schwerwiegenden Einschnitt in seine politischen Grundüberzeugungen, war er überzeugt, dass die Armee in ihrer der345 R.O. Die Konsequenzen ziehen!, in: Berliner Tageblatt, 17.10.1931 A. Die folgenden Zitate ebd. 346 R.O. Der General im Reichsinnenministerium, in: Argentinisches Tageblatt, 22.11.1931.
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zeitigen Form eher eine Bedrohung für den Erhalt der Demokratie sei, weshalb er deren Republikanisierung forderte. Neue Wahlen sollte es im folgenden Jahr genügend geben, weshalb er seinen Ausblick für 1932 mit dem Titel Das schwerste Jahr überschrieb347. Hier werde sich das Schicksal der Republik endgültig entscheiden. Die „faschistische Welle, die im Wachsen ist“348, könne nur gebrochen werden, wenn die Arbeiterschaft sich einig zeige. Diese Aufforderung richtete er vor allem an die KPD. Sie dürfe der „taktischen Einigung der Arbeiterschaft“ nicht weiter den Weg versperren. Ansonsten könnte es geschehen, dass die kommunistischen Arbeiter und Arbeitslosen eines Tages vor der Tatsache der faschistischen Herrschaft stehen, während sie noch den Glaubenssatz ihres Hauptorgans nachbeten, in der gegenwärtigen Periode des Klassenkampfs müsse der Hauptschlag gegen die Sozialdemokratie geführt werden.
Wehe erst einmal auf den Regierungsgebäuden und dem Karl-Liebknecht-Haus die Hakenkreuzfahne, sei es zu spät. Bevor Olden Gelegenheit erhielt, in gewohnter Manier die weitere Entwicklung der Republik zu kommentieren, folgte Ende 1931 seine Entlassung aus der Redaktion des Berliner Tageblatt. Nur anhand einiger Schlaglichter, wie der Landtagswahl in Preußen am 24. April, dem endgültigen Rücktritt der Regierung Brüning am 30. Mai oder der Reichstagswahl am 31. Juli vollzog er journalistisch als freier Autor weiter die politische Entwicklung mit. Seit Jahresbeginn verlor Brüning und sein Kabinett langsam das Vertrauen des Reichspräsidenten. Ausgangspunkt dieser Entwicklung waren die Vorbereitungen zur Wiederwahl Hindenburgs. Dieser legte es vor allem dem Kanzler zur Last, dass der Wahlkampf „in verkehrter Frontstellung“ stattfand. DNVP und Stahlhelm versagten ihm seine Unterstützung, während die ungeliebten Sozialdemokraten aufriefen, ihn zu wählen. Anfang April 1932 gewann Hindenburg im zweiten Wahlgang mit 53% der Stimmen gegen seinen Herausforderer Hitler. Die Wiederwahl des greisen Reichspräsidenten und der vorangegangene Wahlkampf konnte publizistisch durch Olden keinerlei Würdigung erfahren, sollte er erst Ende April wieder die Möglichkeit erhalten, als freier Journalist für das Berliner Tageblatt u.a. Zeitungen und Zeitschriften zu schreiben.349 Anfang Oktober veröffentlichte er ein großes Porträt über das Staatsoberhaupt anlässlich dessen fünfundachtzigstem Geburtstag. Am Ende des Beitrages findet sich die entscheidende Charakterisierung Hindenburgs: „Den Elementen, die nach Herkunft und Erziehung sein Wesen bestimmten, ist er treu geblieben.“350 Vor allem die militärische Erziehung des Kadettenkorps von Wahlstatt in Schlesien prägte ihn, so Olden. Dies sei stets eine abgeschlossene Welt gewesen, die den jungen Landadligen formte, züchtete Preußen hier seine führenden Soldaten. „Von allen Veränderungen, die die Armee durchmachte, blieb das Kadettenkorps im Grunde ungerührt. Scharnhorst und seine Freunde, für die das Korps nur eine Brutstätte des Standesdünkels war, wollten es 347 348 349 350
Vgl. R.O. Das schwerste Jahr, in: Berliner Tageblatt, 7.11.1931 A. R.O. Nationalkommunismus, in: Berliner Tageblatt, 21.11.1931 A. Die folgenden Zitate ebd. Vgl. Kolb (2009), S. 138f. R.O. 85 Jahre. Zum Geburtstag des Reichspräsidenten, in: Berliner Tageblatt, 2.10.1932 M. Die folgenden Zitate ebd.
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abschaffen, aber hier drang ihr Reformeifer nicht durch.“ Als Erziehungsprinzip galt die Einseitigkeit der Bildung und nicht deren Universalität. Seine Loyalität gegenüber der Monarchie stieg über die Einigungskriege hinweg kontinuierlich an, machte Hindenburg Karriere in der Armee. Daran änderte auch die Abdankung des Kaisers und der staatliche Zusammenbruch nichts. Es kann an der Intensität seiner dynastischen Treue nicht gezweifelt werden. Es ist ein tragischer Zug im Schicksal Hindenburgs, dass sein Bild das des Kaisers im Bewusstsein Deutschlands verdrängen muss. Vielleicht darum hält er um so beharrlicher an dem Obersten Kriegsherrn fest.
Und trotz allem habe er die äußere Politik Stresemanns mitgetragen, verfassungstreu mit dem Kabinett Müller regiert und französische Minister in Berlin empfangen, „obwohl seine Empfindungen dagegen sprachen.“ Eine plausible Erklärung für diese Gleichzeitigkeit fand Olden indes nicht. Erst im Exil sollte ihm durch die Veröffentlichung einer Biographie über Hindenburg die Entschlüsselung seines Wesens gelingen, er den Charakter seiner Herrschaft offenbaren und jene Elemente genauer artikulieren, die ihn ausmachten und seine Politik bestimmten. Auch wenn es Hitler in der Auseinandersetzung mit Hindenburg gelang, im zweiten Wahlgang nochmals sechs Prozent an Wählern hinzuzugewinnen, sah Olden vor den Landtagswahlen im April in Preußen, Bayern, Württemberg, Hamburg und Anhalt den Siegeszug der NSDAP für nicht unaufhaltbar an. In einem Artikel richtete er einen Appell an die Schwankenden: Schwarzmalerei passt nicht zum Wahlsonntag. Noch ist die Republik nicht verloren. Wer gegen die Beschränkung der geistigen Freiheiten ist, der soll seinem Groll nicht dadurch Ausdruck geben, dass er dabei mithilft, sie ganz zu beseitigen. Das tut aber, wer aus Aerger über die Erfolge der einen radikalen Partei mit der anderen läuft. Aus Verärgerung den Inhalt des Wahlzettels bestimmen, das ist das Falscheste, was der Wähler tun kann. 351
Klar müsse sein, dass der Feind rechts stehe. Man bekämpfe ihn nicht, in dem man „sich von der Hypertrophie des rechtesten Flügels auf den linkesten treiben“ lässt, „im Hader gegen die Mitte.“ Die Parteien müssten unterstützt werden, die „den Damm stärken, der den Staat abtrennt, doch noch abtrennt von den barbarischen Eroberern.“ Auf welche er genau zielte, bleibt offen. Im Allgemeinen sprach Olden von jenen, die in der Lage seien, Armee und Polizei an den Staat zu binden, denn „es ist wahr, er wird geschützt von Trägern der Bajonette. Hinter ihnen muss eine Kraft stehen, die sie bindet und festhält.“ Der Wähler müsse alles tun, die Entwicklung hin zum Faschismus zu hemmen, zu verlangsamen. Es könne nicht mehr um eine konstruktive Wahlentscheidung gehen. Ziel sei es ausschließlich, den Aufstieg des Nationalsozialismus zu stoppen, um die Kanzlerschaft Hitlers zu verhindern. Das es dieser Strategie bedarf, sprach Olden durchaus mit Bedauern aus. „Es kommen wieder andere Zeiten.“ Allen Aufrufen zum Trotz, erreichte die NSDAP weitere beachtliche Wahlerfolge auf Landesebene. Selbst in Preußen gelang es ihnen beinahe, die politische Führung zu übernehmen. Eine Stimmung des Hitler ante portas kennzeichnete die 351 R.O. An die Schwankenden, in: Berliner Tageblatt, 23.4.1932 M. Die folgenden Zitate ebd.
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Lage in der Republik im Sommer 1932, zumal Ende Mai die Gelegenheit günstig schien, Brüning zum Rücktritt von seinem Amt als Reichskanzler aufzufordern. Seit einigen Wochen konspirierte Kurt von Schleicher mit Hilfe der NSDAP gegen die Regierung, um sie zu stürzen. Ein stärker rechts gerichtetes Präsidialkabinett unter Tolerierung Hitlers war das Ziel. Anlass bot der Entwurf einer Notverordnung zur Ostsiedlung, der „die Zwangsenteignung nicht mehr entschuldungsfähiger großer Güter zum Zweck der bäuerlichen Siedlung“352 vorsah. Hindenburg lehnte dies unter dem Einfluss seiner großagrarischen Standesgenossen strikt ab. Nach einer kurzen Unterredung mit Brüning erklärte dieser am 30. Mai seinen Rücktritt und die Demission des gesamten Kabinetts.353 Für Olden stellte sich die Frage: „Ist er (politisch) gescheitert?“354 Eine Antwort darauf, vermochte er nicht zu geben, wenngleich „Brüning Erfolge hatte, weil die Solidität, die Gründlichkeit, der Ernst seines Wesens für ihn warben. Vor der Sprunghaftigkeit des wilhelministen Typs war man bei ihm sicher.“ Die Geschichte werde einen Mann zeigen, der durch „innere Freiheit“ geprägt war. „Er zählt zu den Geistmenschen, deren Tat und Wirkung erarbeitet, mühevoll erkämpft ist.“ Niemand könne mit Gewissheit sagen, ob er den Staat aus der Krise hätte empor führen können. Einzig seine Persönlichkeit war und blieb der abschließende Maßstab für die Beurteilung seiner Kanzlerschaft durch Olden. „Höchste Sittlichkeit“ zeichne ihn aus, wodurch er ein Mann wäre, den Deutschland auch künftig bräuchte, weil er „ein unvergleichliches Aktivum der Nation bildet.“ In den Sommermonaten des Jahres 1932 kam Schleicher eine Schlüsselrolle beim Sturz der Regierung Brüning zu. Ihm schwebte schon vor 1930 ein autoritäres und antiparlamentarisches Präsidialregime vor. Er zielte auf dessen dauerhafte Etablierung, gestützt auf der Reichswehr und mitgetragen von der Bewegung Hitlers, wenngleich in einer eher passiven Rolle. „Schleichers Konzept einer politischen Zähmung und Abnutzung der NSDAP durch Einbindung in die Regierungsverantwortung war zweifellos mitinspiriert durch wehr- und heerespolitische Absichten.“355 So sollte die SA einerseits zur Landesverteidigung eingesetzt werden, andererseits die personelle Basis der Reichswehr erweitern, um die Wiederaufrüstung voranzubringen. Ein Verbot der SA, per Notverordnung durch die Regierung Brüning nach der Reichspräsidentenwahl beschlossen, missfiel ihm. Am 8. Mai 1932 kam es zwischen Hitler und Schleicher zu Verhandlungen, die sowohl eine Aufhebung des Verbotes, als auch die künftige Tolerierung einer nationalen Präsidialregierung durch die NSDAP zum Gegenstand hatten. Die Absetzung Brünings und die Auflösung des Reichstages wurden besprochen. Schleicher erfüllte seine Zusagen umgehend, indem er seinen Einfluss auf den Reichspräsidenten geltend machte: Am 1. Juni berief Hindenburg das Kabinett der Barone unter der Führung von Franz von Papen. Das SA-Verbot fiel am 14. Juni und die Neuwahlen erfolgten am 31. Juli. Gleichzeitig gewann Schleicher die Zustimmung des Reichspräsidenten 352 353 354 355
Kolb (2009): S. 141. Vgl. ebd.: S. 138–141. R.O. Brüning, in: Berliner Tageblatt, 4.6.1932 M. Die folgenden Zitate ebd. Kolb (2009), S. 142f.
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für eine Reichsexekution gegen Preußen. Die dortige sozialdemokratisch geführte Regierung, die seit den Wahlen vom April nur geschäftsführend amtierte, wurde abgesetzt. Papen übernahm selbst das Amt des Ministerpräsidenten. Offener Widerstand der SPD blieb aus, obwohl ihre letzte Machtbastion fiel. Eine aktionsfähige Einheitsfront der Linken bestand nicht, die Olden angemahnt hatte. Mit dem 20. Juli war die deutsche Sozialdemokratie innenpolitisch vollständig isoliert.356 Ohne sich konkret auf die beiden Ereignisse zu beziehen, schlussfolgerte er: Der Drang nach Diktatur hat noch nicht aufgehört, seitdem die deutsche Republik besteht. Ob es uns nun schlecht ging oder weniger schlecht, immer gab es einige oder viele unter uns, die das Gleichgewicht von Kräften, das die Weimarer Verfassung eingerichtet hat und das jede Verfassung vorsieht, als krasse Unordnung empfanden und durchaus an seine Stelle das Übergewicht eines einzigen setzen wollten.357
Das werde in dieser historischen Situation wieder deutlicher. Die Person des Diktators sei zweitrangig und austauschbar, wenn es darum ginge, die Freiheit zu zerstören. Was sie im positiven Sinne zu bewirken vermag, zeigte nach seiner Anschauung der nationale Aufbruch zwischen den Jahren 1808 und 1813, in denen auch das Militär zum Wohle aller in das Volksganze eingebunden gewesen sei. Die Armee wurde mit bürgerlichem Geiste erfüllt und zu ihr das ganze Volk herangezogen, das, als der Ruf erging, in die Kaders der Landwehr und des Landsturmes strömte. So stark war die demokratische Heeresverfassung, dass die Reaktion fünfzig Jahre brauchte, um sie in ihrem Sinne zu verwandeln.
Das „restaurierte Junkertum“ habe damals alles wieder „zurückgebogen“, wie es sich heute wieder anschickt. Der Geist werde zum Ungeist umgebildet, Reformer verfolgt. Die Größe der Nation sei mit ihrer inneren Freiheit untrennbar verbunden. Dass ist es, was nach Oldens Ansicht die Reaktionäre nicht verstünden, wenn sie mit roher Macht daran gehen, den Staat umzubauen. Dem Deutschen sei es nach wie vor eigen, dass „jede nationale Erschütterung, Sieg wie Niederlage, mit Unterdrückung geendigt“ hat. Es wäre an der Zeit, dass „freiheitliche Kräfte“ die Oberhand in diesem inneren Kampf gewönnen, der seit den Befreiungskriegen in unterschiedlichen Facetten ausgetragen werde. Sie „allein können eine Nation wirklich, innen wie aussen, einig und stark machen.“ Unter Berufung auf einen bekannten Lyriker des frühen 19. Jahrhunderts, Ernst Moritz Arndt, rief Olden der „Herrschaft des Absolutismus ins Gesicht: Freiheit!“ Der gemäßigte Pazifismus habe sich als untauglich erwiesen, die Freiheit der Nation und Gesellschaft zu bewahren. Durchaus selbstkritisch merkte er an: Die Anhänger des internationalen Rechtsgedankens sind knochenweiche Utopisten und habe sich seit Jahren mehr um den Haager Gerichtshof und um den Völkerbund gekümmert, als um die Befestigung der französischen Ost- und der polnischen Westgrenze, um den Aktionsradius der Flugflotten unserer Nachbarn und um die Stundengeschwindigkeit ihrer Motorbatterien. Während wir in rosigen Träumen schwelgten, Silberstreifen vor den schlaftrunkenen Augen,
356 Vgl. ebd.: S. 143. 357 R.O. Freiheit!, in: Berliner Tageblatt, 29.7.1932 A. Die folgenden Zitate ebd.
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6 Berliner Jahre haben unsere rechts stehenden Nationalen Tag für Tag unsere Schwäche gepredigt, haben die Jugend zum Wehrsport, zur Wehrfreude und Wehrlust aufgerufen. 358
Zu wenig habe man über die Frage gestritten, ob Rüstung oder Abrüstung für alle Nationen gleichermaßen gerecht bzw. unanfechtbar sei. Er bezeichnete sich selbst „als Träumer europäischer Einigung.“ Das Preußen der Reformer blieb zudem Vorbild. Es ist eine Lust, jene grosse Periode Preussens nachzufühlen. Immer wieder ist man ergriffen von dem harten Gericht, das die patriotischen Reformer über die Kriegsverlierer ergehen liessen, von dem gewaltigen Schwung, in dem sich Bauern, Bürger und Adlige mit der Armee vereinten, um für ein neues besseres und grösseres Vaterland zu kämpfen, um Europa von dem Alpdruck der imperialistischen Kriege zu befreien, um den Frieden in die Hütten der ausgesogenen Völker zu bringen.
Eine derartige Anstrengung habe die Republik von Weimar nach der Kriegsniederlage nie unternommen, obwohl es politische und militärische Vorbilder in Gestalt von Freiherr von Stein, Karl August von Hardenberg, August Neidhardt von Gneisenau, Gerhard von Scharnhorst, Hermann von Boyen, Carl von Clausewitz oder Gebhard Leberecht von Blücher gegeben hätte. Jene ließen sich von der Idee leiten, alle Standesunterschiede zu vernachlässigen und den Mensch an sich in den Mittelpunkt der Staatsreform zu stellen. „Wahrhaftig, das preußische Volk war in Bewegung geraten.“ Damals habe man Bündnisse mit England, Schweden, Russland, Österreich und Frankreich auf den Weg gebracht. Heute sei man auf der Abrüstungskonferenz in Genf gänzlich isoliert und habe seine internationalen Beziehungen geopfert. Olden wiederholte noch einmal seine Sichtweise, dass man seit dem Tod von Gustav Stresemann einen rasanten Aufstieg des Nationalismus erlebt habe, der ganz bewusst, entgegen der eigentlichen staatlichen Interessen, herbeigeführt wurde. Daran habe der Nationalsozialismus noch den geringsten Anteil. Ungeachtet dessen, so seine Überzeugung, sei man an einem Punkt angelangt, von dem aus der „nächste Krieg“ wahrscheinlich ist, denn „es wird eine Idealisierung des Krieges betrieben, die längst zu einer nationalen Gefahr geworden ist.“359 Zu sehr seien heute Pazifisten wieder der Verfolgung und Diskriminierung durch staatliche Behörden ausgesetzt. So folgte der nationalistischen Hetze gegen Emil Julius Gumbel im September 1932 der endgültige Entzug seiner Lehrberechtigung an der Universität Heidelberg. Für den liberalen Weimarer Journalismus stellte der Erfolg des Nationalsozialismus keine große Überraschung dar. Welche tiefgreifenden Konsequenzen der Rückzug der SPD aus der Regierungsverantwortung mit sich brachte, erkannten sie weitgehend. Der Wahlsieg der NSDAP am 14. September war in den Kommentaren der liberalen Blätter eher der vorläufige Abschluss einer Entwicklung, die 1929 einsetzte. Bei zahlreichen Kommunal- und Landtagswahlen errang Hitler mit seiner Bewegung zuvor zahlreiche neue Mandate. In Thüringen residierte mit Wilhelm Frick der erste nationalsozialistische Ministerpräsident. Darüber hinaus stellte ein Hauptproblem des politischen Liberalismus und insbesondere des liberalen Journa358 R.O. Seelen-Autarkie, in: Berliner Tageblatt, 19.8.1932 M. Die folgenden Zitate ebd. 359 R.O. Neue Wertordnung, in: Berliner Tageblatt, 7.9.1932 M.
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lismus die gerechte Beurteilung der Sozialdemokratie in der Endphase der Weimarer Republik dar. Einerseits bekämpfte man publizistisch mit Nachdruck die Tendenz, dass zunehmend von Seiten der SPD auf parlamentarische Konfliktlösungsmechanismen verzichtet wurde, andererseits versprach man sich von Brünings Regierungsstil eine sachliche und vernünftige Überwindung der wirtschaftspolitischen Situation. In dieser politischen und wirtschaftlichen Lage schien es keine überzeugende personelle Alternative zu dem nüchternen und sachlichen Amtsverwalter Brüning zu geben. Die zwangsweise herbeigeführte Allianz mit ihm stellte also das kleinere Übel dar.360
Wollte man eine entschiedene Rechtsregierung verhindern, galt es, dessen autoritäre Regierungsführung zu stützen. Darin waren sich Olden und die liberale Publizistik zu Beginn seiner Kanzlerschaft durchaus einig. Die positive Einstellung wandelte sich im Frühjahr 1931, wie nicht zuletzt die Beiträge Oldens zeigten. Auslöser war vor allem die Reichstagsrede des Kanzlers am 5. Februar, in der er zu den drängenden finanz- und wirtschaftspolitischen Problemen der Preis- und Beschäftigungssituation im Reich schwieg. Die Folgen für das parlamentarische System durch die anhaltende präsidiale Stützung Brünings stand vermehrt im Blickpunkt. Objektiv stellte man fest, dass der Raum für den Parlamentarismus tatsächlich kleiner wurde. „Den liberalen Journalisten wird man in der Epoche der Präsidialkabinette nur gerecht, wenn man ihr Zeitverständnis und ihre Argumentation vor dem Hintergrund eines permanenten politischen Ausnahmezustands begreift.“ In der Publizistik fehlte es, wie das Beispiel Olden exemplarisch belegte, nicht an einer umfassenden und nüchternen Analyse der politischen Sphäre, an Ideen und konstruktiver Kritik, sondern vielmehr an Politikern, die entschlossen und kompromissbereit die Übernahme von Verantwortung nicht scheuten. Das Bedauern über den Verlust von Gustav Stresemann, welches in Oldens Artikeln artikulierte, mag Beleg dafür sein, wie defizitär er die politische Kaste bewertete, in der der Mangel an Verantwortungsgefühl inzwischen groß sei. Damit verband sich die Erkenntnis, dass die liberale Presse nicht in der Lage war, Fehler, Versäumnisse und strukturelle Defizite im Weimarer System zu korrigieren. Es blieb bei dem Versuch, den erneuten Rückfall in unruhige Zeiten, wie während der Republikgründung, zu verhindern. Einer Selbstpreisgabe wollte man vorbeugen, allerdings blieb eine parteipolitische Rückkopplung aus, die hierfür nötig gewesen wäre. Womöglich waren Olden und seine Kollegen von einem zu starken Vertrauen in die politische Vernunft ausgegangen, ihr demokratischer Grundoptimismus nicht berechtigt, sodass sie die Schwächen des Parteienstaates nur ungenügend wahrnahmen. Die Krise des Liberalismus markierte zunehmend den Verlust persönlich-politischer Identität und Identifizierung mit dem Weimarer Staat. Wie im Falle Olden offenkundig, war zunehmende Sprachlosigkeit die Folge. In der entscheidenden Phase der politischen Entwicklung zwischen Oktober 1932 und Januar 1933 blieb er publizistisch stumm.361 360 Sösemann, in: Koebner (1982): S. 155. Folgendes Zitat ebd., S. 165. 361 Vgl. ebd.: S. 154–167.
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Innerhalb der Friedensbewegung selbst kam es spätestens mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise zu einer Verhärtung der Fronten. So warf Kurt Hiller den radikalen Pazifisten vor, sie seien mitschuldig am Aufstieg der Nationalsozialisten. Ihre Einstellungen und Ansichten hätte viele Bürger der Friedensbewegung entfremdet und Hitler in die Arme getrieben, wie die Reichstagswahl im September 1930 belege. Dies prägte die innerpazifistische Kontroverse zwischen gemäßigten und radikalen Friedensfreuden des Jahres 1931 entscheidend mit. Dabei mündete die Frage, wie dem Pazifismus eine breite Resonanz zu verschaffen und die nationalistische Welle abzufangen sei, zwangsläufig noch einmal in eine Diskussion über den politischen Kurs und die taktische Marschroute des deutschen Pazifismus ein. 362
Einem Großteil der gemäßigten Pazifisten war klar, dass es an einer positiven Programmbeschreibung fehlte. In einer Welt voller Krisen reiche es nicht aus, nur Militaristen anzugreifen, so Wehberg. Die tieferen Ursachen für Anarchismus und Faschismus, die die Demokratie bedrohen, müssten erforscht werden. Er vertrat die Ansicht, dass der Pazifismus an der Spitze der Revisionsbewegung zu stehen habe. Geistige Führung sei das Ziel, um die Gefahren für den Weltfrieden abzuwehren. Mit einem Appell an die Gerechtigkeit könne es gelingen, eine besonnene Revision zu erreichen. Dazu bedarf es der Änderung der Verträge, ansonsten sei das Vertrauen nicht herzustellen, das dringend für den Frieden in Europa notwendig sei. Damit vertrat Wehberg keineswegs etwas Neues. Bereits der Vorkriegspazifismus stand für diesen Grundsatz. Die gemäßigten Pazifisten vollzogen somit keinen Gesinnungsumschwung. Friede durch Recht blieb die Grundmaxime. An den Bedenken, die man 1919 gegenüber dem Versailler Vertrag artikulierte, wurde festgehalten. Politische Ansprüche untermauerte man mit Rechtsargumenten. Vor allem darin mag die Stärke zu sehen sein. Dies führte zu einer klaren Distanz und Abgrenzung gegenüber jeglicher Form des Rechtsradikalismus. Fortschritt, Freiheit, Humanität und Kultur standen versus Nationalismus, Militarismus und Kriegsbegeisterung. Gleichzeitig war man der Ansicht, dass das starre Festhalten der Alliierten an ihrer Politik in der Revisionsfrage nur zu einer Stärkung des Nationalismus in Deutschland führe könne. Damit beschleunigen sie den Untergang der Republik und schwören einen erneuten Krieg herauf. Die Siegermächte müssten zu Konzessionen bereit sein. Was den gemäßigten Pazifisten letztlich vorschwebte, war eine Alternative zu den außenpolitischen Grundkategorien der nationalen Rechten. Ein befriedetes, von den Ungerechtigkeiten Versailles befreites, demokratisches Deutschland in einem befriedeten, auf dauernde Zusammenarbeit und Friedenswahrung bedachten Europa.
Nur so könne die Abwehr einer faschistischen Machtergreifung gelingen und Krieg verhindert werden. Radikale Pazifisten wie Foerster lehnten ein Einschwenken auf die Linie der Revisionisten ab. Begrenzte Zugeständnisse betrachteten sie nicht als Zeichen der Entspannung, sondern vielmehr als Anreiz für weitere, radikale Forderungen. Man könne von den anderen europäischen Ländern im Angesicht des Aufstiegs der NS362 Scheer (1981): S. 561. Die folgenden Zitate ebd., S. 564 und S. 569.
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Bewegung nicht erwarten, dass sie abrüsten. Dies widerspräche seinem pazifistischen Grundverständnis, so Foerster. Zu real sei die Kriegsgefahr, die von Deutschland wieder ausgehe. Allgemeine Abrüstung könne nicht in Frage kommen. Abschreckung sei das Gebot der Stunde. Pazifismus, so wie er ihn verstand, habe die Aufgabe, die deutsche Gesellschaft zur Anerkennung des Status-quo zu bewegen. Nur dann kann es zu einer europäischen Zusammenarbeit kommen. Revision und Pazifismus schließen sich quasi aus, weshalb auf diesem Wege keine Stabilisierung der internationalen Beziehungen zu erreichen sei. Die unterschiedlichen Haltungen in dieser Frage vertieften die bestehenden Gräben. Man beschuldigte sich gegenseitig des Militarismus. Eine Kooperationsbasis verschwand. „Ohne ein einheitliches, alle Richtungen bindendes Konzept ging der Pazifismus in die letzte Phase des politischen Kampfes hinein.“ In der Beurteilung der Wirtschaftspolitik von Reichskanzler Brüning herrschte nahezu völlige Einigkeit unter den Weimarer Pazifisten. Der Aufstieg der NSDAP wurde nicht als Folge Versailles gesehen, sondern als Ergebnis einer verfehlten ökonomischen Politik unter umstrittenen revisionistischen Zielen der deutschen Regierung. Sie erst trieb massenhaft die Bevölkerung in den radikalen Nationalismus hinein. Wollte man die Depression überwinden helfen, bedurfte es eines anderen Wirtschaftskonzeptes, auch wenn die Ursachen der Krise international waren. Eine funktionelle Störung des modernen Kapitalismus betrachtete man als ursächlich. Folglich strebte man die Umwandlung der profitorientierten Wirtschaft an. Ob der Sozialismus mit seinen Dogmen Abhilfe schaffen könne, war demgegenüber keineswegs gewiss. Dass das bestehende System stufenweise durch ein sozial orientiertes ersetzt werden müsse, darin bestand Einigkeit. Gegenstand pazifistischer Kritik blieben sowohl die Maßnahmen Brünings als auch die krisenverschärfende Politik nationalistischer Kreise. Nur das habe das Vertrauen in Deutschland erschüttert und notwendiges ausländisches Kapital aus dem Land getrieben. Sinkende Produktion und steigende Arbeitslosigkeit seien das Resultat, alles motiviert durch das Bestreben, keine Reparationen mehr leisten zu müssen. Die künstliche Krisenverschärfungsstrategie pervertierte in den Augen der Pazifisten das Politische. Somit bleibe nur eine außenpolitische Isolierung, ein wirtschaftliches Chaos, innenpolitische Entrechtung der Staatsbürger sowie Unterdrückung Andersdenkender zu bilanzieren. Bis zur Mitte des Jahres 1932 hielten die Weimarer Friedensfreunde die politische Lage nicht für ausweglos. Der Untergang des Staates erschien ihnen nicht unausweichlich, wenn sie weiter für Demokratie und Frieden stritten. Doch spätestens mit der Regentschaft Papens griff die Erkenntnis um sich, dass es für eine Rettung zu spät sei, Weimar dem Ansturm seiner Gegner unterliegen werde.363 Vergleicht man die Positionen Oldens mit denen der Weimarer Friedensbewegung, so ist erkennbar, wie hilflos beide der politischen Entwicklung zu Beginn der 1930er Jahre gegenüberstanden. Nach dem Sturz der Großen Koalition konnten sie nur abwarten, nur reagieren, nicht mehr agieren. Alternativlosigkeit war das vor363 Vgl. Scheer (1981): S. 560–579.
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herrschende Gefühl: Der Glaube an neue parlamentarische Mehrheiten existierte nicht mehr, Neuwahlen und die Anwendung des Artikels 48 lehnte man ebenso ab wie eine Regierungsbeteiligung der DNVP, sodass innenpolitisch, Pessimismus den Blick auf Demokratie und Parlamentarismus merklich zu trüben begann. Womöglich ist es deshalb erklärbar, weshalb der gemäßigte Pazifismus in Übereinstimmung mit Olden stärker auf die außenpolitische Ebene zielte und eine veränderte Politik der Alliierten in Sachen Reparationen forderte. Ihr Revisionismus müsse als Pazifismus verstanden werden, der sich auf liberale Ideale zurückbesinne und jede weitere Radikalisierung, in welche Richtung auch immer, verwarf. Diese könne nicht hilfreich sein, war das Ergebnis der Reichstagswahl vom September 1930, mit dem massiven Erstarken der Nationalsozialisten, das Ergebnis bürgerlicher Selbstpreisgabe, dass die Republik an den Abgrund der Diktatur steuerte. Damit stand Olden allerdings gegen die große Linie innerhalb des Weimarer Pazifismus, in dem zunehmend radikalere Ansichten zu Amt und Würden gelangten und die jeglichen Revisionismus verabscheuten. Einig zeigte man sich nur in der Beurteilung der Politik Brünings, die von einer verfehlten Wirtschaftspolitik dominiert wäre. Letztlich sei die Sparpolitik des Kanzlers die Ursache für innenpolitische Radikalisierung und außenpolitische Isolierung. In jenem Wechselspiel ging Olden in Abgrenzung zu radikalen Pazifisten davon aus, dass die Innenpolitik nur dann beruhigt werden kann, wenn es gelänge, die internationalen Beziehungen zu befrieden und zu stabilisieren und Deutschland von der drückenden Last der Reparationen zu befreien. Das wäre ein wahres Signal europäischer Verständigung, Annäherung und Einigkeit im Angesicht neuer nationalistischer Bedrohungen. Bis dies erreicht bzw. möglich sei, müsse man Brüning weiter stützen, wenngleich die Einigung der politischen Linken als Bollwerk gegen Hitler, zum Bedauern Oldens, weiter ausblieb. Letztlich vermochte er selbst nur noch hilflose Appelle an die Wählerschaft zu senden, die voller Pathos vor der Eroberung Berlins durch die Barbaren warnten. 6.3 DER ZIONIST? – AUSEINANDERSETZUNG MIT DEM NATIONALSOZIALISMUS Mit dem Scheitern des Putsches 1923 und der anschließenden Festungshaft Hitlers veränderte sich die Strategie der Nationalsozialisten. Fortan zielte man auf Legalität. National-konservative Kreise und das Militär wollte man als Bündnispartner gewinnen. Massenmobilisierung war das Ziel, weshalb innerhalb der NSDAP strukturelle Veränderungen vorgenommen wurden. Ab 1929 führte beides zu einem Anstieg ihrer Mitgliederzahlen, begünstigt durch die aufkommende Weltwirtschaftskrise und das Charisma des Führers. Erste Erfolge zeigten sich auf lokaler und regionaler Ebene wie in Thüringen, wo die Nationalsozialisten nicht nur erstmals in eine Regierung eintraten, sondern zugleich mit Wilhelm Frick den wichtigen Posten des Innen- und Bildungsministers besetzten. Dies sei ein tiefer Einschnitt in die Geschichte Weimars. Ein extremer Gegner der Republik solle den Schutz der Verfassung und des Staates garantieren, was unverantwortlich, gedankenlos und ver-
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werflich sei. Einen „Hochverräter“364 könne man nicht zum Innenminister ernennen. Olden griff die DVP scharf an, die gemeinsam mit der NSDAP koalierte. Man könne das Argument nicht gelten lassen, Hitler und seine Bewegung seien an der Regierung nur deshalb zu beteiligen, um zu demonstrieren, wie machtlos sie eigentlich sind. Sie zum politischen Offenbarungseid zu zwingen, darin sah Olden nichts Vielversprechendes. Für ihn war es verfehlt, auf eine Einbindung und Zähmung der Rechten durch eine Regierungsbeteiligung zu hoffen. Diese kann nur illusorisch sein. Wenn es auf die Taktik, auf nichts als auf sie ankäme, – nun, so hat sich die der Hitler-Leute als überlegen gezeigt. Warum? Weil die Taktik ihrer Konkurrenten und Koalierten nichts taugte. Weil Herr Frick die sture Methode der Verantwortungslosigkeit mit in die Verantwortlichkeit hineinnahm, weil die Gewissenlosigkeit dann die beste Propaganda gewährleistet, wenn sie über Staatsmittel verfügt, weil niemand ein Werk leichter zerstören kann, als der, der darin sitzt und es befehligt.365
Zuvor hatte Frick sowohl den behördlichen Apparat als auch die Polizei sowie das staatliche Schulwesen unter nationalsozialistische Kontrolle gebracht, was Olden Warnung genug vor derartigen Experimenten war. Die NSDAP könne nichts, ihre Unterstützer aber alles verlieren. Olden forderte eine sofortige Aufkündigung der Regierungskoalition, was erst Anfang April 1931 geschah. Sein Blick auf den Nationalsozialismus blieb nicht auf Thüringen beschränkt. Anhaltender Wahlerfolg war ursächlich für seine weitere Beschäftigung mit dem ideologischen Kern der NSDAP. Die Ursachen ihres Aufstieges bildeten zunehmend den Gegenstand einer Reihe von Beiträgen. Die Grundthese lautet: Er ist ein Resultat der politischen wie ökonomischen Krise. Sein Erfolg ruhe nicht auf einem wirksamen theoretischen Kern, sondern allein auf der „Ausnützung sozialer Bedrängnisse für sein politisches Geschäft. Es ist unmöglich, sich mit der nationalsozialistischen Ideologie auseinanderzusetzen, aus dem einfachen Grunde, weil es nämlich keinen gibt.“366 Hinter Hitler und seiner Partei stehe keine politische Idee. Propaganda und Demagogie zeichne ihn aus, aber nicht eine geistige Grundlage mit in sich stimmigen Zielvorstellungen. Man spiele mit politischen Schlagworten und Etiketten, mehr nicht. Bereits der Name der Partei müsse als Phrase begriffen werden, auch wenn er „wahltaktisch sehr geschickt“ gewählt wurde, um sowohl das Bürgertum als auch die Arbeiterschaft anzusprechen. In der Realität sei dies aber nicht in Form einer praktikablen Politik durchführbar. Nationalismus und Sozialismus blieben klassische Gegensätze. „Der Name dieser Partei ist eine dreifache Lüge. Diese Partei ist nicht national, sie ist nicht sozialistisch, sie ist vor allem keine Arbeiterpartei.“367 Jenen Grundtenor in der Analyse behielt Olden bei. In ihr vermischen sich lediglich antiliberale – zugleich antiparlamentarische – und antisemitische Strömungen und 364 R.O. Der Freiheitskämpfer auf dem Ministersessel, in: Berliner Tageblatt, 22.1.1930 A. 365 R.O. Deutsche Volkspartei und Nationalsozialisten, in: Berliner Tageblatt, 23.5.1930 A. 366 R.O. Ein schlauer Kniff oder die Meinigerei, in: Berliner Tageblatt, 16.5.1930 A. Folgendes Zitat ebd. 367 R.O. Mordjo, Feuerjo, in: Berliner Tageblatt, 17.3.1931 M.
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Weltanschauungen mit einem neuen Nationalismus unter Ablehnung einer republikanischen Ordnung. Gerade die Widersprüchlichkeit mache ihren Erfolg aus. Unterschiedlichen Ängsten war sie in der Lage zu begegnen. Zudem bediene sie zusätzlich gesellschaftliche Vorurteile. Die Person Hitler verstärke jenen Effekt. Mit Rationalität könne man den Erfolg der NSDAP nicht mehr fassen. „Dass das Wunderbare, die Magie der Hoffnung, viele täuscht, und je mehr, je grösser ihre Not, das ist das wahre Geheimnis der Hitlerschen Erfolge.“368 Nur so könne der Wahlerfolg am 14. September 1930 erklärt werden. Gleichwohl betrachtete er es als höchst unwahrscheinlich, dass die Nationalsozialisten die Macht im Reich erringen könnten. Zu deutlich sei der Zusammenhang zwischen der sozioökonomischen Krise und dem Erstarken des Nationalsozialismus. Eine zügige Abwendung der sozialen Not berge die Chance auf einen Niedergang Hitlers. Wenn erst die Verwerfungen überwunden, „der Keim der Krankheit beseitigt“ sei, werde der Nationalsozialismus seine Anziehungskraft rasch verlieren und von der politischen Bühne verschwinden. „Dann wird die Luft klar und die Taktik schnell erkannt, die keine Idee ist, sondern nur eine demagogische Absicht.“ Von Hitlers Kurs der Legalität ließ sich Olden nicht blenden. Die Wirklichkeit sähe anders aus und das offizielle Vorgehen der NSDAP sei reine Propaganda. Der Terror der SA auf den Straßen der Republik zeige das wahre Gesicht. Von Anfang an war der Nationalsozialismus eine rohe, brutale, „an den Blutinstinkt Primitiver appellierende Heimstatt für die übelsten Elemente jeglicher Herkunft.“369 Ihr Ziel sei Angst, Lähmung und Zerstörung. Ab Sommer 1930 berichtete Olden in zahlreichen Artikeln über Prozesse, in denen Nationalsozialisten wegen Mordes oder Körperverletzung angeklagt waren, um sichtbar zu machen, wie verlogen die Legalitätsäußerungen Hitlers gewesen sind. Immer wieder bezichtigte er ihn der Lüge. Zu groß sei die Diskrepanz zwischen seinen Äußerungen und den Gewaltakten der SA. Im Ulmer Reichswehrprozess sah Hitler die beste Gelegenheit seine neue Strategie zu bekunden, um weitere bürgerliche Kreise für sich und die Partei zu gewinnen. Auch die Reichswehr sollte umworben werden, sodass er sich als Zeuge laden ließ. Geschickt formulierte er seine Absicht, die SA sei ausschließlich für politische Zwecke gegründet worden. Der Kampf gegen den Staat gehöre nicht dazu und die Reichswehr müsse in ihr keine Konkurrenz erblicken. Ohnehin wolle er nur auf legalem Wege die Macht erringen, so seine Aussage. Es könne kein Zufall sein, dass er ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt mit seiner Aussage weitere Öffentlichkeit für sich und seine Partei herstellte. Die anstehende Umbildung der Reichsregierung im Nachgang der Septemberwahl 1930 werfe ihre Schatten voraus, hoffte Hitler auf eine Beteiligung bzw. Berücksichtigung durch wohlwollende nationalistische Kreise in Berlin. Es ginge ihm nur darum, seinen Einfluss zu vergrößern. Für Olden war es gänzlich unverständlich, weshalb das Reichsgericht in dieser Lage es überhaupt gestattete, Hitler als Zeuge zu vernehmen, hatte der Prozess we368 R.O. Ein schlauer Kniff oder die Meinigerei, in: Berliner Tageblatt, 16.5.1930 A. Die folgenden Zitate ebd. 369 R.O. Mordjo, Feuerjo, in: Berliner Tageblatt, 17.03.1931 M.
