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German Pages 200 Year 2022
Romane im 20. Jahrhundert: USA, England, Frankreich, BRD
Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte
Romane im 20. Jahrhundert USA, England, Frankreich, BRD Herausgegeben von
Günther Klotz
Akademie-Verlag • Berlin 1980
Die Beiträge aus dem Russischen wurden übersetzt von Günter Erdmann Annelies Graßhoff Gudrun Wegner
Erschienen im Akademie-Verlag, DDR —108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Lektor: Alfred Gessler © Akademie-Verlag, Berlin 1980 Lizenznummer: 202 • 100/190/80 Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen • 5484 Bestellnummer: 7536152 (2150/66) • LSV 8051 Printed in GDR DDR 7 , - M
Inhalt
Günther Klotz Literatur kapitalistischer Länder im revolutionären Weltprozeß. Eine Einleitung
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Günther Klotz Imperialismusbild und Romanstruktur. Wandlungen weltanschaulicher Positionen und literarischer Perspektive im englischen Roman
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Günter Walch Epochenproblematik und Realismus bei E. M. Forster . . . .
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Wolf gang Wicht Wandlungen im Funktionsverständnis: Virginia Woolf
. . .
Georg Seehase Ende oder Neubeginn des Romans? Ansichten von Ralph Fox und Alick West Leonard Goldstein Der intellektuelle Revolutionär und der antikolonialistische Befreiungskampf Georgi A.
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Andshaparidse
Der Roman über die Arbeiterklasse in kapitalistischen Ländern
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Hans Joachim Bernhard Politisch-ästhetische Differenzierung in der Literatur der BRD
73
Elvira Högemann-Ledwohn Historisches und Mythologisches im neueren Roman der BRD 5
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Wolf gang Techtmeier Roland Dorgeles und Armand Lanoux. Zum Funktions- und Strukturwandel im französischen Antikriegsroman seit dem ersten Weltkrieg Irene
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Seile
Die Herausforderung der Persönlichkeit bei Vercors und Merle
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Brigitte 'Burmeister Nouveau roman und Realismus. Umbruch einer Literaturideologie
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Tamara W. Balascbowa Realismus im westeuropäischen Roman der sechziger und siebziger Jahre
126
Jasen N. Sassurski Oktoberrevolution, revolutionärer Weltprozeß und die Literatur der USA
136
Utz Riese Gesellschaftliche Bewegung und der amerikanische Roman verinnerlichter Humanität
142
Friederike Hajek Die afroamerikanische Befreiungsbewegung Jahre und ihre Literatur
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der
sechziger
Eva Manske Individuum und Gesellschaft in amerikanischen Prosawerken der siebziger Jahre
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Anmerkungen
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Personenregister
190
Zu den Autoren
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Günther Klotz
Literatur kapitalistischer Länder im revolutionären Weltprozeß. Eine Einleitung
Der Roman, der totgesagte, lebt fröhlich und ernst weiter, bringt neue Formen hervor und mischt sich ins außerliterarische Leben stärker ein als je zuvor, gerade auch im „Westen", wie die hochentwickelten kapitalistischen Länder oft kurz genannt werden. In unseren Buchhandlungen, in Kinos und im Fernsehen hat der Roman des westlichen Auslands seit langem einen festen Platz. Er besitzt einen ansehnlichen Kreis von speziellen Liebhabern, die vornehmlich bei Neuerscheinungen seit den fünfziger Jahren auch Liebhaberanstrengungen unternahmen, in ihren Besitz zu gelangen. Durch Romane und Filme erfahren wir mehr vom Leben und von den Nöten und Hoffnungen der Menschen als aus den Nachrichten über diese Länder, und so gehören sie dazu, wenn wir versuchen, unser Bild der Welt abzurunden. Das Erregende an den Romanen jedoch ist, daß sie nicht nur Chroniken oder Sittengemälde sind, sondern phantasievoll gestaltete Haltungen zu dem geschilderten Leben, Meinungs- und Willensäußerungen, Einsichten und Absichten, sehend machende, erschütternde Lesarten dessen, was alle sehen - oder es sind blind machende oder Einsichten zuschüttende, je nachdem, wie ihre Schöpfer zu den Lebensfragen der Menschen stehen. Angesichts der gegenwärtigen politischen, militärischen und ideologischen Auseinandersetzungen auf der Welt rücken in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern immer mehr Menschen vom Imperialismus und Neokolonialismus ab. Die Sorge um ihre Existenz, um den Bestand der Völker und um ein menschenwürdiges Leben hat ihr latentes Unbehagen vertieft und sie zur Abkehr von der kapitalistischen Gesellschaft geführt. Obwohl viele dieser Enttäuschten dem Sozialismus fernstehen, sind sie alle doch potentielle Verbündete der Arbeiterklasse dieser Länder im Kampf um gesellschaftliche Veränderungen. Während große Teile der Arbeiterklasse um eine grundlegende Veränderung der kapitalistischen Welt ringen, ist 7
die wachsende Menge der Imperialismusgegner bereit, für demokratische Reformen bzw. für eine antimonopolistische Demokratie einzutreten. Diese strategischen Ziele bilden Alternativen, die in den westeuropäischen Ländern und in den USA seit den späten sechziger Jahren gleichermaßen an Anziehungskraft gewinnen. In der gegenwärtigen Etappe der allgemeinen Krise des Kapitalismus erfordert diese Bündnissituation ein flexibles, den konkreten historischen Bedingungen und Möglichkeiten Rechnung tragendes Verhalten in der Praxis wie in der Forschung. In dem Maße, wie in kapitalistischen Ländern demokratische und sozialistische Positionen erstarken und Konzeptionen und Theorien des Realismus in das Zentrum ideologisch-ästhetischer Auseinandersetzungen treten, stellen sich der marxistischen Literaturwissenschaft neue Aufgaben. Da die neueren Literaturbewegungen ohne Bewußtsein der internationalen geschichtlichen Reichweite der Oktoberrevolution, der Entstehung des sozialistischen Weltsystems und der Kämpfe für die nationale Befreiung in Südostasien, Lateinamerika und Afrika nicht nachzuvollziehen sind, bildet der revolutionäre Weltprozeß den geeigneten Zugang, die Wechselwirkungen von Literaturentwicklungen und Gesellschaftsgeschichte in kapitalistischen Ländern zu erforschen. Von hier eröffnet sich ein Blick auf die Literatur der letzten sechzig Jahre als künstlerisches Abbild, als Ausdruck und Kommunikationsmedium der welthistorischen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus. Freilich erfordert nun diese Sicht, Funktions- und Strukturwandlungen der Literatur in einem weitgespannten Rahmen zu untersuchen und dabei die bisherigen marxistischen Leistungen historischer und theoretischer Aneignung der Literaturprozesse in ihren Voraussetzungen und Aufgaben zu historisieren und weiterzuentwickeln. Solchen Erfordernissen stellte sich das internationale Kolloquium '77 des Zentralinstituts für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, „Literatur im revolutionären Weltprozeß". Eingreifend in den aktuellen ideologischen Kampf, untersuchte das Kolloquium die Bedeutung der von der Oktoberrevolution signalisierten revolutionären Bewegungen für die Literaturentwicklungen der Gegenwart. Es bot internationale Literaturprozesse dar, die die drei revolutionären Hauptströme unserer Epoche repräsentieren: aus Literaturen sozialistischer Länder, aus Literaturen Westeuropas und Nordamerikas sowie aus jenen von Ländern nationaler Befreiungsbewegungen. Theoretischer Hauptaspekt war dabei die Funktion der Literatur unter verschiedenen Bedingungen des revolutionären Welt8
Prozesses. Damit war eine Konzeption von Realismus zugrunde gelegt, die sich keiner Norm von Abbildungsmethoden verpflichtet, sondern Funktionen und Strukturen im Zusammenhang konkreter gesellschaftlicher Veränderungen aufeinander bezieht. Aus den Beiträgen zur Sektion II des Kolloquiums, „Literaturen Westeuropas und Nordamerikas: Neue Aspekte der Realismusentwicklung", wurden jene für diesen Band ausgewählt, die sich vorwiegend mit dem Roman befassen. Es sind Bausteine einer ersten theoretischen Selbstverständigung zwischen Literaturwissenschaftlern des Maxim-Gorki-Instituts für Weltliteratur der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, des Zentralinstituts für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der D D R , von Universitäten und Hochschulen der D D R und aus der Bundesrepublik Deutschland. An den Beratungen beteiligten sich auch Wissenschaftler aus anderen sozialistischen Ländern, aus Großbritannien und den USA. Natürlich können die Aufsätze den Gegenstand weder vollständig noch erschöpfend darstellen. Sie gewähren jedoch einen Einblick in den gegenwärtigen Stand der Diskussion, werfen neue Fragen auf und bieten Anregungen für die weitere Forschung und für mögliche literaturwissenschaftliche Kooperationen. So unterschiedlich ihr Herangehen an den Gegenstand ist und so unterschiedlich sich manche Auffassungen ausnehmen mögen, künden sie doch von dem Bemühen, die aus der zunehmenden Internationalisierung des Klassenkampfes und aus neuen literarischen Funktionen gewonnenen Erkenntnisse im Hinblick auf den Roman seit 1917 in den USA, England, Frankreich und der B R D fruchtbar zu machen und den von der Literatur seit etwa Mitte der sechziger Jahre beschleunigten Prozeß höherer Bewußtseinsbildung durch dessen Erkundung offensiv zu unterstützen. Einige Bemerkungen zu den Problemen wie zu den geschichtlichen und literaturtheoretischen Voraussetzungen dieses Bemühens seien den Aufsätzen vorangestellt. Die Literaturen hochentwickelter kapitalistischer Länder unter übergreifenden Gesichtspunkten gemeinsam zu behandeln gründet sich auf objektive gesellschaftliche Übereinstimmungen zwischen ihnen: Die Lage der Arbeiterklasse ist ähnlich, ihre Gegner und die von diesen beherrschten ökonomischen und politischen Machtstrukturen zeigen einen etwa gleichen Entwicklungsgrad, und die antimonopolistischen Kräfte verfolgen ähnliche Strategien im Ringen um gesellschaftliche Veränderungen. Auch besitzen die westlichen Länder gewisse historische Gemeinsamkeiten wie den Parlamentarismus und
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(mit Ausnahme der B R D ) die Beteiligung an der Anti-Hitler-Koalition im zweiten Weltkrieg. In all diesen Punkten besteht die Ähnlichkeit prinzipiell. Allerdings treten Unterschiede sekundärer Art markant genug hervor und sind für die Ausprägung der spezifischen nationalen Entwicklungen in der Gesellschaft und in der Literatur trotz voranschreitender internationaler Verflechtungen und Kommunikationen durchaus relevant. Solche Unterschiede liegen in den geschichtlich inkongruenten ökonomischen und politischen Wegen der Länder, ihren ungleichen Anteilen an der imperialistischen Aufteilung der Welt, vor allem aber in der mit der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung zusammenhängenden unterschiedlichen Ausbildung des subjektiven Faktors revolutionärer Veränderungen. Während in Großbritannien und in der B R D der antiimperialistische Kampf dadurch gekennzeichnet ist, daß ein sozialreformerischer (sozialdemokratischer) Einfluß dominiert, und während in Frankreich daneben ein etwa gleich starker kommunistischer sich geltend macht, was diesen Kampf beschleunigt, sind in den USA beide Orientierungen wenig zu spüren. Dies ist vorauszuschicken, wenn im folgenden zunächst von Tendenzen der Literaturfunktionen und Literaturentwicklungen sowie deren sich wandelnden Bedingungen in kapitalistischen Ländern i n a l l g e m e i n e r W e i s e gesprochen wird, ohne daß Differenzierungen vorgenommen werden können. Seit dem ersten Weltkrieg bzw. der Oktoberrevolution, seit Beginn also der allgemeinen Krise des Kapitalismus, haben Phasen, in denen demokratische, sozialistische und revolutionäre Alternativen zur kapitalistischen Gesellschaft aktiviert wurden, die Literatur immer wieder in Bewegung gebracht und ihre Funktion wie auch ihr Selbstverständnis erneuert. Die letzten alternativ-politischen Aktionen der sechziger Jahre und deren kritische Bilanzierung im gegenwärtigen Jahrzehnt haben den Zustand der kapitalistischen Gesellschaft und Theorien seiner Veränderung zum Angelpunkt des Verständnisses der Literatur gemacht. Die über akademische Gesichtspunkte hinausreichende Erkenntnis breitet sich aus, daß das Verständnis der Literatur nicht nur ein Verstehen der Werke ist, sondern ebenso ein Verständnis ihres Wirkens in der Wirklichkeit, ein Verständnis der gesellschaftlichen Institutionen, die sie herstellen, verbreiten, kritisieren, vermarkten, unterstützen oder hemmen, und damit letztlich auch der menschlichen Beziehungen, die hinter solchen Institutionen stehen. Ein solches Verständnis hat die Literatur und das Bewußtsein ihrer Funktion in ein unmittelbares Verhältnis zur gesellschaftlichen Wirklichkeit gesetzt
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und dem Interesse am Realismus neue Impulse verliehen. Wenn die Literatur nun aber von einer höheren politischen Bewußtheit aus helfen will, Wirklichkeitsverhältnisse zu ändern, so kommt ihre Betrachtung - in Auseinandersetzung mit den von einer bürgerlichen Massenliteratur und einem perfektionierten Fernsehen geformten Kunsterwartungen und sozialethischen Wertvorstellungen - nicht mehr mit dem am Ende der zwanziger Jahre gebildeten Realismusbegriff aus. Beim Bewerten des literarischen Suchens nach gesellschaftlichen, historischen, sittlichen oder anderen Haltepunkten und Perspektiven in diesem Prozeß muß die Literaturwissenschaft von dem Epochenverständnis und von der Tatsache ausgehen, daß die aktive Beziehung von Literatur und Gesellschaft nur an ihrem Verhältnis zum revolutionären Prozeß der Epoche ermessen werden kann. Diese aktive Beziehung von Literatur und Gesellschaft beinhaltet vor allem zwei Momente: den künstlerischen Umgang der Literatur mit der Welt und der Gesellschaft als erkennbare, zu gestaltende und zu verändernde Formen und Bedingungen des Lebens einerseits und den Umgang der Gesellschaft, der Menschen mit der Literatur als Erkenntnis- und Verständigungsmittel, als Form und Triebkraft der Bewußtseinsbildung, als künstlerische Eingriffe und Vorgriffe der gesellschaftlichen Entwicklungen andererseits. Diese aktive Beziehung, von Robert Weimann mit dem Begriff der „Aneignung der Welt in der Literatur und der Literatur in der Welt" umschrieben, ist als wesentliches Merkmal von Realismus anzusehen; sie liegt auch in den meisten Fällen den Einschätzungen zugrunde, die in den folgenden Beiträgen gegeben werden. Nun stehen allerdings einer solchen aktiven Beziehung der Literatur zur Gesellschaft die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse im Prinzip entgegen. Die zunehmende Vergesellschaftung der Produktions- und Distributionsverhältnisse schuf besonders seit den fünfziger Jahren mit den Massenauflagen von Paperbacks und mit Fusionierungen von Verlagen und Vertriebseinrichtungen ein System national und bald auch international konkurrierender, insgesamt jedoch marktbeherrschender Konzerne, die zu wesentlichen Stützen des staatsmonopolistischen Kapitalismus wurden. In der allgemeinen Dialektik von Potenzen des Imperialismus und seiner inneren Widersprüchlichkeit brechen nun die Widersprüche in den literarischen Kommunikationsbedingungen insofern kräftiger als je hervor, als der seit den sechziger Jahren deutliche Zuwachs an Realismus in der Literatur kapitalistischer Länder eine graduelle Labilität der etablierten Literatur-
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Institutionen offenbart. Eine Kluft scheidet die demokratische bis sozialistisch-revolutionäre Funktion der oppositionellen Literatur von der kapitalistischen Funktion der Produktions- und Distributionsverhältnisse. Dies ist möglich, weil die künstlerische Gestaltung oder die ästhetische „Produktion" den herrschenden gesellschaftlichen Produktionsbedingungen nicht gänzlich unterworfen werden kann. Wo nämlich die Literatur den Anspruch auf Menschlichkeit verteidigt, von welcher politischen, ideologischen, religiösen oder sittlichen Position auch immer, muß sie in ein zumindest ambivalentes, wenn nicht eben gegnerisches Verhältnis zu dem von diesen Verhältnissen repräsentierten Herrschaftssystem und seinen Wertvorstellungen gelangen. Je weiter die Abhängigkeit der Schriftsteller im Rahmen des Vergesellschaftungsprozesses schritt und je mehr sie sich ihrer bewußt wurden, um so freimütiger trugen sie in aller Öffentlichkeit die Illusion zu Grabe, daß sie „freie" Anwälte einer interessenfreien Wahrheitsinstanz seien. Immer mehr Autoren rückten von Zielen ab, die der einstigen liberalen Mission entsprangen, nämlich der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten, an das allgemeinmenschliche Gewissen zu appellieren, die sozialen Übel - die Erscheinungen also - als leider notwendig zu akzeptieren und über sie hinweg eine gesellschaftliche Harmonie herzustellen oder den Niedergang des bürgerlichen Zeitalters mit ästhetisierten literarischen Zuckungen zu begleiten. Sobald sich die Überlebtheit dieses in den Kapitalismus integrierten und integrierenden Funktionierens der Literatur abzeichnete, weil seine Voraussetzungen seit dem Beginn der allgemeinen Krise des Kapitalismus nicht mehr gegeben waren, und erneut als seit den sechziger Jahren alternative Funktionsmöglichkeiten gesucht und aufgegriffen wurden, erklang das Klagelied vom Tod der Literatur und speziell auch vom Tod des Romans. In peinlicher Nachbarschaft zum Konservatismus und zur extremen Rechten stimmten Ultralinke und Anarchisten mit ein - jene, die den Funktionsaspekt der Operativität verabsolutieren, dabei einen literarischen Aktionismus predigen und die traditionellen Kunstformen samt und sonders als bürgerlich verwerfen. Doch gerade das Bewußtsein, wie tief die gegebenen Gesellschaftsverhältnisse in das Schaffen der Autoren hineinwirken, gibt den Autoren mehr Veranlassung und setzt sie besser in den Stand, die Verhältnisse selbst zu durchleuchten und ihre Darstellungen enger an die objektiven gesellschaftlichen Gegebenheiten zu binden. Damit ist den Konzeptionen der Autonomie der Kunst, des reinen Ästhetizis12
mus, des passiven, sich anpassenden Dienens der Literatur wie jenen der konspirativen Anleitung und des totalen Bruchs mit den Leistungen kritisch-realistischer Traditionen der Kampf angesagt. Unsere literaturtheoretischen und -historischen Anstrengungen verfolgen in der ideologischen Auseinandersetzung auch das Ziel, die wissenschaftliche Weltsicht und realistische Kunstauffassung gegen die sich seit Mitte der siebziger Jahre kräftig regende Reaktion zu verbreiten, die die Literatur als geistig versöhnendes Element, als erbauendes Refugium und als Reservoir läuternder Ideale über das Jammertal Welt erheben will. Die gesamte Literatur der kapitalistischen Länder seit Beginn der allgemeinen Krise trägt die Zeichen dieses Kampfes um gesellschaftliche Veränderungen und um eine verändernde Kunst. Der Roman, welcher gesellschaftliche Widersprüche und Konflikte am umfassendsten darzustellen vermag, hat die funktionserneuernden Impulse, die von den geschichtlichen Bewegungen ausgingen, als bestimmende historische Faktoren aufgenommen und auf sie zurückgewirkt. In den zwanziger, in den dreißiger und den sechziger Jahren sind die für die Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus wesentlichen sozialgeschichtlichen Umwälzungen und die Bedürfnisse der Schriftsteller, die Welt realistisch zu zeichnen und sie damit verbessern zu helfen, in spannungsvolle und fruchtbare Beziehungen getreten. Die rigorose Abwendung von der hergebrachten bürgerlichen Kunstausübung in den zwanziger Jahren gipfelte in Versuchen, eine radikale Politisierung der Literatur als Bruch mit der Bürgerlichkeit schlechthin durchzusetzen und in der ästhetischen Revolution zu verkünden. Immerhin öffnete sich die Literatur in dieser Radikalität, mit der Traditionen verworfen wurden, auch der von der Arbeiterklasse ausgehenden Suche nach einem gänzlich anderen Gesellschafts- und einem entsprechenden Kunstprogramm, die sich seitdem immer stärker auf den Sozialismus und den Realismus orientiert. In den dreißiger Jahren bildeten die antifaschistischen Bewegungen und die Vol'ksfrontbündnisse eine breite Basis progressiver demokratischer Kunstauffassungen und Traditionsbeziehungen, auf der sich ein durchaus auch bürgerliche Positionen umfassendes Funktionsverständnis der Literatur behauptete. Was in den Werken der zwanziger Jahre an kühnen Innovationen hervorgetreten war, konnte nun besichtigt und wo möglich, den humanistisch-demokratischen Intentionen nutzbar gemacht werden. Es schien, als könnten bürgerliche Institutionen durchaus mitwirken, die faschistische Gefahr zu bannen. 13
Seit den sechziger Jahren hat dieser Glaube unter den Gegnern der Monopole abgenommen. Die Krise des Gesellschaftssystems und der bürgerlichen Klasse wird nicht mehr vertuscht. Zu viele erfahren die Einschränkungen der Freiheit des einzelnen - Arbeitslose, Jugendliche, Frauen, auch höhere Angestellte, Lehrer, Wissenschaftler. Die Verunsicherung als Lebensprinzip kann von der übergroßen Mehrheit der Völker nicht jahrzehntelang ohne Gegenwehr ertragen werden. Wo diese Gegenwehr als reale Grundlage einer neuen Identität antimonopolistischer Kräfte zur Annäherung ideologischer Positionen zwischen Schriftstellern und Arbeiterklasse führt, werden Gegenwartsdarstellungen als Zwischenbilanzen des Übergangs, als Einsichten in seine Machbarkeit und Nützlichkeit angelegt; wo sie zu sektiererischer Zersplitterung und zu Theorien der Kulturrevolution führt, inthronisieren sich Dogmen, die realistische Ansichten der Welt verbieten. Die Überschau dieses stoffreichen und differenzierten Panoramas setzt eigentlich drei Dinge voraus: eine für die Gegenwart relativ „fertige" Realismustheorie, eine Theorie des Romans, speziell des Romans in Ländern der allgemeinen Krise des Imperialismus, und eine Theorie der Komparatistik für die gegenwärtige Übergangsepoche. Hinsichtlich der letzten ist der Nachholebedarf am größten, aber auch die Romantheorie bedarf einer Neufundierung durch das Epochenverständnis und einer Neukonstituierung über die praktisch bis Lukäcs geltende normative Produktionsästhetik, über strukturalistische Ansätze, über einseitige Rezeptionstheorien und über die Kommunikationsforschung hinaus. Paradoxerweise bildet die Realismustheorie, die am weitesten ausgebaut ist und sich auch in der sozialistischen Kulturentwiaklung als bewegende Kraft bewährt hat, im Augenblick wieder einen Hauptpunkt der Diskussion. Das rührt vor allem daher, daß sich gegenwärtig in den sozialistischen Literaturen Tendenzen zu Haltungen und Darstellungsweisen offenbaren, die nach den noch in den fünfziger Jahren herrschenden Auffassungen sich schwerlich mit dem Begriff „realistisch" vereinbaren ließen und dennoch sozialistisches Bewußtsein befördern. Wo nun ähnliche Tendenzen unter den gänzlich anderen Wirkungsbedingungen kapitalistischer Literatur spürbar waren oder sind, werden die Grenzen eines phänomenologischen Herangehens deutlich; die historisch-funktionale Bewertung vor allem dessen, was zeitweilig mit Dekadenz, Avantgardismus oder Modernismus bezeichnet worden ist, wird erneut auf die Tagesordnung gesetzt. Im Umfeld der zentralen Problematik dieses 14
Bandes, des Zusammenhangs zwischen dem Wachsen des internationalen Sozialismus und den Wandlungen und sich wandelnden Funktionen der Romanliteratur, kommen daher nicht zufällig mehrere Beiträge gerade auf das Verhältnis von Modernismus und Realismus in der Literaturgeschichte kapitalistischer Länder zu sprechen. Die Unversöhnlichkeit, mit der heute noch der Modernismus dem Realismus gegenübergestellt wird, geht auf den zu Beginn der fünfziger Jahre geführten Kampf gegen den Formalismus zurück. E r war geschichtlich notwendig als ein Kampf gegen spätbürgerliohe Bestrebungen, die ideologische Krise des Bürgertums durch Entideologisierung der Kunst und durch das Untergraben ihrer Erkenntnisfunktion zu verschleiern. Autoren wie Proust, Kafka, Musil, Joyce, Woolf, Dos Passos wurden bei uns nicht veröffentlicht, eine Beschäftigung mit den Dekadenten stand nicht zur Debatte, und zeitweilig herrschte ein nahezu generelles Mißtrauen gegen literarische Neuerer und Experimente. Das hat sich geändert, ohne daß allerdings eine historische Aufarbeitung des Modernismus im Rahmen der Literaturentwicklung bereits geleistet wurde und ohne daß deren Verallgemeinerungen bereits in die gegenwärtige Realismustheorie eingebracht worden wären. Der vorliegende Band bietet auch dazu unterschiedliche Stellungnahmen und methodologische Vorschläge an. Inzwischen mehren sich Stimmen, die davon sprechen, daß der Modernismus ästhetische Werte schuf (Satonski), daß einige seiner ästhetischen Erfahrungen und Techniken in die Weltliteratur eingingen (Weimann) und daß er in dem Versuch, das sittliche und gesellschaftliche Chaos der spätkapitalistischen Welt als solches zu vermitteln, der Realität näherkam als im Stile des 19. Jahrhunderts erzählte Geschichten, weil jene die gesellschaftlichen Widersprüche in der Ordnung des Erzählens aufheben und damit dem aktiven Zugriff einer politischen Bewußtheit entziehen (Wicht). Auch wo in der bürgerlichen Literatur nach dem zweiten Weltkrieg Distanziertheit von den sozialen Konflikten und Rückzug auf Innerlichkeit und Ästhetizismus die Negation der bestehenden Gesellschaft und ihrer entwürdigenden und manipulierten Beziehungen der Menschen sowie die Hinwendung zu den Resten einer wenn auch entsagenden Menschlichkeit bekunden, sind neben dem Verlust an gesellschaftlicher Objektivität das Ringen ums Überleben, die Sammlung einer gegen den Kapitalismus stehenden Lebensenergie und einer den Manipulationen sich widersetzenden humanistischen Anstrengung zu sehen. Wenn eine solche bürgerliche Literatur auch weit 15
im Vorfeld der Einsicht verharrt, daß ihre antimonopolistischen Bemühungen objektiv in eine Richtung weisen, die streckenweise parallel zum Klassenkampf der Arbeiter verläuft, so ist ihr Auftreten doch symptomatisch für die Literatur im Übergangsprozeß. Obgleich literaturwissenschaftliche Interessen heute der Frage nachgehen, an welche vom Modernismus entwickelten Gestaltungsmittel die progressive Literatur kapitalistischer Länder und die sozialistische Literatur anknüpfen und welche sie weiterbilden und in ein realistisches Literaturkonzept integrieren kann, sind sie die kritische Analyse, funktionale Bestimmung und geschichtliche Einordnung im wesentlichen noch schuldig. Auch in diesem Punkt regt der vorliegende Band zu weiterführenden Überlegungen an, selbst wenn oder eben weil die Meinungen einzelner Beiträger darüber divergieren. Einig sind sie sich darin, daß es nicht um ein Ausufern der Normen, sondern um Aufarbeitung der Geschichte geht. Die meisten Aufsätze sind vorwiegend literarhistorischer Natur und stecken wesentliche Gebiete der Diskussion ab. Angeordnet sind sie im Prinzip in „Länderblöcken", das heißt, jeweils mehrere Aufsätze behandeln spezifische Fragestellungen über die Romanliteratur der vier genannten Länder. Am historisch konkreten Gegenstand werden die Tendenzen zur sozialistischen Literatur allenthalben belegt. Wo dies verkürzt und vereinfachend geschehen ist, als handele es sich um einen einsträngigen, geradlinigen Prozeß, oder wo in einigen Aufsätze ein Nebeneinander, ein Sowohl-als-auch von modernistischer und realistischer Literatur konstatiert wird oder die Auffassung einer freien Verfügbarkeit modernistischer Gestaltungsmittel anklingt, ist die Dialektik der Literaturbewegungen kaum aufgedeckt. Das liegt nicht nur an Verständigungsschwierigkeiten, hier fehlen auch Grundlagenforschungen zum Zusammenhang literarischer, ästhetischer, philosophischer, linguistischer und sozialpsychologischer mit den allgemeingesellschaftlichen Entwicklungen in den einzelnen Ländern. Dennoch enthalten die folgenden Beiträge Vorstöße von literarhistorischer Seite, diese Zusammenhänge zu erschließen, besonders dort, wo die Verfasser Distributions- und Marktverhältnisse einbeziehen. Daß im Zentrum immer wieder die Fragen nach dem sich wandelnden Kräfteverhältnis der bestimmenden Trends, nach den Fortschritten und Rückschlägen der den geschichtlichen Gang bewußt machenden und befördernden Literatur stehen, Fragen nach dem Roman der Arbeiterklasse, nach dem politischen und historischen 16
Roman, dem bürgerlichen Roman mit gesellschaftlich relevanten Entscheidungssituationen und nach den Traditionsbeziehungen realistischer Romane, ist nur zu selbstverständlich, weil die entsprechenden literarischen Kräfte im revolutionären Weltprozeß die objektiv auf den Sozialismus orientierenden Verbündeten sind. In diesem Kontext schlagen als Gewinn und als literarhistorische wie methodologische Impulse aber auch jene Untersuchungen zu Buche, die im englischen Roman des Bewußtseinsstroms (Wicht), im Nouveau roman (Burmeister) oder im amerikanischen Roman „verinnerlichter Humanität" (Riese) das jeweilige Dilemma des bürgerlichen Protests gegen die bürgerliche Gesellschaft in seiner formalen Erscheinung wie in seinen geschichtlichen und ideologischen Wurzeln charakterisieren und die Grenzen subjektivistischer Alternativen markieren, ohne diese immerhin den Manipulationszwängen Widerstand leistenden literarischen Wagnisse pauschal als gesellschaftsflüchtend dem Konservatismus anheimfallen zu lassen. Diese Zeugnisse der inneren Widersprüchlich^ keit des Kapitalismus sind beredter Ausdruck eines ins Ästhetische abgesonderten Ringens um jene reale Menschlichkeit, die von der realistischen Literatur, besonders von der sozialistischen, in seiner historischen und internationalen Dimension gestaltet wird. Die welthistorische Tendenz des Übergangs zum Sozialismus stellt sich in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern als ein komplexer, anhaltender Prozeß dar, in dem Teilprozesse, auch literarische, abgeschlossen und überschaubar sind. Andere Prozesse entwickeln sich, zeigen sich in seismographischen Romanen, die gegenwärtige und zukünftige Erschütterungen signalisieren. Selbst wenn sich definitive Resultate noch nicht in allen diesen Fragen anbieten - die wissenschaftliche Beobachtung, wie sie dieser Band unternimmt, darf wohl als eine Information und hinlänglich Aufklärung gebende Stufe des Forschens gelten.
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Romane
Günther Klotz
Imperialismusbild und Romanstruktur Wandlungen weltanschaulicher Positionen und literarischer Perspektive im englischen Roman
Die folgenden kurzen Ausführungen wollen die Aufmerksamkeit auf bestimmte Fragen lenken, die unser heutiges literaturwissenschaftliches Interesse in bezug auf vergangene und gegenwärtige Stoffe und auf literarische Entwicklungen als Medien und Faktoren geschichtlicher Veränderungen aufwirft. Dennoch liegt die Begrenztheit des Themas auf der Hand, orientiert es doch auf produktionsästhetische Aspekte. Gesichtspunkte der Rezeption, des kommunikativen Zusammenhangs und der gesellschaftlichen Funktion werden tentativ in die Überlegungen eingebracht, ohne freilich schon methodisch aufeinander bezogen zu werden. Zusammenhänge von Imperialismusbild und Romanstruktur können deshalb nur paradigmatisch und thesenhaft dargestellt werden. Solche Paradigmata sehen von jeglichem Anspruch ab, Entwicklungen zu punktieren oder gar eine einzige und womöglich gerade Entwicklungslinie zu bezeichnen. Vielmehr sind es Beispiele künstlerischer Möglichkeiten, für die andere Werke - wenn auch auf andere Weise ebenfalls sprechen. Nichtsdestoweniger verkörpern die ausgewählten Gegenstände in allgemeiner Weise sowohl Positionen als auch Trends, ohne, wie gesagt, Literaturgeschichte zu definieren. Auszugehen ist von der Krise der bürgerlichen Ideologie, die mit dem Zeitalter des Imperialismus einsetzt. Als die Monopole die einstigen sogenannten bürgerlichen Freiheiten und den gesellschaftlichen Verkehr der freien Konkurrenz - die Existenzform des Bürgertums im 19. Jahrhundert - einzuschränken begannen, trat im Bewußtsein der nichtmonopolistischen Schichten die Welt dem Menschen fremd, feindlich und rätselhaft gegenüber. Der bürgerliche Traum, daß der Fortschritt der Zivilisation zum Wohl der Völker auf kapitalistischer Basis unter Wahrung der bürgerlich-demokratischen Ideale aus der Aufstiegszeit der Klasse möglich sei, zerbrach und stieß viele von dieser Gesellschaft ab. Verfasser von Romanen, von komplexen epi-
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sehen Gesellschaftsbildern also, wollten und konnten nicht mehr auf prinzipiell bestätigende Weise Spiegel kritischer Selbstverständigung der Gesellschaft sein. Es wurde schwierig und unnatürlich für sie, den umfassenden Charakter und die abstrakte Natur gesellschaftlicher Prozesse in individueller Fabel zu gestalten, weil ihnen anonyme Gesellschaftsprozesse die Erkenntnis verweigerten und ihnen mit dem liberalen Fortschrittsglauben die integrierende Instanz des Erzählens verlorengegangen war. Dennoch schöpften einige Autoren aus der Reflexion der Krise und aus der Auseinandersetzung mit ihr die Energie, sich unbeirrt um Menschlichkeit und einen humanistischen Kunstauftrag zu bemühen. So schieden sich in der englischen Literatur bald die Geister zwischen proimperialistischen Positionen bei Rudyard Kipling (1865-1936), Aldous Huxley (1894-1963) und anderen - und den Positionen von Gesellschaftskritikern und Alternativen Suchenden: von Joseph Conrad (1857-1924) über E. M. Forster (1879-1970), C. P. Snow (geb. 1905) und Graham Greene (geb. 1904) bis zu dem Marxisten James Aldridge (geb. 1918) und dem aus der Arbeiterklasse stammenden Alan Sillitoe (geb. 1928). Im Rahmen der zunehmenden Vergesellschaftung der Kommunikationsprozesse und der relativen Unabhängigkeit der literarischen Weltaneignung war der Entwicklung realistischer Literatur ein gewisser Raum gegeben. Für die Gattung des Romans gelten jedoch spezielle Bedingungen: Seine Anfertigung bleibt ein arbeits- und zeitintensiver individueller Akt, der sich kollektivem Herangehen versperrt, aus sich selbst keine oppositionelle Gruppenöffentlichkeit schafft und sich für operative Nutzung in politischer Tätigkeit oder in medialen Aktionen zur Aufhebung der bürgerlichen Dominanz in den Kommunikationsverhältnissen wenig eignet. Verlagsarbeit, Drucklegung und Vertrieb sind technisch, personell und organisatorisch unerhört aufwendig. Bei hohem Vergesellschaftungsgrad sind die kapitalistischen Kommunikationsverhältnisse hinsichtlich des Romans demzufolge nur schwer zu durchbrechen oder zu umgehen, wie denn auch die Literaturverhältnisse vom Genre des Romans her weniger strukturverändernde Impulse erhielten als etwa vom Drama. Diese Kommunikationsverhältnisse hinsichtlich des Romans sind in Großbritannien selbst gegenwärtig relativ stabil, während sich - verstärkt seit den sechziger Jahren - ein Theater außerhalb des bürgerlichen Theaterbetriebs, antiimperialistisch wirkende Flugblattfolgen, Zeitschriften und Lehrmaterialien, Singe- und Musikgruppen, Film- und Videoteams und andere kollektive künstlerische Aktivitäten entfalteten, die auf 2»
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ein gegenüber dem Gesellschaftssystem alternatives Bewußtsein wie auch auf eine Wandlung der Kunstverhältnisse zielen. Es gibt also kaum einen Fringe-Roman1*, kaum einen Roman außerhalb des herrschenden Verlagssystems und Buchhandels. Die Konsequenzen sind zu bedenken, will man Struktur und Realismus der Romane bewerten. Thematisch bietet sich für seine Betrachtung der Kolonialismus als ein Hauptaspekt und als symptomatisches Phänomen des britischen Imperialismus an. Der Kolonialismus markiert jenen Punkt, an dem Großbritannien am stärksten und nachhaltigsten von den revolutionären Prozessen in der Welt betroffen wurde. Seit dem ersten Weltkrieg bzw. seit der Oktoberrevolution sind zwei historische Etappen des Kolonialismus erkennbar. Die erste ist von der Entstehung des realen Sozialismus in der Sowjetunion und damit von der beginnenden Krise des Imperialismus gekennzeichnet. Solange sich im Kampf um die Neuaufteilung der Welt die Gegensätze zwischen imperialistischen Mächten zuspitzten, konnte der Imperialismus einzelne Positionen festigen. Das britische Empire erfuhr die ersten Erschütterungen aber schon in der Niederlage der Intervention in der Sowjetunion 1918 bis 1920, in den zum Blutbad von Amritsar 1919 führenden Ereignissen, in der Selbstbestimmung Afghanistans 1920 und auf der Washingtoner Konferenz von 1921, auf der die USA die britische Seeherrschaft brachen. Im Nahen Osten konnte das Empire trotz Rückschlägen in Ägypten sich den Zugang zum arabischen ö l (Mossul) offenhalten. 1931 erzwangen die Dominien die staatsrechtliche Gleichstellung mit Großbritannien, womit sich die zentrifugale Tendenz der Kolonien ankündigte. Jedoch erst in der zweiten Etappe, nach 1945, wird der Verfall des Kolonialismus eingeleitet: Das sozialistische Weltsystem entsteht, und die nationalen Befreiungsbewegungen erheben sich. Über dreißig britische Kolonien, Länder und Gebiete Afrikas, des Nahen Ostens, Vorderasiens und der Karibik sind seit 1945 unabhängig geworden, darunter Indien, Pakistan, Ceylon, Ghana, Kenia, Nigeria, Südafrika, Rhodesien, Jamaika, die arabischen Öl-Emirate Bahrein, Katar und Kuweit; die Malediven und die Volksdemokratische Republik Jemen schieden ganz aus dem Commonwealth aus. Allein 1960 errangen siebzehn afrikanische Länder ihre Befreiung. Die Aufrechterhaltung militärischer Positionen „östlich von Suez", der permanente Ausnahmezustand in Nordirland und der Beitritt zur EWG 1972, mit dem die Zollpräferenzen im Com* Ziffern mit Stern weisen auf Sachanmerkungen hin.
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monwealth abgebaut oder zumindest eingeschränkt werden sollen, sind Auflösungserscheinungen des Weltreichs, deren Lasten die Regierung dem englischen Volk aufzubürden versucht. Das Empire als weltpolitischer Machtfaktor besteht nicht mehr. In dem Roman A Passage to India (1924, Auf der Suche nach Indien)* gestaltet E. M. Forster das prekär gewordene Verhältnis zu dem brüchig werdenden Kolonialismus in dem Bemühen des Engländers Fielding, eine Brücke der Freundschaft zu dem Inder Dr. Aziz zu schlagen. Der Realität entsprechend läßt Forster dieses Bemühen mißlingen. Die gesellschaftlichen Fragen erscheinen bei ihm als Fragen persönlicher Beziehungen. Die mit dem Imperialismus heraufdämmernde Schaffensproblematik löst der Autor, der sich selbst im Ausklang des Liberalismus sieht, also damit, daß er das epische Geschehen in der Subjektivität des bürgerlichen Humanisten zentriert. Die liberale Selbstgefälligkeit war damit zu überwinden, doch ein neues Dilemma tat sich auf: Einerseits war mit der bürgerlichen Individualität, mit dem auf demokratische Ideale fixierten Gewissen, ein Punkt gefunden, von dem aus der Autor glaubwürdig gegen die postliberalen, die imperialistischen Verhältnisse sprechen konnte. Andererseits verfügte das bürgerliche Individuum nur über eine begrenzte Kraft, Zusammenhänge zu ergründen und Verhältnisse zu ändern; seine Wirksamkeit beschränkte sich auf den persönlichen Bereich. Episodische Darstellungsweise, Symbole ethischer Normen, unerklärte Mythen und ein Erzähler, der entweder nicht alles weiß oder nicht alles erzählt, charakterisieren Forsters Stil. Im Vergleich zu Joyce und Woolf, deren Helden ins Nichts ausbrechen bzw. nichts Wesentliches vermögen, zeichnet Forster die Individualität als von Zeit, Klasse und Verhältnissen geformt und die Gestalten so reich an gesellschaftlicher Bewußtheit, daß er durch sie die zukunftsträchtige Sicht am Schluß formulieren kann: Die Freundschaft zwischen den Völkern wird nach Beendigung des Kolonialismus möglich sein. In der zweiten Etappe der Krise des Kolonialismus sucht Graham Greene in The Quiet American (1955, Der stille Amerikaner) neue Positionen gegen den Imperialismus. Ein ethisch geprägter Individualismus reicht Greene in den Jahren der atomaren Aufrüstung, des kalten Kriegs in Europa und neuer heißer Kriege „östlich von Suez" nicht mehr aus. Er läßt den Helden, den englischen Journalisten * Fremdsprachige Werktitel sind übersetzt, wenn sie das erste Mal genannt werden; Kursivdruck bedeutet, daß sie in deutscher Übersetzung vorliegen.
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Thomas Fowler, selbst erzählen, wie persönliche Umstände ihn 1952 zu einer Entscheidung gegen den US-Imperialismus, gegen den neokolonialistischen „dritten Weg" und für das vietnamesische Volk zwangen. Das zentrale Ereignis wird rückblendend als Knotenpunkt persönlicher und politischer Entwicklungen durch die geistige Physiognomie des Helden gesehen. Der Blickpunkt auf das Wachsen und Reifen seiner Persönlichkeit drängt das äußere Geschehen auf die Ebene der Reflexion oder einer anderen Zeit, wobei der Held als Erzähler ordnet, interpretiert, wertet. Als Journalist ist Fowler - wie der Autor Graham Greene - ein verantwortungsbewußter Beobachter, der Fakten übermittelt. Ihre Richtigkeit kann Fowler nur in seinem persönlichen Gesichtsfeld prüfen und garantieren, weshalb er sich aus individualistischer Verantwortung auch scheut, seine Erfahrungen einer begrifflichen Verallgemeinerung zu unterziehen. Den Fall des stillen Amerikaners Pyle erlebt er als ein Einzelschicksal, dessen Folgerungen über die Frage seiner - Fowlers - Integrität hinaus ihm sekundär erscheinen. In der Bestimmung dessen, was Menschlichkeit denn nun sei, geht Greene jedoch einen Schritt weiter. Seine neue Position besteht darin, daß er den Helden die Folgen seines Handelns für andere bedenken läßt: Fowler verbündet sich mit den Unterdrückten, mit der Zukunft. Darin liegt die Chance des bürgerlichen Humanismus. Aus proletarischer Sicht entwirft Alan Sillitoe in Key to the Door (1961, Der Schlüssel zur Tür) ein Bild der britischen Gesellschaft im Mutterland und in der Kolonie Malaya. Nach dem Bericht über die englische Kihdheit seines Helden Brian Seaton alternieren Abschnitte über den Dschungelkrieg gegen kommunistische Partisanen der nationalen Befreiungsbewegung 1948 mit Abschnitten über die davorliegenden Jugendjahre, in denen sich das Klassenbewußtsein des Arbeitersohns formt. Den Höhepunkt bildet eine Episode, in der Seaton einen Partisanen töten könnte, es aber nicht tut. Seaton entschließt sich spontan, den Feind laufen zu lassen - eine Handlung, die er erst hinterher begreift und zu der er sich als einer politischen bekennt. Sein Feindbild nämlich war durch die Erfahrungen eines jungen proletarischen Lebens geprägt worden, auch von Fehleinschätzungen (zum Beispiel in bezug auf seinen Vater), und es war besonders auf die Handlanger der Herrschenden konzentriert: die Bullen, den Einkommensprüfer der Wohlfahrtsbehörde, bestimmte Lehrer, den Feldwebel und die Offiziere. Als er selbst in die Rolle eines solchen Handlangers gerät, bricht er die Regeln des Systems. Am Schluß nimmt er sich 22
vor, nach Rückkehr in die Heimat als Sozialist in der Gewerkschaft aktiv zu werden. Gedanken, Erfahrungssplitter, unverbundene Erlebnisse beider Zeitebenen und die in spontanen Äußerungen anklingende wachsende politische Reife erfüllen sich in jener zentralen Episode, in der das gesamte Geschehen auf den Begriff gebracht wird, auf die Klassenfrage. Die persönliche Verwicklung in das Geschick des fernen: Lahdes, Seatons Beziehung zu dem einheimischen Mädchen, hat seine Entscheidung hauptsächlich insofern befördert, als diese Beziehung ihm die Rolle der japanischen und der britischen Imperialisten vor Augen führt und somit den „kostenlosen Ausflug nach dem Orient" als einen erzwungenen Handlangerdienst enthüllt. Unter diesem Aspekt der Klassenfrage finden Einzelszenen, innere Monologe und Symbole ihren - eher assoziativen als chronologisch-kausalen - epischen Bezug zum revolutionären Geschichtsprozeß als der außerkünstlerischen, Kunst konstituierenden höheren Einheit. Bürgerlicher Individualismus konnte wie bei Forster zum Ausscheren aus der herrschenden Ideologie und zum Einzelgängertum des Autors als Hüter der Wahrheit führen. Die Problematik des Individualismus ist dabei eine doppelte: Als Gegenstand .der Darstellung,: als Substanz des Menschenbildes erscheint er in Form der voluntaristischen Verteidigung der Menschlichkeit, die den objektiven Zwängen unterliegt; als Methode der Darstellung richtet er sich auf die Besserung oder Rettung des Individuums und seiner ethischen Normen, die sich zur Besserung der Gesellschaft summieren soll. Doch diese auf der relativen Entscheidungsfreiheit des bürgerlichen Individuums in der freien Konkurrenz beruhende Haltung war den monopolistischen Gesellschaftsverhältnissen und den historischen Vorgängen der Zeit nicht mehr angemessen. In der gegenwärtigen Etappe der Krise des Imperialismus offenbart sich, daß die Chance der realistischen Gestaltung des Lebens an eine höhere gesellschaftliche Qualität der humanistischen Anstrengung gebunden ist, an die Formierung demokratischer und sozialistischer Bewegungen, an die Annäherung an progressive Kräfte, wie sie in Greenes Roman zum Ausdruck kommt. Eine solche Parteinahme hängt nun aufs engste mit der Romanstruktur und der Erzählweise zusammen, denn diese Parteinahme ist in epischen Genres vor allem an die Gestaltung von Entscheidungsakten geknüpft, in der sich das aktive Verhältnis realistischer Kunst zur Wirklichkeit zeigt. Den objektiven Verlust eines solchen aktiven Verhältnisses zur Wirklichkeit, den breite bürgerliche Schichten mit der Entwicklung des Imperialismus als eine Desintegration ihrer ethi23
sehen Normen und der für sie traditionellen Lebenszusammenhänge erlitten, spiegelten bürgerliche Autoren auf die Weise in epischen Werken wider, indem sie die Welt szenisch, episodisch, reflektierend, psychologisierend oder dokumentarisch darstellten. Sie erfanden bzw. verwendeten Mittel, die einem passiven Verhältnis zur Wirklichkeit genügten und zunächst nicht mehr als eine empirische Aneignung der Welt leisteten. Einige Autoren griffen zu ihnen, weil sie Humanität und Geschichte leugnen wollten, doch gab es (und gibt es) ebenso Bemühungen, die assoziative Kraft und Bildhaftigkeit dieser Mittel zur Darstellung übergreifender Zusammenhänge zu nutzen oder zumindest sie so einzusetzen, daß der Leser solche Zusammenhänge erschließen kann. Wo Greene und Sillitoe sie zur Gestaltung gesellschaftlich und historisch relevanter Konflikte und Entscheidungen handhaben, funktionieren sie weltaneignend, nicht weltverneinend. Das Verfahren, diese Mittel im Roman in einer solchen Perspektive zu verwenden, wird von den realen Handlungsmöglichkeiten der Menschen und von ihren sozialethischen und politischen Wertsetzungen bestimmt, und diese müssen in ständigem Kampf gegen die apologetische Denunziation von Geschichte, Praxis, Humanität und gegen die Theorie vom Tod der Literatur immer wieder neu begründet werden. Das gegenwärtige antiimperialistische Bündnis, das in einer Reihe lebenswichtiger Fragen auch breite Schichten des nichtmonopolistischen Bürgertums umfaßt, bildet die Grundlage für eine in England seit dem Auftreten der „zornigen jungen Männer" in den fünfziger Jahren zu beobachtende Erscheinung, die noch wenig untersucht ist: die wechselseitige Intensivierung literarischer Gestaltungs- und Wirkungsmöglichkeiten von bürgerlichen realistischen Darstellungsweisen und von proletarischen und sozialistischen, wie sie auch ein Vergleich von The Quiet American und Key to the Door bezeugen würde. Im Roman wurde von Sillitoe - wie schon zuvor von anderen im Drama - die Abstinenz proletarischer Autoren gegenüber neuen Gestaltungsmitteln konstruktiv durchbrochen. Um so erstaunlicher war Sillitoes Vorstoß, als die englische Literatur der Arbeiterklasse, nach 1945 repräsentiert durch Herbert Smith (geb. 1923), Len Doherty (geb. 1930), David Lambert (geb. 1922) und Robert Bonnar (geb. 1924), in ihren Milieuschilderungen lange alten Kunstmitteln verpflichtet blieb. D a es ihr auf die deutliche Parteinahme ankam, behielt sie ein direkt wertendes Erzählen bei; da sie ein Gesamtverständnis der Gesellschaft vermitteln wollte, scheute sie sich nicht, allwissend 24
Verallgemeinerungen zu treffen; da ihre sozialethischen und politischen Wertsetzungen von der im Prinzip ungebrochenen Solidarität der Arbeiterklasse getragen wurden, glaubte sie im deklamatorischen Ausdruck proletarischer Ideale bereits einen mobilisierenden Beitrag zur Aneignung der Welt durch die Klasse geleistet zu haben. Sillitoe vertraut weniger auf die Darstellung eines fertigen Klassenbewußtseins. Einsichten läßt er aus den Erfahrungen der sozialistischen Individualität und aus deren Umgang mit der Welt erwachsen, aus dem schmerzvollen Prozeß, in dem sich - erst unbewußt, dann bewußt ein Klassenstandpunkt formt, der dem jungen Menschen einen festen Halt gibt und seine Persönlichkeit zunehmend prägt. Von diesem Standpunkt aus werden der Klassenkampf im Mutterland und die nationalen Befreiungskämpfe der ehemaligen Kolonialvölker als Teile ein und derselben geschichtlichen Veränderungen der Welt begreifbar. Episch zu bewältigen ist für Sillitoe diese Dialektik von Individualität und Klassenbewußtsein unter Verwendung auch jener Mittel der Veranschaulichung geistig-psychischer Reaktionen und Prozesse, die bürgerliche Autoren zur Beschreibung der psychischen Abwehr der Welt und des Persönlichkeitsverfalls hervorgebracht hatten. Die ursprünglich der Fragmentisierung chaotischer Erfahrungen, der fragmentarischen Abbildung als unzusammenhängend empfundener Welteindrücke dienenden Mittel wie Zeitsprünge, Aufsplitterung von Szenen, Gedankenketten, parallele Beobachtungen und Blickpunktwechsel, mehrfache geistige Brechung von Berichten, Mischung von Realitätsfetzen und Phantasiegebilden, Mittel also, mit denen eine auseinanderbrechende Welt oder ein auseinanderbrechendes Bewußtsein von ihr suggeriert werden konnten, wandelt Sillitoe um und strukturiert sie zu verständlichen Bildkomplexen und Aussagen, bindet sie in synthetischer Funktion zu suggestiven Erlebnismustern, in denen sich eine materialistische und dialektische Wirklichkeitsauffassung manifestiert. Mit der sozialen und internationalistischen Erweiterung des Imperialismusbildes haben sich die Romanperspektive, die Haltepunkte einer historischen Bewertung des individuellen und des gesellschaftlichen Geschehens sowie die epischen Mittel ihrer Realisierung gewandelt. Damit sind die realistischen Kunstbemühungen erheblich bereichert worden. Noch ein Wort zum kommunikativen Aspekt. Die Loslösung realistischer bürgerlicherAutoren von den herrschenden Wertvorstellungen stört noch nicht die Integration ihrer Werke in die Produktionsund Distributionsverhältnisse, solange die Bücher einen entsprechen25
den Gewinn abwerfen und solange die Autoren diese Verhältnisse nicht bekämpfen. Greene war ein bürgerlicher Erfolgsautor, bevor er in den Romanen der fünfziger und sechziger Jahre gegen den Imperialismus Stellung bezog. Auch Sillitoe war vor Key to the Door ein proletarischer Erfolgsautor, den die unter Profitzwang stehenden Kommunikationsmedien während des Aufschwungs antiimperialistischer Aktivitäten der sechziger Jahre akzeptieren konnten, ohne sich selbst zu gefährden; im gegenwärtigen Jahrzehnt sind seine Romane ärmer, flacher und zum Teil verworren geworden. Da der Roman nicht wie das progressive britische Drama seine sozialistisch-realistische Entwicklung in demokratisierten Gruppen und selbstgeschaffenen Bedingungen probt, soweit das im Rahmen kapitalistischer Verhältnisse möglich ist, sondern noch relativ isoliert erzeugt und rezipiert wird, hat sich um ihn noch keine Front gegen die etablierten Institutionen gebildet, in der sich seine antiimperialistischen Produzenten und ihr Publikum zusammenschließen könnten. Vielleicht liegt in diesen Umständen einer der Gründe, weshalb gerade dieses Genre in den Literaturen kapitalistischer Länder weniger sozialistische Werke von nationaler und internationaler Bedeutung aufweist als das Drama, der Film oder kleinere Kunstformen. Dieses Moment der Ungleichmäßigkeit in der Entwicklung der Künste in der Übergangsepoche sollte uns die hervorragenden Romane um so höher schätzen lassen.
