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German Pages 360 Year 2014
Janina Karolewski, Nadja Miczek, Christof Zotter (Hg.) Ritualdesign
Janina Karolewski, Nadja Miczek, Christof Zotter (Hg.)
Ritualdesign Zur kultur- und ritualwissenschaftlichen Analyse »neuer« Rituale
Die Drucklegung dieses Buches wurde durch die großzügige Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des SFB 619 »Ritualdynamik« an der Universität Heidelberg ermöglicht.
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Inhalt
Ritualdesign – eine konzeptionelle Einführung
Janina Karolewski, Nadja Miczek & Christof Zotter ۄ7
»Ritualdesign« – ein neuer Topos der Ritualtheorie?
Gregor Ahn ۄ29 »Ritualdesign« als heuristisches Werkzeug zur Beschreibung von rituellen Wandlungsprozessen
Eine Annäherung am Beispiel der Krönungsordines des Hinkmar von Reims Paul Töbelmann ۄ45 Die Transformation städtischer Rituale in der Spätantike
Ein Fall von Ritualdesign? Marco Mattheis & Christian Witschel ۄ67 Zur Medienästhetik von Ritualdesign in narrativ-fiktionalen Darstellungen
Theoretisch-methodische Überlegungen und Anwendungsperspektiven Jan Rupp, Carina Brankoviü & Antony George Pattathu ۄ97 Ritualdesign im zeitgenössischen Hollywoodfilm
Eine rhetorische Perspektivierung am Beispiel von »christlichen« Hochzeitsritualen Antony George Pattathu ۄ125 Dreimal Sacre
Ritualdesign in der Choreographie Hanna Walsdorf ۄ147
Wenn Rituale Kulturerbe werden
Zur Konstruktion und Ästhetik kulturellen Erbes in Uttarakhand, Nordindien Karin Polit ۄ175 Ritualdesign bei Konvergenzritualen
Die Inszenierung eines christlich-islamischen Weihnachtsgottesdienstes Udo Simon ۄ201 »Vor Euch wird die Tafel des Hızır Paúa gerichtet«
Aúura im Frühislam und rituelle Speisungen zwischen Aleviten und Sunniten im Monat Muharrem Janina Karolewski ۄ235 Ritualdesign®?
Positionierungs- und Vermarktungsprozesse gegenwärtiger spiritueller Heilrituale Nadja Miczek ۄ265 Von Linien und schwarzen Schlangen
Design im Hindu-Ritual Christof Zotter ۄ293
Ritual, Tradition, and the Force of Design
Pamela E. Klassen ۄ327
Autorinnen und Autoren ۄ353
Ritualdesign – eine konzeptionelle Einführung∗ J ANINA K AROLEWSKI , N ADJA M ICZEK & C HRISTOF Z OTTER
Es ist ein sonniger Samstagnachmittag in einem kleinen Ort in Süddeutschland. Auf einer Wiese nahe einer Grillhütte ist ein Zelt aufgebaut, darin ein Traualtar. Ein Brautpaar, sie im »klassischen« Weiß, er in einem mittelalterlichen Gewand, betritt das Zelt. Dort warten bereits Gäste und lauschen den Klängen einer Musikgruppe, die eine mittelalterliche Weise interpretiert. Nach der Begrüßung und Ansprache verbindet die Ritualleiterin das Hochzeitspaar durch einen Seidenschal miteinander, die linke Hand des einen mit der rechten Hand des anderen. Während des anschließenden Kaffees mit Kuchen soll die Bindung nun geprüft werden. Beide müssen sich, ›eingeschränkt‹ durch den jeweils anderen, zwischen Verwandten und Freunden bewähren. Schließlich bittet die Ritualleiterin alle Anwesenden wieder zusammen. Der Schal wird durchtrennt und in einem kleinen Feuer verbrannt. An die Stelle der soeben geprüften Bande treten nun feste, symbolisiert durch die Eheringe. Die Ritualleiterin nimmt individuelle Ehegelübde, aber auch ›traditionelle‹ Worte des Eheversprechens ab. Dann verlässt ein frischgebackenes, glückliches Ehepaar unter dem Applaus und den Gratulationen der Gäste das Zelt. Ihr eigenes Hochzeitsritual war ganz so, wie sie es sich gewünscht hatten: individuell,
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Die Herausgeber danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft, deren Förderung des Heidelberger Sonderforschungsbereichs 619 »Ritualdynamik« auch die Drucklegung des vorliegenden Sammelbandes ermöglichte.
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nicht konfessionell und mit den von ihnen ausgesuchten Elementen und Symboliken versehen. Die Mitwirkung der Ritualleiterin machte dies möglich. Diese Beschreibung einer ›freien Hochzeit‹ kann stellvertretend für einen Zweig gegenwärtiger Ritualpraxis gesehen werden, der zusehends an Popularität gewinnt. Immer mehr Menschen sind auf der Suche nach Alternativen zu den traditionell meist im kirchlichen Rahmen praktizierten und zelebrierten Ritualen für Lebensübergange. Häufig fehlt ihnen eine konfessionelle Bindung, sodass für sie nicht in Frage kommt, z. B. Ritualexperten der christlichen Kirchen zu engagieren. Trotzdem besteht der Wunsch, ein ›schönes‹ und ›gelungenes‹ Ritual zu erleben.1 Selbständig arbeitende Ritualbegleiter machen hierfür vielfältige individuelle Angebote. Meist wird in einem gemeinsamen Vorbereitungsgespräch genau das Ritual designt, das die ›Auftraggeber‹ sich wünschen. Neben Hochzeiten sind dies vor allem Namensgebungszeremonien (als Alternative zur Taufe) sowie Beerdigungs- und Trauerrituale. Auf den ersten Blick erscheint es, als seien der Kreativität der Ritualbegleiter keine Grenzen gesetzt, wenn sie solch ›neue‹ Rituale entwerfen. Verschiedenste rituelle, religiöse und auch aus populären Kontexten stammende Elemente stehen zur Auswahl, um neu zusammengesetzt zu werden. In der Praxis weisen diese Rituale jedoch häufig starke Ähnlichkeiten mit bereits aus ›traditionellen‹ Kontexten bekannten Strukturen auf. Das dürfte zum einen auf die habituelle Prägung der an der Gestaltung Mitwirkenden selbst zurückzuführen sein, zum anderen aber darauf, dass bei den Beteiligten die Erkennbarkeit des ›fertigen Produktes‹ als Ritual gewährleistet sein soll. Die Nachfrage nach individuell gestalteten Lebenszyklus- und Übergangsritualen steigt derzeit stetig an, insbesondere im europäischen und nordamerikanischen Raum (vgl. Grimes 2000). Dass dies auch für Deutschland gilt, wird u. a. anhand rezenter Ratgeberliteratur deutlich, deren Autoren oft unter (selektivem) Rückgriff auf akademische Diskurse die generelle Notwendigkeit von Ritualen für den Menschen hervorheben und beim individuellen Gestalten von eben jenen – quasi für den ›Hausgebrauch‹ – Hilfestellung leisten wollen (vgl. dazu Lüddeckens 2004 und Stausberg 2004). Allmählich bildet
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Zur Rolle der Säkularisierung beim Entstehen einer neuen ›rituellen Kreativität‹ vgl. Quartier (2011: 636).
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sich auch der neue Berufstand der ›Ritualdesigner‹ heraus,2 wie an ersten Formierungs- und Standardisierungsbemühungen erkennbar ist. So wurde in Deutschland im Jahre 2002 die »Arbeitsgemeinschaft Freier Theologen« (AGFT) gegründet, um vor allem »Qualitätsstandards für die Dienstleistungen im Bereich kirchenunabhängiger Zeremonien und Rituale zu entwickeln und zu gewährleisten« (AGFT 2011). Der Trend zur kreativen, oft zielgerichteten Entwicklung oder Transformation von Ritualen ist aber keineswegs auf das Segment der Alternativen zum kirchlichen Angebot beschränkt. So entwerfen auch im Feld zeitgenössischer Esoterik tätige Akteure seit geraumer Zeit sehr selbstverständlich neue Rituale, die meist individuell zugeschnitten sind und situativ angepasst werden können (vgl. Radde-Antweiler 2006, Miczek 2009 und Miczek im vorliegenden Band). Aber auch in ›traditionelleren‹ Segmenten finden sich Personen, die in ihrer Funktion durchaus an ›Ritualdesigner‹ erinnern. Veranschaulicht sei dies am Beispiel von Piero Marini, dem Zeremonienmeister des verstorbenen Papstes Johannes Paul II.3 Im Rahmen der liturgischen Vorgaben, die im Vaticanum II (1962) weitreichende Änderungen erfuhren (vgl. etwa Jung 2004 und Odenthal 2004), war er für die konkrete Ausgestaltung der päpstlichen Audienzen und Zeremonien zuständig. Den nach dem Konzil erweiterten Gestaltungsfreiraum bei der Planung und Durchführung päpstlicher Rituale kommentierte Marini wie folgt: We have moved from a Roman Liturgy characterised by uniformity (one language and fixed rubrics), to a liturgy more adapted to the sensitivity of men and women today, one open to adaptation and to different cultures, the expression of a Church of communion which sees diversity not as an essentially negative element but as an opportunity for the enrichment of unity. (Marini 2004)
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Es ist derzeit zu beobachten, dass die in diesem Bereich aktiven Akteure den Begriff »Ritualdesigner« teilweise als Bezeichnung für ihre Praxis übernehmen, manche sich aber auch kritisch dazu äußern. Ob sich der Begriff als Selbstbezeichnung langfristig durchsetzen wird, bleibt abzuwarten.
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An dieser Stelle sei auf den Arbeitskreis »Ritualmacher hinter den Kulissen« des SFB 619 »Ritualdynamik« verwiesen, in dem das Fallbeispiel von Piero Marini durch Simone Heidbrink und Nadja Miczek bearbeitet wurde.