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gen Hochverrates gegen die drei Offiziere nichts mit der Frage gemein, ob die NSDAP legal oder illegal zur Macht strebe. Das Gericht habe ihr leichtfertig ein „Geschenk des Himmels“ unterbreitet, das Hitler nur allzu begierig, „wie es seine Gewohnheit ist“370, aufnahm. Wie weit Anspruch und Wirklichkeit in dieser Frage auseinander gingen, zeige nicht zuletzt der Konflikt innerhalb der NSDAP um den eingeschlagenen Legalitätskurs des Führers. Olden beobachtete in den folgenden Monaten äußerst aufmerksam die Vorgänge im Innenleben der Partei. Hitlers Aussage in Leipzig löste große Unzufriedenheit bei den Parteimitgliedern aus, auch wenn der eigentliche Zweck, Annäherung an Reichswehr und das bürgerliche Lager, erreicht war. Eine Mehrheit sah weiterhin Gewalt als Mittel der politischen Konfrontation für notwendig an. Besonders die SA war nicht bereit, dem neuen Kurs Folge zu leisten. Weitere Überfälle und Mordtaten gegenüber politischen Gegnern waren die Konsequenz. Verantwortung dafür müsse allein Hitler tragen. Es ist immer wieder dieselbe blutige Ernte aus blutiger Saat. Und wer ist der Hauptschuldige, der Anstifter? Es ist Hitler selbst, der Parteidiktator, der vor dem Reichsgericht von den rollenden Köpfen sprach. Er hat sich am lautesten zur Propaganda des Blutes bekannt.371
Die Reichsregierung müsse unverzüglich Maßnahmen gegen diese „Mordseuche“ ergreifen, bevor es zu spät sei. Das bürgerliche Lager dürfe keine weiteren Kontakte zu Hitler unterhalten bzw. bestehende endgültig abbrechen. Die Zeit der „kläglichen Schützenhilfe“ muss beendet werden. Wir sind von feinsinnigen politischen Ästheten kritisiert worden, weil wir es der Mitteilung für wert halten, wenn ein Bankdirektor mit den Nationalsozialisten diniert, wenn ein Richter ihnen in einem Urteil Elogen sagt, ein General ihnen die Macht zuschanzen will. Aber gerade gegen diese Seuche der politischen Vergiftung gilt es Front zu machen, die Speichellecker einer scheinbar siegreichen Bewegung zurückzuschrecken.
Allein aufgrund der innerparteilichen Konflikte ein Ende des nationalsozialistischen Spuks zu prophezeien, wäre aber verfehlt. Davon ginge nicht eine derartige Schwächung aus. Entscheidender sei die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und sozialen Not. „Das Ende des Nationalsozialismus schon zu konstatieren, weil ein Teil seiner Anbeter weiterwandert, wäre falsch. Die Dummen werden nicht alle, wenigstens nicht so rasch.“372 Daran ändere die Revolte der Berliner SA unter Walther Stennes nichts, die Hitlers strikten Legalitätskurs ablehnten. Juristisch setzte sich Olden mit dem Nationalsozialismus aber nicht nur während des zweiten Scheringer Prozesses auseinander, sondern auch 1932 in der Kampagne des Berliner Gauleiters der NSDAP, Josef Goebbels, gegen den Präsidenten der Berliner Polizei, Bernhard Weiß. Als Teil eines Rechtsanwaltskollegs versuchte er den Juden Weiß vor antisemitischen Anfeindungen zu schützen. Die Berliner Nationalsozialisten unter der Führung Goebbels zielten vordergründig seit 1926 auf eine Entlassung von Weiß aus seinem Amt als Polizeipräsident, war er in deren Anschauung Sinnbild für den verhassten Juden als Funktionsträger der ange370 R.O. Der Agitator vor dem Reichsgericht, in: Berliner Tageblatt, 26.9.1930 M. 371 R.O. Mordjo, Feuerjo, in: Berliner Tageblatt, 17.3.1931 M. Die folgenden Zitate ebd. 372 R.O. Die Revolte, in: Berliner Tageblatt, 9.4.1931 A.
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feindeten Republik. Als Herausgeber des Angriff schrieb er dutzende Schmähartikel, in denen er Weiß verhöhnte und stigmatisierte. Von Beginn an setzte dieser sich dagegen zur Wehr und stellte ab 1927 vermehrt Strafanträge. Wegen Verleumdung kam es zu ingesamt vierzig Prozessen gegen Goebbels und andere Redakteure und Autoren des Blattes. Die meisten endeten mit einer Verurteilung. Tatsächlich vollstreckt wurden nur wenige. Parlamentarische Immunitäten und Amnestien verhinderten Haftstrafen. Im Juli 1932 übernahm Olden erstmals nach einer weiteren Serie von besonders anrüchigen Angriffen die Verteidigung von Weiß. Dem ging im preußischen Landtag die Forderung der nationalsozialistischen Fraktion voraus, Weiß zu entlassen, da dieser angeblich unter Spielsucht leide und in einen Bestechungsskandal verwickelt sei. Gewichtiger wiege darüber hinaus der Ehebruch seiner Frau. Jene Diffamierungen wurden in einem Artikel des Angriff am 11. Juli 1932 wiederholt, sodass Olden zunächst eine einstweilige Verfügung gegen das Blatt erwirkte. Gleichzeitig gelang es ihm, eine Verhandlung des Strafantrages vor einem Berliner Schöffengericht zu erreichen. Entschieden wurde nichts. Die Schöneberger Kammer leitete das Verfahren an das Landgericht I weiter. Erst zwei Monate später, am 26. September, kam es dort zu einer abschließenden Verhandlung. Weiß hatte inzwischen sein Amt im Zuge des Preußen-Schlags verloren, aber Olden gelang der Nachweis der Ehrverletzung durch die im Artikel behaupteten Anschuldigungen. Die verantwortlichen Redakteure wurden daraufhin Anfang Oktober zu mehrmonatigen Haftstrafen verurteilt, was durchaus einen juristischen Erfolg für Olden darstellte, lag das Urteil in seinem Strafmaß über den Forderungen der Staatsanwaltschaft. „Künftige Historiker des deutschen Niedergangs mögen beurteilen, ob in dem Kampf gegen Dr. Bernhard Weiß nicht ein besonders tiefes Tal der Kultur erreicht worden ist.“373 Die Hetze der Nationalsozialisten in diesem Fall zeige die typische Gedankenwelt ihrer Führer. Sie gründe auf Hass und Gewalt, eingewoben in ein System antisemitischer Ressentiments und gezielter politischer Lüge, die zum Stilmittel der Auseinandersetzung werde. Die erfundenen Vorwürfe gegen Weiß würden solange wiederholt, bis jeder sie für Wahrheit hielte. Auch hier zeige der Nationalsozialismus seine irrationale Kraft. „Glauben es die Leser? Verzauberte glauben alles,“ so seine Feststellung. Die Vorkommnisse um Weiß zeugten von der moralischen Verrohung der Gesellschaft, die normal geworden zu sein schien. Die ökonomische Krise legitimiere den Zerfall der Moral in der Politik. Dies müsse unabhängig von den beteiligten Personen festgestellt werden. Der Fall Weiß sei „bedeutend als Gradmesser für den kulturellen Zustand, in dem wir leben. Hier ist alle christliche Sitte und Milderung weggeschwemmt, die barbarische Wildheit und Bosheit heidnischer Ahnen tritt stürmisch hervor.“ In gewisser Weise hilflos richtete Olden an die demokratischen Kräfte den Appell, sich dem entschlossener entgegenzustellen: „Für den besseren Teil Deutschlands wäre es an der Zeit, wieder zu erkennen und auszusprechen, daß es nicht teilhaben will an Verworfenheit.“374 373 R.O. Angriff gegen Weiß, in: Tage-Buch, 23.7.1932. Die folgenden Zitate ebd. 374 Vgl. zum gesamten Verfahren: Bering (1991): S. 365ff. bzw. 376ff.; Müller, I., in: Asmus/ Eckert (2010), S.110.
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In seiner Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ab 1929/30 wurde er zum Chronisten ihrer parteipolitischen wie ideologischen Entwicklung, beobachtete und schilderte er den Aufstieg der NSDAP von einer Splitterpartei zu einer mitglieder- und wählerstarken Organisation. Sie war der Profiteur jener wirtschaftlichen Krisensituation. Daran zweifelte Olden nie. Es war für ihn offenbar von geringer Bedeutung, welchen Charakter die Partei vor 1923 hatte. Seine Position speiste sich einzig und allein aus ihrer Entwicklung seit 1925, seit der Entlassung Hitlers aus der Landsberger Festungshaft. Dass die NSDAP keine politische Ideologie besitze, eine Haltung, die markant für Oldens Analyse ist, war damals unter den Zeitgenossen umstritten. Heute dagegen herrscht innerhalb der Forschung ein Konsens in dieser Frage: Das Programm der Partei erwuchs somit aus der Weltanschauung Hitlers, „in der verschiedene Vorstellungen zu einem Weltbild von systemimmanenter Kohärenz verbunden waren.“375 Basierend auf sozialdarwinistischen Ideen schreibt man der Rasse- und Raumdoktrin einen konstitutiven Charakter zu, aus dem heraus sich antisemitische und expansionistische Postulate ableiten ließen. Wie Oldens Hitler-Biographie aufzeigen wird, war er durchaus in der Lage, die unterschiedlichen Ideenkreise zu benennen. Gleichwohl billigte er ihnen keinen systematisierenden Charakter für das Erscheinungsbild der Partei und ihres Führers nach außen, gegenüber der Wählerschaft und dem politischen Gegner zu. Die Frage nach der Resonanz nationalsozialistischer Agitation und Propaganda wurde ohnehin monokausal mit den sozioökonomischen Verwerfungen begründet. Daher spielen die Schriften Hitlers und der darin sichtbar werdende weltanschauliche Kern nur in begrenztem Maß eine Rolle. Letztlich könne man dies aber auch nicht gänzlich rational erklären.376 In der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus schwächte sich die Weimarer Friedensbewegung durch den internen Radikalisierungsprozess selbst. Als politischer Faktor in der alltäglichen Konfrontation des Straßenkampfes fiel sie quasi aus. Der Wahlausgang (am 13. September 1930) galt den Pazifisten als Alarmzeichen und hätte sie, wie Wehberg forderte, anspornen müssen, ihre ideologische Auseinandersetzung mit den Faschisten zu steigern, eine Kerntruppe für die Völkerversöhnung zu bilden, in weit größerem Umfang als bisher verständigungsbereite Kreise der Bevölkerung zu aktivieren und den Nationalsozialisten ein wirksames Programm der Völkerversöhnung entgegenzusetzen. 377
Der Machtkampf zwischen den pazifistischen Fraktionen machte jene Hoffnung zunichte. Bewaffneter Kampf wurde ohnehin abgelehnt. Waffenloser Widerstand aller pazifistischen, sozialistischen und gewerkschaftlichen Kräfte favorisierte man. Die DFG sah sich als eine „geistige Kampfgemeinschaft.“378 Welche Haltung Olden in dieser Frage einnahm, konnte nicht mehr rekonstruiert werden. Zwar machte er sich anfänglich für das Reichsbanner als diejenige republikanische Abwehrorganisation stark, doch ob er daran nachhaltig festhielt, muss bezweifelt werden. In 375 376 377 378
Kolb (2009): S. 115. Vgl. ebd.: S. 112–116. Lütgemeier-Davin (1982): S. 312f. Scheer (1981): S. 582.
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keinem seiner Artikel in den späten 1920er oder frühen 1930er Jahren rückte er das Reichsbanner in den Mittelpunkt für den Kampf der demokratischen Kräfte. Schließlich waren innerhalb des Weimarer Pazifismus ausschließlich antifaschistische Kundgebungen das bevorzugte Agitationsmittel und das bereits gegen das italienische Vorbild eines faschistischen Staates. Diktatur, Unterdrückung, Aufrüstung und Verletzung der Menschenrechte galten als Erscheinungsform, was von Olden geteilt wurde. Insofern kann ausgehend von dieser Definition des Faschismus, sein Engagement für den Erhalt der Demokratie, sein Einsatz für und seine Betonung der Menschenrechte sowie sein Kampf gegen die Aufrüstung auch als Antifaschismus interpretiert werden, der seine ideelle Basis innerhalb der Weimarer Friedensbewegung fand. Organisatorisch war Olden von der Vereinsmeierei und der zunehmenden Radikalisierung durch Küster und den WLV abgestoßen, schwächte die Fragmentierung der Verbände die demokratische Schlagkraft der Friedensfreunde. Zugleich gelang es nicht, eine konsistente Analyse für den erfolgreichen Aufstieg des Faschismus in Gestalt des Nationalsozialismus zu leisten. Lediglich einzelne Faktoren konnten benannt werden, die Olden später in seiner Biographie über Hitler aufgriff. Der Erfolg wurde auf ihre Emotionen entfachende Propaganda, die Gleichgültigkeit der Linksparteien demgegenüber, die wirtschaftliche Not, die Protegierung durch Bürokratie und Justiz, die in- und ausländische Finanzierung durch die Großindustrie und den Großgrundbesitz, die Uneinigkeit zwischen den republikanischen Parteien und die Verleugnung nationaler Belange durch Teile der Friedensbewegung zurückgeführt.379
Während die Nationalisten Erfolg auf Erfolg feierten, beschäftigten sich die Weimarer Pazifisten hauptsächlich mit internen Problemen und ideologischen Richtungsstreitigkeiten. Grundsätzlich verstand man den Faschismus als ein internationales Phänomen. So sehr sie auch Stellung gegen Brüning, Papen und Schleicher als Vertreter eines konservativen Militarismus bezogen, der Nationalsozialismus galt spätestens ab 1930 als der eigentliche Gegner. Wenn die Pazifisten (in ihm) den gefährlicheren Gegenspieler erblickten, wenn sie die Neuund Andersartigkeit der Bewegung gegenüber den monarchistischen Restaurationstendenzen der konservativen Rechten vermerkten, dann hatten die aufmerksam registrierten Reden Hitlers und das brutale Verhalten seiner Anhänger sie zu dieser Erkenntnis gebracht. 380
Der Weimarer Friedensbewegung war, ebenso wie Olden, bewusst, was ein Anbruch des Dritten Reiches auszulösen vermag. „Wahnsinn und Verbrechen“381 wären die Folge, so Küster und nicht nur eine Beseitigung politischer Freiheiten. Eine Machtübernahme durch die NSDAP bedeute Krieg. Früher als andere rechnete man damit. Spätestens 1935 gelangte auch Olden zu dieser Einsicht, wie aus seiner Hitler-Biographie deutlich werden wird. Gleichzeitig vermochte sie es nicht, mit ihren Ansichten die Massen zu emotionalisieren, ging man zu rationalistisch vor, indem 379 Lütgemeier-Davin (1982): S. 313. 380 Scheer (1981): S. 579. 381 Küster, in: Scheer (1981): S. 580.
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man auf den Austausch von Argumenten setzte. Wie Olden, wusste auch die Friedensbewegung nicht, wie dem Irrationalen zu begegnen sein soll. Man erkannte lediglich dessen Gefährlichkeit in der Anziehungskraft, die von Hitler und der NSDAP ausging. Ihre rationale Kritik drang kaum durch, ein Umstand, den auch Olden verspürt haben dürfte. Aus der Position der Schwäche heraus, war Küster sogar geneigt, Hitler an der Regierung zu beteiligen, um die Unfähigkeit des Faschismus zu belegen. Als Anhänger jener viel diskutierten Abnutzungstheorie hielt er es für denkbar und zugleich für einen Akt präventiver Notwehr, die Naziwelle durch praktischen Anschauungsunterricht brechen, den Kredit der Partei in der Wählerschaft durch Einbeziehung der Nationalsozialisten in eine Koalitionsregierung zerstören zu können. 382
Dies lehnte Olden strikt ab. Indes führte Küster seinen konsequenten Antimilitarismus weiter fort, selbst für den Fall, dass Hitler legal und allein die Macht in Deutschland über den Stimmzettel erziele. Mit der Waffe in der Hand dagegen aufzubegehren, schloss man aus. Lediglich die Bildung einer Einheitsfront von der KPD bis zu den Organisationen der Eisernen Front könne in Form von Sabotage und Generalstreik den Nationalsozialismus und eine Machtübernahme Hitlers verhindern, so zumindest die Hoffnung des WLV. Dass damit die wirtschaftliche Not verschärft werden würde, nahm Küster in Kauf. Olden war dazu nicht bereit. Ihm ging es um eine rasche Beseitigung der ökonomischen Verwerfungen, um die NSDAP weiter zu schwächen, auch wenn er mit Küster einig gewesen sein mag, dass die Spaltung der politischen Linken in dieser Phase zum Wohle der Demokratie überwunden werden müsse. Mehr als Appelle an die demokratischen Parteien zu richten, vermochten beide aber nicht. Insofern der Pazifismus das militant expansive Programm Hitlers bekämpfte, artikulierte er wieder einmal die für die weitere Geschichte Deutschlands, ja Europas entscheidende Alternative: Frieden auf der Basis von Gerechtigkeit, internationaler Verständigung und kollektiver Sicherheit oder erneuter Rückfall in den exzessiven Nationalismus, in Rüstungswettlauf und Machtpolitik, erneute Mobilisierung des Volkes für den Krieg.
Diese alternative Ordnungsvorstellung findet sich zusammenfassend auch in den Positionen Oldens wieder, wenngleich im Detail durchaus Unterschiede in der Akzentuierung sichtbar wurden. Schließlich einte sie das politische Exil, dass nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten unausweichlich war, ging der Weimarer Pazifismus nach dem 30. Januar 1933 insgesamt „im Inferno von Gewalt und Vernichtung“ unter. Erst mit dem räumlichen Abstand und der Sicherheit vor persönlicher Verfolgung im britischen Exil gelang Olden eine kritische Würdigung der politischen Ereignisse rund um den Siegeszug der NSDAP.383 Der Aufstieg des Nationalsozialismus und seines Führers bleibt auch nach dem Untergang des Dritten Reiches vor inzwischen über siebzig Jahren ein lebendiges Thema der historischen und ideengeschichtlichen Forschung. Das große Narrativ scheint zu Ende erzählt, jeder Winkel des historischen Raums vom Staub der Jahr382 Scheer (1981): S. 583f. Die folgenden Zitate ebd., S. 590 und S. 591. 383 Vgl. ebd.: S. 579–591.
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zehnte befreit. Dem ist jedoch keineswegs so, wie unlängst Stefan Aust mit seinem Buch Hitlers erster Feind. Der Kampf des Konrad Heiden belegte.384 Die Erzählung des politischen Journalisten und Reporters aus den Tagen der Weimarer Republik wirft ein markantes Licht auf jenes gesellschaftliche Milieu, das wach und aufmerksam in ihrer täglichen Arbeit als liberale Berichterstatter sowie überzeugte Demokraten und Republikaner die politische Entwicklung im Nachkriegsdeutschland festhielten und aufzeichneten. Aus erster Hand sahen sie, wie sich die Bewegung Hitlers formte und zur herrschenden Macht aufschwang. Im späteren Exil zogen sie publizistisch Bilanz. Ihre Aufzeichnungen und Analysen dem Dunkel des Vergessens zu entreißen, bleibt ein lohnendes Projekt. Auch Olden gehörte zu den bedeutendsten Stimmen der Weimarer Republik und ihres politisch linksliberalen Journalismus, der im Exil begann, sein Fazit zu den politischen Ereignissen in Deutschland zu formulieren. Hitler. Der Eroberer385 erschien anonym im Mai 1933 im Prager Exil als Broschüre des neugegründeten Malik-Verlages unter Wieland Herzfelde mit dem Untertitel Die Entlarvung einer Legende. Im Amsterdamer Exil-Verlag Querido folgte 1935 eine erweiterte Fassung, die ausführlich die Hintergründe für den beispiellosen Aufstieg Hitlers darlegte. Unter dem Titel Hitler the Pawn erschien nur ein Jahr später eine englische Übersetzung bei Gollancz in London sowie eine weitere unter Hitler bei Covici in New York. Die Recherchen fanden Unterstützung durch seinen Halbbruder, den Historiker Peter Olden. Gleichzeitig half von Wien aus, auf Empfehlung des Schriftstellers Richard A. Bermann, der Journalist Norbert Bauer. In Deutschland selbst war die Veröffentlichung des Buches verboten und diente den Nationalsozialisten als Begründung für seine Ausbürgerung 1936. Insgesamt war die Biographie Teil eines monographischen Ensembles, das Olden zu Beginn seines Exils veröffentlicht hatte, das über die politische Lage im Deutschen Reich zu informieren suchte und das Schicksal der Geflüchteten in den Mittelpunkt stellte.386 Oldens Lebensschilderungen des Eroberers beginnen mit dessen Kindheit in Oberösterreich am Ausgang des 19. Jahrhunderts und der Sehsucht des Jünglings nach preußischer Strenge und Ordnung. Schon immer wollte er ein Deutscher sein. Über den familiären Ursprung wisse und erfahre man nur sehr wenig. Jene Verschwiegenheit in diesem Bereich sei sehr auffällig „bei dem Mann, der sonst in Schrift und Rede die breiteste Ausführlichkeit bevorzugt.“ (S.9) Von Anbeginn an lebe er sein Dasein als Inszenierung seiner Selbst. Nur der Politiker wird später öffentlich zur Schau gestellt. Das Private verbleibe absichtsvoll im Dunkeln, wobei auch das Politische kühl kalkuliert in Szene gesetzt werden wird und auf Wirkung abziele. Ideologisch erfuhr sein Weltbild in den frühen Jahren vor allem durch einen deutschnationalen Linzer Realschullehrer Stimulanz. Hier entwickelte Hitler die 384 Vgl. Aust, in: DIE ZEIT, Nr. 40, 22.9.2016. 385 Den folgenden Zitaten liegt zugrunde: R.O. Hitler der Eroberer, Neudruck der Ausgabe Amsterdam 1935, Frankfurt am Main 1984, mit einem Vorwort von Werner Berthold. 386 Exemplarisch: Vgl. Rudolf Olden, Das Schwarzbuch. Tatsachen und Dokumente. Die Lage der Juden in Deutschland 1933, Paris 1934; Ebd., Hindenburg oder der Geist der preussischen Armee, Paris 1935; Posthum veröffentlicht Rudolf und Ika Olden, In tiefem Dunkel liegt Deutschland. Von Hitler vertrieben, ein Jahr deutsche Emigration, Berlin 1994.
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Verehrung Preußens. Später sei er peinlich genau darauf bedacht, seine politischen wie familiären Wurzeln zu verleugnen, „das Niveau seiner Herkunft sozial zu heben.“ (S. 17) Bereits als Elfjähriger stand er im Konflikt mit seiner gesellschaftlichen Umwelt, was sich durch den frühen Tod der Eltern massiv verschärfte. Hitler lebte von in einer Traumwelt, deren geistige Kulissen er selbst erschuf. Einzige Anregung sei ihm das Geschichtsbuch seines Lehrers gewesen, bevor er die österreichische Provinz in Richtung Hauptstadt verließ. Anders als für Olden, der nach dem Ende des Ersten Weltkrieges bis 1926 in Wien sesshaft war und den vor 1914 eine enge innere und geistige Verbundenheit mit dieser Stadt prägte, war sie für Hitler nicht der Sehnsuchtsort geworden, den er sich erhoffte. Sein berufliches Scheitern an der Kunstakademie habe er, so Olden, als Erniedrigung wahrgenommen. „Hier ist der Kern von Hitlers frühester Entwicklung, zugleich Schlüssel für vieles, was später kommt“ (S. 28), suchte er die Verantwortung nicht bei sich selbst. Er „schiebt sein Scheitern auf die Politik“ (S. 29), allen voran auf die Sozialdemokratie, die von Juden geführt werde. Zusammenfassend zeichnete Olden „das Bild eines jungen Menschen, der, noch unfertig, schon seinen Halt verloren hat, eines Deklassierten, der nie zu einer Klasse gehörte, der, zugleich hochmütig und unsicher, Ansprüche und Möglichkeiten nicht miteinander in Einklang bringen kann.“ (S. 30) Durch den persönlichen Zusammenstoß mit der sozialdemokratischen Arbeiterschicht im Roten Wien verschärfte sich sein Hass gegen die Arbeiter, den er aus seinem kleinbürgerlichen Elternhaus mitgebracht hatte. Er bliebe erfüllt von den bürgerlichen Idealen seines Herkunftsmilieus. Bedeutsam sei zugleich seine weitere politische Erweckung durch den Roman Der Tunnel von Bernhard Kellermann, indem es ein Volksredner vollbringt, durch seine Redekunst die Volksmassen in Unruhe zu versetzten. Fortan hatte er sein politisierendes Vorbild gefunden, an dem er sich in Reden und Vorträgen abzuarbeiten begann. Sein politischer Trieb sei erwacht. Gegenstand seiner Auseinandersetzung war der Antisemitismus. „Er hat den Teufel, seinen Teufel, den Teufel des deutschen Volkes gefunden!“ (S. 41) Hierin bestand die ideologische Schnittmenge zu den österreichischen Deutschnationalen. Der Krieg habe daran wenig geändert. „Hitlers manisch-depressives Wesen dauerte im Feld an.“ (S. 55) Sein Politisieren gegen Marxisten und Juden brach auch in den Schützengräben der Front immer wieder aus. Ihnen gebührte in seiner Weltanschauung 1918 die Schuld für die Niederlage der im Felde Unbesiegten. Für die Entwicklung des Politikers Hitler spielte in den folgenden Jahren vor allem Bayern und seine Hauptstadt München eine besondere Rolle. Nach Kriegsende wurde er dort ein Produkt der Reichswehr. „Sie hat ihn ausgewählt, genähert und gekleidet, entsendet, gestützt und geleitet.“ (S. 65) In ihrem Auftrag sollte er dazu beitragen, den Sieg des Sozialismus in den Reihen der verbliebenen Offiziere zu verhindern. Man zielte auf politische Belehrung, deren Teil Hitler war. An dieser Stelle, in den politischen Kursen der bayerischen Reichswehr, die aus Vorträgen und Diskussionen bestanden, habe endgültig seine Geburtsstunde als Politiker geschlagen. „Seine Begabung, volkstümlich zu reden, hat sich zum ersten Mal in einer entscheidenden Konstellation gezeigt.“ (S. 67) Die Festigung nationaler Ansichten stand im Mittelpunkt des „Bildungsoffiziers“. In den Augen der Militärs war dies
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die Fortführung des Krieges mit politisch-ideologischen Mitteln. Für den Träger des EK I offenbarte es erstmals seine Nützlichkeit. Im Auftrag seiner Dienstherren, die nach einem Instrument für die politische Einflussnahme Ausschau hielten, gelangte er in die Kreise der jungen Deutschen Arbeiterpartei, deren Mitglied er rasch wird, als er auf Versammlungen mit seinen Reden tobenden Beifall erntete. Eine andere politische Heimat könne er auch gar nicht finden, da er hier, trotz persönlicher Unsicherheit, gegenüber allen anderen politisch wie agitatorisch glänzen könne. „Er ist ängstlich bei dem Gedanken, sich den Deutschnationalen anzuschließen, wo so viele Professoren, Doktoren, Adelige, Schriftsteller sind. In der Bierstube der schlecht angezogenen Sonderlinge wächst ihm der Mut.“ (S. 71f.) Nur deshalb sei es ihm überhaupt gelungen, so schnell die Führung der Partei an sich zu reißen. Sein propagandistisches Talent brachte den Aufschwung. „Der Hauptfaktor ihres Erfolges ist die Propaganda, in der Adolf Hitler der Meister ist.“ (S. 74) In diesem Kontext müsse auf eine weitere Begegnung eingegangen werden, die die Agitation der Partei und Hitlers selbst auf Jahre hinaus enorm beeinflussen sollte, nämlich der Kontakt zum Schriftsteller Gottfried Feder. Dieser zielte in seinen Veröffentlichungen auf die Vereinbarung von Sozialismus mit Nationalismus und Judenhass, wovon Hitler nachhaltig beeindruckt gewesen sei und programmatisch angeregt war. „Gierig griff er danach.“ (S. 69) Schon darin zeige sich sein Machtbewusstsein, populäre Strömungen aufzugreifen. Es komme ihm nur auf die Bausteine der Macht an. Dahinter trete deren konkreter Inhalt zurück. Eines müsse unumstößlich festgehalten werden: „Es ist Hitler, der den Erfolg bringt, die Anderen verschwinden bald hinter ihm, es ist sein Temperament, seine Aktivität, sein Talent.“ (S. 76) Als Demagoge sei er ein Künstler. Als Triebmensch zeigte sich sein Sinn für die Propaganda. An sie glaube er, „wie der Heide an den Fetisch.“ (S. 85) Hitler revolutionierte in der Beobachtung Oldens die Form der politischen Auseinandersetzung. Ihm ginge es um Faszination und nicht um Überzeugung oder Überredung. Als Element der Propaganda erhob er gleichsam die Gewalt zum Stilmittel. „Hitler verhöhnt die zivilen Agitationsmittel, die von anderen bürgerlichen Parteien angewendet werden. Daß Gewalt nicht zuletzt, sondern von vornherein entscheidet, das ist die Grundlehre.“ (S. 81f.) Dies belegten seine Reden, in denen es nicht auf das Argument ankam. Wenige Punkte würden wiederholt, selbstsicher und selbstbewusst, mit großer Beharrlichkeit. „Das ist ein klares Programm der Rede.“ (S. 83) Der Redner Hitler ziele auf die Schwächen und die „Bestialität“ (S. 84) seiner Zuhörer. Hinzu komme sein Charisma, welches seine Wirkung weiter steigere und den Aufstieg der Bewegung zu höheren Sphären erst möglich machte. „Zögernd, von Zweifeln und Verzweiflung unterbrochen, – glaubte er an sich selbst.“ (S. 94) Für Olden war es diese Strategie, die Hitler, zumindest bis 1923, erstmals salonfähig werden ließ. Von Gleichwertigkeit könne nicht die Rede sein. „Sein Umgang mit Kavalieren machte ihn noch nicht zu einem gleichwertigen Partner der respektablen Leute.“ (S. 102) Der versuchte Münchner Putsch, dessen Ereignisse Olden in aller Ausführlichkeit wiedergab (Vgl. S. 109–118), zeugte nur von der Angst und Eitelkeit Hitlers gegenüber den feinen Leuten. „Er hat ihnen die Propaganda machen dürfen, die Massen aufhetzen, jetzt werden sie ihn sitzen lassen.“ (S. 109) Doch er wollte nicht warten. Das Scheitern
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habe keine Auswirkung auf die politische Zielsetzung. Mit aller Gewalt ging es weiter um die Erringung der Macht, wenngleich mit einer anderen Taktik und Strategie. Nie wieder dürfe er gegen die Reichswehr stehen, so die Erkenntnis. Die Festungshaft habe inhaltlich zu nichts Neuem innerhalb der nationalsozialistischen Ideen beigetragen, auch wenn Mein Kampf dies zu suggerieren schien. Das Programm blieb „Haß, Verwerfung, Verdammung, Terror.“ (S. 141) Von einer Weltanschauung könne nicht die Rede sein. Das Bekenntnis, „das er weitergibt, ist lange vorher zusammengetragen, ist von nicht Wenigen geformt und an vielen Orten verkündet worden.“ (S. 142, Vgl. Alfred Rosenberg, Arthur de Gobineau, Houston Stuart Chamberlain, Alldeutscher Verband) Hitler habe keinen weiteren substanziellen Beitrag zur Ideologiebildung im nationalistischen Lager geleistet. Seine Leistung liege in der Herstellung der Massentauglichkeit jener zuvor entwickelten Ideen. Ihm ginge es ausschließlich um seinen brutalen Herrschaftswillen, dem „Wunsch nach dem Sieg der Starken und der Vernichtung der Schwachen.“ (S. 149) Hier zeigte sich die Kontinuität in der Betrachtung Oldens. Für die Zukunft Deutschlands hieß dies: „Diktatur, Aufrüstung, Krieg, Rassenauslese.“ (S. 152) Ersteres war bereits Wirklichkeit geworden, als sein Werk 1935 erschien. In den kommenden Jahren sollte sich seine Prophezeiung in dieser Reihenfolge bis an die Tore von Auschwitz auf zivilisationsbrechende Weise realisieren. Hitler sei die personifizierte „Kriegserklärung an unsere geistige und sittliche Existenz“. (S. 161) Noch aus der Haft heraus vermochte er es, den Untergang der Partei abzuwenden und das in einer Phase wachsenden Wohlstands und internationaler Versöhnung. Dies bezeichnete Olden rückblickend als die „beste Leistung“ (S. 172) Hitlers, lebte seine Bewegung bisher von innen- wie außenpolitischen Verwerfungen. Ihm gelang in diesen Jahren die Disziplinierung seiner Mitstreiter auf einzig und allein seine Person. Er duldete keine Götter sich. Zwar wäre 1928 von einer ehemals großen Bewegung nur noch eine kleine Partei übrig geblieben, „aber sie gehorcht ihm, er ist ihr Mittelpunkt“ (S. 182) und nur darauf käme es ihm zunächst an. Nun begann der unaufhaltsame Aufstieg, finanziert mit Hilfe rheinischer Schwerindustrieller und ostelbischer Großagrarier, flankiert durch das Bündnis mit den Deutschnationalen um Alfred Hugenberg und dem Stahlhelm. Über sie gelangte Hitler an „die Geldquellen, die er früher nur gierig umschlich,“ (S. 196) was ihm die Vermarktung seiner eigenen Person erheblich erleichterte und seinen Aufstieg unter den Bedingungen der Weltwirtschaftskrise in Verbindung mit dem YoungPlan massiv beschleunigte. Nun drängt er sich zwischen die Mächtigen und ihren Anhang, wie ein Agent sich zwischen zwei Kaufleute drängt, die ein Geschäft miteinander abschließen wollen. Er fängt damit an, sie auseinander zu reden. Dann verspricht er ihnen, sie wieder zusammenzubringen, – wenn sie ihn beteiligen. Er ist nichts anderes, als der Agent der Macht. (S. 200f.)
Wie erfolgversprechend diese Herangehensweise war, offenbarte für Olden die Reichstagswahl vom 14. September 1930. „Aus dem Katarakt der Rede, des Geldes, der Agitation ist ein Katarakt der Stimmen geworden.“ (S. 209) Einzig die Unterstützung der Reichswehr fehlte ihm zu seinem vollkommenen Glück. Um sie rang
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er folglich und fand sie in der Gestalt des Generals Kurt von Schleicher. Der Tod Stresemanns machte den Weg für dessen Revanchismus als politisches Ziel frei. Da die preußische Armee ihrem eigenen Wesen nach unpolitisch sei, bedurfte es den Agenten Hitler umso dringender. Man lehnte es ab, künftig weiter Befehle von Pazifisten entgegen zu nehmen. Für Olden war an diesem Punkt „der Traum der deutschen Demokratie ausgeträumt.“ (S. 233) Die Erneuerung des Militarismus breche sich Bahn. Die große Täuschung lag aber darin, zu glauben, jene Diktatur ohne Hitler in verantwortlicher Position aufrichten zu können. Die wirtschaftliche Krise machte den Nationalsozialismus endgültig zum Profiteur in eigener Sache. „Seine Flut steigt mit der Flut der Bankrotte, der Arbeitslosigkeit, des Hungers.“ (S. 238) So habe die Politik Brünings bewusst das Ansehen der Demokratie vernichtet und weitere Anhänger Hitlers erzeugt. Trotz anhaltender Wahlerfolge der NSDAP galt Hitler für Schleicher in den Augen Oldens weiter als eine Figur, die dieser nur hin- und her zu schieben brauche. „Die anderen wollten regieren. Und Hitler sollte die Abteilung für Propaganda übernehmen.“ (S. 240) Längst sei sie aber ein Staat im Staate geworden, die ihren Machtanspruch auf die Kanzlerschaft Hitlers spätestens mit dem Ausgang der Juli-Wahl 1932 aussichtsreich gefestigt sah. Rückblickend erschien seine Herrschaft nahezu zwangsläufig, sein Weg in die Macht alternativlos. Gegen diese Interpretation der Ereignisse setzte sich Olden im Rahmen der Biographie zur Wehr. Das Geschehene am 30. Januar 1933 war keine Notwendigkeit. „Hitler ist kein Eroberer, er war es nie. Er bietet sich den Starken an, die Schwachen zu vernichten, – das ist seine Mission.“ (S. 251) Mit dem Ausgang der Reichstagswahl am 6. November 1932 sah Olden den Niedergang Hitlers für unaufhaltsam an. Sein Monopol auf die Stimmen der Nationalisten wäre gebrochen, „sein Prestige schwindet.“ (S. 255) Ursächlich wären die starken sozialen Gegensätze innerhalb ihrer Anhängerschaft, die Widersprüchlichkeiten in der Führung und die fehlende Programmatik und Tradition. Auch Olden sah ihren Zerfall voraus. „Was wird man an Krach, an Enthüllung, an Verleumdungen erleben!“ (S. 257) Vor allem der Nachfolger Brünings im Amt des Reichskanzlers, Franz von Papen, „wollte die Diktatur nicht mit den Nationalsozialisten teilen.“ (S. 258) Unter seinem Einfluss versiegte der Geldstrom, doch nur vorläufig. Im Konflikt mit Streicher und der Entlassung von Papen nahte die finanzielle Rettung des Retters, war es der Baron, „der das Rohr, das von der Schwerindustrie zu Hitler führte, verstopft hat. Er ist es, der es wieder öffnet.“ (S. 262) Nun konnte der Agent wieder seiner Arbeit nachgehen, bis er selbst zum Erschrecken der Demokraten am Fenster der Reichskanzlei in der Wilhelmstraße als Kanzler triumphierte, innerlich „zitternd, nervös, sich krampfhaft zur Ruhe zwingend.“ (S. 268) Die Macht, die er seiner Partei versprochen hatte, besaß er in der Anschauung von Olden zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Erst unter dem Eindruck des flammenden Reichstages erlebte Deutschland die Periode „organisierten Terrors der Staatsgewalt.“ (S. 278) Keiner dürfe an den Urhebern des Brandes zweifeln. Nicht die Kommunisten trügen die Verantwortung. Vielmehr diene den neuen Machthabern dieses Narrativ als Legitimation und moralische Grundlage ihrer eigenen Herrschaft. Ihr Versuch, die Justiz zum Nachweis einer internationalen bol-
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schewistischen Verschwörung vor dem Reichsgericht zu missbrauchen, scheiterte aber. Ausgehend davon, schildern die letzten drei Kapitel der Biographie den deutschen Kontext zwischen März 1933 und Anfang 1935 aus der Sicht des Geflüchteten, der die Historie inzwischen als „Antithese“ empfand: „Potsdam – Weimar, Wachtparade – Dichterfürsten, ist ausgelaugt und abgegriffen, zu Tode gehetzt, zum Spott geworden.“ (S. 294) Immer noch falle es schwer, genau zu benennen, wer Hitler eigentlich ist. Markant bleibe der Antihumanismus, besonders mit Blick auf den Antisemitismus. Im Zusammenhang mit dem Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April trete die „Entwürdigung“ deutlich sichtbar hervor. Diese werde nicht folgenlos sein, das künftige „Unrecht“ trete mit ihr zutage. „Wird der Schrecken einmal verhundertfacht die Schuldigen von heute treffen, – hier ist eine Hauptwurzel des unendlichen Übels, das noch über Deutschland und von Deutschland über die Welt kommen wird.“ (S. 303) Nicht zuletzt im Ausbruch eines neuen Krieges werde dies manifest. „Seit Hitler zum Kanzler berufen wurde, kann auch der blindeste Phantast nicht mehr vom gesicherten Frieden träumen.“ (S. 305) Eine breite Rezeption durch Olden erfuhren abschließend die Ereignisse um die vermeintliche Revolte der SA und Ernst Röhm im Sommer 1934. (Vgl. S. 308–320) In der Rücksichtslosigkeit, mit der Hitler gegen seine innerparteilichen Gegenspieler vorging, offenbare sich ein „endgültiger Bruch mit der Zivilisation.“ (S. 320) Das Werk Oldens wurde bis zu seiner Fertigstellung und Publikation zu einer zeithistorischen Chronik, gerade für jene, die nach Verfolgung, Flucht und Exil weiter Kenntnis aus dem Innenleben der Diktatur suchten. Er fungierte als Kommunikator, der den beginnenden Prozess der Aufrüstung gezielt beschrieb bzw. schilderte. (Vgl. S. 336ff.) Dennoch müsse man feststellen, dass die Armee ihr politisches Eigenleben, wenn auch unter neuen Bedingungen, fortsetzte. Hitler habe sie nicht nationalsozialistisch machen können. Doch gerade dies habe endgültig dazu beigetragen, seine Macht zu festigen, weshalb die Bereitschaft groß gewesen sei, sich alter Weggefährten zu entledigen. Auf die Frage, wieso konnte es überhaupt zu seiner Kanzlerschaft kommen, müsse man klar antworten: Der preußische Militarismus in Gestalt der Reichswehr zielte darauf. „Würde die Wehrmacht eines Tages Hitler und seine Zunft nicht mehr ertragen wollen, so wäre er schnell beseitigt.“ (S. 350) Anlass, darauf zu hoffen, hatte Olden nicht. Die politische Zukunft schien für ihn festgelegt. Liberalismus und Sozialismus hätten versagt und seien gelähmt. „Heute ist Deutschland im Zustand der Barbarei. Die Diktatur kennt kein Gesetz.“ (S. 353) Rechtlosigkeit und eine Philosophie der Gewalt ginge vom Individuum Hitler auf das Kollektiv der deutschen Gesellschaft über. Die Nation starre vor Waffen, während Geist und Gewissen, Wissenschaft und Religion „verdorren und veröden. So wird das Reich zum Abbild Dessen, was immer das Wesen seines Führers war.“ (S. 361f.) Die HitlerBiographie war letztlich auch eine Abrechnung mit der als mangelhaft empfundenen Rechtskultur Preußens, die die Weimarer Republik geprägt hatte und ihre brutale Fortsetzung unter dem Hakenkreuz fand.387 Der Niedergang des Rechts führte 387 Vgl. Müller, I., in: Blanke (1988): S. 190f.