Günter Walch
Epochenproblematik und Realismus bei E.M. Forster
Die bürgerliche englische Literatur der zwei Jahrzehnte vor der Oktoberrevolution bezeugt in auffälliger Vielfalt, wie folgerichtig jenes nur scheinbar so ferne spätere geschichtliche Ereignis war. Die Spannungen des Imperialismus, die dort zur revolutionären Entladung kommen sollten, wurden in England mit besonderer Heftigkeit zum Grunderlebnis einer Schriftstellergeneration. Immerhin befand sich England, soeben noch unangefochten industrielle Wirtschaftsvormacht der Welt, nun in einer völlig veränderten internationalen Situation verbissener Monopolkämpfe. Für eine relativ kleine Zahl von Künstlern - Edward Morgan Forster' gehört später zu ihnen - wird die Erfahrung des Kolonialismus werkprägend. Für alle Dichter von Rang aber werden die Folgen der gesellschaftlichen Veränderungsprozesse schaffensbestimmend. Die sich zunehmend intensivierende kapitalistische Entfremdung der Arbeit wird bürgerlichen Künstlern schockartig bewußt. Was jetzt literaturgeschichtlich geschieht, läßt sich nicht auf bürgerlich-traditionelle Art als „Revolte gegen den Viktorianismus" fassen. Freilich, die auf dem Liberalismus gründende Wertwelt des in mehrfacher Hinsicht etablierten Industriebürgertums der Jahrhundertmitte war mit dem Schwinden ihrer sozialökonomischen Basis zusammengebrochen. Aber die notwendige Abrechnung mit den Pressionen der „viktorianischen" Gesellschaft (etwa durch den Romancier Samuel Butler) geht auf in der „dem Imperialismus eigene[n] Sinn- und Wertkrise" 1 . Von ihrem Anbeginn an wird sie literaturprägend. Diese Sinn- und Wertkrise gewinnt periodenkonstituierendes Gewicht, aber erst in Einheit einerseits mit der Genesis des sozialistischen Realismus und zum anderen mit der bedeutungsvollen Bewährungsprobe, die der bürgerliche Realismus in dieser kritischen Zeit in England besieht und von der hier die Rede ist. Er besteht sie in einem zähen Ringen, freilich um einen hohen Preis. 27
Bisher nicht gekannte Erkenntnis- und Wertungsschwierigkeiten werden zum Kernproblem im Schaffensprozeß gerade der großen bürgerlichen Autoren. Die ästhetischen Konsequenzen sind vielfältig. Oftmals wird die Versuchung übermächtig, aus einer häßlichen, bedrohlichen und undurchdringlichen Welt in die Welt der Kunst um ihrer selbst willen, in die private Idylle, in mystische Regionen, ins exotische Abenteuer zu flüchten. Symptomatisch ist, wie der Mensch jetzt machtlos der Willkür eines anonymen Schicksals ausgeliefert scheint (Thomas Hardy) und wie die Welt als fremd, unwirklich, rätselhaft, zumindest als abweisend erlebt wird. Gerade bedeutende Autoren haben auch theoretische Schwierigkeiten, zur Erkenntnis des Wesens der veränderten Wirklichkeit zu gelangen (Joseph Conrad, E. M. Forster) und dem Leben den relevanten literarischen Gegenstand abzugewinnen (Robert Louis Stevenson, Henry James). Andererseits aber behaupten die großen bürgerlichen Romanciers eben aus der Reflexion jener schmerzhaft empfundenen Widersprüche humanistische Positionen unter den neuen, unerhört komplizierten Bedingungen des menschenbedrohenden imperialistischen Chaos. Ein völlig gewandeltes subjektives Verhältnis zur neuen Wirklichkeit, ein häufig verzweifeltes Ringen um Werte und um Verstehen, um Funktionsverständnis und Perspektivgewinnung produziert neue Strategien und Strukturen epischer Weltaneignung. Mit ihrem ästhetischen, antiimperialistisch geprägten Gehalt sind die Werke jener großen Romanciers gerade durch ihre Widersprüchlichkeit in ihren Wirkungen unserem eigenen Kunstprozeß vorausgesetzt. Edward Morgan Forsters Œuvre, zu wenig bekannt bei uns, eröffnet exemplarischen Zugang zu Elend und Glanz jener Literatur. 1879 in den Beginn der imperialistischen Entwicklung hineingeboren, erlebte er 1914 die Explosion ihrer Widersprüche, dann aber 1917 das Gestaltwerden neuer Hoffnung. Wie noch zu zeigen sein wird, hat er gerade diesen Vorgang reflektiert, freilich im Bewußtsein der ihm durch seine bürgerliche Sensibilität gesetzten Schranken. Er starb 1970. Zu den prägenden Erfahrungen seines langen Lebens gehörten also noch die Bestätigung seiner antifaschistischen Aktivität durch den Sieg der Anti-Hitler-Koalition, die Entstehung des sozialistischen Lagers, aber auch der kalte Krieg. Zu Forsters Grunderlebnis und Grundthema wird der im Konflikt des „äußeren" und „inneren" Lebens („outer life", „inner life") gefaßte Zerfall der geistig-emotionalen Physiognomie, der Harmonieverlust des spätbürgerlichen, durch den „Zustand der Entfremdung" 28
(Marx) verkümmerten und verarmten Menschen mit seinem „unentwickelten Herzen". Teil seiner Erfahrungen, aus denen er seinen Stoff nimmt und formt, wird - und auch damit weist sein Werk weit über seine Zeit hinaus - das spätbürgerliche Verhältnis zu Technik und Naturwissenschaft, bewertet unter ökologischem Aspekt. Industriebürgerlicher Überschwang schlägt ins Gegenteil um. Bei Forster erscheinen die neuen Hervorbringungen der Technik wie etwa das Automobil als die Landschaft verunstaltende, bedrohende und zerstörende Erscheinungen, so, wie insgesamt die grauen Städte des Kapitalismus gierig das Land verschlingen und den Menschen seiner Bindung an die Natur berauben. Die Zerstörung der urwüchsigen Bindungen des Menschen an das Land gefährden akut die Integrität seiner Persönlichkeit, wie umgekehrt die Kräfte der Natur befreiend wirken. Forsters Wille und Vermögen zur Kommunikation, seine humanistische Wirkungsabsicht bauen auf den Kontakt zum Leser und münden in das literaturprogrammatische Bekenntnis zur „Deutung und Humanisierung dieser chaotischen Welt" („interpreting and humanizing this chaotic world")2. Als Bezugsebene ästhetischer Wertung bietet sich ihm die Alternative des Konzepts der „persönlichen Beziehungen" („personal relations"): Sie sind „das Wichtige und werden es bleiben, und nicht diese äußere Welt der Telegramme und des Ärgers"3. Ihre Bedeutung wird im Sinn der Bloomsbury Group4 mit ihrem nicht zufällig sehr einflußreichen Stammphilosophen G. E. Moore bei ihm vereinseitigt. Moore hatte mit seiner Hinwendung zu dem als äußerst prekär empfundenen Problem ethischer Werte (Principia Ethica, 1903) starke direkte und vermittelte Resonanz gerade unter Künstlern und Intellektuellen. Den Kern seiner Ideen umfaßt der folgende Satz: „Wahrscheinlich hat niemand, der sich die Frage vorgelegt hat, je bezweifelt, daß persönliche Zuneigung und die Wertschätzung des Schönen in der Kunst und Natur an sich gut sind, auch scheint es unwahrscheinlich, daß irgend jemand, wenn wir sehr genau erwägen, welche Dinge r e i n um i h r e r s e l b s t w i l l e n wert sind, besessen zu werden, der Meinung ist, etwas anderes habe auch nur a n n ä h e r n d so großen Wert wie die in diesen beiden Punkten beschlossenen Dinge."5 Die Parallele der von der Bloomsbury Group insgesamt vertretenen Betonung der „persönlichen Zuneigung" zu Forsters Credo der „persönlichen Beziehungen" liegt auf der Hand, ebenso wie die Zeit29
typik der Wertschätzung des Schönen an sich. Überhaupt ist die ahistorische Abstraktheit der Priricipia Ethica Moores aufschlußreich. Die Kriterien des Guten sind für Moore nicht aus dem historisch bedingten axiologischen Verhältnis des Subjekts zur Wirklichkeit ableitbar, sondern sind a priori als Sache des Instinkts angelegt. Auch hier zeigt sich der Kreditverlust der bürgerlichen Gesellschaft als Bezugsebene ethischer Wertungen. Um überhaupt noch ethisch werten zu können - und die Notwendigkeit nicht zuletzt für den Künstler bleibt unbestritten - , muß der Orientierungsmaßstab aus der suspekten Gesellschaft in das Individuum verlegt werden. Erst so, von diesem problematisch und daher in der zeitgenössischen Literatur weithin thematisch gewordenen Beziehungselement komplexer ästhetischer Wertung her (die bei Moore wiederum als Wert an sich begriffen wird), erst in der insularen Begrenzung auf persönlichste Beziehungen zwischen Individuen scheint Schönheit noch oder wieder vorstellbar. Für Forster wird sie denkbar als Prozeß menschlicher Reintegration, Emotionalisierung und Sensibilisierung zur Überwindung menschlicher Erstarrung und Verarmung: Bei aller Einseitigkeit und Begrenzung erweist sich der humanistische Stellenwert des integrierenden „only connect" andeutungsweise aus der Antithese T. S. Eliots in The Waste Land (1922, Das wüste Land): „Ich kann nichts mehr/ Zusammenbringen" („I can connect/ Nothing with nothing").6 Selbst durch bürgerlichen Individualismus belastet, ist Forster auf einer problemreichen Suche nach der integrierenden, letztlich gesellschaftlichen Substanz der menschlichen Persönlichkeit. Die Dringlichkeit nicht entfremdeter menschlicher Beziehungen, die Befreiung des Menschen aus der Verkümmerung seiner menschlichen Wesens- und Sinneskräfte bleibt Forsters immer neu variiertes Grundthema. In den Short Stories gibt er dem Motiv der Flucht aus der die Menschlichkeit erstickenden Welt der Mittelklasse Gestalt durch den Rückgriff auf eine märchenhafte Phantasiewelt (The Celestial Omnibus, 1911, Der himmlische Omnibus) oder auf mythologische Motive mit der seit der Aufklärung traditionellen Antithese von Gesellschaft und Nafcur (Other Kingdom, 1911, Das andere Königreich). Die bestürzende Wirklichkeit selbst mag Forster vor Augen geführt haben, daß eine von Pan und den Nymphen bevölkerte, mehr durch das klassischer Bildung abgewonnene Zitat unangemessener war als der zum Bild verdichtete Widerschein des Lebens. Jedenfalls stellt er sich mit den zwischen 1905 und 1910 geschriebenen Romanen in die große Tradition des komischen Gesellschaftsromans („novel of social 30
comedy")7 Jane Austens (1775-1817) und George Merediths (1828 bis 1909). Er eignet sich damit ein Medium an, dessen Genesis an die des wohlsituierten Bürgertums als seinen Gegenstand gebunden ist. Natürlich wird das Genre den künstlerischen Absichten anverwandelt. Bei aller Kritik an der fundamentalen Inhumanität der bürgerlichen Gesellschaft bringt Forster doch Verständnis für seine Figuren mit dem „unentwickelten Herzen", die Objekte seiner Kritik, auf und überschüttet sie nicht mit dem ätzenden Hohn, dem Meredith seinen Sir Willoughby Patterne (Tbe Egoist, 1897, Der Egoist) aussetzt. Der Preis ist gegenüber dem großen Gesellschaftsroman des 19. Jahrhunderts eine erhebliche Einengung des sozialen Spielraums, der Welt und personnage. Von dem soziologisch und innerhalb dieser Begrenzung nochmals quantitativ beschränkten Aktionsfeld geht Forster aus, die Tradition des komischen Gesellschaftsromans fortschreibend, um - wie Austen und Meredith vor ihm - sein Generalthema in der Tiefe ausloten zu können. Aber die Dialektik von Traditionsfolge und literarischer Innovation entfaltet sich im folgenden gerade in der Weise, daß die Wände des Isolierraums der „social comedy" (Sittenkomödie) immer durchlässiger gemacht werden, daß mit zunehmender Wahrnehmung gesellschaftlicher Komplexität der Wirklichkeitsbezug ausgeweitet wird, vermittelt durch eine nicht unbedingt an die Fabel gebundene hochentwickelte Motiv- und Symbolstruktur. Leitmotive, Bilder, (oft freilich hermetische) Symbole werden in bestimmter Abfolge entfaltet und variiert, um so mit sehr bewußtem, ordnungssuchendem Bezug »uf musikalische Strukturformen einen Rhythmus aufzubauen. Das Werk Beethovens ist ein für den Humanisten Forster signifikanter Bezug - vermittelnd und motiv- und handlungsbildend. Die Romanfabel, für Forster ausgesprochen wichtig, unterliegt dennoch in Funktion und Struktur einem Wandel. Sie beginnt bereits hier ihr Strukturmonopol zu verlieren. Die Aktionen der Figuren genügen offensichtlich nicht mehr allein zur Entfaltung der Handlung. Die Ereignisse werden von verschiedenen Gesichtspunkten relativierend dargestellt, die Chronologie büßt ihr strenges Regiment ein. Vor allem läßt Forster die Handlung nach längeren betont ruhig verlaufenden Strecken plötzlich in gewalttätigen Eruptionen explodieren: nicht um „Augenblicke des Melodramas" („moments of melodrama")8 geht es hier, sondern um das Sinnfällig-Machen bestürzend unberechenbaren Eingreifens des Zufalls - oft als Unfall - in menschliche Lebensläufe. Auch hierin äußert sich die Schwierigkeit des Weltverständnisses, die 31
bei unverzichtbarer Wirkungsabsicht zu einer Form drängt, die Assoziationen und der Evokation zumindest gleiche Rechte wie der unmittelbaren Darstellung einräumt. So entsteht jene Qualität, die Forsters Romane für eine Reihe Kritiker in die Nähe der poetischen Gattung riitken läßt. Dabei ist Form für Forster, der in der ordnungs.suchenden und -stiftenden Funktion der Kunst nicht zufällig ihren höchsten Wert erblickt,9 von größter Wichtigkeit. Form ist äußere Evidenz innerer Harmonie und Ordnung,10 ist daher nicht zu oktroyieren, sondern dem Gegenstand abzugewinnen. Auch seine „gewaltsamen", mitunter schockierenden Erfindungen fügen sich trotz einer gewissen Tendenz zur Verselbständigung letzten Endes seiner Suche nach dem Gegenstand inhärenter Ordnung, realisieren aber zugleich mit der gnoseologischen, abbildenden Funktion des Realismus Forsters seine bildende Funktion durch die Darstellung. Sinngemäß Gleiches gilt für Forsters allwissende Erzählhaltung, an der die generelle Diskreditierung angesichts einer immer schwerer durchschaubaren Wirklichkeit nicht ohne Spuren vorübergegangen ist, die Forster aber in aufklärerischer Tradition beibehält. Nur verteidigt er eben deshalb den allwissenden Autor als Deuter des - de facto nicht sehr deutlichen - Universums, lehnt ihn aber, was die Figuren betrifft, ab, versagt ihm also die Mitsprache gerade im heiklen Zentrum seiner Romankunst. Ihre erregendste Ausprägung erfährt diese Romanform in Howards End (1910, Howards End), weil Forster hier zur Quelle des bürgerlichen Klassenantagonismus mit seinen vielfältig vermittelten Folgen vorstößt. „Das Privateigentum hat uns so dumm und einseitig gemacht", wie Marx in den ökonomisch-philosophischen Manuskripten11 sagt, „daß ein Gegenstand erst der u n s r i g e ist, wenn wir ihn haben, also das Kapital für uns existiert oder von uns unmittelbar besessen wird . . . An die Stelle aller physischen und geistigen Sinne ist daher die einfache Entfremdung a l l e r dieser Sinne, der Sinn des Habens getreten. Auf diese absolute Armut mußte das menschliche Wesen reduziert werden, damit es seinen innern Reichtum aus sich herausgebäre." Nicht schlechthin der „Sinn des Habens", wie etwa bei Forsters Zeitgenossen John Galsworthy als „Besitzinstinkt" („possessive instinct"), wird Forsters Thema in Howards End; mehr als das ist es eben die widerspruchsvolle Dialektik jener Reduktion menschlichen Wesens auf „absolute Armut", deren Geschichtlichkeit Forster hier - widerstrebend - anerkennt, und seiner historischen Emanzipation. Das Haus, das dem Werk seinen Titel gibt, ist ein Hort des 32
Lebens als Inbegriff von Kontinuität, ein Ort der Sicherheit und Kommunikation, ein symbolischer Entfaltungsraum nichtentfremdeten Lebens. Das Haus ist von der Art, die, in Forsterschen Chiffren, das Leben humanisierende Eigenschaften hat: „Es tötet das Schreckliche und macht das Schöne leben." (S. 317) Aber dieses Haus ist Gegenstand von Besitzdenken und Besitztransaktionen. Die Rechtmäßigkeit seiner Bewohnung leitet sich entgegen allen geheiligten bürgerlichen Regeln ausdrücklich nicht aus den Eigentumsverhältnissen ab. Im Gegenteil, eben im Außerkraftsetzen des Eigentumsrechts erweist sich das moralische Recht der Vertreter einer - historisch freilich abstrakten - Menschlichkeit, die mit den Attributen ihrer Kultur hier den ihnen gemäßen Ort gewinnen, so daß sich selbst die Gegenstände ihren Bedürfnissen und Wünschen fügen: Die verbotene Tür des Hauses muß sich am Ende den rechtmäßigen Bewohnern öffnen. Wie schon Lionel Trilling in einem der trotz bürgerlich-soziologischer Begrenztheit wichtigsten Beiträge englischer Anglistik zu Forster nachgewiesen hat, weitet Forster die Bezugsstruktur des Romans durch das Verfahren symbolischer Verallgemeinerung beträchtlich über sein primäres Stoffe und Handlungsgefüge hinweg aus. Lionel Trillings Grundfrage: „Wer soll England erben?"12 zielte mitten ins Zentrum der sozialen Auseinandersetzungen, und zwar nicht nur zur Entstehungszeit von Howards End. Aber gerade weil diese Verallgemeinerung nicht in jenem soziologisch bestimmten Bereich (einem Konflikt zwischen verschiedenen Schichten des Bürgertums) befangen bleibt, sondern - genereller, vor allem auch tiefer - auf den fundamentalen sozialen Grundwiderspruch bürgerlicher Gesellschaft zielt, fordert Forster in Howards End nicht nur die von ihm angeeignete Form des komischen Gesellschaftsromans schlechthin bis zum Zerreißpunkt, sondern zugleich seine bürgerlich-realistische Methode. Sechs Jahre vor Lenins Imperialismus-Analyse und sieben Jahre vor der Revolution eröffnet er mit jenem Tür-Symbol poetische Ahnungen nicht nur von der Notwendigkeit, sondern auch von der Möglichkeit der Befreiung der Menschheit vom bürgerlichen Eigentumsdiktat. An Forsters essayistischem Schaffen ist die Konkretisierung seines Epochenbewußtseins durch den Sieg der Oktoberrevolution ablesbar. Die gelegentlich mit der Bezeichnung Forsters als „Thomas Mann Englands" gezogene Parallele bestätigt sich jedenfalls in der beiden gemeinsamen - keineswegs unkritischen - Verteidigung bürgerlichdemokratischer Werte. Forster läßt die bürgerliche Demokratie aber im Sinne eines um so militanteren Humanismus einschränkend z w e i 3 Romane
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m a l hochleben ([Two Cheers for Democracy, 1943). Er wurde einer der prominentesten antifaschistischen Künstler Großbritanniens. Der Nationalsozialismus sah in ihm einen seiner dezidiertesten Gegner. Es war dies ein wohlverdienter Ruf. Zusammen mit Ralph Fox, Herbert Read, Aldous Huxley und anderen nahm er 1935 im Zeichen des Volksfrontgedankens am Pariser Schriftstellerkongreß und an der Gründung der Internationalen Schriftstellervereinigung zur Verteidigung der Kultur teil. Zusammen mit Shaw wurde er als englischer Vertreter in das ständige Büro der Vereinigung in Paris gewählt. Forsters Epochenverständnis gewahrte aber zugleich im Kommunismus die reale Menschheitshoffnung: „Kein politisches Bekenntnis außer dem Kommunismus bietet einem intelligenten Menschen irgendeine Hoffnung." Und es bedeutet in Forsterschem Weltverständnis viel, wenn er der Revolution in Rußland, die er im übrigen immer wieder verteidigte, das Verdienst nachsagt, sie habe versucht, „die Menschen mit den Dingen in Berührung zu bringen".13 Doch Epochenverständnis und literarisches Schaffen treten in ein Wechselverhältnis, das, äußerst spannungsreich, die realen Widersprüche reflektiert. Forsters Realismus verbleibt im Empfindungs- und Produktivitätsbereich bürgerlicher Sensibilität. Seine Einsicht und Hoffnung als Gestalter unmittelbar zu verwirklichen war darin nicht beschlossen. Sie zwangen ihn andererseits zur Selbstbefragung und ließen ihn seinem bisherigen historisch und biographisch. bedingten Erfahrungsbestand als Künstler hinsichtlich seiner literarischen Tragfähigkeit mißtrauen. Wie einige bürgerliche Realisten im 20. Jahrhundert konnte er ihn nicht aufheben und etwa - wie im Fall anderer - die Ankunft in neuen Territorien oder jenen Transitprozeß selbst zum Schaffensgegenstand machen. Die künstlerischen Folgen jener politischen Ideen und Aktionen waren dennoch gravierend. Ihnen verdanken wir nicht nur das erwähnte essayistische Schaffen Försters, dessen Einfluß auch auf den internationalen Prozeß beträchtlich ist. Ohne jene Basis wäre A Passage to India (1924, Auf der Suche nach Indien) s o nicht denkbar. Forsters realistische Methode gewinnt aus seiner sozialen Praxis eine gestalterisch zwar nicht unmittelbar realisierbare, aber dennoch nicht gestalterisch folgenlose gesellschaftsgeschichtliche Perspektive, die seinen Realismus vom kritischen Realismus des 19. Jahrhunderts methodenkonstitutiv unterscheidet Seine Schaffensmethode gestattet es ihm, sich internationalen Zusammenhängen und akuten oder potentiellen Problemen nicht schlechthin in dekuvrierender Absicht zuzu34
wenden, sondern in einer Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft einbegreifenden historisierenden Sicht in die Darstellung des Wirklichen zugleich die Perspektive des Möglichen im Noch-nicht-Möglichen einzubringen. Das gelingt in signifikantem Unterschied zu nichtrealistischer spätbürgerlicher Literatur einer Methode, die als geschichtlich-konstitutive ästhetische Funktion Wirklichkeitsveränderung produktiv impliziert. Forster konnte so in A Passage to lndia als einer der ersten bürgerlichen Realisten in unserem Jahrhundert aus der Gestaltung des antiimperialistischen Befreiungskampfes der Völker Möglichkeiten realistischen Schaffens, einschließlich der Möglichkeit ästhetischer Wertung, behaupten und erweitern. Hier vollzog sich die Aneignung einer Seite jenes Prozesses der Emanzipation der Menschheit und des Menschlichen, dessen totale Notwendigkeit und Möglichkeit Forsters Kunst seit dem ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts in gerade heute produktiver Weise höchst sensibel aufgespürt hat.
Wolfgang Wicht
Wandlungen im Funktionsverständnis : Virginia Woolf
Im November 1910 wurde durch den Kunstkritiker Roger Fry die erste Ausstellung mit post-impressionistischer Malerei in London organisiert. Sie wirkte auf die junge künstlerische Intelligenz wie eine Offenbarung und eröffnete eine etwa fünfzehn Jahre andauernde heftige Diskussion um Wesen, Gestaltung und Funktion von Kunst. Auf der einen Seite der Barrikade fochten jene, die, wie es in einer Besprechung der Ausstellung in dem einflußreichen Rezensionsorgan The Athenaeum hieß, zu der künstlerischen Tradition standen, die „den Standards von Wahrheit, Moral und Ästhetik eine gewisse konkrete Realität" gegeben hatte. Sie fürchteten, daß durch diese neue Kunst ein „Auswischen unseres ganzen Systems der Ästhetik"1 erfolgen würde, was nichts anderes bedeutet, als daß sie jede übergreifende Ideologie der Veränderung ablehnten. Auf der anderen Seite kämpften jene Künstler, die in der Malerei von Cézanne, Gauguin, Matisse und Picasso oder in der Literatur der russischen Realisten sowie bei Flaubert oder Ibsen gestaltet fanden, was ihren Empfindungen entsprach. Sie wurden ermutigt, nach neuen ästhetischen Gebilden zu suchen, die ihrer subjektiven Ablehnung der in das imperialistische Stadium hinübergewachsenen gesellschaftlichen Machtstrukturen adäquaten Ausdruck verliehen. Schon die Andeutung dieser Kontroverse zwischen Traditionalisten und Modernisten drängt den Denkansatz auf, daß die u n h i s t o r i s c h e Gegenüberstellung von Realismus und Modernismus als abstrakte Größen für die gegenwärtige Etappe der sozialistischen Kulturrevolution und der marxistisch-leninistischen Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Kulturerbe nicht mehr genügen kann. Um mit einer These ins Haus zu fallen, fast möchte man sagen, mit einer Binsenweisheit, würde diese nicht in vielen Modernismusdebatten verwischt: Der Modernismus ist, ebenso wie vergleichsweise die Romantik, ideologisch keine einheitliche künstlerische Strömung. Auf 36
den Übergang zum Imperialismus mit seinem Zusammenbruch liberaler bourgeoiser Fortschrittsideale, die wachsende Macht und Rolle des Proletariats und die Veränderung des Charakters der Epoche nach dem Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution reagierten - in grober Rubrizierung - in Großbritannien mindestens drei ideologisch zu differenzierende Strömungen in verwandter, zeitweise im Prinzip übereinstimmender literaturpraktischer Art. Die eine entsprang einer von der gesellschaftlichen Entwicklung überholten aristokratischen Reaktion gegen die jetzt endgültig ökonomisch und politisch herrschende Monopolbourgeoisie. Der seiner Herkunft nach aus der Klasse des amerikanischen Bürgertums stammende T. S. Eliot, trotz einiger kritischer Bemerkungen ein treuer Schüler des Harvarder Literaturprofessors und sogenannten Neuen Humanisten Irving Babbitt, muß als ihr Exponent gesehen werden. Eine zweite Strömung entäußerte sich im unbedingten und in dem jeweils unterschiedlich motivierten Protest des Einzelintellektuellen gegen eine gesellschaftliche Umwelt, in der er seinen Platz verloren hatte und deren Ideale und Wesen er nicht länger vertreten konnte. Der Individualismus des Unbehagens machte sich in der deutlich artikulierten Zurückweisung jedes systematischen philosophischen und ästhetischen Gedankengebäudes, in ausgesprochener Theoriefeindlichkeit Luft. Dies gilt für James Joyce, ebenso eine Zeitlang für Ezra Pound oder Wyndham Lewis. Die dritte Strömung knüpfte, wenn auch sozusagen unter Protest, an die Tradition der liberalen bürgerlichen Kultur und humanistischen Ideale an. Sie versuchte, den Abstand der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu solchen Idealen beklagend, den einzelnen Menschen auf dem Schrottplatz zusammengebrochener Werte zu gestalten und zu fragen, wie er zu retten sei. Virginia Woolf ist eine ihrer Exponenten. Der zwar unterschiedlich instrumentierte, aber unüberhörbare Gleichklang verlor sich in der Mitte der zwanziger Jahre, weil Kunstwerk von Ideologie, Kunstproduktion von Politik nicht auf die Dauer willkürlich zu trennen waren. Vom Jahr des Generalstreiks in England an (1926) verschob sich die Redaktionspolitik Eliots in seiner meinungsmachenden Zeitschrift Criterion, die seit Oktober 1922 erschien, merklich nach rechts, und er bekannte sich offen zur rechtsradikalen Kulturbewegung der Action française sowie zum Royalismus und zum Katholizismus. Pound und Lewis wurden Sympathisanten des italienischen Faschismus. Joyce, in äußerer und innerer Emigration von jeder Ideologie, behämmerte und bearbeitete die 37
Sprache, wendete und verdrehte sie in Bedeutungen über die usuellen Normen hinaus, bis das fertige Produkt letzten Endes keinen durchgängigen Kommunikationswert mehr besaß. Virginia Woolf allein von den Genannten, engagiert für die Gleichberechtigung der Frau und gegen den Faschismus sowie für die Beendigung der kulturellen Entmündigung der Arbeiterklasse - obwohl allerdings nicht für die politische Machtergreifung des Proletariats - , versuchte in der einmal eingeschlagenen Richtung der Erneuerung bürgerlicher humanistischer Kunst unbeirrt voranzukommen. Kunstpraktisch trafen sich alle diese Autoren für eine bestimmte Periode in der gemeinsamen Weise der Introvertierung des Inhalts bei gleichzeitiger Extrovertierung der Form, in der skeptischen Sicht der Lage des Individuums, ausgeworfen in das unfruchtbare Waste Land (Das wüste Land), wie der programmatische Titel des EliotGedichts von 1922 heißt, in der ästhetisierenden Suche nach Innovationen in den Ausdrucksmitteln - und in der Zurückweisung der ungebrochenen Fortschreibung des realistischen Romans des 19. Jahrhunderts. Im Mai 1924 nahm Virginia Woolf in einem Vortrag in Cambridge2* gemeinhin als Realisten bezeichnete Autoren wie Bennett, Wells und Galsworthy in das Kreuzfeuer ihrer Kritik. Diese trügen, so sagte sie, weder inhaltlich noch formal der gewandelten Welt Rechnung, weil sie allerlei Umstände des Lebens der von der Referentin beschworenen fiktiven Mrs. Brown beschrieben, nicht aber diese, also die menschliche Natur selbst. Virginia Woolf traf damit zweifellos den neuralgischen Punkt einer Romanrichtung, welche die imperialistische Wirklichkeit nicht in der gegenüber dem Kapitalismus des vergangenen Jahrhunderts veränderten Qualität darstellte und noch unberührt blieb von den Wandlungen ihres Gegenstandes und der Gestaltung, wie sie sich im realistischen Werk eines Conrad, Forster oder Lawrence bereits manifestierten; einer Literatur, die dem traditionellen Geschmack eines größeren kleinbürgerlichen und Mittelklassenpublikums deshalb entsprach, weil sie zwar einerseits ein in Maßen kritisches Verhältnis zu Erscheinungsformen der gesellschaftlichen Umwelt besaß, andererseits aber im Leser das Gefühl als kathartischen Faktor wirken ließ, daß die Beilegung aller Konflikte letztlich durch b ü r g e r l i c h e Ethik und Verhaltensnormen erreichbar wäre. Theorie und Romane von Arnold Bennett zum Beispiel reflektierten mithin ein durchaus noch lebendiges kleinbürgerliches Weltbild, das jedoch den wirklichen Klassen- und Machtverhältnissen 38
weniger denn je entsprach und am Ende von der Selbstverständigung darüber ablenkte. Eine Brechtsche Einblendung soll das Zurückbleiben dieses literarischen Herangehens verdeutlichen: „Realistisch heißt: den gesellschaftlichen Kausalkomplex aufdeckend/ die herrschenden Gesichtspunkte als die Gesichtspunkte der Herrschenden entlarvend/ . . . das Moment der Entwicklung betonend/ konkret und das Abstrahieren ermöglichend/' 3 Daß es sich nicht lediglich um einen ästhetischen Methodenstreit handelte, sondern daß prinzipielle politische Auseinandersetzungen impliziert waren, beweisen die nicht abreißenden Kontroversen in den kulturpolitischen Zeitschriften. Die Kulturideologen der Monopolboürgeoisie funktionierten die Form des realistischen Romans bewußt zum Manipulierungsinstrument der werktätigen Massen um. Das ist selten vordergründiger gesagt worden als in einem Artikel im Maiheft 1914 der konservativen Englisb Review. Der Verfasser wendet sich ausdrücklich gegen die.Ästheten und Intellektuellen und postuliert: „Die Punktion der Kunst ist der Ausdruck des Lebens."4 Kunst sei nicht für Connaisseurs und Cliquen wichtig, sondern müsse dem arbeitenden Menschen dienen. Das klingt nicht schlecht, ist jedoch nur der Aufhänger für einen demagogischen Kraftakt. Gegen die wachsende Bewußtheit iind Kampfentschlossenheit des Proletatiats in den ökonomischen Klassenkämpfen soll die herrschende Klasse die Mittel der Kultur einsetzen, um es von den sozialen Konflikten abzulenken. Die Zielstellung wird unverhüllt umrissen: „Die beste Methode, um Unzufriedenheit abzubauen, besteht darin, einen Menschen mit seiner eigenen Lage auszusöhnen."5 Die Kunst tradierten Typus' gewinnt darin ihre Funktion: die Befriedung gesellschaftlicher Gegensätze mittels ihrer Verniedlichung im Rahmen kleinbürgerlicher Wertvorstellungen und Ideale. Einem solchen Funktionsverständnis diametral entgegengesetzt ist die Auffassung von der Aufgabe der Kunst, wie sie der spätbürgerlichen Schriftstellerin Virginia Woolf vorschwebt. Die Formulierung der Nichtübereinstimmung mit solcher demagogischen Zielstellung, ja der offene Protest gegen eine solche Pervertierung der Wahrheit bestimmt die Haltung im Grundsätzlichen, bietet aber keine Lösungen. Die Suche nach ihnen offenbart sich als permanente Forderung an sich selbst. Künstlergestalten und poetologische Problemstellungen werden folgerichtig zu einem vorrangigen Gegenstand der Romane: bei Virginia Woolf zum Beispiel in The Voyage Out (1915, Die Ausfahrt), To the Lighthouse (1927, Auf der Fahrt zum Leuchtturm), 39
The Waves (1931, Die Wellen) und Between the Acts (1941, Zwischen den Akten). Ihre Künstlergestalten sind immer Außenseiter, die ihren Auftrag darin sehen, psychische Motivationen des Menschen zu registrieren. Sie erscheinen vor dem Leser als Seismographen innerer Erschütterungen, nicht als Rufer für die Veränderung äußerer Bedingungen. Das Kunstwerk gewinnt seine Aufgabe sowohl in der theoretischen Selbstverständigung als auch durch seine praktische Existenz unmißverständlich darin, dem Individuum in seiner s u b j e k t i v e n Selbsterkenntnis zu helfen. In ihren Romanen zeichnet Virginia Woolf die Gestalten als von nicht im einzelnen analysierten gesellschaftlichen Sachverhalten geprägt, genauer gesagt, w e g e n dieser Bedingungen in ihrem Lebensziel, ihren Lebenserwartungen, ihrem Anspruch auf Glück unerfüllt. Da aber - hier wird ein romaatheoretisch wesentlicher Punkt erkennbar - diese feindliche Umwelt als unantastbar zutage tritt, wird sie als Kunstobjekt uninteressant. Die Erfassung des innersten Wesens des Subjekts, seiner unverwechselbaren Eigenheiten, seiner Denkweisen und Gefühle sowie seiner Beziehungen zu anderen, anders angelegten Individuen, bildet für Virginia Woolf den Hauptgegenstand der Kunst und ihrer Romane; er steht auch im Mittelpunkt jenes großen thematischen Komplexes i n den Romanen, der sich mit künstlerischen Schaffensfragen befaßt. Jede ihrer wichtigen Romangestalten ist zwar den objektiven Lebensumständen machtlos ausgeliefert, versucht aber, über sich und ihre Situation Klarheit zu gewinnen und um ein zumindest bescheidenes Maß an innerer Erfüllung zu ringen. Jede der Gestalten gewinnt zuerst in Individualbeziehungen Leben, die sich im Gesamtkontext jedoch als zwar im einzelnen zufällig, doch keinesfalls außerhalb der gesellschaftlichen Gesamtheit stehend erweisen. Gestalten und Gestaltenrelationen kennzeichnen sich als Teil des Gesellschaftlichen, allerdings in einem verengten Ausschnitt, der „die gesellschaftlichen Verhältnisse, worin die Individuen produzieren"6, also die entscheidende gesellschaftliche Sphäre, ausklammert. Ihre Charaktere sind niemals Proletarier, aber sie sind, worauf Hawthorn in seiner vorzüglichen Studie hinwies, von dem entfremdeten Charakter der kapitalistischen Produktion und allen ihren Folgen tief beeinflußt.7 Virginia Woolf stattet ihre Individuen mit dem gerechtfertigten Anspruch aus, ein glückliches Leben zu führen, ihre Träume zu verwirklichen, ihr Leben sinnvoll zu machen. Aber das sind in ihrem Verständnis Forderungen, die gegen die gesellschaftlichen Verhält40
nisse und Wertvorstellungen durchzusetzen sind, oder anders formuliert: allgemeinmenschliche ethische Größen, denen die Praxis des sozialen Zusammenlebens entgegensteht. Erkennbar wird hier aber auch, daß dieser bürgerliche Humanismus, wenn er durch die Rezeption in der sozialistischen Gesellschaft vom Kopf auf die Füße gestellt, also in seinen hohen ethischen Forderungen mit der real-historischen Perspektive des Kommunismus verbunden wird, zu dem Erbe gehört, auf das die Arbeiterklasse nicht verzichten will. Im Vergleich zum klassischen englischen Roman ist bei Virginia Woolf das Element der epischen Handlung erheblich zurückgenommen. Diese Einbuße geht jedoch einher mit einer Erweiterung der Erzählmöglichkeiten. Dadurch, daß sie weniger Entwicklungen in der ablaufenden Zeit als vielmehr Zustände zu fixierten Zeitpunkten beschreibt, wobei sie freilich den Leser zum Bedenken vorausgegangener bzw. dazwischenliegender Prozesse provoziert, gelingt ihr - in Einheit mit gestalterischen Mitteln wie dem Einsatz des unterschiedlichen Point-of-view der Gestalten - eine vertiefte Auslotung des Individuums. Mittels der durchdachten Struktur der Romane, der reichen poetischen Bildhaftigkeit, der Akzentuierung durch dichterische Mittel wie Rhythmus, Reim oder die Instrumentierung (Euphonie, Alliteration, Assonanz) wird die romantheoretische Problematik und die philosophische Tiefe ihrer Werke signalisiert. Einmal erschlossen, erweisen sie sich als von starker ästhetischer Schönheit. Diese ist zugleich Ausdruck schöpferischer Möglichkeiten in einer gesellschaftlich-politischen Umwelt, die den Menschen zum bloßen Schräubchen im riesigen Getriebe des öffentlichen Lebens degradiert. Sie ist, um eine begriffliche Anleihe bei Wilhelm Girnus zu machen,8 in besonderem Maße G e g e n reflex, G e g e n bild auf die Kuristund Menschenfeindlichkeit des Kapitalismus, durch die der einzelne seine schöpferischen Fähigkeiten, seine Phantasie und seinen Gefühlsreichtum bewahren kann, die aber ebenso die Ohnmacht gegenüber der übermächtigen sozialökonomischen Realität und auch den Eskapismus vor der Lösung der sozialen Fragen belegt. Virginia Woolf entgeht noch der Gefahr der „Nachbarschaft von Ästhetizismus und Barbarei" 9 , welcher der von Thomas Mann etwa zur gleichen Zeit um die Mitte der zwanziger Jahre angesiedelte Adrian Leverkühn mit seiner „Apocalipsis" erliegt. Sie unterscheidet sich auch grundsätzlich vom antibourgeoisen kontinentalen und auf England kaum übergreifenden Avantgardismus, wie er sich in und nach dem ersten Weltkrieg in Richtungen wie Dada oder Surrealismus
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mit den potentiellen Umschlagvarianten in extremen Subjektivismus oder in klassenbewußte proletarische Kunst herausbildete. Ein Grund für die insulare Eigenständigkeit ihres Ästhetizismus, dem jedoch keineswegs jene pejorative Konnotation pauschal angehängt werden kann, die F. R. Leavis 1942 in seinem Scrutiny-Artikel After „To the Lighthouse" mit dem Begriff „sophisticated aestheticism" (verfeinerter Ästhetizismus) indizierte,10 ist möglicherweise ihre bei aller kritischen Distanzierung doch tiefe Verwurzelung in der bürgerlich-liberalen Tradition und die Fundamentierung ihres Gedankengebäudes auf dem progressiven bürgerlichen literarischen Erbe. Der Mensch und die - allerdings von der klassenbedingten Konkretheit losgelösten und verallgemeinerten - ethischen Ideale bleiben im Zentrum ihres gesamten Werkes. Der neuralgische Punkt nun, die Virginia Woolf ständig bedrängende Fragestellung, besteht darin, ob und wie Literatur dieses Individuum abspiegeln kann. So kommt es, daß Literaturgegenstand, der Prozeß des Literaturschaffens und Literaturwirkung in ihrem gegenseitigen Verhältnis als ein wesentliches inhaltliches Moment in der Mehrzahl ihrer Romane profiliert sind. Die Abbildung des Subjekts und der Welt in bezug auf das Subjekt kennzeichnet sie als Domäne der Kunst, worin diese sich grundsätzlich vom Rationalismus der wissenschaftlichen Beschreibung und der Erforschung der Gesetzmäßigkeiten von Natur und Gesellschaft unterscheidet. Wissenschaftliche und künstlerische Welterkenntnis werden differenziert, aber die eine schließt die andere nicht aus. Künstlerische Schöpfung selbst entfaltet sich aus der Vereinigung von Rationalität und Phantasie, wobei die empirische Erfahrung von Tatsachen (facts) der sich dann spontan vollziehenden künstlerischen Kreativität (vision) vorausgeht. In To the Lighthouse hat sie diesen Prozeß mit dem Mühen der Malerin Lily Briscoe um ein Bild romanhaft exemplifiziert, in A Room of One's Owtt (1929, Ein eigenes Zimmer) theoretisch beschrieben. Das Betonen der schöpferischen Phantasie des Dichters gewinnt besonderes Gewicht als Gegenpol zum technizistischen Rationalismus der imperialistischen Industriegesellschaft. Zugleich aber hebt Virginia Woolf auch eine jahrhundertelange Tradition literaturtheoretischen Denkens auf, das sich in anderer Artikulation und unter unterschiedlichen Bedingungen in der englischen Kulturgeschichte herausgebildet hatte. Der Realpolitiker Theseus in Shakespeares Ein Sommernachtstraum bedenkt, förmlich aus seiner Rolle heraustretend, das dichterische Phantasiespiel mit lobenden Worten, das gleichsam 42
aus dem Nichts einer rezipierbaren Welt Form und Gestalt verleiht.11 Die Romantiker, die bei Virginia Woolf des öfteren thematisch direkt anklingen, hatten in Reaktion auf die industrielle Revolution und ihre Folgen, unter dem Einfluß der bürgerlichen Freiheitsideale dier französischen und amerikanischen Revolution und in Opposition zu den klassizistischen Kunstvorstellungen des 18. Jahrhunderts ausdrücklich „imagination" und die Würdigung der Vielfalt und des Reichtums menschlicher Erfahrungen und Gefühle auf ihr Panier geschrieben. Am Ende des 19. Jahrhunderts beriefen sich Walter Pater auf die „innere Vision''12 oder Joseph Conrad auf die in einem „Moment der Vision"13 hervorbrechende künstlerische Wahrheit, deren Bestimmung im 1914 erschienenen Vorwort des Nigger of the „Narcissus" (Der Neger von der „Narcissus") der späteren Wahrheitskonzeptioti Virginia Woolfs eng verwandt ist. Gegenüber dem radikalen Ästhetizismus des Fin de siècle folgte Virginia Woolf aber eher den ausgewogenen Vorstellungen ihres Vaters Leslie Stephen, der geschrieben hatte: „Derjenige ist der größere Dichter, dessen Imagination am meisten von Vernunft durchtränkt ist, der die tiefsten Wahrheiten zu verkünden u n d die stärksten Gefühle zu äußern vermag."14 Sie wußte theoretisch um die Bedeutung des kunstschaff enden Subjekts, aber auch um die Gefahr des Subjektivismus, der das literarische Abbild in ein Zerrbild der Wirklichkeit verwandeln konnte. Ausgehend von der Wichtigkeit des Stils, in dem sich die Schriftstellerpersönlichkeit vergegenständlicht, formulierte sie in ihrem Aufsatz The Modern Essay: „Denn es ist nur durch das Wissen darum, wie man schreiben muß, daß man in der Literatur von seinem eigenen Ich Gebrauch machen kann; jenem Ich, das, während es wesentlich für die Literatur ist, auch als ihr gefährlichster Gegner auftritt."15 Während das allgemeine Verhältnis von rationaler Erfahrung und kreativer Phantasie zwar diskussionswürdig, aber nicht eigentlich problematisch erscheint, ist das Gleichgewicht zwischen dem subjektiven Schaffensvorgang des Autors insgesamt und dem objektiv existierenden Literaturgegenstand kaum auszupendeln. Im deutlichen Unterschied zu den Essays, in denen sie die relativ klare Forderung erhebt, das menschliche Leben wahrhaftig widerzuspiegeln, kommt Virginia Woolf in ihren eigenen Romanen mit den Künstlergestalten kaum zurecht. Lediglich in To the Lighthouse führt sie am Schluß ein Moment der Vollendung ein, bezeichnenderweise in dem Werk, in dem die beiden Hauptpersonen literarische Bilder der Eltern, also 43
von in ihrem Leben fest umrissenen Charakteren sind. Bernard in The Waves und Miss La Trohe in Between tbe Acts meistern ihren künstlerischen Auftrag nicht. Mit ihnen erfüllt ihn aber auch Virginia Woolf nicht. Am Ende dieser Romane, wie auch des wohl weniger ernst zu nehmenden Orlando (1928, Orlando), wird das Postulat über das Kunstwerk hinaus erhoben, doch den Menschen gültig zu gestalten. Der in den Essays häufig und kräftig artikulierte Ruf nach Wahrheit in der Kunst, die sich durch den Bezug auf das Subjektive, das Emotionale und das Unausrechenbare von der wissenschaftlichen Wahrheit unterscheidet, bringt in ihren Romanen nur sein eigenes Echo hervor, das schließlich verhallt. Die Wahrheit der menschlichen Existenz und der menschlichen Beziehungen verweigert sich der Definition, weil Virginia Woolf keinen objektiven weltanschaulichen Maßstab zu deren Ermittlung besitzt, sondern auf ihre subjektiven Gefühle und Gedanken angewiesen ist. Im Spielraum zwischen dem Programm wirklicher Menschengestaltung und der Skepsis gegenüber der Erkennbarkeit des Menschen läßt sie sich in Experimente, poetische Überhöhungen, bildhafte Abstraktionen und minutiöse Zustandsbeschreibungen treiben. In The Waves geht dies bis zum Extrem des hochstilisierten Gedichts in Prosa, das aus den Fugen geraten ist. Ein auf das Innenleben des Individuums konzentriertes Objekt des literarischen Modells und der subjektive Autorenstandpunkt befinden sich im Einklang mit dem gegenüber der klassischen Romanliteratur veränderten Verständnis von der Funktion der Kunst. Ein Gedanke von Manfred Naumann findet hinsichtlich Virginia Woolf seine volle Bestätigung: Für bürgerliche Schriftsteller, die ihre Position im Gegensatz zur herrschenden Bourgeoisie bestimmen, ist die Funktion der Literatur deshalb problematisch geworden, weil sie sich weigern, die Literatur bedingungslos in die kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse apologetisch einzuordnen.16 Wenn man aus marxistischer Sicht mit Christopher Caudwell davon ausgeht, daß Kunst eine gesellschaftliche Funktion i s t , und danach fragt, welche gesellschaftliche Funktion diese Literatur besitzt,17 dann bleibt, bei aller Ehrlichkeit und allem Verlangen danach, die menschlichen Emotionen gegen alles Unrecht zu erregen, unter den Bedingungen der kapitalistischen Klassengesellschaft fast ausschließlich die eine Möglichkeit, daß sie dem Selbstverständnis und dein ästhetischen Genuß im wesentlichen der Schicht der bürgerlichen Intelligenz dient und letztlich damit nicht systemgefährdend wirkt. Trotzdem sollte auch dieses verengte Maß an Wirksamkeit nicht unterschätzt oder als 44
geringfügig abgetan wenden. Das Denken und Fühlen des Proletariats wird bei Virginia Woolf nicht künstlerisch formuliert. Die als bedrängend aufgeworfenen Probleme, wie das entfremdete Verhältnis des Individuums zur kapitalistischen Umwelt, die Sehnsucht nach Glück und Verständnis, der Anspruch auf Liebe, die nicht durch Geld und Kastendenken pervertiert ist, offenbaren sich für die revolutionäre Klasse als nicht verständlich genug gestaltet. Unter veränderten gesellschaftlichen und ideologischen Verhältnissen im Sozialismus entfaltet sich der potentiell angelegte soziale Wert von Virginia Woolfs besten Werken. Sie sind der historische Ausdruck einer überwundenen Gesellschaftsformation, aber sie sind auch als Erbe produktiv, weil sich ihre hohen ethischen Ideale tatsächlich verwirklichen lassen und weil die anspruchsvolle und meisterhafte künstlerische Gestaltung dem differenzierten und sich verbreiternden persönlichen Bedürfnis nach ästhetischem Genuß in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft entgegenkommt. Eine auffällige Polarisierung literarischer Tendenzen kennzeichnet die literarische Situation in England in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg: die Existenz einerseits einer massenwirksamen, in der Tradition des realistischen Romans ruhenden und mit den Kriterien des Realismus nicht mehr korrespondierenden Literatur, die manipulierend auf das Bewußtsein eines breiten kleinbürgerlichen Publikums und werktätiger Leser wirkte; und andererseits die Existenz einer Literatur, welcher der Protest gegen die Zerstörung menschlicher Werte durch den Imperialismus immanent war, die aber ein großes Publikum nicht erreichte. Das sind notwendige Widersprüche für eine literarische Kultur, die in der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus nicht den Durchbruch zur Weltanschauung der Arbeiterklasse erreicht.
Georg Seehase
Ende oder Neubeginn des Romans? Ansichten von Ralph Fox und Alick West
Die spätestens gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der Entwicklung des englischen Romans einsetzende Diskontinuität wirkte in historischen Zusammenhängen, innerhalb derer sich der realistische Roman unaufhörlich wandelte. In Großbritannien wurde die Hauptrichtung des auf Charles Dickens (1812-1870) und weiter auf Daniel Defoe (1660-1731), Samuel Richardson (1689-1761) und Henry Fielding (1707-1754) sowie Lawrence Sterne (1713-1768) zurückgehenden realistischen Romans durch die Einsetzung der auf Henry James (1843-1916) fußenden und von Joseph Conrad (1857-1924) erfolgreich praktizierten Technik des Bewußtseinsstroms aufgebrochen. Die Auffächerung äußerte sich in der psychologischen Typisierung des literarischen Helden bei James Joyce (1882-1941), Virginia Woolf (1882-1941) und Dorothy Richardson (1872-1957) sowie andererseits im Aufkommen einer proletarischen Romanliteratur. Zu letzterer trugen der Engländer Robert Tressell (1868-1911), der Schotte James Leslie Mitchell (Lewis Grassic Gibbon, 1901-1935), der Waliser Lewis Jones (1897-1939) und in der Gegenwart der Ire James Plunkett (geb. 1920) bei. Der erste eigentliche sozialistisch-realistische Roman in England wurde von Ralph Fox unter dem Titel Storming Heaven (Himmelsstürmer) im Jahre 1928 veröffentlicht. Der literarische Fortschritt setzte sich mithin in qualitätsprägenden Wandlungen des Genres durch, an denen sich Fox praktisch beteiligte und die er in seiner im Jahre 1937 postum publizierten Studie The Novel and tbe People (Der Roman und das Volk) eingehend im Sinne des historischen und dialektischen Materialismus untersuchte. Mit diesem Werk schuf Fox Grundlagen für eine marxistische Romantheorie in England und stellte sich damit neben Alick West (1901), der zur gleichen Zeit in Crisis and Criticism (1937, Krise und Kritik) die bürgerliche Literaturkritik beleuchtete, und Christopher Caudwell (1907-1937), der in Illusion and Reality (1937, Illusion und Wirklichst
keit) die Dichtung einer marxistischen Prüfung und Wertung unterzog. Vom Bewußtsein des „neuen, proletarischen Zeitalters"1 erfüllt wie Friedrich Engels die beginnende neue Epoche schon im Jahre 1893 bezeichnet hatte - , stellte sich Fox die Aufgabe, den „gegenwärtigen Stand des englischen Romans zu überprüfen, zu versuchen, jene geistige Krise zu verstehen, die die Grundlage zerstört hat, auf der der Roman einst so sicher zu ruhen schien, und zu sehen, welche Zukunft er hat"2. Im Gegensatz zur renommierten bürgerlichen Kritik (Percy Lubbock, Edward Morgan Forster, David Garnett), die den Roman unter eingegrenzten formkünstlerischen Aspekten analysierte, wandte sich Fox eindeutig und überzeugend dem wesenseigenen „großen Gegenstand" (Shakespeare) des Romans zu - dem Thema vom Menschen.3 Im qualitativen Unterschied zu James Joyce und Virginia Woolf, die in ihren Romanen erhellen, „daß das . . . Ziel der Kunst nicht in der Gestaltung der menschlichen Persönlichkeit, sondern in ihrer Auflösung liegt"4, plädiert Fox dafür, daß der „neue Realismus"5, für den Anatoli Lunatscharski schon im Jahre 1921 unter der Fragestellung „Wie wird der Realismus unter den neuen geschichtlichen Bedingungen aussehen?" so gezielt eingetreten war,6 den Menschen zeigen muß, „der am Werk ist, seine Verhältnisse zu ändern, mit dem Leben fertig zu werden, den Menschen, der sich in Übereinstimmung mit der geschichtlichen Entwicklung befindet und imstande ist, Herr seines eigenen Schicksals zu werden. Dies bedeutet, daß das Heroische in den Roman zurückkehren muß und mit dem Heroischen sein epischer Charakter."7 Indem Fox den Roman „als die große Volkskunst unserer Kultur", als Nachfolger des Epos und des „chanson de geste", als typische „epische Kunstform unserer modernen bürgerlichen Gesellschaft", als „Prosa des Menschenlebens" überhaupt einschätzte und wertete, vertrat er auf der Grundlage materialistischen historischen Denkens die Auffassung, daß in der Geschichte der literarischen Gestaltung des Menschen das 18. Jahrhundert das goldene Zeitalter des Romans bildete, daß das 19. Jahrhundert die Periode des Rückzugs war und das 20. Jahrhundert nunmehr das Zeitalter der panischen Flucht geworden ist.8 Fox erblickte in der Entwicklung des Romans und seines Helden seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einen unaufhörlichen Prozeß der „Zerstörung der Persönlichkeit"9 - worüber sich Maxim Gorki bereits im Jahre 1909 ausführlich geäußert hatte - 10 , mit der die „Zerstörung des Romangefüges, seines epischen Charakters"11 47
Hand in Hand ging. Er stellte sich demzufolge die Frage: Welcher Weg kann den Roman aus der Krise führen, die sich als Krise der Qualität, als Krise der Weltanschauung unter den Schriftstellern selbst und als Krise in den Beziehungen zwischen dem Autor und der Öffentlichkeit, mithin als Funktionskrise zeigt? In The Novel and the People gibt Fox darauf folgende Antwort: Der „Tod des Helden" kann in der Romanliteratur der Gegenwart nur durch die Schaffung eines neuen Protagonisten aufgehoben werden, welcher der historische Mensch, der epische Mensch, der lebendige Mensch ist. Dieser neue Held kann nur der „Revolutionär der Arbeiterklasse" sein.12 Fox befragt dabei solche Romanautoren wie Michail Scholochow, André Malraux und Ralph Bates im Hinblick auf die komplexe Typisierung ihrer revolutionären Gestalten und vergleicht sie mit Werken der Traditionslinie volkstümlicher Gestalten, mit Mark Rutherfords Roman The Revolution in Tanner's Lane (1887, Die Revolution in Tanner's Lane) und Charles de Costers Légende d'Ulenspiegel et de Lamme Goedzak (1867, Die Geschichte vom TJlenspiegel und Lamme Goedzak). Bei Lichte besehen, stellt Fox E. M. Forsters Theorie von den „platten" und den „runden" Romangestalten13 auf eine materialistische philosophische Grundlage. Ihr zufolge ist der revolutionäre Mensch als literarischer Held auf spezifisch künstlerisch widergespiegelte Art und Weise eine „Resultante" der geschichtlichen Entwicklung und „insofern in ihr inbegriffen".14 Als Prototyp dieses geforderten neuen Romanhelden erkennt Fox die vorbildhafte historische Persönlichkeit Georgi Dimitroffs. Diimitroff gilt ihm als „ein Beispiel moralischer Größe und moralischen Mutes . . . , der würdig ist, den größten Beispielen in der Geschichte der Menschheit zur Seite gestellt zu werden". Wohl kann Fox, der am 2. Januar 1937 im national-revolutionären Befreiungskampf des spanischen Volkes sein Leben gibt, einen Dimitroff-Roman nicht mehr schreiben. Doch in den Kapiteln X und XI seiner Romanstudie entwirft er die Strukturskizze einer literarischen Dimitroff-Gestalt. Auf der Grundlage der historischen Persönlichkeit ist - nach Fox - ein völlig neuer Dimitroff der künstlerischen Phantasie zu erschaffen, der in der Geschichte des Reichstagsbrandes als eines „Epos unserer Zeit" den „Helden unserer Zeit" verkörpern soll.15 Sicherlich sind in diese Strukturskizze Lunatscharskis Charakterisierung Lenins als Persönlichkeit16 und Lenins ebenso erhabene Charakterisierung Swerdlows17 eingegangen. Diese Dimitroff-Gestalt ist Typ des Kommunisten und individuelle Persönlichkeit in komplexer Einheit, ist Resultante eines 48
historischen und individuell-persönlichen Entwicklungsganges in dem Sinne, daß sie in der Welt des (geplanten) sozialistisch-realistischen Romans durch alle Widersprüche und Konflikte kämpfend hindurchgeht, daß aber auch alle Widersprüche und Konflikte durch diese Gestalt selbst hindurchgehen. Die Darstellung der seelischen Verfassung erst soll und kann diesem neuen Romanhelden eine lebensvolle Gestalt geben. Der theoretische und praktische Entwurf vom „Epos des neuen Zeitalters"18 stellt in der Rückkopplung auf die Theorie und Praxis vor allem des klassischen realistischen Romans der englischen Aufklärung die Frage nach der künstlerischen Qualität des neuen Romans. Dabei eröffnet Ralph Fox das Kapitel über den sozialistischen Realismus absichtsvoll mit dem methodologischen Verweis auf Fieldings Qualitätsanforderungen an den realistischen Romancier. Die Verpflichtung dem realistischen Erbe gegenüber ist eindeutig: „Wenn der Romanschriftsteller seine Aufgabe wieder so auffaßt, wie Fielding sie aufgefaßt hat, werden wir einen neuen Realismus haben." Indessen soll und darf dieser neue Realismus „nicht auf die bloße Wiederherstellung des Romans von Fielding oder von Dickens hinauslaufen . . . Heute muß das Eindringen in die wesentlichen Unterschiede (Fox bezieht sich hier direkt auf Fieldings Definition des schriftstellerischen Talents - G. S.) die Enthüllung jener Widersprüche bedeuten, die die Bewegungsgesetze menschlicher Handlungen sind, sowohl der inneren Widersprüche im Charakter des Menschen, als jener äußeren Widersprüche, mit denen diese unlösbar verbunden sind".19 Wehmütig erinnert Fox an die große realistische Romankunst des 18. Jahrhunderts, deren Wesen darin bestand, daß „der forschende Verstand gebieterisch sein Recht auf Kritik verkündete'®'. Während hier „die Wahrheit über das Leben mutig und unnachgiebig"21 ausgesprochen wurde, ging sie - nach Fox - in den sentimental moralisierenden Illusionen der meisten Schriftsteller des 19. Jahrhunderts unter, wobei die „Schuld" nicht bei den das Leben erforschenden Romanciers, sondern ganz auf Seiten einer Gesellschaft lag, in der die zwischenmenschlichen Beziehungen immer tiefgreifender durch die kapitalistische Entfremdung geprägt wurden. Bei der Einschätzung der kritisch-realistischen Romanciers des 19. Jahrhunderts bewegt sich Fox allerdings auf unsicherer Argumentationsgrundlage. Seiner Meinung nach folgt auf die Blütezeit des realistischen englischen Romans im 18. Jahrhundert der „viktorianische Rückzug"22, wo nunmehr der Mensch als literarischer Held in 4
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Ungnade gefallen und „ein Sünder, den es zu retten gilt"23, geworden ist. Bewundernd anerkennt Fox das Ringen der „Prometheaner" 24 ; Balzac und Flaubert erfahren eine fundierte Wertschätzung. Dann aber konstatiert er den eindeutigen „Tod des Helden" 25 im modernistischen Untergangsmilieu des frühen 20. Jahrhunderts. Von der geschichtlichen Höhe der dreißiger Jahre ist es Fox wohl nicht möglich gewesen, in der Geschichte des englischen realistischen Romans die Magistrale von Defoe, Richardson, Fielding über Walter Scott und weiter über Charles Dickens, William M. Thackeray, Thomas Hardy, Samuel Butler bis zu H. G. Wells, E. M. Forster und John Galsworthy zu erkennen. Unter dem deprimierenden Erlebnis der geistig-kulturellen Krise in der spätbürgerlichen Gesellschaft der zwanziger und dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts gelangt der junge Literaturwissenschaftler auf seiner parteilichen Suche nach dem geschichtlichen Menschen als literarischem Helden zu dem Schluß, daß die Zerstörung des literarischen Helden seit langem mit der Zerstörung des realistischen Romans, überhaupt einhergeht. Von daher ist auch sein gestörtes Verhältnis zu den Leistungen des kritischen Realismus zu begreifen. Fox kann dieses gestörte Verhältnis in der Zeit, in der die Romanstüdie erarbeitet wird, noch nicht korrigieren. Schon etwa zehn Jahre später wäre eine- korrigierende Neueinschätzung in bezug auf die Traditionslinien des kritisch-realistischen Romans möglich gewesen, da inzwischen neue Romane realistischer Prägung entstanden waren. Doch aus der objektiven Situation seiner Zeit heraus kann Fox Glanz und Elend des kritischen Realismus in der englischen Romahliteratur noch nicht proportioniert und differenziert abwägen. Er formuliert nicht den Sachverhalt, daß der Realismus in dem sich weiter vergesellschaftenden Kapitalismus nach der industriellen Revolution gesetzmäßigerweise ein kritischer sein muß. Auf diese konzeptionelle „Vernachlässigung" folgt eine andere. An keiner Stelle der überaus kenntnisreichen Romanstudie werden die Namen Thomas Martin Wheeler und Robert Tressell erwähnt. Dabei gehört doch Wheeler mit der Romanerzählung Sunshine and Skadow (1849/50, Sonnenschein und Schatten) als eines der ersten literarischen Zeugnisse der in Keimen sich herausbildenden proletarischen Gegenkultur zu den Begründern der chartistischen Erzählprosa, und Tressell schafft mit The Ragged Trousered Pbilantbropists (postum 1914, Die Menschenfreunde in zerlumpten Hosen) den ersten eigentlichen proletarischen Roman in der englischen Literatur. Beide Autoren gehen in formkünstlerischer Hinsicht zunächst vom kritischen 50
Realismus aus und stützen sich bei der Gestaltung des proletarischen Themas und der Typisierung des proletarischen Helden auf die gesicherten Erfahrungen kritisch-realistischer Romankunst. Allerdings verharren sie in keiner Weise dabei, sondern setzen - das gilt besonders für Tressell - praktisch neue Maßstäbe in bezug auf eine realistische Erzählprosa der sich emanzipierenden Arbeiterklasse in England. Diese Polemik soll Fox nicht der Vergeßlichkeit oder Nachlässigkeit zeihen. Sie soll vielmehr darauf aufmerksam machen, daß hier möglicherweise zwei Faktoren einer historisch gerechten Wertung des kritischen Realismus entgegengewirkt haben. Einmal ist der subjektive Faktor zu nennen. Fox verfolgt ausschließlich die Geschichte des literarischen Helden und löst sie gewissermaßen aus der Geschichte der Entwicklung des Romansujets, des Romangenres, der Erzählperspektive und des Erzählerstandpunktes heraus. Mit Notwendigkeit gelangt er zu der Schlußfolgerung, daß der literarische Held als Verkörperung des geschichtlichen Menschen im englischen Roman der Gegenwart nicht mehr existiert. Zum andern sei ein objektiver Faktor erwähnt: Die konkrete politische und kulturpolitische Krisensituation der zwanziger und dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts ließ es wohl nur schwerlich zu, den literarischen Wert und die humanistischen Chancen nicht nur des kritischen Realismus, sondern auch des Modernismus von James Joyce und Virginia Woolf zu erkennet) oder auch nur zu ahnen. Daß aber zur gleichen Zeit eine tiefergehende Bewertung der zeitgenössischen bürgerlichen Romankunst möglich gewesen ist, beweist Alick West, der in seinem 1937 publizierten literaturkritischen Erstlingswerk Crisis and Criticism26 eine erste fundierte, feinsinnige und differenzierende marxistische Analyse von James Joyces Roman Ulysses (1922, Ulysses) vorstellte. Diese Einschätzung gründet sich im wesentlichen auf die marxistische Werttheorie. Sie ist für West nicht nur im Falle von Joyce - der feste Boden aller Literaturkritik. Die materialistische Werttheorie wird von ihm in der Ulysses-Analyse dergestalt praktisch durchexerziert, daß im Sinne der Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus das Praxiskriterium in der Orientierung auf die „wirkliche Bewegung" (Karl Marx) in der Geschichte der Gesellschaft gesucht und gefunden wird. Dabei geht West zwar von den gleichen Krisenkriterien wie Fox aus, jedoch von anderen theoretischen Prämissen. Im Unterschied zu Fox befindet er sich nicht auf der Suche nach dem verlorenen Romanhelden, und er muß daher 4«
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auch nicht dessen Verlust konstatieren. Vielmehr ist er bemüht, das ästhetische System des Joyceschen Romans zu analysieren, wobei er im Verlauf der Sondierung den vom Schriftsteller bewerkstelligten bzw. nicht bewältigten ästhetischen Erkenntnisprozeß aufhellt. Wests Frontstellung gegen die idealistischen Konzeptionen von T. S. Eliot, Herbert Read und I. A. Richards27 ist nicht bloß polemischer Art, sondern zuallererst methodologisch-weltanschaulichen Charakters. West stellt die Grundfrage der Philosophie und gründet sein Selbstverständnis von der Funktion der Literaturkritik auf eine marxistische Antwort. Das heißt, daß West bei der literaturwissenschaftlichen Bewertung des Romans Ulysses den literarischen Wert aus dem ästhetischen ableitet und ihn (im Kapitel The Relativity of Literary Value Die Relativität des literarischen Werts) auf den gnoseologischen Gehalt des Werkes bezieht. West grenzt sich von subjektiven idealistischen Wertauffassungen ab und „durchschaut" den komplizierten, vielschichtigen Roman Ulysses als Schaffensresultat eines in die kapitalistische Entfremdung geratenen Schriftstellers, der dem irischen Nationalismus, dem Katholizismus und der sozialistischen Bewegung ausweichen wollte und letztlich doch allen dreien widerspruchsvoll verhaftet blieb, wodurch er den bürgerlichen Individualismus nicht überwinden konnte. Ein Schriftsteller, der in einem solchen Netzwerk von realen Widersprüchen stand und, von hier ausgehend, die Welt künstlerisch erkennen wollte, mußte der traditionellen Romanform bei der literarischen Widerspiegelung abschwören und eine neue Form schaffen, die indessen zwischen Held und Gesellschaft keinen Kontakt herstellte bzw. diesen ganz aufhob zugunsten einer Konzentration auf stilistisch hochdifferenziert analysierte Bewußtseinsvorgänge, deren Wirklichkeitsbezug zumeist nicht mehr erhellt wird. Die Substanz des Buches bilden West zufolge die Konflikte zwischen Katholizismus, Kapitalismus und den neuen sozialen Kräften, die sich in der Zeit der Arbeit am Roman (1914 bis 1921) nicht zuletzt auch in Irland allmählich herausbildeten. Die Frage nach dem ästhetischen Wert ihres literarischen Ausdrucks beantwortet West dahingehend, daß Joyce sich detailliert auf die unablässigen Wandlungen und Schwankungen in den persönlichen Beziehungen zwischen Stephen Dedalus und Leopold Bloom konzentriert und zugleich zu keinerlei wirklichen Veränderungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen anregt, daß Joyce in diesem Roman durch die Gestaltung seiner beiden Helden ein unfruchtbares Gleichgewicht schafft, in welchem sich Veränderung und Statik ständig gegenseitig aufheben. 52
Im Grunde genommen bringt das Buch als Ganzes über die Erzählperspektive zum Ausdruck, daß der Schriftsteller selbst sich persönlich mit keiner Phase der „wirklichen Bewegung" identifiziert hat, weshalb alles Denken und Handeln der Gestalten am Ende bedeutungslos ist. - West stellt nicht direkt die Frage nach dem Realismus des Romans Ulysses, er geht vielmehr auf die Vorbedingung dafür ein, nämlich auf die Besonderheit der ästhetischen Erkenntnis der Welt durch den Schriftsteller vermittels des literarischen Werkes, aus welcher sich das Pathos eines wie auch immer beschaffenen Verändernwollens ergeben kann. Fox stellt die Frage nach dem Realismus des englischen (und europäischen) Romans auf Grundlage einer anderen Vorbedingung: des schriftstellerischen Bekenntnisses (direkt oder immanent) zur Rolle der Persönlichkeit und der Volksmassen in der Geschichte. Dieser Vergleich mit West soll Fox weder ab- noch West aufwerten. E r soll lediglich die Schwierigkeit der Fragestellung darlegen und die Pionierleistung, das literaturkritische Neuerertum beider, veranschaulichen. Fast arbeitsteilig setzen Fox und West in den in vieler Hinsicht entscheidenden dreißiger Jahren Maßstäbe für die Entwicklung und zunächst für die erste prinzipielle Formulierung einer marxistischen Literaturkritik in England, wo das autoritäre Wort einer erfahrenen bürgerlichen Literaturbetrachtung die literaturkritische und -theoretische Meinungsbildung pauschal bestimmte. Dabei geht West dem ästhetischen Erkenntnisprozeß subtil nach, während sich Fox auf die geschichtliche Analyse des Verhältnisses von Roman und Volk unter besonderer Berücksichtigung des Romanhelden stützt. West hat es bei seiner Art der Literaturbetrachtung im Grunde genommen ständig mit der Geschichte und der Gegenwart des ästhetischen Denkens zu tun, Fox mehr mit Ideengeschichte sub speciem Romanheld. D a Fox in den Mittelpunkt seiner theoretischen Konzeption die Rolle der Volksmassen und der Persönlichkeit in der Geschichte stellt, muß er bei der Betrachtung des englischen Romans des 19. Jahrhunderts erkennen, daß der Vorbildcharakter des Romanhelden allmählich verlorenging. Die romansoziologische Ausrichtung bei Fox ist nicht frei von Tendenzen einer „illustrativen" Literaturauffassung, die aber fast paradoxerweise gerade die Anfänge einer Literatur der sich formierenden Arbeiterklasse mit ihrer vordergründigen sozialen und politischen Thematik ausklammert. Der allenthalben spürbare internationale Radius und das ebenso spürbare internationalistische Pathos bei Fox treffen in bezug auf die Bewertung von Elementen einer proleta53
rischen englischen Literatur auf eine Erkenntnisbarriere, hinter der sich erst das weite Feld der in internationalen Funktionszusammenhängen stehenden Chartistenliteratur (vergleiche die deutsche und die französische proletarische Literatur jener Zeit) und später das des proletarischen Romans von Robert Tressell im Umkreis von Maxim Gorki, Martin Andersen Nexö und Jack London erstreckt. Während West sich mit der komplizierten Inhalt-Form-Problematik befaßt, widmet sich Fox der Inhalt-Programmatik, wie sie im Romanhelden gipfelt. Beide aber - und man müßte wohl Christopher Caudwell mit einbeziehen - schöpfen aus einem methodologischen Arsenal, in dem gleichsam die Frage nach Parteiorganisation und Parteiliteratur wirkt. Ralph Fox schuf mit The Novel and tbe People ein Werk, das sich gleichberechtigt in die marxistisch-leninistische Literaturtheorie unserer Epoche einfügt. Fox wußte, daß der sozialistische Realismus eine gegenüber aller bisherigen Literatur qualitativ höhere Ebene im internationalen literarischen Prozeß darstellt, und er hat parteilich dafür plädiert, daß die „verlorene Kunst der Prosa'128 vor allem durch die Gestaltung eines neuen Menschenbildes und damit vor allem eines neuen literarischen Helden wiederentdeckt und -erobert werden müsse, auch wenn das ein beschwerlicher Weg sei. Ralph Fox formulierte ein ästhetisches Problem vornehmlich politisch, um es ideologisch bewußt zu machen.