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Unter Papst Johannes Paul II. genoss Marini großen Freiraum als ›Ritualmacher hinter den Kulissen‹ und passte kirchliche Rituale oft lokalen, kulturellen oder medialen Bedingungen an. Inwieweit man ihn als ›Ritualdesigner‹ bezeichnen kann, müsste in weitergehenden Erörterungen – wohl auch in Abhängigkeit von der Begriffsdefinition – geklärt werden. Vorerst kann aber festgehalten werden, dass der kreativ-gestaltende, transformierende Umgang mit Ritualen keineswegs ein Ausnahmephänomen darstellt, sondern sich bei näherer Betrachtung in vielen rituellen Traditionen wiederfindet. Doch eignet sich eine analytische Perspektive »Ritualdesign« für die Untersuchung von Ritualen? Wie kann sie gegebenenfalls gewinnbringend eingesetzt werden? Vorausgehenden Arbeiten mit gleicher Fragestellung folgend widmeten sich die Mitglieder des Heidelberger Sonderforschungsbereiches 619 »Ritualdynamik« im Sommersemester des Jahres 2010 diesem Thema. Die Beiträge des vorliegenden Bandes stellen ein vorläufiges Ergebnis der Arbeitssitzungen, Referate und intensiven Diskussionen dar.4 Im Rahmen dieser Einleitung soll nun anhand einiger grundsätzlicher Vorbemerkungen zum Begriff ›Design‹ bzw. ›Ritualdesign‹ und eines Überblicks über die aktuelle Forschung zum Thema, eine erste Spannweite des Begriffes umrissen werden. Eine Kurzvorstellung der einzelnen Beiträge vermittelt schließlich, wie vielfältig die Foki sind, welche auf die Untersuchungsperspektive »Ritualdesign« angelegt werden können.
›D ESIGN ‹ UND ›R ITUALDESIGN ‹ In der gegenwärtigen Ritualforschung wird eine Vielzahl theoretischer und methodischer Zugänge für unterschiedlichste Untersuchungsszenarien verwendet. Leitend ist dabei zunehmend die Erkenntnis, dass Rituale nicht – wie häufig in der älteren Ritualforschung behauptet – starr und unveränderlich sind, sondern dass die Dynamik von Ritualen eher die Regel, denn die Ausnahme darstellt (vgl. Michaels 2003): Rituale werden verändert, angepasst, ergänzt, transferiert, neu eingeführt,
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Die Herausgeber möchten an dieser Stelle ganz herzlich Carina Brankoviü, Bia Labate, Antony G. Pattathu, Jan Rupp und Udo Simon für die Zusammenarbeit beim Vorbereiten und Gestalten der Sitzungen danken.
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abgeschafft, ausgedehnt oder verkürzt; die Position, Handlungsmacht oder der Handlungsradius der Beteiligten verschiebt sich oder wandelt sich gänzlich; aus wirksamen Ritualen werden unwirksame; aus lokal verorteten werden multimedial inszenierte Ereignisse, usw. Zur theoretischen und analytischen Beschreibung von dynamisch gefassten Ritualen wurde in den letzten Jahren ein umfassendes Repertoire von Konzepten und Ansätzen entwickelt (vgl. Kreinath/Snoek/Stausberg 2006). Auch der noch recht junge Begriff ›Ritualdesign‹ wird derzeit in diesem Zusammenhang diskutiert. Um das Potential, aber auch die Probleme von ›Ritualdesign‹ als möglichem Analysewerkzeug der Ritualforschung zu umreißen, ist es sinnvoll, mit einigen allgemeinen Bemerkungen zu ›Design‹ zu beginnen. Der Begriff ›Design‹ hat eine lange Wortgeschichte und viele Facetten. Etymologisch geht das Wort auf lat. dƝsƯgnƗre, »bezeichnen, bestimmen, im Umriss darstellen, nachbilden«, zurück. Über ital. disegnare, »beabsichtigen, bezeichnen«, und das abgeleitete Nomen designo entwickelte sich franz. dessin (älter meist dessein) in der Bedeutung von »Zeichnung, Muster, Plan, Entwurf«, aber auch »Absicht, Zweck«, welches Ende des 17. Jh.s ins Deutsche übernommen wurde.5 Das englische Verb design, ursprünglich semantisch sehr nahe an lat. dƝsƯgnƗre, akkumulierte im Laufe der Zeit verschiedene Bedeutungen. Ähnlich verhält es sich mit dem jüngeren Nomen design. Wie franz. dessin (und wohl auch davon beeinflusst) bezeichnet es einerseits »Absicht, Zweck«, andererseits »Muster, Plan, Entwurf«, darüber hinaus aber auch den Prozess, der zu design führt. Seit Ende des 18. Jh.s, als sich im Rahmen der industriellen Revolution die Tätigkeit des Entwerfens aus der Palette der handwerklichen Arbeitsschritte löste und als eigenständiger Berufszweig etablierte, kam eine weitere Bedeutung hinzu: »the creative art of executing aesthetic and functional designs« (Mish 101997: s. v. design). In der modernen Industriegesellschaft wurde der designer zum hochspezialisierten Experten, der neben anderen Spezialisten (Konstrukteuren, Fertigungsingenieuren, Kaufleuten, Werbefachleuten usw.) seinen Teil zum komplexen industriellen Produktionsprozess beiträgt. In eben diesem Kontext setzte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s das engl. Wort design als international ge-
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Vgl. Kluge (231995: s. v. Design) und Pfeifer (1999: s. v. Design). Siehe auch Schneider (2005: 196).
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bräuchliche Bezeichnung durch.6 Dabei wurden auch andere Bedeutungen des Wortes mit übernommen. John A. Walker resümiert zum modernen Sprachgebrauch: [Design] kann auf einen Vorgang verweisen (den Akt oder die Tätigkeit des Entwerfens) oder auf das Ergebnis dieses Vorgangs (ein Design, eine Skizze, ein Plan oder Modell) oder auf Produkte, die mit Hilfe eines Designs hergestellt wurden (Designobjekte) oder auf das Aussehen oder den Gesamtentwurf eines Produkts (›Mir gefällt der Schnitt, also das Design von diesem Kleid‹). (Walker 1992: 35)
Für die sich derzeit als Wissenschaftsdisziplin etablierende »Designgeschichte« ist es bei diesem breiten Bedeutungsspektrum des Begriffes nicht einfach, dem Fach eine allgemein akzeptierte Definition von ›Design‹ zugrunde zu legen (vgl. ebd.: 40–45). Hinzu kommen verschiedene Abgrenzungsprobleme, wie etwa die historische Dimension des Fachgegenstandes7 oder die methodischen und inhaltlichen Überschneidungen mit Nachbardisziplinen.8 Designgeschichte ist nicht ›nur‹ Stilgeschichte, da Design in technischen, ökonomischen und allgemein gesellschaftlichen Zusammenhängen entsteht, die bei der Analyse berücksichtigt werden müssen. In den letzten drei Jahrzehnten weitete sich das Anwendungs- und Wirkungsfeld von Design sowohl in der Praxis als auch in der Theorie
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In Deutschland wurde der Begriff in den 1960ern zunächst als Synonym für »industrielle Formgestaltung« eingeführt.
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Der Beginn der »Designgeschichte« wird üblicherweise mit der industriellen Revolution am Ende des 18. Jh.s angesetzt und frühere Formen des Gestaltens werden zur ›Vorgeschichte‹ deklariert (vgl. etwa Selle 2007: 16). Gelegentlich finden sich jedoch auch Ansetzungen, die bis in die Renaissance zur Florenzer »Accademia delle Arti del Designo« des Giorgio Vasari oder gar bis in die griechische Antike zu Sokrates, Platon und Aristoteles und deren Gedanken über Form und Wahrnehmung reichen (vgl. Schmid-Isler 2008).
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So bezeichnet etwa Gert Selle seine »Geschichte des Design in Deutschland«, zumindest die aktualisierte und erweiterte Neuauflage, als eine »Einführung in den Zusammenhang von Ökonomie, Technologie, Soziologie, Psychologie, Morphologie und Ästhetik industrieller Produktformen« (Selle 2007: 9).
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stetig aus. Heutzutage wird nicht mehr nur in Serie produzierte Industrieware ›designt‹. Hinzugekommen ist u. a. das Design von Informationen und deren Trägern (Graphik- und Kommunikationsdesign) oder das Design des öffentlichen Auftretens von Unternehmen (corporate design) und deren Dienstleistungen (service design). Nicht zuletzt das Aufkommen der Computerbranche und die zunehmende Bedeutung der neuen Medien führten zu einer Flut von Designbegriffen (vgl. dazu etwa Schneider 2007: 200–210). Neben gebrauchstechnischen und ästhetischen Funktionen, die Design im Feld zwischen Technik und Kunst positionieren, gewinnen semantische Funktionen an Bedeutung. Darüber hinaus ist zu beobachten, dass sich Design immer mehr vom greifbaren Objekt löst und zunehmend formale, aber weitgehend unsichtbare Systeme (Computerprogramme, Suchmaschinen etc.) zu dessen Gegenstand werden (vgl. Selle 2007: 300–304). Dies hat Auswirkungen auf die Designtheorie. Losgelöst vom konkreten Industrieprodukt und ganz allgemein verstanden als zielgerichtete, an bestimmten Bedürfnissen orientierte Gestaltung der Umwelt und Gesellschaft erscheint ›Design‹ als »ein Grundmodus des menschlichen Handelns« (Meier 22003: 12, zit. in Schneider 2005: 197).9 Mit einem derart erweiterten Begriff, so wurde vorgeschlagen, könne etwa auch die Gestaltung politischer Strukturen oder ökologischer Systeme untersucht werden (vgl. Walker 1992: 46). Die wachsende Popularität von ›Design‹ wirkt auch auf andere akademische Disziplinen. So gibt es etwa in den Kulturwissenschaften, die im letzten Jahrhundert mehrere ›Theoriewenden‹ erlebt haben, Unternehmungen, nun den ›design turn‹ zu postulieren, um eine zeitgemäße Kulturtheorie zu entwerfen (vgl. Milev 2012). Auch in der Ritualforschung hat der Designbegriff in Form des Neologismus ›Ritualdesign‹ Einzug gehalten.10 Doch besteht weiterhin Diskussionsbedarf dazu, ob und wie der Begriff zur wissenschaftlichen Analyse von Ritualdynamiken verwendet werden kann. Hierzu zählen u. a. Fragen danach, wie ›Ritualdesign‹ mit anderen ritualtheoretischen Konzepten in Beziehung gesetzt werden kann, welche Arten von Ritualen (rezent, historisch, etc.) als Untersuchungsgegenstand geeignet
9
Vgl. dazu auch den Beitrag von Klassen im vorliegenden Band.
10 Ahn 2011a und b, De Maaker/Venbrux/Quartier 2011, Frenz 2011, Handelman 1990, 2004a und 2006, Homborg 2011, Houseman 2011, Quartier 2011, Radde-Antweiler 2006 und Snoek 2011.