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zu einer Verdrehung der Rechtsbegriffe. Auf diesen Charakter der nationalsozialistischen Herrschaft würde künftig Mord (gerade an den Juden) legitimiert und als Staatswohl definiert. Seit 1935 in Oxford lebend und lehrend fand sein Werk bei anderen deutschstämmigen Immigranten in Großbritannien große Bewunderung und Lob, was sie ihm in Person von Heinrich Mann persönlich mitteilten.388 Einen geschäftlichen Erfolg vermochte es nicht zu erzielen, was nicht zuletzt daran gelegen haben mag, dass der eingangs erwähnte Konrad Heiden etwa zur gleichen Zeit eine Hitler-Biographie veröffentlichte. „Es war eine große Leistung der deutschen Emigration, daß sie zwei gewichtige Werke über den Führer vorlegen konnte; der kleine den Exilautoren zur Verfügung stehende Markt aber konnte nicht beiden genug Aufnahmefähigkeit bieten.“ Oldens Arbeit verschwand im Schatten Heidens, wenngleich ihr Urteil nicht stark voneinander abwich. Beide betrachteten die Reichswehr als diejenige politische Kraft, die es erst ermöglicht habe, dass Hitler in die Nähe der staatlichen Macht gelangen konnte, um die Verfassung von Weimar zu zerstören. Die unheilvolle Allianz zwischen Militär und Nationalsozialismus, die sich nur zu diesem Zweck verbunden habe, war in der Anschauung beider ein Akt der Illegalität. Sie einte anfänglich der gemeinsame republikanische Feind im Inneren. Während Heiden von zwei gleichberechtigten Kräften ausging, verblieb Oldens Hitler in seiner Rolle als Vermittler. Erst 1938 sollte er diese Ansicht revidieren, als die Wehrmacht, ohne Widerstand und Widerspruch den Oberbefehl Hitlers akzeptierte.389 Aus dem Agenten ist der Feldherr geworden. In seinem Werk hatte er nur die Anfänge der nationalsozialistischen Herrschaft berücksichtigen können, was nicht nur eine Aussage über den Gegenstand zulässt, sondern auch über den Humanisten Olden selbst in der Zeit der ersten deutschen Republik. Die Biographie ist mehr politisch-historische Darstellung und Versuch eines psychologischen Porträts390, aber keine umfassende Analyse des Nationalsozialismus, die dem Leben Hitlers oder seiner Ideologie allseitig nachzugehen gedenkt, deren Eigenständigkeit ihr Olden ohnehin absprach. Sie ist geschrieben als „Beitrag zur Aufklärung über die Ursachen der eigenen Niederlage“391, der Niederlage der Demokratie unter bestimmten Machtkonstellationen und einem schleichenden Verlust an rechtlich moralischer Bindung des Individuums. Aus heutiger Perspektive wäre es interessant zu erfahren, wie Olden sein Werk nach 1945 fort- bzw. umgeschrieben hätte. Dazu kam es nicht mehr. In seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus war bisher auffällig, dass deren Antisemitismus kaum oder gar keine Rolle zu spielen scheint. Zwar übernahm er die Verteidigung des jüdischen Polizeipräsidenten Weiß, aber publizistisch ließen sich aus jenen Jahren keine weiteren Beiträge fin388 Vgl. Heinrich Mann an Rudolf Olden am 10.1.1936: „Gern hätte ich ihnen gesagt, wie glänzend und noch mehr als das: wie voll von Wissen und Anschauung ihr Buch ist.“ zitiert nach Werner Berthold, Vorwort Frankfurt am Main 1984, S. V. Folgendes Zitat ebd. 389 Vgl. Rudolf Olden, Wiedergeburt durch die Armee?, in: Das Neue Tage-Buch, 7. Jg, Nr. 47, 18.11.1939. 390 Vgl. Ulrich (2015). 391 Berthold (1984): S. IX.
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den, in denen er entschieden gegen jegliche Form des Antisemitismus Partei ergriff. Bereits in Wien musste Olden erleben, wohin antisemitische Hetze führen kann, beispielsweise in die kaltblütige Ermordung seines Freundes und Kollegen Hugo Bettauer. Hinzu kam wenige Jahre später die Bekanntschaft mit einer Frau, deren Familie eindeutig zionistischen Kreisen zuzuordnen war und die Olden im britischen Exil, am 21. Dezember 1933, ehelichen sollte. Die Rede ist von Ika Halpern, die der damals bekannte Journalist Ende der 1920er Jahre in Berlin kennen lernte. Geboren 1908 entstammte sie einer wohlhabenden Familie, deren Ursprung im westlichen Russland lag. Ihr Vater, Georg (Gad) Halpern kam anlässlich eines Wirtschaftsstudiums nach Deutschland und machte als Journalist für die Frankfurter Zeitung und als Geschäftsmann rasch Karriere. Schon in seiner Jugend pflegte Oldens späterer Schwiegervater enge Kontakte zu britischen Zionisten um Chaim Weizmann in Manchester, „die sich dem Emigranten Olden gegenüber als sehr großzügig erweisen sollten.“392 Ikas Vater spielte bis zu seiner eigenen Ausreise nach Palästina im Jahre 1933 eine immer wichtigere Rolle in zionistischen Bestrebungen, was für den eigenen biographischen Hintergrund Oldens die Frage zulässt, inwiefern er selbst durch zionistische Gedanken und Ideen angeregt war, zumal Wien393 durchaus als ein Geburtsort jener Bewegung betrachtet werden kann, hatte Theodor Herzl hier die erste Zentrale errichtet und mit Die Welt eine entsprechende Zeitschrift herausgegeben. Unter Zionismus sei eine nationale Befreiungsbewegung des jüdischen Volkes definiert, die einen politisch sozialen Charakter aufweist. Ein Staat solle in Palästina, der historischen Heimat Israels, errichtet, befestigt und ausgebaut werden. Die Zerstreuung der Juden (Diaspora) in alle Herren Länder wolle man aufheben. Jüdische Identität müsse in einem staatlichen Gebilde zusammengeführt werden. Seinen Ursprung hatte diese Idee im 19. Jahrhundert und fand 1948 mit der Gründung des Staates Israel seine völkerrechtliche Realisierung, weshalb zeitgenössisch der Zionismus in unterschiedliche politische Strömungen zerfallen ist.394 Nichtsdestotrotz zeigt ein historischer Rückblick, dass er schon immer unter ideologischer Fragmentierung gelitten hat, nicht zuletzt in den 1920er Jahren. Erst die zweite Einwanderungswelle nach Palästina zwischen 1905 und 1914 kann ideologisch als gefestigt gelten. „Mit dem Tod Theodor Herzls 1904 und der Wahl seines Nachfolgers David Wolffsohn setzte an der Spitze der zionistischen Bewegung ein Wandel vom politischen zum praktischen Zionismus ein.“395 Rasche Ansiedlung war das vorgegebene Ziel. Vor Ort sollten Tatsachen geschaffen werden. Die Strategie Herzls, nur mit Hilfe der Diplomatie die Gründung eines jüdischen Staates zu erreichen, wurde mehr und mehr verworfen. Gerade in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wanderten zahlreiche russischstämmige Juden ein, deren 392 Brinson/Malet (1994): S. 10. 393 Der Ausschluss aus bestimmten gesellschaftlichen Kreisen und das antisemitischer werdende allgemeine politische Klima in Wien (besonders durch Georg Ritter von Schönerer und Karl Lueger geprägt) waren zweifellos die entscheidenden zionistischen Motive, und dies nicht nur für Theodor Herzl. Vgl. Brenner (2005): S. 24f. 394 Vgl. Schmidt (2004): S. 816f. 395 Brenner (2005): S. 57. Folgendes Zitat ebd., S. 76.
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Hoffnungen als Sozialisten sich mit der gescheiterten Revolution von 1905 endgültig zu zerschlagen schienen. Eine zionistische Arbeiterbewegung entstand, die ihre sozialistischen Traditionen versuchte, einzubringen. Wurden zu Herzls Lebzeiten die ideologischen Differenzen lediglich zwischen einzelnen Persönlichkeiten der zionistischen Bewegung sichtbar, waren nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend Parteien präsent. Grundsätzlich muss zwischen allgemeinen Zionisten, deren Zionismus nicht näher definiert war und Kulturzionisten unterschieden werden, die ihre Hauptaufgabe darin sahen, „den Juden eine sichere Heimstätte vor Verfolgung zu errichten und eine neue säkular geprägte jüdische Kultur in hebräischer Sprache zu schaffen.“ Zu dieser demokratischen Fraktion gehörte Chaim Weizmann, der mit seinem politischen Zionismus konträr zu orthodox-religiösen Vorstellungen stand. Darüber hinaus existiert noch ein sozialistischer Zionismus, der von russischen Emigranten nach 1918 geprägt war und schrittweise tonangebend wurde. Die soziale Frage versuchte man mit der territorialen Frage zu verknüpfen. Innerhalb dieser Strömung bildeten sich wiederum mehrere konkurrierende Parteien und Vorstellungen aus. Als jüdisch-national gefärbt, galt die vom Marxismus geprägte Poalei Zion396, die in der wirtschaftlichen Lage der Juden den Grund allen Übels zu erblicken glaubte. Nur in einem eigenen Staat könne eine ökonomische Regeneration unter den Bedingungen der proletarischen Weltrevolution einsetzen. Die Hapoel Hatzair dagegen war weniger ideologisch ausgerichtet. Sozialistische Kategorien ordnete man dem jüdischen Nationalismus unter und betonte die Besonderheiten eines derartigen Staates. „Als letzte große ideologische Richtung innerhalb des Zionismus trat der Revisionsmus auf den Plan. Er vertrat die bürgerlichen, antisozialistischen und nationalistischen Elemente innerhalb der Bewegung.“397 Geformt wurde diese Richtung durch Vladimir Ze‘ev Jabotinsky. Dieser wähnte sich in der Tradition von Herzl und gab dem diplomatischen Kampf den Vorzug vor den kulturellen Postulaten. Gleichzeitig betonte er die militärische Konfrontation. 1925 schuf er eine eigene Partei. Bis heute decken diese vier politischen Lager das Spektrum der politischen Landschaft des Staates Israel ab. Oftmals bekämpften sie sich auf das Heftigste. Sollbruchstellen in den jeweiligen Visionen verliefen entlang folgender Punkte: Haltung und Stellung zur arabischen Bevölkerung in Palästina, Wegbeschreibung zur Herstellung staatlicher Eigenständigkeit, die Rolle der Religion in diesem und schließlich die Frage der Wirtschaftsordnung. Oldens Berührungspunkte mit dem Zionismus reichen nachweisbar bis in das Jahr 1925 zurück, als er in Wien lebend den dortigen zionistischen Kongress journalistisch begleitete. Mit Erschütterung kommentierte er die Gleichgültigkeit der Wiener Sozialdemokraten gegenüber der zionistischen Bewegung und deren Kongress im Sommer 1925. Ich kann mir keinen denkenden Menschen in der zivilisierten Welt vorstellen, den die zionistische Bewegung nichts anginge, ja ich dachte nicht, dass es irgend Einen geben könne, der nicht
396 Vgl. Schwarz, M. (2012). 397 Brenner (2005): S. 79.
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mit Sympathie und Bewunderung auf dieses inbrünstige Streben eines zerstreuten Volkes nach der alten Heimat blickte.398
Als Internationalist habe er Achtung vor diesem Willen nach einem eigenen Staat, solange dies nicht in Unterdrückung anderer münde. Gerade die Nationalisten von rechts müssten darum die jüdische Sache in ihrem Wunsch nach Souveränität unterstützen. Die Ablehnung des politischen Wiens sei umso bitterer, da es „der Geburtstort des modernen Zionismus“ ist. Nunmehr wären aber England und die Vereinigten Staaten die Hüter der Bewegung. Das liegt nicht nur an der Macht Englands und an dem Kapitalüberfluss Amerikas, sondern daran, dass die angelsächsischen Völker am meisten Naivität und Vorurteilslosigkeit fremden Bestrebungen entgegenzubringen vermögen. Sie sehen das Wesentliche viel klarer weil sie persönlich ganz unverstrickt und unbeirrt sind.
Dieser Einschätzung lag wohl eine falsche Interpretation zugrunde, wenn Olden in Gestalt des britischen Außenministers Arthur James Balfour die Unterstützung des zionistischen Ziels durch die Regierung ihrer Majestät begrüßte und würdigte. „Insbesondere ihre Politik maß dem Zionismus Gewicht für kurzfristige kriegstaktische wie langfristige imperiale Ziele bei“399, einen Charakter, den Olden in seiner idealistischen Beurteilung nicht zu sehen vermochte. Im Hintergrund wirkte die Vorstellung mit, jüdischer Einfluss und Macht käme eine weltumspannende Bedeutung zu. Wäre die Regierung in London bereit, das Postulat staatlicher Eigenständigkeit in Palästina für die Zionisten zu erfüllen, müsse man davon ausgehen, dass russische Juden für die Sache der Westalliierten zu gewinnen seien. Letztlich kam es im Wesentlichen aufgrund dieses Weltbildes zur Unterstützung des Zionismus in Gestalt der Balfour-Deklaration vom 31. Oktober 1917, die in Form eines Briefes an Lord Lionel Walter Rothschild am 2. November veröffentlicht wurde. Der Text zeigte deutliche Sympathie für die Ziele der Bewegung, indem man „die Etablierung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina mit Wohlwollen betrachtet und die besten Bemühungen einsetzen wird, um das Erreichen dieses Ziels zu fördern.“400 Weitere Festlegungen vermied man. Zugleich schränkte man die Zusage ein, bürgerliche wie religiöse Rechte der in Palästina ansässigen nicht-jüdischen Bevölkerung dürfen durch einen zionistischen Staat nicht behindert werden. Darüber hinaus könne durch die Ansiedlungsunterstützung Englands keine Einschränkung politischer Rechte von Juden in anderen Staaten abgeleitet werden. Die Erklärung krankte nicht zuletzt daran, dass ihr ein klarer Ansprechpartner fehlte, der als Repräsentant der Bewegung hätte gelten können. Rothschild konnte nicht als Sprecher aller (britischen) Juden in Erscheinung treten, wenngleich sein Einfluss enorm war. Die internationale Wirkung blieb immens, erklärte erstmals eine Großmacht ihren Beistand für ein künftiges Gemeinwesen der Juden im gelobten Land.
398 R.O. Verehrungsvoller Gruß, in: o.O., 15.8.1925. Die folgenden Zitate ebd. 399 Kirchhoff, in: Diner (2011): S. 243. 400 Balfour-Deklaration, zitiert nach ebd.
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Die Euphorie war groß, wie acht Jahre später bei Oldens Kommentar zu bemerken war. Der christliche Engländer Balfour ist ein hervorragender Zionist, und in diesem Sinne, meine ich, sollten wir alle, ob Deutsche oder Franzosen oder Russen, ob Juden oder Christen oder Assimilanten, ob Reaktionäre oder Liberale oder Sozialisten, Zionisten sein: aus Achtung vor der Idee, aus Verehrung für einen opfermütig geführten, schwere Lasten auferlegenden geistigen Kampf.401
Ihr tagespolitisches Ziel verfehlte die Deklaration allerdings. Sie vermochte es nicht, einen separaten deutsch-russischen Waffenstillstand sowie Friedensschluss zu verhindern. Langfristig standen geostrategische Interessen Englands im Nahen Osten hinter der Erklärung. Durch den Zerfall des Osmanischen Reiches konkurrierte man in London vor allem mit Frankreich um die Aufteilung des Territoriums. Eine eingesetzte Kommission hielt es für dringend geboten, den Suezkanal abzusichern. Wichtig erschien die Sicherung des britischen Einflusses über Teile des heutigen Iraks und Palästinas. Nur durch die Erfüllung zionistischer Wünsche glaubte man an die Realisierung jener geopolitischen Vorhaben, was nicht zuletzt auf die antisemitischen Vorstellungen und Stereotype zurück ging, die Juden besäßen weltpolitischen Einfluss. Letztlich unterstütze die britische Politik die zionistischen Bestrebungen während des Ersten Weltkrieges und der ersten Nachkriegsjahre aufgrund einer eigenen, komplexen Interessenlage. Nur als imperiale Macht hatte Großbritannien 1917 Palästina den Juden anbieten können. Dabei mochte die britische Politik – noch als Residuum des 19. Jahrhunderts – die Vorstellung motiviert haben, unter dem Dach eines Empires Vielvölkerpolitik betreiben zu können. 402
So gesehen folgte die Balfour-Deklaration einem strategisch-imperialen Interesse und war verzerrt durch die Wahrnehmung eines verschworenen, wie auch immer gearteten, jüdischen Einflusses in der Welt. Oldens Unterstützung und Bewunderung der britischen Politik in dieser Form sowie seiner eigenen Befürwortung zionistischer Ziele tat dies keinen Abbruch. In der ideologischen Auseinandersetzung zwischen Weizmann und Jabotinsky ergriff er in seinem Artikel keine Position. Olden schilderte nur die aufgeheizte Stimmung des Kongresses und gab die unterschiedlichen Positionen der Flügel wieder. Erst in einem späteren Beitrag äußerte er seine persönliche Haltung zum „Zionismus“, wenngleich er diese selbst als „laienhafte Anmerkungen“403 charakterisierte. Wichtig erschien ihm der Hinweis, dass „der Zionismus sich nicht in der Besiedlung Palästinas erschöpfen soll, sondern er soll auch das geistige und nationale Zentrum der in der Zerstreuung lebenden Juden werden.“ Gleichwohl zeigte Olden eine gewisse Sensibilität dafür, dass der neue Staat nicht für alle Juden eine Heimstätte wird sein können. Vor allem für jene, die der Verfolgung ausgesetzt seien, müsse die kommende jüdische Nation Zuflucht und Schutz bieten. „Das ist vielleicht die noch größere Hoffnung derer, die unter dem Antisemitismus leiden und die, wohl vielfach infolge des Antisemitismus, nicht dazu kommen, mit den Wirts401 R.O. Verehrungsvoller Gruß, in: o.O., 15.8.1925. 402 Kirchhoff, in: Diner (2011): S. 250. 403 R.O. Zionismus. Laienhafte Anmerkungen, in: Der Tag, 23.8.1925. Die folgenden Zitate ebd.
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völkern zu verwachsen.“ Die Folge könne eine „reinliche Scheidung“ sein zwischen denen, die „völlig assimiliert sind“ und jenen, die sich weiter fremd fühlen. So betrachtet trage der Zionismus dazu bei, die politische Stimmung in Deutschland und Europa weiter zu entpolarisieren. „Noch etwas habe ich vergessen, das Wichtigste wahrscheinlich. Der Zionismus soll das Minderwertigkeitsgefühl der Juden vernichten, die Hauptursache, wie mir scheint, des Antisemitismus.“ Letztlich könne er den Hass gegenüber den Juden beseitigen. „Werden (sie) eine Nation sein, so kann es ihn in der heutigen Form wenigstens nicht mehr geben.“ Mit ihm verschwände zunehmend der Nationalismus aus Europa, was einem „paneuropäischen Bewusstsein“ durchaus dienlich wäre. Man dürfe den Zionismus allerdings nicht als jüdischen Nationalismus begreifen. Internationalisten, bürgerliche Pazifisten und Sozialisten, unter ihnen vielfach Juden, versagen dem Zionismus ihre Hilfe oder Sympathie, weil sie keine Absonderung der Nationen fördern, oder weil sie ihre eigene Zugehörigkeit zu einer Nation nicht erkennen wollen. Es scheint mir, daß diese Argumentation nicht sehr berechtigt ist. 404
Grundsätzlich müsse man von einem anderen Verständnis von Internationalismus ausgehen, indem es nicht darum gehen könne, die sprachlichen und kulturellen Unterschiede zu verwischen oder zu leugnen, sondern „ihnen zur friedlichen Anerkennung zu verhelfen.“ Die Rechte einer jeden Nation können nur durch Internationalismus in Form eines Interessenausgleichs bewahrt werden. Friede aber kann nur werden, wenn jede Nation ebenso eifrig für das Recht des Nachbarn eintritt, wie für das eigene, wenn sie, mit oder ohne Liebe, nationale Ansprüche schlechthin und nicht nur die eigenen anerkennt. Allgemeine Befriedigung nationaler Aspirationen kann nur der Internationalismus, nie der Nationalismus bringen.
Aus diesem Verständnis heraus trat Olden als Internationalist für die Rechte des unterdrückten jüdischen Volkes auf einen eigenen Staat ein. Der Zionismus müsse anerkannt und gefördert werden, in der Hauptsache vor allem von Sozialisten. Deren Vorwurf, ein zionistisches Gemeinwesen sei ausschließlich kapitalistischen Gesetzten unterworfen, greife ins Leere, da alle „sozialistischen Parteien, die seit der Revolution in Europa zur Macht gekommen sind, überall, außer in Russland, darauf verzichtet haben, die Wirtschaftsverfassung sozialistischen Prinzipien zu unterwerfen.“ Insofern müsse man von der Bewegung selbst nicht einen derartig linken Radikalismus verlangen. Zudem gebe es mit der Poale Zion eine Partei innerhalb des Zionismus mit sozialistischen Vorstellungen. Olden stand mit dieser Haltung durchaus in der Tradition des allgemeinen Zionismus, der religiöse Argumente vermied und mehr das historische Recht des Volkes Israel betonte, wenngleich eine Ansiedlung als nicht ausreichend betrachtet wurde. Insofern stand hinter seinen Artikeln ideell eher Achad Ha‘am mit seinem Kulturzionismus, als Herzls Vision vom Judenstaat. „Beide stimmten überein, dass dies kein religiöser Staat werden sollte, aber während (Ersterer) eine neubelebte hebräische Kultur als Zentrum der neuen jüdischen Gesellschaft anstrebte, ging es 404 R.O. Nationalismus und nationales Recht, in: Der Tag, 30.8.1925. Die folgenden Zitate ebd.
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(Letzterem) um die Rettung der Juden vor physischer Bedrohung.“405 Wie Olden sprach auch Achad Ha‘am von einem geistigen Zentrum, das in Palästina errichtet werden müsse und in dem hebräisch als Nationalsprache wieder zu beleben sei. Ob die grundlegende Erneuerung der jüdischen Kultur als Bedingung des Nationalbewusstseins anzusehen ist, bleibt bei Olden offen. Grundsätzlich die Zukunft des Judentums in der Moderne zu diskutieren, blieb unter dem Blickwinkel des Kulturzionismus die entscheidende Frage, wenngleich die Gefahr durch den Antisemitismus unterschätzt wurde. Die Einschätzung der arabischen Reaktion auf die jüdische Ansiedlung in Palästina betrachtete man realistischer. Zu naiv sei die Vorstellung von Herzl gewesen, Juden und Araber könnten quasi in Form eines Automatismus in friedlicher Koexistenz in einem Staat zusammenleben.406 Zwar diskutierte Olden den Anspruch der Araber auf Palästina in seinen wenigen Beiträgen nicht, einen bewaffneten Konflikt unter Bezugnahme auf Jabotinsky dürfte er aber aufgrund des geforderten friedlichen Nebeneinanders der Nationen abgelehnt haben. Nichtsdestotrotz offenbarten die radikalen Lösungen der Revisionisten stärker das Bewusstsein für die Schwierigkeiten einer ZweistaatenLösung, die er unter pazifistischen Gesichtspunkten sicher favorisiert hätte. Ideengeschichtlich zeigte sich erneut, inwiefern Olden in dieser Frage von der Achse Wien-London geprägt war, die seinen geistigen Horizont bestimmte und von deren Politik er in so vielfältiger Weise beeinflusst war. So gesehen kann es nicht verwundern, dass er nach der Vertreibung aus Berlin Ende 1933 in Großbritannien Zuflucht suchte und dort eine neue private wie berufliche Heimat fand. Dass Zionismus und Pazifismus sich keineswegs ausschließen, sondern vielmehr in der jüdischen Tradition verwurzelt sind, verband Olden in ideeller Weise mit dem Judentum. Friedensgebote sind seit jeher zentraler Bestandteil. Verbunden werden sie mit der Idee einer friedvollen Welt auf Erden und nicht erst im Jenseits. So heißt es in Micha 4, Vers 2-3: Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des Herrn Wort aus Jerusalem. Er wird unter vielen Völkern richten und mächtige Nationen zurechtweisen in fernen Landen. Sie werden ihre Schwester zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.
Jene Propheten mit ihrem hoffnungsfrohen Messianismus seien „die größten der Pazifisten und Antimilitaristen.“407 Dieser Friedensgedanke findet sich im 19. und 20. Jahrhundert in verschiedensten Formen wieder, sowohl religiös, als auch säkular, d.h. politisch-pazifistisch, wie Olden mit seinem paneuropäischen Postulat belegte. Schon der im Zuge seiner neukantianischen Orientierung erwähnte Hermann Cohen, „sah eine besondere Affinität zwischen der weltbürgerlichen Humanität des deutschen Idealismus und den (Schriften der biblischen) Propheten und entwickelte hieraus eine pazifistische Theorie.“408 Zwischen 1918 und 1933 führte dies dazu, dass nicht wenige Juden in den zahlreichen pazifistischen Verbänden und Orga405 406 407 408
Brenner (2008). Vgl. Mendes-Flohr, in: Diner (2012): S. 454–458. Ragaz, Leonhard in: Donat/Holl (1983): S. 207. Donat/Holl (1983): S. 207.
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nisationen aktiv mitwirkten. Man spricht heute von einer jüdischen Friedenstheologie, die damals maßgeblich von Leo Baeck mitgeprägt wurde. Sein Hauptwerk aus dem Jahre 1905 Das Wesen des Judentums verwies auf die Faktoren einer ab 1918 langsam entstehenden Friedenstheologie, die durch das Blutbad des Ersten Weltkrieges weiter stimuliert wurde. Zu den theologischen Begründungen gesellten sich weiterhin eine gewisse Form des Fortschrittsoptimismus. So entstand eine Arbeitsgemeinschaft der Konfessionen für den Frieden zu der ebenfalls ein Jüdischer Friedensbund gehörte. Dieser bestand zwischen 1929 und 1933. Er vereinte in Gestalt zahlreicher prominenter Persönlichkeiten sowohl Ideen „des Jewish liberalism als auch des Zionism in der Ausrichtung auf ein gemeinsames Ziel: die Arbeit am Frieden.“409 Wie für Olden selbst, überraschte es, dass hier der Zionismus Erwähnung findet und kompatibel zu friedenspolitischen Ansätzen erscheint, wurde und wird diese Bewegung im Allgemeinen als nationalistisch betrachtet und stieß, wie Olden berichtete, bei bürgerlichen Pazifisten auf Ablehnung. Dabei gab es mit Natan Hofshi (1889-1980) einen polnischen Friedensfreund zionistischer Prägung, der die Bewegung wie folgt definierte: „Ich sehe das jüdische Volk als eine Nation mit der heiligen Aufgabe, eine Nation des Friedens, der Gewaltlosigkeit und der weltweiten Brüderlichkeit in Zion zu errichten.“410 Vor allem mit Blick auf die arabischen Nachbarn müsse dies in die Praxis umgesetzt werden, um den Frieden in der Region zu erhalten. „Das bedeutet, dass wir nur nach Zion zurückkehren können, wenn es Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit mit unseren Mitmenschen gibt, mit unseren arabischen Brüdern, die in diesem Land leben.“ Würde dem zuwider gehandelt werden, so brächte man sich selbst „in äußerste leibliche und geistige Gefahr.“ Mit dieser Position stand Hofshi nicht allein. Auch der kulturzionistische Ansatz Achad Ha‘ams oder Martin Bubers folgte jener Überzeugung. Für letzteren war die arabische Frage nicht durch machtpolitische Strategien lösbar. „Gott will – das war die Botschaft – daß Israel ein Volksleben in Gerechtigkeit nach innen und nach außen lebt.“411 Es wurde zuvor darauf hingewiesen, dass Olden seine Position, d.h. seine Befürwortung des Zionismus, nicht religiös determinierte, aber die Grundkategorien eines pazifistisch verstandenen gerechten Interessenausgleichs unter zionistischem Aspekt betonte und gegen den bürgerlichen Pazifismus zu stärken versuchte. Damit eröffnete sich ein völlig neuer Aspekt seines Pazifismus, der bisher nicht in dem Verdacht stand, eine Querverbindung zu einem religiösen Hintergrund aufzuweisen. Insofern mag seine Haltung durchaus eine gewisse Parallelität zum jüdischen Pazifismus in der Gesamtschau, zumal, wenn man seine Positionen zum Zionismus mit einbezieht, haben, doch muss ernstlich bezweifelt werden, ob dies einer gezielten Bewusstseinsstrategie folgte. Nichtsdestotrotz offenbart es die Vielschichtigkeit in der Deutung seines
409 Nauerth, in: Scheliha/Goodman-Thau (2011): S. 203. 410 Hofshi, in: Ebd.: S. 203f. Die folgenden Zitate ebd. 411 Buber, in: Ebd.: S. 205.
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Pazifismus-Begriffs, auf die man hinweisen muss, selbst wenn eine eindeutige ideengeschichtliche Provenienz fehlen mag bzw. nicht auszumachen ist.412 Nur sehr wenig ist über Oldens letzte Wochen und Monate vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten bekannt. Seine journalistische Tätigkeit schränkte er weiter ein, war diese ohnehin durch seine freie Autorenschaft eher unregelmäßig. Ab Oktober 1932 schrieb er nur vereinzelt für das Tage-Buch. Es steht zu vermuten, dass er in dieser Zeit verstärkt damit beschäftigt war, Quellen und Archivalien für die Erarbeitung seiner Hindenburg-Biographie zusammenzutragen. Das gleiche mag auf die Vorbereitung seiner Hitler Schrift zutreffen. Zu einer Veröffentlichung sollte es erst im Exil kommen. Die Zeit des Juristen Olden war gleichwohl im Kontext der Weimarer Republik abgelaufen. Große Justizskandale und politische Prozesse blieben aus, sodass er stärker mit juristischen Alltäglichkeiten befasst war, die aber nicht mehr zu rekonstruieren waren. Als Vorstandsmitglied der DLM wirkte er gegen Ende 1932 an der Freilassung von Carl von Ossietzky mit und gehörte zu dem kleinen Personenkreis von Verwandten und Freunden, die ihn nach seiner Entlassung aus der Haft zuhause willkommen hießen.413 Oldens Bild in dieser für die deutsche Historie so wichtigen Phase ist insgesamt nur äußerst lückenhaft zu zeichnen. Es bleibt unklar, wann und wo er von der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 erfahren hat. Überliefert ist lediglich seine Teilnahme an einer Mitgliederversammlung der DLM am Abend desselben Tages. Die Stimmung unter den Teilnehmern war „kämpferisch, aber doch etwas nervös.“ Ihre Organisation gehörte mit zu den ersten Vertretern der Zivilgesellschaft, die staatliche Repressionen und Einschränkungen zu fürchten hatte, galt sie als Vertreter politisch Andersdenkender. Sinnbild des letzten demokratischen Widerstandes war der Kongress Das freie Wort, dessen inhaltliche Ausgestaltung und eigentliche Einberufung von Olden geleistet wurde. Ihm war es zu verdanken, dass prominente Teilnehmer auftraten und ihre Stimme gegen die beginnende Diktatur erhoben. So wurde der Kongress eine Versammlung führender Geistesgrößen, Politiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aller politischen Schattierungen, von Linken über Liberale bis hin zu Bürgerlichen.414 Öffentlich in Erscheinung trat er am 19. Februar 1933 nicht. Als die Veranstaltung unter einem Vorwand aufgelöst wurde, wollte Olden dies in seiner offiziellen Funktion als Anmelder des Kongresses nicht einfach hinnehmen und beantragte eine juristische Prüfung der Auflösung beim Berliner Polizeipräsidenten.415 Dazu kam es nicht. Der Reichstagsbrand verhinderte die rechtsstaatliche Aufarbeitung der Geschehnisse. Die folgende Verhaftungs- und Internierungswelle durch die national412 Vgl. Donat/Holl (1983): S. 207–209; Nauerth, in: Scheliha/Goodman-Thau (2011): S. 201– 206. 413 Vgl. Grossmann (1963): S. 332. Folgendes Zitat ebd., S. 339. 414 So oblag zwar offiziell einem dreiköpfigen Komitee die Einberufung. Doch neben Olden wurden Heinrich Mann und Albert Einstein wohl letztlich nur wegen ihres hohen Ansehens aufgeführt, sogar wie im Falle des Schriftstellers ohne vorherige Absprache: Vgl. Grossmann (1963): S. 343. 415 Vgl. BA-R 58/EB 391, S. 55. Vollmacht des Komitees, sprich Oldens, an Dr. Carl Falck zur juristischen Prüfung, 21.2.1933.
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sozialistischen Machthaber sollte auf das Leben Oldens nicht ohne Auswirkungen bleiben, markierten diese den folgenschwersten Einschnitt in seiner persönlichen Biographie.
7 AUSBLICK – LONDONER EXIL (1933–1940) Am Abend des 27. Februar erreichten Olden in seiner Berliner Wohnung in der Regentenstraße 5 zahlreiche Telefonanrufe von Freunden, die ihn über den Brand des Reichstagsgebäudes in Kenntnis setzten und davor warnten, er werde verhaftet. Sie rieten ihm zur Flucht. Er nahm diese Warnungen nicht ernst und traf keine Vorbereitungen, Berlin rasch verlassen zu können. Über das Motiv seiner Zurückhaltung kann nur spekuliert werden. Womöglich folgte er dem Beispiel von Carl von Ossietzky, der es ebenfalls bewusst vermied, ins Exil zu flüchten, glaubte dieser nicht an die Wirkung politischer Publizistik aus dem Ausland. Aus der Ferne bzw. von außen könne es nicht gelingen, den „verseuchten Geist“1 der Gesellschaft zu bekämpfen oder gar zu heilen. Zudem bringt das Exil immer eine gewisse Form der Ungewissheit und Unsicherheit mit, die durch die Trennung von Familie und Freunden sowie der Aufgabe der beruflichen Tätigkeit entsteht. Vielleicht scheute Olden aus diesem Grund vor einer vermeintlich unüberlegten Flucht zurück. Doch derartige Überlegungen sollten im Angesicht der tatsächlichen Bedrohung für das eigene Leben gegenstandslos werden. Von den ersten Verhaftungen am Morgen des 28. Februar blieb er zunächst verschont. Am Nachmittag desselben Tages entging er ihr nur zufällig. Zu diesem Zeitpunkt verhandelte er ein Verfahren vor einem Amtsgericht in Berlin, während Einheiten der SA und der Polizei vor dem Kammergericht und seiner Wohnung auf ihn warteten, um ihn festzunehmen. Noch während der Verhandlung wurde er davon unterrichtet. Nur wenig später begab er sich in die Wohnung eines Freundes, wo er die Nacht verbrachte und seiner Lebensgefährtin Ika Halpern eine entsprechende Nachricht zukommen ließ. Am frühen Morgen verließ er Berlin. Es sollte ein Abschied für immer werden. So wie für zahlreiche andere aus Berlin Flüchtende, war die nahe gelegene Tschechoslowakei das Ziel. Auf welchem Wege er am 1. März an die Grenze gelangte, bleibt unklar. Offensichtlich schien ihm ein offizieller Grenzübertritt als derart gefährlich, dass er die letzten Kilometer auf Skiern durch das winterliche Erzgebirge zurücklegte und so unbemerkt auf der anderen Seite der Grenze anlangte. Ohne Zwischenfälle erreichte er am Abend Prag. Ein paar Tage später folgte Ika, die auf direktem Wege die Grenze passierte und der es gelang, eine größere Menge Bargeld aus Berlin mit in das Exil zu retten.2
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Ossietzky, in: Walter (1972): S. 213. Die Geschichte seiner Flucht ließ sich nur noch aus den Aufzeichnungen von Oldens Zeitgenossen rekonstruieren. Von besonderer Relevanz: Vgl. das Vorwort von Gilbert Murray in The History of Liberty in Germany, eine Schrift Oldens, die erst posthum 1946 veröffentlicht wurde, hier S. 5–7. Darüber hinaus zu den Umständen der Flucht: Vgl. Grossmann (1969): S. 29; Walter (1972): S. 213–222.
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In den ersten Wochen hoffte Olden auf eine Rückkehr nach Deutschland, wie er seinem Bruder Balder aus Prag schrieb. Nie hätte ich gedacht, dass ich einmal – ein braver Bürger, der ich bin – eine so gesuchte Persönlichkeit sein würde. Ich habe sogar manchmal den leisen Verdacht, es könnte vielleicht gar nicht so arg sein, und dann den Wunsch, meinen Urlaub abzubrechen. Aber es ist wohl noch zu früh. Darum werde ich mich vermutlich für einige Zeit in ländliche Einsamkeit zurückziehen und eine liegengebliebene Arbeit aufnehmen. 3
In der Tat verbrachten beide nur wenige Monate in Prag, bevor sie im Mai 1933 nach Genf gingen. Ende Mai weilte Ika jedoch in England. „It is recorded, for instance, that she was anxious to discover what was being done for German professors and intellectuals in England.“4 Im Juni 1933 versuchte sie weitere Unterstützer für Olden zu finden, vor allem für seine geplanten Publikationen. Doch bevor Großbritannien zur neuen Heimat werden sollte, entzog man ihm in Deutschland noch am 24. Juni 1933 die Zulassung als Rechtsanwalt. Wenig später folgte die Übersiedlung nach Paris, wo er für einige Monate für das Comité des Délégations Juives tätig war und das sogenannte Schwarzbuch erarbeitete, ein Überblick über die Lage der Juden im Deutschen Reich und die verschiedenen Formen der gesellschaftspolitischen Diskriminierung und Verfolgung. Seine Weiterreise nach England verzögerte sich dadurch. Nach London kam Olden schließlich am 11. November 1933. Unter der Anteilnahme von Lion Feuchtwanger und Joe Lederer heirateten Ika und Rudolf am 21. Dezember. Gemeinsam zog man in eine Wohnung in Manson Place, South Kensington. In zunehmendem Maße wurde die wirtschaftliche Situation des ‚jungen‘ Paares schwieriger. By 1935, the Oldens, were suffering serious financial difficulties. While it is reported that at the beginning of their married life the Oldens had still retained something of the comfortable life-style to which they were both accustomed as the second year of emigration proceeded, so life became more difficult. With their only sources of income being what little money Olden cloud earn from his writing and a very small allowance from Ika‘s father, Olden was compelled to seek help.
Jene Hilfe sollte ihm durch das Academic Assistance Council (AAC) bald zuteilwerden. Diese Organisation, u.a. 1933 auf Initiative des Präsidenten der London School of Economics gegründet, unterstützte exilierte Akademiker. Im Falle Oldens sprach sich sogar der Sekretär des AAC, Walter Adams, für ihn aus. Schließlich wurde der Altphilologe Gilbert Murray auf das Schicksal des Geflüchteten und seiner Frau aufmerksam. Der Professor an der Universität Oxford lud beide als Gäste in ein kleines Cottage der Murrays in der Nähe seiner Arbeitsstätte ein, was beide bis zur Ausreise im Jahre 1940 bewohnten.5 Ursprünglich war dies nur als Übergangslösung gedacht, wie Olden am 29. August 1935 dem ehemaligen deutschen Minister Gottfried Reinhold Treviranus schrieb. „Wir fahren am Dienstag auf einige Zeit in die Gegend um Oxford. Professor Gilbert Murray hat die große 3 4 5
R.O. an Balder Olden 18.3.1933, in: Asmus/Eckert (2010): S. 45. Brinson/Malet, in: Bolbecher et al. (1995): S. 195. Folgendes Zitat ebd., S. 196. Vgl. ebd.: S. 193-197; Brinson/Malet (1987): S. 7; Asmus/Eckert (2010): S. 45–55.
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Liebenswürdigkeit gehabt, uns einzuladen.“6 Vom Mittelpunkt des politischen Geschehens entfernte er sich durch den Umzug in die ländliche Idylle. Am 9. November 1935 heißt es dazu in einem Brief an Karl Brandt: „Mir scheint mein hiesiger Aufenthalt noch immer ein bisschen wie ein Erholungsaufenthalt, und ich habe kein Bild davon, was aus Deutschland geworden ist.“ Murray und Olden verband fortan eine enge Freundschaft. Auch gegenüber Adams äußerte er seine tiefe Dankbarkeit. „I have the strong wish to tell you how perfectly happy we are here and that Lady Mary Murray‘s kindness is beyond imagination. I have to thank you for having thought of us.“7 Seine journalistische Laufbahn riss im Exil nicht gänzlich ab, wie seine zahlreichen Artikel für die deutsche Exilpresse belegen, wenngleich dies nur notdürftig dazu beitrug, den finanziellen Schwierigkeiten zu begegnen. Allein zwischen 1934 und 1940 schrieb Olden insgesamt 109 Artikel für das Pariser Tageblatt von Georg Bernhard und dessen Nachfolger, die Pariser Tageszeitung. Darüber hinaus publizierte er regelmäßig für das Neue Tage-Buch. „Indeed these articles probably represent Olden at his most incisive and are a more or less direct continuation of his pre-exile work on the staff of the Berliner Tageblatt.“8 Unter pazifistischem Gesichtspunkt war seine Bewertung der britischen Außenpolitik der 1930er Jahre von besonderer Bedeutung, bedenkt man die zahlreichen Krisen, denen London seine Politik des Appeasement entgegensetzte. Allgemein bezeichnete dieser Begriff das Streben, Kriege durch Beschwichtigung zu verhindern und dem Kontrahenten in der Weltpolitik in Teilen seiner Forderungen entgegen zu kommen. Die Zuspitzung von Auseinandersetzungen sollte vermieden werden. Das britische Empire beruhte grundsätzlich vielmehr auf diesem außenpolitischen Verständnis als auf militärischer Dominanz. „Ohne Appeasement wäre (es) nicht entstanden.“9 Zudem gewannen pazifistische Strömungen in der Bevölkerung an Einfluss, da man künftig ein massenhaftes Töten und Sterben wie im Ersten Weltkrieg verhindern wollte. Dementsprechend fanden die Regelungen des Versailler Vertrags auch in der britischen Öffentlichkeit zunehmend Kritik, sah man sie gegenüber Deutschland als zu hart an. Damit gefährdeten sie den dauerhaft angestrebten Frieden. Mit Beginn der 1930er Jahre wurde dieser internationale Status quo der Nachkriegsordnung massiv herausgefordert. Die wirtschaftliche Krise ging auch am britischen Staatshaushalt nicht spurlos vorüber, was erhöhte Rüstungsausgaben zur Absicherung des Friedens schwierig werden ließ. Innenpolitisch war die Lage stabiler. Die Konservativen dominierten die Regierung und stellten ab 1935 mit Stanley Baldwin den Premierminister. Labour war zunehmend nach links gerückt. Anders als auf dem Kontinent spielten radikale politische Strömungen keine bedeutende Rolle, sodass die konservative Regierung nicht gezwungen war, ihre Politik grundlegend zu überdenken. Das Ziel der Haushaltskonsolidierung stand klar im Vor6 7 8 9
Olden, in: Brinson/Malet (1987): S. 7. Folgendes Zitat ebd. R.O. an Walter Adams 8.9.1935, in: Bolbecher et al. (1995): S. 197. Brinson/Malet, in: Bolbecher et al. (1995): S. 199. Hier findet sich auch die Zahl von 109 Artikeln wieder. Brüggemeier (2010): S. 184.