Leonard Goldstein
Der intellektuelle Revolutionär und der antikolonialistische Befreiungskampf
Unter den englischen Romanciers der Gegenwart, die als intellektuelle Revolutionäre betrachtet werden können und etwas wirklich Bedeutsames über den Imperialismus und den antikolonialistischen Befreiungskampf zu sagen haben, ist James Aldridge (geb. 1918) bei weitem der hervorragendste; an zweiter Stelle wäre Alan Sillitoe (geb. 1928) zu nennen, ferner Raymond Williams (geb. 1921) und C. P. Snow (geb. 1905). Auch Schriftsteller wie Graham Greene (geb. 1904) haben politische Romane geschrieben, in denen sie sich gegen den Kolonialismus wenden und den nationalen Befreiungskampf befürworteten. Dennoch ist Greene kein Revolutionär, und sein Gesamt^ werk ist keineswegs so konsequent antikolonialistisch wie das von Aldridge, bei dem sich der antiimperialistische Kampf wie ein roter Faden durch das schriftstellerische Werk zieht. Für Greene stehen weniger die politischen Hintergründe als vielmehr die moralische und ethische Seite dieses Kampfes im Mittelpunkt. Alan Sillitoes starkes politisches Engagement, welches er in seinem frühen Roman Key to the Door (1961, Schlüssel zur Tür) zum Ausdruck bringt, ist in seinen neueren Romanen nicht mehr zu finden. Statt politischer Romane sind es vielmehr „soap operas"1*. Es ist nicht mehr der Intellektuelle als politisches Subjekt, der im Mittelpunkt der Romane steht, sondern der Künstler mit philosophisch-anarchistischem Anstrich. Diese Tendenz seines Schaffens begann mit The Deäth of William Posters (1965, Der Tod des William Posters) und A Tree ort Fire (1967, Brennender Baum). Es ist verwunderlich, daß, während England eine spezielle Form der allgemeinen Krise des Kapitalismus erlebt, gegenwärtig relativ wenige politische Romane geschrieben werden, das heißt Romane, die nicht nur die Krise herausstellen, sondern sie unter politischen Gesichtspunkten analysieren und zu einer politischen Lösung der Probleme hinführen. Von unserem marxistischen Standpunkt aus bedeu55
tet eine solche Perspektive, auf irgendeine Weise eine sozialistische Lösung der Probleme anzudeuten. Dennoch überwiegt im allgemeinen im gegenwärtigen englischen Roman eine weitestgehend subjektive Analyse der enorm variierenden und vielschichtigen subjektiven Reaktionen von Figuren aus den Mittelschichten auf eine Welt, die zwar offensichtlich dem Verfall preisgegeben ist, aber in den seltensten Fällen als kapitalistische bezeichnet und gestaltet wird. Diese faulende und verfallende Welt ist oft mit stilistischer Brillanz und Phantasie dargestellt, aber in der Endkonsequenz enthüllt diese stilistische Brillanz und Phantasie nur die Angst und Ausweglosigkeit der Charaktere, hinter der sich die Selbstaufgabe und der Verlust jeglicher Perspektive verbergen. Oft genug erscheinen sie als Ohnmacht des Schriftstellers, der einen Roman über einen Schriftsteller schreibt, welcher wiederum einen Roman über einen Schriftsteller schreibt, und so weiter - eine Verwirrung, die häufig für den Leser deprimierend ist. In diesem Zusammenhang denkt man unwillkürlich an eine Schriftstellerin wie Doris Lessing (geb. 1919). Ihr heutiges Schaffen entspricht weitgehend der Position jener intellektuellen Mittelschicht, die ihr einstiges revolutionäres oder doch zumindest aktives politisches Engagement aufgegeben hat. Für Doris Lessing ist Politik kaum mehr ein Mittel zur Analyse politischer Ereignisse, aus denen sich Schlußfolgerungen für den politischen Kampf ziehen lassen, denn eine moralische und ethische Klagemauer. Andere Schriftsteller wie Edward Upward, John Berger (geb. 1926) oder Len Doherty (geb. 1930) haben den antiimperialistischen Kampf aus ihren Werken verbannt. Sie greifen statt dessen jetzt die Kommunistische Partei und die Sowjetunion an und bringen - genau wie Doris Lessing - nichts anderes mehr hervor als „soap operas". Ob es heute wirklich weniger „politische Romane" gibt, hängt von einer genauen Bestimmung des Begriffs ab. Schließt man den sozialistisch-realistischen Roman in seiner Traditionslinie, die von Robert Tressell (1868-1911) bis zu Jack Lindsay (geb. 1905) reicht, ein, so gibt es sicherlich heute relativ weniger politische Romane als in der Vergangenheit, weil heutzutage in Großbritannien weniger sozialistisch-realistische Romane geschrieben werden. Gleichzeitig muß man bemerken, daß es in England schon vor Tressell politische Romane gab: Barnaby Rudge (1841, Barnaby Rudge) und A Tale of Two Cities (1859, Eine Geschichte zweier Städte) von Charles Dikkens, Sybil (1844, Sybil) und Coningsby (1845, Coningsby) von Ben-
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jamin Disraeli, Alton Locke (1850, Alton Locke) und Hypatia (1853, Hypatia) von Charles Kingsley, Felix Holt tbe Radical (1866, Felix Holt, der Radikale) von George Eliot, Emilia in England (1864, Emilia in England), Beauchamp's Career (1875, Beauchamps Karriere), Tbe Tragic Comedians (1880, Die tragischen Komödianten) von George Meredith, The Heart of Darkness (1902, Das Herz der Finsternis), The Secret Agent (1907, Der Geheimagent), XJnder Western Eyes (1911, Mit den Augen des Westens) von Joseph Conrad, Lesbia Bradon (1877, Lesbia Bradori) von Algernon Charles Swinburne, Anthony Trollopes Palliser-Romane (1864-1880) und Romane wie die von Charles Reade (1814-1884). Seinen Ausgang nahm der politische Roman jedoch vom Werk jener Radikalen wie Thomas Holcroft (1745-1809), Elizabeth Inchbald (1753-1821) und William Godwin (1756-1836), die unter dem Eindruck der Französischen Revolution eine kritische Bestandsaufnahme der englischen Verhältnisse vornahmen.2 Aber auch in unserem Jahrhundert waren die ersten fünf Jahrzehnte reicher an politischen Romanen als die Gegenwart, wenn wir an George Bernard Shaw (1856-1950), H. G. Wells (1866-1946), Howard Spring (geb. 1889), Harold Nicolson (1886-1968) und Robert Briffault (1876-1948) denken. Und wenn man den historischen Roman in den meisten Fällen als eine politische Auseinandersetzung mit der Gegenwart betrachten kann, die in die Vergangenheit verlegt ist, so muß man das Werk von Walter Scott (1771-1832), William Ainsworth (1805-1882), Edward Bulwer Lytton (1803-1873), Mark Rutherford (1831-1913), Lewis Grassic Gibbon (1901-1935) in diese Linie einbeziehen - womit unser Argument, daß heute relativ wenige Bücher geschrieben werden, die als politische Romane zu bezeichnen sind, auf indirekte Weise gestützt wird. James Aldridge verbindet den politischen mit dem sozialistischrealistischen Roman und verwendet eine Art Roman spezifischer Prägung, eine« Romantyp, zu dem auch Dave Wallis' Tramstop by tbe Nile (1958, Straßenbahnhaltestelle am Nil) und die schon erwähnten Romane Sillitoes gehören. Wir müssen in diese Tradition auch Briffaults Romane aus den dreißiger Jahren Europa (Europa) und Europa in Limbognis (Europa in der Vorhölle) sowie E. M. Forsters A Passage to India (1924, Auf der Suche nach Indien) einordnen. In diesen Werken ist die soziale Geschichte mit einer gewissen politischen Analyse verbunden. Betrachtet man Aldridges wichtigste politische Romane Tbe Diplomat (1949, Der Diplomat), I Wish He Would Not Die (1957, Ka57
pitän, mein Kapitän), The Last Exile (1961, Zuflucht am Nil), Captive in the Land (1962, Gefangener im Land), The Statesmän's Game (1966, Das Spiel des Staatsmannes) und Mockery in Arms (1974, Kein hoffnungsloser Fall), so beeindrucken folgende Momente: 1. Aldridge versteht Politik als Geschichte und Geschichte als Politik. Sein Ziel ist es, die wirklichen ökonomischen Beweggründe zu offenbaren, die sich hinter den politischen Ereignissen verbergen, in denen die Charaktere in Erscheinung treten. Er geht davon aus, daß die Persönlichkeit letzten Endes immer politisch ist. Das Problem besteht also für ihn darin, zu zeigen, wie der Impuls für eine Handlung und die die jeweilige Handlung bestimmenden historischen und politischen Kräfte in ihrem Zusammenspiel wirken. Aldridge versucht darzustellen, daß der Klassenkampf letztlich um die Macht und um das Eigentum, um eine neue Gesellschaftsordnung geführt wird. Sobald der Leser dies erkennt, erscheinen ihm die Welt, die politischen Ereignisse und das gesamte Figurenensemble, welches wir in diesen Ereignissen erleben, rational verständlich. Die Figuren existieren außerhalb unseres Bewußtseins, sind aber gleichzeitig ein Teil von uns: Die Welt und das eigene Ich stehen in einem dialektischen Wechselverhältnis. Die Erkenntnis der ewigen Existenz der Welt, der menschlichen Geschichte und des Kampfes um Macht und Eigentum läßt beim Leser die Vorstellung verschwinden, das Leben sei ein gewagtes existentialistisches Spiel. Sie richtet unsere Aufmerksamkeit auf jene Kräfte in der Welt, die tatsächlich in ihr wirken. Ohne diese Erkenntnis, die Aldridge in der künstlerischen Gestaltung vermittelt, bleibt der spätbürgerliche Mensch in der Vorstellung befangen, er sei ein bloßer Spielball in der Auseinandersetzung unerklärbarer Weltkräfte, die miteinander konkurrieren, und er kann nicht begreifen, was mit ihm geschieht. Aldridge will dem Leser bewußt machen, daß seine Umwelt und sein eigenes Ich objektiv determiniert sind. 2. Im Mittelpunkt fast aller Romane Aldridges steht die Natur des menschlichen Bewußtseins. Bewußtsein ist für Aldridge ein Produkt der Geschichte und der Politik der Klasse, welcher der Mensch angehört - ein Produkt des Klassenkampfes. Aldridge zeigt uns in seinen politischen Romanen, daß Bewußtsein nicht etwas Statisches, sondern etwas Dynamisches ist. Er veranschaulicht uns sowohl die Richtung von Veränderungen des Bewußtseins als auch die solche Veränderungen verursachenden Faktoren. Oft sind bei Aldridge moralische und ethische Entscheidungen, die Gestalten wie Ivor MacGregor (The Diplomat, Mockery in Arms), 58
Rupert Royce (Captive in the Land, The Statesmaris Game) oder Captain Scott (I Wish He Would Not Die, The Last Exile) treffen, im Grunde genommen politische Entscheidungen. Sie sind es, weil die Handlung in einer konkreten gesellschaftlichen Situation ein politisches Moment birgt und dadurch politisch weiterwirkt. Entscheidungen ethisch profilierter Gestalten, die sich aus dem Widerspruch zwischen bürgerlicher Ethik und bürgerlicher Wirklichkeit ergeben, können ebenso politisch sein wie politische Handlungen, die bewußt als solche vollzogen werden. Mit anderen Worten, ethisch-moralische Entscheidungen können in bewußte progressive politische Entscheidungen verwandelt werden, mag der Schritt vorwärts auch noch so klein sein. Die Natur des Bewußtseins einer Gestalt wird von Aldridge häufig auf die Weise demonstriert, daß er diese Gestalt in eine politische Situation setzt, deren widersprüchliche Entwicklung sowohl die objektive Natur des historischen Prozesses als auch die Klassengebundenheit im Handeln der Charaktere offenbart. In The Last Exile erscheint zum Beispiel der ägyptische Nationalismus als irrational und ungerecht. Betrachten wir ihn im Lichte der objektiven Erfordernisse des ägyptischen Kampfes zur Befreiung vom europäischen Imperialismus, so erkennen wir, daß er, wie Aldridge es klarmacht, eine unausweichliche Notwendigkeit ist; so wird er uns verständlich. Zweifellos ist es für Helen Mamoon unfair und schlecht, daß sie, eine nichtmoslemische Ägypterin, ihre Arbeitsstelle verliert, für die sie dank ihren langjährigen Erfahrungen als Sekretärin des englischen Managers eines englischen Ölkonzerns hervorragend geeignet war. Sie erfüllte ihre Aufgaben besser als das junge moslemische Mädchen, das Helens Stelle erhält und dessen Gedanken die meiste Zeit nicht bei der Arbeit sind. Dennoch muß Ägypten, wenn es eine eigene (freilich bourgeoise) Nationalökonomie aufbauen soll, seine eigenen Leute heranbilden, auch wenn diese am Anfang noch Fehler machen. In der Endkonsequenz werden sie es lernen, die mit diesem Aufbau verbundenen Aufgaben richtig zu erfüllen, denn die Ägypter sind vom Geist des Nationalismus durchdrungen. Und Aldridge macht begreiflich, daß Helen gerade dadurch, weil sie solange für die Engländer arbeitete, sich für den nationalen Aufbau disqualifiziert hatte. Ihre Anti-Nasser-Haltung bekräftigt vom politischen Standpunkt aus, was durch ihre Loyalität zum britischen Konzern schon allzu deutlich geworden ist. So wird es Aldridge möglich, die positive Seite der nationalistischen Irrationalität im Roman zu zeigen. Sicher wäre ftach 59
imperialistischer Logik Helens Know-how nützlicher gewesen, jedoch nicht für die ägyptische, sondern für die imperialistische Seite. Bei dieser Art der Verwendung des Begriffs „politisch" wird deutlich, daß „falsch" und „richtig" relative Begriffe sind in bezug auf das Ziel eines Kampfes, die Situation, in der er ausgetragen wird und in bezug auf die Möglichkeit der Verwirklichung des Ziels. Hier ist impliziert - was für einen bürgerlich-liberalen oder für einen linksradikalen Leser als eine politische Lektion erscheinen muß daß Geschichte ein Prozeß ist und daß zu jedem gegebenen Zeitpunkt die nur abstrakt-logische Korrektheit einer politischen Haltung falsch sein kann. Immer wieder zeigt Aldridge dabei, was im Bewußtsein seiner Charaktere kleinbürgerlich ist. Er versucht damit, dem liberalen Durchschnittsbürger dessen Bewußtsein sichtbar zu machen. Aldridges Werke werden von der akademischen Kritik Großbritaniens größtenteils ignoriert. Ein Grund dafür liegt vermutlich darin, daß er bemüht ist, das Wesen des Mittelklassenbewußtseins darzustellen. Die bürgerlichen Intellektuellen wollen nicht unbedingt hören, daß ihr Bewußtsein historisch 'klassenbestimmt ist, daß also ihre Meinungen, die sie sub specie aeternitatis vorbringen, schlicht und einfach eine bürgerliche oder sogar eine kleinbürgerliche Prägung tragen. Und gerade der kleinbürgerliche Charakter ihres Bewußtseins ist eine wesentliche Ursache des Mißtrauens der Intellektuellen gegenüber der Arbeiterklasse; die gegenwärtige Kluft zwischen beiden in Großbritannien liegt eben nicht darin begründet, wie viele Intellektuelle behaupten, daß die Arbeiter, die Massen, nie imstande gewesen wären, Kultur zu verstehen und zu genießen. In Romanen wie The Diplomat, Mockery in Arms, I Wish He Would Not Die, The Last Exile und Heroes of the Empty View (1954,Glühende Wüsten) gelingt es Aldridge, die nationalen Befreiungsbewegungen der Kurden und der Araber sowohl in ihren breitangelegten politischen Zielen und vielschichtigen Gruppierungen als auch in ihren inneren Widersprüchen darzustellen. Aldridge verdeutlicht, welche Ziele die Imperialisten verfolgen, wie ihre ökonomischen Interessen die politische Strategie und Taktik bestimmen, wie diese in den Köpfen ausgearbeitet und im Geschäftsleben angewandt werden. Alle Hauptgestalten werden in ihrer sozialen Umwelt gezeigt. Sowohl das harte Leben der Kurden und der Araber als auch die gut eingerichteten Wohnzimmer der wohlhabenden Europäer werden bis ins kleinste Detail vorgestellt. Diese Umwelt ist nicht bloßes lokales
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Kolorit, sondern steht für die kulturell-politischen Bedingungen, unter denen Politik gemacht wird und politische Bewegungen ihren Ursprung nehmen. In Heroes of tbe Empty View verbindet Aldridge die Probleme einer Politik der nationalen Befreiung mit der Natur des politischen Bewußtseins sowohl der Europäer als auch der Araber. Gordon (eine Figur, die dem britischen Offizier T. E. Lawrence nachgezeichnet sein könnte, der im ersten Weltkrieg die Araber im Kampf gegen die Türken unterstützte) rebelliert gegen die europäische Zivilisation und schließt sich der arabischen Befreiungsbewegung an. Acht Jahre lang lebt er mit den Arabern in der Wüste, und er kämpft auf ihrer Seite, denn er fühlt, daß er im arabischen Stammesleben und Nomadentum jene absolute Freiheit wiedergefunden hat, die in der europäischen Zivilisation verlorenging. Sein Kampf richtet sich sowohl gegen den britischen Imperialismus als auch gegen den arabischen Marxismus. Gordon ist der freiheitsuchende Bourgeois, dessen Freiheit immer bourgeois bleibt, denn sie ist individualistisch. Er hält sich fern von jeder Beziehung zur arabischen Arbeiterklasse, und ihm fehlt jeglicher Sinn für die materiellen Bedürfnisse seiner Kampfgefährten. Wenn Gordon in diesem Idealismus dargestellt wird, so will Aldridge den Leser damit auffordern, über das Wesen des Freiheitsbegriffs, über seine historischen und kulturellen Wurzeln sowie über das Wesen des menschlichen Bewußtseins nachzudenken. Gordon sagt zu Zein, dem Führer der Arbeiter und arabischen Marxisten: „Der Aufstand der Stämme ist für die individuelle Entscheidung auf Grund eines völlig freien Willens. Kein Dogma, das Arbeiter zu Göttern machen will. Das überlassen wir euren Politikern." Zein antwortet darauf: „Glaubst du, wir werden unsere Bauern und Arbeiter zum Aufstand zwingen? . . . Glaubst du nicht, daß sie genug freien Willen haben, um zu entscheiden, ob sie sich erheben wollen oder nicht? Wird ein Mann, den die Not fast umbringt, einem Dogma folgen? Wir zeigen unseren Arbeitern und Bauern den Weg zur Rettung. Und wie? Nicht, indem wir ihnen freien Willen anbieten, oder jedem seinen eigenen Intellekt. Was würde das nützen? Wie könnte das ihr Elend lindern? Wir bieten ihnen etwas Reales: keine Großgrundbesitzer mehr, keine Ausbeutung mehr, Schluß mit der Herrschaft der Ausländer, Schluß mit Armut, Elend, Hunger und Unglück. Und ein wirkliches Ziel, kein bloßes Versprechen. Unabhängigkeit! Land für die Bauern! Selbstbestimmung für die Arbeiter in den Städten! Das ist unser Dogma!"3 61
Zeins Vorstellung von Freiheit unterscheidet sich erheblich von der Gordons. Für Zein ist Freiheit eine praktische, kollektive Sache; Gordon sieht sie idealistisch, individualistisch. Dieser Unterschied ist in der unterschiedlichen Klassenzugehörigkeit beider begründet, denn sie bestimmt alles politische Denken, also auch die Vorstellung von Freiheit. In dieser Klassengebundenheit liegt auch Aldridges Stil begründet; in letzter Konsequenz ist der Stil ein Aspekt der Weltanschauung. Da Aldridge die Meinung vertritt, daß die Realität im Roman mit einer marxistischen Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse zu erschließen sei, ist sein Stil objektiv und realistisch. Da die natürliche und soziale Wirklichkeit objektiv außerhalb unseres Bewußtseins existiert und sich in einer dialektisch widersprüchlichen Entwicklung befindet, muß sie in ihrer historischen Zeit und in ihrem historischen Ort und auch rational, das heißt dialektisch erkennbar, dargestellt werden. Aldridges Realismus ist weder eine bloße Fortführung des Realismus von Henry Fielding, von Dickens oder E. M. Forster noch des Naturalismus der Bestseller. Dennoch knüpft er an die ältere realistische Tradition an, die er durch seine ästhetische Beherrschung der Dialektik objektiver geschichtlicher Vorgänge und subjektiver Erfahrungen bereichert. Sein Realismus lehnt alle Varianten eines modernistischen Stils ab. Wenn die Welt irrational ist, so ist in seinem Verständnis das Ziel des literarischen Schaffens nicht die Reproduktion der subjektiven Empfindungen und Gefühle dieser Irrationalität durch den Stil. Aldridges Anliegen besteht vielmehr darin, zu zeigen, daß diese Irrationalität rational verstanden werden kann als das Resultat der allgemeinen Krise des Kapitalismus, die von der Bourgeoisie herbeigeführt wurde, gegen die da£ Proletariat einen revolutionären Kampf führt. Sicher ist das für einen Schriftsteller unter nichtrevolutionären Bedingungen schwieriger zu realisieren als unter revolutionären, da er unter letzteren die revolutionären Bedingungen in die Gestaltung einbeziehen und die geistigen und praktischen revolutionären Potenzen in den beschleunigten sozialen Veränderungen solcher Situationen künstlerisch zum Ausdruck bringen kann. In nichtrevolutionären Situationen, in denen sich soziale Veränderungen bedeutend langsamer vollziehen, besteht das Problem darin, zu zeigen, wie sich trotz der geringen Geschwindigkeit der sozialen Veränderungen das Klassenbewußtsein entwickeln kann und sich auch tatsächlich entwickelt. 62
Dieses sich langsam verändernde Bewußtsein scheint nicht Gegenstand empirischer Untersuchungen zu sein, und es gilt vielen offenbar als ungeeignet für eine künstlerische Darstellung. Schriftsteller aus der Arbeiterklasse lösen dieses Problem gewöhnlich so, daß sie für die Romanhandlung zum Beispiel eine Streiksituation oder einen Unfall wählen, also eine kritische Situation, die zum Denken anregt. Unter solchen Bedingungen können Reaktionen und Haltungen der Arbeiterklasse aufs genaueste untersucht und dargestellt werden. Viele sozialistische britische Schriftsteller suchen sich wie Aldridge revolutionäre Stoffe, zum Beispiel auch in ehemaligen Kolonien, in denen der antiimperialistische Kampf am schärfsten ist, wollen sie doch revolutionäre Ideen in ihrem größten Umfang diskutieren und darstellen, wie man diese Ideen in revolutionärer politischer Tätigkeit zu realisieren versucht. Häufig finden diese Probleme bei britischen Arbeitern wenig Anklang. Sie betrachten sie kurzsichtigerweise als zu weit von ihrem wirklichen Leben entfernt und als gegenwärtig unaktuell. Die Frage nach dem Wesen des Begriffs Freiheit, wie sie in Heroes of tbe Empty View gestellt wird, ist für die Arbeiter in dieser Form irrelevant. Die Freiheitsthematik nimmt für sie keine individuelle Form an. Die Disziplin der Fabrikarbeit, die gegenseitige Abhängigkeit unter den Bedingungen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die Fähigkeit, den Anweisungen eines Vorgesetzten zu folgen, ohne dabei die Menschenwürde zu verlieren - eine Fähigkeit, die sich auf die Erfahrung und Erkenntnis der Arbeiter gründet, den Arbeitsprozeß mit einem größeren Erfahrungsschatz organisieren zu können - , all das verleiht der Arbeiterklasse eine eigene Vorstellung von Freiheit, die mit der Vorstellung des bürgerlichen Intellektuellen nichts gemein hat. Die Freiheit des Arbeiters besteht darin, zusammen mit Angehörigen seiner Klasse für bessere Lebensbedingungen, höhere Löhne und für eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft zu kämpfen, für Verbesserungen, die im Kollektiv erkämpft und gewonnen werden. Seine Individualität verwirklicht sich also im gemeinsamen Kampf der Klasse. Damit kann der Arbeiter diesen Grad der Selbstverwirklichung leichter erreichen als der bürgerliche Intellektuelle, der seine Freiheit im Recht verwirklicht glaubt zu denken, zu kritisieren, zu schreiben und zu tun, was ihm gefällt. Aldridge schreibt nicht direkt für die Arbeiterklasse, sondern in erster Linie für bürgerliche Intellektuelle, in der Hoffnung, sie zu einem progressiven Standpunkt zu bewegen. Er schreibt für bürger63
liehe Leser, die zwar progressive oder linksorientierte Anschauungen haben, aber gleichzeitig befürchten, mit ihrem Engagement ihre persönliche Freiheit einzuschränken. Schriftsteller wie Aldridge und Sillitoe haben revolutionäre Situationen mit internationaler politischer Bedeutung gewählt, denn hier, wie wir schon gesehen haben, bieten sich die besten Möglichkeiten für eine Analyse politischer Anschauungen verschiedenster Prägung. Was Aldridges Werk fehlt, ist die Darstellung des Arbeiters, seines Lebens und Kampfes. Aber wenn daneben Schriftsteller wie David Lambert, Herbert Smith, Robert Bonnar oder James Plunkett erfolgreich die Arbeiterklasse in ihrem gesamten Leben und Kampf sowie die Entwicklung des revolutionären Bewußtseins darstellen, so eröffnet sich ein breites Feld für einen sozialistischen Realismus, der auch jenen von James Aldridge in seinen Romanen vertretenen einschließt.
Georgi A. Andshaparidse
Der Roman über die Arbeiterklasse in kapitalistischen Ländern
Im Rahmen dieses Beitrages ist es nicht möglich, die Geschichte des Romans über die Arbeiterklasse umfassend darzulegen; dennoch möchte ich darauf verweisen, daß dieser Romantyp im eigentlichen Sinne, wie wir den Terminus heute gebrauchen, nicht älter als 150 Jahre ist. Einer der ersten „Arbeiterromane" in der Weltliteratur stellt Sybil, or, Tbe Two Nations (Sybil oder Die zwei Nationen) dar. E r stammt - so paradox es auch sein mag - von Benjamin Disraeli, dem späteren ersten Grafen von Beaconsfield und Premierminister Großbritanniens. Das Werk, im Jahr 1845 veröffentlicht, sollte für die folgenden Zeiten ein bewegendes und wahrheitsgetreues Dokument bleiben, das von den unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen der englischen Weber, Bergleute und Landarbeiter Zeugnis ablegte. Ungefähr zur gleichen Zeit erschienen auch die ersten Prosawerke über das Leben der deutschen Arbeiterklasse. Der Mensch der Arbeit oder, genauer gesagt, der Mensch im Arbeitsprozeß findet seit der Mitte des 19. Jahrhunderts seinen festen Platz in der Weltliteratur. Dies geschah während der industriellen Revolution, als zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit gewaltige Massen des arbeitenden Volkes in den Prozeß der kollektiven vergesellschafteten Produktion hineingezogen und auf diese Weise plötzlich zu einer realen politischen Kraft der gesellschaftlichen Entwicklung wurden. Folgerichtig entstand der obengenannte Romantyp unter jenen Voraussetzungen, die mit der Entwicklung und Formierung der Klasse des Proletariats gegeben waren. Gewiß, nicht zu allen Zeiten spielte der Roman über die Arbeiterklasse eine solch dominierende Rolle in der Literaturentwicklung der kapitalistischen Länder wie etwa in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Aber niemals hörte er auf zu existieren; er bildete in gewisser Weise eine besondere Unterströmung, die einen nicht geringen Einfluß auf die Literaturentwicklung der neuen Zeit ausübte. 5 Romane
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Es hat den Anschein, daß die Literatur der Arbeiterklasse, die ohne Zweifel mit den Ideen des Sozialismus in Berührung geraten muß, in den kapitalistischen Ländern eine doppelte Funktion ausübt. Einerseits ist sie ein integrierter Bestandteil der allgemeinen Literaturentwicklung, andererseits aber befindet sie sich in ihrer ideellen Zielsetzung und in ihrer ausdrücklichen Treue zu den traditionellen Formen der realistischen Literatur überwiegend in Opposition zu jener Literatur, die aus einer bürgerlichen Weltsicht entsteht. Dies bestätigt von neuem die Leninsche Lehre von den zwei Kulturen. Als ein beredtes Zeugnis der Lebensfähigkeit des Romans über die Arbeiterklasse in den entwickelten kapitalistischen Ländern und seiner prinzipiellen Bedeutung für den gegenwärtigen ideologischen Kampf mag folgender Tatbestand gelten. Am Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre unseres Jahrhunderts bildeten sich die „Konvergenztheorie" und die „Theorie der Industriegesellschaft" heraus. Diese Theorien zielten bekanntlich darauf, die antagonistischen Widersprüche in der bestehenden kapitalistischen Gesellschaft zu vertuschen und die breite Masse der Werktätigen von der Möglichkeit einer Annäherung von Kapitalismus und Sozialismus zu überzeugen, die angeblich durch die wissenschaftlich-technische Revolution befördert werde. Aber gerade in jenen Jahren, als die Apologeten des Kapitalismus lautstark die „Integration" des Proletariats in das System der „Konsumgesellschaft" verkündeten - bezeichnenderweise griff auch Herbert Marcuse, Theoretiker der Neuen Linken, diese These auf - , kam es in vielen Ländern zu einem Aufschwung der Literatur über die Arbeiterklasse. Ende der fünfziger Jahre erschienen in England nacheinander die Bücher der Arbeiter-Schriftsteller Alan Sillitoe, Stan Barstow, Sid Chaplin und Raymond Williams. 1961 formierte sich in der B R D die Dortmunder „Gruppe 61". In den Jahren ungehemmter Propagierung des Mythos von der „industriellen" oder „postindustriellen" Gesellschaft widerlegten jene Romane ganz überzeugend die Möglichkeit eines Klassenfriedens, deckten sie immer deutlicher die sich zuspitzenden Widersprüche zwischen den beiden Nationen innerhalb der kapitalistischen Länder - den Reichen und den Armen - auf. Die Literatur erwies sich abermals - wie nicht selten in der Geschichte der Weltkultur - als ein hochempfindsamer und genauer Seismograph, der erbarmungslos den Grad der Fälschung in den Konstruktionen der bürgerlichen Forschung anzeigte. Entsprechend der objektiven historischen Entwicklung nimmt der Anteil der Literatur über die Arbeiterklasse in den kapitalistischen 66
Ländern von Jahr zu Jahr zu. Zu ihr zählen die sozialen Romane in Frankreich und Italien ebenso wie die Werke der englischen Prosaschriftsteller und Dramatiker, jene der schwedischen Publizistik und Theaterkunst und die dokumentarischen Skizzen und Autobiographien, die in den USA, der BRD und Spanien erschienen, dazu nicht wenige Romane auch in Japan. Eine Erklärung findet dieser allgemeine Tatbestand zuallererst durch jene sozialen Prozesse, über die es im Grundsatzreferat des XXV. Parteitags der KPdSU heißt: „Die Stärke und Autorität der Arbeiterklasse haben zugenommen, ihre Rolle als Vorhut im Kampfe für die Interessen der Werktätigen, für die wahren Interessen der Nation ist gewachsen." 1 Die Erkenntnis, daß der „Kapitalismus eine Gesellschaftsform ohne Zukunft ist" 2 , durchdringt buchstäblich alle Werke über die Arbeiterklasse, die in den letzten Jahren in verschiedenen Ländern der kapitalistischen Welt von Finnland bis Japan entstanden sind. Immer breitere Massen der Werktätigen begreifen die Grausamkeit und Ungerechtigkeit der Gesetze jener Gesellschaft, in der sie leben müssen. Obwohl sich ihre Unzufriedenheit mit den bestehenden Zuständen häufig noch spontan äußert, ist sie doch nicht weniger kämpferisch. Die Literatur registriert nun sehr genau die ersten Anzeichen eines spontanen Protestes. Das Schicksal des jungen finnischen Bauernburschen Raimo Kujala aus dem Roman Saa.ta.nan Suomalainen (1971, Verdammter Finne) von Hannu Ylitalo, der wie viele tausend Finnen gezwungen ist, seinen Broterwerb in der Fremde zu suchen, ist typisch für das Leben im heutigen Schweden. In der Heimat gibt es für Kujala keine Arbeit. In Schweden wird er Fließbandarbeiter im gigantischen Autokonzern Volvo. Kujala interessiert sich überhaupt nicht für Politik, und es hat zunächst den Anschein, als ob er gar nichts gegen die für ihn bestimmte Existenzweise einzuwenden habe. Arbeit, Tanzvergnügen, Trinkgelage - lediglich die Arbeit am Fließband erschöpft ihn. Aber das Leben in Schweden zwingt ihn bald, darüber nachzudenken, wie ungerecht jene Gesellschaft beschaffen ist, in der er als Fremdarbeiter zum Opfer einer doppelten Ausbeutung geworden ist - der klassenmäßigen und der nationalen. Die Allgemeingültigkeit teilt dieser finnische Roman mit einer Reihe ähnlicher in den USA erschienener Werke, die über die unerträglichen Lebensbedingungen der nationalen Minderheiten - der Mexikaner, Indianer, Puertorikaner - im heutigen Amerika berichten, zum Beispiel mit David Chandlers Huelga (1970, Der Streik) und Eugene Nelsons Bracero (1972, Der Hochofen). 5»
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Die tragische Lage der Arbeiter in der westlichen Welt, die nur von der progressiven Literatur wahrheitsgetreu vorgeführt wird, besteht darin, daß der Proletarier, sei er auch arbeitsliebend und talentiert, nicht über eine reale Perspektive der Verbesserung seines sozialen wie beruflichen Status verfügt. E r kann zwar materiell völlig gesichert sein und ein eigenes Haus, einen eigenen Wagen und einen Farbfernseher besitzen, doch sieht er jedem Tag mit Furcht und Angst entgegen. E r weiß, wie illusionär und wenig dauerhaft dieser Wohlstand ist, erworben nur durch äußerst kräftezehrende Arbeit und Anstrengung. Das grausame Schicksal der Arbeitslosen in den Vorstadtslums steht ihm immer vor Augen. Die beständig drohende Gefahr der Arbeitslosigkeit wirft nicht nur materielle, sondern auch sehr komplizierte psychologische Probleme auf. Wer vermag die schweren seelischen Erschütterungen in einem Menschen einzuschätzen, der gezwungenermaßen mit jedem Tag mehr den Glauben an sich selbst und seine Zukunft verliert, da er begreift, daß er eigentlich unbrauchbar ist. Nur wenigen Arbeitern wird die Chance zuteil, sich auf der sozialen Stufenleiter emporzuarbeiten, und dies nur um den Preis des Verrats an ehemaligen Kollegen und Genossen. So entwickelt sich auch das Schicksal des Werftarbeiters Sandro Visintin in La tutta gialla (1971, Die ganz Gelbe) des italienischen Schriftstellers Nordio Zozzenon. Nachdem der Romanheld zum Meister aufgerückt ist, will er die zwischen ihm und seinen ehemaligen Kollegen sofort entstehende Kluft nicht wahrhaben. Aber von nun an sind seine Interessen und die der früheren Kampfgefährten völlig entgegengesetzt: Ein guter Meister hat eben ein treuer Verteidiger der Werkleitung zu sein. Aber „hineinwachsen" in die Klasse der Herrschenden kann Sandro nicht. E r lernt die tieferen Zusammenhänge begreifen und kehrt zu seinen Klassenbrüdern zurück. Die wichtigste Aussage des Romans besteht darin, daß die gefestigte Solidarität der Arbeiter unter Beweis gestellt wird. In den Werken der sechziger und siebziger Jahre werden mehr und mehr die Klassenauseinandersetzungen spürbar, die bereits für den sozialen Roman der dreißiger Jahre charakteristisch waren. So wenden sich die Schriftsteller der verschiedensten Länder - in der einen oder anderen Form - demonstrativ den Traditionen der Arbeiterbewegung und des antifaschistischen und revolutionären Kampfes zu. In den Romanen über die Arbeiterklasse gibt es keine Darstellung des Generationskonfliktes mehr, im Gegenteil, sie zeigen gerade den 68
untrennbaren Zusammenhalt zwischen der alten und der neuen Generation. „Warum stehen mir die Alten in dieser Umgebung um so vieles näher?" überlegt Raimo Kujala. Ähnliches ist in dem italienischen Roman zu erkennen: In der schwierigsten Situation kann Visintin auf die Hilfe seiner zuverlässigen alten Arbeitskollegen Poldo und Fiore bauen, die beide ehemalige antifaschistische Partisanenkämpfer sind. Noch deutlicher kommen die engen Beziehungen zwischen den verschiedenen Generationen in dem Roman Par la plus haute porte (1973, Durch die höchste Tür) von Roger Chateauneu zum Ausdruck. D e r alte Eisenbahnarbeiter Corbane, ein bewußter Kommunist und Held der Résistance, wird zum Vorbild für den jungen Arbeiter Sabasse, der leidenschaftlich nach dem wahren Sinn des Lebens sucht. Während sich die französischen und italienischen Schriftsteller der Problematik der Widerstandsbewegung zuwenden, knüpfen die englischen Schriftsteller an die Ereignisse des Jahres 1926 an, also an die Aktionen der überwältigend großen Streikbewegung, die der Arbeiterklasse das Bewußtsein ihrer Macht und Stärke verliehen und zum Symbol proletarischer Solidarität wurden. Auf diese Tradition berufen sich viele Helden der Romane von Sid Chaplin, Raymond Williams und von anderen. Nicht zufällig ist die Handlung vieler in den letzten zwei Jahren in England erschienenen Romane in den dreißiger Jahren angesiedelt, als die Arbeiterbewegung im eigenen Land einen gewaltigen Aufschwung genommen hat. Die Arbeitergestalten der Vergangenheit beeindrucken durch die Ganzheit der Persönlichkeit, die hohe Arbeitsmoral, durch den Stolz und die Würde der werktätigen Menschen und die konsequente Haltung im Kampf um ihre Rechte. 1977 gelangten drei Romane über das Leben der Arbeiter in den deißiger Jahren zur Veröffentlichung:David Toulmin: Blown Seed (1976, Verwehte Saat), A. Rhodes: Shout into the Wind (Rufe in den Wind) und Janice Elliott: A Lovitig Eye (1977, (Ein liebendes Auge). Über die Landarbeiter um die Jahrhundertwende schreibt der junge, doch schon sehr bekannte Schriftsteller Malvyn Bragg. Die Geschichte von drei Generationen schottischer Bauern liegt dem Roman von Anne Blair A Tree in the West (1976, Ein Baum im Westen) zugrunde. Den Kampf um das nackte Überleben schildert der junge Schriftsteller Gordon Parker anhand des Schicksals von Bergleuten aus den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in seinem Erstlingswerk The Darkrtess of the Morning (1975, Die Dunkelheit des Morgens). Arbeiter aus den Textilfabriken von Lancashire sind Helden des Romans Until the
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Colours Fade (1976, Bis die Farben bleichen) von Tom Jeal. Über seine Vorfahren, schottische Bergarbeiter des ausgehenden 19. Jahrhunderts, berichtet der amerikanische Schriftsteller Robert Crichton in dem Roman The Camerons (1972, Die Camerons). In all diesen Werken über die Vergangenheit bestätigt sich die Tendenz, die schon Ende der zwanziger Jahre von Henri Barbusse für die Literatur seiner Zeit hervorgehoben wurde, nämlich ein wachsendes „dramatisches Interesse nicht an der Darstellung von Einzelfällen oder rein individuellen Haltungen, sondern an dem Auftreten kollektiver Entscheidungssituationen, einer einheitlich wirkenden Kraft, die unmittelbar und in ihren umfassenden Ausstrahlungsmöglichkeiten zu einem entscheidenden Faktor wird" 3 . Der Masse der Werktätigen steht es heute zu, gleichwertig mit der individuell gestalteten Hauptfigur im künstlerischen Werk dargestellt zu werden. Das Individuum fühlt sich keineswegs durch die Masse unterdrückt oder aufgehoben, sondern gewinnt gerade in Übereinstimmung mit den Kampfgefährten seiner Klasse, mit deren Denken und deren Überzeugungen das Bewußtsein eigener Kraft und Stärke, das durch das Wissen um die große Zahl Gleichgesinnter geformt wird. So ist der wahre Held in Parkers Roman eigentlich die gesamte Bergarbeitersiedlung. Diesen Weg zum Verständnis echter Kollektivität, die nicht die einzelne Persönlichkeit unterdrückt, sondern sie überhaupt erst voll zur Geltung bringt, legt auch der Held des autobiographischen Romans Les prolos (1973, Die freudlose Straße) zurück, der von dem ehemaligen Metallarbeiter Louis Oury geschrieben wurde. Der Held des letztgenannten Werkes wir auch Corbane aus dem Roman von Chateauneu sind sich der Notwendigkeit des politischen Kampfes als einer Grundvoraussetzung für gesellschaftliche Veränderungen bewußt. In den Romanen von Louis Oury wie auch in der literarischen Skizze über das Leben der englischen Reinemachefrau in Tay Hobbs' Born to Struggle (1973, Zum Kämpfen geboren) und in dem dokumentarischen Bericht über die Montagearbeiter On High Steel (1974, Auf hohem Stahl) finden einige wesentliche Tendenzen der westlichen Gegenwartsliteratur über die Arbeiterklasse ihren Ausdruck: der spezifische Empirismus der Erzählform, das Verflochtensein mit den tatsächlichen Lebensumständen, das Streben zum Dokumentarischen und gesellschaftlich Realen. Aber in jedem dieser Werke versinnbildlicht die Konkretheit des persönlichen Lebens zugleich das Allgemeine und Typische. Dieses Ziel wird vor allem durch die 70
Objektivierung des Erzählerstandpunktes erreicht: In keinem Werk, auch nicht im autobiographischen, kommt es zu einer Idealisierung, zu einer Abschwächung der real existierenden Widersprüche oder der besonderen Schwierigkeiten der Arbeiterbewegung. Trotz der immensen Bedeutung der wissenschaftlich-technischen Revolution für die Literatur sind sich die marxistischen Literaturwissenschaftler darin einig, daß der Gegenstand künstlerischen Schaffens immer der Mensch bleiben wird und nicht die Maschine oder der Prozeß der Technisierung. Diese allgemeine Erkenntnis verbreitet sich auch innerhalb der Literatur des kapitalistischen Westens mehr und mehr, obwohl dort nach wie vor „Produktionsromane" erscheinen, in denen technische Termini, ja zuweilen technische Zeichnungen und Diagramme, zum Beispiel bei Mike Cherry, vorherrschen. Es ist möglich, daß dies mit der technischen Entwicklung in den kapitalistischen Ländern zusammenhängt, die die soziale weit überholt hat. Aber es gibt noch eine weitere wesentliche Ursache für die Überfrachtung der Romane über die Arbeiterklasse mit technischen Details aus dem Produktionsprozeß. Direkt dazu äußert sich Mike Cherry, der das Ziel seiner literarischen Werke darin sieht, einem möglichst breiten Publikum mitzuteilen, wie 175 000 Montagearbeiter in den USA leben und arbeiten. Er schreibt aus der Sicht seiner Arbeitskollegen, die in großer Höhe arbeiten, daß sie es sich „abgewöhnt haben zu sprechen", daß sie sich nur noch durch Gesten und Schreie verständigen. Der alte Corbane gibt dies mit den Worten wieder: „Er wuchs unter äußerst wortkargen und zurückhaltenden Menschen auf, die es nicht gewohnt waren, ihren Gedanken und Gefühlen Ausdruck zu geben; er wußte, daß sie selbst sehr unter ihrem Unvermögen litten, denn ihr zunehmend bewußter und sicherer werdendes Urteil verlangte, daß man es auch zu formulieren verstand . . ."4 Die Literaturwissenschaftler der sozialistischen Länder beschäftigen sich sehr eingehend mit dem Schaffen westlicher Schriftsteller des 20. Jahrhunderts wie James Joyce und William Faulkner, Graham Greene und Heinrich Boll. Hervorragende Forschungsergebnisse zur Arbeiterliteratur in der BRD liegen von seiten der Literaturwissenschaftler der DDR vor. Es ist dabei wichtig, hervorzuheben, daß die zeitgenössische Literatur über die Arbeiterklasse in den kapitalistischen Ländern von uns nicht nur sehr intensiv und systematisch verfolgt und analysiert, sondern daß sie zugleich als Teil des weltliterarischen Prozesses insgesamt gewertet wird. Noch sind bestimmte Fragen völlig offen, wie zum Beispiel die nach der Funktion des ge71
nannten Romantypus, ebenso jene nach seiner Resonanz sowohl in der Literaturkritik als auch bei den Lesern, desgleichen die Fragen nach den Besonderheiten seiner Struktur, die sich aus dem Verhältnis von Dokumentarischem und künstlerisch Fiktivem ergeben, oder die nach den typologischen Gemeinsamkeiten und der individuellen Spezifik des Arbeiterromans in den verschiedenen Ländern. Der Roman über die Arbeiterklasse muß im Zentrum unserer Aufmerksamkeit bleiben, denn er trägt die Zukunft in sich, oder, wie Roger Chateauneu treffend formulierte: „Die proletarische Literatur wird von Sturmwinden vorangetragen, in denen das rote Banner sieghaft weht."5 Übersetzt von Annelies Graßhoff
Hans Joachim Bernhard
Politisch-ästhetische Differenzierung in der Literatur der BRD
Im folgenden sei auf einige Aspekte verwiesen, die offensichdich für den Prozeß der politisch-ästhetischen Differenzierung in der Literatur der BRD der letzten Jahre kennzeichnend sind. Daß sich eine solche Differenzierung vollzieht, ist nicht zu übersehen und muß in diesem Zusammenhang sicher nicht im einzelnen belegt werden. Deshalb sollen hier nur einige knappe Bemerkungen zu den Grundlagen dieses Prozesses gemacht werden.1* Diese sind in den charakteristischen Veränderungen zu sehen, denen die Literaturentwicklung an der Wende von den sechziger zu den siebziger Jahren unterlag. Die bestimmende Wirkung weltweiter Prozesse, so die Veränderung des Kräfteverhältnisses im internationalen Klassenkampf, die Erfolge der antiimperialistisch-demokratischen Bewegung im Kampf gegen den Krieg in Vietnam, die erste massive ökonomische Rezession sowie Aktionen im nationalen Rahmen für demokratische Veränderungen an den Hochschulen und gegen die Monopolpresse, äußerte sich letztlich im Krisenhaften, im Aufbruchcharakter, bezeichnend für das Bild der Literatur in den sechziger Jahren. Die heftigen Auseinandersetzungen um die Möglichkeiten der Literatur, die Vielgestaltigkeit der Experimente, die neu hervortretenden literarischen Erscheinungen und das Spezifische der Wandlungen poetischer Konzeptionen drängten nach Entscheidungen und greifbaren Ergebnissen. Alles deutete darauf hin, daß eine solche Situation der Spannung und - es sei an die These vom „Tod der Literatur" erinnert - vielfach auch der Überspanntheit nicht zu halten war. Die Angebote waren vielgestaltig, Positionsbestimmungen - wie Peter Weiss sie etwa 1965 mit großer Resonanz in den Zehn Arbeitspunkten als einer der ersten versucht hatte - waren gefragt. In dieser Situation wurde es entscheidend für die Diskussion um den Weg und die Möglichkeiten der Literatur, daß seit 1968 mit der DKP eine gesellschaftliche Kraft legal wirken konnte, die eine geschichtliche 73
Alternative auch national greifbar zu machen vermochte. Dies ist ein bedeutsamer und, wie es scheint, entscheidender Punkt für das Verständnis der BRD-Literatur in der Mitte der siebziger Jahre. Der Wunsch - eigentlich der Zwang - , erschöpfte poetische Konzeptionen zu ersetzen, vollzieht sich unter den Bedingungen der Existenz einer noch nicht durch eine demokratische Massenbewegung gestützten, aber doch klar artikulierten, konsequent demokratischen und sozialistischen Alternative, deren Gewicht nicht zuletzt durch den internationalen Kontext bestimmt ist, in dem sie steht. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß die im Interesse der Monopole gelenkten Medien alles tun, um diese geschichtliche Alternative auch im Literarischen zu verdunkeln und zu verdecken. Hier hat der Polarisierungsprozeß seinen Ausgangspunkt, der am Beginn der siebziger Jahre in der BRD-Literatur deutlicher hervortritt. Er äußert sich sehr nachdrücklich im Epochenverständnis der Autoren, was für die Entwicklung einer realistischen Literatur erhebliche Konsequenzen hat. Auf ein charakteristisches Beispiel sei verwiesen. Für die bürgerlichen Literaten der fünfziger bis weit in die sechziger Jahre hinein war die DDR ein Provisorium. Ihr Verhältnis zu den DDR-Autoren wurde letztlich auf die schlichte Formel von Künstler und Nichtkünstler gebracht. Die einen waren es wert, etwa von der „Gruppe 47" eingeladen und in ein gesamtdeutsches, natürlich bürgerliches, Kunstverständnis einbezogen zu werden, die anderen galten als Schreiber im Dienst. Die geschichtliche Entwicklung der letzten fünfzehn Jahre hat auch hier ihre Beziehungen entschiedener politisiert und polarisiert. Die ästhetische Verbrämung der gegen den realen Sozialismus gerichteten Position mußte aufgegeben werden. Angesichts der zunehmenden Attraktivität eines Weltbildes für die Schreibenden in der BRD, in dem die geschichtliche Alternative durch Länder des realen Sozialismus repräsentiert ist, genügte offensichtlich die Behinderung der konsequent demokratischen und sozialistischen Literatur in der BRD allein nicht mehr. Sie wurde zunehmend von den Bemühungen begleitet, gerade im literarischkünstlerischen Bereich den realen Sozialismus zu diffamieren. Die Versuche der Einflußnahme auf Künstler der DDR sind Teil der hier entwickelten Strategie. Dabei geht es nicht nur um ein Reagieren auf das rasche Entwicklungstempo im ökonomischen, sozialen und kulturellen Bereich in den sozialistischen Ländern, sondern auch um ein Reagieren auf die spezifische Situation in der BRD. Die sechziger Jahre waren dadurch gekennzeichnet, daß das Lite74
raturverständnis, das fast zwei Jahrzehnte das literarische Leben maßgeblich bestimmt hatte, zurückging; sie waren aber auch gekennzeichnet durch die Hoffnungen, die an die verschiedenen gesellschaftlichen Bewegungen und Aktionen geknüpft wurden. Wie spontan diese Bewegungen vielfach im Wesen auch waren, war doch Altes als alt, Überlebtes als überlebt erkannt worden, und die Frage und das Verlangen nach einer Alternative wurden beherrschend. So Wesentliches die Dokumentarliteratur von Kipphardt bis Wallraff und Erika Runge im Analytischen auch geleistet hatte, am Beginn der siebziger Jahre stand die Frage nach einer Bilanzierung der Ergebnisse demokratischer Aktivitäten der endsechziger Jahre auf der Tagesordnung, aber auch - und das scheint uns ein wesentliches Kriterium für die Differenzierung in der Literatur um die Mitte der siebziger Jahre zu sein - eine Bilanzierung der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten 25 Jahre, der Zeit seit dem Ende des Krieges überhaupt. Von dieser Problemstellung her kann ein guter Zugang zu politisch-ästhetischen Differenzierungen in der Literatur der letzten Jahre erschlossen werden. Wir treffen am Beginn der siebziger Jahre in den bürgerlichen Massenmedien, und nicht nur dort, auf den Versuch, die stärker werdende Tendenz, Probleme des isolierten Individuums, seiner Identitätssuche und Selbstbehauptung in einer nur noch als bedrohlich empfundenen Umwelt - sie beinhaltet im wesentlichen die Zerstörung illusionärer Hoffnungen auf schnelle demokratische Veränderungen in diesem Land - in den Rang eines Hauptstromes literarischer Entwicklung zu heben und die Politisierung der Literatur seit dem Ende der sechziger Jahre, den neuen Anfang und das Hervortreten einer neuen Qualität realistischer Literatur als vorübergehende Erscheinung, vergleichbar anderen literarischen Modeströmungen, darzustellen. Der im politischen Sprachgebrauch von konservativen Kräften entwickelte Begriff der „Tendenzwende" sollte auch im Literarischen das Stoppsignal für das Vordringen einer realistischen Literatur werden. 2 Es handelt sich hierbei um den Versuch, die Suggestivität des im politischen Bereich verwendeten Begriffs, der eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten der konservativen gesellschaftlichen Positionen insinuiert, auch für die Einschätzung der literarischen Situation zu nutzen und bestimmte Erscheinungen zu isolieren und ihnen eine dominierende Funktion zu geben, andere zurückzudrängen oder zu ignorieren. Zu einem exemplarischen Beispiel für einen so verstandenen Prozeß 75
wurde die wegen ihrer „linken" Vergangenheit anscheinend besonders geeignete Karin Struck, deren Bücher eine außergewöhnlich massive Stützung durch die bürgerliche Presse erfuhren. Wir erinnern hier nur an die Abfolge der Titel ihrer Romane Klassenliebe (1973), Die Mutter (1975) und Lieben (1977). Im Zusammenhang mit der Veröffentlichung des letzten Romans ließ Karin Struck - wohl um eine gewisse Identität mit ihren politischen Anfängen zu wahren - wissen: „Der erste Schritt ist zu erkennen, daß das Private das Politische ist." Und: „Die Aversion gegen das nur Private gehört zu den angepaßten Reaktionen dieses Zeitalters. Resignation, Meditation, Rückzug und Innerlichkeit gehören zum Leben wie Wasser und Brot." Sie bekennt sich auf der Suche nach einer Tradition zu Hesse, der immer in Situationen der Erschütterung gutwilliger, ahnungsloser und verstörter Bürger verstärkt rezipiert wird. 3 Dabei muß man unterscheiden, wo sich nur modische Attitüde zeigt oder wo die tief erlebte und durchlebte Enttäuschung, der „Weg in die Kontinente des Innern", wie ihn Nicolas Born mit dem Roman Die erdabgewandte Seite der Geschichte (1976) ankündigte, auch selbst erfahren wird. So kann man sich bei Borns Erzähler .des Eindrucks nicht erwehren, daß bei dem Nein, das zur Abwendung von der erdzugewandten Seite der Geschichte führte und das immer nur ein Un . . . , also Unruhe, Unbehagen, Unzufriedenheit, Ungerechtigkeit gegen andere, Unlust und unsinniges Handeln provoziert, nicht Selbstgefälligkeit im Spiel ist, sondern das Ausschreiten eines Raumes, den zu verlassen der Erzähler eines Tages vielleicht ebenso spontan die Kraft aufbringen könnte. Und dies sicher nicht in Richtung auf jene Darstellungen, in denen die Sprache als Stoff und Medium der Äußerung allein übrigbleibt. Aber es geht hier nicht ums einzelne, sondern um den Hinweis auf die Beruhigungsfunktion, die diese Literatur hinsichtlich der Bereitschaft zu politischem und sozialem Engagement gewinnt. Diese Funktion - im bürgerlichen Literaturbetrieb immer vorhanden - wird seit einigen Jahren sehr forciert. Sie hat ihr Pendant in der Literatur mit Mobilisierungsfunktion, die in der herrschenden Literatur auch jeweils unterschiedlich zum Ausdruck kommt. Trotz ihrer ablenkenden Aufgaben tut hier auch die Massenliteratur das ihrige durch die Propagierung von trivialen Mustern der in der kapitalistischen Welt Erfolgreichen und Vorbildlichen, und sie tut es in der ganzen Bandbreite - wenn auch unterschiedliche Akzente setzend und spezifische politische Bedingungen berücksichtigend - vom mehr oder weniger rehabilitierten Verbrecher bis zum sentimentalen Schau76
spieler, von den die Aggression verherrlichenden Groschenheften bis zu den Memoiren einer Knef oder eines Jürgens. Es muß ja auffallen, daß der literarische Anspruch solcher Labensberichte immer mehr heruntergesetzt wird, so daß von Memoiren im herkömmlichen Sinn auch gar nicht die Rede sein kann, wenn man an die Darstellungen von Beckenbauer oder Heidi Brühl oder andere aus dem Sport- und Showgeschäft denkt. Hier treffen sich freilich der ideologische und der ökonomische Aspekt. Der Wert der Ware Buch steigt mit dem Bekanntheitsgrad der Person, über die vorab Informationen angeboten werden. Und je bekannter ein Star, welcher Branche auch immer, desto mehr kann mit der Neugier, den Bedürfnissen nach Detailinformationen spekuliert werden, desto höher kann die Auflage seines Berichts angesetzt werden. Auf der anderen Seite handelt es sich immer um Nachrichten von Erfolgreichen und - ohne daß dies etwa explizit gesagt würde und bei aller Distanz des Lesers zur Bedeutung des Berichtenden - um eine Aussage über die Chance, die sich ja angeblich jedem bietet. Die Wifkungspotenz dieser Lebensberichte einer Gesellschaft der „unbegrenzten Möglichkeiten" - etwa nach der Art der bekannten „Vom Tellerwäscher zum Millionär"-Aufstiegsideologie - verdiente eine Untersuchung. Sie müßte die ernsthaften und echten Memoiren natürlich von diesen schnell fabrizierten Zeugnissen abheben. Eine solche Untersuchung sollte dann aber auch einem Problem Aufmerksamkeit schenken, das schon hier und da genannt, aber noch nicht genau beachtet wurde: dem Problem, wie Ideen, Überlegungen und Theoreme von geringem Verbreitungsgrad für eine Darstellung umgesetzt werden können, die sich an den Lesegewohnheiten eines breiten Publikums orientiert. Hier sind Erkenntnisse über die Mechanismen der Massenbeeinflussung im Sinne der Ablenkung von wesentlichen politischen und sozialen Fragen zu erwarten, aber sicher auch die eine oder andere Erkenntnis, die für die fortschrittliche Literatur nutzbar ist. Unter dem Aspekt der Differenzierung aber verdient Beachtung, daß seit dem Beginn der siebziger Jahre auch wieder die betont konservative Position literarisch hervortrat. Solange die hier verknappt noch einmal nonkonformistisch genannte Position dominierte, gab es dafür kein ausgesprochenes Bedürfnis, denn deren politisch-soziale Abstinenz bestand ja bei all ihrer kritischen Haltung im Verzicht auf die Frage nach einer demokratischen Veränderung der Gesellschaft. Solche Fragen und Probleme einer Alternative stehen bei Autoren wie Peter Bamm, Rudolf Krämer-Badoni, Hans Habe und immer wieder 77