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sind und welche Aspekte als signifikant hervorgehoben werden können. Dieser Überblick zur Geschichte und heutigen Verwendung des Wortes ›Design‹ lässt vermuten, dass der Begriff durch seine Bedeutungsvielfalt ein ganzes Spektrum möglicher Nutzbarmachungen für die Ritualforschung bietet. Die ersten diesbezüglichen, noch überschaubaren Versuche bestätigen dies durch ihren unterschiedlichen Umgang mit den möglichen Begriffsbedeutungen. Da der allgemeine Sprachgebrauch wie auch im Falle von ›Ritual‹ (vgl. Houseman 2011: 704) keine Eindeutigkeit liefert, ist es also unerlässlich, das jeweilige Verständnis von ›Design‹ bzw. ›Ritualdesign‹ explizit zu benennen. Bereits im Jahre 1990 verwendet Don Handelman die Begriffe »design« und »meta-design«, wenn er diejenigen Merkmale behandelt, die »public events« bzw. Rituale11 konstituieren und diese wirksam machen (1990: 7). Seine Begriffsverwendung fortführend demonstriert Handelman auch in späteren Arbeiten: »Designs of ritual organize the practice of ritual into coherent and continuous patterns.« (Handelman 2004a: 207) Die Logiken, welchen die »designs« folgen, versteht er dabei nicht im philosophischen oder mathematischen Sinne, sondern als »principled ways in which certain social phenomena are intentionally ordered and disordered as practice (and practiced as ordering and disordering)« (ebd.).12 Handelman unterscheidet diesbezüglich vor allem zwischen »presenting rituals« und »modelling rituals«.13 Erstere präsentieren die Welt, welche sie hervorgebracht hat; letztere modellieren die Welt außerhalb des Rituals. Zu den ›modellierenden Ritualen‹ stellt er fest, dass diese mit einigen ausgewählten Anleihen eine eigene kleine Welt schaffen, einen spezialisierten und als teleologisches System organisierten Mikrokosmos, der verschiedene Charakteristika (wie interne Kontrollmechanismen oder Feedbackprozesse) aufweist (Han-
11 Handelman schlägt vor, auf die Verwendung des Begriffes ›Ritual‹ zugunsten von ›public events‹ zu verzichten (vgl. u. a. Handelman 1990 und 2006). Wir sprechen hier jedoch, wie er selbst andernorts auch (vgl. 2004a: 207 Fn. 2), der Einfachheit halber weiterhin von ›Ritual‹. 12 Zur Rolle der Intentionalität in Handelmans Konzeption vgl. Ahn im vorliegenden Band. 13 Handelman (2006: 47 f.) beschreibt auch Bruce Kapferers Konzept der ›Virtualität‹ (vgl. Kapferer 1997: 176–181 und pass., und Kapferer 2004) als ›Metadesign‹.
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delman 2004a: 208–211 und 2006: 46 f.). ›Präsentierende Rituale‹ besitzen indes ein radikal anderes ›(Meta-)Design‹. Gestaltet als deklarative und imperative Äußerungen spiegeln sie die sie umgebende Welt, stellen diese jedoch selten in Frage. Sie sind dabei weitaus weniger autonom, weshalb fraglich ist, ob sie die Welt außerhalb des Rituals tatsächlich verändern können (2004a: 210 und 2006: 45). Als Alternative zu gängigen Ansätzen, die Rituale u. a. als symbolische Repräsentationen interpretieren und/oder deren Funktion für die soziale und kulturelle Ordnung betonen, fordert Handelman, Ritual in einem ersten Schritt der Analyse »on its own right« zu studieren (vgl. Handelman 2004b: insb. 1–4). Sein Interesse gilt den »designs«, um aufzuzeigen, wie »public events« bzw. Rituale »can do what they do because they are formed as they are« (2006: 49). Nach Handelman ›verbergen‹ sich hinter jedem Ritual – keineswegs nur hinter rezenten oder bestimmten Ritualtypen – Designs mit jeweils eigenen Logiken. Kerstin Radde-Antweilers Verwendung des Begriffes ›Design‹ stellt dahingegen nicht die Form und innere Organisation von Ritualen in den Mittelpunkt, sondern die Prozesse und Möglichkeiten ihrer Formung. Im Kontext ihrer Forschung zu Online-Ritualen im Cluster »Hexe« (Radde-Antweiler 2006: 56) stößt sie wiederholt auf das Phänomen neu entworfener Ritualkombinationen mit Elementen aus ›traditionellen‹, ›exotischen‹ oder mythischen Kulturen und beschreibt dies als ›Design‹: Separate elements of rituals are removed from their original context and in a new process – which I define as ›Ritual Design‹ – combined in different variations and moved into a new context. (Radde-Antweiler 2006: 66)
Für die von ihr untersuchten Homepages arbeitet die Autorin insbesondere zwei Aspekte von Ritualdesign heraus: Einerseits verweisen die Homepagebetreiber auf »old traditional scripts«, die den Neukombinationen der rituellen Elemente zugrunde lägen. Andererseits leiten sie zum selbständigen Entwerfen eines individuellen Rituals an, denn ein Jeder besäße Autorität und Legitimität hierzu (ebd.: 66 f.). Im Hinblick auf die vielfältigen Transferprozesse, die Rituale in neuen Medien (hier Internet), aber auch anderenorts durchlaufen, schließt RaddeAntweiler mit der These: »›Ritual Design‹ as a certain case of ›Ritual Transfer‹ therefore appears as the norm and not the exception.« (ebd.: 68) Im Mittelpunkt ihrer Anwendung von ›Ritualdesign‹ stehen die Möglichkeiten der Akteure im rituellen Gestaltungsprozess.
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Bei der im Jahre 2008 an der Universität Heidelberg veranstalteten Tagung »Ritual Dynamics and the Science of Ritual« vertraten die Teilnehmer des von Gregor Ahn organisierten Panels »Ritual Design« – ähnlich wie Radde-Antweiler zuvor – die Ansicht, ›Ritualdesign‹ könne nicht ohne einen ›Designer‹ gedacht werden. In seiner Einleitung zur entsprechenden Sektion des Konferenzbandes plädiert Ahn dafür, den Begriff theoretisch möglichst eng zu fassen. So unterscheidet er ›Ritualdesign‹ vom generelleren Konzept der ›Ritualtransformation‹ durch das Kriterium der Intentionalität und grenzt es als Veränderung bereits bekannter Rituale von der ›Ritualinvention‹ ab. In einer Arbeitshypothese definiert er ›Ritualdesign‹ als […] an intentionally conducted act of constructing new forms of well-established rituals by using more or less common ritualistic components which might also stem from different traditions. (Ahn 2011a: 604)
Ahn demonstriert sein Verständnis des Begriffes anhand zweier fiktionaler Rituale aus der TV-Serie STAR TREK und dem Fantasy-Roman »Harry Potter«, die in ihren narrativen Kontexten als »transfer of elements of existing rituals and religions into the media literature and film« (Ahn 2011b: 614) erscheinen. Nach Ahn entscheidet die gewählte Perspektive darüber, wie dieser Prozess begrifflich zu fassen sei: Von außen betrachtet liege ein Fall von ›Invention‹ vor. Plotintern dagegen handele es sich um ›Design‹ (ebd.: 614 f.). Die weiteren publizierten Beiträge der Sektion »Ritual Design« behandeln verschiedene rezente Um- und Neugestaltungen von Ritualen bzw. ritualähnlichen Ereignissen, die bis auf eine Ausnahme alle aus Europa stammen.14 So untersucht beispielsweise Thomas Quartier die Rolle des sogenannten Ritualbegleiters (ritueelbegeleider) bei der
14 In den im Folgenden nicht detailliert vorgestellten Beiträgen beschreiben Eric De Maaker, Eric Venbrux und Thomas Quartier die Gestaltung eines »Aller-Seelen-Tages« durch niederländische Künstler und die dabei zu Tage tretenden neuen Formen des Totengedenkens (De Maaker/Venbrux/ Quartier 2011), Anne-Christine Hornborg untersucht die Einflussnahme und Vermarktung von Praktiken einer ›Neuen Spiritualität‹ in der säkularen schwedischen Gesellschaft (Hornborg 2011) und Jan A. M. Snoek gibt Beispiele für die Beeinflussung der freimaurerischen Ritualtradition durch die Arbeit des Ritualforschers (Snoek 2011).
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Gestaltung nicht-kirchlicher Bestattungen in den Niederlanden. Charakteristisch für diese neuen rituellen Formen ist, dass sie möglichst individuell an den Verstorbenen, dessen Familie und Freunde angepasst werden. In einem mehrstufigen Prozess bestimmen Hinterbliebene und ›Ritualbegleiter‹ gemeinsam den Referenzrahmen, wählen die Ritualelemente aus, legen die rituellen Rollen fest und vollziehen schließlich das Ritual (ebd.: 645 f.). Die einzelnen Bestandteile unterliegen jedoch keiner ›liturgischen Ordnung‹ (»liturgical order«) im Sinne Rappaports (1999), sondern werden sehr flexibel gestaltet und angeordnet. Trotzdem (oder gerade deshalb) wird auf eine Art »canon of ritual elements« zurückgegriffen, ergänzt durch ein »possible repertoire of symbols«, u. a. »natural symbols« wie etwa Sonnenblumen (Quartier 2011: 639–645). Quartier kommt zu dem Fazit: Rituals are, at one and the same time, traditional and innovative, individual and collective. Individually designed funerals do not have one given structure and meaning, but they do have structures and meanings. (Ebd.: 648, Herv. i. O.)