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dergrund, was weitere Einschnitte in der Sozial- und Wirtschaftspolitik sowie bei den Verteidigungsausgaben zur Folge hatte, ein Punkt, den Olden in seinen Beiträgen scharf kritisieren wird. Ohnehin erwartete man keinen neuen Krieg, da man bereit war, deutsche Revisionswünsche weiter zu erfüllen. Weder ökonomisch noch militärisch sah man in dem durch Versailles und die Weltwirtschaftskrise stark geschwächten Deutschland eine ernsthafte Bedrohung. Auch aus Sicht der Downing Street hatte der Völkerbund seine Bedeutung verloren, weshalb der Protest ob des deutschen Austritts im Oktober 1933 ausblieb. Er hatte sich als unfähig erwiesen, ernsthafte Konflikte wie zwischen Japan und China oder dem italienischen Überfall auf Äthiopien zu lösen. Der Versuch einer britischen Sonderpolitik mit Blick auf Mussolini, den man als Partner gegen Hitler gewinnen wollte, scheiterte ebenfalls. Gemeinsam mit Frankreich machte man gegenüber Italien erhebliche Zugeständnisse und sprach im Rahmen des Hoare-Laval-Abkommens Mussolini beträchtliche Gebiete in Äthiopien zu. Sein Angriffskrieg war damit gerechtfertigt, was in der britischen Öffentlichkeit zu massiven Protesten und zum Rücktritt von Außenminister Samuel Hoare führte. Es mag gleichzeitig als Beleg dafür dienen, wie begrenzt die Möglichkeiten Großbritanniens in der Außenpolitik der 1930er Jahre gewesen sind. Noch 1938 stufte man die Handlungsfähigkeit der Armee als gering ein. Das gesellschaftliche Klima war zusätzlich von einem weit verbreiteten Pazifismus geprägt, dessen Ausformungen Olden angreifen sollte. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges entstanden, äußerte dieser Pazifismus in Großbritannien zwar Kritik an den hohen Verlusten und an einzelnen Fehlentscheidungen der Generalität, dies betraf aber weniger die Ablehnung des Krieges an sich. Erst am Ende der 1920er Jahre hatte eine Wandlung stattgefunden. Großes Aufsehen erregte im Jahre 1933der traditionsreiche Debattierclub Oxford Union, als er mit großer Mehrheit erklärte, keinesfalls für König und Vaterland in den Krieg zu ziehen. Deren pazifistisches Manifest stieß auf Kritik. Nur zwei Jahre später führte die League of Nations Union, die 1918 gegründet wurde, für den Völkerbund und internationale Verständigung eintrat, eine Befragung in der britischen Gesellschaft durch, an der 11,7 Millionen Bürger teilnahmen und deren Ergebnisse in eine ähnliche Richtung zeigte. Die Mitgliedschaft im Völkerbund, die internationale Abrüstung sowie nicht-militärische Sanktionen wurden von einer überwältigenden Mehrheit befürwortet und galten als Beleg für die tiefe Friedenssehnsucht. Militärische Maßnahmen dürften nur als ultima ratio Anwendung finden. Verstehen wir die Völkerbundsmanie als die beherrschende politische Artikulation der allgemeinen Friedenssehnsucht, so können wir die weitgehende Revisionsbereitschaft der englischen Politik und öffentlichen Meinung gegenüber dem Status quo von 1919 als eine wesentliche inhaltliche Ausformung dieser Friedenssehnsucht begreifen.10
Hier liefen mehrere Ideen zusammen. Die Kriegsdienstverweigerung traf auf das Programm der (kollektiven) Abrüstung. Sozialistische Überzeugungen mit der Notwendigkeit einer Machtbeschränkung der Waffenlieferanten verbanden sich mit disziplinierter Haushaltsführung, sprich einem geringeren Budget für das Militär 10 Lundgreen (1969): S. 16. Die folgenden Zitate ebd., S. 52 und S. 67.
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im Angesicht ökonomischer Verwerfungen. Bis zum Regierungsantritt von Neville Chamberlain im Mai 1937 hatte sich die außenpolitische Strategie grundlegend gewandelt, „vom kollektiven System zum regionalen Kräfteausgleich.“ Man misstraute der Wirksamkeit kollektiver Maßnahmen zur Friedenssicherung. Italien und Deutschland dürften nicht ausgeschlossen werden, sonst wäre ein erneuter Krieg unvermeidlich. Dies sei die Lehre aus 1914. „Das ist Appeasement: Friedenssicherung durch Großmächteverständigung, Anerkennung legitimer Interessen (gegen Versailles), Bereitschaft zur Änderung des Status quo, Bestehen auf friedlicher Regelung.“ Praktische Umsetzung fand es Hoare-Laval-Plan vom Dezember 1935 bzw. in der Neutralitätserklärung Großbritanniens im spanischen Bürgerkrieg durch die Aufgabe einer Sanktionspolitik gegenüber dem erneut intervenierenden Italien. Gegenüber Deutschland fiel eine Politik der Beschwichtigung zu Beginn wesentlich leichter. Die außenpolitische Konfrontation mit Italien ging zurück auf anhaltende Aggressionen Mussolinis und eine permanente Verletzung der Satzung des Völkerbundes, während das deutsche Problem sich aus der einseitigen Missachtung des Versailler Vertrages ergab, der ohnehin als revisionsbedürftig angesehen wurde.11 In Oldens Beobachtung war der stete Wunsch nach Frieden in der britischen Gesellschaft allumfassend. Er „bedeutet so in England viel mehr als etwa der Sozialismus und seine Wünsche und Hoffnungen, und der Hauptangriff der Sozialisten gegen die anderen geht immer dahin, dass sie den Frieden nicht eben so heiß begehren wie das Proletariat.“12 Anders als damals im kaiserlichen Deutschland stehe das englische Königshaus symbolisch für das Streben nach einem sozialen und internationalen Frieden. Seine erste bedrohliche Blüte zeigte die englische Friedenssehnsucht in den Augen von Olden im März 1936, als deutsche Truppen entgegen den Bestimmungen des Versailler Vertrages das Rheinland besetzten und die Regierung in London Hitler gewähren ließen. Mit Erstaunen stellte er fest, dass die wenigen, die vertragstreu sein möchten und die noch wissen, dass dieser Vertrag auch geschlossen worden ist, um britische Interessen zu verteidigen, sich zurückhalten und stumm bleiben. Sie wissen, dass sie gegen den Sturm der heiligen öffentlichen Meinung nicht aufkommen können.13
Olden gehörte zu den Wenigen, die von Anfang an das überbordende pazifistische Gefühl in der britischen Politik kritisch betrachteten, vor allem mit Blick auf die Folgen gegenüber Hitler-Deutschland. „Nun dieses Gefühl ist heute nicht etwa für Deutschland oder für Hitler, auch nicht gegen Frankreich, aber klar für Herausbleiben aus den kommenden Kämpfen, für Isolation. England ist zwar keine Insel mehr. Aber die Engländer sind Insulaner.“ Dem radikalen Pazifismus britischer Prägung 11 Vgl. Brüggemeier (2010): S. 183–191; Vgl. zu den grundlegenden außenpolitischen Herausforderungen, die der Appeasement Politik gegenüber standen: Lundgreen (1969): S. 45–53; Zur Vertiefung von Konzeption und Verwirklichung: Vgl. ebd.: S. 54–73; Ausführlich Schmidt, G. (1981). 12 R.O. Die Bedeutung des englischen Königtums, in: Pariser Tageblatt, 23.1.1936. 13 R.O. Öffentliche Meinung? Die englische Überraschung, in: Pariser Tageblatt, 25.3.1936. Folgendes Zitat ebd.
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erteilte der Pazifist Olden früh eine eindeutige Absage. Dies sollte sich in den weiteren außenpolitischen Krisen offenbaren. Der Geist der englischen Politik sei durchdrungen von „Planlosigkeit“, „Trägheit“, „Naivität“ und „Improvisation“. Ursächlich für das Entgegenkommen Englands bei der Remilitarisierung des Rheinlandes sei deren Angst vor einem neuen Krieg gewesen. „Es gibt einen naheliegenden Grund, und er ist, denke ich, richtig, gerade weil er nahe liegt. Spannung am Rhein: das beschwor das Bild des Krieges wieder herauf, und man verabscheut den Krieg hier in einem unvorstellbaren Mass.“14 Gegenüber diesem Deutschland sei jene Haltung allerdings grotesk. Hitler könne man nicht vertrauen, so die Erkenntnis Oldens aus den zahlreichen Beobachtungen des Führers.15 Ausgehend von einer derartigen Haltung Großbritanniens stehe Europa wahrscheinlich vor einer „grauenhaften Unordnung“16, vor einem „grauenvollen Chaos der entfesselten nationalen Leidenschaften. Die Periode der Humanität geht dahin, Vernunft, Güte, Recht, Zivilisation, fortschreitende Milderung, alles, woran unser Herz hing, wird bald im Chaos des Hasses und der Gewalt versinken.“ Der Traum von der kollektiven Sicherheit war für ihn in jenem Moment zu Ende, wo man nicht den Versailler Vertrag verteidigte. „Ob der Vertrag nun schlecht und ungerecht war oder nicht, er war die Grundlage der europäischen Ordnung, und mit seinem Ende kann nur die Un-Ordnung in Europa beginnen, eine neue Periode des Kriegs.“ Er bezweifelte, ob sich die englische Gesellschaft dem hinlänglich bewusst war. Die fehlende Bereitschaft, in letzter Konsequenz mit kriegerischen Mitteln gegen den Friedensbedroher Deutschland vorzugehen, schwäche Großbritannien außenpolitisch am Stärksten, „viel mehr, als etwa eine Lücke in seiner Rüstung.“ Eine Rettung des Friedens werde nahezu unmöglich. Mit welchen Hoffnungen der Flüchtling und Pazifist Olden einst nach Großbritannien kam und wie diese enttäuscht wurden, beschrieb er folgendermaßen: Besser als viele Engländer erinnern wir Deutsche, die damals nach England emigrierten, uns an die pazifistische Flut. Wir kamen mit der grauenvollen Gewissheit, dass nun, da Hitler regierte, die deutsche Kriegsvorbereitung nicht mehr aufzuhalten sei; ja, wir Pazifisten im besonderen mussten ja deshalb fliehen, weil die Generäle ungestört den Krieg vorbereiten wollten. Und was fanden wir, nicht nur hier, sondern auch in anderen Ländern? Dass gerade die Linke, unsere politischen Freunde, um keinen Preis gestört sein wollten in dem Kampf gegen ihre eigenen Militaristen und dass sie darum an nichts mit heiligerem Eifer glaubten, als an Deutschlands friedliche Absichten. Sie wollten auch beileibe in ihrem Vertrauen zu Hitler und zu der Reichswehr nicht beirrt werden.17
Ausgehend von dieser Perspektive erwartete Olden nicht ein rasches Eingreifen Londons im spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Volksregierung. Personifiziert wurde diese verfehlte Politik durch den britischen Außenminister Anthony Eden, der Ende 1935 das Amt von Samuel Hoare übernahm.
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R.O. Der Geist der englischen Politik, in: Pariser Tageblatt, 17.4.1936. Vgl. R.O. Ein Portrait Adolfs Hitlers, in: Pariser Tageblatt, 27.4.1936. R.O. Causa Finita, in: Pariser Tageszeitung, 15.6.1936. Die folgenden Zitate ebd. R.O. Baldwins Geständnis, in: Pariser Tageszeitung, 18.11.1936.
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In zahlreichen Artikeln setzte sich Olden mit ihm und seiner Amtsführung in der internationalen Politik kritisch auseinander18 und forderte weitreichende Aufrüstungsanstrengungen, um für den Verteidigungsfall gerüstet zu sein. Für ihn war es eindeutig, dass England sich am Scheideweg befinde. Wenn es nicht in der Lage sei, seine Politik im spanischen Bürgerkrieg zu ändern, sende es ein fatales Signal an Hitler und Mussolini. Zugleich lasse es den Alliierten Frankreich im Stich. Vor einer „Politik des Vogel Strauss“19 könne nur gewarnt werden. Stecke (man) den Kopf in den Sand, so werde (Großbritannien) eines Tages beim Erwachen finden, dass (Paris) eingekreist und ohnmächtig, die britischen Seeverbindungen abgeschnitten, die spanischen Waffenträger, strategischen Punkte und ökonomischen Kräfte den Diktaturen zugefallen, die Demokratie aber unfähig geworden seien, deutsche und italienische Forderungen zurückzuweisen.
Gleichwohl machte sich Olden wenig Hoffnung darauf, dass seine Warnungen Gehör finden würden, „denn es ist klar, dass das Kabinett seine spanische Politik nicht zu ändern gedenkt, dass es, entgegen so trefflichen Argumenten dabei beharrt, in Spanien geduldig, ja grossmütig zu sein gegenüber den Aspirationen der Aggressionsmächte.“ Seine (tragische) Fortsetzung fand diese außenpolitische Strategie in der Sudetenkrise im Spätsommer 1938. Chamberlains Außenpolitik war seit seiner Regierungsübernahme im Mai 1937 durch zwei wesentliche Grundprinzipien definiert: Wiedergewinnung eines militärischen Gleichgewichts durch moderate Aufrüstung und die Beseitigung möglicher Konfliktpotenziale zur Herstellung von Vertrauen, Sicherheit und Stabilität in Europa. Nur auf dem Wege friedlicher Verhandlungen dürfte die Revision des Status quo erfolgen. Die Betonung liegt auf der Gleichzeitigkeit, denn Appeasement verstand er nicht als eine Kapitulation vor der Gewalt. Nicht um jeden Preis sollte der Friede erhalten werden, so zumindest die konzeptionelle Anlage. Dass dies in der Praxis durchaus anders aussah, belegten nicht zuletzt die Beiträge und Kommentare von Olden. Gleichzeitig beruhte sie auf der Vorstellung der Koexistenz. Über alle ideologischen Gräben hinweg gebe es eine letzte weltweite Übereinstimmung in dem Wunsch und dem Willen der Menschheit nach Frieden. In diesem Rahmen falle Großbritannien eine Vermittlerrolle zu, so zumindest im Verständnis des eigenen Sendungsbewusstseins. Determiniert blieb die britische Außenpolitik in zunehmendem Maße vom Status autonomer Gleichberechtigung im Commonwealth of Nations, dessen Staaten es nicht gleichgültig sein konnte, ob es in Europa Frieden gab oder nicht, waren sie doch gegebenenfalls darin verwickelt. Zudem empfanden sie in Teilen die aggressive Politik Japans im Pazifikraum als weit bedrohlicher, 18 Vgl. R.O. Ein englischer Junker, in: Pariser Tageblatt, 26.12.1935; R.O. Eine neue Weltordnung – Die Hoffnung auf England, in: Pariser Tageblatt, 28.2.1936; R.O. Unbegreifliches England, in: Pariser Tageblatt, 5.3.1936; R.O. „Nur für Englands Lebensinteressen“, in: Pariser Tageszeitung, 12.1.1937; R.O. Eden-Dämmerung, in: Pariser Tageszeitung, 19.1.1937; Nach dessen Rücktritt am 20.2.1938: Vgl. R.O. Eden, in: Neues Tage-Buch, 5.3.1938, S. 226-230; R.O. Eden und Halifax, in: Neues Tage-Buch, 12.3.1938. 19 R.O. England am Scheideweg, in: Pariser Tageszeitung, 24./25.7.1938. Die folgenden Zitate ebd.
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nicht zuletzt für ihre eigene Existenz. Die grundsätzliche Bedeutung der Commonwealth-Staaten für die Appeasement-Politik kann kaum überschätzt werden. Wie das Beispiel der Sudetenkrise offenlegte, war das eigentliche Objekt der Politik Chamberlains eine Verständigung mit Deutschland und Italien. So regte man in der Kolonialfrage ein kollektives Regime in Zentralafrika an. Dass es Hitler scheinbar am meisten auf diese Frage ankam, erwies sich als Irrtum. Mit Vehemenz standen für Hitler mitteleuropäische Fragen im Vordergrund. Die Rückgabe von Kolonien könne warten. Der Schutz deutschstämmiger Bevölkerungsgruppen in anderen Ländern habe Priorität. Die Verwirklichung des Appeasement drohte zu scheitern. Mit dem Anschluss Österreichs im März 1938 „fand dieser Versuch einer deutsch-englischen Verständigung als Voraussetzung eines Appeasement in Europa sein Ende. Die neue Strategie war: Zugeständnisse in den legitimen Fragen, um Hitler beim Wort nehmen zu können, aber unbedingte Vermeidung von Gewaltanwendung.“ Es war dieses Konzept, dass nach München führen sollte.20 Die infolge des Versailler Vertrages gegründet Tschechoslowakei beherbergte auf ihrem Staatsterritorium mehrere Millionen Deutsche, die, durch Hitler motiviert, auf eine Abspaltung derjenigen Gebiete drängte, in denen sie mehrheitlich dominierten. Chamberlain war grundsätzlich bereit, dies zu akzeptieren und reiste Mitte September 1938 zu Verhandlungen mit Hitler, der aber seine Forderungen verschärfte. Ohne ein entsprechendes Abkommen unterzeichnet zu haben, flog Chamberlain zurück nach London und ordnete die Mobilmachung der Seestreitkräfte an. Der Ausbruch eines erneuten Krieges wurde, trotz aller vorherigen Bemühungen und Anstrengungen ihn zu verhindern, allgemein erwartete. Vor dem britischen Unterhaus erklärte der Premierminister wenige Tage später seine Absicht, ein drittes Mal mit Hitler über die Eingliederung des Sudetenlandes in das Deutsche Reich zu verhandeln. An jenem denkwürdigen Treffen in München am 29./30. September 1938 nahmen sowohl Mussolini als auch der französische Ministerpräsident Édouard Daladier teil. Nach langwierigen Beratungen setzte Hitler seinen Anspruch schließlich durch, auch wenn er einige Forderungen zurücknahm. Die Tschechoslowakei, die nicht bei den Verhandlungen in München vertreten war, musste das Sudetenland abtreten. Darüber hinaus bekundeten Berlin und London in einem Brief ihre Absicht, nie wieder Krieg gegeneinander zu führen. Jubelnd empfang man Chamberlain in der britischen Hauptstadt, glaubte man, einen Krieg verhindert zu haben.21 Die Erleichterung der Menge sollte nicht von langer Dauer sein. Im März 1939 marschierten deutsche Truppen in Prag ein. Was von der ehemaligen Tschechoslowakei übrig war, wurde besetzt und die Slowakei als Vasallenstaat von Hitlers Gnaden installiert. In der Folge trat Chamberlain entschlossener auf. Mit Polen wurde ein Vertrag geschlossen, der im Falle eines deutschen Angriffes, militärischen Beistand garantierte. Die Regierung erhöhte merklich ihre Rüstungsausgaben und führte Gespräche mit der Sowjetunion, um im Falle eines Kriegsausbruches auf deren Unterstützung bauen zu können. Überraschend schloss Hitler zuvor ein Abkommen mit Stalin. Die strategische Lage war angesichts dessen 20 Vgl. Lundgreen (1969): S. 56–69; Hier zitiert: S. 69. 21 Vgl. Brüggemeier (2011): S. 183.
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wesentlich schlechter als 1914, da Russland als Verbündeter ausfiel, schlimmer noch, auf der Seite Hitlers stand. Gleiches traf auf Italien zu. Großbritannien und Frankreich waren auf sich gestellt. Dass Chamberlain überhaupt daran glaubte, mit Hitler verhandeln zu können, zeigte in den Augen von Olden nur allzu deutlich die englisch-pazifistische Mentalität.22 Das englische Volk ist undoktrinär der Überzeugung nach. Es wird immer glauben, dass in privaten Angelegenheiten wie öffentlichen kein Gegensatz so tief, kein Widerspruch so begründet sein kann, dass es nicht möglich sein sollte, ihn durch eine anständige und aufrichtige Unterhandlung zu überbrücken. Der Ausgleich ist ein unabdingbares Element des englischen Gemeinschaftslebens. Dies Volk ist zutiefst davon durchdrungen, dass Gewalt von Übel ist, dass nichts durch die Anwendung von Gewalt gebessert werden kann. Sich auseinandersetzen, sich vergleichen, vernünftig miteinander reden, – von da her muss das Heil immer kommen, da muss es immer gefunden werden.23
Schon vor der Abreise Chamberlains zeigte sich Olden überzeugt, er werde nachgeben und Konzessionen machen, sei er auf den Applaus der Straße aus, den er auf jeden Fall bekommen werde. „Er hat britisch gehandelt und Britannien wird ihm folgen, ob er marschiert oder nicht.“ Zumindest auf Seiten der Linken hatte inzwischen eine Wandlung eingesetzt. Olden berichtete in diesem Zusammenhang von einem Gespräch mit einem sozialistischen Parlamentskandidaten, der den Pazifismus als „das Gift“ beschrieb, „das dieses Land verdorben hat. Nur drei, nur zwei Jahre früher wäre so eine Äusserung nicht einmal verstanden worden. Jetzt fand sie keinen Widerspruch. Die öffentliche Meinung, auf der Linken schon lange im Fluss der Umformung, hat sich gründlich gewandelt.“24 Auch ein weiterer führender Quäker und Pazifist verlange ein Opfer von der englischen Gesellschaft. Noch sei der friedenspolitische Fetischismus nicht gänzlich überwunden, wie der Abschluss des Münchner Abkommens belegte. Nach wie vor stritten unterschiedliche Strömungen um die außenpolitische Deutungshoheit Großbritanniens. Wir sehen immer noch die beiden einander widerstrebenden Kräfte am Werk, die eine, die unbedingt Frieden will, Frieden wenigstens in dieser Woche, Frieden um jeden Preis, den ein anderer zahlt oder den das eigene Land vielleicht später einmal zahlen wird: und die anderen, die dem unanständigen Anspruch gegenüber Widerstand leisten will, auf die Gefahr des Kriegs von morgen – statt übermorgen.25
In den Zeiten der Weimarer Republik billigte Olden den Tolstoianern einen aufrichtigen und ehrlichen Pazifismus zu. Davon könne unter den veränderten weltpolitischen Bedingungen nicht mehr die Rede sein. Ihre Haltung offenbare ein tragisches Verhängnis: „dass, was immer sie tun, sie dazu verurteilt sind, dem zu dienen, was sie selbst als das absolut Böse ansehen. Denn wie sollte auch die bestbeschickte Konferenz den Angreifer schrecken, wenn sie nicht laut und deutlich mit dem Säbel rasselt?“ Dies sei das Dilemma, indem sich der Pazifismus als Geisteshaltung seit 22 23 24 25
Vgl. ebd.: S. 188f. R.O. Chamberlains Reise, in: Pariser Tageszeitung, 18./19.9.1938. Folgendes Zitat ebd. R.O. Im Zwischenakt, in: Pariser Tageszeitung, 24.9.1938. R.O. Englische Strömung, in: Pariser Tageszeitung, 30.9.1938. Die folgenden Zitate ebd.
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Langem befinde und die vom Einzelnen eine klare Entscheidung und Positionierung verlange. Die Verhärtung der ideologischen Fronten habe vor den Friedensfreunden aller Nationen nicht Halt gemacht. Überzeugter als jemals zuvor glaubten die radikalen unter ihnen an eine „höhere Art“ ihrer politischen Einstellung und „bewahrte sie vor der Würdigung rationaler Erwägungen.“ Die Zahl derer, die so denken, würde zwar abnehmen, aber Einfluss hätten sie nach wie vor. In dem Maße, in welcher die Kriegsgefahr realer erscheint, steige ihre gesellschaftliche Wirkung wieder. Olden beschrieb die tiefe Spaltung des Pazifismus in der Zwischenkriegszeit. Sie und die Anhänger der kollektiven Sicherheit, die heute am klarsten das Wagnis des offenen Widerstands fordern, haben den gleichen Ursprung, sie sitzen in den gleichen Vereinen, in den gleichen Kirchen und Organisationen, und die tiefe Spaltung, die sie heute voneinander trennt, geht bis in die Familien hinein und reisst ihre Glieder auseinander.
Grundsätzlich müsse man aber in der Phase nach München konstatieren, „dass das Wort Frieden nicht mehr den Zauberklang für die Hörer hat, den es noch vor kurzem besass.“26 Ihr Glaube an ihn sei nachhaltig erschüttert. Noch nie in den letzten Jahren schien es so günstig, für die Aufrüstung zu werben, „könnte (sie) doch die Grundlage für eine Politik sein, die sich dann vielleicht finden würde.“ Dazu bedürfe es der Stärkung der innerparteilichen Opposition bei den Konservativen, vor allem in Gestalt von Winston Churchill. „Nur von ihr, von nirgendwo anders, kann eine Wendung in England kommen.“27 In den weiteren Beiträgen berichtete Olden über die zunehmende Unzufriedenheit gegenüber dem Kurs Chamberlains innerhalb der konservativen Regierungspartei. „Schon 1933 begann Winston Churchills grossartig vorgetragene Kritik an der eigentümlichen, schwer verständlichen Befriedungspolitik.“28 Die Revolte gehe unaufhaltsam weiter. Eine Wandlung der Außenpolitik setze die Reform der Militärpolitik voraus, wozu wiederum nur die Konservativen in der Lage seien. Davon war er überzeugt. „Ich zweifle nicht daran, und habe seit langem nicht daran gezweifelt, dass die Wendung aus dem Lager der Konservativen, der Imperialisten, der Regierungspartei selbst kommen wird.“ Der Glaube an den ewigen Frieden habe auf der Insel seine Anziehungs- und Strahlkraft verloren. Entgegen einer grundlegenden englischen Mentalität, sei man bereit, verstärkt zu rüsten bzw. die Herausforderung eines künftigen Krieges entschlossen anzunehmen. Die Nation sei endlich fähig, die Regierung bei der Vorbereitung der Verteidigung zu unterstützen. Dieser Stimmungswechsel war eindeutig. „Heute (Februar 1939) begegnet man weder der hysterischen Verwerfung noch der träumerischen Sicherheit, die Jahre lang die Reaktion auf das verhasste Wort Krieg waren.“29 Gleichwohl zeigte Olden nur Unverständnis, ob der Langwierigkeit dieser Entwicklung, sah er die etablierte (Friedens-) Ordnung der Pax Britannica seit 1933 massiv bedroht, deren Erhalt eigentlich im Interesse der englischen Politik hätte stehen müssen. So gesehen, habe er kein Verständnis mehr für das Motiv der Kr26 27 28 29
R.O. Nachher, in: Pariser Tageszeitung, 12.10.1938. Folgendes Zitat ebd. R.O. Für und wider Chamberlain, in: Pariser Tageszeitung, 30./31.10.1938. R.O. Die Revolte geht weiter, in: Pariser Tageszeitung, 24.12.1938. Folgendes Zitat ebd. R.O. England rüstet, in: Pariser Tageszeitung, 12./13.2.1939.
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iegsdienstverweigerung, denn „man wird schwerlich Frieden finden, solange man nicht die Front gegen den Angreifer geschlossen hat.“30 Die Zeit für Verhandlungen sei definitiv abgelaufen, zumal unter dem Eindruck der endgültigen Zerschlagung der Tschechoslowakei. Mehrheitlich gelte, „der britische Widerstandswille ist erwacht.“31 Die Gefahr eines neuen Krieges ist keineswegs gebändigt. Trotz erhöhter Sensibilität für die internationalen Herausforderungen in der britischen Gesellschaft, gerade mit Blick auf Deutschland, forderte Olden eine Rückkehr zum System kollektiver Sicherheit ein, das einmal bestand. „Die Grosse Allianz, die Europa braucht, wenn es gerettet werden soll und Britannien mit ihm, war bis 1935 vorhanden, sie bestand, Sitz in Genf – wenn man nur wollte.“ Gleichzeitig sei ein Bündnis mit dem sowjetischen Russland unabdingbar, ebenso wie die Ernennung Churchills zum Premierminister. Nur seine Person könne gegenüber Hitler glaubhaft den englischen Widerstandswillen repräsentieren. In Verbindung mit einem Abkommen zwischen Moskau und London könnte der Friede gewahrt, Hitler vom Entfesseln eines neuen Krieges abgehalten werden. Gewissheit gäbe es nicht, wenngleich die moralische Niederlage von München32 damit zum Teil getilgt wäre. Aus britischer Sicht hätte ein Krieg nur eine negative Zielbestimmung, nämlich die Niederschlagung der Hitler-Tyrannei als Regierungssystem. „Wofür wird, oder wofür würde England fechten? Wofür? Für gar nichts. Aber gegen Hitler!“33 Der Hitler-Stalin-Pakt führe den Briten endgültig vor Augen, wie notwendig die eigene Verteidigungsfähigkeit sei. Damit wäre ihre Wandlung, weg vom Pazifismus, mehr oder weniger abgeschlossen. Die eigene Selbstsicherheit ist dahin, wenngleich man von der Gerechtigkeit der eigenen Sache überzeugt sein müsse, in deren Dienst sich Emigranten wie Olden von Anfang an sahen Er glaubte weiterhin daran, dass die deutsche Gesellschaft grundsätzlich friedliebend sei und einen erneuten Krieg ebenso wenig wolle. Wahr ist, gewisslich wahr, dass ein grosser, ein überwiegender Teil des deutschen Volks diesen neuen Krieg nicht wollte. Und sollte Zwang, zusammen mit der dümmsten Propaganda der Geschichte, das Verhältnis von Grund aus geändert haben? Ich wenigstens glaube es nicht. Und ich glaube, wir werden bald Beweise dafür sehen, dass es nicht so ist. 34
Nur wenige Tage, nachdem Olden diese Zeilen schrieb, überfiel die deutsche Wehrmacht am 1. September 1939 das benachbarte Polen. Der befürchtete Kriegsausbruch war Realität. Chamberlain war mit seiner Strategie gescheitert, blieb zunächst im Amt, beruhte die Appeasement-Politik auf einem breiten Konsens, trotz vermehrter Kritik 30 31 32 33
R.O. Die Schuldfrage, in: Pariser Tageszeitung, 20.6.1939. R.O. Vor Toresschluss, in: Pariser Tageszeitung, 16./17.7.1939. Folgendes Zitat ebd. Vgl. R.O. Neue Worte für alte Begriffe, in: Pariser Tageszeitung, 12.8.1939. R.O. In Tyrannos, in: Pariser Tageszeitung, 19.8.1939; Vgl. Sieg im Nervenkrieg, in: Pariser Tageszeitung, 27.8.1939: „Dass solche Despotie, solche Gewaltherrschaft, solche Ungerechtigkeit, solche Unwahrhaftigkeit und solche Grausamkeit nicht geduldet, dass vor allem ihre Verbreitung durch Gewalt nicht geduldet werden soll, dafür will diese Nation, wenn nötig, auch wieder in den Krieg ziehen.“ 34 R.O. Sieg im Nervenkrieg, in: Pariser Tageszeitung, 27.8.1939.
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an der Regierung. Einen systematischen Kurswechsel leitete man nicht ein, sodass die eigene Kriegserklärung erst am 3. September erfolgte. Nur eine Entscheidung sorgte schließlich für große Aufmerksamkeit, die Regierungsbeteiligung des bisher kontroversen Winston Churchill. Der Gegenspieler sollte eingebunden werden. Der Krieg im Westen war anfangs von einer „gespenstigen Ruhe“35 gekennzeichnet. Mit dem deutschen Angriff auf Dänemark und Norwegen Anfang April 1940 änderte sich dies, was letztlich zum Rücktritt von Chamberlain führte.36 Bevor Oldens Biographie eine letzte tragische Wendung nehmen sollte, fasste er die Entwicklung, die zu einer erneuten bewaffneten Konfrontation führte, nochmals zusammen: Die Aushöhlung und Zertrümmerung jenes wundervollen Sicherheitssystem, Völkerbund genannt, die Preisgabe Chinas, der Raub Abessyniens, die Erwürgung der spanischen Republik, endlich jenes wahrhaft entsetzliche Ereignis, das nach der Stadt München genannt wird. Das ist der Weg, den das konservative Kabinett gegangen ist. Was für eine ausserordentliche Strasse ist es gewandert bis in das Unglück hinein, das jetzt über uns gekommen ist. 37
Das sei die große Tragik der britischen Außenpolitik in den letzten Jahren. Sie betrieb eine gut gemeinte Politik des Friedens, die letztlich in den Krieg führte. Dabei habe es an Mahnern nicht gemangelt. Ihre Aufgabe wäre es, der Gefahr jetzt zu begegnen. Auch darin liege eine gewisse Form des Verhängnisses. „Mit welchen Gefühlen mag Mister Winston Churchill in das Kabinett eingetreten sein. Jahre hindurch hat er auf seine Weise für dasselbe Ziel, für den Frieden gekämpft, aber für den Frieden durch Widerstand, nicht durch Nachgeben.“ Erst jetzt folge langsam der Umschwung in der Politik, den er immer schon forderte. Auf ihm, der noch gar nicht Premierminister war, lägen die Hoffnungen und alle Last der Nation, sie aus dieser Lage zu befreien und letztlich zu obsiegen. „Mögen seine Schultern stark sein!“ Mit Kriegsausbruch war Olden frustriert und voller Ärger, ob der britischen Außenpolitik, mit ihrem Isolationismus, mit ihrer konservativen Haltung und mit ihrem Nachgeben gegenüber Hitler. An einen Freund schrieb er am Tage des deutschen Überfalls: „Was man tun soll? Alles, alles ist so gekommen, wie ich es vorausgesehen habe, und ich teile die Gefühle der Kassandra vollkommen. Diese Welt gefällt mir nicht mehr, Gott weiß es.“38 Die Schwärmerei des Appeasement hätte den Frieden zu keinem Zeitpunkt erhalten können, dem war er sich immer bewusst. Gegenüber einem von Hitler regierten Deutschland hätte Großbritannien früher und entschiedener intervenieren müssen. Die Konfrontation auf dem Kontinent bedürfe einer Politik der Klarheit. Jene Eindeutigkeit wurde zumindest in den Artikeln und Beiträgen von Olden meinungsstark sichtbar. Im Vergleich zur Zeit der Weimarer Republik hatte seine pazifistische Haltung in Teilen eine eindeutig zu diagnostizierende Wandlung genommen. Sprach er mit Blick auf die Revisionspolitik Stresemanns davon, dass man Deutschland von Seiten der Alliierten tatsächlich entgegenkommen müsse, verwarf 35 36 37 38
Brüggemeier (2011): S. 193. Vgl. ebd.: S. 191–193. R.O. Ende und Beginn, in: Pariser Tageszeitung, 12.9.1939. Die folgenden Zitate ebd. R.O. an Carl Rößler 1.9.1939, in: Bolbecher et al. (1995): S. 211.
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er jegliche Form einer revisionistischen Politik nach 1933 im Angesicht einer Regierung Hitlers. Zu ihr fehle die Vertrauensbasis, die aber unabdingbar wäre für ein derartiges Appeasement. Olden erinnerte die führenden Köpfe in London daran, dass der Vertrag von Versailles auch in ihrem Interesse geschlossen worden sei, weshalb er die Wichtigkeit der Vertragstreue deutlicher betonte, auch wenn er diese im Allgemeinen vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten mit Blick auf die illegale Rüstung der Schwarzen Reichswehr anmahnte und gegen derartige Verletzungen der Verträge opponierte. Dass die Alliierten, in Gestalt der britischen Regierung, der Remilitarisierung des Rheinlandes tatenlos zusahen, galt es öffentlich zu kritisieren, auch wenn man kaum eindeutige Aussagen identifizieren konnte, die seine Haltung zu Versailles als Gesamtvertragswerk eindeutig offenlegte. Seine Position war bis in die frühen 1930er Jahre durch einen Spagat in der Beurteilung gekennzeichnet: Einerseits Anerkennung der durch den Vertrag geschaffenen internationalen Nachkriegsordnung als Basis für ein friedliches Europa, nicht zuletzt durch den Versuch einer Entmilitarisierung Deutschlands, dessen Grundgedanke er durchaus mit den Autoren von Versailles teilte. Andererseits die Unterstützung revisionistischer Ideen, gerade unter der Prämisse jener Reparationspolitik der Westmächte, vor allem unter den Bedingungen der Weltwirtschaftskrise und einer gleichberechtigten Abrüstung, auch in den Siegerstaaten. Fragen der Reparation und Rüstung wurden zum Gegenstand einer revisionistischen Zwischenkriegsdynamik. Für sie stand Olden mit seinen Beiträgen symbolisch. Allerdings gab er dies nach dem 30. Januar mehr und mehr zugunsten einer stabilen internationalen Ordnung auf der Grundlage des Versailler Vertrages auf. Verstöße von Seiten Deutschlands müssten tatsächlich sanktioniert werden. Vertragstreue gelte es einzufordern. Betrachtete er in den 1920er Jahren die europäische Einigung sowie den Frieden nur dann als erreichbar, wenn auf allen Seiten abgerüstet würde, so forderte er Großbritannien auf, seine Rüstungsbemühungen deutlich sichtbar zu verstärken. Ihre Legitimität erwachse aus der vertragswidrigen Aufrüstung des Naziregimes – die Logik: Rüste Deutschland entgegen den Bestimmungen von Versailles auf, dürfe, ja müsse dies sogar, die britische Regierung im Sinne der Friedenssicherung und des Kräfteausgleichs ebenfalls tun, um die Chance auf Frieden weiter aufrecht zu erhalten. Der Charakter des Nationalsozialismus und seines Führers verlange danach. Die im Rahmen der Politik Chamberlains betriebene, moderate Aufrüstung empfand Olden als unzureichend, wenn er sich eindeutig zugunsten Winston Churchills positionierte, hatte dieser immer wieder beklagt, die Regierung gebe zu wenig Mittel dafür aus. Gleichzeitig musste er eingestehen, dass der Gedanke der Kriegsächtung, dem er in den 1920er Jahren durchaus anhing, in Anbetracht einer Hitler-Regierung vorläufig gescheitert war. Gegenüber einem nationalsozialistischen Deutschland werde Krieg unausweichlich notwendig. Aus dieser Einsicht bzw. Erkenntnis heraus, der er in Gestalt seiner Hitler-Biographie auch publizistisch Ausdruck gab, speiste sich nicht zuletzt die Wandlung seines Pazifismus in den 1930er Jahren. Das System der kollektiven Sicherheit trage vorerst nicht mehr, galt zuvor Abrüstung als Voraussetzung für die Beseitigung der internationalen Anarchie, sprich für die Herstellung friedlicher, (paneuropäisch) internationaler Verständigung bzw. Verflechtung. Gegen die Aggression der kontinentalen Dik-
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taturen müsse die Liberalität der Insel offensiv verteidigt werden, weshalb die Ausdehnung der Rüstungsfinanzierung unabdingbar sei. In gewisser Weise ist der paneuropäische Traum ohnehin an sein Ende gelangt, beruhte er im Kern auf einer deutsch-französischen Verständigung, an die Olden keinesfalls mehr glauben konnte, weshalb er dazu überging, die Stärkung des zuvor ungeliebten Völkerbundes unter Einbeziehung der Sowjetunion zu postulieren, um die Möglichkeit kollektiver Sicherheit gegenüber dem Friedensbedroher zu festigen. Da der Weg eines friedlichen Ausgleichs zwischen Frankreich und Deutschland abgeschnitten schien, galt es die Rückkehr zu einer internationalen Ordnung zu finden, bei der London und Paris nicht allein gegen den europäischen Faschismus stünden. In letzter Konsequenz dürfe man vor militärischen Maßnahmen nicht zurückschrecken. Hier zeigte sich eine Kontinuität in seiner friedenspolitischen Konzeption, die einen passiven Pazifismus schon in den 1920er Jahren abgelehnt hatte. Der radikale Pazifismus blieb ihm fremd. Zusammenfassend wurde nochmals deutlich, dass Olden keinen dogmatischen Pazifismus vertrat, sondern die Rationalität ob der gesellschaftlichen Realitäten ausschlaggebend für seine friedenspolitischen Überzeugungen waren. In seinem Urteil wurden spätere Entwicklungen zuvor deutlich sicht- und ablesbar, wie der Ausbruch des Krieges 1939 offenbarte. Zum Bild jenes Urteilsvermögens passte Anfang 1935 die Veröffentlichung eines Buches, das in den Wirren des Jahres 1933 begonnen wurde und das rückblickend die Wirkung des preußischen Militarismus auf den Geist der deutschen Gesellschaft beschrieb, der durch die Herrschaft der Nationalsozialisten auf die Spitze getrieben und endgültig pervertiert wurde. Die Rede ist von Oldens Biographie über den Generalfeldmarschall und Reichspräsidenten Paul von Hindenburg. Thematisch zentral blieb dessen Verhältnis zur Armee und deren Beitrag zum Untergang der Republik.39 In ihm sah Olden keinesfalls einen Retter der republikanischen Ordnung. Er erklärte sich die Existenz Hindenburgs aus dem Geist der preußischen Armee, wie am Titel der Arbeit ablesbar. Jenem Geist sei er bis in sein Innerstes verbunden. Für den Verfasser waren Person und Tradition in diesem Sinne quasi identisch. Preußisch meinte bei Olden das ostelbische Junkertum als dessen Repräsentant. Sie prägten die Vorstellungswelt Hindenburgs. „In dem Drill von zweihundert Jahren hat sich eine Gemeinsamkeit des Auftretens, der Sprache und des Gedankens herausgebildet, ist eine Kaste geworden, die äußerer Abgrenzungen nicht bedarf, um sich von der übrigen Menschheit zu unterscheiden.“ (S. 21) Bis heute sei vor allem die Beamtenschaft und die Reichswehr altpreußisch durchzogen. Es gelte daher weiterhin: „Das neue Deutschland ist das alte Preußen. Darum ist sein Vertreter sehr alt. Fünfundachtzig Jahre? Viel älter. Ziemlich genau zweihundertundeinundzwanzig Jahre alt.“ (S. 22) Alles begann mit Friedrich Wilhelm I., dem Soldatenkönig, der Preußen zu einem straff organisierten Gesamtstaat formte. Will man das Leben Hindenburgs erzählen, so „muß man den Aufriß dieser Tradition“ (S. 22) schildern, die in Hitler bereits eine neue Form gefunden hatte. Unterbrochen war 39 Den folgenden Zitaten liegt zugrunde: R.O. Hindenburg oder Der Geist der preußischen Armee, Neudruck der Ausgabe Paris 1935, Hildesheim 1982, mit einem Vorwort von Werner Berthold, S. V–XVII.