Ernst Jünger (Die Zwille 1973, Eumeswil 1977) zur Debatte, allerdings als ein heiles konservativ-apologetisches Selbstverständnis vor allem im autobiographisch gefärbten Bild eines geglückten Lebens in einer heilen Welt, die vom Fortschritt unberührt ist. Die Politisierung und Polarisierung in der Frage einer echten gesellschaftlichen Alternative drängte auch die einer nonkonformistischen Position verpflichteten Autoren zur Verdeutlichung ihrer geschichtlichen Perspektive. Es ist kein Zufall, daß d e r Autor auch am ehesten ein umfangreiches Werk als Antwort auf diese Frage vorlegt, der zuerst und prononciert im Prozeß der Politisierung in den sechziger Jahren den Standort eines „demokratischen Sozialismus" bezog: Günter Grass. Sein Roman Der Butt5 (1977) soll, wenn wir den Aussagen des Autors folgen, eine Kosmologie darstellen, Wissen um die Vergangenheit bringen, damit die Zukunft eines „demokratischen Sozialismus" faßbar wird. Ohne jeden Bezug auf Heine - obwohl seit dem Motto von Kants Roman Die Aula (1964) dessen Maxime offensichtlich viel breiter assoziiert wird - will Grass mit diesem Roman nicht zuletzt auch der Herausforderung der konsequent demokratischen und sozialistischen Literatur begegnen, die zu vertieftem Epochenverständnis vorgedrungen ist und sich für dessen Wiedergabe auch differenziertere Mittel erschlossen hat. Im Interesse einer neuen Positionsbestimmung und angesichts der „Welle der Gegenreform", wie ihr Chefredakteur Vormweg es ausdrückte, wurde die Zeitschrift L 76 gegründet.6 Die Konsequenzen einer schroffen Zurückweisung der geschichtlichen Alternative des realen Sozialismus - von Grass nun auch nicht mehr nur essayistisch, sondern auch literarisch, im Episodischen, betrieben - sind offenkundig. Die „theoretische Standortbestimmung", zu der die Redaktion von L 76 im Oktober 1979 nach Recklinghausen eingeladen hatte, stand unter der gleichen Fragestellung, unter der Horst Krüger 1963 einen Sammelband zusammengestellt hatte: „Was ist heute links?" Stagnation, die sich so schon andeutet, wird unterstrichen, wenn der in seiner agnostizistischen Haltung geradezu klassische Kommentar der Wochenzeitung Die Zeit zu diesem Treffen vom Versuch spricht, „Restvisionen in Politik umzusetzen in einer Welt, in der sich die Entscheidungen zunehmend von selbst treffen". Ein weiterer Aspekt politisch-ästhetischer Differenzierung wird in jener Position erkennbar, die entschieden sozialistische Standpunkte vertreten will, sie bei aller subjektiven Ehrlichkeit, die im einzelnen vorliegen ,magi jedoch verspielt oder zumindest schwer gefährdet, 78
indem sie sich ebenfalls auf die Linie einer Abwehr des realen Sozialismus begibt. Dieses Auftreten unterschiedlicher Sozialismuskonzeptionen zeigt sehr genau, wie sich die Verschärfung der ideologischen Klassenauseinandersetzung auch im literarisch-ästhetischen Bereich niederschlägt. Immer wieder geht es um die Schwierigkeit, die komplizierte Dialektik des Klassenkampfes unter den Bedingungen unserer Tage zu begreifen, da die Ungeduld und Unbedingtheit des Anspruchs, gerade auch des berechtigten Anspruchs, sich nicht immer direkt in Aktion umsetzen lassen. Gerade um dieses Problem aber geht es Christian Geissler, der in Wird Zeit, daß wir leben (1976) in die Geschichte der Arbeiterbewegung der Jahre 1923 bis 1933 zurückgeht und aus ihr ein aktionistisches Verhalten destilliert, das offensichtlich als Alternative erscheint und, auf die zeitgenössische Diskussion bezogen, ein langfristiges geschichtliches - zumindest einer sozialistischen Haltung adäquates - Handeln in Frage stellt.7 Daneben ist die Programmatik einer autonomen Literatur, deren Innerlichkeit Peter Handke zum Leitbild wurde, ständig präsent geblieben; ja sie hat aus dem Kreis der Enttäuschten und Verzagten, von dem wir sprachen, hier und da Zulauf erhalten. Der entscheidende, die literarische Situation Mitte der siebziger Jahre charakterisierende Vorgang ist die Herausbildung einer konsequent demokratischen, sozialistischen Literatur, die jetzt ein beachtliches Spektrum poetischer Möglichkeiten einer ästhetisch reichen Auseinandersetzung mit der Realität bewältigt. Dabei scheinen mir fünf Punkte der Hervorhebung aus diesem weiten Feld, das sich hier für die Diskussion und Erörterung ergibt, besonders wert. Erstens: Im Ergebnis jenes Prozesses der Bilanzierung, von dem wir sprachen, gelingen Alfred Andersch und Peter Weiss Romane, die den Anschluß an die die Epochenproblematik erfassenden Romane der dreißiger und frühen vierziger Jahre herstellen. Am Vergangenheitsstoff wird die aktuelle Thematik, die eigentliche historische Alternative erörtert und dabei - von Sujet und Problemstellung her eben auch in den Bedingungen und Notwendigkeiten des ohne ausgeprägte Massenbasis für demokratische Veränderung eintretenden einzelnen, der sich zum Epochenverständnis durchringen muß, erfaßt. Der Roman Ästhetik des Widerstands (1975) ist als Fazit der Entwicklung von Peter Weiss als Autor seit dem Beginn der sechziger Jahre zu sehen. Obwohl bislang nur der erste Band vorliegt (der zweite ist kurz vor dem Abschluß), kann man sagen, daß es sich um eine epische Leistung handelt, die den unter den Bedingungen der 79
bürgerlichen Gesellschaft entstehenden zeitgenössischen deutschsprachigen Roman auf ein neues Niveau realistischer Wirklichkeitsgestaltung führt. Weiss hat bei der Verwendung des Dokuments in Bühnenstücken reiche Erfahrung gesammelt. Sie kommt ihm jetzt zugute. Er nutzt sie für die Umsetzung einer epischen Konzeption, die ihre Basis in der von ihm gewählten Besonderheit des Verknüpfens der menschlichen und menschheitlichen Aspekte des Erzählens hat. Im Unterschied zu Andersch ist die Hauptfigur ein Proletarier. Ein junger Arbeiter, der als Ich-Erzähler auftritt, wird zur Zeit der Naziherrschaft einem Lernprozeß unterworfen, in dem sich sein Verhältnis zu seinem Vater und seinen Freunden zu bewähren hat, einem Lernprozeß, der ihn zu Entscheidungen in der Auseinandersetzung um die politisch-geschichtliche Alternative zur barbarischen bürgerlichen Klassenherrschaft nötigt. Nicht mehr nur allein um das Aufdecken des Klassenantagonismus geht es, sondern um die politische Strategie angesichts eines für die Arbeiterklasse verlorengegangenen Gefechts und der relativen Isoliertheit der konsequent-demokratischen Kräfte. Ein breites politisch-ideologisches Spektrum war ohne die Einbeziehung des Dokumentarischen kaum zu gewinnen. Im Prozeß politischkünstlerischer Weltaneignung gelangt der Erzähler zu der Entscheidung, nach Spanien zu gehen, um am Kampf gegen die faschistische Gefahr teilzunehmen. Damit wird die geschichtliche Auseinandersetzung der Klassenkräfte über den nationalen Rahmen hinausgeführt. Eine welthistorische, internationalistische Dimension im Denken und Handeln der Hauptfiguren zeichnet sich ab. Sie kann dieses Gewicht und diese Aussagekraft erreichen, weil das dokumentarische Element, das den Verallgemeinerungsgraid der Erlebnisse des Erzählers maßgeblich erhöht, begleitet und vertieft wird von der in der Kunst bewahrten menschheitsgeschichtlichen Perspektive, deren Aneignung den harten autodidaktischen Entwicklungsweg des Erzählers bestimmt. Weiss löst die Größe dieses Vorhabens und Anspruchs auch tatsächlich ein. Das nachgestaltende Erschließen des Pergamon-Frieses, der Bilder von Picasso, Delacroix oder Menzel wird zum Mittel der epischen Erhellung geschichtlicher Vorgänge, die eng mit der historischen Mission der Arbeiterklasse verknüpft sind. „Als Eigentumslose näherten wir uns dem Angesammelten. Zuerst beängstigt, voller Ehrfurcht, bis uns klar wurde, daß wir dies alles mit unserer eigenen Bewertung zu füllen hatten."8 Es geht bei Weiss um nichts Geringeres als um die selbständige Bewertung im Interesse und vom Stand80
punkt der Arbeiterklasse in der Kunst, die in ihren besten Werken den menschheitsgeschichtlichen Prozeß -der Emanzipation der Unterdrückten und Ausgebeuteten wiedergibt, und um die geschichtlichkonkrete Formierung der Alternative in den politischen, sozialen und ideologischen Kämpfen unserer Tage. Wenn die Grundfrage von Reform oder Revolution zur Entfremdung zwischen Vater und Sohn führt, wenn der Erzähler die „sammelnde Kraft einer Partei, die stärker war als die Fähigkeiten aller einzelnen", verteidigt und wenn er erkennt, daß ohne die Macht der Sowjetunion die Verteidigung der Demokratie nicht möglich wäre, und dabei alle jene angreift, denen es „vom humanistischen Liberalismus bis zum profitsüchtigen Verbund mit dem Faschismus um nichts anderes geht als um den Sturz der Sowjetunion", dann kann der hohe Graid des durch die historische Perspektive freigesetzten aktuellen Gehalts nicht bezweifelt werden. Freilich, Weiss vereinfacht nicht, und er verkündigt nicht. Die Kontroversen, in die der Erzähler hineingezogen wind, sind hart; er muß sich seine Erkenntnisse erarbeiten. Und in der relativen Isoliertheit des Widerstandskampfes zu bestehen ist schwer; die oft leidenschaftlich vorgetragenen Argumente für andere Sozialismus-Konzeptionen in ihrem Wesen zu erkennen ist durchaus nicht leicht. An den Leser stellt Weiss hohe Anforderungen, nicht durch eine kryptische Sprache, wohl aber durch das intellektuelle Und sprachliche Niveau, den Gebrauch mythischer, poetischer und bildkünstlerischer Abbreviaturen. All dies wird herbeigeführt durch die epische Konzeption und Anlage eines Romans, der ein großes Werk der künstlerischen Epochenbewältigung genannt werden muß. Es steht außer Frage, daß der Gegenwartsstoff hierfür nicht die gleichen Voraussetzungen bietet. Damit ist aber nur etwas über seine spezifischen literarästhetischen Möglichkeiten ausgesagt, doch kein abwertender Akzent gesetzt. Wir müssen nicht erst auf die bedeutenden Auseinandersetzungen mit Krieg und Nachkrieg in der Restaurationsphase der fünfziger Jahre verweisen. Freilich ist nicht zu übersehen, daß die Prosa durchaus Höhepunkte erlebte, wo sie wie bei Bolls Billard um halbzehn (1959) und Lenz' Deutschstunde (1968) Elemente einer geschichtlichen Dimension hereinließ. Auch am Gegenwartsstoff hat die Literaturentwicklung der letzten Jahre wesentliche Ergebnisse gezeitigt. Wir verweisen auf drei Werke, die drei unterschiedliche, charakteristische Erscheinungen der spätbürgerlichen Welt einer kritischen Befragung unterziehen: die verheerenden Wirkungen, die von der in Massenauflage erscheinenden Presse ausgehen, 6
Romane
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das Berufsverbot für konsequente Demokraten und Kommunisten, die Entwürdigung der in der Leistungsgesellschaft nicht Erfolgreichen. Es muß auffallen, daß in allen drei Werken, die wir im Auge haben, bei aller Unterschiedlichkeit der literarischen Handschrift und der geistigen Standorte der Autoren - Heinrich Boll: Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1974), Peter Schneider: ...schon bist du ein Verfassungsfeind (1975) und Heinar Kipphardt: März (1976) 9 der Verlust der Würde des Menschen im Mittelpunkt der epischen Aussage steht. Die Pressionen, denen die Hauptfiguren ausgesetzt sind, führen sie zu Mord, Selbstmord und psychischer Zerstörung. Aus der differenzierten Gestaltung der Charaktere erwächst die Kritik an einer Umwelt, die sie derart verletzt. Ihr Verhalten zeigt jedoch, wie wenig sie Gegenkräfte mobilisieren können. Ansätze für eine Alternative werden kaum sichtbar. Wir wollen nicht so verstanden werden, als sei dies von der epischen Konzeption eines Werkes her die Conditio sine qua non. Keineswegs. Nur die Ursachen sind bemerkenswert. Die Alternative liegt jeweils (in Abstufungen natürlich - dazu trennt die drei Autoren auch zu viel) in der moralischen Grundposition des Erzählers, die dem geschichtlichen Aspekt in der Bewertung wenig Raum gibt. Der hohe Rang der Werke von Weiss und Andersch zeigt sich nicht zuletzt darin, daß sie ein zentrales Problem des Weltverständnisses unserer Tage in ihren Romanen zur Gestaltung bringen: die notwendige Überwindung einer nur moralischen Bewertung als Voraussetzung für wesentliche Fortschritte beim Verständnis der Epoche. So hat bei Andersch Hainstock Erfolg in seinem Bemühen, Käte Lenk über ihren von Spontaneität gelenkten moralischen Anspruch hinaus zu geschichtlichen Einsichten zu führen. Der Erzähler in Ästhetik des Widerstands muß einen Gegensatz zwischen sich und seinem Vater feststellen, denn dessen Wunsch, nur ethisch zu urteilen, „ein reines Gewissen zu haben", wird zur Grundlage für seine Ablehnung von Entscheidungen, die im Interesse des politisch-sozialen Fortschritts, der Stärkung der Positionen der Arbeiterklasse gefordert sind. Die ausschließlich moralische Wertung von gesellschaftlichen Prozessen führt zur undifferenzierten Betrachtung von Vorgängen und Auseinandersetzungen zwischen den antagonistischen Kräften. Sie werden in der Zeit verglichen, ohne Kenntnisnahme ihres historischen Wesens. Wenn unter den genannten drei Werken nur bei Schneider entsprechende Ansätze einer unterschiedslos gleichsetzenden Kritik vorhanden sind, so ist doch bei einem Blick auf die Literaturszene um 82
die Mitte der siebziger Jahre nicht zu übersehen, daß sich in Essays und Stellungnahmen eine solche Sehweise sehr massiv zeigte. Man muß konstatieren, daß sich etwa bei Boll Ansätze zum Epochenverständnis nicht entwickeln, sondern eher schwinden. Sah er 1967 noch getragen von den demokratischen Bewegungen jener Jahre - die Notwendigkeit, dem Kommunismus erst einmal jene 300 Jahre zu koiizidieren, die der Kapitalismus Zeit hatte, die Menschenfreundlichkeit seiner Ordnung zu beweisen, so reiht er sich nun in die Schar jener ein, die von der Sowjetunion innerhalb von sechzig Jahren, in denen sie von den Feinden des Sozialismus über viele Jahrzehnte mit Krieg, Verleumdung und Zerstörung überzogen wurde, die volle Realisierung und Praktizierung eines Menschenbildes verlangen, das ihren strikt moralistischen, mitunter utopischen Vorstellungen entspricht.10 Boll, der ein Großteil der realistischen Qualität seines Schaffens dem poetologischen Ausgangspunkt verdankt, wie er ihn 1952 formulierte, als er Kunst nicht als Blindekuhspiel verstanden wissen wollte, sondern als Möglichkeit, dem Arbeiter, dem Bäcker in seinem Keller „das Leben zu erhalten", gibt sich heute als Anwalt einer „Internationale der Intellektuellen", der er offenbar ein Schiedsamt in den Auseinandersetzungen der geschichtlich antagonistischen Klassenkräfte zusprechen möchte.11 Zweitens: Die Rolle des Fiktiven und Phantastischen erhält gesteigerte Bedeutung für die realistische Aussage. Bei Andersch (W'fiterspeit, 1974) wird das Fiktive als Mögliches zum Element der Romankomposition in Abwehr einer im Kern fatalistischen, durch die herrschenden Zustände determinierten Geschichtskonzeption; bei Günter Herburgers erstem Versuch, einen Gesellschaftsroman über einen Gegenwartsstoff zu schreiben, wird das Phantastisch-Ungewöhnliche zum Element der Explizierung des Perspektivischen. Wir halten es für eine große epische Idee, daß Andersch die Möglichkeiten des Fiktiven zum wesentlichen Element des Sinngehalts des Romans macht. Andersch entgeht den Tücken des Fiktiven, die sich aus der Brisanz des Stoffes - deutscher Faschismus in den letzten Monaten des Krieges - ergeben, durch die Einbeziehung des Dokumentarischen. E r entzieht sich den Beschränkungen, die dem Dokumentarischen eigen sind, durch die Einführung des Spiels mit dem Möglichen als Grundzug des erzählten Vorgangs. Die Mutmaßung, wie sie sich in Formulierungen wie „Hier darf nachträglich vermutet werden" und auf andere Weise äußert, wird nicht zur modernistischen Attitüde, die ein gestörtes Wirklichkeitsverhältnis episch beglaubigen 6*
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und rechtfertigen soll, sondern zum Ausdruck der eingrenzenden Selbstverständigung des Erzählers, der keinen Anspruch auf die Allwissenheit der Erzähler des 19. Jahrhunderts erhebt. Die Modernität des Erzählers bei Andersch, die wir hier nicht im einzelnen darstellen können, liegt in der eindrucksvollen Vermittlung der Vorstellung von der Komplexität menschlicher Entscheidungen. Die gewählte epische Struktur läßt dem Leser die Möglichkeit des Mit-Denkens und MitFühlens, ohne daß die epische Konzeption in ihrer Konsequenz beschädigt werden mußte. Als ein wesentliches Moment erscheint uns das Anknüpfen an tradierte Probleme der nationalen Geschichte wie die Preußen-Diskussion, und zwar durch die zentrale Funktion der Auseinandersetzung mit Major Dincklage und seinem Verhalten. Über Käte Lenk kommen Dincklage und Hainstock, die Repräsentanten des geschichtlichen Antagonismus, in Kontakt. An diesem Antagonismus ändert auch Dincklages subjektive Ehrenhaftigkeit nichts. In der differenzierten Zeichnung der Figur schließt Andersch - wie in der Preußen-Problematik überhaupt - an Anna Seghers' Die Toten bleiben jung (1949) an. Diese direkte Aufnahme des geschichtlichen Antagonismus wird auch zur Voraussetzung für die Entwicklung eines Perspektiveansatzes. Er findet nicht zuletzt in der Gewißheit Hainstocks seinen Ausdruck, daß die Revolution stattfinden wird (wenn auch nicht mehr zu seinen Lebzeiten), der Plan Dincklages aber undurchführbar ist. Das Perspektivbewußtsein der zentralen Figur äußert sich auch in der Auffassung, daß die „Geologen der Zukunft ihn finden würden", weil er „der marxistischen Schicht angehört". Diese Zugehörigkeit kann Hainstock durch sein Handeln beanspruchen, nicht zuletzt deshalb, weil er Menschen wie Käte Lenk „zu klarem politischen Bewußtsein erzogen hat". Das Episch-Bilanzierende, das wir als Merkmal der literarischen Situation in den ersten siebziger Jahren bezeichneten, äußert sich in diesem Werk nicht vordergründig und explizit, sondern in jener epischen Funktion des Möglichen, worin auch die geschichtliche Bedeutung von Hainstocks Worten mitschwingt: „Wenn man darauf verzichtet, sich vorzustellen, wie etwas hätte sein können, verzichtet man auf die Vorstellung einer besseren Möglichkeit überhaupt. Dann nimmt man die Geschichte hin, wie sie eben kommt."12 Damit ist jener Wendepunkt bezeichnet, der die Literatur aus der bloßen Moralkritik an einem Gesellschaftszustand hinausführt, einem Zustand, der im Kern als ganz natürlich erschien und sich offensichtlich durch wirtschaftswunderlich abgesegnete geschichtliche; Inaktivität der Massen auszeichnete. 84
Drittens: Der Vergangenheitsstoff gewinnt an historischer Bedeutung. Dabei treten sehr unterschiedliche Arten des Verhältnisses zu ihm hervor. Eine ist durch den Versuch gekennzeichnet, die eigene Haltung, die individuelle Schaffensproblematik der Probe des geschichtlichen Vergleichs und der Verfremdung auszusetzen. Wir kennen dafür genügend Beispiele aus der Literatur unseres Jahrhunderts, so etwa bei Feuchtwanger. Wie dieser von der undialektischen Alternative der Minorität der Klugen und Majorität der Dummen zur Einsicht in die geschichtsbildende Kraft der Volksmassen vorstieß, so gelangte Peter Weiss von dem undialektischen Gegensatz zwischen Angepaßten und Nichtangepaßten, den er für sich wie für Hölderlin wirksam sah, zu einem Verständnis der geschichtlichen Spezifik sowohl der Hölderlin-Zeit wie der Gegenwart. Eine Variante dieses Verhaltens, das Geschichte als Raum der Verständigung mit sich selbst und mit anderen versteht, hat Wolfgang Koeppen gestaltet. Seine Erzählung Jugend (1976) ist wahrhaftig ein tief sensibles Buch, das Buch einer Ich-Werdung, die sich unter harten, entwürdigenden Bedingungen vollzieht. Aber diese bleiben nicht im Nebelhaften. Es sind die Bedingungen bürgerlicher Klassenherrschaft des zweiten und dritten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts, die nicht in der Wucht ihrer realgeschichtlichen Erscheinungsformen aufgenommen sind; sondern in den tief verletzenden Auswirkungen auf das erzählende Ich. Dessen emotionale Reaktionen verdichten sich und lassen als Kern den entscheidenden sozialen und politischen Antagonismus hervortreten zwischen denen, die „unten sind und unten bleiben sollen", und der „großen Welt", der „Gesellschaft, der Stütze von Thron und Altar", zwischen „den Bürgern, die etwas vorstellen", und „dem Volk, das es auch noch gibt, wie die Mutter sagt". Das erzählende Ich konnte, als die rote Fahne über der Kaserne wehte, von sich sagen, „ich hatte den Krieg gewonnen"; nun muß es erfahren - und ein Fememord belehrt es eindringlich - , daß die Alten wieder gewonnen haben, die sie hinausgeschickt hatten zu sterben. Sie wurden wieder Untertan der „wahren, der unzerstörbaren Macht, die wohl das Gesicht wechselte, aber nicht die Gesinnung".13 Hier haben wir ein eindrucksvolles Beispiel, wie ein Autor, den die bürgerliche Kritik in die Richtung einer rein assoziativen Prosa drängen möchte, durch eine höchst subtile Sprache das Erleben seiner Figuren, speziell des Erzählers, der ganz offensichtlich autobiographische Züge hat, in seinen historischen Dimensionen zu erfassen vermag. Hier ist Innerlichkeit, wenn man so will, nicht als Ausklammerung 85
der Geschichte, sondern als im innersten Erlebnisbezirk verwirklicht, erfaßt. Es ist die poetische Konkretheit des sozialen Antagonismus, die die hohe ästhetische Qualität von Koeppens Erzählung, ihren realistischen Charakter ausmacht. Viertens: Die Historisierung literarischer Abbildung im Sinne der Erfassung des geschichtlich Wesentlichen gelingt der konsequent demokratischen, sozialistischen Literatur am Vergangenheit^- wie am Gegenwartsstoff. Der Vergangenheitsstoff, der für einige (wie für Enzensberger in Mausoleum, 1975) weitgehend zum Medium resignativer Meditationen wird, gibt andererseits für eine Reihe von Autoren (etwa für Walser im Sauspiel, 1975) den Raum ab, die in der Gegenwart wirkenden politisch-sozialen Kräfte in ihrem Wesen gleichsam verfremdend zu deuten. Bei anderen, etwa bei August Kühn in Zeit zum Aufstebn (1975), wird der geschichtliche Stoff zur Vorgeschichte von in ihrem Charakter erfaßten gesellschaftlichen Prozessen unserer Tage. Fünftens: Schließlich ist auch auf den breiten Fächer der literarischästhetischen Differenzierung zu verweisen, die die progressive Literaturströmung bereits jetzt erreicht hat. Wir müssen uns an dieser Stelle mit wenigen Beispielen begnügen. Peter Maiwald, der seit längerem in Zeitungen und Zeitschriften hervorgetreten ist, gibt in den beiden schmalen Bänden Geschichten vom Arbeiter B. (1975) und Antwort hierzulande14 (1976) den Beweis für eine starke poetische Begabung. Der sorgfältige Umgang mit den sprachlichen Bildern, die Sparsamkeit im Wort, dessen Schichten für die Assoziationen des Lesenden oder Hörenden freigelegt werden, ergeben jene Präzision in den epigrammatischen Wendungen und Sentenzen, die tief analysierend in die politisch-sozialen und moralischen Bedingungen seiner Umwelt eindringt; sie geben seinen Versen aber auch Schlichtheit und Sensibilität im besten Sinn und die durch die lyrische Sprache vermittelte Gewißheit über die mögliche Perspektive für dieses Leben, wie sie das Gedicht Was ein Kind braucht ausdrückt. Mein Niederelbebuch (1976) 15 nennt Peter Schütt einen Band mit Erzählungen, Skizzen und Berichten aus seiner engeren nordwestdeutschen Heimat. Ganz ohne Heimattümelei wird hier die tiefe Verbundenheit der demokratischen Literaturbewegung mit den echten Bedürfnissen des Volkes deutlich, für die sie nicht nur im theoretischen Anspruch und auf den politischen Alltag beschränkt, sondern auch durch die Berücksichtigung spezieller literarischer Bedürfnisse wirkt. Dafür bietet natürlich auch die Kinder- und Jugendliteratur
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ein weites Feld. Hier hat Franz Josef Degenhardt einen bemerkenswerten Band vorgelegt: Petroleum und Robbertöl oder Wie Mayak der Eskimo kam und mein verrückter Vater wieder gesund wurde (1976).16 Die Geschichte vom Manager, der „durchdreht" und als Eskimo in die Generalversammlung des Aufsichtsrates kommt, nutzt ein verfremdendes Element, wie wir es aus Brechts Puntila (1950) kennen: das Umschlagen ins Menschlich-Natürliche, das jedoch keine Beständigkeit kennt. Es ist dies eine höchst hintergründige Geschichte, prall von Farbigem und Phantastischem, mit Elan und tiefer Bindung an das Thema erzählt über eine Welt, die im tiefen Wortsinn bewältigt werden muß. Der breite Raum, den das Phantastische einnimmt, die insistierende Auseinandersetzung mit der subjektiven Erfahrung in den Werken der konsequent demokratischen und sozialistischen Literatur macht deutlich, wie verkrampft sich die Anstrengungen der bürgerlichen Kritik ausnehmen, Phantasie und Sensibilität nur Werken zuzuschreiben, die den Existenzraum eines isolierten Ich wiedergeben. Sensibilität und Phantasie kennzeichnen jene Romane, von denen jeder auf höchst spezifische Weise ein Roman der Bilanz ist, der Bilanz in dem Sinn, wie wir sie als besonderes Element der gegenwärtigen Phase der Literaturentwicklung charakterisierten. Von der Ebene neuer geschichtlicher und sozialer Erfahrungen bilanziert Martin Walser in Jenseits der Liebe (1976)17 die Auseinandersetzung mit dem großen Thema der Kristlein-Romane: dem Wesen der spätbürgerlichen Gesellschaft, den geistigen und psychischen, den moralischen und emotionalen Deformationen, die sie hervorruft, dem Schicksal derer, die ihr nicht gewachsen sind, weil dazu letztlich Übermenschliches gehört. Eine Bilanz des Künftigen - das Paradoxon sei gestattet - nimmt Günter Herburger in Angriff. Von ihm ist der erste Band einer geplanten Trilogie unter dem Titel Flug ins Herz (1977)18 erschienen. Hier wäre zuerst von der unerhörten Anstrengung zu sprechen, die solche epische Konzeption unter den gegebenen Bedingungen bedeutet, sie wäre ohne die Bindung des Autors an die Intentionen der demokratischen Literaturbewegung sicher auch kaum denkbar. Im Gespräch mit Elvira Högemann-Ledwohn hat Herburger auf die Wurzel, den „emotionalen Ansatz", den auch dieser Roman in der studentischen Bewegung der endsechziger Jahre hat, verwiesen.19 Der Roman zeigt zum anderen Mal, wie müßig es ist, Aussageabsicht und poetische Qualität vor allem an die Fabel zu binden. Diese ist 87
hier abenteuerlich und scheinbar völlig obskur, denn es geht um die Entführung eines Konzernherrn, der nicht seine Millionen, sondern seinen Samen als Lösegeld einsetzen soll. Die Aufnahme von Elementen des Abenteuer- und Schelmenromans und anderer tradierter Formen erlaubt es Herburger, jene Hürde zu überspringen, die eine epische Bestandsaufnahme dieser Gesellschaft für eine geschlossene epische Struktur aufrichtet. So kann er die satten Reichen von Sylt wie die Arbeiter einer Autofabrik ins Bild bringen. Er kann - und das halten wir für ein Kernthema - in einem umfassenden Sinn den Anspruch der Werktätigen formulieren. „Ein Verräter von Geheimnissen um der Hoffnung willen" wird der Ich-Erzähler genannt. Die Beziehung zu Brecht, der sich „unter einfachen Leuten" sah, „die falschen Gewichte zeigend", ist nicht abzuweisen. Freilich ist da keine starke politisch-soziale Bewegung, die die Hoffnung auf den „Flug ins Herz" stärkt, aber - Dagmar Ploetz hat das in ihrer Rezension in der Deutschen Volkszeitung klar herausgearbeitet - das „Scheinbarfestgefügte", das „Vorgegebene" ist zumindest punktuell aufbrechbar. 20 Darauf zielt eine beachtliche epische Strategie. Es ergibt sich ein aufschlußreicher Zusammenhang mit dem, was wir bei Anderschs Winterspelt konstatieren konnten. Ging es dort um die Erkenntnis, daß Geschichte nicht unangreifbar determiniert ist, um das Durchspielen des Möglichen, so bei Herburger um die Aufforderung, auch Gegenwärtiges nicht als naturgegeben und unveränderbar zu verstehen, der Phantasie, dem Möglichen Raum zu lassen. Das Bild vom Flug ins Herz gilt auch für den Weg zum Möglichen. Das Mögliche aber ist wiederum auch nicht die blanke Utopie. Es formt und formiert sich im Heute, setzt sich aus vielen Mosaiksteinen zusammen. Der Zuwachs realistischer Qualität, den die konsequent-demokratische und sozialistische Literatur mit Herburigers Roman erfährt, ist beträchtlich. Geht er auf der einen Seite über das Dokumentieren von Wirklichkeitserfahrungen und eine zum Agitatorischen tendierende Verengung im Erfahrungs- und Erlebnishorizont der Figuren hinaus, so vermeidet er zum anderen aber auch den Verzicht auf den sinnlich-plastischen Erzählvorgang, der immer die Gefahr einer überlasteten, abstrakten Verallgemeinerung nahelegt. So gehört der große epische Beitrag Herburgers ebenso zu Charakter und Bild der konsequent demokratischen und sozialistischen Literatur wie die Verse von Klaus Konjetzky und Roman Ritter, die Texte von Franz Xaver Kroetz - um einige Autoren noch zu nennen - , deren Arbeiten gleichfalls genauere Darstellung fordern und 88
verdienen. Es gehört dazu ein Band wie Artur Troppmanns Die Leute aus dem 30er Haus (1976)21, der mit Episoden aus dem Leben der Bewohner eines Hauses in einem Münchner Arbeiterviertel ein literarisch kaum entdecktes Feld erschließt. Wie bei Troppmann der Einsatz für eine demokratische Entwicklung in den Nachkriegsjahren ins Blickfeld tritt, so werden in der Anthologie Warum wird so einer Kommunist (1976)22 einzelne Persönlichkeiten gezeigt, die die Anstrengungen nicht scheuen, die der konsequente Kampf für demokratische Veränderungen der Gesellschaft fordert. Die Hoffnung, die „Anschrift und Gesicht" hat, die „begründete Vorstellung von der Zukunft", in der Heinrich Mann ein Charakteristikum der revolutionären Arbeiterklasse sah, sie trennt die konsequent demokratische und sozialistische Literatur von Resignation und plattem Utopismus. Sie ist auch ein wesentlicher Quell für ihre steigende literarische Qualität und ihren Einfluß.
Elvira Högemann-Ledwohn
Historisches und Mythologisches im neueren Roman der BRD
Auf Historizität als eine neue Erscheinung in der progressiven Romanliteratur der BRD der letzten Jahre ist schon mehrfach hingewiesen worden. Mit einigen Bemerkungen zu dem allgemeinen Kontext dieser Erscheinung möchte ich verdeutlichen, vor welchem Hintergrund sich die Leistungen von Alfred Andersch, August Kühn, Peter Weiss und anderen Schriftstellern abheben, die in unserer und ihrer Geschichte nach den Kräften für eine historische Veränderung heute suchen. Die Dimensionen des Geschichtsbewußtseins der Leser jüngeren bis mittleren Alters in unserem Land sind durchaus begrenzt, denn das bundesrepublikanische Bildungssystem leistet wenig in der Erziehung der Schüler aller Schultypen - auch des Gymnasiums - zum Denken in historischen Zusammenhängen. Die Geschichte der BRD im engeren Sinne ist noch gar nicht zum Gegenstand ernsthafter Betrachtung geworden, und an den Universitäten herrschen gerade in den Geisteswissenschaften ahistorische Betrachtungs- oder besser: Klassifizierungsweisen vor. Zwar konnten in den frühen siebziger Jahren an den Universitäten und Schulen fortschrittliche wissenschaftliche Methoden etwas Raium gewinnen, jedoch sind heute diese eher bescheidenen Positionen schon wieder bedroht. Berufsverbote und ein Klima von Angst und Denunziation stehen der Verbreitung nicht nur marxistischer, sondern allgemein fortschrittlicher Denkansätze im Bildungssystem entgegen. Um so leichter kann in den Massenmedien Ersatz angeboten werden: oberflächlich historisierende Moden, wie etwa die NostalgieWelle, die vorspiegelt, man habe sich ein Stück Geschichte angeeignet, wenn man weiß, wie vor fünfzig Jahren Rocklänge und Frisur, der Sound der Tanzorchester und die Form des Telefons gewesen sind. Begleitet wird das von einer Sachbuchliteratur, der man eine massenhafte Verbreitung und ein offensichtliches Interesse des Publikums
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an ihr leider nicht absprechen kann. Jahr für Jahr kommen Titel auf den Markt, wie Die Germanen, Die Römer, Die Kelten und so weiter, in denen einigermaßen rauschhaft Begebenheiten nacherzählt werden, bei denen in einer dem Leser unerreichbaren Sphäre große Taten, Ausschweifungen und viel Blutvergießen stattgehabt haben. Die Beschreibung großer Männer, die Geschichte machen, ist dabei selbstverständlich inbegriffen. Im Jahre 1977 gehörte zu den Neuerscheinungen der Frankfurter Buchmesse der Band des BestsellerAutors Rudolf Pörtner über die Kreuzzüge, Operation Heiliges Grab, dessen marktgerechter Titel allein schon manches über das Herangehen des Autors an seinen Stoff aussagt. Obwohl es sich hier um Sachbücher handelt, steht doch das Fabuliertalent des Verfassers, die Ausrichtung auf eine spannende Handlung und auf grelle Charaktere im Vordergrund. Geschichte wird auf solche Weise im Sinne des kleinbürgerlich „Allgemein-Menschlichen" in leicht faßlichen Portionen zubereitet und gegen die emanzipatorische Funktion der Literatur aufgeboten. Im scheinbar wertfreien Erzählen ist zuweilen ein unterschwelliger Nationalismus zu spüren, wenn es sich zufällig um die Großtaten der Ahnen handelt. Höchst unangenehm wird diese Verbindung von Wertfreiheit und kühlem Nationalismus in den ständig anwachsenden, scheinbar seriösen Buchtiteln über die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. (Die Landserhefte und die offen neofaschistische Literatur, deren Zahl nicht geringer geworden ist, lasse ich hier außerhalb der Betrachtung.) Es zeigt sich auf diesem politisch scheinbar noch unverfänglichen Gebiet, daß das ohnehin defizitäre aufklärerische Niveau von Fests Hitlerbuch noch weit unterschritten werden kann, wenn sich der Autor auf nichts weiter als den feuilletonistisch ausgeschmückten Einzelaspekt einläßt. Dabei wächst die Zahl der Bücher, die sich mit Technik, insbesondere mit Einzel gebieten der Waffentechnik der Hitlerzeit, beschäftigen. Nicht etwa von der Rüstungsindustrie und ihrer gesellschaftlichen Rolle ist da die Rede, sondern von „ideologisch wertfreier" Kriegstechnik, die zugleich wunderbarerweise „deutsche Wertarbeit" ist bzw. gewesen ist. Solche Bücher müssen nicht aus dem neonazistischen Schütz-Verlag kommen; ein Haus mit dem harmlos klingenden Namen „Motorbuch-Verlag" bietet zur Zeit an: Deutsche Fallschirmspringer im Zweiten Weltkrieg, Die deutsche Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg, Die deutsche Marine im Zweiten Weltkrieg und so weiter - alles technokratisch sachlich und fern aller Politik. Auf einer gehobeneren Ebene, der zugleich aber eine ideologische 91
Steuerungsfunktion zukommt, liegen die Äußerungen des CDU-Politikers Filbinger im Katalog der Staufer-Ausstellung, die in dem von ihm regierten Bundesland stattfand. Filbinger schreibt im Vorwort, man könne gewiß ganz verschiedene Ansichten zur Geschichte haben, die auf Nietzsche fußen oder auf Oswald Spengler - bis auf die eine: die sich auf Hegel beruft und im Verlauf der Geschichte einen Fortschritt erkennen will. In gleicher Weise hatte schon 1972 Golo Mann gefordert, „den roten Faden" aus der Geschichte herauszuziehen. In diesem Meer von Orientierungslosigkeit einen festen Punkt zu finden, dahin zu gelangen, daß man gezielte Fragen nach dem eigenen Herkommen und den Möglichkeiten der Zukunft stellt, bedeutet allein eine Errungenschaft für die Literatur unseres Landes. Und es scheint mir verständlich, vielleicht sogar notwendig, daß progressive Autoren, wenn sie historische Themen aufgreifen, sich selbst, ihre eigenen Fragen und Interessen, stark mit ins Spiel bringen. Franz Josef Degenhardt beginnt 1973 in den Zündschnüren die Darstellung unterdrückter Traditionslinien der Geschichte der Bundesrepublik mit Hilfe seiner proletarischen Milieuerfahrungen, gemacht bei Kriegsende im Ruhrgebiet, aus dem Blickwinkel einer Gruppe von Jugendlichen, deren Lebensalter mit dem damaligen des Autors übereinstimmt. Dabei weist der balladeske Erzählton des Romans auch auf das Nicht-Selbstverständliche des Themas hin, auf die Anspannung des Heranholens von Geschichte, das Degenhardt als einer der ersten Autoren der 68er Generation hier unternommen hat. Das Bestreben, den Gestalten von heute, auch denen kleinbürgerlicher Herkunft, historische Tiefe zu geben, kennzeichnet Degenhardts zweiten Roman Brandstellen (1975). Und eine ähnliche Absicht wird in dem distanziert berichteten Lebenslauf des 1949 geborenen Handwerkersohns Jürgen Schütrumpf in Peter Chotjewitz' Der Dreißigjährige Friede (1977) deutlich. Glänzend gelingt die historische Durchzeichnung der Person in Wolfgang Koeppens Jugend (1977), wo die knappe Erzählung, in der die Gefühlserinnerungen wesentlich mitspielen, die damalige Lebenssituation wieder heraufbeschwört. Es gehört zu den Verdiensten des Werkkreises Literatsur der Arbeitswelt, daß er sich frühzeitig die Wiederentdeckung der proletarischen Kampftraditionen in unserem Land zur Aufgabe gestellt hat. Der Sammelband Der rote Großvater erzählt (1974) protokolliert nicht nur Ereignisse und Lebensläufe der zwanziger Jahre und 92
der Zeit des Faschismus, er knüpft auch mit Texten alter Arbeiterschriftsteller wie Pelle Igel, Carl Wüsthoff und anderer an die proletarischen Erzähltraditionen jener Zeit unmittelbar an. Dieser Vorteil ließ sich bei der Fortsetzung dieses Bandes, Die Kinder des roten Großvaters erzählen (1976), nicht mehr nutzen; selbst quantitativ geht der erzählerische Anteil hier gegenüber der protokollierenden Bestandsaufnahme deutlich zurück. Die Werkkreis-Mitglieder August Kühn und Artur Troppmann legten eigene Bücher vor, die von der Geschichte der Arbeiterklasse der Bundesrepublik handeln. Daß beide Bayern, Münchner, sind, mag ein Zufall sein. Doch beide haben es verstanden, ihre Verbundenheit mit der lebendigen, dialektgefärbten Volkssprache, ihre Kenntnis der Lebensweise und der Bewohner der alten Münchner Arbeiterviertel literarisch zu nutzen - Troppmann in seinem Geschichtenzyklus Die Leute aus dem 30er Haus (1976), der gegen Ende des zweiten Weltkriegs einsetzt und hauptsächlich aus der Perspektive von Schuljungen und später von jungen Arbeitern erzählt, August Kühn in seiner Familienchronik Zeit zum Aufstehn (1975), die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreicht. Als heutiger Nachkomme der Familie und als gegenwärtiger Arbeitsloser legt der Erzähler dieser Chronik sein Interesse an der Geschichte offen dar: Er weist auf die Kontinuität des Arbeiterdaseins in diesem Land und dieser Stadt hin, auf die geschichtlich erworbene Erfahrung, daß jede Verbesserung der Lebenslage der Klasse erkämpft und verteidigt werden muß. Im Unterschied zu manchen anderen Autoren, die die verschütteten fortschrittlichen Kampftraditionen beinahe ausschließlich in den Mittelpunkt der Erzählung stellen, beschäftigt Kühn sich ebenso eingehend mit der Entstehung reformistischen Bewußtseins und entsprechender Haltungen - ein realistisches Herangehen, wenn man auf die Veränderung des Arbeiterbewußtseins heute hofft und der Meinung ist, für die Arbeiteiklasse der BRD sei es endlich „Zeit zum Aufstehn", sich gegen drohende Arbeitslosigkeit und sozialen Abbau zu wehren. Von daher leuchtet ein, daß Kühn für sein nächstes Buch, Jahrgang 22 (1977), einen negativen Helden gewählt hat, der meint, er käme mit Schlitzohrigkeit und geschicktem Abstandhalten von allen Kämpfen besonders gut durch Krieg und Nachkrieg - wobei der Autor die Freiheiten der ironischen Erzählweise nutzt, um die Handlungsalternativen immer wieder ins Spiel zu bringen. Zum Grundthema des Romans und zur Grundlage seiner Erzähl93
struktur wird die Frage nach einer historischen Alternative für das Handeln der Helden in Alfred Andersch' Winterspelt (1974). „Geschichte berichtet, wie es gewesen, Erzählung spielt eine Möglichkeit durch." Dieser Autor muß sich Geschichte nicht erst von weit heranholen; der dokumentarische Rahmen, der zugleich die strategischen Gesamtbedingungen der erfundenen Handlung einfaßt, zeigt die Tiefe dieses Wissens. In der polyphon komponierten Handlung werden die Möglichkeiten objektiver und subjektiver Kräfte Zug um Zug durchgespielt und deren Wirksamkeit an dem historisch bedeutsamen Handeln geprüft, das der Autor ihnen in dieser Situation zutraut. Der biographische Bezug der Fabel ist gelöscht; Winter speit fragt nach den historischen Möglichkeiten des Ausnahmefalles von Kirschen der Freiheit und muß zu einem negativen Ergebnis kommen. Historische Einsichten, über die der einzelne Überläufer aus der Hitlerarmee nicht verfügte, als er voller demokratischer Hoffnungen auf die amerikanische Seite kam, bilden sich in dem späteren Roman ab, sie führen deutlich über seine biographische Situation bei Kriegsende hinaus. Daß die USA 1944 als die „Römer des 20. Jahrhunderts" nach Europa kamen, um „einen Limes" gegen „die Russen" zu errichten, mag in der D D R sicher nicht sensationell neu klingen; im Kontext der bundesrepublikanischen Literaturlandschaft, angesichts der Verdrängung der Nachkriegsgeschichte und ihrer Alternativen sowie angesichts der nebelhaften Erinnerungen der weitaus meisten Bundesbürger an diese Umbruchszeit versteht es sich aber durchaus nicht von selbst. Wahrscheinlich half die Erfahrung des Vietnamkrieges und der antiimperialistischen Protestbewegung der sechziger Jahre auch in der BRD, eine solche Einsicht mit einiger Selbstverständlichkeit zu schreiben. Weltgeschichte bezieht Peter Weiss in seine 1975 erschienene Ästhetik des Widerstands ein. Die jugendlichen Helden dieses Buches im Berlin des Jahres 1935, im Spanischen Bürgerkrieg, greifen immer wieder weit in die Geschichte zurück - nicht als Geste der Flucht, sondern um sich ihrer Position heute zu vergewissern und die Kräfte des Widerstands, auch die eigenen, möglichst stark zu machen. Parteinahme gegen die Herrschenden der Ausbeutergesellschaft ist selbstverständliche Voraussetzung aller ihrer Diskussionen; sie mündet in die Frage nach den aktuellen Handlungsmöglichkeiten. Bei relativ hohem Abstraktionsgrad der Darstellung, bei aller Weitläufigkeit der einbezogenen Probleme ist die Ästhetik des Widerstands dennoch ein unmittelbar persönliches Buch. Peter Weiss hat sie eine „Wunsch94
autobiographie" genannt: Das Buch bildet die Auseinandersetzungen ab, die ein Intellektueller des Westens mit sich zu führen hat, wenn er sich auf den Sozialismus zubewegt. Vor keinem Problem, und sei es auch noch so schwierig, wird aufgegeben; immer werden Meinungen, Haltungen, Informationen geprüft und mit dem eigenen Handeln in eins gebracht. Die verschiedenartigen Erörterungen haben so einen integrierenden Kern, sie haben ihren Platz in einer schriftstellerischen Strategie, nach der in der Fülle der historischen Erfahrungen - nicht zuletzt der verwickelten Erfahrungen der deutschen Geschichte - energisch nach Lösungen für heute geforscht wird. Indem der Autor mit etlichen formalen Gepflogenheiten des Romanschreibens bricht - mit der erwarteten Vorherrschaft einer ablaufenden Fabel, aus der man nicht in den Essay ausbrechen darf, wie auch mit der Erwartung eines von zielbewußter Gedankenführung entfesselten Assoziationsstromes, der an die Stelle der Fabel tritt - , kann er das Allgemeinste mit dem ganz Persönlichen verbinden und die weitreichenden Diskussionen des Buches über die Entwicklung der Künste wie nebenbei durch einen eigenen greifbaren Beitrag bereichern. Eine solche Einheit, in der sich das Auffinden des eigenen Herkommens, das Durchleuchten eines großen historischen Zusammenhangs und die Antwort auf die Frage nach den Handlungsmöglichkeiten heute miteinander verbinden, gelingt nicht immer. Ich möchte drei Beispiele anführen, in denen die Beschäftigung mit Geschichte, obwohl durchaus in ernsthafter, nicht vernebelnder Absicht begonnen und durchgeführt, dennoch nicht zu erheblichen Aufschlüssen über unsere Gegenwart führt, obwohl auch in diesen Büchern die Gegenwart immer mitgedacht ist. Dieter Kühn veröffentlichte 1971 seinen Roman Die Präsidentin. Er handelt von einer Wirtschaftsbetrügerin großen Stils aus den zwanziger Jahren. Der Autor recherchiert den längst aktenkundigen Fall, rekonstruiert Verhaltens- und Vorgehensweisen in dieser Kapitalistenkarriere, zieht zuweilen auch Hintergrundmaterial zur Durchleuchtung der Funktion des einen oder anderen ökonomischen Tricks heran. Es entsteht so ein Mosaik aus vielen fesselnden Einzelheiten - der Zusammenhang jedoch, der etwa in der Dialektik der legalen und illegalen Enteignungsvorgänge im Kapitalismus zu suchen wäre, stellt sich nicht her. Der Autor bleibt mit seinem Frageinteresse auf der anschaulich behaviouristischen Ebene. Bei einem abstrakten Thema werden die Teilergebnisse noch belangloser: In Festspiel für Rothäute (1974) geht Kühn einem 95
historischen Vorfall nach - dem Empfang dreier Indianerhäuptlinge in London 1710, die als Verbündete gegen die aus Kanada in die englische Kolonie eindringenden Franzosen hofiert und in ihrer Rolle als Zulieferer von Kanonenfutter bestärkt werden sollen. Im Brennpunkt eines solchen Vorfalls und in Kenntnis der weiteren Geschichte ließe sich zweifellos eine Menge vom Wesen imperialistischer Politik zeigen, vorausgesetzt, man interessiert sich für mehr als die Oberfläche der Erscheinungen. Gerade das geschieht nicht, wobei die Figur des referierenden Erzählers am wenigsten Gestalt gewinnt. Erkennbar vorhanden ist der Autor in Kühns jüngstem Buch leb Wolkenstein (1977), indem der Autor die Biographie sowie die Forschungslage und sein persönliches Interesse an diesem mittelalterlichen „freien Dichter" in eins bringt. Diese Einheit ist allerdings bezahlt mit der Verengung auf eine Kollegenbiographie und mit einem solchen Sprung nach rückwärts, daß man nur in vereinzelten Teilaspekten die Verbindung zu heute auffinden kann. Seit seinem literarischen Debüt Ende der fünfziger Jahre ist Christian Geissler ein Autor antifaschistischer Tradition. Sein Widerwillen gegen die restaurative Entwicklung der Bundesrepublik war für ihn einer der Anlässe zum Schreiben. Als einer der ersten Autoren hat er in den sechziger Jahren den bundesdeutschen Proletarier als literarisches Thema entdeckt - zunächst als das entfremdete Opfer raffinierter Ausbeutungs- und Unterdrückungsstrategien. In dem Roman Das Brot mit der Feile (1974) bezieht Geissler erstmals die Geschichte der Arbeiterbewegung mit ein - eine Geschichte, zu der sein heutiger proletarischer Held Ahlers keine bewußte Beziehung hat, was ihn durchaus als typischen Vertreter der westdeutschen Arbeiterklasse ausweist! Die Tradition der Arbeiterbewegung tritt in Erscheinung durch einige Randpersonen, durch rätselhafte Episoden aus dem Leben der Familie Ahlers, in Liedern und bruchstückhaften Reminiszenzen vergangener Kämpfe. Unter den vielen Motiven und Problemsträngen in Geisslers Buch bildet die Geschichte der Arbeiterbewegung nur einen Punkt, und die Methode des gelegentlichen Zitierens bringt die Hauptfigur dieser Geschichte nicht näher. Ihr Zusammenhang mit dem Heute bleibt offen, wird jedoch als mögliches Sichfinden immer wieder ins Bild gerückt. Das Buch scheitert an der Bewältigung anderer, aktueller Probleme, die mit dem Jahr 1968 zu tun haben - die genauen Gründe für das Auseinanderbrechen der Erzählung brauchen an dieser Stelle nicht näher untersucht zu werden. Wichtig für das Problem, wie sich der Autor an geschichtlichen Zu96
sammenhängen orientiert, wie er sich der Geschichte der Arbeiterbewegung bemächtigt, ist, daß sein nächster Roman, Wird Zeit, daß wir leben (1976), sich ganz auf einen historischen Fall konzentriert: die Befreiung eines Funktionärs der KPD aus dem Hamburger Gefängnis zum Jahresende 1933. Hier wird nicht recherchiert, sondern Geschichte wird im Erzählen als gegenwärtig fingiert, und der Autor bewegt sich als Erzähler unter den handelnden Personen, als wäre er einer der ihren. Geissler gelingt in diesem Buch, was sich im Brot mit der Feile nicht überzeugend zu Ende führen ließ: seine Vorstellung von Menschen, denen die Zukunft gehört, weil sie sich innerlich von den Unterdrückungen durch die kapitalistische Gesellschaft losgemacht haben, und damit gelingt ihm, sein Ideal vom Revolutionär und vom revolutionären Handeln künstlerisch überzeugend zur Anschauung zu bringen. In dieser Konzeption - wie im beschriebenen historischen Modellfall - steckt ein utopisch-idealistisches Moment, das literarisch stark unterstützt wird durch eine emotionale, auf Unmittelbarkeit zielende rhythmische Sprache, die einen lyrischen und einen plebejischen Gestus vereint. Das historische Handeln in diesem Buch läuft auf zwei Linien hinaus: einerseits auf das Einsickern bewußter, unerkannter Gegner der imperialistischen Herrschaftsmaschinerie in die staatlichen Machtapparate, andererseits auf ein bedingungsloses, immer bis zum Äußersten gespanntes Heldentum der innerlich schon vom Kapitalismus befreiten Revolutionäre. Dieses Handlungsmodell enthält nicht die Veränderung des Bewußtseins der Massen. Daher können die Widersprüche zwischen dem zurückgebliebenen Menschsein in der Masse der Opfer des Kapitalismus zu denen hier auch einzelne Parteifunktionäre zählen - und der fortgeschrittenen Existenz der freien Kämpfer und Helden nur immer wieder thematisiert, aber nie grundsätzlich gelöst werden. Durch beide Bücher zieht sich so ein tragischer Unterton, gegen den nur trotz aller vorbildhaft gemeinten Beschwörung der Geschichte der KPD - die autonome kühne Aktion der von äußeren Zwängen unabhängigen einzelnen als Hoffnung gesetzt wird. Von diametral entgegengesetztem Standpunkt geht Günter Grass an den geschichtlichen Stoff heran. Er hat seine interessierte Position mehr als einmal offengelegt: Gegner revolutionären Handelns, Befürworter reformistischer Strategien, aber doch gewillt, sich aktuellen gesellschaftlichen Problemen zu stellen. In seinem neusten Roman Der Butt (1977), der sich als Kosmologie des Reformismus empfiehlt, greift Grass das in der Kulturindustrie des Westens aktuelle und 7 Romace
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unter vielen Aspekten abgehandelte Thema der Emanzipation der Frau und einer neuen Beziehung zwischen den Geschlechtern auf. Eine grundsätzliche Behandlung der Frage ist beabsichtigt durch die Konstruktion des Frauentribunals gegen den Repräsentanten der Männerwelt. Der Autor steigt „treppab" zu den Anfängen der Menschheitsgeschichte und erfindet im Butt, dem sprechenden Fisch und Berater der „Männersache", ein mythologisches Prinzip, das für die geschichtliche Entwicklung des Patriarchats zur Rechenschaft gezogen werden kann und wird. Bei der Durchführung der ButtMythologie geht jedoch eine ganze Reihe realer geschichtlicher Entwicklungsprinzipien ersatzlos unter. Der Butt verursacht das Ende des Matriarchats und die spätere Entwicklung der Klassengesellschaft - ein Begriff, der weit außerhalb des intellektuellen Zugriffs dieses Romans liegt - durch „Information", indem er den tumben Helden unablässig aufhetzt und zur Leistung antreibt. Reale Bedürfnisse und Interessen haben in diesem Buch mit Geschichte nichts zu tun - sie bleiben ewige und im Prinzip unveränderliche Privatsache durch alle Epochen hindurch. Ein so primitives Problem wie der Mangel an Nahrungsmitteln spielt nicht einmal für die Entwicklung der Urgesellschaft eine Rolle. Daraus kann sich nur die mythisierte Variation des Immergleichen ergeben, wobei Grass mit zunehmendem Enthusiasmus reformerische Großtaten wie die Einführung der Kartoffel in Preußen oder die Niederschrift eines proletarischen Kochbuchs zur Zeit der Entstehung des Revisionismus in der alten SPD feiert. Rebellion taucht einmal auf bei einem mittelalterlichen Zünfteaufstand, in dem sein Held zu den Abwieglern gehört. Dieser Aufstand dient hauptsächlich als erzählerischer Vorwand, um auf Ereignisse in Gdarisk 1970 anläßlich einer angekündigten Preiserhöhung für Lebensmittel zu sprechen zu kommen (damit wenigstens in dieser Richtung, gegen den realen Sozialismus, die Kosmologie vollständig wird). Diese Verbindung kann als Beispiel für den eklektischen Umgang dieses Romans mit der Geschichte dienen. Die Willkür bei der Heranziehung des Realitätsmaterials läßt sogar die äußerlich logische Konstruktion des Buches nach Gerichtsfällen von innen her zerbröckeln. Zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert fällt es dem Autor einmal ein, vom heutigen Hunger in Indien zu reden; er mobilisiert dazu Zahlen und Anschauungsmaterial und kehrt dann über die preußische Gesindeküche zu seinem Prozeß zurück. Immer wieder kommt der Autor auf seine Sicht der sozialen Probleme im heutigen Polen zurück, konfrontiert sie, in der Jetztzeit angelangt, mit Ereig98
nissen in Westberlin, die in einem aus kleinbürgerlichen Neurosen motivierten Mord an einer jungen Frau gipfeln. Im Kaleidoskop heterogener Realitätsausschnitte geht Grass' erklärte Absicht, eine historische Rechtfertigung des „demokratischen Sozialismus" zu schreiben, schließlich unter. Auch das epochenübergreifende humane Problem - Einrichtung und eventuelle Ablösung des Patriarchats kann im ewigen Kreislauf der Konflikte keiner Lösung nähergebracht werden. Beschrieben wird ein immerwährender Machtkampf, in dem dennoch beide Partner unzertrennlich aneinandergekettet sind. Fast könnte man meinen, Grass erscheine die Veränderung der gesellschaftlichen Rollen der Geschlechter analog dem Verhältnis von SPD und CDU, als eine Frage des Machtwechsels auf einem pragmatisch engbegrenzten Spielraum, wobei der historische Stellenwert dieses Spiels nicht begriffen und auch nicht diskutiert wird. Allenfalls läßt sich Von Seiten des Autors ein wenig zögernde Hoffnung auf eine für den Menschen günstige Veränderung wenigstens in diesem humanen Bereich ausmachen. Es charakterisiert den Kulturbetrieb in der Bundesrepublik heute, daß dieses in mehrfacher Hinsicht mißlungene Buch zum Bestseller unter den Messetiteln des Jahres 1977 hochgemanagt werden konnte. Die Startauflage von 100 000 Exemplaren ist unter großer Geräuschentfaltung in allen Medien herbeigeredet worden. Daß aber dieses Buch und nicht etwa der Roman von Peter Weiss als Erfolg programmiert und auf dem Markt durchgesetzt wurde, ist Ausdruck der konkreten Machtverhältnisse an diesem Markt und sollte diejenigen, die an historischer Bewußtheit und Veränderung im Sinn des Fortschritts interessiert sind, zum Nachdenken veranlassen - ja beunruhigen.