Wie Quartier unter Rückgriff auf eine von Grimes eingeführte Unterscheidung feststellt (vgl. Grimes 2000: 12 f.), agiert der ›Ritualbegleiter‹ in Zusammenarbeit mit den Beteiligten in doppelter Funktion: als »diviner«, der das ›Design‹ mit frischen Impulsen bereichert, und als »plumber«, der sich um die praktischen Belange kümmert und durch Beachtung des allgemein üblichen Rahmens das Ritual auch für andere als solches erkennbar macht (Quartier 2011: 647). Der Rahmen des Rituals und die Grenzen, die dieser den Gestaltungsmöglichkeiten auferlegt, sind auch Thema des Beitrags von Matthias Frenz. Am Beispiel des Marienschreins im südindischen Velankanni betrachtet Frenz vor allem den räumlichen Aspekt ritueller Aktivitäten. Er zeigt auf, dass die Akteure, um persönlichen Nutzen und soziales Prestige zu erlangen, verschiedene Strategien entwickeln, die den Zugang zum ›Ritualraum‹ (»ritual space«) und damit dem redistributiven System um die Jungfrau Maria ermöglichen sollen. Die dabei stattfindenden Umformungen und Neugestaltungen der Rituale bezeichnet er als »a process of ritual design« (Frenz 2011: 654). In Anlehnung an Foucaults Diskurstheorie (vgl. dazu ebd.: 658–660) und das ritualtheoretische Konzept der ›Rahmung‹ (vgl. ebd.: 663 f.) versteht er ›Ritualdesign‹ als »common practice« mit drei Dimensionen: (1) Bereits existierende Rituale und Vorstellungen wirken präfigurie-
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rend, indem sie – vergleichbar dem historischen apriori Foucaults – den im Laufe der Zeit veränderbaren ›Raum‹ für reale und gültige Neuerungen eröffnen und beschränken. (2) Die Prozesse der Rahmung, die Beziehungen zwischen (rituellen) Handlungen und deren Kontext herstellen, sind konfigurierend. (3) Die mitunter auch ihrerseits Dynamiken aufweisende Wiederholung der Aufführung refiguriert schließlich das Ritual (vgl. ebd.: 664–668). In diesem Sinne ist ›Ritualdesign‹, anders als bei Radde-Antweiler, Ahn oder Quartier, kein einmaliges Ereignis, sondern ein stetig fortdauernder Prozess (vgl. ebd.: 668). Die hier exemplarisch für die ganze Sektion »Ritual Design« vorgestellten Beiträge verdeutlichen die Pluralität der Ansichten dazu, was ›Ritualdesign‹ ist und mit welchen Kriterien es sich bestimmen lässt. So hebt auch Michael Houseman in seiner abschließenden Response auf die versammelten Beiträge verstärkt die Schwierigkeiten hervor, ein Alleinstellungsmerkmal für den Begriff zu finden (Houseman 2011: insb. 700–702). Wie Ahn in seiner Einleitung aber betont, handelt es sich bei den Beiträgen dieser Sektion nicht einfach um eine Ansammlung zufälliger Fallbeispiele: […] [T]he different viewpoints cast a light on the authors’ search for an appropriate way of theorising and conceptualising the divergent processes of designing rituals. (Ahn 2011a: 604)
Diese Suche soll im vorliegenden Band fortgesetzt und breiter aufgestellt werden. Zum einen geht die Anwendungen des Begriffs in zahlreichen historischen und außereuropäischen Fallbeispielen weit über den Kontext hinaus, in dem er populär wurde. Dies stellt die Fragen nach Nutzen und Möglichkeiten von ›Ritualdesign‹ auf eine wesentlich erweiterte Materialbasis. Zum anderen soll das Potential des Begriffes umfassender ausgelotet werden. Anders als in den überblicksartig dargestellten Vorarbeiten, die vor allem den Prozess des Gestaltens in den Blick rücken, sollen hier auch andere Bedeutungsebenen von ›Design‹ Berücksichtigung finden. Von der Geschichte und Verwendung des Wortes ›Design‹ her kommend, ließe sich mit Hilfe von ›Ritualdesign‹ etwa der Gebrauch von Mustern oder Entwürfen in Ritualen untersuchen oder das Ritual als ein in Zusammenhängen von Angebot und Nachfrage stehendes ›Produkt‹ begreifen. Wurde ›Design‹ in ritualtheoretischen Analysen angewandt, spielten meist die Kriterien der Intentionalität und Zielgerichtetheit eine
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zentrale Rolle. Darüber hinaus diente ›Design‹ für die Beschreibung der inneren Organisation von Ritualen (Handelman), der oft individuellen Neukombinationen von Ritualelementen (Radde-Antweiler und Ahn), der Struktur und Bedeutung rituellen Handelns (Quartier) oder der Grenzen dynamischer Prozesse (Frenz). Ein offeneres Verständnis des Begriffes lenkt die Aufmerksamkeit aber auch auf das Zusammenspiel von Form und Identität, Funktionalität oder Semantik sowie auf bisher wenig oder gar nicht beachtete Aspekte von Ritualgestaltungen und -veränderungen, wie • Kundenorientiertheit • Rolle der Ästhetik • Produktionshintergrund und Markt Ein Fokus auf einzelne dieser Aspekte, vor allem aber die Erforschung ihres für ›Design‹ so typischen Zusammenspiels verspricht neue Einsichten in die Dynamiken von Ritualen.
D IE B EITRÄGE Die Diskussion innerhalb des SFB 619, die der Publikation des vorliegenden Bandes vorausging, zeigte auf ein Weiteres, dass trotz gemeinsamer Ergebnisse kontroverse Ansichten zur Verwendung von ›Design‹ bestehen bleiben. So teilen die Autoren der hier versammelten Beiträge weder eine gemeinsame Definition des Begriffes ›Ritualdesign‹, noch besitzen sie einen gemeinsamen Ansatz zu seiner ritualtheoretischen Nutzbarmachung. Einige Beitragende unterbreiten neue Vorschläge zur Definition (vgl. Ahn und Töbelmann). Andere wiederum prüfen kritisch die bisherigen Definitionsvorschläge anhand des ihnen vertrauten Materials, kommentieren deren Operationalisierung oder ergänzen sie gegebenenfalls (vgl. etwa Mattheis/Witschel und Simon). Die ersten beiden Beitragenden wählen eine akteurszentrierte Perspektive, um ›Ritualdesign‹ als heuristisch wertvolles Analysewerkzeug zu schärfen. Gregor Ahn überarbeitet hierfür seinen früheren Definitionsversuch (vgl. Ahn 2011a und 2011b) und präzisiert vor allem das Kriterium der Intentionalität. Er schlägt vor, »Ritualdesign« als
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eine Art Filter zu verwenden, der nur diejenigen Ritualveränderungen erfasst, für welche die expliziten Intentionen der Ritualgestalter greifbar sind. Ahn ist bewusst, dass eine solche Engführung des Begriffes die Zahl der als ›Ritualdesign‹ untersuchbaren Fälle erheblich einschränkt. Seiner Meinung nach ermöglicht aber gerade das Kriterium der dezidiert intendierten Veränderung eine präzise Grenzziehung zu anderen Begriffen (wie Ritualinnovation und -invention). Wie »Ritualtransfer« (vgl. Langer et al. 2006) oder »ritual failure« (vgl. Hüsken 2007) sollte »Ritualdesign« als ein möglicher Modus von Ritualdynamik verstanden werden. Dieser sei aber nicht auf rezente Phänomene beschränkt, wie Ahn sodann am Beispiel der Kultstiftung Antiochos‘ I. von Kommagene aus dem 1. Jh. v. Chr. demonstriert. Auch Paul Töbelmann, der in seinem Beitrag die Krönungsordines Hinkmars von Reims untersucht, versteht »Ritualdesign« als bewusstes und zielgerichtetes Verändern von Ritualen und stellt es als solches der »Ritualevolution« gegenüber. Er macht vier Dimensionen aus, die ausschlaggebend dafür sind, ob eine Ritualveränderung als »Ritualdesign« zu bezeichnen ist. Diese betreffen (1) die Anzahl der Einzelakteure, deren Nähe zueinander sowie die Fähigkeit Einzelner, sich im Kollektiv durchzusetzen, (2) deren Intentionalität im Hinblick auf den Designprozess, (3) ihre Freiheit beim (Um)Gestalten eines Rituals und (4) den Erfolg der von ihnen vorgenommenen Ritualmodifikation. Im dritten Beitrag des Bandes zur Umgestaltung spätantiker, städtischer Rituale während der Christianisierung zeigen Marco Mattheis und Christian Witschel, weshalb nachweisbare Intentionalität als das zentrale Kriterium für »Ritualdesign« problematisch sein kann. Im untersuchten Kontext sind es oft komplexe Aushandlungsprozesse, in denen zahlreiche Akteure Rituale neu, aber selten konform gestalten. »Design« wäre hier als ein beständiges Arbeiten am vorhandenen Ritualbestand zu verstehen, da Neuerungen meist als lokal wie zeitlich begrenzter Kompromiss erscheinen, bei dem kaum einer der potentiellen ›Designer‹ seine Intentionen eins zu eins umsetzen kann. Die Autoren resümieren dennoch, dass die Perspektive »Ritualdesign« bei der Untersuchung ritueller Transformationen gewinnbringend einsetzbar sei – ermöglicht sie doch in ihrem Falle eine Korrektur der in der älteren Fachliteratur vorherrschenden Ansicht, die Christianisierung sei weitgehend einheitlich, linear und zielgerichtet ›von oben‹ erfolgt.