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diese in der Anschauung von Olden lediglich durch die großen preußischen Reformer, die es aber nicht schafften, den Geist der Tradition im Sinne liberaler Wertvorstellungen dauerhaft zu verändern. Der „preußische Sozialismus“, wie Olden ihn nannte, war geprägt durch wirtschaftlichen Egoismus, die Abwesenheit idealistischer Konzeptionen mit Blick auf politische Rechte, seine Militärpolitik und die Übertragung des militärischen Systems auf den Bereich des Staates, Gewalt als Organisationsprinzip, auch auf der internationalen Bühne und in der Folge die Ablehnung von Diplomatie und Rechtsstaatlichkeit. (Vgl. S. 42–51) Seine politisch wie gesellschaftliche Elite sei, wie an der Person Hindenburgs sichtbar, durch militärische Erziehungsmittel geprägt. Die preußischen Kadettenanstalten formten in ihrem Sinne – hart zu sich und geschlossen nach außen – den deutschen Volkskörper entscheidend mit. Der Lehrstoff erweiterte sich. Das Grundverhältnis zur Bildung, zum Humanismus, änderte sich nicht. Es ist immer dasselbe. Immer wieder das Bekenntnis zum rauhen Soldatismus, den manchmal bildungsfreudige Offiziere beklagen, den aber die Hohenzollern schützten, der sich gegen alle Anfeindungen erhielt. So schließt sich eins ans andere: die Verachtung der Bildung und die derer, die sie übermitteln, stehen in Wechselwirkung. Die Kadetten, so sehr sie einander quälten und mißhandelten, waren ein einziger Körper gegenüber allen Nicht-Kadetten. Das Korps schweißte sie zusammen. (S. 74/75)
Für eine derart geformte Gesellschaft „war der Krieg die große Chance, war Erlösung und Erhöhung zugleich. Der befreite sie aus dem Korps, machte sie vor der Zeit zu Offizieren, bot ihnen Aussicht auf Auszeichnung.“ (S. 70) Die bürgerliche Revolution war zu keiner Zeit stark genug, dieses System zu erschüttern bzw. von außen zu verändern. Ihr Manko liege zugleich in dieser Form der „rauhen Typisierung, die das Individuum brutal unterdrückt“, denn es „ist wenig geeignet, Männer hervorzubringen, die auf sich allein gestellt, ohne das Bewußtsein einer Linie, in der sie stehen, Mut und Selbstsicherheit bewahren.“ (S. 77) Seine erste schwere Niederlage erfuhr die altpreußische Tradition 1806 in Jena und Auerstedt. Dies sei nicht nur eine militärische Niederlage gewesen, sondern hier unterlag das preußische Staatswesen an sich. Der Wiederaufstieg Preußens sei lediglich ihren progressiv-bürgerlichen Reformern zu verdanken. Bis 1866 hätten es die altpreußischen Kräfte nicht vermocht, sich den Staat Untertan zu machen. „Sie haben lange Zeit und ihren ganzen zähen Egoismus gebraucht, um sich des neu entstandenen Staats wieder zu bemächtigen. Kleinkämpfe, Intriguen, Gesetzesbrüche, Vergewaltigungen waren notwendig.“ (S. 82) Eine erneute Niederlage folgte 1918, auch wenn es nicht lange dauern sollte, bis Hindenburg ihnen die Macht wieder auslieferte. Dass dies gelang, schrieb Olden einer in Teilen verfehlten Revolution zu, was in pazifistischer Retrospektive Mitte der 1930er Jahre als fatal für den europäischen Frieden wahrgenommen wurde. Auch die Reformisten unserer Zeit haben nach dem Weltkrieg manches Stück anständige soziale Arbeit geleistet, und sie wurden genauso beschimpft wie die von 1808, als Narren, Ideologen und als Betrüger, die nur für die eigene Tasche arbeiteten. Aber da sie die Armee unangetastet ließen, war ihr Werk leicht über den Haufen zu werfen (S. 87),
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so das Urteil Oldens. Ein weiterer Aspekt trat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch hinzu: Die Konspiration des Bürgers mit den altpreußischen Eliten nach den Einigungskriegen. Spätestens nach 1871 habe sich das Bürgertum der Armee und ihrer altpreußischen Tradition freiwillig unterworfen. „Die Armee hat Weltruhm erworben, sie hat den Reichstraum erfüllt, der ein bürgerlicher Traum gewesen war.“ (S. 103) Die politische Entwicklung fördere die fatale „Militarisierung des Bürgertums.“ (S. 104) Der preußische Sozialismus gewann immer mehr an gesellschaftlicher Akzeptanz. In Oldens Betrachtung wurde es „langsam zur gesellschaftlichen Grundtatsache, daß die Eigenschaft als Reserveoffizier in wichtigen Lagen des Lebens dem zivilen Beruf des deutschen Bürgers vorgeht.“ (S. 107) Folge sei die politische Degenerierung des Bürgertums, die Olden in seinen frühen Artikeln im Fremden-Blatt oder im Friede beschrieb und die zur Ablehnung von Idealismus und Heldentum bei ihm führte. „Nicht eine Aristokratie, sondern eine Kriegerkaste war ihr Vorbild.“ (S. 109) Insofern setzten sich in der Bildung des persönlichen Geistes nicht Duldsamkeit, Kosmopolitismus und Saturiertheit durch, sondern vielmehr Aggressivität, Unduldsamkeit und Schneidigkeit des preußischen Junkertums. Das selbstbewußte, gesättigte In-sich-ruhen, das eine notwendige Eigenschaft der Aristokratie ist, fehlte dem Junkertum. Offizierskorps und Bürgertum, die sich nach ihm formten, konnten aus sich heraus im Gegensatz zu ihrem Vorbild, keinen aristokratischen Charakter entwickeln. So entstand ein Typ von äußerer Geschlossenheit, aber innerlich unruhig, parvenuhaft, ausdehnungssüchtig, von Minderwertigkeitsgefühlen und Großmannssucht gepeinigt und vorwärts gepeitscht. (S. 110)
Der ehemals preußische Soldat wurde nicht zum Bürger, vielmehr wurde er zum unpolitischen Soldaten umerzogen, was ihn langanhaltend prägte. Hindenburg stand in republikanischen Zeiten für den Aufstieg dieses Typus, den man glaubte, 1918 besiegt zu haben. „Für einen einfachen Geist wie ihn ist Politik das, was die Zivilisten treiben. Das, was er tut, kann niemals Politik sein. Nicht Politik, sondern militärische Notwendigkeit.“ (S. 137) Nur aufgrund dieser Form der apolitischen Degenerierung und Militarisierung des deutschen Bürgertums war es schließlich in der Ansicht Oldens nach der Kriegsniederlage möglich, die Verantwortung auf die zivile Politik abzuwälzen, war dessen Glaube an die Armee so tief begründet, dass man während der Kriegsjahre hindurch jede Siegesmeldung glaubte, glauben wollte. Hier zeigte sich die Konsequenz einer vermeintlich unpolitischen Erziehung. Die Dolchstoßlegende geriet zum Schutzmechanismus einer Kaste, deren Repräsentant Hindenburg war. Er repräsentiert die historischen Mächte Preußens, Junkertum und Offizierskorps. (Er) hatte keinen Zweifel daran, wie er sich verhalten müsse. Für ihn, das hat er oft gesagt, gibt es nur die Pflicht. Er war Generalissimus. Er hatte zu siegen. Haben ihn die Zivilisten daran verhindert, so haben sie dafür einzustehen. Er ist altpreußisch, königstreu bis in die Knochen. (S. 159)
Stets habe er die Politik des preußischen Generalstabs konsequent umgesetzt, die dieser „als nützlich und heilsam für die Armee und also für den Staat (hier zeige sich die altpreußische Tradition) anerkannt ist: Die Ehre der Erfolge für sich in
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Anspruch zu nehmen, die Verantwortung für Mißerfolge den anderen zu überlassen.“ (S. 176f.) Nach 1918, unter den Bedingungen der republikanischen Ordnung, feierte der Geist der preußischen Armee in den Freikorps seine Wiedergeburt. In ihnen wachse zudem von Anfang an der Keim des Revanchekrieges, der anfänglich nach innen gerichtet sei. „Die Aufgabe, die ihnen gestellt war, war nicht der Kampf gegen den Feind, sondern gegen die Arbeiterschaft. Der Klassenkampf hatte der Erneuerung des Krieges vorauszugehen.“ (S. 181) Die Sozialdemokratie habe es grundlegend versäumt, durch die revolutionären Umwälzungen hindurch die Armee und ihre darin hausende Tradition zu zerschlagen. „Mit der liberalen Formal-Demokratie, an die sie sich klammerten, übernahmen sie weder den liberalen Idealismus noch die Gesamtheit des liberalen Erkenntnisguts. Sonst hätten sie gefühlt und gewußt, daß sie, um ihre eigene Existenz zu sichern, die Machtpfeiler des Junkertums von Grund aus vernichten mußten.“ (S. 186) Die Perspektive einer Republikansierung der Reichswehr gab Olden an dieser Stelle wiederholt zum Ausdruck. Ihr Ausbleiben wertete er erneut als einen schweren politischen Fehler, der den Keim des Militarismus und eines künftig neuen Krieges weiter in sich trug. Vor allem der politische Unverstand von Gustav Noske führte zur Renaissance jener altpreußischen Tradition. Begünstigt wurde dies durch den (Irr-) Glauben der Siegermächte, eine zahlenmäßig reduzierte Armee könne keinen Einfluss mehr auf den Staat ausüben. „Daß genaue Gegenteil war richtig. Die scharfe Auswahl, die durch die Reduktion erzwungen wurde, machte es möglich, die Einheitlichkeit in Gesinnung, Herkunft, Bildung zu einem noch nicht gekannten Grad zu steigern.“ (S. 199) Die Politische Justiz von Weimar, gegen die Olden als Jurist ankämpfte, war Ausdruck dessen. „Es sind keine Richter, die hier (im Reichsgericht) sitzen, es sind die Diener des Militärstaates, der Befehl der Armee steht ihnen an Stelle des Rechts.“ (S. 206) Die Republik litt in den Augen Oldens von Anfang an unter dieser Zwiespältigkeit. Einerseits wollte sie schwarz-rot-gold sein; zugleich war sie aber eben auch schwarz-weiß-rot geblieben. Die Präsidentschaft Hindenburgs, in der der Geist der preußischen Armee mit ihm wieder Einzug hielt, liefere den Beweis. „Es war eine diffuse Masse, die (ihn) gewählt hatte, nicht eine durch politische Gesinnung verbundene Gemeinschaft, einig nur in der Ablehnung des Bestehenden und im Begehren nach einem neuen Krieg.“ (S. 218) Zugleich könne man nicht müde werden zu betonen, wie schwerwiegend das Ausbleiben von Reformen um 1918/19 wiege. Die Armee, aber auch der Großgrundbesitz blieben bis an das Ende der Republik weitestgehend unangetastet, wodurch der Machtapparat „des Offizierskorps und der höheren Beamtenschaft, die ihren Stamm aus den ostelbischen Rittergütern rekrutierte,“ (S. 255) konserviert blieb. Darin unterschied sich die Phase nach 1806 gravierend von den Geschehnissen nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Insofern verwies Olden in diesem Buch immer wieder auf den Umstand, der bereits vor 1933 und der Kanzlerschaft Hitlers zu beobachten war, der ja, unter Berücksichtigung von Oldens Biographie, ohnehin nur ein Produkt der Reichswehr sei: Ihr Wille erschöpft sich in dem heißen Wunsch nach der Revanche, nach der Wiederherstellung ihrer Waffenehre. Der neue Staat hat keine neue Armee hervorgebracht, die Reichswehr ist die
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getreue Fortsetzerin der Tradition, und sie will nur eins: den Schandfleck der Niederlage ausmerzen. (S. 275)
Verfassungsrechtlich wäre es dringend geboten gewesen, das Land Preußen zu erschlagen und im Rest des Reiches aufgehen zu lassen, um ein deutliches Zeichen zu setzen. Darauf verwies Olden unter Berufung auf Gerhard Anschütz und Hugo Preuß. „Solange der preußische Staat besteht, war das Junkertum sein Kern gewesen, die Machtgruppe, für die alle anderen zu frohnen hatten.“ (S. 321) Diesen Umstand hätte man beseitigen müssen. Nun, nach dem Hitler zur Macht gelangt sei, wäre es endgültig zu spät, der neue Krieg werde kommen, denn wollte das Junkertum bestehen bleiben, „so mußte es sich den Nationalsozialisten anvertrauen.“ (S. 323) Die Wurzeln des Antisemitismus lägen u.a. im Preußentum. Der Pazifismus war ihm stets verhasst. Dies galt bereits vor der Zeit Hitlers. „Der preußischen Liebe zum Krieg ist die pazifistische Lehre abscheulich, die preußische Systematik verbietet, ihre Bekenner zu dulden.“ (S. 334) Unter der Herrschaft des Nationalsozialismus folgte schließlich das Konzentrationslager für die geistige Haltung des Pazifismus. „Der neue Staat kennt keine leeren Räume. In ihm dient wirklich Alles dem großen heiligen Zweck der Kriegsvorbereitung, die totale Mobilmachung ist in Kraft gesetzt.“ (S. 349) Wie Oldens Beiträge in der deutschen Exilpresse lässt auch die Biographie über den Reichspräsidenten Hindenburg keinen Zweifel daran, dass Deutschland unter der Führung Hitlers zu einem neuen Krieg entschlossen ist. Die altpreußische Tradition habe sich wieder durchgesetzt und im neuen Reichskanzler ein willfähriges Werkzeug gefunden, sodass dem Buch von Olden eine gewisse Scharnierfunktion zukommt. Aus der historischen Erkenntnis des preußischen Charakters wurde die politische Entwicklung der Gegenwart und das zu Erwartende interpretiert und kommentiert, weshalb sein Werk weit über die Schilderung der Lebensumstände einer Einzelperson hinausweist. Im Kontext einer pazifizierten Gesellschaft und Politik kann es als Mahnung an die britische Öffentlichkeit verstanden werden, den wahren Charakter des heutigen Deutschlands zu erkennen, das nichts mehr mit dem von Stresemann zu tun habe. „Die kurze Periode des äußeren Friedens, des Gleichgewichts und der Saturiertheit, der Freude am zivilisatorischen Fortschritt und an bürgerlicher Freiheit“ (S. 221) sei beendet. Gleichwohl gilt es, bei der Deutung dieses Buches, Folgendes zu beachten: Zunächst wurde es unter enormen persönlichen Entbehrungen auf der Flucht 1935 fertiggestellt, zu einem Zeitpunkt, an dem im Verhältnis zwischen der Armee und den Nationalsozialisten vieles offen war. Die allgemeine Wehrpflicht wurde erst im Laufe des Jahres wieder eingeführt, sodass der wachsende Einfluss des nationalsozialistischen Geistes in den Mannschaften und im Offizierskorps bei Oldens Betrachtungen nicht einfloss. Es steht zu vermuten, dass er ihm ohnehin keine bedeutende Rolle zugewiesen hätte, sah er, wie die Hitler-Biographie zeigte, im Nationalsozialismus keine eigenständige Ideologie. Womöglich hätte er die Wiedereinführung der Wehrpflicht durchaus begrüßt, um die Vormachtstellung altpreußischer Traditionen im Offizierskorps durch die bürgerliche Durchmischung endlich zu brechen, die Homogenität in der Zusammensetzung der Wehrmacht aufzuheben, die ihm vor 1933 mit seinem Verweis auf die Republikanisierung der Rei-
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chswehr am Herzen lag. Dass Olden durchaus in der Lage war, seine Sichtweise anzupassen, belegt ein Artikel aus dem Jahre 1939. Es sei gelungen, die Wehrmacht ebenfalls gleichzuschalten. „Da steht Deutschland, und Herr Hitler als Feldherr, das entspricht nicht der eigentlichen Absicht und auch nicht gerade den Wünschen aller Militärs oder ihrer zivilistischen Helfershelfer.“40 Im Großen und Ganzen sah er im deutschen Militär nicht die Möglichkeit zum Widerstand. Darin unterschied er sich von Teilen der Exilierten, die hofften, die Armee könne zum Träger des Aufstandes werden, eine Vorstellung, die bis in die Sozialdemokratie hinein reichte. An seiner grundlegenden Anklage aus dem Hindenburg-Buch änderte Olden nichts. Mit Entsetzten musste er zur Kenntnis nehmen, dass es Kräfte in seinem Gastland gab, die Sympathien für die Wehrmacht als Partner gegen Hitler hegten. Im Ganzen nahm die Literaturwelt sein Werk recht günstig auf, wenngleich Vorbehalte bestanden. So wurde das Buch als ein „Baustein der deutschen Einheitsfront gegen den Nationalsozialismus samt seinem plutokratisch-feudalen Rückgrat, der Reichswehr“41 gelobt. Überzeugend habe der Autor eine Rekonstruktion der Struktur des preußisch-deutschen Staates anhand der Figur Hindenburgs geliefert. Olden stehe für den antifaschistischen Kampf, auch deshalb, weil er nicht daran glaubte, die Armeeführung als Verbündeten gegen den Faschismus gewinnen zu können. Allerdings vernachlässigte er die Rolle der Industrie und des Finanzkapitals innerhalb des preußischen Militärapparats. Diese Kritik formulierten vor allem kommunistische Exilkreise. Aber auch sozialdemokratische Politiker diagnostizierten „eine weitgehende Vernachlässigung der großkapitalistischen Problematik, der Agrarkrise, der Weltwirtschaftskrise in den entscheidenden Jahren der deutschen Republik.“42 Die Geschichte der Republik erkläre er aus einer zu eng gefassten Logik heraus, nämlich einzig und allein aus dem reaktionären Machtwillen des altpreußischen Geistes und ihrer jeweiligen Träger. Damit suggeriere er die Existenz eines hegelschen Weltgeistes, den die Reichswehr mit einer klaren politischen Absicht durch alle Stadien der Republik hindurch im Auge hatte. Das Ergebnis der HitlerDiktatur erscheine zwangsläufig und ohne mögliche Alternative. Dies sei ein zu hohes Maß an Weitsicht, das man dem Gegner einer demokratischen Ordnung zuspreche. Ihre Kraft werde derart überschätzt, weshalb die Möglichkeit zum Widerstand und Abwehrkampf in Resignation umschlage. Es kann nur vermutet werden, dass Olden, hätte er länger gelebt, weitere Faktoren eindeutiger benannt hätte und diese Erkenntnisse in seine Werke eingeflossen wären.43 Zugleich mag man ihm zugutehalten, dass er nicht aus einer dezidiert sozialistisch/kommunistischen Denktradition heraus argumentierte. Sein Antifaschismus und Pazifismus entsprang vielmehr liberalen Vorstellungen und Ideen, wenngleich sozialpolitische Aspekte und Probleme berücksichtigt wurden, freilich mit einem anderen Stellenwert.
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R.O. Wiedergeburt durch die Armee?, in: Neues Tage-Buch, 18.11.1939. Kersten, Kurt, in: Olden (1982): S. XII. (Vorwort) Geyer, Curt, in: Olden (1982): S. XIII. (Vorwort) Vgl. Berthold, in: Olden (1982): S. XII–XIV.
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Die Zeitgenossen wiesen im Übrigen darauf hin, dass der „Geschichtsschreiber“ in diesem Buch „die Methode des Advokaten nutzbringend verwertet und zum überzeugenden Ankläger vor dem Forum der Geschichte“44 wurde. Unter diesem Gesichtspunkt gilt es sich, auf die Frage, was von diesem Buch bleiben wird, Werner Berthold anzuschließen, der am Ende seines Vorwortes zur Wiederauflage 1982 schrieb: Gewiß, es handelt sich um ein parteinehmendes Werk. Olden ist nicht vorstellbar als Zeitgeschichtlicher, der sich der Fülle der Quellen voraussetzungslos aussetzte – in der Erwartung, von ihnen erst zu erfahren, wie es eigentlich gewesen ist. Noch bevor er seine historischen Forschungen aufnahm, wußte er – sagen wir: aus pazifistischer Sensibilität – das Wesentliche.45
Der eigene Erfahrungshorizont, nicht nur auf Basis der Kommentierung aktueller Ereignisse als Journalist in Verbindung mit zeithistorischer Bildung zur Geschichte Preußens, sondern auch die persönliche Metamorphose vom begeisterten Kriegsfreiwilligen, bei dem die altpreußische Erziehung zunächst Früchte trug, zu einem überzeugten Republikaner, Pazifisten und Europäer, prägte den Schriftsteller Olden. Ihm waren die Kräfte bekannt, die das Schicksal der Nation nachhaltig beeinflussten. Dass er als unmittelbarer Zeitgenosse nur in der Lage war, einen bestimmten Ausschnitt zu betrachten, erscheint evident, offenbarte nach 1945 die Jahrzehnte anhaltende Forschung zum Untergang der Weimarer Republik die Komplexität der Kräfteverhältnisse. Bei aller Wertschätzung, die Olden innerhalb der deutschen Exil-Community genoß, fiel es ihm unlängst schwerer, in der britischen Presse beruflich erfolgreich Fuß zu fassen. „Over the period 1934–1936, Olden’s English-language articles began to appear in those journals where he was able to make contacts.“ 46 The Jewish Review von Reginald S. Harris und The Nineteenth Century and After von Harry Sacher waren die ersten Blätter, die seine Beiträge abdrucken sollten, auch wenn sie zahlenmäßig eher zu vernachlässigen sind. Auszüge seiner Hindenburg Biographie erschienen schließlich im Manchester Guardian. Noch vor der Veröffentlichung 1935 schrieb Olden im September des Vorjahres einen Artikel in The Contemporary Review über seine Arbeit an dieser Biographie. Anlass war wohl der Tod Hindenburgs im August 1934. Diesem Beitrag sollten nur noch drei weitere zu unterschiedlichen Themen folgen. „The dilemma of the exiled journalist as exemplified here by Olden is, of course, that he was separated from the very people, places and incidents on which he would normally draw for his inspiration, hence his tendency to rework past themes.“ Eine kleine Ausnahme stellte Ende 1934 der Aufenthalt in Saarbrücken dar. Hier arbeitete er als Redakteur bei der von Hubertus Prinz zu Löwenstein gegründeten Zeitung Das Reich. Seine Autoren wollten die im Januar 1935 unter der Aufsicht des Völkerbundes stattfindende Volksabstimmung im Saargebiet beeinflussen. Die Bevölkerung hatte zu entscheiden, ob sie lieber zu Deutschland oder zu Frankreich gehören möchte oder am bestehenden Status der Verwaltung durch 44 Kersten, Kurt, in: Olden (1982): S. XIII. (Vorwort) 45 Berthold, in: Olden (1982): S. XVf. 46 Brinson/Malet, in: Abbey et al. (1995): S. 37. Folgendes Zitat ebd., S. 41.
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den Völkerbund festhalten will. Nach dem 90,5% der Wahlberechtigten für den Anschluss an das Deutsche Reich stimmten, wurde das Blatt verboten. Wie Löwenstein später berichtete, verließ Olden kurz nach der Abstimmung rasch das Saargebiet.47 Im News Chronicle gelang es ihm mit einigen wenigen Beiträgen auf das Schicksal von Carl von Ossietzky aufmerksam zu machen. Auch damit konnte er sich keineswegs im britischen Journalismus etablieren, sodass er vermehrt begann, für die deutsche Exilpresse zu schreiben.48 Seine Erfahrungen beschrieb er 1938 rückblickend einem Freund wie folgt: „Ich bin leider ganz heraus aus dem Journalismus, oder besser gesagt, ich bin nicht wieder hineingekommen. Nach ein paar schwachen Versuchen, meine Meinung englischen Zeitungen aufzudrängen, habe ich das als hoffnungslos aufgegeben.“49 Dabei hatte er als Exilant durchaus einen hohen Anspruch ob der Wirkmächtigkeit seiner Artikel auf die Politik und Medien in London. Sie waren damals jedenfalls um Jahrzehnte hinter unseren Erkenntnissen zurück und lächelten nur mitleidig über den monomanischen Unsinn, den man ihnen lehren wollte. Am unbelehrbarsten war die Linke, geradezu verliebt in Hitler, der endlich das schwere Unrecht gut machen wollte, das den Deutschen in Versailles, natürlich von den Franzosen angetan worden war. Das hat sich seither ein bißchen geändert. Aber jede Nation zieht ihre eigenen Irrtümer und Erkenntnisse denen der anderen vor, und man kann nur wenig nützen.
Als deutscher Emigrant sah er schließlich seine Aufgabe darin, „der Welt zu erklären, was in Deutschland vor sich ging.“50 Dies müsse der Maßstab sein, „ob es gelungen ist, deutlich zu machen, was in Deutschland geschehen war, was geschieht und was also geschehen wird.“ An diesem Selbstverständnis gemessen, blieb Olden ein Gescheiterter, erreichte die Exilpresse mit ihren Analysen kaum das englische Publikum. Allerdings erwies sich erstaunlicher Weise ein anderes Feld als besonders durchlässig für den Journalisten Olden, die Welt der Wissenschaft. Im Sommertrimester 1936 begann er auf Vorschlag von Professor Alfred Zimmern Vorlesungen an der Universität Oxford über deutsche Geschichte zu halten. Im Herbsttrimester 1936 sollten weitere Vorlesungen an der London School of Economics folgen. Eine dauerhafte Anstellung erwuchs daraus aber nicht. Zudem brachten sie ihm finanziell nicht viel ein. „One teaching engagement which he clearly found very enjoyable and stimulating was his work for the Workers Educational Association (W.E.A.).“51 Aus seinen in Oxford und anderswo gehaltenen Vorlesungen entstand schließlich das Buch The History of Liberty in Germany, welches allerdings erst posthum 1946 erschien. Darin enthalten waren Gedanken zur Geschichte des Liberalismus in Deutschland zwischen 1808 und 1933, über die Entwicklung des deutschen Nationalstaates nach der Reichsgründung 1871 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges und ein Abschnitt zum Thema The German political character, 1789-1939. Mit diesem Werk verband er die Hoffnung, dass die Deut47 48 49 50 51
Vgl. Asmus/Eckert (2010): S. 50f. Vgl. Brinson/Malet, in: Abbey et al. (1995): S. 35–45. R.O. an Grete Rismondo 9.4.1938, in: Bolbecher et al. (1995): S. 201. Folgendes Zitat ebd. R.O. April/Mai 1937 in Das Wort, zitiert nach: Ebd.: S. 198. Folgendes Zitat ebd. Brinson/Malet, in: Bolbecher et al. (1995): S. 202.
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schen alles Nötige tun werden, um die letzten Spuren der alten (preußischen) Mächte aus dem Leben der Nation zu beseitigen. Er versuchte darin zu erklären, wie es passieren konnte, dass Hitler zur Macht gelangte und wie es möglich war, die politische Freiheit in Deutschland abzuschaffen.52 Gleichzeitig arbeitete er gemeinsam mit Berthold Jacob und Paul Dreyfuß an der Geschichte der Macht in der Deutschen Republik. In dieser Untersuchung stand die Armee, „die nicht nur das Monopol der bewaffneten Organisation besaß, sondern auch ein Zentrum der Willensbildung war“53, im Mittelpunkt. Die liberale wie die materialistische Geschichtsschreibung hatte diesen eigentlichen Machtfaktor bisher nicht berücksichtigt, so die These. Die Republik hätte es eben 1918 in Gestalt der deutschen Sozialdemokratie versäumt, selbst Macht zu werden, indem sie sich der kaiserlichen Generalität bediente. Der Ausbruch des Krieges verhinderte die Veröffentlichung eines Buches. Zu mehr als jener sechsseitigen Synopsis, die den Grundgedanken der geplanten Schrift aufgriff und zusammenfasste, kam es nicht mehr. Der Kontakt zwischen den Initiatoren riss ab. Alle drei starben in den nächsten Jahren. Ihre Überlegungen gingen eindeutig auf ein Urteil des Historikers Leopold von Ranke aus dem Jahre 1849 zurück. „Man darf vielleicht sagen, daß der König Connétable (wie Friedrich II. den König von Preußen nannte) und seine Armee das einzig wahrhaft Existierende in Deutschland sind.“ In der Zeit zwischen 1936 und 1940 erarbeitet er sich im Umfeld von Oxford einen guten Ruf, er war allseits gut bekannt, wie ein Nachruf der Oxford Mail vom 23. September 1940 zeigt. „He had spoken at many public meetings. One recorded instance was at a gathering on The Refugee Problem Today, held at the University on 30. November 1938, where Sir Norman Angell gave the main address and Olden spoke on the condition of the Jews in Germany.“54 Dies ging wohl nicht zuletzt auf das Schwarzbuch zurück. Auch im Bereich der Wissenschaft sollte er keine vollständige Erfüllung finden, dazu war seine universitäre Arbeit zu unbeständig und zu schlecht bezahlt. „It may well be that lecturing was ultimately too far removed from the political scene for him temperamentally, as a journalist and lawyer.“55 Davon weiß auch sein Umfeld zu berichten. So schrieb ein gemeinsamer Freund an Oldens erste Ehefrau nach dessen Tod: Soll ich Ihnen sagen, daß Rudi, der so ein glänzender Journalist und ein Advokat im Zolaschen Sinne des Wortes war, – zum Professor nicht getaugt hat. Er mußte so ein Gefühl selber haben, obwohl er sehr stolz auf seine Oxforder Vorträge war, – konnte er sein Auge vor der Wahrheit nicht verschließen, daß ihm auf diesem Gebiet keine Lorbeeren blühen...Und nur von Vorträgen zu leben? Er fürchtete sich.
52 Vgl. Berthold, in: Olden (1982): S. XIV; Brinson/Malet, in: Abbey et al. (1995): S. 48f. Olden in Oxford: Brinson/Malet, in: Crawford et al. (2017): S. 208–218. 53 Auszug aus der sechsseitigen Synopsis, gefunden in den Akten der American Guild for German Cultural Freedom, zitiert nach Berthold, in: Olden (1982): S. XIV. Folgendes Zitat ebd. 54 Zitiert aus: Brinson/Malet, in: Abbey et al. (1995): S. 53. 55 Brinson/Malet, in: Bolbecher et al. (1995): S. 202. Folgendes Zitat ebd., S. 202f.
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Privat gestaltete sich die Zeit in Yatscombe Cottage durchaus glücklich, wie nicht zuletzt die Geburt seines einzigen Kindes, Mary Elizabeth Antonia, genannt Kutzi, am 3. Februar 1938 belegte. „Mein einziges gelungenes Werk ist meine Tochter“56, schrieb er an seinen Halbbruder Peter. Nichtsdestotrotz tat sich Olden schwer, in seiner neuen Heimat endgültig anzukommen. Schon Mitte 1934 meinte er in einem Brief an Werner Hegemann: „Wir sind auf dem Land. Aber mit den Gedanken doch immer in Deutschland. Die Emigration will erst gelernt sein...“57 Finanzielle und sprachliche Probleme erschwerten die Integration zusätzlich, auch wenn er über die Jahre durchaus Freundschaften knüpfte. Dies verband ihn mit einer Vielzahl von Geflüchteten. „England is for him an object of admiration, certainly, but it also never ceases to astonish him.“58 Gänzlich abseits davon, und von seiner journalistischen Karriere, tat Olden was immer er konnte, um auf das Schicksal von Verfolgten aufmerksam zu machen und somit die wahre Natur des nationalsozialistischen Regimes weiter zu enthüllen. Beispielhaft sei auf die Korrespondenz hingewiesen, die Olden für den inhaftierten Carl von Ossietzky führte. In ihr setzte er sich erfolgreich für die Verleihung des Friedensnobelpreises an seinen Freund ein. Weniger von Erfolg gekrönt war sein Bemühen, dass Ossietzky den Preis persönlich entgegennehmen konnte.59 Gemeinsam mit anderen britischen Pazifisten und Parlamentsabgeordneten unternahm Olden den Versuch, den seit 1933 inhaftierten Kollegen Hans Litten aus der Haft in Spandau frei zu bekommen. 1938 beging er im Konzentrationslager Dachau Selbstmord. Die Anstrengungen seiner Freunde blieben vergebens. Seit März 1934 (bis zu seinem eigenen Tod) arbeitete Olden zudem als Sekretär des Deutschen PEN-Club im Exil. Ziel war die (Wieder-) Herstellung von Verbindungen zwischen den in aller Welt verstreuten antifaschistischen Schriftstellern. Auf Jahreskonferenzen traf man sich wieder. Die beträchtliche Korrespondenz fiel ihm als Sekretär zu. „Er widmete den Kollegen weit über seine Kräfte, Geld und Zeit. Er beantwortete Hunderte von Briefen, keiner war ihm zu dumm, kein Kollege zu unsympathisch.“60 1779 Briefe, die im Archiv des Clubs zu finden sind, sprechen für sich.61 Die politische Lage erschwerte zunehmend seine Arbeit, was die Beschaffung von Visa, die Intervention bei Inhaftierung oder die finanzielle Unterstützung anging. Dabei erkannte er die begrenzten Möglichkeiten des Wirkens. Trotzdem kann sein Beitrag nicht ausdrücklich genug betont werden. Ehrenamtlich arbeitete er als Gutachter bei der American Guild for German Cultural Freedom, eine Organisation, die sich 1935 auf Betreiben von Löwenstein gründete und versuchte, Gelder für eine Deutsche Akademie der Künste und Wissenschaften zu sammeln, die künftig im Exil tätig sein sollte. Sie vergab darüber hinaus Stipendien an bedürftige Künstler, Wi56 57 58 59
R.O. an Peter Olden 26.8.1938, zitiert nach Ebd.: S. 205. R.O. an Werner Hegemann 28.7.1934, zitiert nach Ebd.: S. 206. Brinson/Malet, in: Bolbecher et al. (1995): S. 209. Vgl. exemplarisch: Brinson/Malet (1990): Rettet Ossietzky! Dokumente aus dem Nachlass von Rudolf Olden. 60 Tergit (1983): S. 23. 61 Auf eine ausführliche Würdigung dieses Archivbestandes wurde absichtsvoll verzichtet: Vgl. Brinson/Malet, in: Bolbecher et al. (1995): S. 205.
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ssenschaftler und Schriftsteller. Ein literarisches Preisausschreiben fand ebenso statt, wie der Versuch, Betroffenen eine Einreise in die USA zu ermöglichen. Olden war selbst Stipendiat, wie die erwähnte Synopsis zeigte. Es sollte nicht sein einziges Projekt bleiben, was nicht realisiert werden konnte. Unter dem Titel In tiefem Dunkel liegt Deutschland. Von Hitler vertrieben – Ein Jahr deutsche Emigration wurde ein, in Zusammenarbeit mit seiner Frau, geschriebenes Buch nie veröffentlicht.62 Vor Kriegsausbruch kann resümierend zusammengefasst werden: The task of altering the English to the menace of Nazism was, as we have seen, far from easy. The situation described by Olden’s wife Ika on their arrival in England in 1933 - Hitler ist den Menschen völlig gleichgültig – die Emigranten viel lästiger! - remained largely unchanged, despite the best efforts of people such as Olden. 63
Richard Cox schrieb 1941 in Die Zeitung unter der Überschrift Oldens Vermächtnis: „Damals im Jahre 1931 sah Olden bereits das rote Licht. Wie oft warnte er uns ob des drohenden Sturms, wie oft ermahnte er uns in jenen Tagen, daß nur durch harten Kampf dem Nazitum der Garaus gemacht werden könnte!“ Diese Einsicht kam reichlich spät, nicht nur was den Frieden in Europa betraf, sondern auch mit Blick auf die letzten Lebensmonate Oldens. Vergeblich waren die Bemühungen, die britischen Kriegsanstrengungen in einer aktiven Weise zu unterstützen. Während seine Frau als Luftschutzhelferin und Krankenwagenfahrerin arbeitete, versagte ihm die BBC die Mitarbeit für ihre Propagandasendungen. Pläne für eine Radiosendung unter dem Titel Deutsche sprechen nach Deutschland fanden trotz seines Engagements und der Fürsprache von Gilbert Murray keine Realisierung. Vorerst blieb er beschränkt auf den deutschen PEN, unter dessen Flagge er einige neue Initiativen unternahm. So versuchte er nochmals ein internationales Treffen von Schriftstellern zu organisieren, um gegen Tyrannei und Unterdrückung zu protestieren. Gegenüber der britischen Regierung und im Namen des Clubs verbürgte sich Olden weiter für geflüchtete Schriftsteller. Gemeinsam mit Thomas Mann kämpfte er darum, dass die USA während des Kriegs eine gewisse Zahl von Flüchtlingen aufnehmen möge. Für sich persönlich sah er in Europa auch keine Zukunft mehr. „It was the feeling of not counting, not being used when he felt he had so much to offer in the struggle against Hitler, that was finally the most hurtful blow and it runs like a leitmotif through the last few months of his life.“64 Wohl nicht zuletzt deshalb sandte Olden seine über alles geliebte Tochter mit einer Gruppe von evakuierten Kindern am 23. Juni 1940 nach Nordamerika, in die Obhut seiner ersten Ehefrau. In den USA würde es sicherer sein, als in England, wo man glaubte, die Invasion stehe kurz bevor. Zudem gedachten Ika und Rudolf bald zu folgen. Unter dieser allgemeinen Krisenstimmung begann man hastig mit der Internierung von Ausländern, die aus den feindlichen Ländern stammten. Oldens Versuch, 62 Ausführlich zu Oldens Tätigkeit als politischer Kampagnengestalter innerhalb des PEN-Clubs bzw. der American Guild: Vgl. ebd.: S. 203–205; Brinson/Malet (1987): S. 10f.; Brinson/Malet, in: Abbey et al. (1995): S. 51–53; Asmus/Eckert (2010): S. 56–63. 63 Brinson/Malet, in: Abbey et al. (1995): S. 54. Folgendes Zitat ebd., S. 55. 64 Brinson/Malet, in: Bolbecher (1995): S. 212.
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die britische Staatsangehörigkeit zu erlangen, scheiterte, weshalb er als Ausländer der Kategorie C galt. Die Schiedsstelle war von seiner Loyalität überzeugt. Kriegsbedingte Beschränkungen wurden ihm nicht auferlegt. Nur zwei Tage nach der Ausreise seiner Tochter erfolgte tatsächlich seine Inhaftierung, zuerst in Southampton, dann über Bury schließlich am 17. Juli 1940 auf der Insel Man im Hutchinsons Lager. Am Abend vor seiner Festnahme hatte er dem Manchester Guardian noch einen Brief zukommen lassen, in dem er die Praxis der Internierungslager scharf verurteilte. Darin hieße es u.a., England sei unfähig zu erkennen, wer Freund und wer Feind sei. In der Ausgabe vom 28. Juni 1940 veröffentlichte das Blatt diesen Brief. Gilbert Murray und weitere Unterstützter erreichten nach intensivem Protest am 8. August seine Freilassung. Die Zeit in Haft hatte ihn nachhaltig verändert, vor allem körperlich. Zeitgenossen beschrieben ihn danach als zusehends gealtert. Sein Gesundheitszustand war schlecht und er zeigte Symptome eines Nervenzusammenbruchs. „Ich ahne die Ursache meiner Krankheit: es ist der Ekel, wovor und wovor nicht, körperlicher und geistiger, und es scheint schwer, sich davon zu überzeugen, daß die Überwindung dieses Ekels eine ungeheuerliche Anstrengung, noch einmal ihren gerechten Lohn finden könnte.“65 Alarmiert durch jene Umstände, waren es sein Halbbruder Peter und seine erste Frau, die aktiv versuchten, Olden in die USA zu bringen. Dafür stellten sie sogar finanzielle Mittel bereit. Diese Aussicht schien ihm trotzdem wenig tröstlich, obwohl er England am 12. September 1940 gemeinsam mit Ika in Richtung der Vereinigten Staaten verließ. „Aber ich fahre schweren Herzens. Es waren gehetzte Wochen, die ich hinter mir habe, noch dazu meist in Krankheit verbracht. So habe ich, fürchte ich, nicht so viel tun können, wie ich hätte sollen.“66 Bis zuletzt glaubte oder vielmehr hoffte er noch Teil der britischen Kriegsbemühungen werden zu können. Von Überlebenden der Schiffskatastrophe, der er und seine Frau, wie eingangs erwähnt, am 17. September 1940 zum Opfer fielen, blieb überliefert: „A great many of the passengers were got away safely, though with great hardship, in boats. Olden was in bed and too ill to stand the exposure. His young wife, pressed to come to the boats and save herself, refused to leave him.“67
65 R.O. zitiert nach: Tergit, in: Brinson/Malet (1987): S. 12. 66 R.O. an Friedrich Burschell 11.9.1940, zitiert nach: Asmus/Eckert (2010): S. 74. 67 Murray, in: Olden (1946): S. 6 (Vorwort); Zu den Umständen von Oldens Internierung und versuchter Weiteremigration: Vgl. Brinson/Malet (1987): S. 11–13; Brinson/Malet, in: Bolbecher et al. (1995): S. 211–214; Asmus/Eckert (2010): S. 73–77.