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Wolfgang Techtmeier
Roland Dorgelès und Armand Lanoux Zum Funktions- und Strukturwandel im französischen Antikriegsroman seit dem ersten Weltkrieg
Das Thema des Krieges hat seit der Antike Schriftsteller zur Gestaltung gedrängt und in großartigen Werken der Weltliteratur seinen Niederschlag gefunden. Auch in der französischen Literatur hat es im Gefolge des ersten und des zweiten Weltkrieges, abgesehen von der Memoiren- und Tagebuch- sowie der Trivialliteratur, in Werken von belletristischem oder Romancharakter eine vielfältige Behandlung erfahren. Roland Dorgelès und Armand Lanoux sind herausragende Autoren dieser Romanliteratur. Dem im Jahre 1919 erschienenen Roman Les croix de bois (Die hölzernen Kreuze) von Roland Dorgelès waren L'appel du sol (1916, Der Ruf der Erde) von Adrien Bertrand, Gaspard (1915, Gaspard) von René Benjamin, Le feu (1916, Das Feuer) von Henri Barbusse, Henri Malherbes La flamme au poing (1917, Die Flamme in der Faust) sowie Georges Duhamels Civilisation (1918, Die Zivilisation) vorausgegangen, um nur die Goncourt-Preisträger zu nennen, und die Behauptung ist sicher nicht spekulativ, daß auf Armand Lanoux' neuesten, 1977 bei Albin Michel in Paris herausgekommenen Roman Adieu la vie, adieu l'amour ... noch weitere Werke auch anderer Autoren zum Gegenstand des Krieges folgen werden. Beide Autoren verbindet jedoch nicht nur das gleiche Thema, es besteht zwischen ihnen eine unmittelbare, persönliche Beziehung, ein freundschaftliches Verhältnis, dem Lanoux auch nach dem Tode von Dorgelès treu blieb: Adieu la vie, adieu l'amour ... legt davon Zeugnis ab. Als Roland Dorgelès am 19. März 1973 im Alter von sechsundachtzig Jahren verstarb, hinterließ er der Nachwelt neben seinen literarischen Werken eine umfangreiche Korrespondenz von insgesamt zweihundertundachtzig Briefen und Postkarten, die seine Witwe Madeleine - wohl auf Wunsch des Verstorbenen - dem siebenundzwanzig Jahre jüngeren Schriftstellerkollegen Lanoux zur Veröffentlichung übergab. Sie bilden einen beträchtlichen Teil der Feldpost,
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die der als Freiwilliger in den Krieg gezogene Soldat Roland Lecavele, wie Dorgeles mit bürgerlichem Namen hieß, vom September 1914 bis August 1918 an seine Eltern, insbesondere an seine Mutter Laure, sowie an seine damalige Geliebte Madeleine geschickt hat (die mit seiner späteren Ehefrau gleichen Vornamens nicht identisch ist). Was Lanoux nach dem diffizilen Entziffern und zeitlichen Einordnen an diesem Nachlaß faszinierte, war - wie er in der Einleitung formuliert - die „historische Dimension" dieser „Privatkorrespondenz von Wesen, die nicht berühmt waren und nicht wußten, daß sie es einmal sein würden, und die jäh in eine Katastrophe gestürzt worden waren, wie sie die Welt nie zuvor gekannt hatte" 1 . Bildete der „private" Charakter dieser Korrespondenz, aus der der einfache Mensch Lecavele spricht und nicht der Schriftsteller Dorgeles, schon ein erstes Hindernis, sie als reine Dokumentation zu publizieren, so kamen als weitere Erschwernisse noch hinzu, daß sie sehr lückenhaft war und ihre Datierung erst aus den Fakten erschlossen werden mußte. Selbst die Bezeichnung Brief W e c h s e l ist fragwürdig, da diesem ein wesentlicher Teil fehlt: die Mitteilungen von daheim, auf die sich Dorgeles bezieht, und die Antworten auf seine eigenen Briefe. Lanoux' Hauptgrund, die Briefe nicht einfach so zu veröffentlichen, wie sie waren, lag darin, daß sich die gesellschaftliche Funktionssetzung gewandelt hatte, wobei der Faktor des zeitlichen, des historischen Abstandes keine unwesentliche Rolle spielt. Die von Lanoux zitierten Briefstellen zeigen, wie im Verlauf der Kriegsereignisse in Dorgeles der Plan zu seinem Roman Les croix de bois heranreift, und sie machen deutlich, welche bewußtseinsbildende Funktion er dem beabsichtigten Werk beimaß. E r wollte die Wahrheit über diesen entsetzlichen Krieg schreiben, das Leben des einfachen Frontsoldaten, des „poilu", wahrheitsgemäß schildern und abrechnen mit jenen Drückebergern, den „embusques", die in ihren Redaktionsstuben hockten und Lügen verbreiteten, verlogene Chansons verfaßten und den Gegensatz zwischen Front und Hinterland noch weiter vertieften. „Nein, dieser dreckige Drückeberger, der zu schreiben wagt, daß es die Übrigbleibenden sind, die man beklagen muß! D a ß die ,poilus' am glücklichsten sind! Was wartet er denn noch, um zu uns zu kommen! Es können noch einige gute Plätze zwischen Ypern und Thann eingenommen werden! Was für eine Frechheit, was für ein unverschämter Zynismus! All das wird, so hoffe ich, nach dem Kriege zu bezahlen sein, und zwar teuer!" 2 So urteilt Dorgeles über den Chansounier Rip, und der Ton ist weitaus 101
schärfer als später bei ähnlichen Anlässen im Roman. Und allgemein an die Adresse der Zivilisten gewandt, denen - wie es auch zahlreiche Antikriegsromane anderer Autoren zum Ausdruck bringen - mangels eigenen unmittelbaren Erlebens jegliche Urteilsfähigkeit abgesprochen wird, äußert Dorgelès seinen Protest: „Sie, die nichts wissen vom Kriege, die all seine Leiden nicht kennen, die Wochen ohne Nachricht von den Seinen, die Nächte im Regen, die Stunden unter Granatbeschuß, die Tage der Schlacht . . s i e , die nicht wie Tiere mit ihren Fingern die Erde gescharrt haben, um sich vor den Kugeln zu schützen, sie wagen es, sich zu beklagen, erwarten wir, ohne zu losigkeit ! . . . Und ohne uns zu beklagen, erwarten wir, ohne zu fiebern, den Befehl, der uns heute abend, morgen nach Eparges oder in den Elsaß zu den 50 000 Soldaten schicken wird, die dort bereits schlafen, wir akzeptieren alles: die Agonie im Dreck und das Holzkreuz, und die anderen werden sich beklagen, schreien, befehlen! Ah! Nein, ihr Zivilisten! Haltet eure Schnauze!" 3 Es ist zugleich das Gefühl des Verratenseins, das in derartigen Zornesausbrüchen mitschwingt, die Befürchtung, all die ausgestandenen Schrecken könnten nur allzu schnell vergessen sein. Les croix de bois haben ihre Wirkung auf die Zeitgenossen nicht verfehlt und bis heute nichts an ihrer Aussagekraft eingebüßt. Die Verleihung des Prix Fémina im Jahre 1919 legt davon ebenso Zeugnis ab wie die Nachauflagen und Übersetzungen. Die Académie Goncourt indessen, die in den Jahren zuvor ausschließlich Werke zur Kriegsthematik mit ihrem Preis bedacht hatte, krönte nun mit sechs gegen vier Stimmen Prousts A l'ombre des jeunes filles en fleurs (1918, Im Schatten junger Mädchenblüte) und nicht Les croix de bois von Dorgelés. Der „embusqué" hatte über den „poilu" gesiegt, woraus Lanoux den Schluß zieht: „Sie kam entschlossen auf den Frieden zurück." 4 Und es muß hinzugefügt werden, daß durch den konsequenten Bruch mit allem Traditionellen, wie er sich in den Literaturverhältnissen der zwanziger Jahre abzeichnet, der naturalistischen Darstellungsweise von Dorgelès die Wirkungsmöglichkeit noch weiter verbaut wurde. Dorgelès selbst tat die Entscheidung der Académie Goncourt, der er später selbst präsidieren sollte, mit der ironischen Bemerkung ab: „Ich habe Glück gehabt! Den Prix Goncourt gegen Proust! Man hätte mir das nie verziehen!" 5 Wenn sein Werk auch weiterhin gewirkt hat und er dem ersten Thema mit Le cabaret de la belle femme (1919, Das Wirtshaus „Zur schönen Frau") und anderen Romanen treu geblieben ist, so deutet sich doch schon zu diesem 102
Zeitpunkt das künftige Schicksal der Antikriegsromane an: Die Dritte Republik sah den Krieg als für Frankreich gewonnen an und schlitterte in den Taumel der „Goldenen Zwanziger". Die Zahl der Antikriegsromane zeigt eine rückläufige Tendenz um die Mitte der zwanziger Jahre und erfährt erst im Gefolge der Weltwirtschaftskrise und der zunehmenden Gefahr des Faschismus, nun aber bereits im Kontext des Revolutionsthemas, einen neuerlichen Aufschwung. Dorgelès hatte die Rechnung ohne seine Adressaten gemacht. Durch die Reduzierung der sich im Kriege offenbarenden Widersprüche des Imperialismus auf einen Gegensatz von Front und Hinterland, der die eigentlichen Klassenwidersprüche verschleiert, waren die Wirkungsmöglichkeiten seines literarischen Produktes von vornherein begrenzt. So erreichte seine Stimme vor allem diejenigen, die bereits antimilitaristische oder antiimperialistische Positionen gewonnen hatten, darunter die „anciens combattants", die einstigen Frontkämpfer, die seine Schilderungen als wahrheitsgetreu anerkannten und sich in ihrer pazifistischen Grundhaltung bestätigt fühlten. Aber auch sie setzten sich aus Vertretern von unterschiedlichen Klassen und Bevölkerungsschichten zusammen, und so nimmt es nicht wunder, daß bald auch solche Autoren ihre Leser finden, die in ihren Kriegsromanen die hehren Ideale der Kameradschaft, der Ehre, der patriotischen Begeisterung wieder in den Vordergrund rücken und damit bewußt oder unbewußt ideologiebildende Funktion im Sinne einer Apologie imperialistischer Herrschaftsverhältnisse erhalten. Was die gesamte Entwicklung der Kriegsliteratur zwischen beiden Weltkriegen in Frankreich betrifft, so verdiente sie - gerade unter funktionalen Aspekten - eine gründliche Analyse, die jedoch in der hier gebotenen Kürze nicht realisierbar ist. Es sei daher auf das unlängst erschienene Buch von Maurice Rieuneau verwiesen, wo unter dem Titel Guerre et révolution dans le roman français (1974, Krieg und Revolution im französischen Roman)6 die Literatur zwischen 1919 und 1939 in historischer Betrachtungsweise gründlich aufgearbeitet wurde. Ihm war bereits 1963 ein Aufsatz von René Pomeau zum Thema Guerre et roman dans l'entre-deux-guerres (Krieg und Roman zwischen beiden Kriegen)7 vorausgegangen, in dem an paradigmatischen Fällen die einzelnen Entwicklungsetappen herauskristallisiert und funktionale Aspekte angedeutet worden sind. Wenn Lanoux unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen dokumentarisches Material aus dem ersten Weltkrieg wirkungsvoll veröffentlichen und ein literarisches Publikum erreichen 103
wollte, mußte er den inzwischen erfolgten Veränderungen in den Literaturverhältnissen Rechnung tragen. Um dem Autor der Briefe gerecht zu werden .und Verständnis beim Leserpublikum zu erzielen, waren historische Hintergründe zu erhellen, war die weitere Entwicklung im Schaffen von Dorgeles, aber auch die Gestaltung des Kriegsthemas in Werken anderer Schriftsteller zu berücksichtigen, konnten die im Verlaufe der Geschichte, insbesondere auch durch das Ereignis des zweiten Weltkrieges von Lanoux selbst und seinen heutigen Lesern gesammelten Erfahrungen nicht ohne Einfluß bleiben. D a ß das Thema von Krieg und Frieden in den aktuellen Auseinandersetzungen um weltweite Entspannung und friedliche Koexistenz angesichts der militaristischen, mit einer Refaschisierung verbundenen Bestrebungen der imperialistischen Staaten bürgerliche Schriftsteller zur Entscheidung drängt, zu einer neuen gesellschaftlichen Funktionsbestimmung ihres Schaffens mit Blickrichtung auf den revolutionären Weltprozeß zwingt und ihnen neue Wirkungsmöglichkeiten eröffnet, steht außer Frage. Dieser Funktion jedoch durch Publikation von Briefen aus dem nunmehr sechzig Jahre zurückliegenden Kriegsgeschehen gerecht zu werden, dessen Beteiligte die wahren Ursachen imperialistischer Kriege oftmals nur vage ahnen konnten, setzte voraus, das Interesse der neuen Lesergeneration zu wecken und ihr Verständnis für jene „anciens combattants" zu entwickeln, die sie von alten Photographien, schnauzbärtig und mit Baskenmütze bekleidet, anlächelten und über deren altmodischen Anblick sie, wie Lanoux schreibt, vergessen haben, daß „diese Überlebenden . . . die Anarchisten, die Pazifisten, die Antimilitaristen von vor 1914 gewesen IIQ
waren 8 . Den Aktualitätsbezug - und damit eine neue Funktionssetzung fand Lanoux, indem er im bewußten Gegensatz zu Les croix de bois nicht die Schilderung der Schrecken des Krieges aus der Sicht des unmittelbar betroffenen Frontkämpfers in den Vordergrund rückte, sondern vielmehr den individuellen Konflikt seines Helden Dorgeles herausschälte, der in dem guten Glauben, seiner vaterländischen Pflicht genügen zu müssen, freiwillig in den Krieg gezogen war und immer klarer erkennen muß, daß sein eigenes Vaterland, verkörpert in den Geschäftemachern und Profiteuren bis hin zu seiner eigenen Geliebten Mado, ihn im Stich und sein Opfer sinnlos erscheinen läßt. Hatte der Mann der Croix de bois nach vorn geschaut, so blickte, wie Lanoux sagt, der Mann dieser Korrespondenz nach hinten: „Er hat Augen im Rücken. Man hat in der gesamten Kriegsliteratur wenig
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von diesem Mann mit den Augen im Rücken gesprochen. Die Dramen des Herzens wogen gering gegenüber den Tausenden von Toten. Indessen war auch d a s Ghemin des Dames, Verdun, Dünkirchen, Stalingrad. Seit den Thermopylen ist der Soldat ein betrogener Krieger . . .", und weiter: „In Les croix de bois hatte Roland von allem gesprochen, außer von den Friedhöfen des Herzens. Seine Korrespondenz enthüllte einen anderen Roland, schwächer, pathetischer, uns vielleicht näher." 9 Dabei stellt sich heraus, daß gewissermaßen zwei gegensätzliche Rolands „nach hinten schauen": einerseits der Sohn, der in den Briefen an die Mutter die gleichen Lügen über sein Frontdasein auftischt wie die Journalisten ihren Lesern, und andrerseits der Mann, der seiner „Frau" die Wahrheit über das Kriegsgeschehen und seine Unmenschlichkeit berichtet, der aber auch vom Zweifel an der Beständigkeit seines Verhältnisses zu Mado gepeinigt wird und das Erkalten ihrer Liebe nicht verhindern kann. Dieser Agonie einer großen Liebe wird mit psychologischem Feingefühl nachgespürt; und diese Analyse wiederum erhält durch den ständigen Verweis auf die Authentizität der Personen und ihres Erlebens ihre besondere Ausdruckskraft: „Dieses Buch ist ein Roman, dessen Episoden und Personen wahr sind. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder nicht mehr lebenden Personen kann nur gewollt sein." Diese Bemerkung stellte Lanoux voran, damit der Leser bei der Lektüre weiß, daß der Held Dorgelot tatsächlich mit dem Schriftsteller Dorgelés identisch ist und daß man dessen Lebensabschnitt während des ersten Weltkrieges authentisch vor Augen geführt bekommt. Armand Lanoux ist uns als Autor von Romanen über den zweiten Weltkrieg bekannt, der letzte, Quand la mer se retire (Wenn das Meer zurückweicht), datiert von 1963. Rita Schober hat in ihrem Essay Armand Lanoux und der Streit um den modernen Roman insbesondere auch Funktion und Struktur seiner Antikriegsromane einer gründlichen Analyse unterzogen und dabei nachgewiesen, wie er sich neben anderen traditionellen Methoden selbst gewisser Techniken des Nouveau roman bedient, um sie „für die künstlerische Bewältigung einer komplizierten Handlungsstruktur" zu benutzen. 10 Auf den komplizierten epischen Aufbau von Quand la mer se retire kommt auch Winfried Engler in Französische Literatur im 20. Jahrhundert zu sprechen, und er definiert die drei Erzählebenen als „erinnerten Kriegsbericht", in der Gegenwart des Erzählens spielende „Liebesgeschichte" und „erinnernden Detektivroman". Es sei dahingestellt, ob die Zuordnung des Kriegsromans zum Abenteuerroman 105
berechtigt ist; der Schluß, der daraus gezogen wird, bedarf jedoch nach der erneuten Zuwendung Lanoux' zu der von Engler als „abgegriffen" bezeichneten Kriegsthematik wohl einer korrigierenden Präzisierung. Dieser hatte nach dem Erscheinen von Quand la mer se retire folgende Prognose gewagt: ,,Damit vollzieh«- der Kriegsroman verspätet die Aufhebung der memorialistischen Mimesis, nun nicht mehr durch die Entgrenzung zum Lyrischen hin, sondern durch mehrpersonige Bewußtseinsidarstellung, Standortwechsel und Zeitenschichtung, wie sie Proust und Gide ausgebildet haben."11 Adieu la vie, adieu l'amour ... folgt unter dem Zwang des chronologisch zu ordnenden Briefwechsels weitgehend dem historischen Verlauf des Krieges, wobei die Struktur der Croix de bois Wiederaufnahme findet: Die einzelnen Kapitel sind meist auf einzelne Episoden des Kriegsgeschehens und Soldatenlebens konzentriert wie Mobilmachung, Kasernendienst, Schützengraben, Artilleriebeschuß, Ruhestellung, Fronturlaub, Erschießung eines Deserteurs und so weiter. Waren aber die geschilderten Episoden bei Dorgelés nur lose durch die erzählende Person zusammengehalten, so ist hier in der Liebesgeschichte von Dorgelot und Mado und in der Entwicklung des Haupthelden vom Dandy der Vorkriegszeit zum gereiften Schriftsteller ein durchgehender Handlungsfaden gefunden worden. Im Vordergrund steht dabei jedoch stets die Dokumentation in Form unzähliger Zitate aus Briefen, oft mit relativierenden Einschüben von Lanoux, verbunden mit Kommentaren zur Erläuterung des historischen oder biographischen Hintergrundes. Die Wiedergabe des dokumentarischen Materials wird aber ständig von den Schilderungen Lanoux' unterbrochen, die ausführlich sein 'können oder nur aus Einwortsätzen bestehen, von fiktiven Dialogen, Rückerinnerungen an die Vorkriegszeit als Kontrast zur rauhen Wirklichkeit des Krieges, Erzählungen über spätere Begegnungen mit Dorgelés, von der Wiedergabe von Einzelheiten aus den Romanen des Helden, Belegstellen, die sich bei anderen Autoren wie Jules Romains, Genevoix und Giraudoux und in wissenschaftlichen Abhandlungen finden, das Ganze vermischt mit Reflexionen des Autors über eigene Erlebnisse, so daß der Leser stellenweise den Eindruck gewinnt, eher eine Biographie oder eine wissenschaftliche Abhandlung vor sich zu haben als einen Roman, ein Eindruck, der jedesmal dann wieder verblaßt, wenn größere Lücken in der Dokumentation durch Fiktives überbrückt werden mußten. Sowohl durch das Leitmotiv als auch durch den verstärkten Rückgriff auf die - allerdings stets beweiskräftig 106
gemachte - Fiktion hebt sich dieser Roman von den biographischen Arbeiten Lanoux' zu Zola und Maupassant ab. Es entsteht hier ein lebendiges Bild von inneren menschlichen Konflikten, die ihre Ursachen im Mechanismus der Kriege haben und letztlich nur durch die Beseitigung der Ursachen dieser Erscheinungsform des Imperialismus zu lösen sind. Der Titel des Buches stellt den Refrainbeginn eines tausendfach in den Schützengräben des ersten Weltkrieges gesungenen Soldatenliedes dar, das mit den Worten abschließt: „Denn wir sind allesamt verdammt, / Wir sind die Geopferten."12 Die Rücksichtnahme auf ein kleinbürgerliches Publikum, dem Dorgeles einst seine Kriegserlebnisse und damit die Wahrheit über den Krieg behutsam beibringen wollte, entfiel für die Publikation des Briefwechsels, da sich diese an ein Publikum wendet, das aus dem unmittelbaren Erleben sich längst selbst ein Bild gemacht, die Bewältigung seiner eigenen Vergangenheit aber bei weitem nicht abgeschlossen hat. Adieu la vie, adieu l'amour ... beweist, daß in der heutigen Auseinandersetzung mit dem Imperialismus selbst die Behandlung der Thematik des ersten Weltkrieges neue Funktionsmöglichkeiten für einen progressiven, politisch in der Weltfriedensbewegung engagierten bürgerlichen Schriftsteller eröffnet und daß die Palette seiner Darstellungsweisen durchaus noch erweiterungsfähig ist.
Irene Selle
Die Herausforderung der Persönlichkeit bei Vercors und Merle
Der fast achtzigjährige Vercors (Jahrgang 1902), weltberühmt durch seine Résistancenovelle Le silence de la mer (1942, Das Schweigen des Meeres), und der um sechs Jahre jüngere Robert Merle gehören zu jenen französischen Schriftstellern, deren Hauptanliegen politischmoralische Fragestellungen und Probleme der Humanität sind. Von existentieller Bedeutung war für beide Autoren das Erlebnis des zweiten Weltkrieges, das sie überhaupt erst zum Schreiben veranlaßte. Vercors war durch gemeinsame Aktionen in der Résistance schon während des Krieges zum praktischen Bündnispartner der Kommunisten geworden, Merle wurde es in den fünfziger Jahren, als er sich vom Pazifismus seines Erstlingsromans Weekend à Zuydcoote (1949, Wochenende in Zuydcoote) zu lösen begann. Wie zahlreiche linksbürgerliche Intellektuelle schwankten Vercors und Merle zeitweilig zwischen Identifizierung mit der FKP und Distanzierung von ihr. Dennoch gingen sie nie ins Lager des Antikommunismus über, Merle trat 1975 sogar der Partei bei. Von Seiten der französischen marxistischen Literaturkritik wurde ihr Schaffen überwiegend mit Wohlwollen verfolgt. Vercors und Merle berufen sich nach wie vor auf das klassische bürgerliche Humanitätsideal. Sie setzen bestimmte Traditionen der Aufklärung fort, die tief ins breite Bewußtsein eingedrungen sind. Dazu gehören: ihr brennendes Interesse am Zeitgeschehen, der optimistische Glaube, die Welt sei prinzipiell durchschaubar und der Mensch zur Humanisierung seines Wesens fähig, wobei ihm der Schriftsteller durch Erkenntnisvermittlung helfen könne. Von dieser Grundhaltung leiten sie auch ihren Protest gegen den barbarischen Irrationalismus faschistischer Ideologien ab. Insofern sind sie Bündnispartner der e r s t e n Etappe der Volksfrontstrategie. Gleichzeitig sind sie aber auch Bündnispartner der augenblicklichen Etappe der Volksfrontpolitik geworden, da die FKP die lange Tradition ihres 108
Bündnisses mit der linken Intelligenz fortsetzt. Wenn sie von der marxistischen Literaturkritik wegen des humanistischen Anliegens und des offen politischen Charakters ihrer Werke gelobt wurden und werden, so mißfielen sie seit den sechziger Jahren bis Anfang der siebziger jener Richtung, die auf den Nouveau roman eingeschworen und damals tonangebend war. Zur Ablehnung einer politisch engagierten Literatur überhaupt kam der Vorwurf, sie bedienten sich einer „veralteten"1* und konventionellen Schreibweise. Auf diese Art in die Defensive gedrängt, verfielen Merle und Vercors ihrerseits in eine Polemik mit dem Nouveau roman, den sie für ihr eigenes Schaffen kategorisch ablehnten. Heute wenden sie sich vor allem gegen das, was ihnen als Zerstückelung der Personen und Selbstzerstörung des Autors erscheint, wie Merle 1970 im Vorwort zu seinem Roman Derrière la vitre (Hinter Glas) sagt.2 Sie schreiben, weil sie aufdecken wollen, wie Menschen auf die Herausforderung durch eine zugespitzte - reale oder fiktive - gesellschaftliche Situation reagieren. Wie leistungsfähig eine solche Zielstellung und die Verwendung traditioneller Erzähltechniken durchaus noch sein kann, soll an zwei Werken der Autoren gezeigt werden. Es handelt sich einmal um Merles Roman La mort est mon métier (Der Tod ist mein Beruf) aus dem Jahre 1952 über die authentische Figur des Kommandanten von Auschwitz Rudolf Höß, im Roman Rudolf Lang genannt, und zum anderen um Vercors' Erzählung Clémentine (1959, Clémentine)3. Diese beiden Werke bieten sich zur Konfrontation an, da sie dieselbe Ausgangskonstellation aufweisen: Menschen in einem Konzentrationslager. Der Unterschied liegt in der Wahl der Perspektive. Bei Merle wird das Geschehen aus der Sicht des Mörders dargestellt, bei Vercors dagegen aus der Sicht des Opfers. Seine starke ästhetische Wirkung verdankt Merles Roman nicht zuletzt einem Kunstgriff des Autors: Er wagte es, die Persönlichkeit eines Naziverbrechers zum erstenmal aus der Perspektive des IchErzählers aufzurollen. Durch diese Sicht „von innen her" vermied er die bis dahin vorherrschenden vergröbernden Darstellungen der Deutschen. Die Technik der Ich-Erzählung zielt konventionsgemäß auf eine Identifikation des Lesers mit dem Helden ab. Nun könnte sich die Frage erheben, ob Merle die Identifikation mit einem so negativen Helden überhaupt anstrebte, ja ob er womöglich die Apologie eines Massenmorders betreiben wollte. Das ist keineswegs der Fall. Er benutzte die in der Ich-Erzählung gespeicherten Poten109
zen zwar, um Verständnis für die psychologischen Mechanismen zu wecken, die sich in einer solchen Persönlichkeit ausgebildet haben müssen, doch Verständnis heißt ja noch lange nicht Billigung. Die mit größter Nüchternheit geschilderten T a t e n des Helden sprechen eine so eindeutige Sprache, daß sich Billigung in keinem Moment einstellt. Statt dessen wird klar, daß es sich hier um einen Menschen handelt, der glaubt, seine Pflicht als Offizier in Ehre und Treue zu erfüllen. Der dem zugrunde liegende Ehrbegriff hatte zum Inhalt die subjektive Überzeugung vom a b s o l u t e n Recht der nationalen Aufschwungsbewegung, wie es die Goebbels-Propaganda verkündete. Merle zeigt, wie typisch deutsche autoritäre Erziehungspraktiken aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg die Psyche eines Kindes bis zu Fehlentwicklungen hin deformieren: Die frühzeitige Dressur des Jungen durch seinen Vater auf absoluten Gehorsam und disziplinierte Pflichterfüllung wächst sich in der Pubertät zur physischen Unfähigkeit aus, einen Auftrag abzulehnen. Zur unkritischen und freudigen Befehlsannahme gesellt sich eine außerordentliche Gefühlskälte, die Regungen zwischenmenschlicher Solidarität gar nicht erst aufkommen läßt. Mit einer solchen Persönlichkeitsstruktur wird der Ich-Erzähler im ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik zum Werkzeug der politisch jeweils am weitesten rechts stehenden Kräfte. Sein Weg führt ihn vom Kriegsfreiwilligen über die Freikorps zum Nationalsozialismus und zur SS, bis er unter dem Naziregime den Auftrag bekommt, die Massenvernichtung im großen Stil zu organisieren, wofür er 1947 im Warschauer Kriegsverbrecherprozeß zum Tode verurteilt wird. Er fühlt sich persönlich nicht schuldig, da er sich nach wie vor nur als Vollzugsorgan der eigentlich verantwortlichen Naziführer betrachtet. Nicht durch die Last seiner Taten gerät er in Konflikt, sondern nur dadurch, daß sich seine Auftraggeber durch ihren Selbstmord der Verantwortung auch für seine Person entzogen haben. Durch die Schilderung dieses Werdeganges macht Merle deutlich, daß die aus der Kindheit stammende besondere psychische Disposition seines Helden unter den spezifischen Bedingungen, des menschenverachtenden Naziregimes zur vollen Entfaltung gelangt, während sie normalerweise von dem betroffenen Individuum versteckt oder von der Gesellschaft geächtet wird. Mit diesem p s y c h o l o g i s c h e n Erklärungsversuch kommt Merle der historischen Persönlichkeit des Rudolf Höß gewiß nahe. Darüberhinaus deckt er Mechanismen auf, die nicht nur in diesem Extremfall wirkten, sondern, wenn auch in 110
schwächerem Grade, bei unzähligen Deutschen. War doch die Ausschaltung des eigenen Gewissens zwecks strikter Befehlsausführung unter der Vorspiegelung positiver Werte wie der Treue zum Vaterland tatsächlich eines der Erfolgsrezepte der Nazis. In dem Maße, wie beim Leser Verständnis für den psychologischen und historischen Prozeß geweckt wird, der zu diesem Resultat führte, wird gleichzeitig auch seine Kritik an d e m System aktiviert, das einen Rudolf Höß als „menschliche Bestie" funktionieren ließ. Aragon hat Robert Merle in seinem Essayband La lumière de Stendhal (1954, Das Licht Stendhals) als d e n Schriftsteller der Gegenwart bezeichnet, der Stendhal am nächsten sei. Er meint das in dem Sinne, daß Merles Mörder nicht allein verantwortlich sei, daß er kein individuelles Phänomen darstelle, sondern sozusagen der Sündenbock einer Gesellschaft ist, die die Verantwortung für Lüge, Heuchelei und Verbrechen trage/' Aragon hat auch zu Recht darauf hingewiesen, daß das Nichtvorhandensein eines positiven Helden, wie er Anfang der fünfziger Jahre von vulgär-marxistischer Seite dogmatisch gefordert wurde, durchaus kein Mangel sei, wenn, wie hier, die Geschichte und die Fakten selbst das Gegengewicht bildeten. Wie aktuell Merles Thema auch heute noch ist, zeigt Hermann Kants Roman Der Aufenthalt (1977), in dem er verschiedene Typen von Kriegsverbrechern aiuf sehr differenzierte Weise vorführt. Auch Kant interessieren die psychologischen Prozesse, die die Naziideologie so überwiegend r e i b u n g s l o s funktionieren ließen. Er nennt zum Beispiel die mechanische Gewöhnung an die demagogische Unterscheidung zwischen „Herrenmenschen" und „Untermenschen" als eine der Ursachen dafür, daß normalveranlagte Deutsche zu Grausamkeiten gegen Polen und Juden überhaupt fähig waren. Kant erzielt ähnliche Schockwirkungen wie Merle durch die Schilderung eines biederen Verhaltens einerseits und die schlaglichtartige Beleuchtung von Greueltaten derselben Biedermänner andererseits. Er wählt zum Ich-Erzähler einen gewöhnlichen Soldaten, der versehentlich in eine Zelle mit Kriegsverbrechern gesperrt wird, deren Verhalten er nun aus der Sicht eines politisch Unwissenden darstellt. Der Ich-Erzähler gelangt, ob er will oder nicht, zu Erkenntnissen über den Faschismus - vor allem durch aufklärende Gespräche mit polnischen Bürgern. Von diesem politischen und strukturellen Erzählerstandpunkt aus ist Kant verständlicherweise besser in der Lage, dem Leser tiefergehende Einsichten in das Wesen des Faschismus zu vermitteln als Merle dies vor fünfundzwanzig Jahren vermochte. 111
Als Merle sein Buch veröffentlichte, bestand noch ein großes Leserinteresse an der Enthüllung von Fakten über die Konzentrationslager, dem er mit seinem weitgehend dokumentarischen Stil entgegenkam. Sieben Jahre später, als Vercors seine Erzählung Clémentine schrieb, hatte dieses Interesse schon nachgelassen. Für Vercors stand ein aktuelles gesellschaftskritisches Anliegen im Mittelpunkt, seine Besorgnis über den paradoxen Fall nämlich, daß ein Mensch in den Todeslagern glücklicher gewesen sein konnte als im Nachkriegsfrankreich. Diese Aussage legt der Autor am Ende der Geschichte einem Erzähler in den Mund. Vercors schafft mit dieser Rahmenhandlung eine gewisse Distanz zu den geschilderten Vorgängen, während Merle dagegen diese Distanzierung durch den Abscheu des Lesers vor den Fakten erzielt. Eine solche Art moralischer Distanzierung braucht Vercors aber gerade nicht zu erreichen, zeigt er doch mit der Gestalt der Clémentine eine Art „Engel der Konzentrationslager". Seine Heldin gerät durch Zufall, nicht aus rassischen Gründen, in ein KZ und wird dort zusammen mit einer kommunistischen Leidensgefährtin zur unverzagten, stets muteinflößenden Trösterin und Helferin der anderen Gefangenen. Doch im Nachkriegsfrankreich geht die alte Solidarität der ehemaligen Häftlinge bald verloren. Clémentine ist innerlich gebrochen und findet keinen ihr gemäßen Platz in der Gesellschaft, ja sie macht sich nach den geltenden Rechtsvorschriften sogar strafbar. Die Originalität von Vercors' Konstruktion besteht darin, daß er einen Fall herausgreift, in dem eine Persönlichkeit unter dem Druck einer Ausnahmesituation Fähigkeiten entwickelt, die normalerweise verschüttet geblieben wären. Insofern befindet sich Clémentine in einer echten Herausforderung, während Merles Held charakterlich schon für den Faschismus vörgeformt zu sein scheint. Glaubwürdig wird Vercors' Konstruktion dadurch, daß Clémentines besondere Disposition zum Altruismus schon v o r dem Lager angedeutet wird: So hatte sie sich früh prostituiert, nur um ihrem Bruder mit dem verdienten Geld zu helfen. Ein weiterer überzeugender Grund für ihre spätere Widerstandskraft im Lager ist der, daß ihr das Elend um sie herum viel weniger ausmacht als ihren Mitgefangenen, da sie keinen so krassen sozialen und kulturellen Abstieg zu verkraften hat wie diese. Die Stärke des Künstlers Vercors zeigt sich hier gerade darin, daß er uns eine überraschende, und daher um so aufschlußreichere Entwicklung vorführt. Viel wahrscheinlicher wäre ein völlig apathisches Verhalten oder gar der Aufstieg zu einer jener gefürch112
teten „Stubenältesten" gewesen, die sich ja meistens aus Frauen von Clémentines Herkunftsmilieu rekrutierten. Doch auf das Durchschnittsverhalten kommt es Vercors hier nicht an. Die ganze Geschichte ist vielmehr hinkomponiert auf die schon erwähnte Kritik am Nachkriegsfrankreich. Wenn Vercors die Schuld für Clémentines mißglückte Eingliederung ins Alltagsleben allein der Gesellschaft anlastet, ist diese Sicht zwar sehr einseitig, aber vom Standpunkt eines Moralisten durchaus legitim. Vercors bezieht die ganze Leidenschaft seines künstlerischen Engagements gerade aus der bohrenden Frage nach der „qualité humaine", nach dem Wesen des Menschen. Das ist auch die Hauptfrage seines utopisch-philosophischen Romans Les animaux dénaturés (1951, Das Geheimnis der Tropis) und des daraus entstandenen erfolgreichen Theaterstücks Zoo ou l'assassin philanthrope (1964, Zoo oder der menschenfreundliche Mörder). In den geistvoll-geschliffenen Dialogen wird als das Spezifische des Menschen die auf Zweifeln und Angst beruhende Bildung von Mythen, Tabus und Fetischen herausgearbeitet.5 Dagegen ist einzuwenden, daß Arbeit, Sprache, soziales Bewußtsein und dessen historische Weitergabe das Wesen des Menschen bestimmen, wobei die Tabubildung nur e i n Phänomen des ideologischen Überbaus darstellt. Im Grunde geht es Vercors aber darum, auf provozierende Weise die Menschlichkeit gegen die Barbarei zu verteidigen: Der pointierte Schlußsatz seines Theaterstücks: „Der Mensch ist nicht im Menschen, man muß ihn erst zum Vorschein kommen lassen"6, setzt „Menschsein" mit „Menschlichsein" gleich. Vercors' Motiv für diese These ist die Absicht, warnen zu wollen vor der Gefahr einer „Wiederaufrichtung der verbrecherischen Wertunterschiede zwischen den Rassen, (Me wir noch in abstoßender Erinnerung haben"7. Seine tiefe Skepsis gegenüber solchen Wertunterschieden entspringt einem rückhaltlosen antifaschistischen und antikolonialistischen Engagement. Er verdeutlicht dieses Grundanliegen auf amüsante Art durch den zur Verhandlung stehenden Gerichtsfall, ob man solche „Zwischenwesen" wie die imaginären „Tropis" noch als Tiere oder schon als Menschen klassifizieren soll. Wenn Vercors menschliches Verhalten zum Kriterium des Menschseins erhebt und damit unmenschliches Verhalten faktisch mit dem tierischen Zustand gleichsetzt, legt er hier wiederum den Maßstab des Moralisten an. Vom wissenschaftlichen Standpunkt ist diese Konstruktion nicht haltbar, denn es besteht nicht nur ein gradueller, sondern auch ein qualitativer Unterschied zwischen Tieren und Menschen (die Verbrecher unter ihnen inbegriffen!). Die moder8
Romane
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nen Bio-, Sozial- und Gesellschaftswissenschaften haben diesen Unterschied klar herausgearbeitet: Das Verhalten der Tiere ist primär von biologischen Gesetzmäßigkeiten determiniert, nur in Ausnahmefällen werden Anfänge sozialer Kooperation sichtbar. Dias menschliche Verhalten ist zwar auch von biologischen Gesetzmäßigkeiten bestimmt, jedoch in phylogenetisch a b n e h m e n d e r Tendenz. Kennzeichnend für den Menschen ist, daß seine Abhängigkeit von Gesetzmäßigkeiten der sozialen Kooperation und solchen der gesellschaftlichen Verhältnisse historisch gesehen ständig z u g e n o m m e n hat. Merle bezieht sich in seinem Delphinroman Un animal doué de raison (1967, Ein vernunftbegabtes Tier) direkt auf Vercors, ohne dessen moralisierende Tendenz fortzusetzen. Vercors' Hang zum abstrakten Moralisieren beeinträchtigt jedoch nicht die Wirkung seiner suggestiven, aufs Wesentliche konzentrierten Erzählweise, in der er seine Besorgtheit über menschenunwürdige Zustände ausdrückt. Während für Vercors immer Fragen der Humanität den Ausgangspunkt bilden, die er dann mehr oder weniger scharf in ihrer Zielbedingtheit darstellt, geht Merle den umgekehrten Weg: Aus konkreten zeitgeschichtlichen Problemen versucht er allgemeinere Fragestellungen abzuleiten, wie die Verantwortung des einzelnen für die Gesellschaft. Hervorstechend ist sein Gespür für jeweils aktuelle und umstrittene Probleme. So verbindet sein Roman Les hommes protégés (1974, Die geschützten Männer) das Problem der Emanzipation der Frau mit einer massiven Kritik an den USA. Sein letzter Roman Madrapour (1976) setzt sich mit dem Terrorismus auseinander. Mit seiner auf Breitenwirkung angelegten spezifischen Mischung von Kunst und Unterhaltung nimmt Merle eine Sonderstellung innerhalb der französischen Literaturszene ein, die sonst im wesentlichen gekennzeichnet ist durch eine Trennung von Elite- und Massenkunst.8 Seit Anfang der sechziger Jahre benutzt Merle vorwiegend drei Gestaltungsmittel: Modellsituation, Gedankenexperiment und Science-Fiction-Elemente. Die Modellsiüuation erlaubt, ein Problem sozusagen in reiner Form herauszukristallisieren. Ein solches Verfahren birgt jedoch die Möglichkeit in sich, daß die konkrete historische Seite einer Erscheinung zu kurz kommen kann. Dieser Gefahr entgeht auch Merle nicht immer. So versucht er in L'île (1962, Die Insel) an der Modellsituation des Zusammenlebens von Inselbewohnern in der Südsee, bestehend aus „zivilisierten" englischen Meuterern 114
des 18. Jahrhunderts und „wilden" Tahitiern (nach dem Stoff der Meuterei auf der „Bounty"), drei Problemkomplexe durchsichtig zu machen: die verderblichen Folgen eines pazifistischen Verhaltens, die Quellen von Kolonialismus und Rassenhaß und die Ausnutzbarkeit der bürgerlich-parlamentarischen Spielregeln zu demagogischen Zwecken. Was man aber im Roman über solche komplizierten Zusammenhänge, wie gerade Kolonialismus und Rassenhaß, erfährt, ist so allgemein und ahistorisch, daß es nicht zu einer vertieften Problemsicht auffordert. Dies auch deshalb nicht, weil das eigentliche Anliegen vielfach von Gut-Böse-Klischees überlagert wird. In Erinnerung bleibt eine bezaubernde Geschichte voller exotischer Reize, die nicht zuletzt wegen des Rückgriffs auf Klischees ein Massenpublikum anzuziehen vermag. Interessant und neu im Vergleich zu älteren englischen Mustern von Südseegeschichten (Robert Louis Stevenson, Jack London, Herman Melville) 9 sind dennoch zwei Aspekte: Merles Identifizierung mit dem Standpunkt der „Eingeborenen" und das durchschimmernde aktuelle Problem der Verständigungsschwierigkeiten zwischen ehemals „Kolonisierten" und ihren früheren „Kolonisatoren" - eine historische Erfahrung vieler Franzosen nach Beendigung des Vietnam- und des Algerienkrieges. Merle verbindet sein bevorzugtes Gestaltungsmittel „Modellsituation" mit dem Gedankenexperiment, dessen Möglichkeiten durchzuspielen ihn reizt (außer in La mort est mon métier und Derrière la vitre, wo der dokumentarische Charakter der epischen Darstellung ein solches Verfahren verbietet). So fragte er in Un animal doué de raison: „Was wäre, wenn Delphine sprechen könnten?", in Malevil (1972): „Wie sähe die Welt nach einem Atomschlag aus?", in Les hommes protégés: „Was geschähe, wenn die Frauen die Rolle der Männer in der Gesellschaft übernehmen würden?" Solche Gedankenexperimente sind geeignet, die Phantasie des Lesers zu beflügeln und das eigene Weiterdenken der erfundenen Situation zu fördern. In engem Zusammenhang mit dem Gedankenexperiment steht bei Merle die Verwendung von Science-Fiction-Elementen, denn die Science-Fiction ist ja ein Gedankenexperiment im Großen. Merle baut Fragestellungen aus, an denen die Wissenschaftler zur Zeit arbeiten, deren Lösungen aber noch nicht abzusehen sind, zum Beispiel Probleme der Kommunikation zwischen Mensch und Tier bzw. genetische Fragen. Er verwendet die Science-Fiction äußerst sparsam und vorsichtig. Von übergeordneter Bedeutung ist für ihn immer der 8*
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politisch-moralische Aspekt. Man hat seine Romane daher als „politique-fiction" bezeichnet. Typisch für diese Art der Fiktion ist die Ansiedlung der Handlung in der nächsten Zukunft, während die alten Utopien in einer sehr fernen Zukunft spielen. Merles erklärtes Ziel ist es, „die Gegenwart zu erhellen, indem man sich die Zukunft vorstellt"10. Die Etablierung der „politique-fiction" als eigenständiges Genre wird jedoch von Spezialisten der Science-Fiction mit der Begründung abgelehnt, daß der politische Aspekt immer dazugehört habe. Es sei unzutreffend, unter „science" nur die Mechanik und die Naturwissenschaften zu verstehen, statt auch die Gesellschaftswissenschaften einzubeziehen, das wäre in Les hommes protégés zum Beispiel die Soziologie. Durchaus reale soziologische Phänomene der Gegenwart dienen ihm hier als Ausgangspunkt für seine Fiktion vom Rollentausch der Geschlechter mit der darin enthaltenen Kritik am kulturhistorisch tief verwurzelten Überlegenheitsanspruch der Männer. Merle behandelt insbesondere den in den sechziger Jahren aufgekommenen NeoFeminismus, eine trotz ihrer Heterogenität und teilweisen Verworrenheit ernst zu nehmende Protestbewegung von Frauen in vielen westlichen Ländern. Unverkennbar ist seine Sympathie gegenüber dem Grundanliegen dieser Bewegung, gleichzeitig aber auch seine Warnung vor dem Abgleiten ins andere Extrem: in den Männerhaß, wie er tatsächlich von einer Randgruppe innerhalb der neuen Frauenbewegung gepredigt wird. Seine Fiktion eines Männer-Reservats hat er ebenso wie die Horror-Vorstellung von Kindern aus der Retorte der Schrift von Betsy Warrior Man as an Obsolete Life Form (1969, Der Mann - eine veraltete Lebenform)11 entnommen. Er stützt sich offensichtlich auch auf das bekannteste Dokument dieser Richtung, das von Valerie Solanas verfaßte Manifest der Gesellschaft zw Vernichtung der Männer12, ein schon pathologisch zu nennendes Produkt verzweifelten Hasses. Die Auswahl gerade dieser keineswegs repräsentativen Richtung könnte als Diffamierung der Frauenbewegung aufgefaßt werden, wenn Merle dem nicht durch sorgfältig ausgewählte Gegenfiguren in seinem Roman vorgebaut hätte. Das Ausspinnen real scheinender Gegebenheiten und Ideen führt der Autor aber weit über den Feminismus hinaus. Letztendlich dient ihm seine Fiktion einer auf Männerhaß beruhenden Frauendiktatur unter, Beibehaltung imperialistischer Herrschaftsstrukturen nur als Vehikel zur Warnung vor dem Abbau der Demokratie und vor latenten faschistischen Gefahren. Unbestreitbar erreicht er gerade durch den Einbau 116
von Science-Fiction-Elementen eine gesteigerte Abschreckungswirkung. Wenn sein Modell der Unterdrückung eines Geschledits durch das andere allerdings zum Modell für Unterdrückung überhaupt herhalten muß, wird es überstrapaziert und folglich historisch unscharf: So ist der Geschlechterkampf seinem Wesen nach nicht einfach mit der Verfolgung der Juden, der Schwarzen und anderer sozialer Randgruppen gleichzusetzen, w i e es bei M e r l e anklingt. Hier kann er sich nur auf Ähnlichkeiten in den Oberflächenerscheinungen berufen, ohne deren tieferen historischen Ursachen gerecht zu werden. Für ein W e r k , das ein breites Publikum erreichen will, ist es jedoch schon verdienstvoll, die Aufmerksamkeit des Lesers überhaupt auf politische Zeitfragen gelenkt zu haben. D i e bewußte Verwendung von Mitteln der Massenliteratur (Elemente der Science-Fiction, des Abenteuer* und Kriminalromans) ist dabei ein durchaus legitimes Verfahren, wenn man den durch die gesamte Unterhaltungsindustrie vörgefcrmten Geschmack des Publikums in Rechnung stellt. M e r l e w e i ß genau, d a ß der große Leserkreis, auf den es ihm ankommt, sich gewöhnlich nicht für schwer verständliche Schreibweisen begeistern läßt. Den Noaiveau roman findet die Mehrheit der Leser zum Beispiel monoton und langweilig, falls sie ihn überhaupt zur Kenntnis nimmt. Vercors' Bestrebungen sind weniger auf Breitenwirkung gerichtet, treffen sich aber mit den Prinzipien Merles in der Sorge um größtmögliche Verständlichkeit und Logik des inneren Aufbaus. Vercors wendet sich vor allem gegen die von den Nouveaux romanciers „in den Rang einer Institution erhobene Inkohärenz" 13 . Selbst wenn die Romanfiguren eine komplizierte Persönlichkeitsstruktur haben und unüberlegt handeln, dürfe der Autor, so meint Vercors, seinen Roman nicht nach dem Prinzip der Unlogik aufbauen. In ihrer Polemik mit dem Nouveau roman werden beide Autoren dem Phänomen insgesamt jedoch nicht durchweg gerecht. Sie machen es sich gewiß zu einfach, wenn sie ihn, ebenso w i e die Bestrebungen der Zeitschrift Tel quel, pauschal als „Moden der Intelligenzija" 1 4 abqualifizieren. Mit ihrem eigenen Schaffen haben Vercors und M e r l e aber zumindest gezeigt, d a ß man ein W e r k nicht nach dem Vorhandensein von traditionellen, avantgardistischen, modernistischen oder wie auch immer bezeichneten Mitteln an sich bewerten sollte, sondern d a ß man nach deren Funktion im Werk selbst und ihrer möglichen Wirkung auf die Leser zu fragen hat. 117
Brigitte Burmeister
Nouveau roman und Realismus Umbruch einer Literaturideologie
„. . . es ist immer so gewesen: Im Namen des Realismus bekämpfte jede neue literarische Schule die vorangegangene." 1 Auch wenn es nicht immer so war: Was der französische Romancier Alain RobbeGrillet hier (in einem Artikel von 1955) als Regel aufstellte, galt zumindest für den Nouveau roman selbst, das heißt für die Art, in der das als Nouveau roman bekannt gewordene literarische Phänomen von den Romanautoren anfänglich legitimiert und verteidigt wurde. Angetreten gegen den traditionellen Roman, gegen die Großmacht der - wie Robbe-Grillet sagt - „Ordnung Balzacs", beriefen sich die Nouveaux romanciers Nathalie Sarraute (geb. 1902), Michel Butor (geb. 1926), Claude Simon (geb. 1913), Alain Robbe-Grillet (geb. 1922) auf die Wirklichkeit selbst. Diese erzwinge eine Erneuerung der überlebten, unglaubwürdig gewordenen Erzählformen. Gegen die Konventionalität dessen, was von Publikum und Kritik als „echter R o m a n " angesehen werde, gegen bestimmte als realistisch qualifizierte und bis zum vulgären Rezept verkommene Darstellungsverfahren müsse man das P r i n z i p des Realismus durchsetzen: „Die Entdeckung der Wirklichkeit wird nur dann weiter voranschreiten, wenn man die verbrauchten Formen aufgibt." 2 Dieser Zusammenhang von Wirklichkeitsentdeckung und Formerneuerung wurde von den Nouveaux romanciers auf widersprüchliche Weise bestimmt: 1. D i e neuen Formen entsprächen einer veränderten Wirklichkeit, einem gewandelten Weltbild und Geschichtsbewußtsein. Auf dieser Ebene bewegen sich alle die Argumente, mit denen die „Reduktionsformen" der neuen Romane (vor allem der Abbau des Romanhelden und der Fabel) als realistisch begründet wurden: Das Individuum solle im Roman nicht mehr Bedeutung besitzen als im wirklichen Leben, der Autor solle nicht mehr einen Überblick vortäuschen, den er real nicht haben kann, die Beweglichkeit der Imagination und der Erinnerung solle nicht in das Schema einer linearen Chronologie 118
gezwängt, die Psyche der Figuren nicht nach den fiktiven Gesetzen einer „Logik der Charaktere" konstruiert werden, der Roman solle nicht weiterhin das Bild einer durchschauten und beherrschten Welt vorspiegeln, das einstmals dem Selbstbewußtsein der bürgerlichen Klasse, mit der er zur Blüte gelangte, tatsächlich entsprach, das heute nurmehr eine ohnmächtige Illusion sein könne. Für den neuen Roman wurde eine aufklärende, wo nicht gar didaktische, in jedem Fall eine Erkenntnisleistung postuliert, und sei es nur im Sinne von Desillusionierung: Die von der Geschichte aufgesprengten Mythen des bürgerlichen Humanismus sollen aus dem Roman vertrieben werden, der Roman soll die Augen öffnen für die Welt, wie sie wirklich ist, er soll neu sehen lehren. In diesem Sinn begriff Robbe-Grillet den Realismus, auf den alle Romanautoren sich beriefen, als Gegenteil von „Abstraktheit, Illusionismus, Phantasterei, Verfälschung" 3 . Wurde dergestalt die Wirklichkeit selbst zur Überprüfungsinstanz berufen, erhielt die Frage nach der Ähnlichkeit oder Übereinstimmung zwischen Fiktion und Realität eine privilegierte Stellung. Und eben hier wurde dem Nouveau roman von der Kritik - mit Recht - „Realismus" energisch bestritten oder nur als „Oberflächenrealismus", als Abart des alten Naturalismus, zugestanden. Mit einer deutlichen Ausnahme: Der Soziologe Lucien Goldmann postulierte eine „Homologie" zwischen der F o r m des Nouveau roman und den Strukturen der Verdinglichung im Spätkapitalismus und unterstrich den Realismus der neuen Romane. 2. Der Zusammenhang zwischen Wirklichkeitsentdeckung und Formerneuerung wurde als die Leistung neuer Formen bestimmt, bis dato Unbekanntes zu erschließen. Bei Nathalie Sarraute zum Beispiel ist dieses Unbekannte ein real existierender, literarisch noch nicht erfaßter Bereich: die der Rede vorangehenden bzw. sie begleitenden vorsprachlichen inneren Regungen („tropismes"). Nathalie Sarrautes Interesse richtet sich nun darauf, diesen sprachlich nicht artikulierten inneren Regungen zu einer literarischen Existenz zu verhelfen, sie darzustellen. (Für diese Darstellung kann im Prinzip - und das ist auch geschehen - der Versuch der Überprüfung gemacht werden, indem man etwa Erkenntnisse aus der Sozialpsychologie heranzieht, die somit als Kriterium für die Realitätsentsprechung der literarischen Beobachtungen fungieren.) Einen anderen Sinn erhält „Entdeckung" bei Robbe-Grillet. In dem eingangs zitierten Artikel subsumiert die dortige Losung „Kunst ist Leben" zwei divergierende Bestimmungen. Einmal die bereits bezeichnete: Die Entwicklung und Erneuerung 119
des Romans werde verbürgt durch sein Schritthalten mit den Veränderungen der objektiven Realität, durch die Parallelität von Transformationen unterschiedlicher Ordnung. „Die objektiven Veränderungen der Realität, verbunden mit dem .Fortschritt' unserer Naturerkenntnisse, haben . . . unsere philosophischen Auffassungen, unsere Metaphysik und Moral zutiefst beeinflußt. Also selbst wenn der Roman nichts anderes täte, als die Wirklichkeit zu reproduzieren, wäre es kaum normal, wenn die Grundlagen seines Realismus (d. i. die narrativen Formen - B. B.) sich nicht parallel zu diesen Veränderungen weiterentwickelten."4 Daneben tritt eine andere Bestimmung, die sich auf das bezieht, was der Roman „tut": Der Roman sei kein Spiegel der Wirklichkeit, er drücke nicht in Worten aus, was auf andere Weise bereits existiere, sondern er suche. Er k o n s t i t u i e r e Wirklichkeit. Dabei „weiß [er] nie, was er sucht, er weiß nicht, was er zu sagen hat. Er ist Erfindung, Erfindung der Welt und des Menschen, beständige Erfindung und unaufhörliches Wieder-in-Frage-Stellen."5 Von dieser Bestimmung aus erfolgt die Abkehr von den mit „Realismus" verbundenen Prinzipien der Wahrscheinlichkeit und des Typischen. Was interessiere, sei nicht das Wahrscheinliche, sondern „das kleine Detail, das falsch wirkt" 6 , das heißt die Auflösung der gewohnten oder erwarteten Bedeutung durch Kontextentzug, Immobilisierung, Isolierung. So wird - immer noch unter Beibehaltung des Termintis - der „Realismus" des modernen Romans in dessen Selbständigkeit gegenüber jeder nicht-literarischen Realität gesehen. Für Robbe-Grillet ist ein realistischer Autor „in dem neuen Wortverständnis, das wir zu begründen suchen", der „Schöpfer einer materiellen Welt mit visionärer Präsenz". 7 „Materialität" meint hier den autonomen Status, die „absolute Realität" der geschriebenen „Welt", ihre Unauflöslichkeit in einen anderen („tieferen", „eigentlichen") Sinn, ihre Nicht-Symbolhaftigkeit. Hier kündigt sich die dann später dominierende Position der mit dem Nouveau roman verbundenen Literaturideologie an. Die am Beispiel Robbe-Grillets besonders deutlich zu verfolgende Aushöhlung - bis hin zur Verwerfung - eines realistischen Programms ist ein allmählicher, tastender und widersprüchlicher Vorgang, kein apriorisches Konzept. Robbe-Grillets langjähriges und hartnäckiges Bestehen darauf, ein realistischer Autor zu sein, zeigt, daß „Realismus" (so unterschiedlich die damit verbundenen Vorstellungskomplexe auch sein mochten) für den Roman ein gewissermaßen natür120
liches Arsenal der Legitimationen und Erklärungen darstellte („... es ist immer so gewesen ...")• Der Umbruch des Romans und der Ansichten über Literatur, der sich in Frankreich in den sechziger Jahren seinen eigenen Ausdruck schafft (in dem Maße, wie die theoretischen Neuansätze verschiedener Wissensbereiche in dem einen Interesse konvergierten: „Die ganze Neugierde unseres Denkens richtet sich jetzt auf die Frage: Was ist die Sprache, wie kann man sie umreißen, um sie i n s i c h und in ganzer Fülle erscheinen zu lassen?"8 - , dieser Umbruch hat sich innerhalb des Nouveau roman zunächst in den Widersprüchen zwischen einer Praxis und ihrer theoretischen Begründung angekündigt. Hierzu ein Beispiel. Robbe-Grillets Romane waren anfangs vorwiegend als objektivistischer Neo-Realismus - und abschätzig als „Objektlitaneien" - aufgenommen worden, in denen eine von jedem außerinstrumentalen Bezug zum Menschen entblößte, nichts weiter als dinglich existierende Welt vorgeführt bzw. vor allem ausgemessen werde. Eine Welt, aus der der Mensch vertrieben sei. Robbe-Grillet unterstützte diese „objektivistische" Deutung mit seinen Polemiken gegen ein humanistisch-anthropozentrisches Weltbild, gegen die anthropomorphe Metapher im Roman, gegen die travestierte Fortexistenz des alten Humanismus im Lebensgefühl des Ekels oder der Absurdität in den Romanen von Sartre und Camus. Nach Robbe-Grillets Kino-Roman L'année dernière à Marienbad (.Letztes Jahr in Marienbad), der 1961 von Alain Resnais verfilmt wurde, erfolgte ein Umschwung. Nun erschien der Geometer als Träumer und Phantast, als Schöpfer einer nur in der Imagination möglichen, subjektiven Welt. Auch diese Deutung unterstützte RobbeGrillet. In seinen Romanen seien die Beobachtungen zwar auf das Objekt gerichtet, aber nicht objektiv, im Sinne von neutral. Denn immer gebe es einen Beobachter, und zwar einen, der keineswegs unparteiisch sei, sondern häufig ein Besessener, ein Kranker, ein Verrückter - vom Standpunkt der Objektivität aus also insgesamt schlechte Beobachter. Weil die Beobachtung und Beschreibung in seinen Romanen immer radikal perspektivisch sei, könne man leicht zeigen, daß sie „subjektiver sind, sogar als die von Balzac, zum Beispiel"9. Die angebliche Schwierigkeit, Ungereimtheit, Inkohärenz der neuen Romane würden nur denen so erscheinen, die an bestimmte Erzählschemata gewöhnt seien. Robbe-Grillet versuchte, die Strukturen seiner Werke durch deren Entsprechung zu psychischen Abläufen (der Wahrnehmung, der Ima121
gination) zu begründen. Für seine Technik, das Zeitspektrum auf eine einzige Ebene - das Präsens - zu reduzieren, bemühte er eine „wissenschaftliche" Erklärung: Jede lebhafte Vorstellung sei „au présent"; man glaube, das Erinnerte unmittelbar zu erleben. Diese Erklärung entstammt, wie Gérard Genette in einem Aufsatz von 1962 gezeigt hat, der alten empiristischen Theorie der Imagination, die - von Hume bis Taine - eine „genügend lebhafte Vorstellung" als tatsächliche Wahrnehmung angesehen hat: „ . . . eine Theorie, die aus der Vorstellung jegliches Bewußtsein des Vorstellens entfernt, aus der Erinnerung jegliches Bewußtsein von Vergangenheit, aus dem Traum jedes Traumgefühl, und die das psychische Erleben aiuf einen Vorbeimarsch .mentaler Bilder' reduziert, die alle gleichwertig sind, bis auf gewisse Unterschiede in ihrer Intensität." Dabei brauche man nur auf die naive Erfahrung zurückzugreifen, um festzustellen, „daß eine Erinnerung immer in der Vergangenheit erlebt wird, eine Vorstellung als Abwesenheit und daß der Traum nicht von einem Realitätsgefühl begleitet wird." 10 Diesen verschiedenen „Bewußtseinseinstellungen" versuchte die Literatur mit ihrem Zeitspektrum zu entsprechen, eben um realistisch zu sein. Robbe-Grillet, der diese Technik auflöst, suchte dafür eine realistische Begründung, „indem er, zweifellos guten Glaubens, auf eine .falsche' Psychologie zurückgreift, und zwar aus dem einfachen Grund, weil sein Werk u n m ö g l i c h ist: was sicher ärgerlich für den Realismus, aber höchst gleichgültig für die Literatur ist" 11 . In Robbe-Grillets ursprünglichen Ansprüchen auf eine umfassende „Objektivität" und in seiner späteren Konversion zur „Subjektivität" sieht Genette ein und denselben Sinn: sie bilden den realistischen point d'honneur eines Autors, der kein Realist ist, sich dazu aber nicht entschließen kann." 12 Inzwischen hat sich Robbe-Grillet, ebenso wie einige andere Nouveaux romanciers, entschlossen. Den Übergang des Nouveau roman auf eine eindeutig nicht- beziehungsweise anti-realistische Position, den Einsatz des sogenannten Nouveau nouveau roman in der ersten Hälfte der sechziger Jahre, bewerten Robbe-Grillet, Claude Simon, Claude Ollier, Jean Ricardou als den eigentlichen Einschnitt und Neuansatz, an dem die Nouveaux romanciers zum Bewußtsein ihrer „Modernität" gelangt seien. Diese „Modernität" bedeutet nicht schlechterdings Innovation, Neuerung als Prinzip. Sie läßt sich zunächst negativ bestimmen als A b k e h r von dem anfänglichen Begründungszusammenhang, in dem die Romanfunktion der D a r s t e l l u n g oder Entdeckung einer neuen Realität durch neue Erzähl122
formen verknüpft war mit dem Anspruch auf I d e o l o g i e k r i t i k (Austreibung der alten Mythen und Illusionen des humanistisch-rationalistischen Weltbildes), mit dem Anspruch auf E m a n z i p a t i o n (in der vagen Formel: den neuen Menschen schaffen) und auch mit der Hoffnung auf V o l k s t ü m l i c h k e i t . (Den durch traditionelle Erzählschemata nicht verbildeten Lesern, so irrte sich RobbeGrillet, würden die neuen Romane keinerlei Schwierigkeiten bereiten; in ihnen könnten sie ihre eigene Welt, ihre Erfahrungen und Gedanken leicht wiedererkennen.) Allerdings waren alle diese Momente von Anfang an auf spezifische Weise durchsetzt mit einer gegenläufigen Tendenz, so in den Attacken gegen einen politischen oder sozialen Auftrag der Literatur (gegen ihr „Engagement"), so auch im Streben nach völliger Unabhängigkeit vom „Realitätsprinzip": „Ich übersetze nicht, ich konstruiere. Das war schon Flauberts alter Ehrgeiz: von nichts aus etwas bauen, das sich ganz allein aufrecht erhält, ohne sich auf etwas außerhalb des Werkes Liegendes stützen zu müssen." 13 Diesem Autonomiedenken hat dann Jean Ricardou, selber Romancier und heute führender Theoretiker des Nouveau roman, zu einigen theoretischen Sätzen, programmatischen Prinzipien und vor allem zu einem ziemlich ausgearbeiteten Instrumentarium der Textanalyse verholten. Auf dem von ihm geleiteten Kolloquium in Cerisy 1971, dem ersten, das Romanciers und Kritiker unter dem Thema „Nouveau roman" zusammenführte, dominierte eine der vorhin genannten Realismus-Parameter gänzlich entkleidete Literaturkonzeption. Als bewußt artifizielles Konstrukt erstrebe der Roman nicht die Öffnung auf eine Welt, nicht die Darstellung einer ihm vorgängigen Realität, nicht die Kommunikation eines bedeutungsvollen Bildes tatsächlicher oder möglicher Verhältnisse. Die Beziehung des Romans zur Realität stelle sich nicht über Abbilder her, sondern nurmehr dadurch, daß der Roman mit seinem sprachlichen Ausgangsmaterial „arbeite", das heißt, daß er dieses in einem immer weiter zu entwickelnden System von Kombinationen und Transformationsverfahren verwandele, die Möglichkeiten der Sprache erforsche, daß er sich im beständigen Spiel der Neuorganisation seiner Elemente der Fixierung von Bedeutungen widersetze und somit die literarische Ordnung (die Erzählkonventionen) und die ihr entsprechenden Lesererwartungen aufbreche. Diese literarische Strategie entspringt einem Verständnis von „Modernität", demzufolge die Literatur in der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft sich gegen ihren objektiv reaktionären Status 123
Institution der herrschenden Klasse zu sein - auflehnt, ohne ihn von sich aus überwinden zu können. Sie existiere in dem ständigen Dilemma, sich dem Konsensus der herrschenden Kultur entziehen zu wollen, in den sie doch - a l s Literatur - eingebunden bleibt. Was Roland Barthes als den „reduzierten Zustand", was Gérard Genette als die ^buchstäblich unhaltbare Position" der modernen Literatur empfunden hatten, bezeichnete Robbe-Grillet als deren Existenz in einer andauernden Spannung zwischen „Ordnung und Unordnung, wobei wir letztlich weder das eine noch das andere ertragen können".14 Hier wird ein Krisenbewußtsein ausgesprochen, für das die Problematik des Überganges absolut geworden ist. Denn die Kritik an der (bestehenden) „Ordnung" wird allein aus d e r e n Horizont, nicht aus einer geschichtlichen Perspektive ihrer Aufhebung entwickelt. Dies führt unter anderem zu einer Haltung der Verweigerung, des Kooperationsentzuges, die nicht nur Abbildung, sondern auch Kommunikation zurückweist. Mit dem lesenden, also bürgerlichen Publikum (denn wer lese sonst?) zu kommunizieren, bedeute nichts anderes, als dessen Lektürecodes, dessen gesellschaftlich normierte Ordnungsvorstellungen und Sinnerwartungen zu bestätigen. Weil der neue Roman aber, wie Robbe-Grillet in Cérisy sagte, „auf der Suche nach einem neuen Menschen ist, wendet er sich nicht an ein Publikum, das schon existiert" 15 ; jedes neue Buch erfindet seine Leser. Das heißt: Die Zerstörung der Fiktionsgewißheit und die Ausstellung der Mittel, mit denen diese Wirkung erreicht wird, soll den (aufmerksamen) Leser „von der Suche nach einem sich ständig entziehenden Inhalt abhalten und ihn zum Nachvollzug" 16 der Produktionsprinzipien des Textes auffordern. Eben diese Strategie ist als Instrumentalisierung des Lesers (so unter anderem von Sartre) kritisiert worden. Denn wenn der Text vor allem seinen eigenen Code mitteilte, werde die Aktivität des Lesers auf den Nachvollzug einer sprachlichen Struktur, auf die Teilhabe an der produktionsästhetischen Gesetzlichkeit des Werkes eingeschränkt. Nun wird jedoch diese Teilhabe, am nachdrücklichsten von Ricardou, in einem emphatischen Sinn gedacht : Die (ideale) Identität von Autor- und Lesercode manifestiere sich erst in einer Rezeptionsform, die nicht mehr Kommentar oder Interpretation ist, sondern ein neuer Text, also selber Ausübung des Schreibens. Der „moderne Text" fordere gerade dazu heraus, die Kluft zwischen Schreibenden und Lesenden, zwischen Produzenten und Konsumenten zu überwinden. Sofern dieses Konzept gegenwärtig funktioniert, hat es die „mo124
derne" oder „avantgardistische" Literatur in ihrer elitären und Randexistenz noch bekräftigt - eine Literatur von und für Literaten. Zugleich ist dieses Konzept die sehnsüchtige Utopie einer Gesellschaft, in der es weder „Literatur" noch „Literaten" gibt, in der Schreiben und Lesen verallgemeinertes Bedürfnis und verallgemeinerte Tätigkeit werden. Gerichtet gegen den Roman, wie er bisher meistenteils noch funktioniert, und hoffend auf eine Praxis des Schreibens und Lesens, die kein besonderer, dem Alltag enthobener Bereich mehr ist, tendiert der Nouveau roman, anders als die Avantgarden, freilich nicht zur „Überführung der Literatur in Lebenspraxis".17 Er arbeitet weder darauf hin, die literarische Fiktion dem Leben anzunähern, noch will er eine operative Funktion in den sozialen und politischen Kämpfen seiner Zeit übernehmen. Der Nouveau roman ist vielmehr eine Opposition gegen die Ordnungen der „Lebenspraxis" u n d der Literatur eine Opposition, die sich im Spiel, in der Konstruktion, in der „Literarizität" zu behaupten sucht. Von dieser Literatur sind unbestreitbar produktive Einsichten in die sprachliche Existenz des literarischen Werkes, eine tatsächliche Veränderung der Lektüreweisen und Impulse für die Wandlung der „literarischen Ansichten" ausgegangen. Durch ihre Existenz bezeugt sie - das heißt, sie benennt nicht und sie erkennt nicht, sondern sie g i b t zu e r k e n n e n - die Widersprüche einer antagonistischen Gesellschaft, die die lange unangefochtene Einheit d e r französischen Literatur zerrissen haben und die sich Ausdruck verschaffen im Kampf, der im Inneren dieser Institution und gegen sie stattfindet. Im Nouveau roman und in seiner Ideologie sehen wir die Zeichen eines Widerstandsgeistes, der sich in den Poren der Gesellschaftsordnung, die er nicht ertragen kann, eingerichtet hat - in den (von Robbe-Grillet so bezeichneten) letztlich noch verbliebenen Freiräumen der „spielerischen Organisationen"18. Zurückgezogen auf diesen Freiraum und zugleich feindlich gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft, die ihren Intellektuellen diesen noch gestattet, vollführt der Nouveau roman selber jene Geste, die im Innern seines Innovationsprinzips steckt: auf die eigne Überholungswürdigkeit zu weisen.