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Die Erprobung eines auf dem Kriterium der Intentionalität beruhenden analytischen Begriffes »Ritualdesign« ist auch das Anliegen von Jan Rupp, Carina Brankoviü und Antony George Pattathu in ihrem Beitrag zu narrativ-fiktionalen Ritualdarstellungen in Roman, Dramentext und Film. Die Autoren verstehen die Gestaltungsakte des realweltlichen und narrativ-fiktionalen Ritualdesigns als miteinander verknüpft und greifen hierfür Paul Ricœurs dreistufiges Mimesis-Modell auf. Ihre zentrale These ist, dass Ritualdesign in narrativ-fiktionalen Kontexten – im Gegensatz zu realweltlichen Gestaltungsprozessen – über eine erhöhte Reflexivität verfügt, die auf die Alltagsenthobenheit und Entpragmatisierung fiktionaler Kommunikation zurückzuführen ist. Mittels medien- und erzähltheoretischer Analysekategorien und unter medienästhetischen Gesichtspunkten fragen die Autoren nach dieser gesteigerter Reflexivität und ihrer Erzeugung. Anhand der Darstellung christlicher Hochzeiten im zeitgenössischen Hollywoodfilm vertieft Antony George Pattathu die Fragestellung des vorherigen Beitrages. Ebenfalls Intentionalität als ausschlaggebendes Kriterium für »Ritualdesign« wählend fasst Pattathu diese aber nicht als »eindimensional«, sondern als diskursiv geprägt auf. Desweiteren müsse die Intention zur (Um)Gestaltung eines Rituals auf außerfilmischer (Drehbuch, Produktion, etc.) oder auf innerfilmischer Ebene (Narrationsebene im Film) nachweisbar sein. Die auf das Überzeugen des Publikums ausgerichtete Wirkungsintentionalität und ihre Umsetzung im Film analysiert der Autor, indem er den Einsatz verschiedener Affekttechniken und rhetorischer Mittel näher bestimmt. Auch Hanna Walsdorf befasst sich in ihrem Beitrag »Dreimal Sacre« mit den Zusammenhängen von realweltlichen und fiktionalen Kontexten. Ihr Schwerpunkt liegt allerdings im Bereich des Bühnentanzes, genauer auf verschiedenen Choreographien des Balletts SACRE DU PRINTEMPS (dt. »Das Frühlingsopfer«), komponiert von Igor Strawinsky (1882–1971). Das imaginäre Opferritual im Zentrum des Balletts wurde von jedem Choreographen anders umgesetzt und verdeutlicht die Abhängigkeit dieses (getanzten) Rituals von sowohl vorherrschenden Ästhetiken als auch ideologischen und politischen Maßgaben. Dies wird in der Gegenüberstellung zweier von der ›Urfassung‹ und insbesondere voneinander stark abweichenden ›Re-Designs‹ deutlich:
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die westdeutsche Fassung von Pina Bausch (1975, Tanztheater Wuppertal) und die ostdeutsche von Dietmar Seyffert (1981, Oper Leipzig). Zur Untersuchung des Pandava Nrtiya, einer alljährlich in den Dörfern der nordindischen Region Garhwal aufgeführten rituellen Performanz, lehnt Karin Polit ihren Gebrauch von ›Ritualdesign‹ explizit an das kontemporäre Verständnis von Produktdesign an. In einer Wechselwirkung zwischen der Gestaltung des Rituals und den gesellschaftlichen Diskursen entsteht ein Endprodukt, das sich »verkaufen« soll. Polit zeigt, wie das traditionelle Schauspiel bewusst und kreativ modernisiert wurde, um zum kulturellen ›Vorzeigestück‹ Garhwals zu werden. Aber nicht nur auf großstädtischen Bühnen außerhalb der Region fand dieses neue Design Anklang. Auch im ursprünglichen, dörflichen Kontext erwies es sich als re-integrierbar. Die Überarbeitungen trugen dazu bei, eine Region und deren Bewohner innerhalb verschiedener Diskurse neu zu positionieren. Der im vorherigen Beitrag angesprochene Aspekt der Identität wird ebenfalls von Udo Simon aufgegriffen, wenn er einen Dokumentarfilm über die Vorbereitung und Inszenierung eines christlich-muslimischen Weihnachtsgottesdienstes in einer Mannheimer Schule analysiert. In der vom Autor als »Konvergenzritual« bezeichneten Feier sollen zwei als unterschiedlich wahrgenommene koexistierende Gruppen unter Wahrung ihrer Grenzen und Unterschiede einander nähergebracht werden. Simon diskutiert vor allem folgende Gesichtspunkte des Designprozesses: die Anforderung der Situation; die Intentionen der Akteure und deren Handlungsmacht; die begleitenden Reflexionsprozesse; das im seinem Fallbeispiel sehr wichtige Moment der Distinktion und den Modellcharakter des Designs, der eng mit der Frage nach seinem Erfolg verbunden ist. Wie im Fallbeispiel von Polit wird auch hier deutlich, dass reflexive Prozesse (u. a. über Identität und Tradition) die Ritualgestaltung begleiten und beeinflussen. Dass in vielerlei Hinsicht vergleichbare Prozesse auch innerhalb des Islam zu konstatieren sind, macht der Beitrag von Janina Karolewski am Beispiel der Rituale und Bräuche deutlich, die im islamischen Monat Muharrem und am darin gelegenen Aúura-Tag ausgeübt werden. Unter Rückgriff auf die Überlieferungen der Aussprüche und Taten des Propheten Muhammed behandelt sie zunächst die Entstehung des Aúura-
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Fastens als einen historischen Fall von Ritualdesign. Im Zentrum stehen hier vor allem die historischen Aushandlungsprozesse um religiöse Identität und Abgrenzung gegenüber anderen religiösen Gruppierungen. Diese bilden den Hintergrund für das folgende, gegenwartsbezogene Beispiel von Ritualdesign – ein offizielles Bankett im Jahre 2008, bei dem Aleviten und Sunniten im alevitischen Trauermonat Muharrem in einem Hotel in Ankara an einen Tisch gebracht werden sollten. Während ähnliche Formen der gemeinsamen Speisung durchaus erfolgreich sind, wurde dieses Ereignis von alevitischer Seite boykottiert. Grund hierfür war, dass viele Aleviten an dessen Gestaltung Anstoss nahmen und dem ›Designer‹ religiöses und politisches Kalkül unterstellten. Am Beispiel von »Reiki«, einer aus unterschiedlichen Systemen bestehenden Form spiritueller Heilrituale aus dem Bereich der gegenwärtigen Esoterik, erläutert Nadja Miczek, weshalb sowohl die Selbstpositionierungen der Ritualdesigner als auch die durch sie vermittelte Intentionalität des Schaffungsprozesses vor dem Hintergrund einer modernen Marktsituation gelesen werden sollten. Miczek erörtert diese beiden Aspekte von Ritualdesign nicht als feststehende Kriterien, sondern als stets verhandelbar in einem diskursiven Raum begriffen. Ihre Darstellung der beiden erst in jüngster Zeit entwickelten Reiki-Systeme »Karuna-Reiki« und »Rainbow-Reiki« macht schließlich deutlich, dass auch die Schaffung von Differenz – gerade zu anderen Anbietern neuer Rituale – als ein zentrales Element von Ritualdesign erscheint. Strategien der Vermarktung und andere ökonomische Aspekte werden auch in den letzten beiden Beiträgen thematisiert. Christof Zotter untersucht am Beispiel der »Verehrung der schwarzen Schlange« (kƗlasarpapnjjƗ) – einem neuen, in Südasien derzeit an Popularität gewinnenden Hindu-Ritual – die Prozesse der Ritualschöpfung und -umgestaltung im konkreten sozio-ökonomischen Kontext. Gestützt auf die Ergebnisse von sowohl Textanalyse als auch teilnehmender Beobachtung im Kathmandu-Tal fragt er u. a. nach dem Produktionshintergrund der Rituale, dem Umgang mit Vorlagen und der Orientierung an den Bedürfnissen der Kunden. Zotter wendet seinen Blick aber auch auf die Rolle formaler Designs des Rituals (im Sinne von »Muster« oder »Prinzipien«). So verdeutlicht er, wie verschiedene Designs der brahmanischen Tradition dazu dienten, nicht nur bestehende Rituale immer wieder an sich verändernde Umstände anzupassen, sondern
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auch neue Rituale unter Beibehaltung eines ›corporate design‹ entwerfen zu können. Die von Zotter und anderen Beitragenden bereits thematisch angerissene Macht der Form steht im Zentrum des Beitrags von Pamela Klassen. Eher auf Design- als auf Ritualtheoretiker aufbauend geht Klassen der Frage nach, wie Gebäude und deren Strukturen als kommerzialisierte und historisierte Artefakte das Ritual und die Körper(lichkeit) der daran Teilnehmenden beeinflussen. Am Beispiel zweier rezenter Ritualinnovationen – Heilritualen in mexikanischen Schwitzhütten und Yoga-Kursen in kanadischen, anglikanischen Kirchen – legt sie dar, dass die gebaute Form dem Ritual nicht nur den ›rechten‹ Rahmen gibt und den sakralen Raum markiert, sondern als »quasi-object« im Sinne Latours selbst zum ›Agens‹ wird. Im Vordergrund steht hier also kein menschlicher Designer, dessen Gestaltungsmacht oder Intentionalität, sondern vielmehr eine bewusste und unbewusste Prägung dieser Aspekte durch die der Form innewohnende Tradition. Die in diesem Band versammelten Beiträge machen deutlich, wie bei der Anwendung von »Design« in der Analyse ritualdynamischer Phänomene meist einzelne, mitunter verschiedene Komponenten in den Fokus gestellt werden. Ein einheitliches Verständnis von »Ritualdesign« ist nicht erkennbar. Zudem ist fraglich, ob ein solches zu erarbeiten überhaupt anzustreben wäre. Zeigen doch die Beiträge, dass »Ritualdesign« als Forschungsperspektive gerade dann gewinnbringend ist, wenn eine fallspezifische Ausarbeitung vorgenommen wird, die es erlaubt und mitunter gar fordert, nur einige der generell in Frage kommenden Komponenten genauer zu betrachten. Eine Definition von Ritualdesign, die den Begriff in ein enges Korsett zwingt, würde neuen Blicken auf kreative und dynamische Prozesse der Ritualgestaltung (rezent und historisch, mit oder ohne nachweisbare Intentionalität, usw.) womöglich eher hinderlich als förderlich sein. Gerade das Zusammendenken von ökonomischen, medial-ästhetischen, identitätstheoretischen und weiteren Perspektiven, die in der angewandten Ritualforschung häufig separiert werden, macht »Ritualdesign« zu einer Forschungsperspektive, deren Anwendungsradius sowohl theoretisch als auch praktisch in weiterer Forschung ausgelotet werden sollte.