8 SCHLUSSBETRACHTUNG In der Akzentuierung des Individuums über das Instrument der Biographie rückten dessen Fähigkeiten und Handlungsmotive sowie persönlichen Besonderheiten und Eigenschaften in den Mittelpunkt. Die Intellectual History als Disziplin greift im Zusammenspiel mit jener Rekonstruktion die Geschichte politischer Ideen auf, indem sie sich mit ihren Trägern und deren Umfeld befasst. Unterschiedliche Schwerpunkte sind möglich. Die intellektuell-politische Biographie fungierte als Sonde. Sie ermöglicht einen punktuellen Zugriff in die entfernte und schwer zugängliche Vergangenheit.1 Ideengeschichte beschreibt zudem ein politisches Schlachtfeld, auf dem der Kampf zwischen unterschiedlichen, ja zum Teil sich antagonistisch gegenüberstehenden, Ideen tobt. Die Kulturgeschichte ist durchzogen von Auseinandersetzungen um Wissen und Wahrnehmung. Ohne Akteure ist dieser Krieg nicht vorstellbar. Nur sie tragen die Idee in die Arena der Öffentlichkeit, führen sie somit ein und/oder verteidigen sie gegen andere Träger oder Institutionen. Das Ergebnis ist eine Ideenzirkulation, die kritisch und schöpferisch zugleich ausgeformt werden kann. Teilweise führt dies bis an den Rand der politischen Utopie. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts setzte in diesem Kontext nicht nur für den damals 15-jährigen Olden das ein, was aus heutiger Perspektive als kulturelle Doppelrevolution bezeichnet wird, die alle Lebensbereiche umfasste. Ihr voraus ging die industrielle wie politische Revolution in England und Frankreich. Sie selbst markiert die Neuordnung der Wissenschaften und den Strukturwandel der Öffentlichkeit. Verwissenschaftlichung und Demokratisierung prallten aufeinander. Individualisierung, Ökonomisierung und Pluralisierung folgten als spannungsgeladene Gesellschaftsprozesse.2 Diese Erregung der Moderne fand seine Fortsetzung in der polarisierten und militarisierten politischen Kultur der Weimarer Republik, die letztlich grundlegend für die Betrachtung der intellektuellen Biographie von Rudolf Olden gewesen ist. Sie prägte nicht nur seine Vorstellung vom Bild des Politischen im Allgemeinen, sondern formte den Pazifisten im Besonderen. Seine argumentative Grundstruktur Oldens offenbarte Anleihen bei Kants Entwurf zum Ewigen Frieden. Im zweiten Abschnitt seiner Schrift postulierte dieser drei grundlegende Definitivartikel. Der Bürger müsse in dreifacher Hinsicht einem Rechtssystem angehören. Nur so könne der Friede überhaupt erreicht werden. Der erste Artikel befasste sich mit gewissen Verfassungsprinzipien. Kant stellte fest, dass nur die Form der republikanischen Machtausübung einen friedlichen Staat ermögliche, indem er der Gewaltenteilung unterliege und so kontrollierbar wird. In Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz müssten die Bürger selbst Verantwortung für politische Entschei1 2
Vgl. Tschirschwitz, in: Noetzel/Probst (2015): S. 36–39. Vgl. Hübinger (2009): S. 47–52.
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8 Schlussbetrachtung
dungen tragen, so ebenfalls für Krieg und Frieden. Die Folge eines Krieges seien dadurch von der gesamten Gesellschaft zu schultern. Die mit dem Staatsbürgerrecht kodifizierte Eigenverantwortung verhindere am ehesten, dass es erneut zu einer kriegerischen Auseinandersetzung komme. Dieser Entwurf kommt der Form eines repräsentativen und demokratischen Rechtsstaats durchaus nahe. „Gemeint ist die liberale Demokratie, so wie wir sie heute verstehen, also eine rechtlich verfasste, parlamentarische Staatsordnung.“3 Das Staatsbürgerrecht Kants entsprach Oldens Vorstellung von einer Bürgerdemokratie, die republikanisch zu verfassen und entschieden zu verteidigen sei und so die erste Säule des Friedens bilden werde. Die Betonung und Bedeutung der Republik für die innere wie äußere Friedfertigkeit eines Staats wurde auch Olden nicht müde zu unterstreichen. Gerade die krisenhaften Herausforderungen der Weimarer Zeit würden es nötig machen, diese Funktion der Staatsform in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken. Dem war er sich bewusst, wobei ihm klar war, unter welch schwierigen Bedingungen er zu versuchen hatte, das Bürgertum für die republikanische Sache dienstbar zu machen. Deren Anerkennung war durch die Revolution nicht genüge getan. Erweitert werden müsse das Staatsbürgerrecht im zweiten Artikel durch das Völkerrecht. Wie Kant betonte Olden ebenso, dass das rechtlose Nebeneinander der Staaten bzw. die Anarchie im internationalen System in einen neuen Zustand des Rechts überführt werden müsse. Beiden ging aber die Vorstellung einer Weltrepublik bzw. wie Kant es nannte, eines Völkerstaates, zu weit. Kant sprach sich für einen Völkerbund auf multilateraler Basis aus, um die Freiheit der jeweiligen Einzelstaaten zu erhalten und zu sichern, die ein internationales Rechtssystem etablieren könnten, dem grundsätzlich in seiner friedlichen Absicht vertraut werden kann. Zwangsinstrumente zur Durchsetzung und Wahrung des Friedens, die eine Abgabe von Souveränität bedeutet hätten, lehnte er, anders als Olden, ab. Den Glauben an die unsichtbare Hand des Friedens teilte er nicht. Vielmehr müsse man bereit sein, den Frieden mit Gewalt zu schützen. Zwar bestand quasi Einigkeit darin, dass es keine Weltrepublik geben dürfe, allerdings mündete dies bei Olden aufgrund der Erfahrungen mit dem real existierenden Völkerbund in die Idee der Vereinigten Staaten von Europa. Grundsätzlich strukturierte sich die Argumentation auch bei ihm um Völker- und Staatsbürgerrecht als tragende Säulen des (ewigen) Friedens. Graduelle Unterschiede können aufgrund verschiedener zeithistorischer Kontexte nicht verwundern. Ein Weltbürgerrecht wie bei Kant war nicht das Ziel, da mit der Bereitschaft von Souveränitätsabgabe im Rahmen eines Pan-Europa die nationalstaatliche Ebene langsam in Auflösung begriffen ist, die dem Einzelnen nur im Zuge eines Besuchsrechts den Aufenthalt auf fremden Staatsgebiet gestattet hätte und ein Gastrecht ausschloss. Von einem Hospitalitätsrecht müsse Abstand genommen werden.4 In einem vereinten Europa sollen alle Teil des gesamteuropäischen Emanzipationsprozesses sein. Olden stand symbolisch für diese Vision, sei es in seinem Kampf gegen rechten Nationalismus und Militarismus sowie linken Utopismus und verfehlten Idealismus, in seiner Auseinandersetzung mit dem verkrusteten 3 4
Gerhardt (1995): S. 89. Vgl. ebd., S. 74–107.
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Justizsystem oder für eine progressivere Wert- und Moralordnung als Herausgeber von Er und Sie. So betrachtet lässt sich das geistige Dasein Oldens als Pazifist bis 1925 auch in einen größeren Deutungszusammenhang einpflegen, nämlich in den einer Beteiligung am Prozess der Kulturerneuerung. Dieser setzte nach dem Ersten Weltkrieg im Lichte gescheiterter geistesgeschichtlicher Konzeptionen ein und erfuhr in den 1920er Jahren eine virulente Beschleunigung. „Mit Etablierung der ersten Demokratie in Deutschland ergab sich in den Weimarer Jahren für das Wirken von Intellektuellen ein neuer staatlicher und gesellschaftlicher Rahmen, der vor allem eine Veränderung ihrer sozialen Situation herbeiführte.“5 Traditionelles musste unter gewandelten Bedingungen neu gedacht werden. Von besonderer Bedeutung war der Begriff der Kulturnation, da er sich zu einem entscheidenden Deutungsmuster entwickelte, um gesellschaftliche und politische Ereignisse zu beschreiben und zu interpretieren, selbst dann, wenn es durch die faktischen Geschichtsverläufe wiederholt infrage gestellt wurde. Der Diskurs operierte anfänglich mit dem Antagonismus zwischen deutscher Kultur und westlicher Zivilisation. Schon im ausgehenden 18. Jahrhundert wurde es entwickelt und ausformuliert. Gegenstand des Deutungsmusters bildete im weitesten Sinne das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Es formulierte ein Bildungsideal mit emanzipatorischem Charakter. Mittelpunkt der Kontroverse über gesellschaftliche Verhältnisse und deren Veränderung war der autonome Einzelne. „Unter Berufung auf dieses Ideal einer zweckfreien geistigen Bildung wendeten sich in der deutschen Geschichte die Intelligenz und das Bildungsbürgertum immer mehr von Politik und Ökonomie ab“ und konstruierte im Verlauf des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts das Bild der Kulturnation, als Kritik an der Moderne mit einer grundsätzlichen Distanz zu ökonomischer Vergesellschaftung und politischer Teilhabe. Es trat eine Vergeistung ein, wenn es um die Analyse gesellschaftlicher Probleme und Verhältnisse und deren Lösung ging. Phänomene des modernen Kapitalismus waren Ausdruck eines geistigen Problems, die zu bewältigen, nur in der Flucht auf alte Ideale möglich schien. Auf die Wahrnehmung und Deutung zeithistorischer Verhältnisse wirkte dies verzerrend. In der Weimarer Republik hatte dies ihren Höhepunkt erreicht. Besonders ungünstig mußte ein Zeitkommentar, der sich in den Bahnen dieses tradierten Deutungsmusters bewegte, gerade für die neu eingerichtete Republik ausfallen, da in ihr die Folgen einer schon länger forcierten ökonomischen Modernisierung mit der erstmaligen Installierung einer demokratischen Verfassung zusammentrafen.
Zwar vermochte es auf die Nachteile industrieller Modernisierung intensiv aufmerksam zu machen, aber einen konstruktiven Umgang in der Bewältigung der Krisen und Konflikte fand es nicht. Auf Veränderungen realitätsgerecht zu reagieren, war dieses Deutungsmuster nicht in der Lage. Einen nötigen Wandel in den Einstellungen erschwerte es. Dies war von Anbeginn an in ihm angelegt. „Durch die emphatische Berufung auf die emanzipative Kraft geistiger Bildung, auf Individualität, Totalität und Zweckfreiheit schmälert das Deutungsmuster den Weltbezug 5
Büssgen, in: Schlich (2000): S. 162. Die folgenden Zitate ebd., S. 226f., S. 227f. und S. 229.
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des Bildungssubjekts“ und mündete in eine charakteristische Distanz gegenüber dem Ökonomischen und Politischen. Sprachlos machte es aber keineswegs, vielmehr radikalisierte der Krisendiskurs der Weimarer Republik diese Kulturkritik. Man empfand es als sinnlos, die Verhältnisse nur zu reformieren. Neuentwürfe sollten die Strukturdefekte der Moderne radikal verändern. Der Weltkrieg hatte zur Katalysierung der modernen Grundspannung geführt und galt weniger als deren Erzeuger. Die geistige Unruhe verband sich mit politischer Polarisierung, weil der Kampf zwischen Alt und Neu, zwischen universitärer Tradition und verallgemeinerten Bildungsansprüchen, zwischen geistigem Erbe und wissenschaftlichem Aufbruch, sich mit dem Konflikt zwischen nationaler Selbstbehauptung und der Anpassung an internationale kulturelle Entwicklungen überlagerte. Man versäumte, in der Geschichte das europäische Element hervorzuheben. 6
Beispielhaft sei Ernst Robert Curtius erwähnt. Curtius Denken war seit Ende des Ersten Weltkrieges durchgängig von kulturnationalen Positionen geprägt. Die Betrachtung seines Einzelfalls verweist auf eine grundlegende Symptomatik. Im Mittelpunkt stand seine Europa-Vision. Als Konservativer war er um die Rolle und Bedeutung des deutschen Geistes besorgt. Nicht um einen wahren Ausgleich zwischen Deutschland und Frankreich war er bemüht, sondern um eine „nationale Traditionsstiftung in Kontrastierung zum Westen. Zu einer Überwindung der aus dem kulturnationalen Diskurs vertrauten Antithesen wie Kultur und Zivilisation trug er keineswegs bei.“7 Er betrieb den Versuch einer Synthese von Nationalgefühl und Kosmopolitismus. Ähnlich wie Rohan sah er Europa als geistige Lebensgemeinschaft, als organisches Gebilde. Respekt und Bewahrung nationaler Besonderheiten seien darin dialektisch aufzuheben. Sein Europa war der kulturpolitische Versuch, Deutschland aus der internationalen Isolation und Ausgrenzung nach dem Ersten Weltkrieg zu befreien, wobei im Falle eines Scheiterns allein die französische Seite die Schuld trage. Er bezeugte damit die Schwierigkeit, wie nahe sich Nationalismus und nationale Identität im Rahmen dieses Deutungsmusters kommen können und welch politische Gratwanderung ein Austarieren dieser Positionen mit sich bringe. Curtius erscheint als Vertreter der akademischen Mandarine in der Weimarer Republik, die generell von einem tiefen Bewusstsein der kulturellen Krise gezeichnet waren. Seine Positionen „verdichteten sich schließlich zu einem elitären Selbstbewusstsein, das eine lebensphilosophisch überformte Geisteswissenschaft mit intellektuellem Repräsentations- und Führungsanspruch und einer nationalpädagogischen Mission verband.“ Andererseits beweist die Biographie von Ernst Troeltsch die geschichtspolitische Möglichkeit einer Überwindung der Ideen von 1914 im Kontext der Republik. Mit Kriegsausbruch dominierte bei ihm die Nationalisierung des Kulturbegriffs. Der universalistische Grundkonsens wurde aufgelöst. Es ging um die Verteidigung deutscher Wertbegriffe.
6 7
Köster/Plumpe/Schefold/Schönhärl (2009): S. XI. Büssgen, in: Schlich (2000): S. 232. Folgendes Zitat ebd., S. 234.
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Troeltsch stellte fünf Hauptelemente der deutschen Kultur als nationale Eigenarten heraus. Als monarchisches, militärisches und streng angespanntes Arbeitsvolk seien die Deutschen von der Schule und vom Wesen der deutschen Verwaltung geprägt. Diese Elemente beruhten auf einem singulären Ordnungssinn, der sich mit strenger Disziplin und einem ausgeprägten Pflichtbewusstsein verbindet.8
All dies setzte er in Abgrenzung zur französischen Kultur: Deutsche Innerlichkeit gegen die Äußerlichkeit des Franzosen. Erstere sei romantisch, individualistisch und irrational, während zweitere rationalistisch, humanitär und zivilisatorisch sei. Was diese Dichotomie konstitutionell und gesellschaftlich bedeute, wurde nicht ausformuliert. In den Gegensatz zwischen Kant und Hegel verfiel Troeltsch nicht. Allerdings lässt der Bezug auf einen nationalisierten Kulturbegriff kaum eine andere Alternative zu, als die des monarchischen Nationalstaats. Seit 1916 unternahm er eine stärkere Revision dieses Bekenntnisses. Für seine Positionsbestimmung und ideelle Entwicklung schufen Kriegende und Revolution eine völlig neue Ausgangslage, verband er damit die Hoffnung auf ein Ende des Militarismus, dessen Übergewicht über die politische Sphäre er mitverantwortlich für den Untergang Deutschlands machte. Nun rückte die Stabilisierung der Republik in den Vordergrund. Wie könne man eine Aussöhnung des deutschen Bildungsbürgertums mit der Demokratie und ihrer Staatsform erzielen? Erfolgreich bei Troeltsch war in diesem Zusammenhang die Idee Friedrich Naumanns: Eine politische Verbindung zwischen Liberalismus und Sozialismus. Gemeinsam mit Walther Rathenau markierte er 1919 mit dem Demokratischen Volksbund den Beginn des politischen Neuanfangs unter republikanischen Vorzeichen. Darin sollten die Reformkräfte des Bürgertums und der Mehrheitssozialdemokratie gesammelt und die politischen Extreme von links und rechts abgewehrt werden. Ihr Programm setzte sich gezielt von den Ideen von 1914 ab und rekurrierte eher auf eine durch den Krieg veränderte Tektonik zwischen Staat, Gesellschaft und organisierten Interessen sowie eine institutionalisierte Garantie von sozialen Teilhaberechten. Hier ging es nicht mehr um die weltanschaulichen Antagonismen von Kultur und Zivilisation, sondern um das Grundrecht auf Arbeit und Bildung, Maßnahmen zur Vermögensbegrenzung und die Verstaatlichung einzelner Wirtschaftsbetriebe.
Troeltsch zielte auf eine geistige Erneuerung. Gleichzeitig bedarf es nicht nur der Verwirklichung formaler politischer Rechte unter Anlehnung an die demokratischen Prinzipien des Jahres 1848, sondern auch des sozialen Umbaus der Gesellschaft. Eine Formaldemokratie sei unzureichend. Vorbildhaft seien die Vereinigten Staaten. Dort sei es gelungen, eigentlich widersprechende Elemente in Form einer Synthese zusammenzubringen. Auch in Großbritannien hätte man aristokratischkonservative und demokratische Prinzipien miteinander in Einklang gebracht. Die Abschottung der deutschen Kultur gegenüber der westlichen Zivilisation muss beendet werden. Es bedarf eines transnationalen, kulturellen Deutungsmusters. Die entscheidende Frage müsse sein: Wo gäbe es Berührungspunkte zwischen partikularen Entwicklungen in der Geistesgeschichte und universellen Werten innerhalb der Kulturgeschichte Europas? Troeltsch ging es um Kultursynthese, als Antwort 8
Leonhard, in: Graf (2006): S. 216. Folgendes Zitat ebd., S. 221.
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auf die von Oswald Spengler prognostizierte Verfallsdeutung über den Untergang des Abendlandes. Aus einer Distanzierung gegenüber der westeuropäischen Aufklärung sowie englischer und französischer Ideen zwischen 1914 und 1918 wurde ein überstaatliches Ideenkonstrukt, das nach Verbindungen suchte. Die Öffnung gegenüber dem westeuropäischen Denken war das Entscheidende bei Troeltsch, um der Republik von Weimar zukünftig politische und gesellschaftliche Stabilität zu verleihen.9 Der Kampf gegen den Idealismus, der Verweis auf den Bildungsaspekt, ohne auf eine explizit deutsche Identität zu verweisen, die Verknüpfung mit westlichen Ideen von Demokratie und Gewaltenteilung zugunsten einer stabilen demokratischrepublikanischen Ordnung, die in das Postulat der Vereinigten Staaten von Europaeingebettet sein soll, offenbarten Oldens Anstrengungen einer Synthese von Kultur und Zivilisation. Sein politik-theoretischer Eklektizismus gereichte ihm in dieser ideengeschichtlichen Genese zum Vorteil, indem er einen praktikablen, kulturerneuernden Pazifismus postulierte, der auf einen geistigen Ausgleich zwischen Kultur und Zivilisation zielte. Es war die 1914 beschworene nationale Einheit von Kultur und Militarismus, die in die Katastrophe des Ersten Weltkrieges maßgeblich mit führte. Durch seine Absage an das Heldentum10 und in dem Versuch, Anleihen beim britischen Sozialismus zu suchen, zielte er auf eine Auflösung des ideologischen Feindbildes, das bis dahin das parlamentarische Regierungssystem als englische Krankheit abgelehnt hatte. Selbst wenn sein Bezug zu den Ideen von 1914 durch seine jugendliche Vorliebe für französische Literatur nicht in dem Maße ausgeprägt schien, wie dies auf andere Zeitgenossen Oldens zutraf, so kann nicht weniger betont werden, dass er nach den Erfahrungen des Krieges um eine pazifistische Dialektik bemüht war, nicht zuletzt durch seine vehemente Kritik an den überalterten Strukturen der Justiz und der Armee, die er als politische Bürde und Belastung für die Gesundung der Republik ansah. Bezieht man seinen Verweis auf die Universalität der Menschenrechte mit ein, bleibt kaum ein Zweifel darin bestehen, worum es ihm zutun war: Öffnung der deutschen Gesellschaft für westeuropäische Werte kombiniert mit der Anerkennung des universellen Wertekanons der Menschenrechtserklärung. Anregungen fand er auch auf deutschem Boden, wie das Beispiel Rathenau belegte. Nicht umsonst blieben die Vereinigten Staaten von Amerika ideelles Vorbild für eine gemeinsame europäische Identitätsstiftung. Die Auf9 Vgl. Leonhard, in: Graf (2006): S. 213–226. 10 Vgl. R.O. Abbau des Heldentums, in: Der Friede, 25.4.1919, S. 321-323. „Ja gewiß, auch heute noch, aber wie viel mehr war zur Zeit der Matura mein armer Kopf voll von Namen von Monarchen, Staatsmännern, Feldherren, Erfindern, Künstlern. Von Jedem wußte ich, was er alles getan, geleistet, vor sich gebracht hatte, wie ihn seine Zeitgenossen geehrt hatten und was ich unglücklicher Epigone ihm noch alles zu verdanken hatte. Heldentum also ist ein zweifelhaftes Glück. Es entzieht sich der Propagierung für und gegen seine Sache; denn es ist für den Helden mehr als Glück, es ist Zwang, Krampf, Schicksal unausweichliche, unvermeidbare, unverrückbare Bestimmung. Täglich dreimal Berichte heroischer Taten sind auf die Dauer keine bekömmliche Kost für den Magen unseres Geistes. Was wir brauchen sind langweilige Dinge: Menschlichkeit, Bürgerfleiß, unscheinbares, emsiges, selbstverleugnendes Bestreben zur Erzeugung von Werten. Wir stöhnen nach Alltag. Bitte, Abbau des Heldentums!“
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klärung legte u.a. in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung oder in den Bill of Rights des Staates Virginia von 1776 den Grundstein einer einheitlich empfundenen US-amerikanischen Zugehörigkeit und Identität, deren politische Attraktivität auf den Kontinent zurückstrahlte und in Form der Französischen Revolution bzw. der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte auch für Europa selbst, abermals nach den Schrecken des Weltkrieges, die kulturellen Spannungen abbauen sollte. Oldens Artikel zeugten vom Anliegen, auf die verfallsdeutende Philosophie der Kultur eine bewusste Antwort zu geben, symbolisierte sein Lebensweg die Entwicklung eines anfänglich Unpolitischen zu einem überzeugten Republikaner, Europäer und Pazifisten, für den der Krieg nur ein Fluchtpunkt aus selbstgewählter Isolation war. Parallel intendierte sein Rekurs auf die Menschenrechtserklärung das Bewusstsein für ein Rechtsverständnis, dass sich nicht nur aus neukantianischer Tradition heraus dem Rechtspositivismus verbunden fühlte, sondern im Umfeld der Politischen Justiz, um einen überpositiven Rechtsmaßstab bemüht war. Dies stand nicht im Vordergrund, doch regte z.B. E.J. Gumbel mit seinem Pazifismus und seinen Veröffentlichungen zur Realität der Rechtsauslegung ein Nachdenken über dieses Spannungsverhältnis an, welches Olden in den Berliner Jahren als praktizierenden Juristen und Anwalt in viel stärkerem Maße beschäftigte und auf das die Rechtswissenschaft mit der Radbruch’schen Formel erst nach 1945 eine überzeugende Antwort zu geben vermochte. Anders als bei Troeltsch oder Spengler blieb ein programmatisch geschlossener Gegenentwurf zum Bild der Kulturnation bzw. zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bei Olden aus. So konstruierte ersterer z.B. einen spezifischen Wirkungszusammenhang von Protestantismus und Individualismus. Ein Artikel aus dem Dezember 1920 unter der Überschrift Die geistige Revolution markierte eine klare Forderung: „Die Utopie der Gemeinschaft dürfe nicht gegen die Realität der Weimarer Gesellschaft ausgespielt werden.“11 Seine Gegner warfen Troeltsch vor, mit dem Protestantismus die Voraussetzungen für eine liberal-bürgerliche sowie utilitaristische Entwicklung zu schaffen, die sie ablehnten. So diffamierte der Kreis um Stefan George seine Positionen, was dieser wiederum als delegitimierenden Versuch gegenüber der angestrebten politischen Kultur Weimars wertete. „Die liberale, kulturprotestantische und demokratieoffene Troeltsch-Weber-Welt und die George Welt bildeten aufschlussreiche Gegenpole in der intellektuellen Streitkultur der frühen Weimarer Republik.“ Es mag als intellektuelles Defizit bewertet werden, dass der Versuch um eine zusammenhängende politische Theorie in Bezug auf den Parlamentarismus oder auf ein Modell politischer Integration (Volksstaat vs. Volksgemeinschaft) bei Olden ausblieb. Die meinungsbetonte Form des journalistischen Kommentars, die er als hauptsächliches Gestaltungsmittel wählte, erlaubte stärker die Herstellung von politischer Öffentlichkeit für einzelne Aspekte der Kulturkritik. Mit seinen Artikeln fungierte er eher als Lautsprecher für gewisse politische Ideen, die nicht unbedingt in eine theoretische Gesamtstruktur eingebettet waren. Ihm schien es primär auf die Vermittlung und Kommunikation gewisser Elemente eines neuen, demokratisch/pazifistischen Deutungsmusters anzukommen. Olden verst11 Hübinger, in: Köster/Plumpe/Schefold/Schönhärl (2009): S. 7. Folgendes Zitat ebd., S. 6.
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and es als Typus des autodidaktischen Journalisten, den Faktor der Presse als neue Form der öffentlichen Meinungsbildung im Rahmen der zu bauenden Zivilgesellschaft zu nutzen. Auch seine Befürwortung und journalistische Stärkung des Reichsbanner betonte seine zivilgesellschaftliche Anstrengung um gemäßigte Reformkräfte parteiübergreifender Provenienz zur ideellen Stabilisierung und Sicherung der Republik, da die bürgerlichen Mittelparteien in der Fragmentierung des politischen Systems langsam zerrieben wurden. Wie sollte da eine Anbindung der bürgerlichen Mitte an die Republik gelingen. Trotz theoretischer Defizite ist ihm ein gewisses intellektuelles Gespür nicht abzusprechen, das die Herausforderungen der Zeit versucht, aufzugreifen bzw. einzuordnen und der Demokratie und Republik, durch eine kritische Analyse der Missstände, eine positive transnationale Zukunft vermitteln wollte. Der Pazifismus war in seiner Beziehung zu Karpeles aber ein Moment des Zufälligen, begleitet durch die frühe jugendliche Skepsis gegenüber dem militärischen Prinzip und dem preußischen Staatsapparat. Hinzu trat die nähere und intensivere Beschäftigung mit pazifistischen Positionen aus der Enttäuschung über das Scheitern des 14-Punkte-Programms bzw. die Ineffektivität des Völkerbundes. Die Lektüre von Shaw oder die Beschäftigung mit Barbusse brachte ihn früh dazu, die pazifistische Idee mit dem Postulat der europäischen Einigung zu verknüpfen. Ohnehin spielte seine grundlegend frankophile Einstellung eine gewisse Rolle, die im Rahmen des Pazifismus auf eine deutsch-französische Aussöhnung hinarbeitete. Innenpolitisch betrachtete Olden ihn als Hüter der Republik. Da sie von neuen Formen des Nationalismus herausgefordert war, sah er im Pazifismus auch eine funktionelle Aufgabe, der die Parteien allein offensichtlich nicht gewachsen waren, weshalb es sich auf eine pazifistische Grundpostion im Rahmen einer aktiven Zivilgesellschaft festzulegen gelte. Von dem, was aus dem Nachlass von Rudolf Olden zutage gefördert wurde, bleibt weiter folgende Erkenntnis bestehen: Sein Blick auf das Politische ist vor dem Ersten Weltkrieg kaum definierbar. Spürbar ist lediglich seine Ablehnung preußischer Traditionen. Zu beweglich und freisinnig waren sein Geist und seine Gedanken. Mit dem, was man unter preußischen Tugenden in der Erziehung seiner Zeit verstand, blieb er auf innerlicher Distanz. Zweifel umwehten ihn. Einen positiven Bezugspunkt zu Preußen fand er erst später. Politisch unterschwellige Vorbildung schuf vor 1914 der Neukantianismus, der später sein Rechtsverständnis fundierte. Erst unter den Bedingungen der neuen staatlichen Ordnung war der Raum für ein Menschenbild endgültig frei geworden, das jedes Individuum als Selbstzweck ansah. Zuvor füllte die Literatur der Wiener Moderne das Vakuum, gab sie Sinnstiftung und galt als Fluchtpunkt. Für Olden persönlich stiftet sie das Gefühl des Aufbruchs, den er im Kaiserreich vermisste, obwohl die Epoche unter der Überschrift der Modernisierung stand. Der Liberalismus als fortschrittliche Kraft fiel aus, weshalb die Lebensphase vor 1914 als die Suche nach einem dritten Weg zwischen preußischem Konservatismus und angepasster Liberalität beschrieben werden kann. Ein politisch radikaler Bruch mit dem System blieb aber aus. 1918 wurde dann ein entscheidender Kontrast offenbar: Die Selbsterfahrung freischwebender Individualität schaffe zwar künstlerische Freiräume, führte aber unter den Beding-
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ungen des industrialisierten Krieges zur Selbstzerstörung. Die Janusköpfigkeit einer Kultur der Subjektivität mündete in gesellschaftlicher Entfremdung, was in der Analyse intellektueller Zeitgenossen einer Auflösung bedurfte. Erforderlich sei ein Brückenschlag zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft. Zuvor hoffte nicht nur Olden, dass der Krieg diese Brücke sein könne, die die Grundlagen des Zusammenlebens verbindend ändern würde. Ein gefühltes Defizit an Integration mündete in den Irrweg der Kriegsfreiwilligkeit, der auch Olden erlag, um das eigene Ich zu empfinden, das in der materiellen Sattheit und inneren Unwahrhaftigkeit zum politischen System zuvor verloren gegangen war. Dem eigenen Subjekt eine Bedeutung zu geben, motivierte. Mit Kriegsende war für den Journalisten Olden der Traum vom Neuen Menschen markant. Zeitgeschichtlich gilt die Suche nach ihm inzwischen als gescheitert. Seine Vorstellung wird als veraltet wahrgenommen und zudem als Irrweg betrachtet. Zu häufig glitten derartige Ideen im Laufe des 20. Jahrhunderts in radikale politische wie soziale Experimente ab. Geprägt ist diese Perspektive durch das Scheitern des Kommunismus und Faschismus. Die Idee des neuen arischen oder sowjetischen Menschen pervertierte die Gedankenfigur zu einem Disziplinierungsund Züchtungsinstrument. Eine Vorstellung vom Neuen Menschen muss aber nicht zwangsläufig in der Tyrannei totalitärer Systeme aufgehen. Die Biographie Oldens lehrt dies beispielhaft. An diese Figur können eine Vielzahl von Erwartungen herangetragen werden. Sie erschöpft sich nicht nur in radikalen Spielarten. Das Jahr 1918 forderte grundsätzlich zu einer Neuorientierung auf. „Menschenerneuerung hieß insofern, den Menschen auszurüsten für eine neue Wirklichkeit – und zwar in physischer, psychischer und existentiell-moralischer Hinsicht.“12 Demokratie und Volkssouveränität seien zu verinnerlichen. Damit trage man zur Auflösung der kollektiven Identitätskrise in den Republiken der Nachkriegszeit bei. Dieses Motiv wurde von Olden in seinen anfänglichen Beiträgen immer wieder thematisiert. Der Pazifismus als soziale Bewegung sah auch in der Erneuerung des Menschen seine Aufgabe. Die Vorstellung der Pädagogik als Schlüsselfunktion für die Entwicklung eines moralischen Gemeinwesen teilte Olden u.a. mit den Neukantianern. Ausgehend von unterschiedlichen historischen und sozialen Bedingungen nahm die Idee vom Neuen Menschen immer andere Gestalt an. Sie war Ausdruck der jeweiligen Herausforderungen, denen die Zeitgenossen begegnen mussten. Olden stand symbolisch für die „optimistische Vorstellung einer evolutionär-reformerischen Selbstvervollkommnung.“ Aus den Erfahrungen des Krieges heraus, galt es jegliche Form der Selbstreferenzialität aufzugeben. Politisierung durch Republikanisierung stand ebenso am Anfang wie der Zweifel an der demokratischen Gesinnung der Gesellschaft. Seine Frage nach individueller Verantwortung zielte nicht zuletzt auf die Notwendigkeit eines inneren bzw. geistigen Reinigungsprozesses des Neuen Menschen. Der Rahmen, in dem dies möglich werde, konnte für ihn nur die republikanische Staatsordnung sein. Sie sichere universelle Menschenrechte durch den Rechtsstaat. Der Schutz persönlicher Freiheitsrechte allein, war für Olden nicht aus12 Wierzock/Dikovic (2018): S. 2. Folgendes Zitat ebd., S. 3.
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reichend. Der Einzelne müsse bereit sein, etwas an die Gemeinschaft zurück zu geben. Diese Einsicht verlangt eine neue Form der Erziehung. Ausgehend von der Chiffre des Neuen Menschen braucht es einen Ausgleich, d.h. der Staat in seiner republikanischen Verfasstheit muss geistig von einer gesellschaftlichen Mehrheit getragen werden. Nur so kann der Parlamentarismus gestärkt und der Militarismus nachhaltig geschwächt werden. Die Lehre aus der Vorkriegszeit müsse lauten: Ergänzung individueller Freiheit durch soziale Verantwortung. Konstitutiv für seinen politischen Kommentar war die Verteidigung der Weimarer Reichsverfassung.13 Darauf baute sein grundlegender Pazifismus auf. Zukunftsorientiert diskutierte er die Frage, was aus der Republik und dem internationalen System werden könne. Warum der Vorkriegspazifismus so kläglich versagte, war weniger von Bedeutung. Das weitere Kriege nur verhindert würden, wenn es in allen Ländern Europas zu innenpolitischen Reformen komme, markierte den Ausgangspunkt seiner friedenspolitischen Überzeugung. Die Stiftung innerstaatlichen Friedens muss man mit aller Kraft vorantreiben. In diesem Sinne harrte die Revolution ihrer Vollendung. Den Aspekt des Ausgleichs zwischen den Nationen (v.a. zwischen Deutschland und Frankreich) betrachtete er als eine der politischen Hauptaufgaben. Innere und äußere Aussöhnung bilden die zwei Seiten der europäischen Friedensmedaille. Die Themen, mit denen sich Olden vor allem in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre beschäftigte, offenbarten das langsame Scheitern seiner Idee einer evolutionär-reformerischen Umerziehung. Vor allem innerhalb der Justiz und Rechtsprechung zeigte sich der Ansatz einer neuen geistigen Erziehung als Fehlschlag. Im Wechselspiel von anwaltlicher und journalistischer Praxis stellte er Öffentlichkeit für die von der Politischen Justiz Benachteiligten her. Als Anwalt verhalf er jenen zu ihrem Recht, die als (sozial) Schwache am Rande der Gesellschaft lebten. Dies war für Olden eine Frage der Gerechtigkeit. Entscheidend bleibt die Erkenntnis, dass er die analytische Präzision des Journalisten mit praktischer Rechtshilfe verknüpfte. So schuf die Aufarbeitung der Fememorde erstmals das Bewusstsein für den Charakter der Politischen Justiz von Weimar, was er als rechtsstaatliches und moralisches Versagen empfand. Kontinuierlich wies Olden darauf hin, dass der innere Friede durch die Begrenzung demokratischer Grundrechte keinesfalls sicherer werde. Nur eine wahrhaft demokratisch gesonnene Justiz könne den Teufelskreis des Revanchismus durchbrechen. Im Gegenzug werde dieser verschärft, wenn die Gerichte gezielt jene verfolgen und bestrafen, die als Aufklärer die Gesellschaft erziehen wollten. Für Olden war eine Befriedung nur durch Reformen möglich. Die Entlassung des Oberreichsanwalts Jorns markierte einen guten Anfang. Hier werde der Auf13 In der starken Befürwortung dieser, erkannte er letztlich ihre, aus heutiger Sicht betrachtet, verfassungsrechtlichen Mängel nicht, die den Gegnern der Republik als Einfallstor zu ihrer Beseitigung dienen sollten. Hinzu kam die verkannte Schwäche des deutschen Parteienstaates, wenn er beispielsweise glaubte, dass eine geeinte, liberale Partei die Krise der Demokratie einhegen und schließlich beenden könnte. Gleichzeitig erfüllte sich die Hoffnung auf ein Zusammengehen von Sozialdemokraten und Kommunisten zur Rettung des angeschlagenen Staates nicht.