Tamara W. Balaschowa
Realismus im westeuropäischen Roman der sechziger und siebziger Jahre
Die künstlerischen Veränderungen, die sich in der westeuropäischen Literatur seit Ende der sechziger Jahre abzeichnen, bestätigen, daß Geschichte und Literatur zwei auf komplizierte Weise kommunizierende Gefäße sind. Soziale Erschütterungen ziehen zwangsläufig ästhetische Erschütterungen nach sich, und zwar teilweise auf unerwartete, seltsame Art, ganz und gar nicht so, wie Literaturwissenschaftler es voraussagten. Lange Zeit bevor die Wände der Universitäten und die Schlagzeilen der linken Presse von antiutilitaristischen Losungen strotzten, begann die Kunst die Legende von der erblühenden kapitalistischen Gesellschaft zu zerstören. Es erschienen Irrlicht und Feuer (1963) von Max von der Grün, Quoto ou les plethoriens (1966, Das Verkaufsgenie) von Vercors, Age de nyloti (1959/63, Das Nylon-Zeitalter) von Elsa Triolet, Bullet Park (1969, Die Bürger von Bullet Park) von John Cheever, The Desperadoes (1961, Die Desperados) von Stan Barstow, La noia (1960, Die Langeweile) und L'automa (1963, Das schöne Leben) von Alberto Moravia. Entgegen der trügerischen Hoffnung, mehr Menschen würden im Verlaufe der kapitalistischen Entwicklung durch das freie Unternehmertum mehr Chancen erhalten, wurde im Roman die besorgte Frage aufgeworfen: Welchem Zweck dient das? Stirbt nicht die Seele, nachdem sie alles erworben hat, was sie scheinbar begehrte? Zu Beginn der siebziger Jahre hatte der Roman seine Aufgabe anscheinend erfüllt. Gerade zu diesem Zeitpunkt, als die Soziologen sich mit der Erforschung des Konsumfiebers befaßten und die Politiker und sogar die Unternehmer selbst plötzlich zur Askese aufriefen, ließ die Aufmerksamkeit des Romans für diese Problematik nach: Die Kunst konnte und wollte nicht auf der Stelle treten. Um so mehr, als die Attacke auf die Konsumentengesellschaft reaktionäre Ausmaße unterschiedlicher Schattierungen annahm: Zum Hauptkonsu126
menten wurde die Arbeiterklasse erklärt, die nicht gesonnen war, aus ihren Programmen materielle Forderungen auszuschließen. Es müßte die jüngste geistige Erfahrung ausgewertet, es mußten soeben entstandene Legenden zerstört werden. Dem revolutionären Aufbegehren, das gegen Ende der sechziger Jahre durch die Hauptstädte der kapitalistischen Länder wogte, folgte eine Menge politischer Romane mit jungen Idealhelden als Hauptgestalten und mit Darstellungen von Aufständen, durch die sofort alle zu politischen Menschen wurden. Und es kam jene Zeit, nach der sich Roger Vailland kurz vor seinem Tode im Jahre 1965 sehnte, als er seine Landsleute aufrief, in die Politik einzudringen, sich als politische Akteure zu fühlen, anstatt träge die Zettel in die Wahlurne zu stecken und für einen Deputierten zu stimmen, nur weil den Leuten dessen Gesicht auf dem Bildschirm sympathisch schien. Diejenigen, die im Mai 1968 auf die Straßen gingen, ähnelten ganz und gar nicht mehr der berüchtigten „schweigenden Generation". Man hätte erwarten können, daß der Roman dies nun als Triumph feiere, indem er nämlich Gesichter von Menschen zeigte, die vom Zukunftsglauben und von freudiger Erregung beseelt sind. Aber ein ernst zu nehmender Schriftsteller hat immer einen feinen Spürsinn für Widersprüche und Unzulänglichkeiten. Die Künstler hatten kaum Muße gefunden, das Erwachen politischer Aktivität zu begrüßen, da mußten sie bereits sorgfältig differenzieren: zwischen Aktivität und Scheinaktivität, zwischen linken Ansichten und Pseudoradikalismus, Aktivität und Anarchismus, zwischen reifer Entschlossenheit und naiver Begeisterung für eine starke Persönlichkeit, zwischen sozialistischen Idealen und ihrer Vertauschung durch ein dogmatisches Surrogat - das alles verschmolz mit dem geschichtlichen Panorama; der Roman mußte seine Farben klären, die Grundtöne hervorheben, die Hauptlinien seiner Konstruktion aufdecken. Fast in allen Ländern gleichzeitig erschienen zu Beginn der siebziger Jahre Werke, mit denen die Legende vom Überfluß widerlegt wurde. Zu diesem Zeitpunkt war allen klar, daß materieller Überfluß Geistlosigkeit bedeuten kann, aber für viele blieb es ein Geheimnis (oder vielmehr wurde es unter dem Einfluß der verdummenden Propaganda zum Geheimnis), daß ein bedeutender Teil der Bevölkerung überaus weit von einer materiellen Übersättigung entfernt war. Bei der Aufdeckung der gesellschaftlichen Mißstände, die einfach dem Fortschritt der Technik zugeschrieben wurden, sanken viele immer tiefer die soziale Stufenleiter hinab, und die Schriftsteller 127
erkannten die dabei zutage tretenden Klassengegensätze. Ein Romanzyklus über Arbeiteremiigranten in Frankreich, die Bücher des finnischen Prosaikers Hanmu Ylitalo, das Stück von Sara Lidman Marta, Marta (1970, Marta, Marta), das Buch Huelga (1970, Der Streik) von David Chandler, Werke, die dem Werkskreis „Literatur der Arbeitswelt" in der BRD entstammen (von Max von der Grün, Günter Wallraff, Peter Schütt, Erika Runge) oder die die Unzufriedenheit des Volkes in Österreich widerspiegeln (zum Beispiel Michael Scharang: Der Sohn eines Landarbeiters, 1975), enthüllten die Welt furchtbarer Armut in einer Gesellschaft, die sich als übersättigt bezeichnet hatte. Im westeuropäischen Roman tauchten Helden auf, die auch heute inmitten des Nylonjahrhunderts - verzweifelt um die Befriedigung elementarer materieller Bedürfnisse 'und um soziale Gleichheit kämpfen. Die Hinwendung zu anderen s o z i a l e n Sphären zog zugleich auch neue p s y c h o l o g i s c h e Fragen nach sich, was sich in der künstlerischen Struktur der Werke niederschlug. Eine, gewisse Veränderung wurde auch in der Aussage durch den Helden selbst erforderlich: Völlig unterschiedlich gehen beispielsweise der Student Menestrel und der algerische Arbeiter Abdelaziz im Roman Derrière la vitre (1970, Hinter Glas) von Robert Merle an das Problem der Entscheidung für einen bestimmten Lebensweg heran. Wenn 1 die Entscheidung von metaphysischen Höhen auf die Erde heruntergeholt wird, verändern sich sowohl der innere Monolog als auch der Charakter der Sprache. Die Rolle des dokumentaristischen Fakts Wächst, und die Sujetsituation ist genau umrissen. : Die Schriftsteller zwingen oft auch diejenigen Helden zum „Sprechen", die im Verlauf der ganzen Romanhandlung oder der Erzählung kaum zwei Worte saigen und die nicht fähig sind, zwei zusammenhängende Gedanken auszusprechen. Solch ein Experiment hat zum Beispiel der französische Schriftsteller Pascal Lainé in La dentellière (Die Spitzenklöpplerin, Goncourt-Preis 1974) unternommen. Fast genauso wie Mister Higgins m Pygmalion (1912, Pygmalion) von Bernhard Shaw widmet sich der Student Aimery der „•Seelenerziehung" seiner Geliebten - einer Reinemachefrau in einem Friseurgeschäft. Er erleidet eine Niederlage: Das Mädchen ist unbeirrt schweigsam und unbeeindruckt; mit gleichbleibender Ruhe, die dem jungen Mann als Gleichgültigkeit erscheint, besucht sie mit ihm Konzerte, geht am Meer spazieren, kocht sie Essen, teilt sie mit ihm das Bett. Wenn sie in Bewegung ist, scheint sie die Weisheit selbst — schön und graziös sprechen ihre Hände, wie die jener Spinnerinnen, 128
deren Meisterschaft den märchenhaften Schleier hervorgebracht hat. Sobald aber die Heldin die Hände in den Schoß legt, scheint sie ungelenk und stumpfsinnig. Erst viele Monate später erfährt der junge Mann, daß das schweigsame Mädchen eine „sprechende", feinfühlige Seele hatte. Während er die Kultur nur oberflächlich aufnimmt und als faktisches Wissen speichert, ohne damit sein Gefühlsleben zu bereichern, saugt sie sie im Gegensatz dazu wie ein Schwamm auf. Ihre Stummheit rührt nicht von mangelndem Gefühl her, sondern vom Unvermögen, es auszudrücken. Dem künstlerischen Erfassen der Stummheit, zu der in der bürgerlichen Gesellschaft ganze soziale Schichten verurteilt sind, wandte sich das Theater der B R D zu. Die jungen Dramatiker Franz Xaver Kroetz, Jochen Ziehm, Martin Sperr und andere wollten den von der Kunst sehr weit entfernten Alltag von „Mietern, Angestellten, U-Bahn Benutzern" 1 rekonstruieren, und deshalb störte sie die Sprache, die sich zu Formeln abgeschliffen hatte, störte sie die Anwesenheit jedes sprechenden Gegenstandes auf der Bühne. Sie bemühten sich, die Alltäglichkeit durch Gesten und Wortlo&igkeit der Helden wiederzugeben. Es entstand ein anderer Stil, das künstlerische Detail gewann einen neuen Inhalt. Es erhebt sich die Frage, ob die Schriftsteller dieser Phase die Erfahrung des modernistischen Romans genutzt haben, der uns in reichlichem Maße den modernen Typ des inneren Monologs veranschaulicht. Vor allem muß darüber nachgedacht werden, ob man die Beherrschung des inneren Monologs im Roman des 20. Jahrhunderts mit dem Modernismus in Verbindung bringen kann. In gewisser Hinsicht ist das wohl möglich, wenn auch keineswegs so vorbehaltlos, wie das mitunter geschieht. Der modernistische Roman hat, bei aller Vielfalt seiner Formen, vorzugsweise nur einen Typ des inneren Monologs hervorgebracht, den Typ nämlich, wo der Held, wie in den Werken von Samuel Beckett, vom absurden Verlauf der Ereignisse überwältigt wird und gar nicht versucht, die Vorgänge zu begreifen. Solch eine Erzälhlform setzte nicht das künstlerische Aufspüren dialektischer Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten voraus. Wenn zum Beispiel Joseph Heller (USA) in seinem Roman Sometbing Happened (1974, Was geschah mit Slocum?) ausführlich den inneren Monolog eines Menschen wiedergibt, der übersättigt ist und dem der Sinn seines Daseins verlorengegangen ist, so enthüllt er doch auch die Folgerichtigkeit dieses tragischen Aufstiegs, und wir nehmen nicht so sehr die Erfahrung des modernisierten Monologs wahr als viel9
Romane
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mehr die Polemik mit seinem Grundprinzip - der naturalistischen Rekonstruktion der Gedankensprünge. Noch tiefere psychologische Schichten deckt der Roman Cinco horas con Mario (Fünf Stunden mit Mario) von Miguel Delibes auf, der von der ersten bis zur letzten Seite ein innerer Monolog ist - ein Gespräch der Heldin mit ihrem verstorbenen Ehemann. Der Gedankengang entwickelt sich seltsam, greift aus dem Durtkel des Gedächtnisses zuerst Fakten von geringerer Bedeutung heraus, verkettet sie dann mit irgendwelchen anderen und wiederholt dabei Hunderte Male ein und dieselbe Episode, ein und denselben Vorwurf - scheinbar eine völlig typische Anhäufung von Gedankensplittern. Aber mit jeder Wendung wird der Gedanke der Heldin für den Leser weniger annehmbar: Die Heldin suggeriert uns mit zahlreichen Argumenten, daß man sich im Leben anpassen, sich ein warmes Plätzchen sichern muß; die Schriftstellerin aber will uns mit ihren ureigensten Worten davon überzeugen, daß man um eines hohen Ideals willen leben muß. Die realistische Form des inneren Monologs läßt uns annehmen, daß der Autor nicht gewillt ist, die Welt aus fatalistischer Sicht für absurd zu halten, und daß er die Sprache jedes seiner Helden durch seinen, des Autors Blick auf die sich entwickelnde Wirklichkeit korrigieren kann. Natürlich ist die Hinwendung der modernen Literatur zu Helden bezeichnend, die nicht geneigt sind zu dulden, sondern kämpfen, die in sich die Kraft finden, dem Druck der zynischen bürgerlichen Moral zu widerstehen, wie zum Beispiel Mario Diez Collado bei Delibes. Von den Werken der siebziger Jahre rufen am häufigsten die Bücher unsere Aufmerksamkeit hervor, in denen dem Helden gewissermaßen zugerufen wird: „Ja, du bist in einen unbarmherzigen Kreislauf geraten, du bist das Opfer der Umstände, die stärker sind als du selbst, aber auch unter gleichen Umständen verhalten sich die Menschen völlig unterschiedlich. Auf verschiedene Weise nehmen sie Freude und Kummer auf, auf verschiedene Weise leisten sie dem Sturm Widerstand, und sogar aufs Schafott steigen sie auf verschiedene Weise . . . Trägst du nicht auch Schuld daran, daß die Welt unvernünftig, völlig unvernünftig ist und daß die Lebewesen, die von ihrem Trubel umgeben sind, einander nicht mehr verstehen?" Der Künstler sieht im Helden die Energie des Widerstandes gegen die entpersönlichenden Bedingungen des Daseins voraus: Martin Walser in den neuen Freunden Gallistl's (Die Gallistl'sche Krankheit, 1975), James Aldridge in seinem unbezähmbaren MacGregor aus Mockery 130
in Arms (1974, Kein hoffnungsloser Fall), Max von der Grün in Karl Maiwald (Stellenweise Glatteis, 1973), John Waine in Furnival (A Winter in the Hüls, 1970, Ein Winter in den Bergen), Raymond Williams in Dick Manning, der zum politischen Aufstand aufruft (The Second Generation, 1964, Die zweite Generation), John Gardner in Henry Soames, der in der Finsternis des Zorns selbstlos sein kann {Nickel Mountain, 1973, Nickelberg), James Baldwin in der jungen Tish, die das Recht auf Liebe verteidigt (// Beale Street Could Talk, 1974, Beale Street Blues), Raymond Jean in seiner fürsorglichen Frauengestalt Véronique {La femme attentive, 1974, Verborgene Spiegel). Das Wesen einer derartigen Umorientierung des Interesses hat Franz Xaver Kroetz sehr gut ausgedrückt: „Ich hatte in meinen frühen Arbeiten doch eine außerordentliche fatalistische und undialektische Art, Menschen zu sehen . . . Heute interessieren mich vielmehr dialektische Vorgänge, wo wird einer wie getreten, und wie reagiert er nicht nur als Pfannkuchen, bayerisch gesagt. Das für mich wichtigste ist, daß ich heute die Sache kämpferischer, positiver und den Menschen aktiver sehe."2 Das Interesse für aktive Naturen, für die Kraft des Widerstandes hat selbstverständlich die Poetik und die Struktur des Romans verändert. Der am weitesten verbreitete Romantyp, der die Torheiten der bürgerlichen Zivilisation enthüllte, tendierte zu einer aufgebrochenen Komposition, zu einem flimmernden Wechseln von Szenen, einer nervösen Anspannung des Stils. Der Druck der Dinge und Laute, der aufreibenden Gesten und Bewegungen wurde fast nur physisch wiedergegeben - durch den Aufbau der Darstellung insgesamt. Der Leser sollte vom Lesen ebenso kaputt gemacht werden wie die Helden vom Leben. Will man die Hauptlinien des unbarmherzigen Kreislaufs unterscheiden, muß man ein wenig zur Seite treten und seine Geschwindigkeit künstlich bremsen, um diesen Prozeß beobachten zu können. Dann erfaßt das Auge leichter die ästhetische Struktur, die von dem ständigen Rhythmus verwischt wird. Daher rührt vielleicht - als eine charakteristische Tendenz - die Vorliebe für eine ruhige Tonart, einen ausgewogenen Satzbau, den gemächlichen Übergang von Szene zu Szene. Beharrungsvermögen sprüht aus der Komposition des Nickel Mountain von John Gardner, deutlich sind die Sujetlinien in If Beal Street Could Talk von Baldwin, ganz allmählich entwickelt sich die Handlung in La dentellière, vollendet und vielschichtig sind die Charaktere in Roman songe (1976, Roinan9*
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Traum) von André Stil, dem ausgewogensten und künstlerisch-geschlossensten Buch des Autors. Bs ist wohl bezeichnend für die literarische Situation der siebziger Jahre, daß der größte Realist Spaniens, Miguel Delibes, der in seinen Werken der fünfziger Jahre zu emotional expressivem Aufruhr neigt, in den Büchern, die durch den Aufschwung des gesellschaftlichen Kampfes in Spanien entstehen, zu genauer künstlerischer Analyse und Reproduktion der Ursachen und Folgen sowie der sozial-psychologischen Gesetzmäßigkeiten übergeht. Die Künstler wählen immer häufiger als Gegenstand ihrer Untersuchung eine Persönlichkeit, die nicht „wie ein Pfannkuchen" reagiert. Aber der Akzent wird nicht auf die Handlung selbst gesetzt, sondern auf die Psychologie der Persönlichkeit, die über die Art und Weise dieser Handlung nachdenkt. Im Roman der siebziger Jahre erscheinen häufig Vertreter der als „Masse" bezeichneten Klasse, die eine entscheidende Rolle auf der Bühne des sozialen Kampfes spielt. Hier wird gewissermaßen die Tradition des sozialen Romans der dreißiger Jahre aufgegriffen. Nur sind die Charakterbilder derer, die zu Protest und Aktion neigen, weitaus differenzierter und komplizierter. Diese „Masse" oder „coralità", wie die italienische Kritik schreibt, äußert sich heute in vielen verschiedenen Willensbekundungen. Ein „Chor" oder ein Kollektiv ist vielgesichtig und unbeständig (man braucht bloß an das Auf und Ab der Bewußtseinsbildung in jenem Arbeitskollektiv zu erinnern, das Maiwald, der Held von Stellenweise Glatteis, in den Kampf zu führen versucht): Verschiedene Stimmen widersprechen bald einander, bald ähneln sie irgendeiner besonderen Melodie, bald klingen sie einmütig und bestimmen die Tonalität des Werkes. Das erweitert natürlich den Horizont des Realismus in der Gegenwart. Der Roman hat eine Vielzahl von ideologischen Grundpositionen sowie die soziale Bedingtheit von Illusionen, von Schwankungen und Entscheidungen festgehalten. Der aufmerksame Blick des Künstlers vermerkt gewissermaßen alle Abstufungen von gesellschaftlichen Stimmungen: die Träume vom „schönen" Leben und die Enttäuschung, die revolutionären Regungen und die Vorurteile, die Unzufriedenheit mit der bürgerlichen Ordnung und die Zweifel am Sozialismus, das Drängen nach Aktion und das Unvermögen, seine Energie nutzbringend anzuwenden. Auf beiden Seiten jener Scheidelinie, die die bürgerliche Gesellschaft teilt, gibt es eine Masse von Übergängen, und mit ihnen befaßt sich heute ein bedeutender Teil der Romanautoren. 132
D i e Erfahrung der unruhigen sechziger Jahre verlangt, die politische Aktion nach ihren Resultaten einzuschätzen: Welches Ziel hatte sie? Wer zog aus ihr Gewinn? Was veränderte sich danach? D i e Gefährlichkeit einer ziellosen politischen Hektik sah Julio Cortazar voraus : „Um mit der Aktion beginnen zu können, muß man im voraus vollkommen ruhig sein . . . Jedes Handeln bedeutet, daß wir uns von etwas abstoßen . . . zu etwas kommen . . . , das heißt, in jedem Akt versteht es sich von selbst, daß etwas Ungetanes unbedingt getan werden muß." 3 Das ist etwas, was uns dem Sozialismus näher bringt. Eben nach diesen Maßstäben muß die Zweckmäßigkeit jedes Handelns gemessen werden. Für viele Schriftsteller des Westens gibt es nur eine unbestreitbare Alternative: D e r Ausweg aus der Krise der kapitalistischen Gesellschaft kann nur auf dem Weg der sozialistischen Umgestaltung gefunden werden. „Ich war Sozialist und bleibe es . . . ich bin von der sozialistischen Zukunft der Welt überzeugt und stelle sie nicht in Zweifel" 4 , sagt Hervé Bazin; „die praktische Vorstellung vom Typ der Zukunft gibt uns der Sozialismus" 5 , ist auch Julio Cortazars Überzeugung. D e r Sozialismus wird längst nicht mehr nur als irgendeine beliebige ökonomische Struktur betrachtet, auch nicht bloß „als weitaus mehr denn nur neue Komitees und ein System der sozialen Versorgung" 6 , wie Raymond Williams sagt, sondern als andere Weltanschauung und andere ethische Position. D i e hohen moralischen Ziele, um die in der kapitalistischen Gesellschaft gekämpft wird, „um schon jetzt so zu leben, wie wir in der Zukunft leben wollen" 7 (Julio Cortazar) - das sind die Kriterien echten sozialen und politischen Handelns. Allzu viele Aktionen der späten sechziger Jahre sahen nur äußerlich revolutionär aus, allzu behende setzten trotzkistische Gruppierungen Hammer und Sichel auf ihre Fahnen, und allzu unterschiedliche Konzeptionen buhlten um den Begriff „Sozialismus", als daß ein ernsthafter Schriftsteller eine solche „Politisierung der Massen" begrüßen konnte, ohne den wirklichen Sinn einer derartigen Politisierung zu ergründen. D i e Geschichte setzte den Sozialismus auf die Tagesordnung: D i e Literatur befaßte sich mit der Erkundung der neuen menschlichen Züge, denen die sozialistische Gesellschaft entsprechen wird. D e r progressive Roman der sechziger und siebziger Jahre trat temperamentvoll gegen politisches Abenteurertum auf und zwang dazu, jedes einzelne historische Ereignis von dem Standpunkt zu
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bewerten, ob es die Persönlichkeit des Menschen emporhob oder degradierte. Die Chronik der Studentenbewegung wurde in einer Reihe von Büchern zum Gewebe eines Sujets, das zu neuen Reflexionen über den Menschen und die Eigenschaften der menschlichen Seele führte, die die Revolution zu entfalten, aber nicht zu vernichten berufen ist. Ohne diesen philosophischen Hintergrund ist die Verkettung der Kapitel im Roman von Robert Merle Derrière la vitre schwer zu verstehen, ebenso die Bekenntnisbriefe, die das Buch der italienischen Schriftstellerin Natalia Ginzburg Caro Micbele (1973, Teurer Michele) beinhaltet. Das gilt genauso für die Situation im Schauspiel des Irländers Brian Friel Freedom of the City (1973, Ehrenbürger), für das allegorische Romanwerk Cuando quiero llorar no lloro (1970, leb weine nicht) von Miguel Otero Silva, für die Charakterkontraste in den Romanen von John Updike: Rabbit Redux (1971, Unter dem Astronautenmond) oder von John Gardner: The Sunlight Dialogues (1972, Sonnenscheindialoge). Der politische Roman konnte in der besonderen Situation - nach dem stürmischen europäischen Mai 1968 - nicht zugleich psychologisch (oder gar psychologisch überspannt) sein. Es war zu zeigen, wie gefährlich eine zerstörerische Kritik ohne eigenes positives Programm ist, wie terroristische Medizin die Krankheit ausweitet, statt sie zu heilen, in welchen Abgrund ein Bürger geraten kann, der sich ohne Rücksicht für „grenzenlos frei" hält und meint, daß der Sozialismus mit Barbarei einhergehe. Die politische Aktualität des Romans der siebziger Jahre ist ohne seine psychologische Durchdringung der Realität allerdings nicht denkbar - ein weiteres Merkmal seiner Entwicklung. Gegenwärtig kann man schwer sagen, ob der Roman mehr der inneren oder der äußeren Welt zugewandt ist. Das spezifische Moment besteht gerade darin, daß diese Dominanten gründlicher als früher verschmolzen sind. Die Ereignisse der Geschichte bahnten sich mit Macht ihren Weg in die Kunstwerke, ohne daß die Persönlichkeit in den Hintergrund trat: Im Gegenteil, gerade die Wechselbeziehung zwischen beiden erfüllte den Roman. Der Ereignisroman (der mitunter ein ausgeprägtes Sujet hatte) erwies sich gleichzeitig als reflektierend, behutsam, aufmerksam gegenüber allen psychologischen Schattierungen. Die Mehrzahl der in den siebziger Jahren publizierten Bücher ist ihrem äußeren Schein nach nicht allzu „modern". Auch sind sie nicht kraß auf Aktualität gerichtet, sondern behandeln sowohl momentane 134
als auch über etliche Jahrzehnte hinweg „andauernde" Konflikte. Obgleich konventionelle Erzählweisen nach wie vor eine große Rolle spielen, überwiegen doch dokumentarische Formen und solche, die zur genauen Reproduktion von Details tendieren. Die fiktionale Erzählkonvention tritt in den Hintergrund; die Schriftsteller wenden sich ihr seltener und mit Vorsicht zu. Als Scheide zwischen den sechziger und siebziger Jaihren erwies sich unerwartet das Bemühen um einen strengeren Stil. Die Schriftsteller selbst erklärten das aus der Wirkung jener gesellschaftlichen Erschütterungen der sechziger Jahre und aus dem Wunsch, das Leben von einer neuen Warte zu betrachten, seine Lehren zu akzeptieren, aber auch damit, daß das avantgardistische Experimentieren erschöpft sei. Über den „zweiten Atem" des traditionellen Romans sprachen die französische und die italienische Kritik, zu den realistischen Quellen brachen die jungen Autoren Spaniens auf, den Terminus „neuer Naturalismus" verwendete man zur Erklärung des Phänomens, das das junge Theater der BRD darstellte. Insofern als die aufsehenerregendsten Schulen der sechziger Jahre eben formalistische Schulen waren, die außer Manifesten nichts vorlegen konnten, unterließ man es bis zum heutigen Tag, eine „Rückkehr zum Realismus" anzuerkennen. Dabei ist es richtiger, von einer R e a l i s m u s b e w e g u n g zu sprechen. In der Tat ist der kühne Blick auf die untersten Stufen der Gesellschaft absolut frei von populistischem Mitleid. Die Auswahl der Helden aus der Mitte derer, die sich dem Druck der Verhältnisse widersetzen können, die sorgfältige Analyse der sozialpsychologischen Besonderheiten bei den einzelnen sehr unterschiedlichen Menschen - wobei von jedem von ihnen schließlich abhängt, welches Gesicht der Sozialismus in diesem oder jenem zur Zeit noch kapitalistischen Land tragen wird - , von dieser Palette des modernen Romans sind neue ästhetische Lösungen vorausbestimmt, die gleichzeitig in dem Maße reifen, wie die Schriftsteller den revolutionären Prozeß der Gegenwart durchdenken. Übersetzt von Gudrun Wegner
Jasen N . Sassurski
Oktoberrevolution, revolutionärer Weltprozeß und die Literatur der USA
D i e G r o ß e Sozialistische Oktoberrevolution eröffnete die neue Phase der allgemeinen K r i s e des Kapitalismus und bestimmte die Richtung des revolutionären Weltprozesses. In der amerikanischen
Literatur
w a r die Widerspiegelung des revolutionären Weltprozesses und seiner Haupttendenzen
im 20. Jahrhundert zuallererst mit dem
Schaffen
John Reeds verbunden, der zum Chronisten der Oktoberrevolution wurde und der in seinem Wirken den untrennbaren Zusammenhang zwischen Literatur und revolutionärem Prozeß bezeugte. Auch vor der Oktoberrevolution hat die amerikanische Literatur in bedeutendem G r a d e den Gang des revolutionären Prozesses widergespiegelt. D i e E r f o l g e amerikanischer sozialistischer Schriftsteller, die Veröffentlichung der Mutter
von M a x i m Gorki in den U S A sowie
das aktive Auftreten vieler sozialistischer Dichter erlauben die Feststellung, d a ß es in der Literatur der Vereinigten Staaten von Amerika am Vorabend des ersten Weltkrieges und der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution bedeutende sozialistische Tendenzen gab, die von vielen
Dichtern, Schriftstellern
und Dramatikern
unterschiedlicher
Bedeutung und unterschiedlichen Talents vertreten wurden: V o n Jack London
(1876-1916)
und Upton Sinclair ( 1 8 7 8 - 1 9 6 8 ) ,
von Carl
Sandburg ( 1 8 7 8 - 1 9 6 7 ) und J o e Hill ( 1 8 7 9 - 1 9 1 5 ) , von John Reed ( 1 8 8 7 - 1 9 2 0 ) und Eugene O'Neill ( 1 8 8 8 - 1 9 5 3 ) und von E r n e s t Poole ( 1 8 8 0 - 1 9 5 0 ) . Sie alle waren, wenn auch in unterschiedlichem Maße, mit der amerikanischen sozialistischen Bewegung verbunden. D i e Oktoberrevolution hat allein durch die Schaffung des jungen Sowjetstaates eine welthistorische Perspektive
eröffnet;
sie
zwang
dazu, die bürgerliche Gesellschaft auf eine neue A r t zu betrachten. Dies bewirkte, daß sich das soziale Bewußtsein in der Gesellschaft und das der Künstler erheblich erhöhten. D a s anschaulichste Beispiel dafür ist John Reed, der sich zur Kommunistischen Partei bekannte. Aber sogar Schriftsteller,
die
zunächst
136
sozialistische Auffassungen
vertraten, dann aber wieder auf gemäßigte Positionen zurückkehrten, haben dabei keineswegs die Welt weniger kritisch wahrgenommen; in vielen Fällen verschärfte sich ihre Kritik. Sinclair Lewis (1885-1951) sah, nachdem er sich von der aktiven Tätigkeit in der sozialistischen Bewegung zurückgezogen hatte, die Laster der bürgerlichen Welt weitaus intensiver. Wenn er als Sozialist vor der Oktoberrevolution noch keine Wege zur Schaffung einer Gesellschaft sah, in der andere Gesetze als die der bürgerlichen Welt herrschten, so bereicherte nach der Oktoberrevolution, wo eine solche Gesellschaft Wirklichkeit geworden war, die Einsicht in den vergänglichen Charakter der bürgerlichen. Ordnung Sinclair Lewis als Künstler und Denker, und es eröffneten sich ihm neue Perspektiven, auch wenn er unter diesen Bedingungen keine revolutionären Lebenskonzeptionen schuf. Andere Schriftsteller, welche dem Sozialismus fernstanden, fanden in ihrer angestrengten Suche nach der Wahrheit des Lebens dank der Oktoberrevolution den Weg zum Sozialismus - dies war zum Beispiel die Entwicklung Theodore Dreisers (1871-1945). Die Tatsache, daß die Grundlagen der bürgerlichen Welt erschüttert wurden, rief bei vielen bürgerlichen Schriftstellern die Angst vor einer heftigen Katastrophe hervor, eine Ahnung des Zusammenbruchs der Welt. Das war besonders bei jenen der Fall, die in den zwanziger Jahren, nach der Teilnahme am ersten Weltkrieg, zur Literatur gelangten. Ihr Empfinden dafür, daß ihre Welt dem Untergang geweiht sei, war verbunden mit einem tiefen Humanismus und verlieh so ihrem Werk besondere Kraft und Schärfe und ein Gefühl von der Dynamik des Lebens. Ernest Hemingway (1899-1961), Francis Scott Fitzgerald (1896-1940), John Dos Passos (1896-1970) und William Faulkner (1897-1962) gaben ganz verschiedenartig das neue menschliche Weltempfinden wieder, das mit der Veränderung des Charakters der amerikanischen Gesellschaft selbst verknüpft war; sie reflektierten in unterschiedlichem Maße die Tragödie des humanistischen Künstlers unter den Bedingungen des bürgerlichen Amerikas. Das gleiche Gefühl der Angst vor der Katastrophe und dem Weltuntergang nahm im Schaffen von Vertretern der modernistischen Literatur, die Ende der zwanziger Jahre ihre Zugehörigkeit zu konservativen Kreisen offenbarten, apokalyptische Formen an und ließ sie nicht mehr an den Menschen glauben. T. S. Eliot (1898-1965) und Ezra Pound (1885-1972), die am Vorabend der Oktoberrevolution noch mit sozialistischen Künstlern in einer gemeinsamen Front gegen die apologetische Richtung aufgetreten waren, verloren das Gefühl für die Wirk137
lichkeit und die Beziehung zu ihr; sie wandten ihren Blick der Vergangenheit zu und wurden zu aktiven Gegnern der Fortschrittskräfte. Eine Besonderheit in der Entwicklung der amerikanischen Literatur der zwanziger Jahre liegt darin, daß der reaktionäre Charakter des Modernismus recht früh enthüllt wurde. In den dreißiger Jahren wurde seine Rückschrittlichkeit noch offensichtlicher, als er sich in vielen Fällen mit den Kräften der faschistischen Reaktion verband. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 führte zu einer verstärkten Wechselwirkung zwischen der amerikanischen Literatur und den großen sozialen Bewegungen. Eine Quelle für das Aufblühen der realistischen amerikanischen Literatur jener Jahre, die Schriftsteller verschiedenster Haltungen und Richtungen vereinigte, war das Streben nach einer Erneuerung der Struktur der amerikanischen Gesellschaft. Dies wurde besonders markant von jenen Schriftstellern ausgedrückt, die sich für die sozialistischen Ideale begeisterten. Über diese Erneuerung sprachen und dachten auch Schriftsteller nach, die der sozialistischen Weltanschauung durchaus fernstanden, wie Hemingway, John Steinbeck (1902-1968), Dos Passos und sogar Faulkner in The Hamlet (1940, Das Dorf). Als die USA Ende 1941 in den Krieg gegen den Faschismus eintraten, verstärkten sich die antifaschistischen Stimmungen im Lande und die antifaschistischen Tendenzen in der Literatur. Aber gleichzeitig setzte in der Kunst eine Offensive des liberalen Reformismus und der bürgerlich-apologetischen Kräfte gegen die antifaschistischen Tendenzen ein. Sie nahm im Werk vieler amerikanischer Künstler unterschiedliche Formen an, jedoch am auffallendsten war die Wandlung bei Upton Sinclair, der den Faschismus kritisiert hatte und nun auf Positionen des bürgerlichen Liberalismus überging. Den Verteidigern der herrschenden bürgerlichen Ideologie in Amerika kam es nicht so sehr darauf an, den antifaschistischen Charakter des Krieges herauszustellen, als darauf, seine positive Rolle bei der Überwindung der Folgen der Wirtschaftskrise zu unterstreichen. Sie erblickten im Krieg nicht die Möglichkeit, die Reaktion zu bekämpfen, sondern ein Mittel zur Bereicherung Amerikas. Deshalb versuchten sie, die Interessen der Monopole mit denen des Mannes auf der Straße zu verknüpfen und dessen Bewußtsein zielgerichtet durch eine Orientierung auf den Konsum vom antifaschistischen Kampf abzulenken. Als symptomatisch für diese Einstellung galt die Antwort einer Amerikanerin auf die Frage nach ihrer Beziehung zum 138
zweiten Weltkrieg: „loh hoffe, daß er lange genug dauert, damit wir unsere Hypothek bezahlen können." Während der revolutionäre Weltprozeß nach dem zweiten Weltkrieg weiter fortschritt, wuchsen in den Vereinigten Staaten zugleich die reaktionären Kräfte, da Antikommunismus und Konformismus dort eine besonders große Verbreitung erlangten. Dies führte dazu, daß die tiefen Fundamente für die Erfolge der amerikanischen realistischen Kunst der zwanziger und dreißiger Jahre ausgehöhlt wurden. Wenn in dieser Zeit in der amerikanischen Literatur humanistische Tendenzen bewahrt blieben, so fanden sie ihren Ausdruck vor allem in den Werken jener Schriftsteller, die gegen den McCarthyismus und gegen die Nivellierung der menschlichen Persönlichkeit auftraten. Der Kampf gegen die Selbstzufriedenheit und gegen das Streben nach bloßem Komfort und materiellem Erfolg wird reflektiert in Jerome D. Salingers Roman The Catcher in the Rye (Der Fänger im Roggen), der 1952 veröffentlicht wurde. In ihm wird eine tiefe Enttäuschung über die Unfähigkeit des bürgerlichen Amerikas artikuliert, wahre Menschlichkeit zu verstehen. In der dritten Etappe der allgemeinen Krise des Kapitalismus, die mit -dem allseitigen Anwachsen der Kräfte des Sozialismus und den entwickelten Entikolonialisierungsprozessen in Asien und Afrika verbunden ist, verschärften sich in den Vereinigten Staaten von Amerika die sozialen Widersprüche. In der amerikanischen Literatur traten die Beatniks auf, die ihre Feindschaft gegenüber der bürgerlichen Welt in der lärmenden und extravaganten Form der Nichtachtung bürgerlicher Lebenshaltungen kundtaten. Die Niederlage der USA in Vietnam und das Erstarken der Befreiungsbewegung des Negervolkes im eigenen Lande führten Ende der sechziger Jahre zu antimonopolistischen Massenaktionen. Aber auch hier wurde der demokratische Charakter der Aktionen durch eine bürgerlich-liberale Phraseologie verdunkelt. Das drückte sich auch in der vehementen Entwicklung anarchistischer Tendenzen sowohl in der Gesellschaft als auch in der Literatur aus. Doch die anarchistische Avantgarde erlangte nicht die gewünschte Wirkung und erwies sich als durchaus kurzlebig. Die Führer des studentischen Widerstandes der sechziger Jahre verschwanden schnell von der Bildfläche und haben in der Literatur keine bedeutenden Spuren hinterlassen. In der gegenwärtigen Etappe wird der revolutionäre Prozeß in den USA dadurch gekennzeichnet, daß die herrschenden Kreise und 139
Monopole neue Methoden und Formen des Kampfes gegen die K r ä f t e des Fortschritts anwenden. Sowohl unter Ausnutzung des bürgerlichen Staates, von Polizei, CIA und F B I als auch durch Ausübung eines ideologischen Druckes auf verschiedene Schichten der Gesellschaft, wirken sie revolutionären Bestrebungen entgegen. Besonders in der Shäre des künstlerischen Schaffens kann man neue Methoden des Kampfes gegen die progressiven Kräfte deutlich erkennen. Heute gibt die amerikanische Bourgeoisie bedeutend mehr Geld auf dem ideologischen Sektor aus - vor allem für die Mittel der Masseninformation und -propaganda, für eine größtmögliche Verbreitung der sogenannten Massenkultur. Neben den erprobten Methoden der Bestechung der Künstler werden neue Formen des Druckes auf die fortschrittliche Literatur mittels der „Massenkultur" angewandt. D a s hat zur Folge, daß viele Vertreter der künstlerischen Intelligenz der U S A theoretisch naiv und uninformiert sind. D a s unterstreicht nur, wie wichtig es ist, sich die marxistische Literaturtheorie anzueignen. D a s Bemühen, den Protest der Künstler gegen das unmenschliche bürgerliche Amerika in die Bahnen eines liberalen Reformismus zu lenken, zeigt sich darin, daß man ein bürgerlich-liberales „Schmutzaufwühlen" und einen anarchistischen Protest gegen das sogenannte Establishment (das außerhalb der Klassenzusammenhänge gesehen wird) durch die bürgerliche Presse fördert. All das fällt mit heftigsten Angriffen gegen die Kunst und Literatur des sozialistischen Realismus zusammen, mit Angriffen, die an die Entfaltung eines breiten antisowjetischen und antikommunistischen Propagandafeldzuges gebunden sind. Unter diesen Bedingungen hat die Fortführung der Theorie des sozialistischen Realismus in den U S A durch solche Wissenschaftler wie Gaylord LeRoy durchaus historische Bedeutung. 1 Sie eröffnet reale Perspektiven für die Entwicklung einer humanistischen und realistischen Literatur, die den Glauben an die Stärke und Würde des Menschen und seine Fähigkeit darstellt, der unmenschlichen bürgerlichen Maschinerie der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und ideologischen Unterdrückung zu widerstehen. Gleichzeitig werden bei vielen amerikanischen Schriftstellern mit der Aktivierung bürgerlicher K r ä f t e an der ideologischen Front starke anarchistische Tendenzen spürbar, die im Schaffen der Schriftsteller des sogenannten „black humor" einen besonders deutlichen Niederschlag finden. Die theoretische Naivität und das Unvermögen, die Philosophie der Geschichte zu begreifen, werden in den Werken dieser Autoren in 140
Ironie gekleidet, die eine ernsthafte Betrachtung der Stellung des Menschen in der heutigen Welt ersetzen soll. Daraus sind auch die Kurzlebigkeit von literarischen Talenten und die Krise in den Werken solcher bedeutender und außergewöhnlicher Künstler wie John Updike (geb. 1932), Philip Roth (geb. 1933), William Styron (geb. 1925) und vieler anderer zu erklären. Bin neues Moment in der Entwicklung der amerikanischen Literatur ist unter diesen Bedingungen die sogenannte dokumentarische Prosa, die die amerikanischen Schriftsteller, wenn auch nicht zu den Traditionen der zwanziger und dreißiger Jahre, so doch wenigstens zu den Realitäten des Lebens zurückführt - und diese Realitäten des Lebens fordern immer dringlicher ein neues Niveau der gesellschaftlichen Verallgemeinerung. In diesem Sinne überholt in den USA der Film gegenwärtig die Prosa, und die jüngsten Streifen aus den Jahren 1976 und 1977, der Dokumentarfilm Harlan County und der Spielfilm Brothers (Brüder), die in den USA ungeachtet der Angriffe rechter Kräfte breite Anerkennung gefunden haben, verweisen auf die realen Perspektiven im gegenwärtigen künstlerischen Schaffen der Vereinigten Staaten von Amerika. Übersetzt von Günter Erdmann
Utz Riese
Gesellschaftliche Bewegung und der amerikanische Roman verinnerlichtèr Humanität
Die im Titel angekündigte Romanform hat sich in den Vereinigten Staaten seit den vierziger Jahren zu einem Hauptstrom innerhalb des Literaturprozesses herausgebildet. Sie begegnet uns nicht selten im Gewand des traditionellen kritisch-realistischen Gesellschaftsromans, oder sie erscheint als dessen Niedergang. Nehmen wir ein Beispiel. Bernard Malamuds Buch Tbe Assistant (Der Gehilfe) aus dem Jahre 1957 besitzt eine klar überschaubare Handlung: Ein junger Mann versucht, die Kasse eines kleinen jüdischen Krämers in einem armen New Yorker Viertel zu rauben, er verletzt den Krämer, bekommt Mitleid, beginnt während der nächsten Tage im Laden mitzuhelfen, verliebt sich wenig erfolgreich in die Tochter, wird in das armselige, als Gefängnis bezeichnete Geschäft hineingezogen: auf der Suche nach einem „neuen Leben", das ungewiß bleibt. Die Charaktere sind deutlich voneinander abgegrenzt. Der gesellschaftliche Hintergrund ist säuberlich gezeichnet - es handelt sich um das Milieu eines Stadtteils von New York, wo keine Reichen zu finden sind. Die Geschichte wird linear erzählt, Einschübe sind selten. Trotzdem ist der Roman mit der Aufzählung solcher Gegebenheiten kaum noch zu erfassen. Das Aufdecken der trefflichen sozialen Typisierung vermittelt nicht mehr vorrangig das Realitätskorrelat des Werks. Das Schwergewicht des Wirklichkeitsbezugs hat sich vom Abbild der Umstände verlagert auf die Darstellung der Haltung zu ihnen. Ins Zentrum ist eine Sensibilität gelangt, die wie in der Wirklichkeit so im Abbild in den kapitalistischen Mechanismen gesellschaftlicher Apparate nicht aufund häufig gar nicht erst in sie eingeht. Sie ist individualitätsbezogene, in dem Sinne humanistische Abgrenzung von ihnen. Entstehen und Wirkungsweise verdankt sie Umbrüchen in der Gesellschaftsentwicklung, die sich in spannungsreichen geschichtlichen Erscheinungen kundtun. Während der dreißiger Jahre tritt der Imperialismus in den USA 142
(wie auch in anderen Ländern) in sein staatsmonopolistisches Stadium. Dieser Sprung in eine neue Qualität ist verbunden mit einer erheblichen Erschütterung des Systems. Die Weltwirtschaftskrise, die ein auslösendes Moment für diese Wandlungen ist, veranlaßt eben nicht nur die staatlichen Regulierungsmaßnahmen des New Deal, also nicht nur die endgültige Verflechtung von Regierung und Großkapital, von Staat und offizieller Gesellschaft. Sie erzeugt zugleich in jener „roten Dekade" - ein demokratisches Potential, das sich dieser Vermischung von herrschender Gesellschaft und Staat, einer äußersten Manipulation und Umfunktionierung der Öffentlichkeit also, widersetzt. Es formt sich, wenn auch vorübergehend, gerade in Kulturkreiisen unter dem Einfluß des revolutionären Weltprozesses eine wirksame Öffentlichkeit, die ganz entschieden nach Alternativen zum herrschenden System sucht. Thomas Wolfe (1900-1938), dessen Romane durchaus als Vorläufer jener Richtung der verinnerlichten Humanität angesehen werden dürfen, schreibt 1931: ich glaube, daß wir am Abschluß eines Zeitalters stehen: Es kann sein, daß das ganze System des Kapitalismus sich überlebt hat. Wenn das so ist, sollten wir jedes andere, das nicht so dumm und verschwenderisch ist (dies bezieht sich auf die Überproduktionskrise - U. R.), willkommen heißen." 1 Die Aussagekraft dieser Bemerkung ist deshalb so gewichtig, weil Wolfe gerade nicht zu den Aktivisten jener Periode gehört; sie belegt Intensität und Verbreitung der Suche nach Alternativen. Nicht zufällig ist daher auch, daß die Kommunistische Partei der USA einen bedeutenden Einfluß auf die Kulturschaffenden und auf die demokratische Öffentlichkeit auszuüben vermochte und daß - wie wiederum selbst bei Thomas Wolfe zu zeigen wäre - die Sowjetunion längere Zeit von vielen Schriftstellern als ein mögliches Gegen- und Vorbild der Gesellschaftsentwicklung in Betracht gezogen wurde. Es entsteht eine der Krise geschuldete Spannung zwischen total werdender Organisation der Gesellschaft im Interesse der staatsmonopolistischen Cliquen und einem dem entschieden entgegenstehenden und seiner Klassennatur nach keineswegs mehr der Bourgeoisie e i n f a c h subsumierbaren Alternativstreben in weiten (nicht nur proletarischen) Schichten der Bevölkerung. Die Individuen sind einerseits in erhöhtem Maße den Belangen einer auf Profit ausgerichteten Produktion untergeordnet: ein Tatbestand, der in wachsendem Umfang - über die spezifische Weise der Konsumtion - ihren ganzen aktiven Lebensbereich zu umfassen droht. Zugleich jedoch erfahren 143
die Individuen im Rahmen jener hochgradigen Vergesellschaftung ihre Gesellschaftlichkeit als qualitativ neues Moment. Scheinen sie zwar nun mehr denn je auf die bloße Funktion ihrer ganz besonderen gesellschaftlichen Stellung (ihrer Arbeitstätigkeit), ihres gesellschaftlichen Zusammenhangs reduziert, gehen die Individuen doch in diesen ihren einseitigen Funktionen immer weniger auf. Sie entfalten sich mehr und mehr jenseits davon, in der von Arbeit freien Zeit: Gesellschaftliches Funktionieren und Individualität treten durchaus in einen Widerspruch, vielfach in einen Antagonismus. Dieses neue Moment der Gesellschaftlichkeit ermöglicht zugleich in größerem Umfang eine Organisation der Werktätigen zur Aneignung der in der Vergesellschaftung entstehenden sozialen Macht. 2 Es enthält in dieser seiner vorerst freilich nur subjektiven alternativen Form (als Individualität) immer auch die Potenz für ein gesellschaftliches Funktionieren, das sich den Zwängen der staatsmonopolistischen Vermittlungen widersetzt. Insbesondere in den dreißiger Jahren verwirklichte sich die alternative Gesellschaftlichkeit in den Funktionen einer demokratischen und literarischen Öffentlichkeit, die sich, wie angedeutet, in fruchtbarer Wechselbeziehung zum revolutionären Weltprozeß entwickelt. In diesem Rahmen ist auch die Herausbildung progressiver Schriftstellerorganisationen zu sehen; Eberhard Brüning beschreibt so den Prozeß: „Es begann also mit der Sammlung der proletarisch-revolutionären Kräfte, erweiterte sich auf linksbürgerliche Autoren und mündete ein in eine breite Bewegung mit Volksfront-Charakter." 3 Der Roman verinnerlichter Humanität, der sich bereits zuvor in den Vereinigten Staaten (aber auch in anderen Ländern) angekündigt hatte, verdankt seine Verbreitung dem nun folgenden historischen Umbruch. In den vierziger Jahren, eigentlich bereits seit dem Ende der dreißiger Jahre, seit der Zersplitterung der linken Kräfte und insbesondere mit Beginn des zweiten Weltkrieges festigt sich der staatsmonopolistische Kapitalismus in den USA. Der verhältnismäßig demokratischen Periode folgt eine Zeit der Reaktion, die deutlich auch von den herrschenden Schichten als Gegenaktion gegen die Einflüsse und Wirkungen des revolutionären Weltprozesses geplant ist. Sie wird durch den antifaschistischen Krieg zunächst verschleiert, findet jedoch bald darauf in der Aufkündigung des Bündnisses mit der Sowjetunion und in antikommunistischer Hexenjagd prägnanten Ausdruck. Die Elemente einer demokratischen Öffentlichkeit werden beseitigt oder einem rigiden Konformismus angepaßt. Die Manipula144
tion der Öffentlichkeit ist nahezu total. Hier nun scheint die Chance sozialer Bewegungen vorübergehend nicht mehr existent - zumindest wird sie von den Massen nicht wahrgenommen. Das Moment alternativer Gesellschaftlichkeit (als ein Ergebnis des geschichtlichen Standes der Vergesellschaftung) findet seine Verwirklichung nicht, es bleibt einseitig an die Individuen gebunden. Es ist somit auf seine subjektive Voraussetzung zurückverwiesen, es ist nur noch subjektiv da, ist Potenz für ein alternatives gesellschaftliches Funktionieren (weil nicht dessen Realität), äußert sich in einer historisch gewachsenen Individualität, die bloße Funktionspotenz bleibt. Das Moment der Gesellschaftlichkeit schlägt so um in Vereinzelung. Das ist freilich eine Vereinzelung, die nicht mehr - wie in früheren, liberalen Stadien des Kapitalismus - auf das Markt- und Austauschprinzip der freien Konkurrenz zurückgeführt werden sollte. Sie ist im Gegenteil ja gerade Ausweis dessen, daß dieses nicht mehr durchgängig funktioniert, wie natürlich Ausweis jener nicht verwirklichten alternativen Funktionspotenz. Die Individualität wird vorerst mehr sensibel und ist weniger aktiv. In einem solchen restaurativen Klima entfaltet sich der Roman verinnerlichter Humanität zu einer führenden Erscheinung. Auf den ersten Blick muß das durchaus fragwürdig anmuten. Immerhin ereignet sich parallel zu dieser Entwicklung eine Zurückdrängung von Werken sozialer oder gar proletarischer Tendenz, fallen ins Auge das Renegatentum ehemals bedeutender Verfechter einer demokratischen Kunst (wie Upton Sinclairs und John Dos Passos') sowie der Terraingewinn formalistischer Literaturkritik, ahistorisch orientierter Weltanschauungen, sei es des Existentialismus, sei es der Spielarten eines neuen Konservatismus. Dennoch wäre es falsch, den Roman verinnerlichter Humanität bloß negativ auf dieser Situation zu erklären, ausschließlich als Ausdruck der in ihr verlorengegangenen historischen Perspektive zu deuten. Freilich könnte eine Reihe Charakteristika zu einer solchen Betrachtungsweise Anlaß geben; vor allem dann, wenn die Untersuchung sich auf die Maßstäbe einer das Abbild (und zwar das Abbild der Gesellschaftstotalität) einseitig in den Mittelpunkt rückenden Ästhetik stützt. In den Romanen von Carson McCullers (1917-1967), von Saul Bellow (geb. 1915), Bernard Malamud (geb. 1914), Truman Capote (geb. 1925), William Styron (geb. 1925), Jerome D. Salinger (geb. 1919) und anderen Schriftstellern, die in den vierziger und frühen fünfziger Jahren zu publizieren beginnen, ist die Darstellung des gesellschaftlichen Zu10
Romane
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sammenhangs recht eingeschränkt oder - wie in Bellows erstem Roman Dangling Man (1944, Mann in der Schwebe) - nahezu gänzlich ausgespart; auf alle Fälle ist sie nicht mehr Zweck und notwendig, sondern Mittel, zuweilen nur Staffage und zufällig, ist „Vorwand". Die Entwicklung der Charaktere kann demgemäß genausowenig zentral für die Romane sein. Wo der abgebildete Realitätsraum reduziert ist, läßt sich natürlich kein großer Aktionsradius der Gestalten vorstellen. Was sie auch immer unternehmen, sofern sie überhaupt etwas unternehmen, sie treten in weitgehender Isolation und offensichtlicher Hilflosigkeit auf. Ihr Problem ist ja eben der Tatbestand, daß sie sich in die herrschenden Normen der Gesellschaft nicht einzuordnen vermögen. An die Stelle des Abbilds der Aktivität tritt das der Sensibilität. Dies heißt, die Romane werden strukturiert nicht vorrangig durch die Handlung, sondern durch eine sensible, in der Subjektivität und Individualität des Protagonisten wie des Autors zentrierenden Sicht auf die Welt. Deshalb nennt Dmitri Satonski diese Form „zentripetal".4 Der Umschlagpunkt wäre etwa mit dem Jahre 1940 anzusetzen. Einerseits entstehen in diesem Zeitraum noch solche bedeutenden Werke eines traditionell gesellschaftsgestaltenden kritischen Realismus wie John Steinbecks Tbe Grapes of Wrath (1939, Früchte des Zorns) oder Richard Wrights Native Son (1940, Sohn dieses Landes). Charakteristisch ist jedoch, wie Martin Christadler bemerkt, „daß der konventionell ,realistisch' erzählte Gesellschaftsroman - social protest novel, novel of manners - teils liberaler, teils konservativer Prägung zunehmend in den Bereich der Unterhaltungsliteratur abgedrängt wird"5. Zugleich setzt sich jene Tradition nun um in Sensibilisierung und findet längerfristig darin ihre genuine Fortsetzung. Ganz deutlich wird das in Carson McCullers' erstem Werk The Heart ls a Lonely Hunter (1940, Das Herz ist ein einsamer Jäger). Die Handlung spielt zwar in einer südstaatlichen Kleinstadt, dennoch sind im Roman unverkennbar die Merkmale des Engagements der dreißiger Jahre auszumachen. Diese abgeschiedene Ortschaft steht durchaus unter dem Zeichen welthistorischer Entwicklungen, antifaschistische Haltungen erwachsen daraus. Die Figuren sind aber vor allem auch durch ihre wirtschaftliche Lage bedroht, es ist Krisenzeit. Und es taucht ein Agitator auf, der nicht nur utopisch beseelt, sondern partiell marxistisch gebildet ist. Sicher bleibt das, was er will, weitgehend in anarchischen Vorstellungen stecken, doch zeigt es das alternative Potential dieses Organisators und der historischen Situation auf. 146
So heißt es von einem Mann, der „durchsieht": „Dann sieht er die Welt, wie sie ist, und wenn er auf die Jahrtausende 2urückblickt, dann sieht er, wie's zu alledem gekommen ist. E r sieht, wie Kapital und Macht langsam eins wurden und heute auf ihrem Höhepunkt sind. E r sieht, was für ein Irrenhaus ganz Amerika ist. E r sieht, wie die Menschen an ihren Mitmenschen zu Räubern werden müssen, bloß um zu leben. E r sieht Kinder verhungern und Frauen sechzig Stunden die Woche arbeiten, bloß um was zu fressen zu haben. E r sieht das ganze gottverdammte Heer von Arbeitslosen und sieht, wie Milliarden von Dollars und Tausende von Meilen Land vergeudet werden. E r sieht den Krieg kommen." 6 Es geht von daher - wie schon der Verweis auf Thomas Wolfe erhellte - unmittelbar um die Errichtung einer anderen Ordnung. „Unser Endziel", sagt er weiter, „war die Freiheit - aber die wahre Freiheit, eine große Freiheit, die's nur geben kann, wenn der Mensch in seiner Seele spürt, daß Gerechtigkeit herrscht." 7 Genau in dieser Schlußfolgerung wird der ideologische Angelpunkt für das Entstehen des Romans verinnerlichter Humanität offenbar. Sosehr also antifaschistische und überdeutlich antiimperialistische Tendenzen auftreten, weder ideologisch noch dann gestalterisch zentriert der Roman in einer ausgeformten Darstellung der gesellschaftlichen Misere. Vielmehr rückt jener „sense of justice of the human soul" 8 (jenes Gefühl für die Gerechtigkeit der menschlichen Seele) in den Mittelpunkt. Und es ist keineswegs Ironie, wenn tatsächlich ein Taubstummer die Person ist, die den Kontakt zwischen den Hauptgestalten herstellt, wenn sie von der „Umwelt die Rolle des universalen Kommunikationspartners zugesprochen" 9 erhält. D i e Alternative zur herrschenden Ordnung ist zunächst nur als subjektive Potenz entworfen, sie aber gewinnt kompromißlos Dominanz. Es ist anzunehmen, daß der solchermaßen in Erscheinung tretende Roman verinnerlichter Humanität einen neuen Ausgangs- und Vermittlungspunkt im zeitgenössischen Literaturprozeß darstellt. Zweifellos sind damit Verluste verbunden. Sie betreffen die Gestaltung des Gesellschaftspanoramas und der in ihm obwaltenden Gesetzmäßigkeiten, mithin die Einbuße einer leicht ablesbaren historischen Perspektive. Der sogenannte gesellschaftliche Kausalnexus ist selten Gegenstand. Andererseits ist nicht zu verkennen, daß die Struktur dieses Romans das Funktionieren der aufgezeigten neuen gesellschaftlichen Beziehungen und Zusammenhänge und das Moment der antiimperialistischen Alternative unter den herrschenden Bedingungen gelegentlich besser als der traditionelle kritische Realismus reflektiert. 10»
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Die humanistische Kritik ist dort nämlich ganz in das Abbild der vorgefundenen Zustände eingebunden. Handlung und Charaikterentwicklung im Raihmen eines klar umrissenen Gesellschaf tsausschnitts vermitteln die humanistische Perspektive. Dieses künstlerische Abbild tritt insofern als in sich vollendet auf: als widergespiegelter Teil eines gleichsam „realen", aber auch in sich abgeschlossenen historischen Prozesses. Die Wirkungsfunktion leitet sich erst sekundär aus dieser Vollendungsillusion her, sie selbst ist nicht bereits strukturell in das Abbild eingegangen. Die Tendenz ist das zusätzlich sich Ergebende („Tendenz" der sozusagen „wahr" widergespiegelten objektiven Historie), ist Derivat, nicht schon das primär Strukturierende. Hier nun in der neuen Romanform ist zumindest im Ansatz der Versuch zu sehen, gar nicht erst das Abbild gesellschaftlicher Verhältnisse, die für die große Mehrheit der Bevölkerung oppressiv und undurchschaubar geworden sind, im Umfeld humanistischer Darsteif lung in den Mittelpunkt zu schieben und damit doch allzuleicht als Lebensmöglichkeit erst einmal anzuerkennen. Sondern von vornherein ist jener abzubildenden Ordnung abgesprochen, Existenzchancen für die historisch neue Individualität zu gewähren. Von vornherein wird sie zum Zweitrangigen, während das humanistische Zentrum sich selbst als „Ordnung", als organisierendes Moment etabliert: als Alternative. Da mag es scheinen, wie John Updike über Erzählungen von Jerotne D. Salinger schreibt, „Introversion ist . . . der Geschichte aufgezwungen worden"10. Doch dieser Vorgang ist bei dem Schriftsteller Gewähr dafür, daß die Historie sich nicht als Instrument des (staatsmonopolistischen) Status quo begreifen darf. Die Psychologisierung der Geschichte, die des öfteren bei den in Frage stehendien Schriftstellern beobachtet worden ist, zielt gegen eine Usurpation der Historie durch die feindlichen Verhältnisse. Das Individuum klassisch-bürgerlicher Provenienz, das als autonome Größe gedachte „sövereign seif", ist häufig, wie gesagt, nicht mehr auffindbar, da es aus dem Status der letztlich durch den Besitz an Tauschwert vorgetäuschten Autonomie (und manifestiere er sich in der Ware Arbeitskraft) unverhüllt in die Funktionale gerutscht ist. Das Individuum verliert sich oder entleert sich, verflüchtigt sich tatsächlich in der Kunst (wie es sich auch in der Produktion, mit Marx zu sprechen, „entwirklicht"), und seine unscharfen Konturen können den Roman nicht konturieren, wenigstens nicht in dem Maße wie in den Werken des traditionellen kritischen Realismus (der in den USA durch solche Schriftsteller wie William Dran Howells, Jack 148
London, Theodore Dreiser und Sinclair Lewis zu umreißen ist). An die Stelle c^ieses ganzheitlichen, für sich seienden Individuums tritt ein Aspekt desselben, oder dieser gelangt zumindest in den Vordergrund:; die (sensible) Individualität, damit gerade jenes, freilich abstrakter gewordene Moment der Gesellschaftlichkeit. Das eben ist zu begreifen als die in die Subjektivität zurückverwiesene Alternative zum herrschenden Menschenbild in der Gesellschaft und zu ihren Kommunikationsverhältnissen. Zugleich bedeutet das auch, diese Romane sind direkt strukturiert durch eine Gegebenheit, die der Tendenz verwandt ist. Von vornherein wirkt als organisierendes Zentrum eine alternative Ideologie. Um das zu erläutern, sei ein Interview William Styrons, schon aus dem Jahre 1972, betrachtet. Bereits seine ersten Werke Lie Down in Darkness (1951, Geborgen im Schöße der Nacht) und The Long March (1952, Der lange Marsch) zeigen einerseits die Verlagerung des erzählerischen Zentrums auf die verinnerlichte Humanität, andererseits dabei ein intensives Verbündnis mit dem Zeitgeschehen. Im ersten Buch koinzidiert der Untergang der Heldin scheinbar zufällig, aber dennoch signifikant mit dem Atombombenabwurf auf Japan. Wie auch in der zweiten Novelle der Korea-Krieg den bedeutsamen Hintergrund für die Gestaltung menschlicher Auseinandersetzungen in der Armee abgibt. Im Interview11 spricht er unter anderem über den seinerzeit noch unveröffentlichten Roman The Way of the Warrior (Der Weg des Kriegers), der, wie der Titel andeutet, sich mit der amerikanischen Militärmaschinerie befaßt. Einerseits stellt er heraus, daß „die Ereignisse in Vietnam vieles erhellt haben", zum Beispiel spricht er von „kriminellen" Akten kleinerer, aber ähnlicher Art in Lateinameri'ka, wie ihm überhaupt das Marinekorps bei bestimmten Gelegenheiten als „Polizeiorgan" für „die First National City Bank" erscheint. Diese antiimperialistische Haltung verknüpft sich andererseits mit der Anschauung, daß „das Leben eine Demonstration der Unterdrückung und Unterordnung" sei. „Ich glaube", sagt er, „alle Zeitalter sind tragisch . . . , und dies ist die condito humana." Die Menschen strebten „nach einem ihnen nicht erreichbaren Zustand" („for some impossible State"). Diese Mischung von utopischer und realgeschichtlich fundierter Aversion gegen den Imperialismus erzeugt nun eine Ideologie moralischer Natur, die unmittelbar strukturbestimmend werden soll: also tendenziös funktioniert. Der Dichter sagt: „Ich möchte zeigen, wie ein Mensch befähigt werden kann, zu einem moralischen Gewissen zu kommen" - als Gegengewicht gegen 149
die Einordnung in die Herrschaftsmechanismen. Solche Aussagen finden sich nicht weniger bei Saul Bellow, Bernard Malamud und anderen. Die Tendenz funktioniert als moralische. Dem entspricht die Form der Ich-Erzählung, das heißt hier insbesondere, die Synthese von „Autobiographie, Historie und Fiktion": Es bilde sich so etwas wie eine „fictional memoir" (fiktionale Autobiographie). Von selbst versteht sich, daß nicht unbedingt mehr die gestalteten Individuen als in sich ruhende sieht- und meßbar sind, sondern ganz als Verkörperungen dieser alternativen, moralisch-tendenziösen Ideologie. Sowohl Handlung als auch Charaktere werden unverhüllt von ihr durchdrungen. So geschieht es, daß weder „Individuum" noch „Gesellschaft" im romanesken Abbild nach den Konventionen rationalistischer und liberaler Vorstellungen funktionieren. Das Kunstwerk (als Abbild) ist nicht mehr so vorrangig als eigene Welt, als Stellvertretung der wirklichen, als deren humanistisches und überschaubares Gegenbild zu begreifen, sondern es wird verstärkt Medium für Haltungen zur Welt. So verweist der Roman verinnerlichter Humanität insgesamt auch auf die erhöhte Spannung, welche zwischen dem institutionellen Rahmen der Kunst, insoweit sie ganz in die Distributions- und Konsumtionsverhältnisse der staatsmonopolistischen Vergesellschaftung eingebaut ist, und dem Gehalt der Werke besteht. Robert Weimann hat darauf aufmerksam gemacht. 12 Der Gehalt wird ja eben durch die Sensibilität, die künstlerischer Ausdruck der alternativen Gesellschaftlichkeit ist, bestimmt. Das heißt: Dieser Roman resultiert aus dem Widerspruch zwischen aktualem Funktionieren der herrschenden gesellschaftlichen (und damit auch der literarischen) Kommunikation und der darin nicht mehr aufgehenden, aber auch nicht realisierten alternativen Funktionspotenzen. Er deutet somit s c h o n auf das Aufbrechen des traditionellen selbstseienden, ganzheitlichen Kunstwerks und verharrt n o c h in der bloßen Subjektivierung desselben, ohne schon eine neue Kunstpraxis zu intendieren. Die alternative Gesellschaftlichkeit, wenn auch als nur subjektive Potenz, fordert und gestattet dennoch ihrerseits beim Leser eine größere Subjektivität, da sie im Roman als Sensibilität eine reflektorische und organisierende, weniger eine darstellende Funktion hat. Die neue Weise der künstlerischen Kommunikationsvorgabe entspricht der gewandelten historischen Lage weltaneignend und ist insofern realistisch. Die Verinnerlicbung - als Vereinnahmung der Geschichte in Subjektivität - ist eine mögliche Form der (künstlerischen) Aneignung und damit eine 150
Absage an das Umschlagen der realgeschichtlichen Aneignung in Enteignung. Der Roman verinnerlichter Humanität vermag Knoten- und Vermittlungspunkt der zeitgenössischen Romanentwicklung zu sein, weil er der aufgezeigten Spannung zwischen wirklicher Vergesellschaftung und potentieller Gesellschaftlichkeit direkt Rechnung zu tragen imstande ist. Tatsächlich haben verschiedene ethnisch-regionale Richtungen der gegenwärtigen amerikanischen Literatur gewichtige Beiträge für seine Entfaltung geleistet. Bei den Afroamerikanern ist an James Baldwins Romane, aber auch an Ralph Ellisons Invisible Man (1952, Unsichtbar) zu erinnern, bei den südstaatlichen Autoren an Carson McCullers und William Styron, bei den sogenannten WASP-Autoren, den Schriftstellern neuenglischer Tradition, an John Updike und John Cheever in einigen Werken. Insbesondere jedoch ist die große Gruppe der Jewish-Americans, als deren Hauptvertreter Saul Bellow und Bernard Malamud gelten dürfen, für die humanistische Sensibilität typisch. Alles in allem umfaßt diese Form mithin höchst unterschiedliche Erscheinungen, und sie besitzt ein erhebliches Maß an Flexibilität. Sie nimmt häufig durchaus die Tradition des kritisch-realistischen Gesellschaftsromans auf, wie sie nicht selten auch auf der sozial engagierten „proletarian novel" (proletarischer Roman) der dreißiger Jahre zu gründen scheint. Selbst in solchen Fällen, wo idas Kunstwerk in traditioneller, scheinbar selbstseiender Ganzheit aufleuchtet, deutet dieser Vorgang auf die Potenz zu einer veränderten literarischen Kommunikation. Von Anfang an, erinnert sei wiederum an Bellows Dangling Man, fällt daher bei dieser Romanform eine Hinneigung zu einem essayistischen Aufbau der Prosa auf. In dem Maße nun, wie mit den sechziger Jahren wieder kräftiger soziale Bewegungen das Gesellschaftsgefüge in den Vereinigten Staaten berührt haben, verstärkt sich diese Tendenz; denken wir nur an Saul Bellows Herzog (1964). Erkennbar wird in dem Zusammenhang, daß der Roman verinnerlichter Humanität nicht nur Mittel-, sondern auch Ausgangspunkt für andere neuere Strömungen ist. Die Neigung, das traditionelle ganzheitliche Kunstwerk essayistisch aufzubrechen, findet seine Fortsetzung in dem Aufstieg einer autobiographisch-dokumentarischen Literatur ebenso wie in dem Bereich der „journalistic fiction" (journalistische Erzählprosa): wo der gesellschaftliche „Vorwand" für die Reibungen der alternativen Sensibilität nicht mehr gänzlich fiktiv ist, sondern entschieden direkter der Wirklichkeit entnommen wird. Ebenso ist diese Form 151
in der Lage, pornographische und andere Trivial-Muster aufzunehmen (wenn auch nicht bis zu dem Grad verfremdet wie in den Romanen der Gegenkultur), wie auch pikareske, zudem groteske und andere Elemente einer kontingenten Schreibart die Nähe zum schwarzen Humor (trotz ideologischer Differenzen) verdeutlichen. Diese Entwicklungen vollziehen sich verstärkt in den bewegten sechziger Jahren, als mit dem Abbau des kalten Krieges eine welthistorisch neue Lage entstanden ist. Daß der Roman verinnerlichter Humanität offen ist für die darauf folgenden Wandlungen gesellschaftlicher Verständigungsbedürfnisse, bezeugt seine Fruchtbarkeit in der Übergangsepoche wie den Tatbestand der Produktivität realistisch-weltaneignender Literatur in ihr.