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»Ritualdesign« – ein neuer Topos der Ritualtheorie? G REGOR A HN
1. R ITUALDESIGNER –
EIN NEUER
B ERUF
Der Terminus »Ritualdesign« ist eine verhältnismäßig junge Wortneuschöpfung. Vermutlich ist der Begriff in Anlehnung an die in einigen europäischen Staaten inzwischen offiziell anerkannten Ausbildungsabschlüsse wie etwa »Autodesigner«, »Modedesigner«, »Webdesigner« oder »Kommunikationsdesigner« erst kurz vor der Jahrtausendwende geprägt worden. Im Unterschied zu solchen zertifizierten Abschlüssen stellt die sich in den letzten Jahren zunehmend einbürgernde Charakterisierung als »Ritualdesigner« nach wie vor eine juristisch nicht geschützte Berufsbezeichnung dar (vgl. Himmel 2006). Ein kurzer Blick ins Internet bestätigt allerdings eindrucksvoll die seit der Jahrtausendwende beträchtlich angewachsene Verbreitung dieses Begriffs; allein 16 900 Treffer ermittelte eine GOOGLE-Abfrage für den deutschen Terminus »Ritualdesign« am 29. März 2010 und 5 550 000 Treffer für die englische Entsprechung »ritual design«. Umgangssprachlich ist der Begriff dabei weitgehend positiv konnotiert: Mit »Ritualdesign« verbindet sich meist ein kreativ gestaltender, situationsangepasster Umgang mit Ritualkonstellationen. Nicht selten werden dabei auch allgemein an den Design-Begriff geknüpfte Assoziationen wie Zweckorientiertheit und Funktionalität auf den Terminus »Ritualdesign« übertragen. In metaphorischer Adaption kann auf diese Weise mitunter sogar die Werbung für edle Hauseinrichtungen von den mit »Ritualdesign« verbundenen Konnotationen profitieren; so wirbt
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etwa der in Bad Honnef ansässige Innenarchitekt Torsten Müller im Internet mit einem PR-Bericht über seine »Luxus Badezimmer [sic] im Ritual-Design« (Müller 2011). Doch auch die aktuelle Homepage der Eichstätter Trauerrednerin und Ritualdesignerin Christina Bamberger, deren Angebote den Kunden »berühren« wollen, bedient sich – ähnlich wie viele andere Beispiele – genau dieses semantischen Spektrums: Die Dienstleistungen von Christina Bamberger wollen Sie berühren. Sie steht Ihnen zur Seite als Trauerrednerin und Ritualdesignerin, als Märchenerzählerin und Märchenpädagogin. Ihre Fotografien und Bilder gestalten auf individuelle Weise. (CHRISTINA BAMBERGER, Homepage)
Von religiösen Akteuren wird der Begriff »Ritualdesign« in diesem Sinne bereits seit etwa der Jahrtausendwende in der Öffentlichkeit verwendet. Die seit den 1980er Jahren zunächst als Solitaire-Hexe, dann in einem Wicca-Coven1 praktizierende Jehana Silverwing beschäftigte sich schon früh mit der Entwicklung einer neuen, internetspezifischen Ritualistik und titulierte die heute noch für den Mai 1999 nachweisbare, vermutlich aber schon zuvor auf ihrer Website veröffentlichte Anleitung zur eigenständigen Entwicklung von Online-Ritualen bezeichnenderweise mit »Ritual Design Online« (Silverwing 1999).
2. »R ITUALDESIGN «
IN DER
R ITUALFORSCHUNG
Im wissenschaftlichen Diskurs hat der Terminus »Ritualdesign« bislang demgegenüber eine eher marginale Rolle gespielt. Ein zentraler Initialfunken für die ritualtheoretische Diskussion ist dabei vor allem von einem im Jahre 2004 publizierten Artikel des in Jerusalem lehrenden Anthropologen Don Handelman, »Designs of Ritual. The City Dionysia of Fifth-Century Athens«, ausgegangen, der ursprüng-
1
Viele moderne Hexen – z. B. die Anhänger der unterschiedlichen WiccaTraditionen – sind in festen Gruppen, sogenannten »Covens«, organisiert. Daneben findet sich jedoch auch eine beträchtliche Zahl an sogenannten »Solitaires« oder »Freifliegenden Hexen«, deren Vergemeinschaftungsformen nicht auf institutionalisierten Bindungen beruhen (vgl. Radde-Antweiler 2011: 50).
»RITUALDESIGN « –
EIN NEUER
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lich auf einen von ihm bereits im Jahre 1999 gehaltenen Vortrag zurückgeht. Handelman hebt darin einerseits auf Veränderungen in Ritualtraditionen ab, nämlich auf Inventionen von Ritualen, die auf die Erfüllung spezifischer kultureller Zwecke ausgerichtet sind, lenkt aber andererseits im Laufe seiner Untersuchung den Fokus auf die durch bestimmte Rituale – wie z. B. durch Initiationen oder Heilungsrituale – ausgelösten sozialen und individuellen Transformationsprozesse: I want to get away from the dominant notion in anthropology that all ritual is first and foremost representation—an expression of, a reflection of, social and cultural order. Of course, these orders invent rituals, but at least certain forms of ritual are invented intentionally to act on the very orders that create them. (Handelman 2004: 208)
Als verantwortlich für das Gelingen dieser rituellen Transformationen sieht Handelman die unterschiedlichen, ebenso situativ wie funktionalzweckorientiert angepassten »designs of ritual« an: »A given ritual is activated, first and foremost, by the practice of its logic(s) of organizational design« (ebd.: 207). Anders als die meisten der oben erwähnten Ritualpraktiker versteht Handelman unter diesen »designs of ritual« jedoch nicht die kreativen Anpassungen von Ritualen an kontextgebundene individuelle oder gruppenspezifische Bedürfnisse, sondern konkrete, meist schon als vorhanden vorzustellende organisatorische und performative Strukturmuster, die von Ritualexperten gezielt und effizient eingesetzt werden können, um die mit dem durchzuführenden Ritual intendierten Transformationsprozesse zu erreichen. Je nach kulturellem Kontext wechseln dieser These Handelmans zufolge daher die Strukturformen der jeweiligen Rituale – und damit zugleich also deren unterschiedliche »designs« (vgl. ebd.: 208–211). Für die historisch beobachtbaren Anwendungen solcher »designs of ritual« – sowie auch für ihre Invention – geht Handelman von intentionalen Handlungsakten aus, die von den jeweiligen Ritualspezialisten gezielt vorgenommen worden seien (vgl. ebd.: 209 f.). Allerdings reflektiert er in diesem Zusammenhang nicht das keineswegs unerhebliche Problem, dass diese von ihm idealiter unterstellte Intentionalität in der alltäglichen Forschungspraxis – vor allem bei der Beschäftigung mit Kulturen und Religionen der Vergangenheit – häufig
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nur schwer oder gar nicht nachweisbar sein dürfte.2 Das wirft zwangsläufig die Frage auf, welchen Nutzen ein Kriterium wie Intentionalität zur Beschreibung von Ritualdesign besitzen kann, das in historischen Quellen häufig keine explizite Erwähnung findet und deshalb die trennscharfe Klassifikation der behandelten Fallbeispiele verhindert. Der grundsätzliche Tatbestand, dass Rituale von Menschen geplant und durchgeführt wurden und werden, erlaubt für die Frage nach Intentionalität zwar den allgemeinen Schluss auf die basale Reflexivität, die jedem Willensakt zugrunde liegt, darüber hinaus aber wenig mehr. Ein derart weit gefasster Intentionalitätsbegriff, der die unabdingbare Voraussetzung einer jeden Handlung – und damit auch jeglicher Ritualpraxis – darstellt, ist daher von Handelman nicht gemeint und wäre für eine trennscharfe Distinktion von Ritualdesign und alltäglicher Ritualpraxis natürlich nicht sonderlich zweckdienlich. Wenn man allerdings – anders als Handelman – nicht nur punktuelle Inventionen vergleichsweise fester und immer wieder neu applizierbarer Designmuster für Rituale unterstellt, sondern stattdessen im Sinne des für die neuere Ritualtheorie kennzeichnenden Paradigmas »Ritualdynamik«3 davon ausgeht, dass bei allen Ritualen ständige Fortschreibungs- und Neuerfindungsprozesse stattfinden, lässt sich das Problem der historisch in den meisten Fällen nicht nachweisbaren Intentionalität der Generierung von Ritualformen und -mustern sichtlich entschärfen. Denn nicht nur das theoretische Konzept »Ritualdynamik«, sondern auch die Vielfalt der rezenten (emischen) Konstruktionen von Ritualen unter dem Label »Ritualdesign« legen nahe, dass die Strukturformen – das »Design« von Ritualen im Sinne Handelmans – ebenfalls einer kontinuierlichen Modifikation und Fluktuation unterliegen und nicht statisch wiederholt auf performatorische Konstellationen angewandt werden. Entsprechend sprunghaft erhöht sich mit dieser Erweiterung des Gegenstandsbereichs auf alle situativen Ritualanpassungen das diagnostische Potential von »Ritualdesign« um alle die Fälle, in denen sich explizite Artikulationen zu den mit der jeweiligen Ritualausübung verbundenen Intentionen finden. In diesem Sinne könnte »Ritualdesign« dann als ein Schlüssel zur Beschreibung dieses spezifischen Aspekts von solch fluiden Ritualtransformationen dienen
2
Vgl. dazu den Beitrag von Marco Mattheis und Christian Witschel zu
3
Vgl. dazu ausführlich die Einleitung zu diesem Band.
städtischen Ritualen der Spätantike im vorliegenden Band.
»RITUALDESIGN « –
EIN NEUER
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und damit einen sinnvollen Baustein zur analytischen Erfassung von Formen von Ritualdynamik darstellen. Die in Bremen lehrende Religionswissenschaftlerin Kerstin RaddeAntweiler hat diesen Zusammenhang von Ritualdesign und stetig von den Akteuren vorgenommenen Ritualtransformationen in einem sehr inspirierenden Artikel zur Internetritualistik sowie in ihrer hochinnovativen Dissertation zum Thema »Ritual-Design im rezenten Hexendiskurs« erstmals pointiert ausgeführt (Radde-Antweiler 2011). Allerdings verzichtet Radde-Antweiler auf eine Spezifikation dieses Konzepts über das von Handelman in die Diskussion eingeführte Kriterium der Intentionalität; stattdessen versteht sie Ritualdesign als einen Sonderfall von Ritualtransfer,4 der sich durch auf »Patchworking« basierende Neusynthetisierungen unterschiedlicher Ritualelemente auszeichnet (vgl. RaddeAntweiler 2006: 66–68). Für Radde-Antweiler erscheint Ritualdesign damit als ein allgemein für Ritualdynamik signifikantes und speziell an Formen von Ritualtransfer beobachtbares Konzept, »welches von Ritualen als von den einzelnen Akteuren bewusst oder unbewusst konstruierten Produkten ausgeht, die per se dynamisch sind« (Radde-Antweiler 2011: 207). Mit diesem Verständnis von Ritualdesign wird der kontinuierlichen Variabilität von Ritualperformanzen in vorbildlicher Weise Rechnung getragen, eine präzise Distinktion von verwandten ritualtheoretischen Topoi wie Ritualtransfer oder Ritualinvention wird mit diesem Ansatz jedoch nicht geleistet, worauf Radde-Antweiler auch selbst hinweist (vgl. Radde-Antweiler 2006: 68).