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bruch zu einer moralischen Erneuerung sichtbar. Die Feststellung seiner Schuld trage die Hoffnung auf eine Demokratisierung der Justiz in sich. Pazifistische Kritik zeigte durchaus Erfolge. Dass die Reinigung mit ihm beginne, interpretierte Olden als einen Akt der Gerechtigkeit, lebe sie vom persönlichen Charakter des einzelnen Juristen, der das Recht anzuwenden habe. So gesehen, war mit der Entlassung von Jorns ein Anfang gemacht. Ohne Ansehen der Person muss der Staat weiter konsequent seine Rechtsordnung durchsetzen und Verantwortlichkeiten für Fehlentwicklungen benennen. Auf diesem Fundament könne der Staat selbst ruhen. Im Spannungsfeld zwischen journalistischer Berichterstattung und juristischer Praxis lässt sich resümieren: Olden verband systematische Justizkritik mit der pazifistischen Ablehnung der geheimen Aufrüstung durch die Reichswehr, auch wenn sie noch so sehr durch das Verhalten der Siegermächte provoziert schien. Er verteidigte die Grundidee des Pazifismus im Rahmen der verfassungsrechtlich garantierten Meinungs- und Pressefreiheit. Gleichzeitig kennzeichnete seine Position einen Mangel an praktischer Umsetzungsmöglichkeit. Es bleibt fraglich, wie der Neue Mensch konkret zu schaffen ist. Allein ein Austausch von einzelnen Personen griff schließlich zu kurz. Die Verwilderung des Rechtsbewusstseins setzte sich weiter fort. Aus heutiger Perspektive wirkt es wenig überzeugend, eine geistige Revolution ohne die Idee einer neuen Pädagogik zu propagieren, zumal unter dem Gesichtspunkt eines Gerechtigkeitspostulats, bei dem es auf den einzelnen Juristen ankam. Zentral blieb die Forderung nach Berücksichtigung sozialer Aspekte eines Beschuldigten. Das Individuum an sich, mit all seinen Stärken und Schwächen bzw. gesellschaftlich determinierten Umständen, sollte Eingang in die Rechtsprechung finden. Bei der Strafzumessung braucht es die soziale Rückkopplung des Urteils. Da dies bisher keine Rolle spielte, bedarf es einer Reform in Gestalt der Abschaffung der Todesstrafe, einer Veränderung der Strafprozessordnung und des Strafvollzuges, der an das Prinzip der Besserung und Resozialisierung glaubt, eine Laienbeteiligung sowie eine bessere Ausbildung und Besoldung von Richtern. Besonders sein Kampf gegen die Todesstrafe führte er unter dem Banner einer Humanisierung des Strafrechts, in der er zugleich den Begriff der Würde einführte, ohne ihn näher zu präzisieren. Gelänge es, die Todesstrafe abzuschaffen, wäre dies ein Etappensieg auf dem Weg zur Revolutionierung der Geister und ein Akt größerer gesellschaftlicher Gerechtigkeit. Jede Rechtsordnung müsse auf Rationalität gründen, die durch die Anwendung der Todesstrafe konterkariert wird. Sie zielt ja auf Emotionen und ein Gefühl der Rache. Humanität und Gerechtigkeit gilt es miteinander zu verknüpfen. Die optimistische Hoffnung, dass es vor allem die Jugend sein wird, die zunehmend demokratische Grundtugenden erlernt und einübt, erfüllte sich nicht. Besonders im akademischen Umfeld trat rasch Ernüchterung ein. Dort war eher eine völkische Gesinnung vorherrschend, die das Bild der künftigen Eliten in Staat und Gesellschaft dominierte. Da die Vorstellung einer Umerziehung zu scheitern begann, gäbe es nur eine Möglichkeit, den Staat vor seinen heimlichen Feinden zu schützen: Die Einführung der Gesinnungs- und Gewissensprüfung bei der Einstellung neuer Beamter. Feinde der Republik seien konsequent auszuschließen. Erst dann würden
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mehr Demokraten die Geschicke der Nation lenken. Dies hatte etwas Unversöhnliches an sich. Mit dem Ideal eines neuen geistigen Menschen hatte dies nichts mehr zu tun. Es förderte eher den Opportunismus des Einzelnen gegenüber der staatlichen Ordnung und führte stärker zu Desintegration. Ob dies den inneren Frieden in Weimar zu festigen vermochte, muss ernstlich bezweifelt werden. Vorschläge zur Rettung einer demokratischen Volksbildung waren nicht erkennbar, die Spaltung der Gesellschaft die Folge, was vor allem Pazifisten zu spüren bekamen. Sie gerieten mit ihren Konzepten gegen Ende der 1920er Jahre ins gesellschaftliche Abseits, eine Erkenntnis, die uns die Biographie Oldens lehrt. Seinen reformerischen Ansatz übertrug er ebenfalls auf eine veränderte Wehrverfassung. Es brauche ein Volksheer zur Verteidigung der Republik. Die Berufsarmee nach alter preußischer Prägung, deren Ehre, Treue und Gehorsam hieß, lehnte er ab. Ihre Strategie der Auslese missbilligte Olden. Die Demokratisierung der Reichswehr zielte auf die Beseitigung alter Standesdünkel ab; Offiziere müssen aus allen Teilen der Bevölkerung kommen. Ein klares Bekenntnis zur Wiedereinführung der Wehrpflicht vor 1933 vermied er. Oldens Haltung zur Frage der Wiederbewaffnung war hingegen eindeutig. Jede Form der Aufrüstung lehnte er ab, brüskiere man damit die internationalen Partner, allen voran Frankreich. Zugleich sah er Paris aber in der Pflicht, sein militärisches Potenzial ebenfalls abzurüsten. Oldens Forderung nach einem Wehkonsens verfolgte in erster Linie eine kontinuierliche Republikanisierung der Reichswehr. Sie darf nicht weiter volksfremd sein, weshalb er es begrüßte, dass auch die politische Linke sich mit dem Wehrproblem befasste. Ziel muss ein politisches wie militärisches Bündnis mit Frankreich sein, dass auf gleichberechtigter Basis den Vertrag von Versailles ablöst. Nur unter dem Schutz dieser Allianz könne eine weitere Abrüstung Deutschlands erfolgen. In diesem Zusammenhang rückt zugleich die Frage ins Zentrum, ob es in Zukunft überhaupt noch einer Armee bedarf. Kann diese unter den Bedingungen eines geordneten und friedlichen internationalen Systems nicht gänzlich abgeschafft werden? Zunächst betrachtete Olden die Reichswehr als einen innenpolitischen Machtfaktor zur Aufrechterhaltung und Stabilisierung der Republik. Aus diesem Blickwinkel muss die Frage nach der Abschaffung verneint werden. Ihr bedarf es als republikanischer Schutzmacht im Inneren. Zwar zeigte sich Olden in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre durchaus in Teilen optimistisch, was die Frage nach der Konsolidierung und Festigung der Republik anbelangte, doch spätestens ab 1932 warf die Möglichkeit eines neuen Krieges dunkle Schatten auf seine Hoffnungen. Eine eindeutige Klärung seiner Position in diesem Komplex ist nicht vollumfänglich. Zu vermuten steht, dass er die gänzliche Beseitigung und Abschaffung der Reichswehr eher abgelehnt hat. Es deutet nichts darauf hin, dass er bis 1933 in dieser Frage mit radikalen Pazifisten paktiert hätte. So sprach er sich nie für die Kriegsdienstverweigerung aus. Die Phase um 1932 empfand Olden als einen vorläufigen Endpunkt der deutschen Geschichte, an dem die Kräfte der Freiheit aufgerufen sind, sich endgültig durchzusetzen. Geschehe dies nicht, gingen sie in der Konfrontation mit Militarismus und Faschismus unter. Seit den Befreiungskriegen sei die politische Kultur in
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deutschen Landen durch diesen Kampf geprägt, auch wenn die Formen, in denen er sich zeigte, variierten. Dass der gemäßigte Pazifismus in diesem Zusammenhang die falschen Schwerpunkte setzte und die Freiheit im inneren der Republik nicht zu festigen vermochte, betrachtete Olden als Versagen. Desillusioniert, vor allem von der europäischen Einigungsidee, bezeichnete er sich und die anderen Pazifisten seiner Zeit als Utopisten. Gleichwohl zeigten seine Postionen stärkere Übereinstimmungen zum gemäßigten Pazifismus, v.a. in der Bedeutung der Reparationsfrage, womit Olden gänzlich konträr zur großen radikalen Strömung innerhalb der Friedensbewegung am Anfang der 1930er Jahre stand, als auch in der Frage der alleinigen deutschen Abrüstung, die er erst unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise stärker aus sozioökonomischer Sicht (Weiterführung der Reparationsleistungen, Aufrechterhaltung staatlicher Sozialleistungen) postulierte, sei es in der vermuteten Ablehnung einer Abschaffung der Reichswehr, in der Befürwortung von Schiedsgerichten oder in der Frage von Gewalt als Instrument eines Abwehrrechtes. Seine Präferenz für die Idee der Kriegsächtung und die Vorstellung vom Neuen Menschen orientierten sich grundsätzlich stärker an radikalen Pazifisten, wobei in der Frage der Abrüstung und Rüstungsbeschränkung gemäßigte und radikale Positionen miteinander verknüpft wurden. Materielle und geistige Abrüstung spiegelten an dieser Stelle den Facettenreichtum seines Friedensbegriffs, der unter dem Aspekt der Gleichheit als Schlüssel zum europäischen Frieden die Schiedsgerichtsbarkeit postulierte. Die Frage nach dem institutionellen Setting, in welchem die Form der friedlichen Konfliktaustragung letztlich stattfinden soll, blieb unbeantwortet. Vor Kritik an Gestalt und Inhalt radikal-pazifistischer Politik schreckte Olden nicht zurück, wie das Beispiel des Weltbühne-Prozesses oder der Fall Küster/Jacob exemplarisch zeigte. Gänzlich abseits irgendeiner friedenspolitischen Strömung sprach er sich gezielt gegen eine Amnestie für die Fememörder aus, die durchaus von anderen Pazifisten begrüßt wurde. Dieser Befund lässt insgesamt den Schluss einer wenig ideologisch geprägten Vorgehens- und Denkweise zu. Im Changieren zwischen gemäßigtem und radikalem Pazifismus zeigte die Analyse zunächst einen Mittelpazifismus, der pragmatisch innen- und außenpolitische Reformen zur Herstellung eines dauerhaften Friedens anmahnte, überstrahlt von einem idealistischen Zielpazifismus: (Pan-) Europäischer Einigungs- und Aussöhnungsgedanke, ein Frieden auf Basis von Gleichheit und Gerechtigkeit im internationalen System, dessen Bestreben Verständigung und kollektive Sicherheit ist. Soziale Sicherheit und Verantwortung des Staates gegenüber seinen Bürgern und eine liberale Demokratie in Form der Republik bildeten das innenpolitische Zielpendant, wobei es auf Wechselseitigkeit angelegt war. Halt und Stabilität war für Olden nicht ohne oder gar gegen eine der beiden Ebenen zu erreichen. Frieden hat nicht nur eine außenpolitische Perspektive. Die Verfasstheit im inneren der Staaten ist ebenso konstitutiv. Unter gefestigten Demokratien muss ein Ausgleich und eine Politik des Miteinanders möglich sein. Die eingangs formulierte These, dass Olden eindeutig, aufgrund seiner Herkunft beispielsweise, dem gemäßigten Pazifismus zuzuordnen ist, fand sich derart nicht bestätigt. Unter dem grundlegenden Motto Friede durch Recht konnten abweichende Akzente identifiziert werden, wenngleich der Wandlungsprozesse in zentralen Fragen marginal blieb. Sein gemäßigter Pazifismus wurde in Anbetracht
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der zunehmenden Radikalisierung der Friedensbewegung unter dem Einfluss des WLV immer deutlicher. Die Netzwerke, in denen sich Olden zu bewegen pflegte, umfassten mit Ausnahme der DLM weniger explizit (partei-) politische Organisationen. Auch wenn er in seiner Wiener Phase eng mit der österreichischen Sozialdemokratie in Kontakt stand, blieb er parteilos. Wie das Beispiel Benno Karpeles belegte, entwickelte er sich eher auf persönlicher als auf institutioneller Funktionärsebene. Nach seiner Rückkehr war es das feuilletonistische Umfeld des Berliner Großstadtjournalismus, in dem Olden rasch heimisch wurde. Die Pflege und den Aufbau seiner gesellschaftlichen Verbindungen ab Mitte der 1920er Jahre wurde maßgeblich durch die enge Freundschaft mit Theodor Wolff beeinflusst, auf dessen Empfängen und Gesellschaftsabenden sich die journalistische und intellektuell freidenkerische Hautevolee der Hauptstadt traf. Auch der Kontakt zum Verleger Ernst Rowohlt, in dessen Verlag Oldens Stresemann-Biographie erschien, führte zu zahlreichen Verbindungen mit hoch anerkannten Literaten und Schriftstellern, was nicht nur einen geschäftlichen Erfolg bedeutete, sondern ihm zugleich die Türen der sogenannten Autorenabende öffnete, die ebenfalls als rauschende Feste und Empfänge in den Verlagsräumen Eingang in die individuelle Erinnerung seiner Teilnehmer fanden. Rowohlt schätzte seinen neusten Autor auch menschlich über alle Maße.14 Seinen festen Platz in dieser Szene errang Olden nicht zuletzt durch die Gründung eines bekannten Journalistenstammtisches, den er gemeinsam mit Walter Kiaulehn unter dem Namen Anhalter Straße 4 ins Leben rief. Schnell wurde dieser zu einer festen Institution. Jeden Mittag trafen Journalisten und Schriftsteller unterschiedlichster Färbung zusammen. Ständige Teilnehmer waren, neben Olden und Kiaulehn, die Gerichtsreporterin und Schriftstellerin Gabriele Tergit, der Zionist Hans Klötzel (beide ebenfalls für das Berliner Tageblatt tätig), der deutschnationale Journalist und Schriftsteller Wilhelm Scheuermann, der Sozialist Emil Rabold, der Architekt Werner Hegemann sowie die Pazifisten Paul Dreyfus und Berthold Jacob. Das namenlose italienische Restaurant, in dem man seine Treffen abhielt, avancierte zu einem kleinen intellektuellen Gravitationszentrum, das ihm wichtiger war, als das tagespolitische Klein-Klein organisatorischer Differenzen innerhalb der Friedensbewegung, deren ideologische Radikalisierung er ohnehin skeptisch betrachtete. Hier ging man größeren Gedankensprüngen nach. In seiner Rolle als Spiritus rector brachte Olden vor allem gegen Ende der Republik die zunehmende Orientierungslosigkeit, Zukunftsangst und soziale Entwurzelung als Folgen der Weltwirtschaftskrise auf die Tagesordnung der Gruppe. Dies mündete 1932 in ein gemeinsames Buchprojekt, bei dem Olden als Herausgeber fungierte.15 Zu einer Erweiterung dieses Netzwerkes trug ab 1929 seine Arbeit für den Schutzverband Deutscher Schriftsteller bei. Als berufsständige Organisation umfasste der Verband Ende der 1920er Jahre mehr als 2500 Mitglieder und war der größte seiner Art. Nahezu alle namenhaften 14 Vgl. Salomon (1951): S. 321ff.; Kiaulehn (1967): S. 130–132. 15 Vgl. Olden (1932); Zur Rolle von Olden: Vgl. Kiaulehn (1967): S. 174ff.; Tergit (1983): S. 26ff.
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deutschen Autoren der Republik gehörten ihm an. Der Hauptvorstand agierte von Berlin aus. Ziel war der einheitliche Zusammenschluss aller Schriftsteller. Die eigentliche Aufgabe sah man im Schutz, in der Vertretung und Förderung der wirtschaftlichen, rechtlichen und geistigen Interessen seiner Mitglieder. Da progressive Journalisten, Schriftsteller und Verleger zusehends staatlicher Verfolgung und Repression ausgesetzt waren, übernahm der Verband immer mehr die Verteidigung literarischer und geistiger Freiheiten. Dies dürfte Olden bewogen haben, in den Verband einzutreten, hatte er u.a. die Politische Justiz stets kritisch betrachtet.16 Unmittelbar nach seinem Eintritt wurde er zum stellvertretenden Vorsitzenden gewählt. Einmal mehr zeugt dies von seiner Anerkennung und seinem Renommee innerhalb der künstlerisch-intellektuellen Szene Berlins. Da Arnold Zweig seine Aufgabe als Chef des Verbandes kaum mehr wahrnehmen konnte, übernahm Olden faktisch von Anfang an dessen Funktion. 1930 erfolgte erneut die Wahl in den Vorstand. In dessen Namen saß er zugleich im Kampfausschuss gegen Zensur. Schließlich gehört er mit Heinrich Mann, Ernst Toller, Egon Erwin Kisch, Alfred Döblin und anderen einem im Mai 1930 initiierten Aktionsausschuss des Verbandes an, der über die Zuteilung von Geldern zugunsten verfolgter Kollegen entschied. Damit bestand weitestgehend eine Übereinstimmung mit seiner Arbeit bei der DLM bzw. seinem Engagement als Rechtsanwalt. Zu wirkungsvollen Aktionen war der Verband aber nicht in der Lage. Daran trug weniger Olden selbst schuld, als die zunehmenden internen Streitigkeiten. Die Auseinandersetzungen entzündeten sich an der Frage, ob der Verband weiter ausschließlich eine ökonomische und juristische Vertretung seiner Mitglieder sein solle oder ob er zugleich, im Angesicht staatlicher Diffamierung, offensiv politisch auftrete. Vor allem die Berliner Gruppe zielte auf ein stärkeres Engagement hinsichtlich einer politischeren Interessenvertretung und kritisierte zugleich verbandsinterne Demokratiedefizite. Dieser Strömung folgte Ende 1930 bzw. Anfang 1931 auch Rudolf Olden.17 Es mangelte an Verbandsdemokratie. Wichtige und wichtigste Verbandsangelegenheiten wurden entschieden, ohne daß der Hauptvorstand als Ganzes ein Wort dazu sagen konnte. Auch wer regelmäßig zu den Sitzungen erschien, wußte nicht, was vorging, geplant, sogar faktisch, wenn nicht formell beschlossen war. Ich habe mir verschiedene Male im Hauptvorstand zu sagen erlaubt, daß ein großer Verband auf diese Art nicht geleitet werden könne. 18
Olden zog sich schließlich aus der Vorstandsarbeit zurück, „gerade weil ich ein eifriges Vorstandsmitglied gewesen war und kaum eine Sitzung versäumt hatte, weil ich gern gewerkschaftliche Pflichten ausübe, war mir die Sache unleidlich geworden.“ Die Haltung der Oppositionellen innerhalb der Organisation verteidigte er weiter. Ab dem Sommer 1932 trat Olden verstärkt zugunsten der Opposition innerhalb des Schutzverbandes in Erscheinung. Im August wurde er in den Vorstand der Berl16 Vgl. Kron (1976): S. 37f. 17 Vgl. R.O. Oppositionelle im Schutzverband, in: Berliner Tageblatt, 27.10.1931 M; Akademie der Künste (1966): S. 339–345. 18 R.O. Oppositionelle im Schutzverband, in: Berliner Tageblatt, 27.10.1931 M. Folgendes Zitat ebd.
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iner Ortsgruppe gewählt und kämpfte fortan gegen den Versuch des Ausschlusses der Aufrührer aus dem Gesamtverband. Zunächst gelang es ihm auch, einen Ausschlussantrag zu verhindern, da dieser sich als satzungswidrig erwies. Die geistige Freiheit innerhalb der Organisation wollte er gewahrt wissen. Dies war Olden mindestens genauso wichtig, wie der Schutz gegen Angriffe von Seiten des Staates. Künftig behinderte der Hauptvorstand die Arbeit der Ortsgruppe Berlin zusehends. Unter Mithilfe der Polizei wurde eine geplante Gedenkfeier für den Schriftsteller Emile Zola verboten. Trotz systematischer Behinderung gelang es den Berlinern um Olden in den kommenden Monaten offensiv gegen weitere Verhaftungen und Zensurmaßnahmen sowie die Machtübernahme der Nationalsozialisten Front zu machen. Inwiefern er konkret an den zahlreichen Protestaktionen Anteil hatte, konnte nicht mehr rekonstruiert werden, auch wenn zu vermuten steht, dass er als Vorstandsmitglied in die Planungen und Vorbereitungen selbstverständlich einbezogen war und ebenso an der Ausführung mitwirkte. Im April 1933 wurde Olden als einer der ersten Aktiven aus dem gleichgeschalteten Verband ausgeschlossen.19 Die hier gemachten Erfahrungen und die zahlreichen Kontakte halfen ihm jedoch ab Ende 1933 bei seiner Tätigkeit als Sekretär des Deutschen PEN-Clubs im Exil. Sein Einsatz für die oppositionellen Kräfte innerhalb des Schutzverbandes darf rückblickend nicht als Öffnung zu kommunistischen Überzeugungen verstanden werden. Eine solche Schlussfolgerung wies Olden selbst explizit zurück. Einer politischen Instrumentalisierung verfiel er nicht. Seine Grundhaltung blieb unverändert: War ich vielleicht nach außen Demokrat im Innern des Schutzverbandes Kommunist geworden? Keineswegs. Sondern ich hatte gefunden, daß die Kritik, die Egon Erwin Kisch, Kommunist oder nicht, im Hauptvorstand übte, fast immer den Nagel auf den Kopf traf. Meine und seine Beschwerden deckten sich fast stets, und es waren zugleich Beschwerden von mehreren anderen Vorstandsmitgliedern, deren politische Anschauung ebenfalls nichts mit Moskau zu tun hatten.20
Exemplarisch und in gewisser Weise zeitlich und räumlich verdichtet, zeigt sich an dieser Stelle wieder einmal die Fähigkeit Oldens, trotz Verbundenheit zu einem heterogenen Netzwerk politischer Aktivisten, die eigene freidenkerische Attitüde des pazifistischen Demokraten und Republikaner zu bewahren. So gesehen, kann es nicht verwundern, dass er in der DLM eine geistige Heimat fand, war sie durch den Monismus in ihrer Entstehung maßgeblich geprägt worden. Ideologische Prämissen hingegen blieben ihm fremd. Den (linken) Liberalen kennzeichnete ein Maß an Pluralität, an der es der Republik selbst mangelte und aufgrund dessen sie u.a. unterging. Die Rolle Oldens war jedoch keineswegs die eines Außenseiters. Vielmehr stand er im Zentrum künstlerischer und politisch-pazifistischer Bemühungen, die Demokratie zu festigen und die Republik zu schützen, auch wenn die Gruppierungen selbst, an denen er Anteil hatte, zu den gesellschaftlichen Außenseitern zu zählen sind. Gleichwohl entfaltete Olden nicht die historische Strahlkraft eines Carl von Ossietzky, Kurt Tucholsky, Siegfried Jacobsohn, Ludwig Quidde, Theodor 19 Dokumente und Verhandlungsberichte: Vgl. Akademie der Künste (1966): S. 433–455. 20 R.O. Oppositionelle im Schutzverband, in: Berliner Tageblatt, 27.10.1931 M.
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Wolff, Paul Levi oder Alfred Apfel. Doch war er zugleich ein anerkannter und hoch respektierter Bestandteil ihrer intellektuellen Zirkel in der Weltbühne oder beim Berliner Tageblatt, das „für Liberalismus, Demokratie, Geist und Modernität stand“21, ein Bild, das Olden als Redakteur ab 1926 im Wesentlichen mitprägte. Er und das Blatt verkörperten die Werte, auf denen die Republik einst aus der Taufe gehoben wurde und die beide zum Angriffspunkt der antirepublikanischen Rechten machte. Gemeinsam stand man für einen „Journalismus, der sich seiner Führungsrolle im gesamtgesellschaftlichen Kontext bewusst war.“ Nicht unerwähnt darf bleiben, dass Berlin als Reichshauptstadt aber die berühmte Ausnahme von der Regel war. Allein strukturell unterschied sie sich maßgeblich von der Provinz im Reich, in der die journalistische Landschaft weit vor 1933 durch Alfred Hugenberg gleichgeschaltet war. Auf dem Lande dominierte er den Presse- und Meinungsmarkt. Etwas vergleichbares mit demokratisch-liberaler Ausrichtung gab es nicht. In diesem Zusammenhang muss der urbane Charakter Oldens im Umfeld eines speziellen Berliner Feuilletons betont werden.22 The city went from being the seat of royal power to the centre of complex socio-economic, political and cultural transformations, which crystallized here. The capital became the focal point of the nation after 1918. While Berlin was certainly a dynamic metropolis, it was also marked by social contrasts and one viewed with suspicion by provincial enclaves. Those not belonging to the establishment or upper classes, which could avail themselves of the cultural life on offer, were preoccupied with food shortages, homelessness, low wages, crime, social disarray and uncertainty.23
Gleichwohl zur Elite des Landes gehörend, hatte Olden stets einen Blick für die sozial Schwachen der Republik. Ihnen zu ihren Rechten zu verhelfen, blieb sein Anliegen. Er machte nicht nur in seinen Artikeln auf ihr Schicksal aufmerksam, sondern unterstützte in Form praktischer Rechtshilfe. Der innere Friede, davon war er überzeugt, brauche die gesellschaftliche Solidarität im Sinne eines ausgleichenden Humanismus. Der Auf- und Ausbau einer demokratischen Institutionenordnung war zwar notwendig, aber nicht hinreichend. Es bedurfte zugleich der Chance auf soziale Teilhabe, eine Einsicht, die Olden u.a. mit Troeltsch zu teilen schien. Eingebettet war diese Form eines linken Liberalismus in einen normativen Politikbegriff, in dessen Zentrum selbst die Werte Gerechtigkeit und Gleichheit standen. Dies bedarf abschließend noch einer zusammenfassenden Einordnung und Erläuterung. Es wird die These gewagt, dass sein Bild von Liberalität an den deutschen Frühliberalismus anknüpft: Dieser war nicht nur bezogen auf den Rechts- und Verfassungsstaat. Er wurde auch sozial gedacht. Zunächst entstand er um 1815 als Reaktion auf die schwindende Hoffnung, die liberale Staatsbürgergesellschaft könne direkt aus staatlichen Reformprozessen resultieren. Das Werk der preußischen Reformen mündete nicht zwangsläufig in eine politische Liberalisierung. Ein Jahrhundert später erkannte Olden deren Relevanz für die Mo21 Schilling (2011): S. 214. Folgendes Zitat ebd., S. 228. 22 Vgl. ebd., S. 24–30. 23 Mossop (2015): S. 8f. und S. 14.
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dernisierung der Gesellschaft und machte sie zum Ausgangspunkt seines liberalen Weltbildes. Nicht ohne Grund setzte er den Ausgangspunkt der neueren deutschen Geschichte an die Befreiungskriege, die literarische Romantik eines Ernst Moritz Arndt und die preußischen Reformen seit 1807. Ungeachtet der historischen Tatsache, dass der Frühliberalismus durchaus als Gegenpol zu den nach 1815 mit politischer Reaktion verbundenen preußischen Reformern entstand, griff Olden seine Lehren auf. Dass er sich in einem gewissen Spannungsfeld bewegte, ist evident. „So gilt z.B. der Freiherr vom Stein den einen als konservativer Erneuerer gegen Aufklärung und Rationalismus, gegen die Idee von 1789 und den Wirtschaftsliberalismus, während er von anderen als der bedeutendste Fall eines ständischen Liberalismus gewürdigt wird.“24 Dieser bürokratische Liberalismus der Reformära in Preußen wurde als „ein Vermittlungsglied zwischen dem Aufgeklärten Absolutismus und dem konstitutionellen Liberalismus“ bezeichnet. Der ideengeschichtliche Rahmen Oldens in der Zwischenkriegszeit zeugte von diesen Verbindungen. Das liberale Urvertrauen auf die grundsätzliche Reformierbarkeit des Staates hatte hier ihren Ursprung, auch wenn es in der Phase der Restauration bis 1848 großen Belastungen ausgesetzt war. Oldens evolutionärer Reformismus nach 1918 gründet nicht zuletzt auf einem liberalen Staatsvertrauen aus jener Zeit. Zugleich wurde das Bild einer Staatsbürgergesellschaft vorausgedacht, die es unter den Bedingungen der Republik von Weimar zu vollenden gelte. Zugleich gab es eine Differenz mit den Zielen der liberalen Verfassungsbewegung. Für die Reformer stand der handlungsfähige Staat im Vordergrund. Es ging weniger um die Beteiligung der Bürger. Die Verfassungsbewegung dagegen zielte stärker auf eine Verfassung, die Mitwirkungsrechte verbürgte. Durch die Novemberrevolution 1918 waren sie formal erreicht worden. Das Prinzip der preußischen Reformer war allerdings auf den Kopf gestellt. Ihre politische Leitlinie lautet damals erst reformieren, dann repräsentieren, sprich gesellschaftliche Reformen müssten der Verfassung vorausgehen. Hier sah Olden Nachholbedarf, war die demokratische Konstitution von Weimar letztlich ein Ergebnis außenpolitischen Drucks mit Blick auf die Beendigung des Krieges. Aus dieser Perspektive und unter Verweis auf die preußische Reformtradition zu Beginn des 19. Jahrhunderts werden seine Bemühungen um gesellschaftspolitische Erziehungs- und Transformationsprozesse in der Justiz, im Militär und an den Universitäten verständlicher. Verfassungsrechtlich geschützte Mitwirkung und Einzelreformen müssen miteinander verbunden sein und bleiben, vor allem mit Blick auf die Grundüberzeugung des Liberalismus, der Selbstermächtigung des Einzelnen. Die Notwendigkeit dieses Links geriet durch die politische Entwicklung eines nationalen bzw. nationalistischen Liberalismusverständnisses nach 1848/49 und erst recht mit der Reichsgründung in Vergessenheit. Nicht nur mit Olden begann eine langsame Wiederentdeckung. Das politische Leitbild, welches er z.T. mit den Frühliberalen zu teilen pflegte, war die liberale Rechtsstaatsidee, die „auf einen politischen Wandel unter Wahrung des historisch Gewordenen zielte, nicht auf revolutionären Bruch – eine Art von innerpolitischem Pazifismus.“ Zu den weiteren 24 Langewiesche (1988): S. 15. Folgendes Zitat ebd., S. 20f.
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Anliegen gehörte die Pressefreiheit, das Recht der freien Vereinigungen und gleiches Wahlrecht für Männer und Frauen, Kernbereiche also, die sein journalistisches Engagement nachhaltig prägten. Das liberale Plädoyer für öffentliches und mündliches Gerichtsverfahren und für Schwurgerichte waren in Oldens juristischem Kampf elementare Prämissen, die er mit der frühen liberalen Bewegung teilte, wenngleich natürlich unter einem anderen zeitgenössischen Kontext. Nicht zuletzt in seiner Gestalt fanden die beiden frühliberalen Vorstellungen von einer bürgerlichen Gesellschaft an gewissen Stellen ihren Ausgleich. Stand die eine Konzeption für die Entwicklung einer rechtlich wie politisch egalitären Staatsbürgergesellschaft, die sozial ständisch gebunden war, verkörperte die andere die moderne Wirtschaftsgesellschaft, frei von derartigen Bindungen. Das letztere lehnten die Frühliberalen ab, hatten sie den englischen Manchester-Kapitalismus vor Augen. Sozialreformerische Ansätze als integratives Korrektiv sollten sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchsetzen und später von Olden aufgegriffen werden. „1873 kulminierten diese Bestrebungen in der Organisation des Vereins für Socialpolitik. Eine Gruppe von Kathedersozialisten, die den Namen Sozialisten kaum verdienten, wurde führend und zu einer interessanten Parallele zur Fabian Society in Großbritannien.“25 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass es ausgerechnet der Großonkel Rudolf Oldens, der Nationalökonom Heinrich Bernhard Oppenheim war, der gegen diese Strömung als Nationalliberaler einst verbal polemisierte, während sein Nachfahre sich in deren ideeller, 'sozialliberaler' Tradition sah. Von diesem Fundament aus wollte Olden das Ideal der, v.a. sozial und wirtschaftlich gesehen, frühliberalen, rein mittelständisch gedachten Bürgergesellschaft zugunsten einer umfassend sozial gerechten Staatsbürger- und Industriegesellschaft überwinden. „Eine auf Vernunft gegründete, Willkür und Privilegien ausschließende Gesellschaft freier Individuen werde aus sich heraus die materielle Ungleichheit so weit begrenzen, daß die Freiheit des einzelnen nicht gefährdet ist“26, so die Überzeugung von Carl Theodor Welcker und anderen Liberalen des Vormärz. Damit glaubte man zum einen die alte, ständisch-feudale und zum anderen die industriekapitalistische Gesellschaft kritisieren und beseitigen zu können. Wie für den Pazifismus in der Zeit des Ersten Weltkrieges grundsätzlich typisch, zeugte auch Oldens Liberalismus-Begriff nach 1918 vom verstärkten Einsickern sozialdemokratischer Elemente, selbst wenn er unter Bezug auf den Frühliberalismus, der keineswegs sozialpolitisch gänzlich blind war, ausging. Eine Verbesserung der Bildungseinrichtungen vor allem für die unteren Schichten wurde ebenso postuliert wie eine aktive Sozialpolitik. Die Bedeutung, die Olden der Bildung einräumte, wurde hinlänglich dargestellt. Auch zu diesem Aspekt kann ein historisches Vorbild ausgemacht werden, Karl von Rotteck. Dieser „hat die Entwicklung zu einem positivistischen Staatsrecht ohne normative Dimension nicht mitgemacht. Bei ihm stand die gerechte Ordnung des Gemeinwesens noch im
25 Beyme (2002): S. 189. 26 Welcker, in: Langewiesche (1988): S. 31.
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Zentrum der Erörterung.“27 Das Individuum dürfe von Seiten des Staates nicht zu seinem vermeintlichen Glück gezwungen werden – „mit diesem Kredo blieb er Kantianer.“ Jenes Motiv kam in Oldens Idealismus-Kritik wieder zum Vorschein. Der Kategorische Imperativ blieb unumstrittene Handlungsmaxime, letztlich auch in der Abgrenzung zu utilitaristischen Konzepten. Die philosophisch begründete Ansicht, den Menschen als Selbstzweck zu definieren, fand rechtlich ihre Entsprechung in der Betonung der universellen Menschenrechte als staatlich vorkonstitutionelle Handlungsrichtlinien. Hat seine sozialreformerische Attitüde einen angelsächsischen Einschlag, so zeigt sich an dieser Stelle zum wiederholten Male seine frankophile Neigung, die früh ihren Ausdruck in der intensiven Balzac-Lektüre und damit in der Beschäftigung mit der Französischen Revolution als historischem Ereignis fand. Die entscheidendste Weiterentwicklung, die die Grundhaltung Oldens ausmachte, war die Befürwortung einer Republik als Form des menschlichen Zusammenlebens und nicht mehr die konstitutionelle Monarchie. Darin unterschieden sich seit den 1830er Jahren Demokraten, sprich Republikaner und Liberale. Besonders in den Debatten des Vorparlaments im Frühjahr 1848 wurde diese Spaltung sichtbar. Allein das Wort Republik löste eine Vision des Schreckens vor revolutionärem Chaos aus. Mit dieser Staatsform verband man in weiten Kreisen des eigentlich demokratisch gesonnenen Bürgertums eine soziale Revolution des Pöbels, standen dann nicht mehr Reformen im Fokus, sondern der Umsturz der ganzen Gesellschaft. Als negatives Beispiel sah man auf die Pariser Februarrevolution. Von diesem Odium wollte Olden die Metapher der Republik gleichsam versöhnlich befreien, war er selbst Sinnbild für den Ausgleich zwischen Demokraten und Liberalen am Ausgang des Ersten Weltkrieges. Es galt das Fortschrittliche des Frühliberalismus zu konservieren und die restaurativen Elemente zu eliminieren. Schon Rotteck hatte den Begriff der Republik von Kant übernommen und ihn definiert als „Herrschaft des allgemeinen Willens in repräsentativer Form, unter Wahrung der Gewaltenteilung“. Olden stand in doppelter Weise auf den Schultern Kants, nicht nur was den Begriff vom (ewigen) Frieden angeht, der argumentative Grundstrukturen übernahm, sondern auch in Bezug auf den Begriff der Republik bzw. des Rechtsstaates selbst. Republikanismus war für Kant keine traditionelle Bürgertugend, da er nicht die Haltung der Bürger eines bestimmten Gemeinwesens darstellte. Vielmehr betrachtete er ihn als eine allgemeine Einstellung, die Gültigkeit für alle Menschen besitzen sollte. Es sei „nämlich das Ergebnis des Vernunftgebots, das zur Republikanisierung verpflichtet – und zwar auf nationaler und auf internationaler Ebene“28, ein Bild, welches in der Rückschau auf das Leben und Wirken Oldens durchaus prägend ist, nicht nur in der Unterscheidung eines innen- und außenpolitischen Friedens, sondern vor allem hinsichtlich der grundsätzlichen Friedensfähigkeit zwischen gefestigten republikanischen Demokratien und seiner permanenten Republikanisierungsforderung gegenüber den Eliten in Justiz und Militär. Bürgertugenden 27 Beyme (2002): S. 184. Die folgenden Zitate ebd., S. 185. 28 Pinzani (2009): S. 302. Die folgenden Zitate ebd., S. 303f.
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bestimmten demgegenüber das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Staat auf rein nationaler Ebene. Kant nahm eine Reduzierung auf einen allgemeinen Rechtssinn vor. Der gute Bürger achtet das Gesetzt aus Moralitätsgründen. „Die republikanische Denkungsart übersteigt diese Haltung: Sie fordert eine, die gleichzeitig patriotisch und kosmopolitisch ist.“ Utilitaristische Ideen werden verworfen. Der Staat sei nicht dafür da, dass der einzelne Staatsbürger glücklich werde. Vielmehr müsse er die Bedingung für die Weiterentwicklung menschlicher Autonomie schaffen. Die moralische Vervollkommnung des Individuums werde allein durch die Tatsache gesteigert, dass man in einer rechtlichen Ordnung lebt, so die Grundidee. Hier lerne man pflichtgemäßes Handeln. Aus Pflicht zu Handeln bedeutet dies jedoch nicht. Zunächst müsse erst das Einüben von bestimmten Handlungsgewohnheiten erfolgen, indem das Recht uns dazu quasi zwingt. Egoismen würden dadurch eingehegt, gleichsam gezähmt. Ausreichend sei dies aber nicht: „Erziehung, Religion und sogar Kunst und Wissenschaften spielen bei der Moralisierung der Individuen eine wichtige Rolle.“ Moralität könne ohne diese (staatlichen) Institutionen in Bezug auf den Einzelnen kaum konkret entwickelt werden. Rechtliche Ordnung fördert individuelle Moral, sie fordert sie aber nicht. Gute Institutionen wären imstande, egoistische Triebe zu kanalisieren. Sie bräuchten den guten Bürger nicht. Die Errichtung derartiger Institutionen verlange den persönlichen Einsatz, zunächst von Seiten der Herrschenden, dann von Gelehrten und letztlich von allen. Die Regierenden sollen durch Reformen zur Republikanisierung der Verfassung der von ihnen regierten Gemeinschaft beitragen. Die Gelehrten sollen ihnen dabei durch ihre aufklärende, kritische Haltung helfen. Die einfachen Staatsbürger sollen schließlich eine republikanische Denkungsart annehmen, welche die Reformarbeit ihrer Regierenden erleichtert oder sogar erzwingt.
Kritische Aufmerksamkeit für das, was die Republikansierung der Gemeinschaft verhindern könnte – Institutionen, rechtliche Normen, politische Entscheidungen usw. – sei die wichtigste politische Tugend des Staatsbürgers. Zur Formulierung kritischer Einwände sah Kant wiederum nur den Gelehrten prädestiniert, eine Haltung, die wir bei Olden in der Phase der Novemberrevolution vorfanden, die aber im Laufe der 1920er Jahre zunehmend in den Hintergrund trat. Sein Wille zur (zivilgesellschaftlichen) Kritik gegenüber den Herrschenden und das anhaltende Postulat der Republikansierung der Gesellschaft sind geblieben. Mit Kant lässt sich Oldens Wirken als den Versuch interpretieren, die menschliche Freiheit im Staat weiterzuentwickeln, indem er im Rahmen des Republikanisierungsgedankens für weitgehende soziale wie politische Reformen eintrat. Evolutionärer Reformismus findet in Form der Republik eine moralische Komponente, war es womöglich das, wonach Olden (politisch) suchte, um der Selbstbezogenheit der Vorkriegsjahre zu entkommen, die auch ihn persönlich in das Verderben der Schützengräben trieb und nach 1918 dem Pazifismus öffnete. Freiheit und Moral ergänzten schließlich seinen normativen Politikbegriff von Gerechtigkeit und Gleichheit. Darin manifestierte sich der Versuch, unterschiedliche Rechtsauffassung zu verbinden. Recht umschließt alle Normen und Gesetzte, die die Beziehungen zwischen den einzelnen Individuen regelt, zugleich aber auch zwischen dem Staat als Autorität
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und dem einzelnen Bürger. Das staatliche Rechtsmonopol positivistischer Prägung stand nie in Frage. Nach seiner Überzeugung könne nur er Recht setzen. Allerdings sind nicht alle festgesetzten Normen zugleich automatisch Recht, würde dies die Gefahr der Despotie, der Willkür und Unterdrückung zur Folge haben. Die Geschichte sei voll mit derartigen Beispielen. Diese Unterscheidung (Staat vs. Barbarei) hatte Olden, unter Anlehnung an Kant, am deutlichsten in seiner Hitler-Biographie formuliert. Recht gelte es zudem inhaltlich zu definieren und materiell zu füllen. Es müsse sich an fundamentalen Prinzipien orientieren und zwar unabhängig von staatlicher Setzung. Olden benannte vor allem Gerechtigkeit und Gleichheit als Inbegriffe einer „abendländischen, christlichen Zivilisation“29, die ausgehend vom antiken Naturrecht ihren Eingang in die Menschen- und Bürgerechte fanden. Nur wenn jene überstaatlichen Prinzipien eingehalten sind, stellten sie für ihn Recht dar, und nur Staaten, die solche Gesetze und Normen festsetzten, waren in seinen Augen Rechtsstaaten. Definiert man das Recht so, habe es nur eine Aufgabe: Den Schutz des Schwächeren. Sein ganzes juristisches Engagement stand unter dieser Maxime und markierte sein grundlegendes politisches Selbstverständnis. Schutz des Bürgers vor überzogenen Machtansprüchen des Staates blieb sein Antrieb. Das vom Recht her bestimmte Gleichgewicht zwischen dem Individuum und der staatlichen Autorität war vor allem zu Zeiten der Weimarer Republik aus den Fugen geraten, zumal im Bereich der Politischen Justiz und dem staatlichen Verfolgungsdruck gegenüber dem Pazifismus. Zu mächtig erschienen Olden die Machtmittel des Staates in Bezug auf den Eingriff in die individuellen Grundfreiheiten. Dass, was über Oldens Affinität zur Gerechtigkeit verfasst wurde, soll hier abschließend ausdrücklich bestätigt werden. Die Erkenntnis der Notwendigkeit eines überpositiven Rechtsmaßstabs rührte zusätzlich aus der Erfahrung nach 1933, wie der Fall Hans Litte exemplarisch zeigte. Oldens „Wille zur Gerechtigkeit“30 blieb den Zeitgenossen, die mit ihm in der DLM zusammenarbeiteten, nicht verborgen. Seine Biographie unterstreicht die moralische Bedeutung des Begriffs. Bis heute richtet die globale Zivilisation ihre Rechtsdiskurse an der Gerechtigkeit aus. Gemäß dem Grundgedanken der Unparteilichkeit und Wechselseitigkeit ist der Gegenstand der Gerechtigkeit, das Zusammenleben, so zu gestalten, daß dessen Vor- und Nachteile sich nicht auf verschiedene Gruppen verteilen. Sie darf nicht bloß der Gesellschaft als Kollektiv, sie muß auch jedem einzelnen zugute kommen31,
ist es genau das, was Olden in dieser Arbeit mit dem Narrativ des Ausgleichs zugeschrieben wird, nicht nur innerstaatlich, sondern auch auf der Ebene der internationalen Politik mit Blick auf einen pazifizierten Kontinent. Zwei Begriffe von Gerechtigkeit wurden sichtbar, ein institutionell/objektives und ein personell/subjektives Verständnis, „denn ein gewisses Maß an Gerechtigkeit sowohl auf Seiten der Bürger als auch ihrer Amtsträger gehört zu den Funktionsbedingungen der rechtsstaatlichen Demokratie“, eine Erkenntnis, die wir an der Biographie von Rudolf Olden exemplarisch festmachen können. Vor allem mit Bl29 Olden, in: Litten (1940): S.16. 30 Grossmann (1963): S. 345. 31 Höffe (2010): S. 30. Folgendes Zitat ebd., S. 31.
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ick auf den Aufgabenbereich des Richters wurde eine personale Gerechtigkeit für unabdingbar erachtet. Andererseits braucht es allerdings den bürgerlichen Ungehorsam, der sich unter dem Verdikt personaler Gerechtigkeit empört und protestiert. Nur so kann das Abgleiten der Rechtsordnung in ein staatlich legitimiertes Unrecht verhindert werden. Wie das Beispiel Olden zeigte, ist eines von besonderer Bedeutung: Der Einsatz gegen jegliche Form der Ungerechtigkeit, auch dann, wenn sie weder einen selbst noch die eigene Gruppierung direkt betrifft. Die eigene Gerechtigkeit wird so Teil der moralischen Integrität des Einzelnen.32 Dies korrelierte mit Oldens Vorstellung vom Neuen Menschen. Letztlich weist er uns ideengeschichtlich einen anderen interpretatorischen Blick auf die Zeit der (politischen) Romantik zu Beginn 19. Jahrhunderts, der hier nur angedeutet werden soll. Bei ihm fand sie, z.B. in Gestalt von Ernst Moritz Arndt, eine positive Konnotation für die Herausforderungen seiner Zeit. In der Politik- und Geschichtswissenschaft stellt die Romantik eine konservative sogar teilweise reaktionäre Bewegung dar. Ihr Modernisierungspotenzial hat bisher nur die Germanistik herausgestellt. Hans-Ulrich Wehler33, Thomas Nipperdey34 und Heinrich August Winkler35 zeugen mit ihrer Forschung von einer negativen Wendung. Die Betonung von Reich, Nation, Volk, Sprache und Geschichte im Unterschied zu Verfassung, Recht, Gesetz, politischer Partizipation und Staatsbürgergemeinschaft lassen die politische Romantik leicht als nicht zur westlichen Zivilgesellschaft und deren Werte- und Tugendkanon gehörende Bewegung erscheinen.36
In den Artikeln Oldens deutet sich jedoch an, dass genau dieser Gegensatz, zumindest in seiner Wahrnehmung, nicht zwangsläufig bestehen muss, sondern, im Sinne des viel bemühten Begriffs des Ausgleichs, ein Einklang zwischen Kulturnation und Zivilisation erreichbar ist. Das Verdikt, welches gegen die Romantik nach 1945 (unter Bezug auf den deutschen Sonderweg) ins Feld geführt wird, geht maßgeblich auf Friedrich Meinecke37 zurück. Er war es, der 1907 eine spezifische Auslegung des deutschen Nationalismus transportierte. Vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges setzte er die Idee in die Welt, die Romantik sei eine positive deutsche Bewegung gegen die aufklärerischen Ideen der Französischen Revolution und den Rationalismus westlicher Zivilisation; Von Stein sei der Ausgangs-, Bismarck der Endpunkt. Georg von Below spitzte diese Idee 1916 weiter zu38, wenngleich er über das ästhetische auch die politische Dimension erfasste. Man dürfe sie nicht ausschließlich als Negation der Aufklärung begreifen. In diesen Diskurszusammenhang gehören letztlich die Betrachtungen von Thomas Mann. Damit war eine positive Rezeption der Romantik im Sinne des deutschen Sonderwegs gelegt. 32 33 34 35 36 37 38
Vgl. ebd., S. 26–33. Exemplarisch: Vgl. Wehler (1989): S. 446. Exemplarisch: Vgl. Nipperdey (1983): S. 317f. Exemplarisch: Winkler (2000): S. 78. Ries (2012): S. 10. Die folgenden Zitate ebd., S. 19f. Vgl. Meinecke (1919). Vgl. Below (1916): S. 8ff.