Friederike Hajek
Die afroamerikanische Befreiungsbewegung der sechziger Jahre und ihre Literatur
Wenn wir heute von einer Literatur der Afroamerikaner sprechen, so sind damit keine besonderen, nur dieser Bevölkerungsgruppe eigenen literarischen Formen gemeint. Es handelt sich auch nicht um eine besondere Nationalliteratur, noch assoziieren wir sie unmittelbar mit dem Fakt der Existenz von ca. 23 Millionen Afroamerikanern. Vielmehr sind die Besonderheiten, die die Literatur - und überhaupt die Kunst und Kultur - der Afroamerikaner auszeichnen, aus ihrer sozialen, politischen und kulturellen Diskriminierung hervorgegangen, das heißt aus ihrem Sein als eine diskriminierte und unterdrückte soziale Gruppe. D i e Eigenarten ihrer Kultur sind wesentlich durch die spezifischen Formen der Unterdrückung, deren Einfluß auf das Bewußtsein der Betroffenen sowie den entsprechenden Besonderheiten ihres Befreiungs- und Überlebenskampfes bestimmt. Gleichzeitig sind Kunst und Kultur der Afroamerikaner Teil der amerikanischen Gesamtkultur, da ihre Geschichte und ihre Existenz integraler Bestandteil der Geschichte und des gesamten sozialen Lebens der USA sind. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis Richard Wrights interessant, daß sowohl Alexander Puschkin als auch Alexandre Dumas wie übrigens auch Beethoven - nach amerikanischen Standards „colored" waren. Diese Tatsache ist aber weder aus ihrem Werk ablesbar, noch findet sie in den Biographien besondere Beachtung. Das kommt daher, daß sie in einer Gesellschaft lebten, in der ihre Hautfarbe bzw. ihre rassischen Merkmale keinerlei Einfluß auf ihre soziale Stellung hatten. Richard Wright knüpft daran die Hoffnung, die Literatur der Neger als solche werde mit der zunehmenden Eingliederung der Afroamerikaner in den Hauptstrom des amerikanischen Lebens verschwinden, da sich ja dann das soziale und kulturelle Leben der schwarzen nicht mehr von dem der weißen Amerikaner unterschiede. Sollte aber, so fährt er fort, „der Ausdruck des amerikanischen Negers eine scharfe Wendung zu strikt rassischen Themen
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nehmen, so wird das ein Zeichen sein, daß wir unsere alten und uralten Qualen von den Händen unserer weißen amerikanischen Nachbarn dulden"1. Es ist nur zu offensichtlich, daß wir es gegenwärtig nicht mit einer Abnahme von Erscheinungen zu tun haben, die den Entstehungsgrund einer distinktiven afroamerikanischen Literatur bilden, sondern mit einer Zunahme. Insbesondere in den sechziger Jahren vollzieht sich ein sprunghafter Aufschwung der afroamerikanischen Literatur, der sowohl die Prosa als auch Lyrik und Dramatik erfaßt. Darüber hinaus erscheint eine Fülle von Schriften zur Geschichte und Kultur sowie zur sozialen Lage und den politischen und sozialen Bewegungen der schwarzen USA-Bürger. Hinzu kommt, besonders am Ende der sechziger Jahre, eine Reihe von Neuauflagen afroamerikanischer Autoren vor allem der zwanziger und dreißiger Jahre. Die Rassenproblematik ist durchaus in iden Vordergrund des öffentlichen Interesses getreten. Dem tragen sogar die offiziellen Massenmedien der von der herrschenden Klasse bestimmten und manipulierten Öffentlichkeit bis zu einem gewissen Grade Rechnung. Gleichzeitig jedoch entstehen Zeitungen und Zeitschriften, die von Afroamerikanern bzw. von ihren Organisationen herausgegeben werden. Sie dienen der Aufklärung über kulturelle, politische und soziale Fragen der unterdrückten Minderheit. Überall im Lande bilden sich hauptsächlich auf community-Basis schwarze Theatergruppen. Unter Losungen wie „Black is beautiful" und später „Black Power" haben Kultur und Ideologie agitatorische wie emanzipatorische Funktionen. Kurz: Eine Gegenöffentlichkeit, die sich den Mechanismen der herrschenden gesellschaftlichen (literarischen) Kommunikation widersetzt, formt sich deutlich heraus. Das ist auch in den USA ein determinierender Widerspruch der Öffentlichkeit. Dieser Umstand ist in einem engen, wenn auch überaus komplexen Zusammenhang mit den seit Ende der fünfziger Jahre einsetzenden Massenbewegungen der Afroamerikaner in den USA zu sehen. Eine solche Entwicklung ist offenbar Reflex der Veränderungen im internationalen Kräfteverhältnis wie der Wandlungen, die in den sozialen Verhältnissen der USA selbst vor sich gehen. Eines der auffälligsten Momente ist die durchgreifende Proletarisierung und Urbanisierung der Afroamerikaner seit dem zweiten Weltkrieg. Damit hatte sich ein Prozeß enorm verstärkt, der bereits mit dem ersten Weltkrieg begonnen und zur „Harlem-Renaissance" der zwanziger Jahre geführt hatte. Für die Masse der Schwarzen entstand insofern eine neue Situation, als sie nun endgültig aus der 154
ländlichen Isolation und teils noch patriarchalischen Produktion herausgerissen wurden. Ihre ländlich bornierte und segregierte Existenzweise im Süden, die sie bis dahin relativ ruhig hinnahmen, wurde damit radikal verändert. Was aber noch in den zwanziger Jahren als große Möglichkeit erscheinen und zu einer Projektion des schwarzen Individuums als „Renaissance-Man" 2 führen konnte, zeigte sich in den fünfziger und sechziger Jahren unter den Bedingungen des fortgeschrittenen staatsmonopolistischen Kapitalismus als Katastrophe, als totale Entwurzelung. D i e Proletarisierung hatte den Afroamerikanern zwar formale Freizügigkeit gebracht, aber keine Aufhebung der Diskriminierung, die sich äußert in: Gettodasein, massenhaftem Pauperismus, Bildungs- und Ausbildungsmangel, Justizterror, genereller Nichtachtung ihres Persönlichkeitsstatus. Sie finden sich als Produzenten eines Reichtums, der ihnen entfremdet ist, als Angehörige einer Klasse, mit der sie durch gemeinsame Existenzbedingungen und Interessen vereint und durch Diskriminierung entzweit sind. Sie beginnen sich mit dem Freiheitskampf afrikanischer und anderer farbiger Völker und folglich mit ihrer eigenen Vergangenheit und Geschichte zu identifizieren. D a s alles führte zu einem verschärften Bewußtsein von der Ungerechtigkeit ihrer Lage einerseits wie - aufgrund ihrer massenhaften Konzentration als Proletarier - zur Möglichkeit, sich ihrer gemeinsamen Interessen bewußt zu werden und ihnen in Aktionen Ausdruck zu verleihen. Allerdings ist zu berücksichtigen, daß das Spektrum der spontan entstehenden Einstellungen wie der durch Tradition vorgegebenen organisierenden Institutionen (zum Beispiel der Kirche) sehr unterschiedliche Wirkungen gezeitigt hat und in bezug auf ein antiimperialistisches Bündnis differenziert einzuschätzen ist. D i e erste Phase dieser Massenbewegungen begann 1955 mit dem spektakulären Busstreik von Montgomery, Alabama, und konzentrierte sich vor allem auf den Süden. Sie dauerte bis zum Jahre 1964, als das Bürgerrechtsgesetz verabschiedet wurde. Der herausragende Führer war Martin Luther King, Jr. Den Lehren vor allem Gandhis und Thoreaus folgend, entwickelte er die Konzeption des gewaltlosen aber beharrlichen Massenwiderstands gegen die institutionalisierte Segregation. D i e bürgerlich-aufklärerischen Ideale der Unabhängigkeitserklärung, an die die Bürgerrechtskämpfer anknüpften, schienen 1964 mit der Aufhebung der de jure Segregation erfüllt zu sein, und die Bewegung geriet in eine Krise, da nun der Widerspruch zwischen der mit großen Opfern erkämpften juristischen Gleichheit und der offen155
sichtlichen sozialen Ungleichheit sich in seiner ganzen Schärfe zeigte. Unmittelbarer Ausdruck dieser Frustation waren die Ghettorebellionen der nachfolgenden „heißen Sommer", die mit dem Ruf „Black Power" einhergingen. Angesichts dieser Lage entwickelte der konsistente Teil der Bewegung eine mehr direkt klassenkämpferisohe Haltung. Nicht zufällig wurde M. L . King 1968 ermordet, als er im Begriff war, sich an die Spitze eines Müllarbeiterstreiks zu stellen. In den typisch proletarischen Kampfmethoden sowie in der Organisierung gewerkschaftlicher Aktivitäten weist die von den Bürgerrechtskämpfern initiierte Bewegung, d i e in der von Angela Davis und Ben Chavis geführten Allianz gegen rassische und politische Unterdrückung in den siebziger Jahren ihre Fortsetzung findet, über ein enges rassisch orientiertes Black-Power-Konzept hinaus zu einem antiimperialistischen Bündnis von schwarzen und weißen Ausgebeuteten. Parallel zur Bürgerrechtsbewegung hatten sich in den Ghettos des Nordens die Black Muslims entfaltet. Sie kehrten das Konzept der Segregation um und forderten einen unabhängigen Separatstaat auf dem Territorium der U S A . Diesem zwar nicht traditionslosen, aber problematischen und auf kulturelle sowie rhetorische Aktivität beschränkten Ansatz gegenüber schien die Black Panther Party, die 1966 im Zusammenhang mit den Rebellionen der „heißen Sommer" ins Leben trat, zunächst eine fruchtbarere Alternative entgegenzusetzen. Ihre Führer versuchten, die afroamerikanische Befreiungsbewegung in den revolutionären Weltprozeß einzugliedern, und sie bemühten sich um Kontakte zur Kommunistischen Partei, die jedoch schließlich an der eigenen sektiererisch nationalistischen Haltung scheiterten. Unter dem sehr schnell einsetzenden Polizeidruck zerfiel daher die Partei in links- und rechtssektiererische Strömungen und kam 1971 zum Erliegen. D i e Black Panther Party ist ebenfalls Bestandteil der allgemeineren Black Power Bewegung. Letztere ist durch sehr unterschiedliche, teilweise anarchistische Unternehmungen und utopische Vorstellungen zur Umwandlung der bestehenden Verhältnisse sowie durch kulturellen und „revolutionären" Nationalismus artikuliert. Ein konstruktives Moment stellt sich besonders dort dar, wo sich der Kampf auf die Verbesserung der sozialen Lage der Schwarzen und auf Partizipation an staatlichen und anderen Formen der gesellschaftlichen Macht richtet. D i e Befreiungskämpfe der Afroamerikaner in den sechziger Jahren sind selbstverständlich in Verbindung mit anderen gleichzeitigen demokratischen Massenaktivitäten in den U S A zu sehen, insbesondere mit den Aktionen gegen den 156
Vietnam-Krieg und mit den Studentenbewegungen. Sie gingen außerdem mit einer nie zuvor erreichten Politisierung der Massen der afroamerikanischen Bevölkerung einher und haben auf das Entstehen differenzierter, ja konträrer literarischer Konzeptionen und Erscheinungen Einfluß genommen. Gerade die historische Vielfalt und Problematik der aktualen Bewegung ermöglichten diese Blüte literarischer Erzeugnisse der Afroamerikaner. Ebenso widersprüchlich wie die realen Prozesse sind somit auch die Versuche ihrer literarischen Manifestation, die sich nicht nur als Reflex, sondern vor allem als Agens innerhalb alternativer Kommunikationsbemühungen verstehen. Auf besondere Weise wird so dem von Robert Weimann erläuterten Widerspruch zwischen gesteigerter Aneignung der Welt und den durch herrschende literarische Distribution verminderten Funktionen der Literatur Rechnung getragen.3 Obwohl diese Literatur den herrschenden Distributionsverhältnissen unterworfen ist, folgt sie nämlich n i c h t dem damit vorgegebenen Funktionsmodell. Anders als bei der von Utz Riese behandelten Prosa verinnerlichter Humanität erschöpft sich ihre alternative Gesellschaftlichkeit nicht in bloßer Funktionspotentialität, sondern strebt vielmehr ein Funktionieren in der realen Geschichte an. Das bewirkt eine erhöhte Dynamik der literarisch-künstlerischen Aktivitäten und hat Auswirkungen auf die Struktur der literarischen Erzeugnisse. So haben zum Beispiel Drama und Lyrik vielfach aktivistische Impulse hauptsächlich durch Vertreter des Revolutionary Black Arts Movement empfangen. Dabei tut sich einerseits ein Widerspruch auf zwischen eindeutig antiimperialistischem Engagement, das außerordentlich prononciert den revolutionären Weltprozeß in Betracht zieht, und andererseits einer nationalistisch verengten Sicht auf eben diesen Prozeß, die wiederum das antiimperialistische Bündnis erschwert. Diese Widersprüchlichkeit zeigt sich sowohl in autobiographischen wie auch zum Teil in den kunstprogrammatischen und anderen literarischen Äußerungen. Insbesondere LeRoi Jones (Imamu Amiri Baraka), Larry Neal und andere folgen dem Konzept einer aktionistischen Kunst. Mit seiner Hilfe wollen sie den bereits erwähnten Widerspruch zwischen Aneignung von Welt in der Literatur und den durch die offiziellen Institutionen vorgegebenen Funktionen dadurch überwinden, daß sie auf eine durch das Kunstwerk vermittelte Aneignung verzichten, also das Artefact abschaffen wollen, wie etwa Baraka mit seinem „totalen Theater" in The Slave Ship (1967, Das Sklavenschiff); freilich erweist sich das in der Praxis immer wieder als undurchführbar, und die 157
herrschenden Kommunikationsverhältnisse werden nur sehr bedingt durchbrochen. Bis zum militant Nationalistischen gehende Tendenzen äußern sich auch in Romanen wie The Man Who Cried. I Am (1968, Der Mann, der sagte: Ich bin) sowie Sons of Darkness, Sons of Light (1969, Söhne der Dunkelheit, Söhne des Lichts) von John A. Williams und The Spook Who Sat by the Door (1969, Der Schattenmann, der neben der Tür saß) von Sam Greenlee. Es sind aber weder literarische Produkte der letzteren Art noch Romane überhaupt - selbst unter Berücksichtigung derjenigen von James Baldwin, John Oliver Killens und Chester Himes - , die auf dem Gebiet der afroamerikanischen Prosa am stärksten hervortreten. Vielmehr bringen die angedeuteten Aneignungs- und Kommunikationsbemühungen eine Tendenz zur Überschreitung der Genregrenzen hervor, die sich darin äußert, daß unmittelbare persönliche Erfahrungen vermittelt werden und das authentische, nicht-fiktive Ich und damit das Autobiographische und Essayistische hervortritt. Das Ich des Autors verbirgt sich nicht hinter der Fiktion, es stellt sich und seine Beziehung zur Wirklichkeit, sein Engagement durchaus heraus. Dies ist eine Tendenz, die sich auch in anderen Genres, zum Beispiel in der Lyrik, bemerkbar macht (Nikki Giovanni, Don L. Lee und andere). Die große Anziehungskraft, die von solchen literarischen Selbstzeugnissen ausgeht, beruht gerade darauf, daß das authentische Ich des Autors ein Garant dafür ist, daß die dargestellte Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit real, von einem Menschen erprobt und durchdacht und darum auch für andere nicht nur geistig, sondern in der Tat nachvollziehbar ist. Der von Baldwin und anderen vertretene poetische Grundsatz „Hoffnung" wird hier auf besondere Weise wirksam. Das Ich des Autors fungiert als Zeuge und Gewährsmann, an den man sich halten kann. Dieses Sich-an-etwas-haltenKönnen ist ein wichtiger Aspekt für die Rezeption solcher Literatur in einer Welt der scheinbar undurchschaubar sachlichen Abhängigkeit und persönlichen Beziehungslosigkeit. Die Autobiographien sind so nicht nur Ausdrucksmittel menschlichen Emanzipationsstrebens, sie sind ebenso ein wirkungsvolles Instrument für dieses Streben. Das Ich des afroamerikanischen Autobiographen ist Zentrum einer alternativen Gesellschaftlichkeit und bestätigt deren Funktionieren. Der Blickpunkt dieses Ichs durchdringt genau wie in der Prosa der verinnerlichten Humanität alle berichteten Gegebenheiten; anders jedoch als dort wird hier die alternative Gesellschaftlichkeit in aktiven Funktionen ausgewiesen. Die hier sich manifestierende gesteigerte 158
Subjektivität in der literarischen Weltaneignung kommt dem realen Streben insbesondere der unterdrückten Minderheit nach Entfaltung ihrer Subjektivität, nach Subjektfunktion in der Geschichte entgegen und fördert, ja fordert es. In neuer Weise wird in diesem Zusammenhang der Begriff der künstlerischen Aneignung aktuell, den Robert Weimann in bezug auf die Renaissance-Prosa einführte: Auch in dieser Prosa wird in produktiver und rezeptiver Vermittlung zwischen Literatur und Gesellschaft ein „doppeltes Verhältnis zur Geschichte" hergestellt, indem sie in authentisch ich-bezogener Weise „die Geschichte als gestalteten Gegenstand und als konstituierendes Moment der Literatur in das Werk" hineinnimmt und zum anderen „die Werke selbst in die Geschichte" hinausstellt. 4 Wenn auch nur ein Teil der gesellschaftlichen Realität erfaßt ist und nicht immer der Kausalnexus, so ist doch die aktivierende Funktion nicht zu übersehen. Daher ist eine Darstellung der unterschiedlichen Tendenzen in der autobiographischen Literatur der Afroamerikaner in engem Zusammenhang mit den sozialen Bewegungen der Schwarzen vorzunehmen. Eine Reihe von autobiographischen Zeugnissen artikuliert Positionsfindungen, die sich als Engagement in der Bürgerrechtsbewegung manifestieren, wie jene von Anne Moody, Dick Gregory, Corretta Scott-King. Andere hingegen sind von solchen des schwarzen Nationalismus bestimmt, bei Malcolm X, H. Rap Brown, Eldridge Cleaver. Darüber hinaus gibt es verschiedene Autobiographen, die sich wohl auf die neue Lage in der afroamerikanischen Befreiungsbewegung einstellen, sich jedoch nicht auf einzelne ihrer Strömungen festlegen lassen. Hierzu können zwei wesentliche Positionen unterschieden werden: erstens, Vertreter eines humanistischen Menschenbildes wie Claude Brown und James Baldwin und zweitens, Repräsentanten des proletarischen Internationalismus wie William L. Patterson, Benjamin J. Davis, W. E. B. Du Bois. Ein signifikantes Beispiel für die Autobiographie, die mit der Bürgerrechtsbewegung verbunden ist, stellt Anne Moodys Coming of Age in Mississippi (1968, Erwachen in Mississippi)5 dar. Die Verfasserin gehört einer Generation schwarzer USA-Bürger an, die sich von der ländlich-bornierten und abhängigen sowie von Rassendiskriminierung und -Unterdrückung gekennzeichneten Lebensweise, mit der sich noch ihre Eltern begnügten, emanzipiert und unter Einsatz ihres Lebens den Kampf um ihre Gleichberechtigung als USA-Bürger aufgenommen haben. In der Autobiographie wird weniger gezeigt, wie sich die Persönlichkeit in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt all159
mählich formt, sondern vielmehr, wie die bereits vorgeformte Persönlichkeit, deren hervorragendes Merkmal das Bewußtsein ihrer Gleichwertigkeit mit allen anderen Mitgliedern der Gesellschaft ist, immer mehr Besitz von ihrer Umwelt ergreift und auf sie verändernd einzuwirken beginnt, somit den Übergang von der Position der Abgeschiedenheit zur Verbundenheit mit dem Kampf für die Überwindung der Unterdrückung vollzieht. Diese für die Verhältnisse in den USA seltene Ineinssetzung von tätiger Selbstverwirklichung und geschichtlicher Bewegung erwächst aus dem antiimperialistischen Grundcharakter der letzteren. In diesem Umstand wird die realistische Aneignung der Welt in der Literatur sinnfällig, wie umgekehrt ein Funktionieren der Literatur ermöglicht wird, das ein Aneignen der Welt durch die Literatur gestattet. Die Verbindung von individueller Positionsfindung, historischgesellschaftlicher Wirksamkeit und literarischer Manifestation tritt mit außerordentlicher Intensität und Dynamik in der Autobiographie von Malcolm X zutage. Malcolm X hat seinen Weg zum populären Führer der Black Muslims und schließlich zum Kämpfer für eine einheitliche antiimperialistische Bewegung aller Afroamerikaner, die weiße Verbündete zwar nicht einschließt, sie aber auch nicht völlig zurückweist, ebenfalls von den untersten Stufen des Ghettodaseins begonnen. Seine zusammen mit Alex Haley verfaßte Autobiographie entstand in den letzten Monaten seines Lebens in Antizipation seines baldigen gewaltsamen Endes. Er hoffte, daß die „ehrliche und vollständige Darstellung seines Lebens . . . sich als ein Zeugnis von einigem gesellschaftlichen Wert erweisen möge" 6 . D a ß dieser operativen Absicht beachtliche Wirkungspotenzen entsprechen, zeigt sich - nebenbei - darin, daß militante Kreise der Afroamerikaner die Aufnahme gerade dieser Autobiographie in die Lehrprogramme der Schulen zunehmend durchsetzen. Gerade für die Ärmsten unter den Schwarzen war Malcolm X „ein Mann, der von den tiefsten Tiefen gekommen war, die sie noch immer behausten, der über seine eigene Kriminalität und über seine eigene Unwissenheit gesiegt hatte, um ein überzeugender Führer und Sprecher, ein kompromißloser Champion seines Volkes zu werden" 7 . Der schwarze Nationalismus erscheint hier als außerordentlich produktiv für die Entwicklung eines kämpferischen Selbstbewußtseins der Afroamerikaner, das ihn in dem Maße zu transzendieren in der Lage ist, wie er ihnen als Hemmnis im Kampf gegen den Rassismus begegnet oder sich mit den Erfahrungen des revolutionären Weltprozesses als unvereinbar erweist. 160
Eldridge Cleavers Soul ort lee (1968, Seele auf Eis) befindet sich in unmittelbarer geistiger Nachbarschaft und Nachfolge zu Malcolm X. Wie dieser und wie später George Jackson vollzog Cleaver im Gefängnis den Übergang von der Kriminalität zur politischen Bewußtheit. Lehrer wurden ihm Marx, Lenin, Malcolm X, Fidel Castro, Mao Tse-tung und andere. Von seiner Zelle aus nimmt er Anteil an den demokratischen Bewegungen im Lande und fühlt sich mit ihnen verbunden. Ausgehend von seinen persönlichen Erfahrungen, will er zur Aussprache und damit zur Aufklärung über Probleme beitragen, die das Verhältnis von schwarzen und weißen Menschen und darüber hinaus die gesamtgesellschaftliche Situation in den USA betreffen. Eine zentrale Stellung nehmen dabei psychische, soziale und politische Aspekte des rassistischen Mythos von der Unantastbarkeit der „ultrafemininen" weißen Frau für den „supermaskulinen untergebenen" schwarzen Mann ein. In Verbindung mit dieser Problematik und darüber hinausgehend setzt er sich mit aktuellen Fragen der Politik (Vietnam-Krieg), der Kultur und Ideologie („Die weiße Rasse und ihre Helden"), der Literatur (über james Baldwin, LeRoi Jones und andere) sowie mit bedeutenden Ereignissen (die Ermordung von Malcolm X, Ghetto-Unruhen in Watts) auseinander. Entsprechend seinem agitatorisch-aufklärerischen Anliegen verzichtet er auf die chronologisch erzählende Form und benutzt eine essayistische Schreibweise, mit deren Hilfe er sich recht frei zwischen Fakt und Fiktion bewegt. Strukturierendes Element ist nicht der Werdegang der Persönlichkeit, vielmehr sind es die geistigen und emotionalen Beziehungen dieser Persönlichkeit zur Umwelt, ihre Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemen. Dies geschieht auf sehr individuelle und rückhaltlose Weise und in vielfältiger Form: Brief, Gedicht, Pamphlet, Aufsatz, Erzählung, Dialog; allegorische und mythische Elemente, Satire, Humoreske, Öde. Alle diese Formen und Mittel werden von Cleaver souverän eingesetzt und gehandhabt. Aus militant antiimperialistischer Sicht entsteht dabei eine kritische Wertung wichtiger kultureller und politischer Entwicklungen in den USA im ersten Jahrzehnt nach der juristischen Aufhebung der Rassensegregation an den Schulen im Jahre 1954. In seinen späteren Schriften behindert die einseitiger werdende nationalistische Haltung, gepaart mit ultralinken Tendenzen, die Effektivität seines antiimperialistischen Engagements. Ein ähnliches Verfahren wie Cleaver verwendet H. Rap Brown in seiner Autobiographie Die Nigger, Die! (1969, Stirb, Nigger, stirb!). 11 Romane
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Er nimmt Briefe, eigene und andere Gedichte und sogar Photomontagen in seine militant aufklärerische Schrift auf, deren Mittelpunkt ebenfalls die Auseinandersetzung mit dem Rassenproblem einschließlich seiner internationalen Aspekte ist. Das Bestreben der bisher genannten Autoren, zum Bewußtwerdungsprozeß der Afroamerikaner beizutragen, äußert sich ebenso deutlich in einer spezifisch humanistischen Einstellung. Als organisierendes und strukturierendes Prinzip fungiert die zu sich selbst findende Individualität. Das setzt der realistischen Aneignung dieser Prosa insofern Grenzen, als im künstlerischen Abbild das auf sich selbst verwiesene Individuum nur sehr geringe Möglichkeiten hat, die Umklammerung des Ghettos zu durchbrechen. Andererseits aber erbringt die Zuerkennung von Persönlichkeit auch den im Slum Vegetierenden eine stimulierende Potenz für deren aneignende Aktivität. James Baldwin, dessen Romane der verinnerlichten Humanität verpflichtet sind, hat gerade aus dieser Position heraus einen Beitrag zur Entwicklung der autobiographischen P ^ s a geleistet, deren besonderes Merkmal sich, entsprechend der eben genannten Wirkungsabsicht, in ihrer durchgängig essayistischen Form äußert Dieser reflektorische Ausdruck entspricht seiner problematisierenden Sicht auf die Wirklichkeit. So verbindet James Baldwin in seinen Essaysammlungen Fragen nach der Stellung des schwarzen Bürgers in Geschichte und Gegenwart der USA immer wieder mit der Sorge um die Perspektive des gesamten Landes und schließlich mit Überlebensfragen der menschlichen Rasse überhaupt. Claude Brown hingegen, dessen Autobiographie eine durchaus typische Affinität zu bestimmten Romanformen, vor allem dem IchReman besitzt, geht noch von dem bereits erwähnten Konzept des Rennissance-Man, das heißt einer ganzheitlichen Sicht der Wirklichkeit aus. Daher ist es nicht als zufällig anzusehen, daß sein zweites Buch, The Children of Ham (1976, Hams Kinder), tatsächlich ein Roman,, ist, der in gewisser Weise als Fortsetzung der Autobiographie Mancbild in the Promised Land (1965, Im Gelobten Land) gelten könnte. Es geht dem Autor hier aber nicht hauptsächlich datnm, seine persönliche Entwicklung faktengetreu darzustellen, vielmehr will er die Aufmerksamkeit auf eine bestimmte soziale Gruppe lenken: die „erste städtische Negergeneration im Norden", auf „ihren endlosen Kampf, ihren eigenen Platz in Amerikas größter Metropole und in Amerika selbst zu finden".8 Er verzichtet daher auf ein streng chronologisches Vorgehen. Vorzüglich 162
mit den Mitteln des Dialogs und der Rückblende vermittelt er eine plastisch-lebendige Vorstellung von den Existenzbedingungen im Slum. Während dieses Aufschwungs sozialer Bewegungen wurden darüber hinaus einige Autobiographien publiziert, die die Verbundenheit ihrer Autoren mit dem Sozialismus dokumentieren. Sie bedienen sich dabei der traditionellen Form der Ich-Erzählung, ohne daß es zu einer Annäherung an den Roman k ä m e : so William Edward Burghardt Du Bois, William L. Patterson, Benjamin J. Davis und schließlich Angela Y. Davis (1974). Besonders Du Bois - er blickt auf ein fast hundertjähriges Leben zurück, das von den ersten Jahren nach der Sklavenemanzipation bis in die sechziger Jahre reicht - erweist sich als empirisch weltgeschichtliches Individuum, indem er seinen Beziehungsreichtum dadurch zur Entfaltung bringt, daß er sich immer wieder aufs neue in Einklang mit der welthistorischen Entwicklung zu bringen sucht und dabei schließlich zur Identifikation mit der Arbeiterklasse und der sozialistischen Welt und vor allem mit der Sowjetunion kommt. So vielfältig auch die Äußerungen der insbesondere autobiographischen Prosa und darüber hinaus der gesamten literarischen Produktion der Afroamerikaner während der sechziger Jahre sind: Sie haben in den letzten zwanzig Jahren einen unübersehbaren Beitrag zur realistischen amerikanischen Gegenwartsliteratur geleistet und dürfen als Antwort auf die allgemeine Krise des Kapitalismus angesehen werden. In ihnen wird ein alternatives Geschichtsbewußtsein wirksam, dessen überaus unterschiedliche und teilweise widersprechende Formen in der antirassistischen und damit notwendig antiimperialistischen Bewegung ihre Gemeinsamkeit finden. Die militante Black-Power-Bewegung in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre war immer noch weitgehend von der Idee der - notfalls gewaltsamen - Durchsetzung wirklicher Demokratie in den USA bestimmt. Gleichzeitig und teilweise im Widerspruch dazu traten auch schon linksradikale und utopisch-sozialistische Vorstellungen auf. Nach 1970 jedoch wurde unter dem Druck massiven Polizeiterrors einerseits und fehlender Massenunterstützung andererseits in der „Avantgarde" der afroamerikanischen Befreiungsbewegung ebenso wie früher schon in der militanten New Left klar, daß weder ihre voluntaristischen Aktionen noch ihre politischen Manifestationen geeignet waren, eine revolutionäre Situation in den USA auszulösen. Das gesellschaftliche System als Ganzes hatte sich als vorerst unan11*
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greifbar erwiesen. Fragen einer Überlebensstrategie der Afroamerikaner drängten sich nunmehr in den Vordergrund. Sie verbanden sich teils mit opportunistischen Tendenzen zur Begünstigung eines schwarzen Kapitalismus, teils aber auch mit Bemühungen, den Kampf um Demokratie den gegebenen Bedingungen entsprechend konstruktiv und realistisch zu gestalten, das heißt dem imperialistischen System soviel Zugeständnisse wie möglich abzugewinnen. In der afroamerikanischen Literatur und ihrer Programmatik zeigt sich eine Tendenz zur Abwendung von der Schwarz-Weiß-Konfrontation und zur Hinwendung zur Black Community und zu ihren Problemen. Diese Einstellung ist gerade auch bei Vertretern des Revolutionary Black Arts Movement, aber auch in dem bereits erwähnten Roman von Claude Brown sowie bei James Baldwin (// Beale Street Could, Talk, 1974, Beale Street Blues) John Oliver Killens (The Cotillion, 1971, Der Debütantinnenball) und anderen feststellbar. Abgesehen von einigen Aus- und Nachläufern der militanten Literatur am Ende der sechziger Jahre9*, geht diese Tendenz der auf sich selbst gerichteten Aufmerksamkeit mit einer Abkehr von hypertrophiertem Schwarz und Schwärzer-als-Schwarz einher. Im Vordergrund stehen: Publikationen zur Geschichte und Kulturgeschichte der Afroamerikaner, insbesondere zur afroamerikanischen Musik und zu ihren Schöpfern, speziell des Blues und Jazz. Die historischen Studien sind oft von didaktischem Anliegen bestimmt: insbesondere Erziehung und Unterrichtung der afroamerikanischen Jugend.10* Das Bemühen um Aufarbeitung des literarischen Erbes äußert sich in einer Anzahl von Anthologien und Studien zur afroamerikanischen Literatur. Die in den sechziger Jahren so zahlreich publizierten soziologischen Analysen sind demgegenüber ganz in den Hintergrund getreten. Im Zusammenhang mit dem Aufschwung der Women's Lib (der Befreiungsbewegung der Frauen) ist das Problem der Diskriminierung der Frau und der Beziehung zwischen den Geschlechtern stark in den Mittelpunkt gerückt. Auffallend ist dabei die relativ große Anzahl weiblicher Autoren.11 Weitere Themen der gegenwärtigen afroamerikanischen Literatur sind: Afrika, die „Dritte Welt", Gefängnisliteratur, Kinder- und Jugendliteratur. Von den bereits genannten Autoren sind es zum Beispiel Anne Moody und John O. Killens, die sich dem jugendlichen Lesepublikum zuwenden. Neben den schon erwähnten autobiographischen Schriften von James Baldwin und Angela Davis verdient die 1977 erschienene Autobiographie Gemini von Nikki Giovanni besondere Aufmerksamkeit. 164
Eine offensichtlich rückläufige Tendenz haben die Laienspielgruppen in den schwarzen Wohngebieten genommen. Als Ursache gilt das allgemeine Scheitern des Versuches, Agitation, Kunstprogrammatik und Alltagsprobleme des „Mannes auf der Straße" in einen wirkungsvollen kommunikativen Zusammenhang zu bringen. Weiterhin produktiv und experimentierfreudig im Ausdruck der zu sich selbst gekommenen Individualität und schwarzen Identität erweist sich die Lyrik (Sonja Sanchez, Nikki Giovanni, Larry Neal, Maya Angelou, Tom Dent, Audre Lorde und viele andere). Offensichtlich ist die Lyrik dasjenige literarische Medium, das der Dialektik von Kommunikation und Wirklichkeitsaneignung unter den gegenwärtigen Lebensbedingungen der Afroamerikaner in den USA am besten entspricht.
Eva Manske
Individuum und Gesellschaft in amerikanischen Prosawerken der siebziger Jahre
Die Verschärfung der allgemeinen Krise des Kapitalismus und die daraus resultierende heftige Zuspitzung der Klassenauseinandersetzungen, die die amerikanische Entwicklung seit Beginn der sechziger Jahre charakterisieren, bewirkten Veränderungen im Denken und Weltverständnis bürgerlich-humanistischer Schriftsteller der USA, die sich in vielfältiger und widerspruchsvoller Weise im literarischen Prozeß der letzten Jahre reflektieren. Das staatsmonopolistische System und seine durch die spätbürgerliche Ideologie als allgemeinverbindlich propagierten sozialen Leitbilder und Wertvorstellungen werden durch neue Dimensionen ihrer krisenhaften Entwicklungen für die eigenen Bürger nicht nur zunehmend unglaubwürdig, sondern dieser Prozeß der Desillusionierung erhält auch eine besondere Schärfe durch die revolutionären Veränderungen im Weltmaßstab, die mit den Ereignissen der Oktoberrevolution 1917 ihren Anfang genommen hatten. Diese Veränderungen erzwingen auf ideologischem Gebiet ständig neue Versuche bürgerlicher Philosophen und Ideologen der verschiedensten Strömungen, Theorien zu produzieren und massenwirksam zu machen, die eine Suche nach neuen Wertvorstellungen und nach „neuen Lösungen" für soziale Widersprüche darstellen. Damit beabsichtigt man, demokratischen und antimonopolistischen Bewegungen im eigenen Land entgegenzuwirken, sie zu kanalisieren und zu neutralisieren. Kunst und Kultur erhalten in diesen Auseinandersetzungen einen immer bedeutenderen Stellenwert. Die Erscheinungen des geistigen und kulturellen Lebens in den USA verdeutlichen einhellig die komplizierten Entwicklungen der gesellschaftlichen Prozesse der Gegenwart. Eine inhumane, verlogene imperialistische Massenkultur wird gezielt und erfolgreich zur Manipulation der amerikanischen Bevölkerung eingesetzt. Es erweist sich, „daß die kapitalistische Kulturindustrie eine Jahrzehnte währende Kontinuität und Tradition für jeweils wechselnde Erfordernisse des 166
Klassenkampfes in ihrem Interesse zu nutzen versteht" 1 . Ein aufschlußreiches Beispiel ist die Nostalgiewelle und der Boom der historischen Trivialromane der letzten Zeit. Hier wird offenbar, wie ein durch das Bewußtwerden des Anachronismus der heutigen imperialistischen Gesellschaft verlorengegangenes Verhältnis zur Geschichte, das Millionen Amerikaner empfinden, als Marktlücke erkannt und erfolgreich kommerzialisiert wurde. 2 * Die Zuspitzung der Widersprüche in allen Lebensbereichen veranlaßt bürgerlich-humanistische Schriftsteller aber immer wieder, nach einem geschichtlichen und literarischen Selbstverständnis und nach Alternativen zu dem von ihnen kritisierten und beklagten Zustand des Menschen in der heutigen „Massengesellschaft" der Vereinigten Staaten zu suchen. Die Fragen nach dem Charakter und der Interpretation geschichtlicher Umwälzungen, nach der Stellung des Individuums in der heutigen bürgerlichen Welt und nach der Zukunft des Menschen und der Gesellschaft werden ins Zentrum der literarischen Darstellung gerückt. So bezeugt die seriöse amerikanische Prosa der sechziger und beginnenden siebziger Jahre eine intensive geistige und literarische Bewegung und das Bemühen vieler Schriftsteller der USA um eine ideelle und literarische Bewältigung der individuellen und sozialen Konflikte des Menschen. Die tiefe Diskrepanz zwischen überliefertem demokratischem Ideal und gegenwärtiger imperialistischer Realität, zwischen offiziell propagiertem Anspruch auf Freiheit, Fortschritt und Vernunft und den überall gegenwärtigen Formen des Verfalls des Systems und der Unterdrückung des Individuums drängt als schmerzhafte Lebenserfahrung zur Gestaltung. Schriftsteller wie Bernard Malamud, Saul Bellow, James Baldwin, Kurt Vonnegut, Joseph Heller, Joyce Carol Oates, Thomas Pynchon, Norman Mailer gestalten in der Prosa dieser Jahre mit unterschiedlicher weltanschaulicher Klarheit und geistiger Intensität die Folgen des gesellschaftlichen Niedergangs, vermitteln in kritischen, häufig ironisch oder satirisch akzentuierten Werken ihr Unbehagen über die den Menschen deformierenden und zerstörenden Standards und Praktiken amerikanischer alltäglicher Bürgerlichkeit. Das Krisenbewußtsein, das eine große Zahl spätbürgerlicher Schriftsteller in den USA erfüllt, führt bei einigen von ihnen zu pessimistischen Prognosen für Amerika und für die Menschheit insgesamt. Ausgeprägt manifestiert sich diese Tendenz in den letzten Jahren im Schaffen einer Reihe von jüngeren Autoren wie Thomas Pynchon, John Barth, Donald Barthelme oder John Hawkes, die eine
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elitäre, sogenannte avantgardistische Strömung der literarischen Szene der USA repräsentieren und denen die bürgerliche Literaturkritik große Bedeutung für die Erneuerung der amerikanischen Literatur beimißt. Ihre Romane und Kurzprosa prägt eine auffällige Distanz und skeptische Reaktion auf die Erscheinungen der amerikanischen Wirklichkeit und ihrer fatalen Auswirkungen auf den Menschen. Andererseits wird in der gestalteten Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt eine Weltsicht deutlich, die die Absurdität des Daseins und dessen Erkenntnisunmöglichkeit bereits voraussetzt. Ihr Konzept eines universalen, als existentiell empfundenen Dilemmas des Menschen läßt einen tiefen Geschichts- und Kulturpessimismus erkennen, der die reale bürgerliche Misere verabsolutiert und als menschheitliche interpretiert. Die Endzeitvisionen, die in ihren vielschichtigen, verschlüsselten und erzähltechnisch häufig ausgesprochen experimentellen Werken als eine dem Menschen drohende Zukunft oder bereits erlebte Gegenwart erscheinen, sind zweifellos Ergebnis einer kritischen Sensibilität gegenüber realen Widersprüchen in Geschichte und Gegenwart der USA. Sie tragen jedoch aufgrund der Irrationalität der Weltsicht nur in Ansätzen zu einer historisch wahren Erschließung der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch die Literatur bei. Zerbrechen der Erfahrung, Ambivalenz des Dargestellten und apokalyptische Visionen bei gleichzeitiger Ironisierung der gestalteten Stoffe charakterisieren ihre nicht selten provokant subjektivistische Darstellung, die dem beobachteten Chaos der Welt in einigen Fällen mit einer chaotischen und fragmentarisierten Schreibweise beizukommen sucht. Diese Autoren wollen die bis ins Äußerste vorangetriebene Vieldeutigkeit der gestalteten Probleme als fiktionale Abrechnung mit einer als irrational und absurd aufgefaßten Welt gewertet wissen. Auch in ihrem Werk wird bei aller Widersprüchlichkeit ersichtlich, daß sich die Literatur der Darstellung gesellschaftlicher Erfahrungen nicht mehr zu entziehen vermag. Der Radikalisierungsprozeß im gesellschaftlichen Leben der USA in den sechziger Jahren schuf nach den politisch reaktionären und geistig lähmenden Jahren des McCarthyismus günstigere Bedingungen für die Weiterentwicklung einer kritisch-realistischen Literatur. Ansätze zu solch einer Entwicklung waren zunächst in einem erweiterten Realitätsbezug und einer engeren Bindung der Literatur an die brennenden Fragen des Lebens zu spüren. Besonders prägt sich dies in den literarischen Zeugnissen der Afroamerikaner oder in den Werken der „dokumentarischen Prosa" aus. Weniger auffällig gibt sich dieser erweiterte Realitätsbezug in 168
einer kritischen Erkundung der gesellschaftlichen Realität, die auf eine desillusionierende Darstellung der Situation des Menschen in einer „Konsum- oder Massengesellschaft" zielt und die Nivellierung der menschlichen Persönlichkeit beleuchtet bzw. eine empfindsame und skeptische Reaktion auf die Folgen der wissenschaftlich-technischen Revolution für das Leben der Menschen impliziert. Stärker als in den Jahren vorher begreift sich die Literatur in den sechziger und siebziger Jahren wieder als Medium der kritischen Betrachtung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft unter dem Aspekt von Fragestellungen, die über einen auf den Individualfall konzentrierten Versuch des Selbstverständnisses, der Identitätssuche und Sinnfindung hinausgehen. Das Individuum erfährt in diesen Werken seine privaten Konflikte im Zusammenhang mit einer sozialen und politischen Situation, die den Menschen ebenso beschäftigt wie seine psychische und geistige Verfassung. Der einzelne wird in der Herausforderung durch eine solche Situation und durch die Geschichte gezeigt. Bemerkenswert ist dabei, daß sich nicht nur der Themenkreis erweiterte, sondern daß auch neue Ausdrucksmittel zur literarischen Gestaltung der Lage des Menschen in der Welt von heute erprobt wurden. Das Spektrum der Darstellungsweisen der letzten Jahre ist breit und deutet einen Prozeß an, der sich in der erzählenden Literatur der USA seit den sechziger Jahren abzeichnet: ein Aufbrechen der Formen und eine Überschreitung herkömmlicher Gattungsgrenzen, wobei sich auch direkte Einflüsse der Trivialliteratur auf das Schaffen bürgerlich-humanistischer Autoren in den letzten Jahren feststellen lassen. Diese Phase des Experimentierens spiegelt sich in Gestaltungsweisen wider, die neben einer Neigung zu sprachlichen Experimenten die Techniken und Methoden des Films, des Fernsehens und der bildenden Kunst (Collagen, Cartoons usw.) einbeziehen und für die literarische Darstellung zu nutzen versuchen - etwa in der Prosa einiger jüngerer Autoren wie Richard Brautigan, Donald Barthelme, John Barth, Ronald Sukenick, teilweise auch in der Prosa Kurt Vonneguts. Zu den bemerkenswertesten und aufschlußreichsten Neuheiten der letzten Jahren zählt die „dokumentarische Prosa". Der Schriftsteller greift zur Faktizität und zur Historie. Doch auch hier bleibt der Charakter der Fiktion durch die ordnende und deutende Subjektivität des Autors weitgehend erhalten, der in einigen Fällen sogar als Protagonist auftritt (zum Beispiel in Mailers Prosa). James Jones, Gore
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Vidal, Norman Mailer, James Baldwin, William Styron, Truman Capote und andere Autoren lieferten meisterhafte Beispiele für diese Prosaform, in der sich der Roman beim Versuch der authentischen Wiedergabe historischer und zeitgenössischer Erfahrung in Richtung auf Reportage, Essayistik oder soziologisch orientierte Dokumentationen hin öffnet, sich vom Fiktiven zum Faktographischen bewegt. Zur gleichen Zeit kann man auch eine gegenläufige Tendenz beobachten: den weitgehenden Verzicht auf eine Bindung des Erzählten an eine nachvollziehbare Wirklichkeit und ein Aufgehen im Irrealen, Allegorischen, Phantastischen. Solche von der bürgerlichen Kritik als „fabulators"3* bezeichneten Schriftsteller schaffen bewußt phantastische Fiktionen. In ihnen werden Märchen und Trivialmythen und -klischees parodiert, und klassische Stoffe der Weltliteratur, Mythen der Antike, geschichtliche und zeitgenössische Ereignisse werden in satirischer Brechung, grotesker Verfremdung und psychologischer Umdeutung „neu" erzählt.4* Jedoch auch mit diesen Romanen und Geschichten des „phantastischen Fabulierens" werden, besonders wo zeitgenössische Realität und Geschichte den Stoff hergeben, provozierende Fragen nach den Existenzbedingungen des Menschen in den Vereinigten Staaten heute gestellt. Daneben werden die Traditionen der sozialkritischen Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre weitergeführt. Im Werk einiger jüngerer begabter Autoren wie John Gardner, Larry Woiwode oder Joyce Carol Oates ist dies in der Hinwendung zu einem traditionell wirkenden epischen Erzählen erkenntlich.5 Der Grad, bis zu dem die Wirklichkeit literarisch erschlossen und das komplizierte Beziehungsgefüge von Mensch und Umwelt erhellt werden, ist naturgemäß sehr unterschiedlich. Trotz der Verwendung einiger zunächst radikal und neu scheinender Erzähltechniken zur literarischen Darstellung gegenwärtiger Erfahrungen gelingt es nicht immer, die Wechselbeziehung von Individuum und Gesellschaft überzeugend zu gestalten. Zwei Beispiele mögen diesen Widerspruch verdeutlichen. Richard Brautigan, Jahrgang 1935, hat seit den sechziger Jahren neben Kurt Vonnegut eine gewisse Popularität besonders unter der amerikanischen Jugend gewonnen.6 Er gestaltet in seinen beiden Romanen Trout Fishing in America (1967, Forellenfischen in Amerika) und In Watermelon Sugar (1968, In Wassermelonen Zucker) die Enttäuschung junger Menschen über das amerikanische Leben und ihre Sehnsucht nach einer Alternative zum bürgerlichen Alltag. 170
Kritisch werden die Krisenerscheinungen der amerikanischen Gesellschaft in der ironischen Darstellung des täglichen Lebens erfaßt. Die Gefährdung des Menschseins durch die Kommerzialisierung und Verdinglichung aller Beziehungen in einer auf Profit ausgerichteten Gesellschaft wird in eigenwillig phantasievoller, skurriler und seltsam naiver Art dargestellt. Die Gestalten sind kaum noch als Persönlichkeiten oder Charaktere im eigentlichen Sinne zu bezeichnen, sondern erscheinen lediglich als Medien eines kritischen Bewußtseins, das mit seismographischer Empfindsamkeit die Zeichen des Verfalls registriert. Gesellschaftskritik wird geweitet zur Zivilisationskritik und mündet in eine Flucht in ideale Landschaften und Utopien. Auch in dieser romantischen Flucht aus der verwirrenden Gesellschaft, die Anklänge an die Vorstellungen der Beat-Generation, der Hippies und Flower Children zeigt, wird die Widersprüchlichkeit amerikanischer Wirklichkeit erkennbar. Verlust des Natürlichen, Gewalttätigkeit und Zerstörung werden als alltägliche amerikanische Erscheinungen in den Erlebnissen des Erzählers deutlich, der zudem noch Mythen der amerikanischen Geschichte ironisch in Frage stellt. In der lakonischen und ironischen Art der Darstellung erinnert vieles an Vonneguts Prosa, doch fehlt Brautigan die Schärfe der Kritik. Vieles verrät einen Hang zum Idyllischen und bleibt sentimentalnostalgische Gestaltung eines Open-Road-Mythos - einer Sehnsucht nach Unabhängigkeit, Individualität und einem guten, sauberen Leben. Dabei läßt der Autor den Leser erkennen, daß es keine Enklave und kein Refugium dieser Art in Amerika mehr gibt. Auf eigenwillige Weise verbindet Brautigan Nostalgie und düstere Prophezeiung. Ein kritisches Verhältnis zur Umwelt kennzeichnet auch den 1973 erschienenen Roman Out (Hinaus) von Ronald Sukenick, einem jungen Autor (Jahrgang 1932), der in den letzten Jahren drei Romane, einige Short Stories und kritische Essays vorgelegt hat, die sich ebenfalls durch Experimentierfreudigkeit und Innovationen auszeichnen.7* Sukenick gestaltet in Out die amerikanische Realität der beginnenden siebziger Jahre. Wie ein Countdown wird ein ganzer Katalog solcher mittlerweile zum Alltag Amerikas gehörenden Phänomene wie Konspirationen, Terrorismus, Gewalttätigkeit, Brutalitäten der Polizei, Studentenunruhen, die Drogenszene und anderes dargestellt. In der Aneinanderreihung der Episoden wird diese Seite der Wirklichkeit scheinbar willkürlich und improvisiert gestaltet und so das Klima einer alles umfassenden Verfolgung, Bedrohung und Verunsicherung reproduziert. Reale Phänomene werden mit phantastischen
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Erlebnissen Dutzender von Gestalten gekoppelt, die eigentlich nur noch Namen sind. Sich dauernd verschiebende Handlungsfragmente gehen ineinander über, lösen sich auf und kehren wieder. Auf eigenwillige Weise wechseln die Gestalten ihre Identität: Sie sind dann nicht mehr zu fixieren und werden austauschbar. Eine der Gestalten ist der Autor, der über den nahezu unmöglichen Versuch des Schreibens über eine wahnsinnige Welt klagt. Dieses Kaleidoskop des Lebens in den USA, das einem gefährlichen Chaos gleicht, gipfelt in der Zerstörung der rebellierenden Gestalten durch die Polizei, durch den repressiven Staatsapparat, durch Drogensucht, Wahnsinn oder durch ihre Anpassung ans Establishment. Die Handlung führt von der Ostküste quer über den Kontinent und dann ins Nichts, out. Die Flucht hinaus wird im Titel benannt und auch ironisch durch die letzten freien, weißen Seiten des Buchs deutlich gemacht. In diesem Bemühen, „zu einer leeren Seite zurückzukehren, von der wir noch einmal beginnen können" 8 , wird ein Ansatz für einen Neubeginn gesehen. Dem dient auch die Auflösung der Charaktere, die der Autor als Akt der Befreiung aus vorgegebenen Strukturen und Haltungen empfindet, um so die Lebensmöglichkeiten des Individuums innerhalb eines manipulierenden und alles kontrollierenden Zusammenhangs gesellschaftlicher Realität zu erweitern. Mißtrauisch geworden gegenüber den traditionellen Formen realistischen Erzählens 9 *, benutzt Sukenick Techniken der Assoziation und der phantasievollen Kombination. Sein Versuch, die Atmosphäre der amerikanischen Gesellschaft zu gestalten, bleibt Reproduktion einer fragmentarisierten, als chaotisch empfundenen Welt, die sich rationaler Analyse entzieht. Sowohl bei Brautigan als auch bei Sukenick wird das Bemühen sichtbar, die Vielschichtigkeit des öffentlichen Lebens unter kritischen Vorzeichen zu reflektieren, die Gesellschaft als dem Menschen fremd und feindlich zu zeigen. Die Darstellung impliziert jedoch eine Sicht der Welt als ein Chaos, als ein sinnloses Sich-im-Kreis-Drehen, bei dem willkürlich an jedem Punkt Neues und Altes, Logisches und Willkürliches als austauschbar erscheinen. Ihren Gestalten bleibt die geistige Erkenntnis einer Welt versagt, die sie als paradox erleben und empfinden, gegen deren zerstörende Gewalt sie sich mit individualistischen Gesten einer Flucht aus der Gesellschaft zur Wehr zu setzen versuchen. Die Ohnmacht des einzelnen wird hier thematisiert, und die Alternative erschöpft sich in individualistischer Selbstbehauptung. 172
In einigen Romanen der beginnenden siebziger Jahre wird der Versuch unternommen, in psychologisch vertiefter Gestaltung die individuelle Erfahrung im geschichtlichen Zusammenhang zu zeigen, die Gefährdung menschlicher Individualität durch soziale Mechanismen und Institutionen mit zum Teil ungewöhnlichen literarischen Methoden transparent zu machen. Romane wie Joseph Hellers Sornething Happened (1974, Was geschah mit Slocum}), Kurt Vonneguts Breakfast of Champions (1973, Frühstück für starke Männer), Joyce Carol Oates* Them (1969, Jene) und Do with Me What You Will (1973, Mach mit mir, was du willst) sind bemerkenswerte Beispiele von Darstellungen, in denen die Beschädigung und Zerstörung der menschlichen Persönlichkeit durch soziale Gegebenheiten, bittere Erfahrungen eines depravierten Milieus (besonders bei der Oates) oder langsames innerliches Absterben in der Monotonie und Stereotypie des amerikanischen Alltags die fiktive Welt der Romane charakterisiert und in denen sich das Bedrohliche der Außenwelt bis in die innersten Regungen der Gestalten verfolgen läßt. Hellers Roman Something Happened benennt im Titel das Ergebnis dieses Prozesses. Das in Form eines riesigen inneren Monologs geschriebene Buch ist die mitleidslose, ironische Analyse des menschlichen und moralischen Niedergangs des Helden, Bob Slocum, der sich mit seinem gleichzeitigen sozialen Aufstieg vollzieht. Vor dem Leser entfaltet sich die monströse Innenwelt eines mittelmäßigen Mannes, der beständig auf der Suche nach seiner Identität die Versprechungen, Hoffnungen und schier unbegrenzten Möglichkeiten seiner Jugend mit den gegenwärtigen bitteren Ängsten des herannahenden Alters, des beruflichen Versagens in dieser Welt der Kon2erne, in der jeder jeden fürchtet, konfrontiert. Die Kritik am Versagen des Individuums wird mit einer subtilen, hintergründigen Erschließung der gesellschaftlichen Zustände verbunden. D e r Roman verfolgt die Frage, was mit Slocum und seiner Familie geschah, in einer kunstvollen und komplizierten Struktur, die Vergangenheit und Gegenwart fortlaufend miteinander konfrontiert und ineinanderschiebt, die vermittels einer Assoziationstechnik Erlebnisse wiederholt aufgreift und neu durchspielt. Doch hier dienen diese Techniken der Präzisierung der Erinnerungen, erhellen die Desintegration einer bürgerlichen Familie, die, nach außen erfolgreich und angesehen, scheinbar die Verwirklichung jenes „American Dream" darstellt. Aber dieses Leben gleicht einem Alptraum. Ein in extremem M a ß e reflektierendes Bewußtsein enthüllt ein kompliziertes Beziehungsgefüge von 173
Mensch und Gesellschaft, erhellt in einem Spiel von Gedanken und Gesichtspunkten und in dem besessenen Sich-erinnern-Müssen den eigenen Charakter und zugleich wesentliche Merkmale der amerikanischen Nachkriegsgesellschaft, die poetisch verdichtet im Bild der Company erscheint. In der satirischen Darstellung der Company, ihrer Methoden und Praktiken seziert Heller die brutalen und subtilen Mechanismen der Manipulation, Ausbeutung und Zerstörung des Menschen in der heutigen imperialistischen Gesellschaft. Entfremdung und Feindseligkeit der Menschen in allen Lebenssphären - in dem vom Konkurrenzkampf und Erfolgszwang bestimmten Berufsleben wie im zermürbenden Alltag der Familie dargestellt - werden als individuelles und soziales Phänomen begriffen. Slocum erkennt sich als Teil eines unheilvollen Ganzen: „Wer bin ich? Ich glaube, allmählich komme ich dahinter. Ich bin ein Stock; ich bin ein abgebrochener, mit Wasser vollgesogener Zweig und treibe mit meinesgleichen dahin in dieser einen, vor Gott (leider) unteilbaren Nation, wo es Freiheit und Gerechtigkeit für alle gibt, die schnell genug zugreifen und sie den übrigen vor der Nase wegschnappen."10 Mit geschliffenem, abgründigem Humor und einem genauen Sinn fürs Detail führt Heller vor, daß das, was mit Slocum und seiner Familie geschah, gesellschaftlich signifikant ist und daß sich der Mensch nicht von der Geschichte abtrennen läßt. Diese psychologische Studie des Abbaus der Persönlichkeit ist damit gleichzeitig eine bittere, satirische Kritik an der USA-Gesellschaft und ihren Institutionen. Als formal außergewöhnlicher Zeitkommentar stellt sich auch Kurt Vonneguts 1973 erschienener Roman Breakfast of Champions dar, eine kompromißlos scharfe Satire auf das Leben in den USA zu Beginn der siebziger Jahre, in der Amerika stellvertretend und als Symbol für den „beschädigten Planeten Erde" 1 1 steht. In einer eigenwillig phantasievollen Mischung kombiniert der Autor unterschiedliche Darstellungsformen und scheinbar disparate Elemente miteinander: Motive der Science Fiction, der Parabel, des Märchens, der Autobiographie, der Groteske und der Farce verschmelzen zu einer Darstellung, die Standardübel der amerikanischen „Massengesellschaft" ins Bild setzt - was hier ganz wörtlich zu nehmen ist, denn Vonnegut verwendet neben den für ihn charakteristischen, im Telegrammstil abgefaßten Kurzkapiteln auch Cartoons, die das Beschriebene ergänzen. Hinter der gekonnten Leichtigkeit, der saloppen, grotesken und phantastischen Gestaltung und dem aphoristischen Stil 174
spürt man aber die tiefe Beunruhigung und Enttäuschung des Moralisten Vonnegut angesichts der fatalen Entwicklung in den USA. Wie in früheren Romanen entwirft er auch in Breakfast of Champions mit Ironie und Sarkasmus das Bild einer Gesellschaft, in der in einem unerbittlichen Konkurrenzkampf alles zur Ware degradiert wird, menschliche Beziehungen zu inhaltslosen Gesten erstarren und die menschliche Persönlichkeit erstickt wird, Robotern und Marionetten zu ähneln beginnt. Indem der Autor augenscheinlich normale und gewöhnliche Erscheinungen verfremdet und als absurd hinstellt, prangert er eine sozial zerrissene Gesellschaft an, die in ihrer Selbstdarstellung allzuoft technischen Fortschritt mit sozialem Fortschritt gleichsetzt. Die Erzähltechnik erinnert an Fernsehen, an Comic Strips und die Werbeslogans der Reklamewelt. Die schnelle Abfolge des Geschehens, das Ein- und Ausblenden kurzer Szenen, die auf das Essentielle reduzierten Feststellungen, Montageeffekte und Assoziationsketten vermitteln auf unterhaltsame und leicht faßliche Weise oft frappierende Einsichten in das Wesen der beschriebenen Vorgänge und der literarischen Gestalten. Der Autor, der selbst einer der handelnden Charaktere ist, sich in der Welt seiner Fiktionen als Schöpfer des Ganzen bewegt, erzählt von dem Zusammentreffen zweier sehr unterschiedlicher Amerikaner anläßlich eines Kunstfestivals in Midland City (sie!), des verkannten und erfolglosen Science-Fiction-Autors Kilgore Trout und des millionenschweren Geschäftsmannes Dwayne Hoover, eines Repräsentanten des oft beschworenen amerikanischen Erfolgstraums, der auf der Suche nach Antworten auf den Sinn des Lebens wahnsinnig wird. Angeregt durch die Lektüre eines Trout-Romans, in dem alle Menschen als programmierte Maschinen und der jeweilige Leser als einziges Wesen mit freiem Willen und Entscheidungsfreiheit dargestellt werden, vergißt er frühere Inhibitionen und läuft Amok. Charakteristische Themen Vonneguts kehren im Roman wieder: die zerfallene Utopie Amerika, der zu einem Alptraum pervertierte „American Dream", die Bedrohung und Zerstörung des Menschen in einer Welt der großen Konzerne, einer technokratischen Zivilisation. Es sind nicht mehr soziale Katastrophen großen Ausmaßes (wie in Player Piano, 1952, Das höllische System, oder Slaughterhouse 5, 1969, Schlachthof 5) oder gar die Antizipation des Weltuntergangs (Cat's Cradle, 1963, Die Wiege der Katze), mit deren Hilfe Vonnegut Kritik an der Gesellschaft übt, sondern die Ungeheuerlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens werden im Alltag aufgedeckt. Unbarm175
herzig prüft der Autor Anspruch und Wirklichkeit der USA, konstatiert die tiefe Diskrepanz zwischen den Träumen und der Realität, konfrontiert das offizielle Image mit der Kehrseite, der Skid Row, die den Müllhaufen der Gesellschaft bezeichnet, auf dem so viele Unterprivilegierte und Außenseiter landen. Wie Brautigan, Sukenick oder Heller attackiert auch Vonnegut die krassen Verfallserscheinungen in der amerikanischen Gesellschaft. Ausbeutung und Unterdrükkung, Rassismus, Kriminalität, Gewalt, Umweltzerstörung, Vereinsamung und Entfremdung des Menschen und vieles andere mehr signalisieren für den Autor den Zustand einer allgemeinen sozialen und geistigen Depression, liefern Stichworte für ein düsteres Bild menschlicher Erfahrung. In charakteristischer Manier wählt Vonnegut an einer Stelle die Metapher des „destructive testing" (Härtetest) dafür - jener Methode, Autos auf ihre Härte, Tauglichkeit und ihren Verschleiß in Zerstörungstests zu prüfen. Das Buch enthält bittere Invektiven, Geschichte und Gegenwart der USA werden jeglichen Nimbus beraubt und in sarkastischen Kommentaren als von Ausbeutung, Unterdrückung und Profitgier gekennzeichnet gezeigt. Trotz vordergründig komischer Gestaltung ist das Buch Anklage und Mahnung eines besorgten, auf das Wohl des Menschen bedachten Schriftstellers. Wohl erscheint manches durch die Methoden, die Vonnegut wählt, vergröbert, gelegentlich naiv vereinfacht, und es entgeht auch nicht ganz der Gefahr, in Formspielerei auszuarten. Dennoch besticht das Ganze durch1 die rigorose Kritik an sozialen Mißständen und den leidenschaftlichen Protest gegen die Verletzung der Würde des Menschen. Der Autor drängt gleichzeitig auf Verbesserung und Vervollkommnung der bestehenden Zustände und setzt in einer sehr persönlichen, gewinnenden Ausdrucksweise seine Sehnsucht nach Menschlichkeit, Liebe und Güte um — ohne allerdings historisch und sozial tragfähige Alternativen zu sehen. Neben solchen oft nicht widerspruchsfreien Versuchen der literarischen Gestaltung zeitgenössischer Wirklichkeit ist in den letzten Jahren in einigen Fällen eine erneute Hinwendung zu erprobten Formen kritisch-realistischer Darstellung zu verzeichnen. Eins der bemerkenswertesten Talente dieser Richtung ist Joyce Carol Oates. Diese junge Schriftstellerin hat schon ein umfangreiches Werk vorgelegt: sieben Romane, ein halbes Dutzend Bände Erzählungen, Gedichtsammlungen und literaturkritische Schriften. Die Tradition des psychologischen und des sozialkritischen Romans der zwanziger und dreißiger Jahre verleiht ihrer Prosa Profil. In ihren Werken erscheint 176
die Individualität eingebettet in die Geschichte, und das Ausloten der Psyche ihrer Gestalten verbindet sie eng mit der Darstellung gesellschaftlicher Verhältnisse. Einige ihrer Romane der sechziger Jahre, zum Beispiel A Garden of Eartbly Deligbts (1967, Ein Garten irdischer Freuden) und Them, erinnern stark an Dreiser und Steinbeck. Mit Einfühlungsvermögen und emotionaler Kraft enthüllt Joyce Carol Oates die zunehmende geistige und physische Brutalisierung des Lebens in Amerika und die damit verbundene Zerstörung des Menschen. Unübersehbar sind in ihren Romanen und Erzählungen gewisse Elemente melodramatischer Konfliktgestaltung, naturalistische Tendenzen in der Darstellung der sozialen Umwelt und eine Vorliebe für die Darstellung von Gewalttätigkeit. Dennoch vermag sie die Tragik menschlichen Lebens in den USA überzeugend zu gestalten, am gelungensten in einigen ihrer Short Stories und in ihrem Roman Them, der 1970 mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde. Es ist dies eine Art Chronik - die Autorin nennt es ein geschichtliches Werk in Romanform - einer Familie im proletarischen Milieu Detroits von den dreißiger Jahren bis Ende der sechziger Jahre. Der Roman schildert die Menschen in Abhängigkeit von einem Milieu sozialer und geistiger Armut, zeichnet aber auch ihr leidenschaftliches Ausbruchsverlangen und ihr Aufbegehren gegen ein solchermaßen determiniertes Dasein. Joyce Carol Oates läßt erkennen, daß die Menschen physisch und psychisch Opfer einer unmenschlichen Gesellschaft werden, daß sie in den sechziger Jahren trotz materieller Besserstellung genauso unglücklich sind wie in den Jahren der großen Wirtschaftskrise 1929 bis 1932 und der darauf folgenden Depression. In ihren Schicksalen verdeutlicht sie erneut „eine amerikanische Tragödie". Sie vermag in die subtile Gestaltung der Innenwelt ihrer Charaktere das Erleben einer Umwelt zu integrieren, die nur zu oft in Gewalt und Zerstörung explodiert und sich als ein amerikanischer Alptraum erweist. Doch kann sie nicht nur sehr eindringlich den Mechanismus der Zerstörung des Menschen durch die Gesellschaft darstellen, sondern wie in einer Reihe von Gestalten ihres Romans Do with Me What You Will neben der Bewußtwerdung ihrer Heldin und ihrem geistigen Erwachen auch eine Auseinandersetzung mit der Umwelt, die, über bloßes Erleiden oder kritisches Reflektieren hinausgehend, einem Willen zur Veränderung sozialer Gegebenheiten Ausdruck verleiht. Sie leistet damit mehr als nur ein kritisches Infragestellen der Bezie12 Romane
177
hungen von Individuum und Gesellschaft, das bei Heller oder Vonnegut dominiert. Die Vielfalt dieser literarischen Darstellungsweisen deutet den komplizierten und widerspruchsvollen Prozeß des Suchens vieler spätbürgerlicher Schriftsteller nach einem geschichtlichen Verständnis und nach neuen literarischen Formen zur Gestaltung der Erfahrungen des einzelnen in einer immer verwirrender und komplexer erscheinenden Umwelt an. Bei aller Widersprüchlichkeit zeigen sich in den Prosatexten der genannten Autoren bemerkenswerte Ansätze für die Weiterentwicklung einer kritisch-realistischen Literatur in den USA.