3. R ITUALDESIGN –
EIN INTENTIONALER
AKT ?
Im Folgenden soll daher einerseits an Don Handelmans und Kerstin Radde-Antweilers inspirierende Ideen angeknüpft werden, zugleich aber andererseits über die bereits angedeutete Nachschärfung des In-
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Das Konzept »Ritualtransfer« wurde im Heidelberger Sonderforschungsbereich »Ritualdynamik« entwickelt und ist inzwischen zu einem der zentralen Bausteine der neueren Ritualtheorie avanciert. Mit »Ritualtransfer« werden spezifische Formen der Veränderung von Ritualen erfasst, die – wie etwa im Fall von Migrationen – durch die Übertragung eines Rituals oder einzelner seiner Sequenzen in einen neuen oder veränderten Kontext entstehen (vgl. dazu vor allem Langer et al. 2006).
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tentionalitätskriteriums eine besser operationalisierbare Heuristik für das Konzept »Ritualdesign« entwickelt werden. Dabei soll mit RaddeAntweiler von kontinuierlichen ritualdynamischen Prozessen ausgegangen werden, Ritualdesign also als ein sich stetig und nicht nur punktuell bei der Bildung von Strukturformen für Rituale ereignendes Muster begriffen werden. Zugleich soll mit Handelman an dem nicht zu Unrecht umstrittenen Kriterium der Intentionalität als Indikator für die Diagnose von Ritualdesign festgehalten werden, dieses aber gleichzeitig der veränderten theoretischen Ausgangsbasis angepasst werden, mit der Ritualdesign in Kongruenz zum Paradigma »Ritualdynamik« als zweckorientierte situative Anpassung von Ritualformen gefasst wird. Der Preis für eine solche heuristische Setzung ist nicht unerheblich; denn immerhin handelt man sich damit neben dem grundsätzlichen Problem, wie mit den empirisch oft überhaupt nicht erhebbaren Daten zu den Intentionen der jeweiligen Ritualgestalter zu verfahren ist, die mit dem Design-Begriff verbundenen Präzisierungsschwierigkeiten ein. Diese entstehen dadurch, dass »Design« ein umgangssprachlich diffuses und ungemein reich schillerndes »Sprachspiel« (Wittgenstein) mit weitem Bedeutungsspektrum darstellt, als Terminus eines wissenschaftssprachlichen Diskurses jedoch möglichst präzise gefasst werden muss. Beide Dilemmata scheinen aber zumindest partiell lösbar zu sein und im Übrigen die Vorteile einer kohärenten und trennscharfen heuristischen Fassung des Konzepts »Ritualdesign« nicht zu überwiegen. Das Problem, dass die Intentionalität von Ritualtransformationen empirisch nur in einer vermutlich sehr begrenzten Anzahl von historischen Fällen erfassbar ist, stellt zumindest keinen grundsätzlichen Einwand gegen die Operationalisierbarkeit des Intentionalitätskriteriums dar. Zwar kann aufgrund der fehlenden empirischen Daten zu einer Vielzahl von Fällen keine Aussage getroffen werden, in anderen Fällen ist die intentionale Gestaltung von Ritualen jedoch zweifelsfrei erfassbar. Die durch das Vaticanum II seit Mitte der 1960er Jahre in weiten Kreisen der katholischen Kirche durchgeführte Liturgiereform etwa stellt nicht nur das Ergebnis eines längeren Aushandlungsprozesses dar, sondern beruht auch auf hochgradig reflektierter Intentionalität seitens der Konzilsväter, der beteiligten Theologen sowie in der praktischen Umsetzung in den Gemeinden auch der jeweiligen Priester und
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Laien (vgl. exemplarisch Maier 1976). Zumindest in einer stattlichen Reihe von Fallbeispielen lässt sich die Intentionalität von bewusst vorgenommenen Veränderungen an Ritualen also klar diagnostizieren. Um die Operationalisierbarkeit des Intentionalitätskriteriums gewährleisten zu können, soll hier daher der Vorschlag gemacht werden, die Menge der für den heuristischen Zugriff ausgewählten Beispiele auf die tatsächlich empirisch diagnostizierbaren Fälle von im Kontext von Ritualtransformationen artikulierter Intentionalität zu reduzieren. Damit bliebe die quantitativ möglicherweise größere Teilmenge der zwar intentional durchgeführten, als solche aber empirisch nicht erfassbaren Ritualveränderungen für die gewählte Heuristik bedeutungslos; dieser Verlust, der in der Lückenhaftigkeit des Quellenmaterials begründet liegt, stellt aber lediglich ein diagnostisches Problem dar und nicht eine grundsätzliche Schwierigkeit der Bestimmung des Untersuchungsgegenstands »Ritualdesign«, da es sich bei der Bewertung unvollständiger Datensätze letztlich um ein Dilemma handelt, mit dem sich jegliche historische Forschung ständig auseinanderzusetzen hat. Aber sind nun alle an Ritualen durchgeführten, nachweislich intentionalen Modifikationen als Ritualdesign zu verstehen? Wie weit reicht dabei das Begriffsspektrum von »Design«? Umfasst dies alle bewusst vorgenommenen Transformationsprozesse an Ritualen, soweit sie beobachtbar sind, oder sollte die semantische Reichweite von »Design« auf die Entwicklung neuer Rituale oder Ritualformen beschränkt werden? Stellt Ritualdesign eventuell also eine durch empirisch nachweisbare Intentionalität ausgezeichnete Teilmenge von Ritualinventionen dar? Oder handelt es sich bei Ritualdesign um ein zwar nicht in allen Fällen von Ritualdynamik – also nicht an allen Ritualen – diagnostizierbares, wohl aber um ein an allen Formen von Ritualdynamik (wie etwa Ritualtransfer, Ritualinvention etc.) auftretendes Phänomen? Orientiert man sich am Sprachgebrauch ritueller Akteure, so fällt auf, dass Ritualdesign zwar vereinzelt mit Ritualinvention gleichgesetzt wird, in den mit Abstand meisten Fällen aber auf situationsspezifische Modulationen von bereits bekannten Ritualen oder Ritualformen bezogen wird. Dies gilt auch für die bisher beobachtbare wissenschaftliche Adaption dieses Terminus (vgl. Handelman 2004, Radde-Antweiler 2006, Miczek 2007, Radde-Antweiler 2011, Quartier
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2011, Frenz 2011 und Hornborg 2011 mit jeweils variierender Pointierung). Allerdings hat dieses sich als Minimalkonsens allmählich etablierende Modell mit der keineswegs unerheblichen Schwierigkeit zu ringen, dass der neu eingeführte Topos »Ritualdesign«, um aussagekräftig verwendet werden zu können, möglichst trennscharf von anderen, inzwischen längst etablierten Topoi der neueren Ritualtheorie wie »Ritualtransformation«, »Ritualtransfer«, »Ritualinnovation« und »Ritualinvention« zu unterscheiden sein sollte. Gelänge eine solche distinkte Begriffsklärung nicht, bliebe die neue Kategorie »Ritualdesign« letztlich überflüssig und würde mehr Missverständnisse erzeugen als sinnvolle Erkenntnisse generieren. Doch genau an dieser Stelle kann das zwar ebenfalls alles andere als unproblematische, aber doch durchaus operationalisierbare Kriterium der Intentionalität zur weiteren Klärung beitragen. Deshalb soll im Folgenden dafür votiert werden, unter Ritualdesign alle diejenigen Ritualtransformationen, -innovationen und -inventionen zu fassen, für deren Planung und Durchführung explizite Intentionen der Ritualakteure empirisch greifbar sind und die auf die – wie auch immer gearteten – zweckorientierten und situationsspezifischen Veränderungen von Ritualen oder Ritualformen ausgerichtet sind. Diese terminologische Setzung ist sicherlich nicht selbstevident5 und bedarf daher einer kritischen Prüfung ihrer Kompatibilität zu bereits etablierten ritualtheoretischen Konzepten, mit denen sich inhaltliche Schnittmengen er-
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In einem ersten Versuch einer terminologischen Klärung hatte ich selbst den Begriff sehr viel enger gefasst als eine durch Intentionalität gekennzeichnete Teilmenge von Ritualtransformationen (vgl. Ahn 2011a: 603 f. und Ahn 2011b: 614): »As a working hypothesis I therefore tend to define ›ritual design‹ heuristically as an intentionally conducted act of constructing new forms of well-established rituals by using more or less common ritualistic components which might also stem from different traditions.« (Ahn 2011a: 604). Allerdings ließen sich mit diesem Ansatz nicht die intentionalen Modulationen von Ritualinnovationen und -inventionen erfassen, was insofern ein Problem darstellt, als die Grenzen zwischen Ritualtransformationen und -inventionen durchaus fluide sind und die auf Ritualtransformationen enggeführte Deutung von »Ritualdesign« an dieser Stelle Unschärfen aufweist (zur Problematik solcher kategorialer Grenzziehungen vgl. auch Houseman 2011).