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Nach Ende des Ersten Weltkrieges trat die harsche Kritik eines Carl Schmitt hinzu, der ihr politische Unzuverlässigkeit und Egozentrismus vorwarf, betreibe sie eine Ästhetisierung der Gegenwart, was er ablehnte.39 Diese Beliebigkeit im Denken spreche ihr die Verwandtschaft zum Konservatismus ab; sie sei im Grunde gänzlich unpolitisch. Wie der Liberalismus hätten sie sich als unfähig erwiesen, aktiv Politik zu gestalten. Es war Georg Lukács, der dies später aufgriff und einen „Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler“ zeichnete.40 Angesichts einer derartigen Rezeptionsgeschichte, die auf verschlungenen Wegen immer wieder zu einem gemeinsam Punkt gelangt, erscheint es versteh- und erklärbar, dass die deutsche Historie nach 1945 die politische Romantik entweder stiefmütterlich behandelte oder negativ im Sinne einer rückwärtsgewandten, reaktionären, ja antimodernen Bewegung interpretierte.
Dies stellt jedoch eine Verkürzung der Wahrnehmung dar. Ihr Bild müsse von dieser Einseitigkeit befreit werden, sei sie doch „vielschichtiger und heterogener“ und nicht „auf eine politische Richtung“ festzulegen. Es gelte, sie als ein politisch-soziales Phänomen zu fassen. Der Blick der Forschung müsse stärker auf ihr reformerisches Potenzial gerichtet werden. In der Art und Weise, wie Olden diese Phase der deutschen Geschichte in seine Ideenwelt einbettete, legt die Vermutung nahe, welch Relevanz ein Neuausloten der politischen Romantik weiter in sich tragen könnte: Ein Liberalismus, wie er hier in dieser Arbeit durch die Figur Olden gezeichnet wird, hat seine Wurzeln auch in dieser, zumeist ästhetisch verstandenen Bewegung des frühen 19. Jahrhunderts. Mit diesem Verständnis setzte Olden zugleich einen Kontrast zu Carl Schmitt, ohne dies explizit beabsichtigt oder theoretisch diskutiert zu haben. Dies soll nicht den Umstand negieren, dass die Romantik in Teilen auch reaktionär war. Ihre Widersprüchlichkeit bleibt ein markantes Merkmal, wie nicht zuletzt die Gestalt von Ernst Moritz Arndt belegt, den die einen als Demokraten verehren, die anderen als Nationalisten und Antisemiten sehen, der in gewisser Weise die rassisch-völkische Ideologie des Nationalsozialismus vorwegnahm.41 Die Biographie Oldens lässt zumindest in Ansätzen erkennen, dass eine neue Beurteilung der Romantik als politischer Bewegung durchaus lohnend sein kann, ohne ihre dunkle Seite zu verkennen oder relativieren zu wollen. Damit wird letztlich nicht beabsichtigt, Rudolf Olden theoriegeschichtlich mit romantischen Traditionen zu verwurzeln. Gleichwohl spielten sie in der Genese seines politischen Kommentars eine wichtige Rolle, wenn er Bezug auf die Befreiungskriege und die preußischen Reformer im Allgemeinen sowie auf Ernst Moritz Arndt im Speziellen nahm. Von Bedeutung ist dies allerdings mehr für die weitere Erforschung der politischen Romantik selbst. Es erscheint dennoch von Relevanz, auf dieses Gedankenspiel hinzuweisen, das die Biographie Oldens freilich nur anzudeuten vermag.42 Geht man der Frage nach, ob Olden letztlich als Intellektueller zu verstehen ist, sollte zunächst sein (journalistisches) Selbstbild in den Mittelpunkt rücken. Grund-
39 40 41 42
Vgl. Carl Schmitt (1919). Vgl. Lukaćs (1984). Vgl. Staas (2010). Vgl. Ries (2012): S. 9–21.
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sätzlich bleibt es aber fraglich, inwiefern Journalisten überhaupt als Intellektuelle zu begreifen sind. Oldens Rolle als stellvertretender Chefredakteur des Berliner Tageblatt mündete auch in eine Auseinandersetzung mit der Frage nach der gesellschaftlichen Aufgabe und Funktion des Journalismus schlechthin, seinen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen. Seit den Wiener Jahren hatte sich seine Einstellung zu diesem Beruf aber gewandelt. Anfangs ergriff er ihn nur widerwillig und stand ihm zurückhaltend gegenüber, schien das berufliche Leben als Journalist lediglich eine Übergangsstation zu sein. Mit der Rückkehr nach Deutschland identifizierte er sich immer mehr mit dem Berufsbild und unternahm den Versuch, dessen allgemeine Probleme zu analysieren. Dies fand in einer Reihe von Beiträgen ihren Niederschlag. Sie geben Auskunft über sein eigenes berufliches Selbstverständnis. Die Rolle des Journalisten, davon war Olden überzeugt, müsse in der Demokratie eine Schlüsselfunktion haben. Seine Aufgabe läge in der Vermittlung zwischen der Öffentlichkeit und den Macht- und Entscheidungsträgern auf Seiten des Staates. Entscheidend sei, dass er uneingeschränkt auf Seiten der Öffentlichkeit stehen müsse. Er sei ihr Vertreter und Anwalt. Darin liege seine „öffentliche Funktion“.43 Der Grundsatz lautete für Olden daher „Dienst an der Öffentlichkeit“. Der Journalist müsse über die Handlungen der Staatslenker informieren, d.h. für ein „öffentliches Bewußtsein“44 über Ereignisse, Entwicklungen und Entscheidungen sorgen, die der breiten Masse sonst entzogen würden. Darin läge die Voraussetzung für die Machtkontrolle der Entscheidungsträger. Nur auf dieser Grundlage könne ein demokratisches Miteinander gelingen. Diese Form der Kontrolle übe der Journalist aus, indem er die Reaktionen der Öffentlichkeit auf politische Entscheidungen thematisiert, ihr Raum für Protest einräumt bzw. diesen artikuliert. Der Journalist habe eine Vermittlungs-, Informations- und Kontrollfunktion. Das Gebot der Aktualität ist für die tägliche Arbeit bestimmend. „Ich bin der Sklave, nicht der Herr meines Stoffes.“45 Dies sei problematisch, letztlich gefährlich, zumal unter der hohen Verantwortung, die ihm und seinem Berufsstand zukomme. „Von ihm hängt ab: Hausse oder Baisse auf der Börse, das Vertrauen der Welt zu einer Regierung, der Sturz eines Ministeriums, ja – furchtbare, schreckenbergende Möglichkeit – Frieden oder Krieg.“46 Von daher habe neben der Aktualität die Authentizität eine enorme Wichtigkeit für die journalistische Arbeit. „Zur Schnelligkeit gehört die Wahrheit, ohne die sie wertlos ist.“ Damit war das Anforderungsprofil beschrieben, welches Olden nicht zuletzt an seine eigene Arbeit stellte. Um es erfüllen zu können, bedarf es im redaktionellen Umfeld gewisser Voraussetzungen, technischer, organisatorischer und personeller Art sowie einer Reihe charakterlicher und handwerklicher Fähigkeiten, denen er oberste Priorität einräumte. Umfangreiche Sachkenntnisse auf jenem Gebiet, dass er zu bearbeiten sucht, müsse die Grundlage bilden. Dies sei ein Wert an sich. Der Journalist bedarf 43 44 45 46
R.O. So darf man sich nicht wehren, in: Deutsche Presse, 24.5.1929. Folgendes Zitat ebd. R.O. Rechtseinheit unentbehrlich, in: Deutsche Presse, 2.6.1927. R.O. Wie ich schreibe, in: Deutsche Presse, 4.6.1928. R.O. Aktualität und Authentizität, in: Deutsche Presse, 4.6.1928. Die folgenden Zitate ebd.
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„einer völligen Übersicht von historischer Fundierung“. Erst dann sei ein sicheres Urteilsvermögen in seinem Streben nach unbedingter Objektivität zu erwarten. Informationen und Ereignisse werden nach ihrer Relevanz und Richtigkeit ausgewählt, bearbeitet und bewertet. Persönliche Sympathien dürften keine Rolle spielen, wenngleich Olden das persönliche Element nicht negierte, im Gegenteil. Seiner Meinung nach bestimme es aber zu sehr das journalistische Handeln. Die Beiträge müssten sich in ihren Formulierungen auf das Wesentliche konzentrieren. Darüber hinaus sei Journalismus eine „Begabungssache“47. Eine akademische Ausbildung von Medienschaffenden lehnte er zwar nicht grundlegend ab, für die Praxis bezweifelte er jedoch ihren Nutzen. „Vorbildung ist die Forderung des Tages. Gut und schön und richtig. Aber auch ein Doktor aller Fakultäten kann unfähig zu unserer Arbeit sein. Es gibt eben ein spezifisches Talent des Journalisten. Und das ist das Wichtigste.“ Als Maßstab proklamierte er diese Grundsätze auch für sich. Welch Talent er selbst mitbrachte, wurde nicht zuletzt durch diese Biographie offenbar, hatte es Olden vom journalistischen Autodidakt, der diesen Beruf unfreiwillig aufnahm und als ungeeignet für seinen Charakter empfand, zu einem der führenden Repräsentanten der liberalen Hauptstadtpresse gebracht. Womöglich sah er sich in diesen Zuschreibungen selbst als Prototyp des gebildeten, veranlagten und dennoch ungebundenen Journalisten, der ausschließlich der Wahrheit verpflichtet schien. Legt man an die Frage nach der Intellektualität den wertneutralen Maßstab von Collini an, kann Olden in seiner Rolle als Journalist nur schwerlich die Bezeichnung Intellektueller zugeschrieben werden, da diese Begriffsdefinition nicht an „inhaltliche Positionen, gesellschaftliche Funktionen oder Tugenden geknüpft ist“48. Die eingangs dieser Arbeit dargelegten Kriterien sind lediglich formaler Natur und fassen den Intellektuellen als Akteur in einer „bestimmten sozialen Rolle“. Letztlich entzieht sich die Biografie Oldens dieser Zuschreibung. Mehrere parallel existierende Rollenbilder wurden identifiziert, in denen er als „Angehöriger einer bestimmten sozialen Schicht“ in Erscheinung tritt oder eine gewisse soziale Funktion wahrnimmt, denkt man an seine bildungsbürgerliche Herkunft, deren Bildungsideal Olden hochhielt, zumal unter den neuen gesellschaftlichen Realitäten der Republik und der Pazifizierung Europas, oder an sein ausgreifendes Engagement als Jurist, welches lediglich inhaltlich/thematisch zu würdigen und zu verstehen ist. Die Reputation als Journalist, die letztlich Siegfried Jacobsohn dazu bewog, Olden aus Wien abzuwerben und nach Berlin zurück zu holen, spricht gleichwohl für die angesehenen Leistungen, die er in seinem Berufsfeld des Journalisten erbrachte. Allerdings waren sie instrumentell, dienten sie dem persönlichen Überleben und dem beruflichen Neueinstieg, war es quasi ein Ausweichen, denn seine Karriere als Schriftsteller zeigte keinen Erfolg. Die Hinwendung zum Journalismus entsprang der Not des Ausblicks nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Erst über den Beruf des Journalisten erarbeitete sich Olden Stück für Stück seine gesellschaftliche Stellung. Diese wurde weniger gespeist aus seiner Rolle als Anwalt und Jurist, da sein Ansehen auf diesem Feld zeitlich der journalistischen Reputation nachgeordnet 47 R.O. Aktualität und Authentizität, in: Deutsche Presse, 4.6.1928. Folgendes Zitat ebd. 48 Morat (2011): S. 4f. Die folgenden Zitate ebd.
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war, arbeitete Olden öffentlichkeitswirksam erst gegen Ende der 1920er Jahre als Rechtsanwalt. Der Zugang zu entsprechend vielseitigen Medien brachte ebenfalls das Berufsbild mit sich, vor allem mit Blick auf das angesprochene Publikum, schrieb Olden nicht für juristische Fachzeitschriften, sondern für gesellschaftlich relevante Massenmedien. In diesem Zusammenhang war das öffentliche sich zu Wort melden zwangsläufig. Dies brachte der Beruf des Journalisten mit sich und wird für die Definition des Intellektuellen Olden als unbedeutend angesehen. Unter Verwendung der wertneutralen Festlegung von Collini werden schließlich Akademiker, Künstler und Schriftsteller als Intellektuelle subsumiert bzw. gefasst. Einerseits sind Angehörige dieser Berufe „als Spezialisten des Wortes der öffentlichen Rede mächtig, andererseits in öffentlichen Angelegenheiten per se Generalisten, die im eigenen Auftrag sprechen“. Für die Figur Olden bleibt sie unbrauchbar. Es lässt sich nicht seriös bestimmten, ob und gegebenenfalls wann, er stärker für seine Person als für das liberale Berliner Tageblatt sprach bzw. schrieb. Journalisten können nur dann als Intellektuelle in Erscheinung treten, „wenn sie eine hinreichende Reputation erlangt haben, um im eigenen Namen (aber nicht in eigener Sache) zu sprechen und eigene politische Positionen und Forderungen vertreten“. Dafür bot der Lebensweg Rudolf Oldens keine Anhaltspunkte, waren seine Artikel überwiegend kommentierende Äußerungen. Unstrittig ist, dass Olden in diesem Bereich intellektuelle Debatten aufgriff, sie verbreitete (ob bewusst oder unbewusst, muss offenbleiben), aber selbst nicht initiierte oder gar auslöste, zumindest konnte etwas Derartiges im Kontext der Weimarer Friedensbewegung in Verbindung mit seiner Vorstellung von Pazifismus nicht ausgemacht werden. Bleibt man bei der Definition von Collini stehen, ist Olden als Intellektueller nicht greifbar. Schließlich konterkariert der wertneutrale Ansatz das Selbstbild, welches Olden von seinem Beruf zeichnete. „Journalisten sollten dementsprechend einen engen Kontakt zum Volk pflegen, als dessen Sprachrohr agieren und so für Gerechtigkeit sorgen.“49 Dies verkörperte Rudolf Olden. Damit stand er in einer englischen Tradition des politischen Journalismus, der sich als vierte Gewalt im Staat verstand. Ein vergleichbarer Anspruch blieb in Deutschland aus. Hier war das intellektuelle Selbstverständnis stärker dominant. Zwei unterschiedliche Stile wurden ab 1830 im politischen Journalismus sichtbar, die Konzeption des „plebejischen Volkstribuns und das des intellektuellen Literaten“, ein Spannungsfeld, das die Person Olden charakterisierte, denn „die geringe Reputation von Politik und Journalismus und die starke Stellung des Bildungsbürgertums führten in Deutschland dazu, dass viele Journalisten sich eigentlich als Künstler, Schriftsteller oder Gelehrte sahen, die sich notgedrungen zu den Niederungen der Politik herab ließen“. Dies war eine Entwicklung, die im ausgehenden 19. Jahrhundert begann und ihre Fortsetzung in den 1920er Jahren fand, denkt man z.B. an die Äußerungen Oldens aus den Jahren 1918/19. Enttäuscht zog er sich von der Hoffnung auf eine schriftstellerische Karriere in den Wiener Nachkriegsjournalismus zurück. Betrachtet man hingegen seine Beiträge aus der Deutschen Presse um 1928, hatte eine gewisse Transformation stattgefunden. In Oldens Brust schlugen zwei Seelen, eine angelsächsische und 49 Bösch, in: Zimmermann (2006): S. 103. Die folgenden Zitate ebd., S. 104 und S. 106.
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eine deutsche. Renate Köcher beschrieb einst in einer vergleichenden Untersuchung die Berufsethik und das Aufgabenverständnis britischer und deutscher Journalisten wie folgt: Dem Spürhund stehe der Missionar gegenüber, zwei Zuschreibungen, die durchaus beide auf Olden Anwendung finden können.50 Einerseits müsste die Bevölkerung zu aufrechten Demokraten und Pazifisten erzogen/missioniert werden, was in letzter Konsequenz einen Austausch des (politischen) Führungspersonals zur Folge haben sollte, andererseits sah er sich selbst als parteiunabhängiger Journalist, der keiner politischen Bewegung angehört, in der Pflicht, für soziale und gesellschaftliche Reformen einzutreten. Olden bildete eine Mischform, der die Vorstellung von der Presse als vierter Gewalt mit intellektueller Attitüde verknüpfte. „Charakteristisch für das Auftreten von Intellektuellen ist die Proklamation nicht der Macht und Eigeninteressen, sondern des Universellen und der Moralität.“51 Medien als Form der Produktion intellektueller Einflussnahme sind relevant. Realisiert wird die Sozialfigur des Intellektuellen in historischen und/oder theoretischem Zusammenhang. Der Versuch einer Rekonstruktion dieses Kontextes mit Blick auf den Pazifisten und Journalisten Olden wurde in dieser Arbeit unternommen und zeigte ihn als Teil einer republikanisch-demokratisch und pazifistisch gesonnenen Deutungselite in der Zwischenkriegszeit. Sie betrieb öffentliche Kritik und definierte zugleich, was im Rahmen der Verfassung als legitim galt. Man wollte andere von seinen politischen Ansichten überzeugen. Die Problematik liegt darin, wie unter dieser Prärogative eine gesellschaftliche Wirkung erzielt werden kann, ohne die demokratische Legitimität selbst in Frage zu stellen. Für Olden konnte dies nicht darin liegen, die klassischen Eliten in Regierung und Parlament zu beraten, wie dies für andere Pazifisten, z.B. Quidde, gangbar erschien. So gesehen, war Olden zwar Teil eines sozialen Diskussionsmilieus innerhalb des demokratischen Spektrums von Weimar, dass auf die normative Universalität von Menschenrechten und den sittlich-moralischen Rechtsstaat abzielte, ohne aber ständig „nach geeigneten Organisationsformen zu suchen, um die eigenen Vorstellungen zu entwickeln, zu verbreiten und durchzusetzen“. Als Protagonist einer spezifischen politischen Idee fiel Olden aus. Gleiches gilt für die Rolle als Produzent. Zunächst erscheint es wenig überraschend, dass Intellektuelle als Schöpfer von politischen Ideen angesehen werden. Jedoch ist die Frage nach der Urheberschaft nur zum Teil gerechtfertigt, entstehen politische Ideen im Gruppenkontext. Hier werden sie auf ihre Wirksamkeit getestet. Erst an dieser Stelle bilden sie sich konkret aus und werden rückblickend einzelnen Personen zugeschrieben, d.h. hier wird eine Personalisierungsstrategie offenbar. In einen derartigen Kontext ließ sich Olden aber nicht einpflegen. Wesentlich für ihn war das Aufgreifen gesellschaftsverändernder Ideen und deren Verbreitung über seine Arbeit als Journalist. Er griff auf das zurück, was er selbst für politisch notwendig hielt und von anderen vorausgedacht wurde. Die Frage der Realisierung bzw. Umsetzung trieb ihn öffentlich in seinen Beiträgen kaum um, wie die Problematik einer neuen politischen Erziehung der Gesellschaft zeigte. Von einer Modifikation der pazifistischen Idee kann nur 50 Vgl. Köcher (1985). 51 Bluhm/Reese-Schäfer, in: dies. (2006): S. 8. Folgendes Zitate, ebd., S. 7.
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insofern gesprochen werden, als er den gemäßigten Pazifismus der Weimarer Friedensbewegung mit der Idee von Pan-Europa zusammenführte. Dies hatte keine Breitenwirkung erzielt, wenngleich er auch aus Enttäuschung über den Völkerbund paneuropäische Gedankenspiele in die Debatte einzubringen versuchte, um der Genese einer neuen politischen Idee innerhalb des gemäßigten Pazifismus Vorschub zu leisten. Die Bedeutung dieser Vorstellung, besonders mit Blick auf eine deutschfranzösische Aussöhnung, sollte erst nach 1945 an Kraft gewinnen. Politikferne kann Olden allerdings nicht unterstellt werden, war er nicht auf sein individuelles Schaffen zurückgeworfen, sondern durch seine anwaltliche Tätigkeit in vielen Kontexten bemüht, die abstrakten Ideen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit, auf das jeweilige Individuum bezogen, zu realisieren. Er war nicht nur Sprachrohr einer politischen Richtung, sondern versuchte sozialdemokratische und liberale Ideen miteinander zu verbinden, eine argumentative Strategie, deren Grundlage sich, wie eingangs erwähnt, bei Hermann Heller und seiner Vorstellung von Ideengeschichte zeitgenössisch wiederfand. Besonders an diesem Punkt wird deutlich, wie wenig Olden daran ging, seine in Ansätzen vorhandene Neukonzeption des politischen Liberalismus breitenwirksam zu diskutieren bzw. in eine intellektuelle Debattenkultur einzubringen, obwohl er Teil ihres Diskussionsmilieus in der Weltbühne, in der DLM oder im Schutzverband Deutscher Schriftsteller war. Dabei hatte Olden ein umfassendes historisches und ideengeschichtliches Wissen zu bieten, dessen Horizont sowohl österreichische als auch französische und britische Denker einschloss. Am ehesten treffen die intellektuellen Zuschreibungen von Kritik und Mandat auf das Wirken Oldens zu, stellte er systematisch die politische, soziale und moralische Ordnung seiner Zeit infrage. Für Themen wie Abrüstung, Politische Justiz oder sexuelle Gleichberechtigung trug er mit dazu bei, eine politische Öffentlichkeit zu organisieren, d.h. der geforderten Informations- und Kontrollfunktion seines Berufes nachzukommen sowie zugleich die Wertgebundenheit des eigenen Denkens unter Beweis zu stellen. Den Intellektuellen aber auf die Rolle des Kritikers als Beruf zu reduzieren, negiert mögliche andere Bedeutungen und Rollenverständnisse. „Ein ausschließlich auf Autonomie und Kritik abhebender Begriff des Intellektuellen gerät leicht zum Schönwetter-Begriff, gemünzt auf die Schönwetterzeiten liberaler Demokratien.“52 Teilhabe und Mandat kam unter gewissen zeithistorischen Konstellationen hinzu, sei dies in Form politischer Ministerverantwortung, in der Rolle eines Abgeordneten, in der Funktion eines Verantwortungsträgers in der Justiz bzw. Verwaltung oder „als Knüpfer von kommunikativen Netzen zur gezielten politischen Einflussnahme“. Daran mangelte es Olden, konnte er als Journalist die gesellschaftlichen Defizite beschreiben bzw. kommentieren und ihre Auswüchse als Anwalt zu lindern suchen, so fehlte der Zugriff auf eine verantwortungsgebundene Position. Eine konkrete Krisenlösungsstrategie fand sich in Ansätzen lediglich im Bereich der Politischen Justiz, indem er praktische Reformvorschläge unterbreitete, an deren Ende neue gesellschaftliche Werthaltungen53 stehen sollten. 52 Hertfelder (2000): S. 19f. Folgendes Zitat ebd., S. 21. 53 Abschaffung der Todesstrafe, Laiengerichtsbarbeit, Humanisierung des Strafvollzugs usw.
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Seine Form der Organisation politischer Öffentlichkeit war spezifischer. Die Intervention erfolgte nicht zuletzt über das Berichten von und die persönliche Teilhabe an Skandalprozessen, angefangen mit dem Fall Bettauer, über die FememordProzesse, bis hin zu Landesverratsprozessen gegen Pazifisten oder dem Fall von Justizskandal um Jakubowski und schließlich dem Weltbühne-Prozess. Auch das Memorandum Oldens zur Einladung anlässlich des Kongresses Das Freie Wort stand sinnbildlich für den letzten Versuch demokratischer Einflussnahme von Seiten der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit auf den Staat. Sein intellektueller Habitus muss nicht zuletzt daran gemessen werden, „wie er mit der relativen Autonomie seiner Urteilskraft umgeht“54. Wertüberzeugungen müssen also auch durchgesetzt werden, d.h. im freien Gedankenkampf politisch institutionalisierbar sein. Aus diesem Kampf ging nicht nur Olden als Verlierer hervor. Insofern erscheint die These von Kurt Sontheimer in Bezug auf die Bewertung der Endphase der Republik durch Olden folgerichtig und zutreffend: In seinem Bemühen um Unabhängigkeit von einer bestimmten Parteibindung verlor er sich in seinen eigenen Ideen von Humanität und Gerechtigkeit, so berechtigt sie auch waren. Der politischen Realität zu Beginn der 1930er Jahre stand er aber hilflos gegenüber; zwar vermochte er es, den Verfall der Republik zu schildern und vor dem kommenden Faschismus zu warnen, zu einer wirksamen Verteidigung der Demokratie war aber auch Olden nicht imstande. Darin mag die Tragik der Weimarer Linksintellektuellen liegen, deren politisches Kritikprogramm durch mangelnde Teilhabe zwischen den Extremen zerrieben wurde. Insofern ist Rudolf Olden eher repräsentativ für diese Schicht einer freischwebenden Intelligenz und weniger für eine politische Partei oder Gruppierung wie die der Weimarer Friedensbewegung. Ob Olden als Intellektueller zu bezeichnen ist oder nicht, hängt schließlich davon ab, welchen Bedeutungstrabanten man dem Rollenverständnis zugrunde legt. Erschwert wird die Beantwortung dieser Frage durch die zahlreichen individuellen Rollenbilder, die diese Arbeit zutage gefördert hat, da sie von unterschiedlichen sozialen Positionierungen Oldens ausgehen. Die Rolle des Pazifisten ergab sich ja gerade aus der Verknüpfung einzelner Rollenbilder. Beginnt man mit dem Journalisten, so wurde bereits darauf verwiesen, dass er eine Mischform darstellte. Noch im 19. Jahrhundert galten Journalisten als Menschen, die sich von bürgerlichen Berufslaufbahnen verabschiedet hatten. Ihr Lebensentwurf glich in der Wahrnehmung vielmehr denen eines Literaten oder Schriftstellers. „Damit hätte man auch die argumentative Basis für jene lockere soziale Verortung der Journalisten als Intellektuelle, die sich aus den Umständen des Berufs so unschwer ableiten ließ.“55 Bedenkt man die notwendig gewordene berufliche Neuausrichtung Oldens nach 1918, wird dies biographisch evident. Besonders in dieser frühen Wiener Phase mag Olden als (allgemeiner) Intellektueller in Erscheinung treten. Als Kritiker der Macht berief er sich auf abstrakte und universelle Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit, was nicht zuletzt seine Idee des Pazifismus in der unmittelbaren Nachkriegszeit prägte. Sinnbildlich bleibt sein Einsatz für die Vereinigten Staaten von Europa in 54 Hübinger (2000): S. 41. 55 Teichert (1997): S. 70.
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Erinnerung. Die Opfer von Willkür und Unrecht zu verteidigen war zudem sein Antrieb. Insofern bediente er sich durchaus des klassischen intellektuellen Wirkungsmechanismus, der sich seit der Dreyfus-Affäre herausgebildet hatte.56 Insofern wird Rudolf Olden in seiner Rolle als pazifistischer Journalist sowie Herausgeber zunächst durchaus als Intellektueller gefasst. Dies wurde aber bedingt durch den Strukturwandel der Öffentlichkeit vermehrt herausgefordert. So blieb die Position des eigenständigen Herausgebers lediglich eine kleine Episode in seiner Biographie. Zwischen die normativ bekundete Haltung und das Alltagshandeln schoben sich zahlreiche zusätzliche Einflussfaktoren (Redaktionsorganisation, Redaktionstechnik, politische Ziele der Medienunternehmen, Reaktionen der Umwelt), die die Aussagenproduktion wesentlich mitbeeinflussten.57
Das Olden gleichsam intensiv darüber nachdachte, belegte seine Reflexion über die journalistische Praxis, z.B. hinsichtlich einer Akademisierung des Berufs. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre verschob sich seine soziale Position. Nicht nur zeigte sein Journalismus durch die Tätigkeit beim Berliner Tageblatt eine zunehmende Professionalisierung. Parallel trat er häufiger und prominenter als Jurist in Erscheinung, wenngleich er dies mit seiner journalistischen Arbeit verknüpfte. Im Umgang mit den Fememorden, den Landesverratsprozessen gegen Pazifisten und seinem Engagement innerhalb der DLM übte er als zugelassener Rechtsanwalt eine kompetente Kritik58 an der Politischen Justiz seiner Zeit, um mit M. Rainer Lepsius zu sprechen. Diese sei von ihrer journalistischen Form als quasikompetenter59 Kritik zu trennen. Olden bewegte sich zwischen zwei Polen, die als Interpretationsjournalismus und Vermittlungsprofession beschrieben wurden. Erstes beschreibt ein Berufsverständnis, das eher die politischen, advokatorischen und partizipatorischen Elemente des journalistischen Tuns akzentuiert – der Journalist als Kritik- und Kontrollinstanz, als Anwalt der Kommunikationsansprüche wenig Privilegierter. Die Vermittlerrolle hebt Aufgaben und Ansprüche hervor wie schnell und präzise informieren, komplexe Sachverhalte erklären.60
56 Einem Zitat ist an dieser Stelle zuzustimmen: Ein Freund Oldens bezeichnete ihn darin als glänzenden Journalisten und Advokat im Zolaschen Sinn. (Vgl. ausführlich Fußnote 55, S. 391) 57 Teichert (1997): S. 72. 58 Lepsius (1997): S. 511: Kritik von einem Angehörigen der Profession im Rahmen der Profession ist kompetente Kritik. Sie muß sachlich sein, das heißt dasjenige, was sie kritisieren, unter Bezugnahme auf Normen beurteilen. Unter diesen Bedingungen ist Kritik sozial definiert und geschützt. 59 Ebd.: S. 513/14: Sie versucht durch sekundäre Mechanismen eine soziale Immunität zu schaffen. Das kann dadurch geschehen, daß sich einzelne Kritiker an die Kompetenz von richtigen Professionen anhängen oder sich auf eine höhere und allgemeine Ebene der kulturellen Werte berufen. 60 Teichert (1997): S. 72.
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Für Lepsius bildete allerdings wohl unter dem Eindruck der SPIEGEL-Affäre lediglich die inkompetente Kritik61 das Feld des Intellektuellen. „Der Journalismus bleibt in seiner prinzipiellen Offenheit eine Quasi-Profession, die sich zwischen quasi-kompetenter und inkompetenter Kritik bewegt – Kritik als Beschreibung und Beurteilung des Verhaltens anderer in bezug auf bestimmte Normen.“62 An dieser Stelle muss erneut darauf aufmerksam gemacht werden, wie entscheidend die Definition eines Intellektuellen von historischen Konstellationen und Möglichkeitshorizonten abhängt. Aus diesem Grunde entzieht sich die Frage danach, ob Olden ein Intellektueller ist, einer pauschalen Beantwortung. Unter Berücksichtigung seiner biographischen Entwicklung tritt seine Rolle als Intellektueller nach 1926 eher in den Hintergrund, ohne sie aber gänzlich aufzugeben. Ob Olden nach der Entlassung aus dem Berliner Tageblatt 1931 nicht in der Lage oder willens war, seine journalistisch gestiegene Reputation zur Reaktivierung seiner intellektuellen Rolle zu nutzen, bleibt offen. Bis zu seiner Emigration ist allerdings eine gewisse Sprachlosigkeit festgestellt worden. Die politisch ereignisreiche Phase bis zum 30. Januar 1933 hätte sich als Initialzündung für eine intellektuelle Wiedergeburt Oldens angeboten, aus der er frei von verlagspolitischen und redaktionellen Zwängen als Intellektueller wahrnehmbarer hätte wirken können. Damit ist Olden dennoch als Beleg für das weite Spektrum angeführt, welches intellektuelle Positionen in der Weimarer Republik annehmen konnten. Sein ideengeschichtlicher Eklektizismus ist daher nicht als Vorwurf, sondern vielmehr als intellektuelle Leistung zu verstehen. Stefan Breuer bezeichnete einst exemplarisch den Vordenker der Konservativen Revolution, Arthur Moeller van den Bruck, als „Ideenchemiker“63, der moderne und regressive Momente miteinander verflocht. Unter republikanischem und pazifistischem Vorzeichen gilt dies auch für die Gedankenwelt Oldens, der angeregt durch nationale wie internationale Geistesgrößen das Prinzip des politischen und ideellen Ausgleichs zum Programm erheben wollte, auf dessen Fundament die Demokratie und der europäische Frieden ruhen sollte. An diesem Punkt schließt sich jene Klammer, die mit Hellers Ideenkreisen geöffnet wurde und in der eine Ideengeschichte gedanklich die politische Kooperation (innen- und im Bezug auf den Pazifismus auch außenpolitisch) vorbereiten sollte.
61 Hier bezieht sich die Kritik auf die Ebene höchster Abstraktheit und Allgemeingültigkeit. Ihre Urteilsbasis sind abstrakte und allgemeine Werte. Lepsius (1997): S. 515: Jede Kritik an Institutionen, deren Mitglied man nicht ist, ist daher formal eine inkompetente. Radius und Wirkungsmöglichkeit bestimmten sich durch den Nachweis ihrer Legitimität. Diese hängt davon ab, inwieweit in einer Gesellschaft über allgemeine Werte Konsensus besteht bzw. durch den Grad, in dem Grundwerte überhaupt allgemein interpretiert werden können. 62 Teichert (1997): S. 73. 63 Breuer, in: Hübinger / Hertfelder (2000): S. 148.
9 BIBLIOGRAPHIE 9.1 ARCHIVALIEN Argentinisches Tageblatt: Jg. 40–43, Buenos Aires 1928–1931. Berliner Tageblatt: Jg. 54–62, Berlin 1925–1933. Bundesarchiv Koblenz: Nachlass Theodor Wolff – Sign.: NL 207. Das Fremdenblatt: Jg. 72–73, Wien 1918–1919. Das Neue Tage-Buch: Jg. 1–8, Paris/Amsterdam 1933–1940. Das Tage-Buch: Jg. 1–14, Berlin/München 1920–1933. Der Friede: Jg. 1–2, Wien 1918–1919. Der Neue Tag: Jg. 1–2, Wien 1919–1920. Der Tag: Jg. 1–4, Wien 1922–1926. Deutsche Nationalbibliothek: Deutsches Exil-Archiv 1933–1945: Abteilung Exil-Literatur, Frankfurt am Main: Teilnachlass Rudolf Olden – Sign.: EB 79/20. Zitierte Briefe und Dokumente stammen aus diesem Nachlass, wenn nicht anders angegeben. Deutsche Presse: Jg. 17–22, Berlin 1927–1932. Die Weltbühne: Jg. 14–29, Berlin 1918–1933. Er und Sie: Jg. 1, Wien 1924. Pariser Tageblatt: Jg. 2–4, Paris 1934–1936. Pariser Tageszeitung: Jg. 1–4, Paris 1936–1939. Simplicissimus. Jg. 31, Nr. 51, München 21.3.1927.
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Andreas Braune / Michael Dreyer (Hg.)
Zusammenbruch, Aufbruch, Abbruch? Die Novemberrevolution als Ereignis und Erinnerungsort Weimarer Schriften zur republik - band 6 2018. XXVI, 326 Seiten mit 3 s/w-Abbildungen 978-3-515-12219-1 kartoniert 978-3-515-12230-6 e-book
Im Jahr ihres Zentenariums hört die Novemberrevolution zusehends auf, eine „vergessene Revolution“ (Alexander Gallus, 2010) zu sein. In Wissenschaft und Öffentlichkeit wächst die Einsicht, dass der Aufbruch in die erste parlamentarische Demokratie Deutschlands mehr war als eine halbe, stecken gebliebene oder gar verratene Revolution. Stattdessen gelang es, unter der Last eines verlorenen Krieges und seiner bedrohlichen Friedensverhandlungen, unter den Bedingungen sozialer Not und Ungewissheit und unter beständiger politischer Unruhe und der Gefahr eines revolutionären Bürgerkrieges die am 9. November 1918 ausgerufene ‚deutsche Republik‘ zu konsolidieren. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes leisten eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme der aktuellen Forschungen zur November-
revolution und weisen neue Fragestellungen und Herangehensweisen aus. Sie untersuchen zudem, warum die erste erfolgreiche demokratische Revolution bislang einen so schweren Stand im Erinnerungshaushalt der Deutschen hatte und fragen danach, ob sie nicht doch ein demokratischer Erinnerungsort sein könnte. mit beiträgen von Andreas Braune & Michael Dreyer, Lothar Machtan, Detlef Lehnert, Gleb J. Albert, Walter Mühlhausen, Jens Hacke, Kirsten Heinsohn, Peter Keller, Ingrid Sharp, Wolfram Pyta, Nadine Rossol, Mark Jones, Heidrun Kämper, Manfred Baldus, Daniel Siemens, Helmuth Kiesel, Karl Heinrich Pohl, Wolfgang Niess, Martin Sabrow
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Patrick Rössler / Klaus Kamps / Gerhard Vowe
Weimar 1924 Wie Bauhauskünstler die Massenmedien sahen How Bauhaus artists looked at mass media Die Meistermappe zum Geburtstag von Walter Gropius The Bauhaus masters’ gift portfolio for Walter Gropius WeImArer schrIften zur republIk - bAnd 7 2019. 208 Seiten mit zahlreichen Farbund s/w-Abbildungen 978-3-515-12281-8 gebunden
Zum 41. Geburtstag im Jahr 1924 schenkten sechs Bauhaus-Meister ihrem Direktor Walter Gropius eine Mappe mit eigens geschaffenen Bildern. Auf Anregung von László Moholy-Nagy variierten Lyonel Feininger, Wassili Kandinsky, Paul Klee, Georg Muche, Oskar Schlemmer und er selbst ein Motiv des Pressefotografen John Graudenz. Dies zeigte die erste öffentliche Übertragung von Ergebnissen einer Reichstagswahl durch das Radio in Berlin. Entstanden ist ein Meisterwerk im wahrsten Sinne des Wortes: ein Kaleidoskop unterschiedlicher Sichtweisen dieses Übergangs von der Pressewelt in eine Radiowelt – und gleichzeitig Schlüsselbilder für die moderne Demokratie und die Gemeinschaft von Künstlerpersönlichkeiten. Die Mappe für Walter Gropius bildet den Ausgangspunkt für diese multiperspektivische Studie. Sie widmet sich zum einen der Darstellung von Politik und Massenkommu-
nikation durch Künstler der Avantgarde. Zum anderen dient die Mappe als Projektionsfläche für weitergehende Überlegungen bis in die Gegenwart hinein. Insofern wiederholen die Autoren dieses Bandes das Vorgehen der Bauhauskünstler mit dem Foto: eine Reflexion jedes einzelnen Bildes aus der individuellen Sicht von Politik, Medien- und Kunstgeschichte. Aus dem InhAlt Zur Einführung | Der Fotograf: John Graudenz (1884–1942) | Der Initiator: László Moholy-Nagy (1895–1946) | Der Anatom: Oskar Schlemmer (1888–1943) | Der Rufer: Paul Klee (1879–1940) | Der Dirigent: Georg Muche (1895–1987) | Der Musiker: Wassily Kandinsky (1866–1944) | Der Träumer: Lyonel Feininger (1871–1956) | Die Gemeinschaft | Anmerkungen | Literatur
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Rudolf Olden war einer der führenden liberalen Redakteure der Zwischenkriegszeit. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges 1926 aus Wien nach Deutschland zurückgekehrt, engagierte sich der Journalist des Berliner Tageblatts auch als Jurist und Schriftsteller gegen den neuen Nationalismus und für Demokratie und Menschenrechte. Als Rechtsanwalt vertrat Olden an prominenter Stelle den Pazifisten Carl von Ossietzky während des Weltbühne-Prozesses – dennoch dürfte er einem breiteren Publikum bis heute gänzlich unbekannt geblieben sein. Sebastian Schäfer würdigt mit dieser Biographie Rudolf Olden als einen politischen Intellektuellen und verknüpft dabei die historische Friedensforschung mit der Intellektuellengeschichte. Schäfer zeichnet Oldens Rolle als Pazifist in der heterogenen Friedensbewegung der 1920er Jahre nach. Anhand innen- und außenpolitischer Diskurse der Weimarer Republik arbeitet er dessen Vorstellungen einer friedlichen Gesellschaft heraus, erfragt intellektuelle Prägungen und prüft die Repräsentativität seiner Positionen – und zeigt so den engen Zusammenhang von Oldens pazifistischer Grundidee mit dem europäischen Einigungsgedanken auf.
ISBN 978-3-515-12393-8
9
7835 1 5 1 23938
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