Anmerkungen
Zitate ohne deutschen Nachweis sind von den jeweiligen Verfassern übersetzt
Günther Klotz
Imperialismusbild und Romanstruktur. Wandlungen weltanschaulicher Positionen und literarischer Perspektive im englischen Roman 1 „Fringe" (engl.) = Rand, am Rande. In Anlehnung an den geläufigen Begriff „(ringe" für Theater außerhalb des bürgerlichen Theaterbetriebs gebildet.
Günter Walch
Epocbenproblematik
und Realismus bei E. M. Forster
1 Kurt Hager: Die Politik der Partei und die Aufgaben der marxistisch-leninistischen Philosophie. In: Neues Deutschland v. 17. 4. 1974, S. 4. 2 E. M. Forster: Our Second Greatest Novel. In: Two Cheers for Democracy. London 1951, S„ 226. 3 E. M. Förster: Howards End. London 1947, S. 184. 4 Die Bloomsbury Group waren ursprünglich vierzehn Intellektuelle, fast alle Absolventen von Cambridge, die sich durch die Gemeinsamkeit ihrer kritischen Haltung zur spätbürgerlichcif Gesellschaft und einer Hinwendung zum Individuum verbunden fühlten. Der Kreis war aufgrund seiner beeindruckenden Produktivität auf den verschiedensten Gebieten schon damals äußerst einflußreich und hat international stark nachgewirkt. Die bloße Nennung einiger aus der Bloomsbury Group hervorgegangener Arbeiten zusätzlich zu denen Forsters mag das andeuten: Bertrand Rüssel: Principles of Mathematics. London 1903; G. E. Moore: Principia ethica. London 1903; Alfred North Whitehead and Bertrand Rüssel: Principia mathematica. Vol. 1 - 3 , Cambridge 1 9 1 0 - 1 3 ; Leonard Woolf: After the Deluge. Harmondsworth 1937; Barbarians At the Gate. London 1939; Principia politica. London 1953; John Maynard Keynes: The general Theory of employment interest and money. London 1936. 5 George Edward Moore: Principia ethica. Cambridge 1956, S. 188 f . 6 T. S. Eliot: Gedichte. Frankfurt/M. 1964, S. 56 f. 12*
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7 Vgl. Walter Allen: The English Novel. London 1958, S. 340; E. M. Forstet: A Collection of Critical Essays. Hg. v. Malcolm Bradbury. New Jersey 1966, S. 3. 8 George Sutherland Fraser: The Modern Writer and His World. Continuity and Innovation in Twentieth-Century English Literature. New York 1964, S. 92. 9 Vgl. E. M. Forster: The Challenge of Time. In: Two Cheers for Democracy. London 1951, S. 59. 10 Vgl.. E. M. Forster: Art For Art's Sake. Ebenda, S. 94. 11 Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Ergänzungsband, Erster Ted. Berlin 1959, S. 536. 12 Lionel Trilling: E. M. Forster. London 1967, S. 102. 13 E. M. Forster: Books: A Note on the Way. In: Abinger Harvest. London 1946, S. 73 f.
Wolfgang Wicht Wandlungen
im Funktionsverständnis:
Virginia
Woolf
1 „a wiping-out of our whole system of aesthetics". Manet and the PostImpressionists. In: The Athenaeum, Nr. 4333, v. 12. 11. 1910, S. 598. 2 Der Titel lautete: Character in Modem Fictiöti, und die Erstveröffentlichung erfolgte in T. S. Eliots Criterion, Bd. 2, 1923/24, Nr. 8, S. 409-430. Separat gedruckt als Mr. Bennett and Mrs. Brown, London 1928. 3 Bertolt Brecht: Schriften über Kunst und Literatur. Bd. 2. Berlin-Weimar 1966, S. 61-62. 4 „The function of art is to express life." L. March Phillips: Art and Life. In: The Englisch Review, Mai 1914, S. 217. 5 „The best way of arresting covetousness is to content a man with his own position." Ebenda, S. 222. 6 Karl Marx: Lohnarbeit urtd Kapital. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 6. Berlin 1959, S. 408. 7 Vgl. Jeremy Hawthorn: Virginia Woolf's Mrs Dalloway: A Study in Alienation. London 1975, S. 22. 8 Vgl. Wilhelm Girnus: Wozu Literatur? Leipzig 1976, S. 150. 9 Thomas Mann: Doktor Faustus. Berlin-Weimar 1965, S. 506. 10 Zit. nach: Critics on Virginia Woolf. Hg. v. J. EL, Lathman. Coral Gables, Fla., 1970, S. 8. 11 Vgl. William Shakespeare: Sämtliche Werke. Hg. v. Anselm Schlösser. Bd. 2. Berlin 1956, S. 313. 12 „vision within". Zit. nach: Paul Goetsch: Die Romankonzeption in England 1880-1910. Heidelberg 1967, S. 189. 13 „moment of vision". Joseph Conrad: The Nigger of the „Narcissus". Typhoon. The Shadow Line. London 1960; S. 6.
180
14 „That man is the greater poet whose imagination is most transfused with reason, who has the deepest truth to proclaim as well as the strongest feelings to utter." Zit. nach: Irma Rantavaara: Virginia Woolf and Bloomsbury. Helsinki 1953, S. 69. 15 „For it is only by knowing how to write that you can make use in literature of your self; that self which, while it is essential to literature, is also its most dangerous antagonist." Virginia Woolf: The Common Reader. London 1929, S. 275. 16 Vgl. Manfred Naumann: Probleme geschichtlichen Funktionswandels. I n : Funktion der Literatur. Aspekte - Probleme - Aufgaben. Hg. v. Dieter Schlenstedt/Brigitte Burmeister/Ilse Idzikowski/Dieter Kliche. Berlin 1975, 17 Vgl. Christopher Caudwell: Studien zu einer sterbenden Kultur. Dresden S. 2 9 - 3 0 (Literatur und Gesellschaft). 1973, S. 41.
Georg Seehase Ende oder Neubeginn des Romans? Ansichten von Ralph Fox und Alick West 1 Friedrich Engels: An den italienischen Leser. Vorwort zur italienischen Ausgabe (1893) des Manifests der Kommunistischen Partei. In: Karl Marx/ Friedrich Engels: Werke. Bd. 22. Berlin 1963, S. 366. 2 Ralph Fox: Der Roman und das Volk. Hg. v. Georg Seehase. Berlin 1975, S. 31. 3 Vgl. ebenda, S. 4 5 - 4 6 . 4 Ebenda, S. 129-130. 5 Ebenda, S. 124. 6 Ein wenig bekannter Vortrag Lunaatscharskis. In: Kunst und Literatur 25 (1977), 6, S. 584, 586-587. 7 Ralph Fox: Der Roman und das Volk. Berlin 1975, S. 127. 8 Vgl. ebenda, S. 31, 57, 52. 9 Ebenda, S. 119. 10 Vgl. Maxim Gorki: Die Zerstörung der Persönlichkeit. In: Gesammelte Werke in Einzelbänden.. Bd. 23. Berlin-Weimar 1968, S. 29 ff. 11 Ralph Fox: Der Roman und das Volk. Berlin 1975, S. 119. 12 Ebenda, S. 111, 139. 13 Vgl. Edward Morgan Forster: Aspects of the Novel. Harmondsworth 1968; zuerst veröffentlicht 1927. 14 Ralph Fox: Der Roman und das Volk. Berlin 1975, S. 47. 15 Ebenda, S. 148, 149, 136. 16 Vgl. Anatoli Lunatscharski: Zur Charakteristik Lenins als Persönlichkeit. In: Sowjetliteratur 29 (1977) 4, S. 3.
181
17 Vgl. W. I. Lenin: Gedenkrede für J. M. Swerdlow in der außerordentlichen Sitzung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees, 18. März 1919. In: Werke. Bd. 29. Berlin 1961, S. 74 ff. 18 Ralph Fox: Der Roman und das Volk. Berlin 1975, S. 58. 19 Ebenda, S. 121, 128-129. 20 Maxim Gorki: Die Geschichte des jungen Menschen. In: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Bd. 23. Berlin-Weimar 1968, S. 286. 21 Ralph Fox: Der Roman und das Volk. Berlin 1975, S. 79. 22 Ebenda, Kap. VI. 23 Ebenda, S. 83. 24 Ebenda, Kap. VII. 25 Ebenda, Kap. VIII. 26 Alick West: Crisis and Criticism, and Selected Literary Essays. Foreword by Arnold Kettle. Introduction by Elizabeth West. London 1975, S. 100. 27 Vgl. ebenda, S. 88. 28 Ralph Fox: Der Roman und das Volk. Berlin 1975, Kap. XI. Leonard Goldstein Der
intellektuelle
Revolutionär und der antikolonialistische ungskampf
Befrei-
1 „Soap opccas" (Seifenopern) sind in den Vereinigten Staaten Hörspiele in Fortsetzungen, die sich mit den persönlichen Problemen der Menschen in der Familie, im Büro, auf der Bühne und so weiter beschäftigen. Sie werden deswegen „soap operas" genannt, weil die großen Seifenkonzerne die Kosten tragen und damit das Recht erwerben, in den eingeblendeben Werbespots ihre Produkte anzupreisen. Der Begriff „Oper" wird dabei verächtlich und ironisch gebraucht, weil hier die großen Themen der romantischen Opern des 19. Jahrhunderts auf die Alltagsprobleme der Menschen reduziert Werden, und zwar in einer eigentümlichen Mischung von Naturalismus, Sentimentalismus und Melodrama. 2 VgL Günther Klotz: Funktionswandel des englischen Romans im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik 22 (1974) 3, S. 229-250. 3 James Aldridge: Glühende Wüsten. Berlin-Weimar 1965, S. 97-98. Georgi A . Andshaparidse Der Roman über die Arbeiterklasse
in kapitalistischen
Ländern
1 XXV. Parteitag der KPdSU. Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der KPdSU und die nächsten Aufgaben der Partei in der Innen- und Außenpolitik. Berlin 1976, S. 36.
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2 Ebenda, S. 29. 3 Zit. nach: Naucnyj bjulleten' Leningradskogo Gosudarstvennogo Universiteta. 1947, Nr. 14-15, S. 56. 4 Sjugoro Jamamoto: Drei Novellen. In: Inostrannaja literatura 1977, 1, S. 96. 5 Roger Chateauneu: Cerez samuju vysokuju dver' (Romanauszug) In: Inostrannaja literatura 1977, 11, S. 72.
Hans Joachim Bernhard Politisch-ästhetische
Differenzierung
in der Literatur
der
BRD
1 Ausführliche Darlegungen enthalten die Sammelbände: Entwicklungstendenzen in der Literatur der BRD am Beginn der siebziger Jahre. Hg. v. Hans Joachim Bernhard. Rostock 1974 (Kolloquium vom 29./30. 5. 1974 an der Sektion Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Rostock; als Manuskript gedruckt); Positionen und Tendenzen in der Literatur der BRD um die Mitte der siebziger Jahre. Hg. v. Hans Joachim Bernhard. Rostock 1977 (Kolloquium vom 25./26. 5. 1977 an der Sektion Sprach- und Literaturwissenschaft der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock; als Manuskript gedruckt). 2 Vgl. dazu: Tendenzwende. Hg. v. Clemens Graf Podewils. Zur geistigen Situation in der Bundesrepublik. Stuttgart 1975. 3 Vgl. Pardon. Frankfurt/M. 1977, 5. 4 Nicolas Born: Die erdabgewandte Seite der Geschichte. Hamburg 1976. 5 Günter Grass: Der Butt. Darmstadt 1977. 6 Vgl. Heinrich Vornweg: In eigener Sache. In: L 76, Politische und literarische Beiträge 1976, 1, S. 3. 7 Vgl. Christian Geissler: Wird Zeit, daß wir leben. Geschichte einer exemplarischen Aktion. Berlin (West) 1976. 8 Peter Weiss: Ästhetik des Widerstands. Erster Band. Frankfurt/M. .1975, S. 54. .9 Heinrich Boll: Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann. Köln 1974; Leipzig 1975; Peter Schneider: . . . schon bist du ein Verfassungsfeind. Das unerwartete Anschwellen der Personalakte des Lehrers Kleff. Berlin (West) 1975; Heinar Kipphardt: März. München 1976. 10 Vgl. Heinrich Boll: Interview mit Marcel Reich-Ranicki. In: Aufsätze, Kritiken, Reden. Köln 1967, S. 504 u. 506; Heinrich Böll/Heinrich Vornweg: Solschenizyn und der Westen. In: L 76, Politische und literarische Beiträge 1976, 1, Su 181. 1.1 Vgl. dazu Heinrich Boll: Erzählungen, Hörspiele, Aufsätze. Köln 1961, S. 342; und: Aufbewahren für alle Zeit. In: Einmischung erwünscht. Köln 1976, S. 318.
183
12 Alfred Andersch: Winterspelt. Zürich 1974, S. 99; Berlin-Weimar 1976, S. 88. 13 Wolfgang Koeppen: Jugend. Frankfurt/M. 1976. 14 Peter Maiwald: Geschichten vom Arbeiter B. München 1975; und Antwort hierzulande. München 1976. 15 Peter Schütt: Mein Niederelbebuch. Fischerhude 1976. 16 Franz Josef Degenhardt: Petroleum und Robbenöl oder Wie Maayk der Eskimo kam und mein verrückter Vater wieder gesund wurde. München 1976. 17 Martin Walser: Jenseits der Liebe. Frankfurt/M. 1976; Berlin-Weimar 1977. 18 Günter Herburger: Flug ins Herz. Darmstadt 1977. 19 Vgl. Vorstellen, wie die Gefechte zukünftig sein werden. Ein Gespräch mit Günter Herburger. In: Deutsche Volkszeitung v. 23. 6. 1977, Nr. 25, S. 11. 20 Dagmar Ploetz: Die Rennsau und der Milliardär. In: Deutsche Volkszeitung v. 7. 4. 1977, Nr. 14, S. 13. 21 Artur Troppmann: Die Leute aus dem 30er Haus. München 1976 (Kleine Arbeiterbibliothek, Bd. 24). 22 Warum wird so einer Kommunist? Erzählungen, Gedichte, Reportagen, Protokolle. München 1976 (Kleine Arbeiterbibliothek, Bd. 17).
Wolfgang Techtmeier Roland. Dorgelès und Armand Lanoux. Zum Funktions- und Strukturwandel im französischen Antikriegsroman seit dem ersten Weltkrieg 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
11 12
Armand Lanoux: Adieu la vie, adieu l'amour . . . Paris 1977, S. 13. Ebenda, S. 214. Ebenda, S. 215. Ebenda, S. 319. Ebenda, S. 320. Maurice Rieuneau: Guerre et révolution dans le roman français de 1919 à 1939. Paris 1974. René Pomeau: Guerre et roman dans l'entre-deux-guerres. In: Revue des sciences humaines. Janvier-mars 1963, S. 77-95. Armand Lanoux: Adieu la vie, adieu l'amour . . . Paris 1977, S. 15-16. Ebenda, S. 17-18. Rita Schober: Armand Lanoux und der Streit um den modernen Roman. In: Von der wirklichen Welt in der Dichtung. Aufsätze zur Theorie und Praxis des Realismus in der französischen Literatur. Berlin-Weimar 1970, S. 315. Winfried Engler: Französische Literatur im 20. Jahrhundert. Bern-München 1968, S. 32. Armand Lanoux: Adieu la vie, adieu l'amour . . . Paris 1977, S. 294.
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Irene Selle
Die Herausforderung der Persönlichkeit bei Vercors und Merle 1 Im Vorwort zu seinem Roman Derriere la vitre (Paris 1970; Hinter Glas, Berlin-Weimar 1972) zitiert Merle einen Radiokritiker, der die Technik seines Romans L'île (Die Insel, Berlin-Weimar 1964) 1962 „veraltet" nannte. 2 Vgl. Robert Merle: Hinter Glas. Berlin-Weimar 1972, Vorwort. 3 Vercors: Clémentine. In: Das Schweigen des Meeres. Erzählungen. BerlinWeimar 1969. 4 Vgl. Louis Aragon: La lumière de Stendhal. Paris 1954, S. 144-145. 5 Vgl. Vercors: Das Geheimnis der Tropis. Berlin 1958, S. 166, 167, 172. 6 „L'homme n'est pas dans l'homme, il faut l'y faire éclore!" Vercors: Zoo ou l'assassin philanthrope. Collection du Théâtre National popultire. Paris 1964, S. 110. 7 Vercors: Das Geheimnis der Tropis. Berlin 1958, S. 181. 8 Siehe das Nachwort von Hans-Otto Dill zu: Vercors: Die geschützten Männer. Berlin-Weimar 1976, S. 433-438. 9 Vgl. Un entretien Pierre Daix - Robert Merle: L'histoire est-elle un sujet de roman? In: Les Lettres Françaises v. 5.-11. 7. 1962, S. 5 (Aussage Merles). 10 „Seules sont valables les œuvres de politique-fiction qui, reposant sur une analyse détaillée et précise de la réalité contemporaine, éclairent le présent par l'imagination de l'avenir." Robert Merle: Politique-fiction et angoisse planétaire. In: Le Monde v. 11. 10. 1967, S. 5. - Vgl. dazu auch MarieFrançoise Allain: Politique-fiction et satire de l'Amérique dans les romans de Robert Merle. In: Le Monde diplomatique, Juni 1974, S. 21. 11 Vgl. Jutta Menschik: Feminismus. Geschichte, Theorie, Praxis. Köln 1977, S. 54-55. 12 S. C. U. M. (Society for Cutting Up Men). Darmstadt 1969, abgedr. ebenda, S. 53-54. 13 Vercors' Antwort auf die Umfrage Le roman par des romanciers der Zeitschrift Europe 474, Oktober 1968, S. 246. 14 Robert Merle: „Mon pessimisme, c'est ma lucidité" (Interview von Guy Le Clec'h). In: Les Nouvelles littéraires v. 7.-13.. 8. 1972, S. 5. - Vgl. Vervors: Le roman par les romanciers. In:Europe 474, Oktober 1968,S. 246.
Brigitte Burmeister
Nouveau roman und Realismus. Umbruch einer
Literaturideologie
1 Alain Robbe-Grillet: Du réalisme à la réalité. In: Pour un nouveau roman. Pari» 1963, S. 171. 2 Ebenda, S. 172.
185
3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
Ebenda, S. 171. Ebenda, S. 173. Ebenda, S. 175. Ebenda, S. 178. Ebenda, S. 178. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt/M. 1971, S. 370-371. Alain Robbe-Grillet: Nouveau roman, homme nouveau. In: Pour un nouveau roman. Paris 1963, S. 149. Gérard Genette: Sur Robbe-Grillet. In: Tel quel 1962, 8, S. 40. Ebenda, S. 41. Ebenda, S. 44. Alain Robbe-Grillet: Du réalisme à la réalité. In: Pour un nouveau roman. Paris 1963, S. 177. Alain Robbe-Grillet: Ober die Avantgarde. Interview. l a : lendemains 1 (1976) 5, S. 23. Nouveau Roman: hier, aujourd'hui. Paris 1972, Bd. 1, S. 143. Gerhard Butters: Roman und Konstruktion. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur. Beiheft. Neue Folge 1977, 4, S. 88. Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Frankfurt/M. 1974, S. 73. Alain Robbe-Grillet in einem Interview mit Le nouvel observateur v. 26. 6. 1970.
Tamara W. Balaschowa Realismus
im westeuropäischen
Roman Jahre
der sechziger
und
siebziger
1 Theater im Umbruch. Hg. v. Henning Rischbieter. München 1970, S. 22. 2 Ursula Reinhold: Interview mit Franz Xaver Kroetz. In: Weimarer Beiträge 22 (1976) 5, S. 49. 3 I. Terterjan: Novejsij Paradoksalist In: Inostrannaja literatura 1974, 7, S. 229. 4 Hervé Bazin: Ce que je crois. Paris 1977, S. 200. 5 Julio Cortázar: Carta. In: Casa de las américas 8 (1967) 45, S. 10. 6 Zit. nach G. Andzaparidze : Vsmatrivajas' v Ocevidnoe. In : Inostrannaja literatura 1976, 1. S. 200. 7 Zit. nach I. Terterjan: Novejsij Paradoksalist. In: Inostrannaja literatura 1974, 7, S. 233.
186
Jasen N. Sassurski
Oktoberrevolution, revolutionärer Weltprozeß und die Literatur der USA 1 Vgl. Gaylord C. LeRoy: Literaturforschung und politisches Engagement. Möglichkeiten ihrer Zusammeaführung. I n : Amerikanische Literaturkritik im Engagement. Hg. v. Norman Rudich. Berlin 1978, S. 8 2 - 1 0 5 (Literatur und Gesellschaft).
Utz Riese
Gesellschaftliche Bewegung und der amerikanische Roman verinnerlichter Humanität 1 Thomas W o l f e : Eine nicht gefundne Tür. Ausgewählte Briefe. Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Joachim Krehayn. Berlin
1971,
S. 185. 2 Vgl, Alfred Kurella: Das Eigene und das Fremde. Berlin-Weimar 1968. 3 Eberhard Brüning: Die Entwicklung progressiver und sozialistischer Literatur in den USA. Fortschrittliche Schriftstellerorganisationen und ihr Einfluß auf den nationalen Literaturprozeß von 1917 bis 1945. Berlin 1974, S. 34 (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse. Bd. 116, Heft 6). 4 Vgl. Dmitrij Zatonskij: Iskusstvo romana i X X vek. Moskva 1973. 5 Amerikanische Literatur Martin Chandler.
der Gegenwart
Stuttgart
1973,
S. X X
in Einzeldarstellungen.
Hg.
v.
(Kröners Taschenbuchausgabe,
Bd. 4 1 2 ) . 6 Carson McCullers: Das Herz ist ein einsamer Jäger. Berlin 1968, S. 1 8 4 - 1 8 5 . 7 Ebenda, S. 190. 8 Carson McCullers: The Heart is a Lonely Hunter. Harmondsworth
1976,
S. 139 (es wird die Ausgabe in englischer Sprache herangezogen, weil die deutsche Übersetzung nicht so pointiert auf den Sinn verweist, auf den es hier ankommt). 9 Irene Skotnicki: Die Darstellung der Entfremdung in den Romanen von Carson
McCullers.
In:
Zeitschrift
für Anglistik
und Amerikanistik
20
(1972) 1, S. 34. 10 John Updike: Assorted Prose. Greenwich, Conn., 1962, S. 182. 11 Vgl. The Achievement of William Styron. Ed. by. Robert K . Morris and Irving Malin. Athens 1975, S. 2 4 - 5 0 . 12 Vgl. Robert Weimann: Literaturcheorie und politische Bewegung. I n : Weimarer Beiträge 24 (1978) 6, S„ 5 - 2 8 .
187
Friederike Hajek Die afroamerikanische
Befreiungsbewegung ihre Literatur
der sechziger
Jahre
und
1 Richard Wright: White Man, Listen! New York 1957, S. 115, 148. 2 Vgl. Ralph Ellison: Shadow and Act. New York 1964, S. XU ff. 3 Vgl. Robert Weimann: Literaturtheorie und politische Bewegung. In: Weimarer Beiträge 24 (1978) 6, S. 5-28. 4 Robert Weimann: Realismus in der Renaissance. Aneignung der Welt in der erzählenden Prosa. Hg. v. Robert Weimann. Berlin-Weimar 1977, S. 33. 5 Vgl. Anne Moody: Coming of Age in Mississippi. New York 1968;Erwachen in Mississippi. Mit einem Vorwort von Heinrich Boll. Berlin 1971. 6 Malcolm X/Alex Haley: The Autobiography of Malcolm X. New York 1966, S. 378. 7 Ebenda, S. XII. 8 Claude Brown: Manchild in the Promised Land. New York 1965, S. VII. 9 David Dawley: A Nation of Lords: The Autobiography of the Vice Lords. New York 1973; ein Buch über die Entwicklung der Vice Lords in Chicago zu einer organisatorischen Vereinigung der am stärksten depravierten Ghettojugend. James Forman: The Making of Black Revolutionaries. New York 1973; ein Buch, in dem noch der Standpunkt der bewaffneten Selbstbefreiung weiter vertreten wird. Bei Denise Oliver: Changes. New York 1976, nehmen dagegen die Kämpfe und Erfahrungen der Black Panther bereits Memoirencharakter an. 10 Z. B. Sterling G. Alford: Famous First Blacks. New York 1974; eine Art Almanach, Geschichte und Handbuch über hervorragende Leistungen von Afroamerikanern auf allen bedeutenden Gebieten des sozialen Lebens; Who is Who among Black Americans. Hg. v. William C. Matney. Northbrook, 111., 1976, führt ca. 10 000 afroamerikanische Persönlichkeiten in Wissenschaft, Bildung und Kultur auf. 11 Z. B. Pat Crutchfield Exum: Keeping the Faith: Writings by Contemporary Black American Women. New York 1975; Black Eyed Susans: Classic Stories by and about Black American Women. Hg. v. Mary Helen Washington. New York 1975.
Eva Manske Individuum
und Gesellschaft in amerikanischen siebziger Jahre
Prosawerken
der
1 Dieter Uhle: Die Mythen der kapitalistischen Kulturindustrie. In: Einheit 30 (1975), 8, S. 916. 2 Das bürgerliche Nachrichtenmagazin Time schreibt: „Noch nie, seit die
188
3
4
5 6 7
8 9
10 11
verzweifelten dreißiger Jahre und die vierziger Kriegsjahre .Anthony Adverse', ,Vom Winde verweht' und .Forever Amber' hervorbrachten, haben US-Leser in solchem Ausmaß die kollektive Flucht in die Vergangenheit gesucht. 1976 veröffentlichten US-amerikanische Broschur-Verleger mehr als 150 historische Romane, viele davon gleich als Taschenbuchausgaben, und setzten über 40 Millionen Exemplare ab - etwa zwei Bücher je Sekunde. Für 1977 werden noch höhere Verkaufsziffern erwartet." Brad Darrach: Rosemary's Babies. In: Time v. 17. 1. 1977 [ohne Seitenangabe]. Vgl. Robert Scholes: The Fabulators. New York 1967; Scholes nennt u. a. Hawkes, Barth, Vonnegut. Man könnte in diesem Zusammenhang auch Brautigan, Pynchon, Barthelme oder Sukenick anführen. Vgl. dazu Die amerikanische Literatur der Gegenwart. Hg. v. Hans Bungert. Stuttgart 1976, S. 12-13. - Einige Beispiele für diese literarische Darstellung sind: John Barth: Giles Goat-Boy; or, Tbe Revised New Syllabus (1966, Giles Ziegenjunge oder der korrigierte Stundenplan), Lost in tbe Funbouse. Fiction for Print, Tape and Live Voice (1968, Ambrose im Juxbaus. Fiktionen für den Druck, das Tonband und die menschliche Stimme), Cb'tmera (1972, Schimäre), John Gardner: Grendel (1971), Donald Barthelme; Snow White (1967, Schneewittchen). Auch die Prosa Ronald Sukenicks und Richard BraUtigans kann hier angeführt werden. Vgl. dazu A. Zverev: Faith in the Good. In: 20th Century American Literature: A Soviet View. Moscow 1976, S. 468. Vgl. Terence Malley: Richard Brautigan. New York 1972, S. 13. Der amerikanische Kritiker Jerome Klinkowitz analysiert u. a. die Prosatexte Sukenicks als repräsentatives Beispiel experimenteller Prosa der sechziger Jahre. Vgl. Jerome Klinkowitz: Literary Disruptioris. The Making of a Post-Contemporary American Fiction. Urbana-Chicago-London 1975. Joe David Bellamy: The New Fiction. Interviews with Innovative American Writers. Urbana-Chicago-London 1975, S. 55. Sukenick formulierte in einem Interview: „Ich glaube nicht, daß die Leute noch Romanen glauben . . . Ich denke, daß der Roman in seinen realistischen Formen seine Glaubwürdigkeit verloren hat." Ebenda, S. 59. Joseph Heller: Was geschah mit Slocum? Frankfurt/M. 1975, S. 260. Kurt Vonnegut: Frühstück für starke Männer. Hamburg 1974, S. 15.
Personen- und Werkregister
Ainsworth, William 57 Aldridge, James 19 55 57-64 130 Captive in tbe Land 58-59 The Diplomat 57-58 60 Heroes of tbe Empty View 60-61 63 I Wish He Would Not Die 57 bit 60 Tbe Last Exile 58-60 Mockery in Arms 58 60 130 Tbe Statesman's Game 58 Andersch, Alfred 80 82-84 88 90 94 Kirscben der Freiheit 94 Winterspelt 83 88 94 Angelou, Maya 165 Aragon, Louis 111 La lunaire de Stendhal 111 Austen, Jane 31 Babbitt, Irving 37 Baldwin, James 131 151 158-159 161-162 164 167 170 If Beale Street Could Talk 131 164 Balzac, Honoré de 118 121 Bamm, Peter 77 Baraka, Imamu Amiri, siehe Jones, LeRoi Barbusse, Henri 70 100 Le feu 100 Barstow, Stan 66 126 Tbe Desperados 126
190
Barth, John 167 169 Barthelme, Donald 167 169 Bates, Ralph 48 Bazin, Hervé 133 Beckenbauer, Franz 77 Beckett, Samuel 129 Beethoven, Ludwig van 31 153 Bellow, Saul 145-146 150-151 167 Dangling Man 146 151 Herzog 151 Benjamin, René 100 Gaspard 100 Bennett, Arnold 38 Berger, John 56 Bertrand, Adrien 100 L'appel du sol 100 Blair, Anne 100 A Tree in tbe West 69 Boll, Heinrich 70-71 81-83 Billard um balbzebn 81 Die verlorene Ehre der Katbarina Blum 82 Bonnar, Robert 24 64 Born, Nicholas 76 Die erdabgewandte Seite der Geschichte 76 Bragg, Melvyn 69 Brautigan, Richard 169-172 176 Trout Fishing in America 170 In Watermelon Sugar 170 Brecht, Bertolt 39 87-88 Herr Puntila und sein Knecht Matti 87
Briffault, Robert 57 Buropa 57 57 Europa in Limbognis Brown, Claude 159 162 164 Tbe Children of Ham 162 Mancbild in tbe Promised Land 162 Brown, H. Rap 159 161-162 Die Nigger, Die! 161-162 Brühl, Heidi 77 Brüning, Eberhard 144 Burmeister, Brigitte 17 Butler, Samuel 27 50 Butor, Michel 118
Légende d'Ulenspiegel et de Lamme Goedzak 48 Crichton, Robert 70 Tbe Camerons 70
Camus, Albert 121 Capote, Truman 145 170 Castro, Fidel 161 Caudwcll, Christopher 44 46 54 Illusion and Reality 46 Cézanne, Paul 36 Chandler, David 67 128 Huelga 67 128 Chaplin, Sid 66 69 Chateanneu, Roger 69-70 72 Par la plus baute porte 69 Chavis, Ben 156 Cheever, John 126 Bullet Park 126 Cherry, Mike 71 Chotjewitz, Peter 92 Der Dreißigjährige Friede 92 Christadler, Martin 146 Cleaver, Eldridge 159 161 Soul on Ice 161 Cleever, John 151 Conrad, Joseph 19 38 43 46 57 The Heart of Darkness 57 Tbe Nigger of tbe „Narcissus" 43 Tbe Secret Agent 57 Under Western Eyes 57 Cortazar, Julio 133 Coster, Charles de 48
Davis, Angela Y. 156 163-164 Davis, Benjamin J. 159 163 Defoe, Daniel 46 50 Degenhardt, Franz Josef 87 92 Brandstellen 92 Petroleum und Robbenöl oder Wie Mayak der Eskimo kam und mein verrückter Vater wieder gesund wurde 87 Zündschnüre 92 Delacroix, Eugène 80 Delibes, Miguel 130 132 Dent, Tom 165 Dickens, Charles 46 49-50 56 62 Barnaby Rudge 56 A Tale of Two Cities 56 Dimitroff, Georgi 48 Disraeli, Benjamin 56-57 65 Coningsby 56 Sybil 57 65 Doherty, Len 24 56 Dorgelès, Roland (d. i. Roland Lécavelé) 100-107 Le cabaret de la belle femme 102 Les croix de bois 100-105 Dos Passos, John 137-138 145 Dreiser, Theodore 137 149 177 Du Bois, William Edward Burghardt 159 163 Duhamel, George 100 Civilisation 100 Dumas, Alexandre 153 Eliot, George 57 Felix Holt tbe Radical 57 Eliot, Thomas Stearns 30 37-38 52 137 Tbe Waste Land 30 38
191
Elliott, Janice 69 A Loving Eye 69 Ellison, Ralph 151 Invisible Man 151 Engels, Friedrich 47 Engler, Winfried 105 Französische Literatur im 20. Jahrhundert 105 Enzensberger, Hans Magnus 86 Mausoleum 86 Faulkner, William 71 137-138 138 The Hamlet Fest, Joachim 91 Feuchtwanger, Lion 85 Fielding, Henry 46 49 50 62 Filbinger, Hans-Georg 92 .Fitzgerald, Ffancis Scott 137 Flaubert, Gustave 36 123 Forster, Edward Morgan 19 21 23 27-35 38 47-48 50 57 62 The Celestical Omnibus 30 Howards End. 32-33 Other Kingdom 30 A Passage to India 21 34-35 57 Two Cheers for Democracy 34 Fox, Ralph 34 46-51 53-54 The Novel and the People 46 48 54 Storming Heaven 46 Friel,. Brian 134 Freedom of the City 134 Fry, Roger 36 Galsworthy, John 32 38 50 Gandhi, Mohanads Karamtschand 155 Gardner, John 131 134 170 Nickel Mountain 131 Sunlight Dialogues 134 Garnett, David 47 Gauguin, Paul 36 Geissler, Christian 79 96-97
Das Brot mit der Feile 96-97 Wird Zeit, daß wir leben 79 97 Genette, Gérard 124 Genevoix, Maurice 106 Gibbon, Lewis Grassic, siehe Mitchell Gide, André 106 Ginzburg, Natalia 134 Caro Michele 134 Giovanni, Nikki 158 164-165 Gemini 164 Giraudoux, Jean 106 Girnus, Wilhelm 41 Godwin, William 57 Goebbels, Joseph Î10 Gorki, Maxim 47 54 136 Die Mutter 136 Grass, Günter 78 97-99 Der Butt 78 97 Greene, Graham 19 21-22 24 55 71 The Quiét American 21 24 Greenlee, Sam 158 The Spook Who Sat by tbe Door 158 Gregory, Dick 159 Grün, Max von der 126 128 131 bis 132 Irrlicht und Feuer 126 Stellenweise Glatteis 131-132 Habe, Hans 77 Haley, Alex 160 Handke, Peter 79 Hardy, Thomas 28 50 Hawkes, John 167 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 92 Heine, Heinrich 78 Heller, Joseph 129 167 173 176 178 Sometbing Happened 129 173 Hemingway, Ernest 137 Herburger, Günter 83 87-88 Flug ins Herz 87 Hesse, Hermann 76 Hill, Joe 136 Hirnes, Chester 158
192
Hobbs, Tay 70 Born to Struggle 70 Högemann-Ledwohn, Elvira 87 Höß, Rudolf 109-110 Hölderlin, Johann Christian Friedrich 85 Holcroft, Thomas 57 Howells, William Dean 148 Hume, David 122 Huxley, Aldous 19 34 Ibsen, Henrik 36 Igel, Pelle 93 Inchbald, Elizabeth
57
Kipphardt, Heinar 75 82 März 82 Knef, Hildegard 77 Koeppen, Wolfgang 85-86 92 Jugend 85 92 Konjetzky, Klaus 88 Krämer-Badoni, Rudolf 77 Kroetz, Franz Xaver 88 129 131 Krüger, Horst 78 Kühn, August 86 90 93 95-96 Festspiel für Rothäute 95 Ich Wolkenstein 96 Jahrgang 22 93 Die Präsidentin 95 Zeit zum Aufstehn 86 93
Jackson, George 161 James, Henry 28 46 Jeal, Tom 70 Until the Colours Fade 70 Jean, Raymond 131 La femme attentive 131 Jones, James 169 Jones, LeRoi 157 161 The Slave Ship 157 Jones, Lewis 46 Joyce, James 15 21 37 46-47 50 bis 53 71 Ulysses 51-53 Jünger, Ernst 78 Eumeswil 78 Die Zwille 78 Jürgens, Curd 77
Lainé, Pascal 128 131 La dentellière 128 131 Lambert, David 24 64 Lanoux, Armand 100-107 Adieu la vie, adieu l'amour . . . 100 105-107 Quand la mer se retire 105-106 Lawrence, David Herbert 38 Lawrence, Thomas Edward 61 Leavis, Frank Raymond 42 Lee, Don L. 158 Lenin, W.. I. 33 48 66 161 Lenz, Siegfried 81 Deutschstunde 81 LeRoy, Gaylord C. 140 Lessing, Doris 56 Lewis, Sinclair 137 149 Lewis, Wyndham 37 Lidman, Sara 128 Marta, Marta 128 Lindsay, Jack 56 London, Jack 54 115 136 149 Lorde, Audre 165 Lubbock, Percy 47 Lukâcs, Georg 14 Lunatscharski, A. W. 47-48 Lytton, Edward Bulwer 57
Kafka, Franz 15 Kant, Hermann 78 111 Der Aufenthalt 111 Die Aula 78 Killens, John Oliver 158 164 The Cotillion 164 King, Martin Luther 155-156 Kingsley, Charles 57 Alton Locke 57 Hypatia 57 Kipling, Rudyard 19 13
Romane
193
Mailer, Norman 167 169-170 Maiwald, Peter 86 Antwort hierzulande 86 Geschichten vom Arbeiter B. 86 Malamud, Bernhard 142 145 150 bis 151 167 Tbe Assistant 142 Malcolm X 159-161 Malherbe, Henri 100 La flamme au •poing 100 Malraux, André 48 Mann, Golo 92 Mann, Heinrich 89 Mann, Thomas 33 41 Mao Tse-tung 161 Marcuse, Herbert 66 Marx, Karl 28 32 51 148 161 Matisse, Henri 36 Maupassant, Guy de 107 McCullers, Carson 145-147 151 The Heart Is a Lonely Hunter 146-147 Melville, Herman 115 Menzel, Adolf 80 Meredith, George 31 57 Beauchamp's Career 57 The Egoist 31 Emilia in England 57 The Tragic Comedians 57 Merle, Robert 108-112 114-117 128 134 TJn animal doué de raison 114 Derrière la vitre 109 115 128 134 Les hommes protégés 114-116 L'île 114 Madrapour 114 109 115 La morte est mon métier Weekend à Zuydcoote 108 Mitchell, James Leslie 46 57 Moody, Anne 159 164 Coming of Age in Mississippi 159 Moore, George Edward 29-30 179 Principia etbica 29-30 194
Moravia, Alberto 126 L'automa 126 La noia 126 Musil, Robert 15 Nasser, Gamal Abd al- 59 Naumann, Manfred 44 Neal, Larry 157 165 Nelson, Eugene 67 67 Br acero Nexò, Martin Andersen 54 Nicolson, Harold 57 Nietzsche, Friedrich 92 Oates, Joyce Carol 167 170 173 176 bis 177 Do with Me What You Will 173 111 A Garden of Earthly Delights 111 Them 173 177 Oilier, Claude 122 O'Neill, Eugene 136 Oury, Louis 70 Les prolos 70 Parker, Gordon 69-70 The Darkness of the Morning 69 Pater, Walter 43 Patterson, William L. 159 163 Picasso, Pablo 36 80 Ploetz, Dagmar 88 Plunkett, James 46 64 Portner, Rudolf 91 Operation Heiliges Grab 91 Pomeau, René 103 Guerre et roman dans I'entre-deuxguerres 103 Poole, Ernest 136 Pound, Ezra 37 137 Proust, Marcel 15 102 106 A l'ombre des jeunes filles en fleurs 102 Puschkin, A. S. 153 Pynchon, Thomas 167
Read, Herbert 34 52 Reade, Charles 57 Reed, John 136 Resnais, Alain 121 Rhodes, A. 69 Shout into the Wind 69 Ricardou, Jean 122-124 Richards, Ivor Armstrong 52 Richardson, Dorothy 46 Richardson, Samuel 46 50 Riese, Utz 17 157 Rieuneau, Maurice 103 Guerre et révolution dans le roman français 103 Ritter, Roman 88 Robbe-Grillet, Alain 118-125 L'année dernière à Marienbad 121 Romains, Jules 106 Roth, Philip 141 Runge, Erika 75 128 Rutherford, Mark 48 57 The Revolution in Tanner's Lane 48
Salinger, Jerome D.. 139 145 148 The Catcher in the Rye 139 148 Sanchez, Sonja 165 Sandburg, Carl 136 Sarraute, Nathalie 118-119 Sartre, Jean-Paul 121 124 Satonski, D. 15 146 Scharang, Michael 128 Der Sohn eines Landarbeiters 128 Schneider, Peter 82 . . . schon bist du ein Verfassungsfeind 82 Schober, Rita 105 Armand Lanoux und der Streit um den modernen Roman 105 Scholochow, M. A. 48 Schütt, Peter 86 128 Mein Niederelbebuch Scott, Walter 50 57 13*
86
Scott-King, Corretta 159 Seghers, Anna 84 Die Toten bleiben jung 84 Shakespeare, William 42 47 Ein Sommernachtstraum 42 Shaw, Bernhard 34 57 128 Pygmalion 128 Sillitoe, Alan 19 2 2 - 2 6 55 57 66 The Death of William Posters 55 Key to the Door 22 24 55 A Tree on Fire 55 Silva, Miguel Otero 134 Cuando quiero llorar no lloro 134 Simon, Claude 118 122 Sinclair, Upton 136 145 Smith, Herbert 24 64 Snow, Charles Percy 19 55 Solanas, Valerie 116 Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer 116 Sperr, Martin 129 Spengler, Oswald 92 Spring, Howard 57 Steinbeck, John 138 146 177 The Grapes of Wrath 146 Stendhal 111 Stephen, Leslie 43 Sterne, Lawrence 46 Stevenson, Robert Louis 28 115 Stil, André 131-132 Roman songe 131 Struck, Karin 76 Klassenliebe 76 Lieben 76 Die Mutter 76 Styron, William 141 145 149 151 170 Lie Down in Darkness 149 The Long March 149 The Way of the Warrior 149 Sukenick, Ronald 169 171-172 176 Out 171 Swerdlow, J. M. 48 Swinburne, Algernon Charles Lesbia Bradon 57
195
57
Taine, Hippolyte 122 Thackeray, William Makepeace 50 Thoreau, Henry David 155 Toulmin, David 69 Blown Seed 69 Tressell, Robert 46 50-51 54 56 The Ragged Trousered Philanthropists 50 Trilling, Lionel 33 Triolet, Elsa 126 Age de nylon 126 Trollope, Anthony 57 Troppmann, Artur 89 93 Die Leute aus dem 30er Haus 89 93 Updike, John 134 141 148 151 Rabbit Redux 134 Upward, Edward 56 Vailland, Roger 127 Vercors 108-109 112-114 117 126 Les animaux dénaturés 113 Clementine 109 112 Quoto ou les pléthoriens 126 Le silence de la mer 108 Zoo ou l'assassin philanthrope 113 Vidal, Gore 170 Vonnegut, Kurt 167 169-170 173 bis 176 178 Breakfast of Champions 173-175 Cat's Cradle 175 Player Piano 175 Slaughterhouse 5 175 Vormweg, Heinrich 78 Waine, John 131 A Winter in the Hills 131 Wallis, Dave 57 Tramstop by the Nile 57 Wallraff, Günter 75 128 Walser, Martin 86-87 130 Die Gallistl'sehe Krankheit
jenseits der Liebe 87 Sauspiel 86 Warrior, Betsy 116 Man as an Obsolete Life Form 116 Weimann, Robert 11 15 150 159 Weiss, Peter 73 79-82 85 90 94 bis 95 99 Ästhetik des Widerstands 79 82 94-95 99 Zehn Arbeitspunkte 73 Wells, Herbert George 38 50 57 West, Alick 46 51-54 Crisis and Criticism 46 51 Wheeler, Thomas Martin 50 Sunshine and Shadow 50 Wicht, Wolfgang 15 17 Williams, John A. 158 The Man Who Cried I Am 158 Sons of Darkness, Sons of Light 158 Williams Raymond 55 66 69 131 133 The Second Genenration 131 Woiwode, Larry 170 Wolfe, Thomas 143 147 Woolf, Virginia 21 36-47 50 Between the Acts 40 To the Lighthouse 39 42-43 Orlando 44 A Room of One's Own 42 The Voyage Out 39 The Waves 40 44 Wright, Richard 146 153 Native Son 146 Wüsthoff, Carl 93 Ylitalo, Hannu 67 69 128 Saatanan Suomalainen 67 69 Ziehm, Jochen 129 Zola, fimile 107 Zozzenon, Nordio 68 La tutta gialla 68
130 196
Zu den Autoren
Andshaparidse, Georgi Andrejewitsch geb. 1943, Kandidat der Wissenschaften, Institut für Weltliteratur „A. M. Gorki" der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Moskau. Publikationen: Herausgabe ausländischer Schriftsteller des 19. und 20. Jahrhunderts in russischer und englischer Sprache.
Balaschowa, Tamara Wladimirowna geb. 1930, Kandidat der Wissenschaften, Institut für Weltliteratur „A. M. Gorki" der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Moskau. Leiterin des Sektors Literaturen kapitalistischer Länder des 20. Jahrhunderts. Publikationen: Der Französische Roman der sechziger Jahre (1965). - Mitautor: Das Werk Louis Aragons (1964); Lyrik des Sozialismus (1969); Der revolutionäre Weltprozeß und die fortschrittliche Literatur der Gegenwart (1976); Methodologie der heutigen Literaturwissenschaft (1978). Zahlreiche Arbeiten liegen in ungarischer, deutscher, slowakischer, tschechischer und französischer Übersetzung vork
Bernhard, Hans Joachim geb. 1929, Germanist, Professor Dr. sc., Wilhelm-Pieck-Universität Rostock. Publikationen: Die Romane Heinrich Bolls. Gesellschaftskritik und Gemeinschaftsutopie (1970); Leiter des Autorenkollektivs und Hauptautor der Sammelbände: Entwicklungstendenzen in der Literatur der BRD am Beginn der sechziger Jahre (1974, als Manuskript gedruckt); Positionen und Tendenzen in der Literatur der BRD um die Mitte der siebziger Jahre (1977, als Manuskript gedruckt); Aufsätze über Hermann Hesse, Peter Weiss, Franz Fühmann; Nachworte zu Werken von Kuba, Heinrich Boll, Peter Weiss.
Burmeister, Brigitte geb. 1940, Romanistin, Dr. phil., Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin. Dissertation: Freiheit, Gleichheit, Eigentum. Zu einigen Problemen der Staats- und Gesellschaftstheorien in der 197
französischen Aufklärung. - Mitautorin: Französische Aufklärung. Bürgerliche Emanzipation, Literatur und Bewußtseinsbildung (1974); Mitherausgeber und Mitautor: Funktion der Literatur. Aspekte - Probleme - Aufgaben (1975); Literatur - Ideologie - Kritik. Französische Beiträge zur marxistischen Literaturtheorie (1976); Mitarbeit am Philosophischen Wörterbuch; Artikel und Rezensionen zur französischen Literatur und Literaturkritik.
Goldstein, Leonard geb. 1922, Anglist, Professor Dr. phil. habil., Lehrtätigkeit an verschiedenen amerikanischen Universitäten, seit 1963 an der Pädagogischen Hochschule „Karl Liebknecht", Potsdam. Publikationen: George Chapman. Aspects of Decadence in Early Seventeenth Century Drama (1975); Aufsätze über die englische Dramatik und über ideologisch-soziale Aspekte im 16. und 17. Jahrhundert, speziell zu William Shakespeare, Robert Burton, George Chapman, John Milton.
Hajek,
Friederike
geb. 1933, Anglistin, Dr. phil., Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der D D R , Berlin. 1970-1977 Lehrtätigkeit an der Pädagogischen Hochschule „Karl Liebknecht", Potsdam. Dissertation: Das Identitätsproblem in afroamerikanischen Selbstzeugnissen der sechziger Jahre. Publikationen: Aufsätze zur amerikanischen Literatur.
Högemann-Ledwohn,
Elvira
geb. 1940, Slawistin, Dr. phil., Redaktion „kürbiskern" und Lektorin im Damnitz-Verlag, München (BRD). Dissertation: Geschichte der russischen Verserzählung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Publikationen: Aufsätze zur politischen und kulturpolitischen Publizistik und Literaturkritik.
K/otz, Günther geb. 1925, Anglist, Dr. sc., Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der D D R , Berlin. Chefredakteur des Shakespeare-Jahrbuches. Publikationen: Das Werturteil des Erzählers (1960); Individuum und Gesellschaft im englischen Drama der Gegenwart (1972); Alternativen im britischen Drama der Gegenwart (1978). - Mitherausgeber und Mitautor: Literatur im Epochenumbruch. Funktionen europäischer Literaturen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert (1977); Herausgeber, Kommentator und Übersetzer von Werken der Weltliteratur: William Shakespeare, Daniel Defoe, Henry Fielding, William Blake, William Makepeace Thackeray, Edgar Lee Masters, Alan Sillitoe u. a.; Studien zur europäischen Literatur des 18. und 20. Jahrhunderts.
198
Manske,
Eva
geb. 1942, Anglistin, Dr. phil., Karl-Marx-Universität Leipzig. Dissertation: Die Konzeption von Mensch und Welt im Prosaschaffen Norman Mailers, Saul Bellows und Bernhard Malamuds. Publikationen: Aufsätze, Rezensionen, Nachworte zur Prosa Saul Bellows, Norman Mailers und Kurt Vonneguts.
Kiese,
Utz
geb. 1944, Anglist, Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der D D R , Berlin. Publikationen: Essays über Literatur, zahlreiche Rezensionen, besonders über die amerikanische Literatur.
Sassurski, Jasen
Nikolajemtsch
geb. 1929, Doktor der Wissenschaften, Professor an der Staatlichen Lomonossow-Universität Moskau. Dekan der Fakultät für Journalistik, Leiter des Lehrstuhls für Auslandspresse und Literatur der Fakultät für Journalistik. Publikationen Amerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts (1966); Theodore Dreiser (1978); Abfsätze zur amerikanischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts.
Seehase, Georg geb. 1929, Anglist, Professor Dr. phil. habil., Karl-Marx-Universität Leipzig. Publikationen: Charles Dickens - Zu einer Besonderheit seines Realismus (1961); Aufsätze über William Shakespeare, Charles Dickens, zur Geschichte und Gegenwart des realistischen englischen Romans und zu seiner Theorie; Herausgeber von Werken Charles Dickens', Henry Fieldings und Ralph Fox'; Mitarbeit an Lexika, u. a. Meyers Lexikon Fremdsprachiger Schriftsteller.
Seile, Irene geb. 1947, Romanistin, Dr. phil., Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der D D R , Berlin. Dissertation: Aragons Kampf um das nationale Erbe als Beitrag zur Theorie des sozialistischen Realismus (1933-1959). Publikationen: Aufsätze über die Resistance-Dichtung, über Robert Merle, Vercors und neuere französische Literatur.
Tecbtmeier, Wolfgang geb. 1935, Romanist, Dr. phil., Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der D D R , Berlin. Dissertation: Urissot de Warville und der „Cercle social". Publikationen: Aufsätze über Brissot und Condorcet. Mitautor: Neue Beiträge zur französischen Aufklärung (1964); Oktoberrevolution und Wissenschaft (1967); Nachworte zu Werken von Denis Diderot, Voltaire, Anatole France, fimile Zola.
199
Walch, Günter geb. 1933, Anglist, Dr. sc., Humboldt-Universität Berlin. Habilitationsschrift: Werte und Gestalten. Wandlungsprozesse englischer Erzählkunst zwischen 1880 und dem ersten Weltkrieg. Publikationen: Überblicksdarstellungen, Lehrbriefe zur Literaturgeschichte des 17.-19. Jahrhunderts; Studien zu William Shakespeare, Oscar Wilde, Rudyard Kipling, Robert Louis Stevenson, Joseph Conrad.
Wicht, Wolfgang geb. 1937, Anglist, Dr. sc., Pädagogische Hochschule „Karl Liebknecht", Potsdam. Habilitationsschrift: Der isolierte Protest. Kunstkonzeptionen und Künstler bei Virginia Woolf, James Joyce und T. S. Eliot. Publikationen: Aufsätze über William Shakespeare, James Aldridge, William Golding, Virginia Woolf.