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geben, sowie ihrer Nützlichkeit und Praktikabilität bei der Applikation auf historische Fallbeispiele. Ohne trennscharfe Grenzziehungen, die es in diesem Feld kaum geben kann, postulieren zu wollen, lassen sich in heuristischer Annäherung die durch Ritualtransformation, Ritualinnovation, Ritualinvention und Ritualdesign angesprochenen Segmente etwa wie folgt abgrenzen: Als »Ritualtransformation« wird eine Veränderung von Sequenzen, Elementen oder Kontexten von Ritualen verstanden, die aus emischer Perspektive häufig als nicht relevant eingestuft oder sogar überhaupt nicht wahrgenommen wird; darunter fallen z. B. alle performatorischen Divergenzen bei der wiederholten Durchführung von Ritualen, aber auch kleinere Anpassungen an wechselnde kulturelle, klimatische, geographische etc. Bedingungen, wie sie sich auch im Fall von Ritualtransfer ergeben können. Unter »Ritualinnovation« ist eine von den Ritualpartizipanten selbst als erheblich empfundene Modulation von Strukturformen oder Elementen von Ritualen vor dem Hintergrund eines veränderten kulturellen oder zeithistorischen Kontextes zu verstehen; Beispiele dafür wären etwa die Einführung neuer Musikinstrumente oder Musikstile, die Liturgiereform des Vaticanum II oder die Veränderung der zoroastrischen Bestattungsbräuche in Diasporakonstellationen (vgl. Stausberg 2004: 237–245). Mit »Ritualinvention« soll die ›Erfindung‹ eines völlig neuen Rituals bezeichnet werden, die sich aus der Kritik an bestehenden Ritualen, dem Abbruch einer Ritualtradition oder aus veränderten Kontextsituationen ergeben kann; die sich derzeit einbürgernden Rituale für den Übergang in den Altersruhestand sind dafür ein gutes Beispiel (vgl. z. B. Lindner 2006). Unter »Ritualdesign« soll der an intentionale Handlungsakte gebundene und von Ritualakteuren artikulierte Modus der Modifikationen von Ritualen verstanden werden, der sowohl an Ritualtransformationen wie auch an Ritualinnovationen und Ritualinventionen beobachtbar ist. Die gezielte Auswahl von Texten und Ritualsequenzen für eine Hochzeitsfeier, die von den Konzilsvätern bewusst intendierte Liturgiereform des Vaticanum II und die ›Erfindung‹ der Übergangsrituale für den Altersruhestand sind dafür gute Illustrationen. Während sich also Ritualtransformationen, Ritualinnovationen und Ritualinventionen als immer stärker ineinander verschachtelte Teil-
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mengen der jeweils umfassenderen Rubrik und insgesamt nochmals als Teilmenge von Ritualdynamik beschreiben lassen, bildet Ritualdesign – übrigens ähnlich wie Ritualtransfer – keine Untergruppe einer dieser Kategorien, sondern ist als eine anhand des Kriteriums der intentionalen Veränderung von Ritualen fassbare Schneise zu verstehen, die sich durch alle diese Kategorien zieht. Begriffslogisch steht Ritualdesign damit gar nicht in unmittelbarer Konkurrenz zu diesen Topoi, sondern bildet – wie auch Ritualtransfer oder das ebenfalls im Rahmen des Sonderforschungsbereichs »Ritualdynamik« entwickelte Konzept »ritual failure« (vgl. dazu Hüsken 2007) – eine dieses gesamte Feld quer segmentierende Kategorie. Der ritualtheoretische Mehrwert des Konzepts »Ritualdesign« besteht demzufolge gerade nicht in der umgangssprachlich häufig angenommenen Äquivalenz zu »Ritualinvention«, sondern liegt darin begründet, dass mit »Ritualdesign« wie mit einer Art Filter alle diejenigen Modifikationen an Ritualen ausfindig gemacht werden können, die sich im gesamten Feld von Ritualtransformation, Ritualinnovation und Ritualinvention als dezidiert intendierte Veränderungen artikuliert finden.
4. AUSBLICK : R ITUALDESIGN K OMMAGENE
IM HELLENISTISCHEN
Kommagene ist ein zwischen dem Taurosgebirge und dem Euphrat gelegenes Königreich, das sich in der Mitte des 2. Jh.s v. u. Z. im Grenzgebiet zwischen den damals dominanten politischen Machtblöcken – im Westen zunächst das Seleukidenreich, später die Römer, im Osten das Partherreich – etablieren konnte. Durch geschickte Heiratspolitik und Diplomatie konnten die Herrscher von Kommagene die Selbständigkeit ihres Kleinstaates über 230 Jahre bis in das 1. Jh. u. Z. bewahren. Für die Altertumswissenschaften ist dieser politisch wenig bedeutsame Pufferstaat zu einem sehr lohnenden Untersuchungsgegenstand avanciert, weil aus der Zeit der Unabhängigkeit des Königreichs Kommagene archäologische und epigraphische Zeugnisse einer eigenständigen Kultneugründung überliefert sind, in der altiranisch-zoroastrische Konzeptionen und Göttervorstellungen sowie ikonographische Topoi, Götterdarstellungen und herrschaftsideologische Traditionen aus der hellenistischen Umwelt aufgegriffen und mit indigenen Elementen zu einer den Staat fundierenden und das Königtum legiti-
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mierenden Religionsform verschmolzen wurden (vgl. für einen ausgezeichneten Überblick Boyce/Grenet 1991: 309–351).6 Für die Frage nach Ritualdesign ist diese Kultstiftung insofern von Bedeutung, als der Bau der Kultstätte auf dem Gipfel des Nemrut Da÷ und die Einsetzung des Kultes durch König Antiochos I. (ca. 69–36 v. u. Z.) nicht nur bewusst erfolgte, sondern diese Intentionalität im Inschriftencorpus auch explizit artikuliert ist: Als ich die väterliche Herrschaft übernahm, erklärte ich aus meinem gottesfürchtigen Sinn heraus das meinen Thronen unterworfene Königreich zur allen Göttern gemeinsamen Bleibe. Die Abbilder ihrer Gestalten, hergestellt auf die vielfältigsten Weisen, wie es alte Kunde von Persern und Hellenen – die glückhafte Wurzel meines Geschlechtes – uns überliefert, ehrte ich mit Opfern und Festversammlungen, so wie es seit alters Brauch ist und der Menschen gemeinsame Sitte. Auch erfand ich in meinem gerechten Sinn sichtbarlich würdige Ehrungen hinzu. Als ich die Fundamente dieses dem Nagen der Zeit unzersetzbaren Grabheiligtums in der Nähe der himmlischen Throne zu legen beschloß, damit dort die äußere Hülle meines bis ins hohe Alter wohlerhaltenen Leibes über unendliche Zeiten hin ruhe, nachdem sie die gottgeliebte Seele zu den himmlischen Thronen des Zeus Oromasdes emporgesandt hat, da nahm ich mir auch das noch vor, diesen heiligen Ort zum allen Göttern gemeinsamen Thronsitz zu erklären, damit durch meine Fürsorge nicht nur die heldische Schar meiner Vorfahren, die Du dort vor Dir erblickst, errichtet werde; damit vielmehr auch das auf heiligem Hügel errichtete selbst schon göttliche Abbild diesen auch von huldreich sich zeigenden Göttern nicht mehr verlassen daliegenden Ort als Zeugen meiner vor den Göttern geübten Frömmigkeit habe. (N 24–52, Übersetzung nach Waldmann 1991: 204)
Auch wenn diese zweifellos herrschaftsideologisch ausgerichtete Inschrift Antiochos’ I. nicht zwangsläufig einen Ausdruck der individu-
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Die Entdeckungs- und Erschließungsgeschichte Kommagenes setzte erst in den frühen 1880er Jahren ein, was nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen ist, dass sich die monumentale Kultanlage auf dem sehr abgelegenen Gipfel des mehr als 2000 m hohen Nemrut Da÷ befindet (vgl. zur Forschungsgeschichte vor allem Dörner 1987).
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ellen Religiosität des Königs darstellt,7 dokumentiert sie doch die intentionale Gründung einer monumentalen Kultstätte, die Invention des damit verbundenen Kultgeschehens und das Design der einzelnen, teils die Götterverehrung, teils den Ahnenkult betreffenden Ritualzeremonien. Die Kultstiftung Antiochos’ I. von Kommagene ist damit eine gute Illustration der grundsätzlichen praktischen Anwendbarkeit des Konzepts »Ritualdesign« auch für historische Szenarien. Doch auch der Mehrwert dieses Konzepts für die konkrete Analyse des Fallbeispiels lässt sich unschwer ermitteln: Denn bis in die 1990er Jahre war die Forschungsliteratur zu Kommagene überwiegend darum bemüht, die geschilderte Kulteinrichtung als ein Beispiel der für diese Epoche als signifikant angesehenen »Synkretismen« zu deuten. Dementsprechend konzentrierten sich viele Arbeiten darauf, die vermeintlich klar zu diagnostizierenden iranisch-zoroastrischen und griechischhellenistischen »Wurzeln« dieser oft als sekundär verstandenen und damit pejorativ bewerteten Kulturverschmelzung ausfindig zu machen (vgl. etwa Waldmann 1991: 34–51 sowie dazu Ahn 1994: 136 f.). Komplexe kulturelle Aushandlungsprozesse und kreative Neukontextualisierungen der adaptierten Vorstellungen und Ritualpraktiken blieben dabei meist ebenso ausgeklammert wie ritualtheoretische Fragestellungen. Mit der Charakterisierung der kommagenischen Kultstiftung als »Ritualdesign« wird demgegenüber der Fokus auf genau diese bislang kaum in den Blick genommenen Aspekte gerichtet; statt »Synkretismus« als vergleichsweise willkürliche Auswahl von Elementen aus homogenisiert und fixiert vorgestellten religiösen und kulturellen Traditionen zu thematisieren, kann damit dem Eigenwert und der kreativen Leistung der im Falle der kommagenischen Kultstiftung vorgenommenen Rezeptionen und Neusynthetisierungen vor dem Hintergrund wechselseitiger »cultural flows« in der gesamten hellenistischen Welt nachgegangen werden. »Ritualdesign« bietet für die Untersuchung dieses Beispiels kommagenischer Ritualinvention einen analyti-
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Andererseits kann zumindest für altorientalische Kulturen nicht davon ausgegangen werden, dass die Herrschenden als Nutznießer der Mechanismen religiöser Herrscherlegitimation diese Zusammenhänge aus einer kritischen – quasi aufklärerischen – Distanz zu der jeweils propagierten Religionsform hätten instrumentalisieren und durchführen können (vgl. dazu bereits Ahn 1992: 8–16). Für die hellenistische Periode steht eine Klärung dieser Frage bislang noch aus.
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schen Zugang, der es erlaubt, diese komplexe Konstellation in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext zu verorten und als eigenständige situativ begründete Syntheseleistung ernst zu nehmen. Die grundsätzliche Übertragbarkeit der Kategorie »Ritualdesign« auf Szenarien und Konstellationen der Vergangenheit impliziert dabei, dass die Ablaufbedingungen von Ritualdynamik, das stetige Wechselspiel der Konstruktion von Kontinuität und Variabilität von Ritualen, trotz völlig divergierender kultureller Setzungen und Aushandlungen im Laufe der von uns beobachtbaren Menschheitsgeschichte im wesentlichen ähnlichen Gesetzmäßigkeiten folgt. »Ritualdesign« könnte sich als ein brauchbares Instrument zur Deskription eines solchen Musters von intentionalen Ritualmodifikationen erweisen.
L ITERATUR Ahn, Gregor (1992): Religiöse Herrscherlegitimation im achämenidischen Iran. Die Voraussetzungen und die Struktur ihrer Argumentation (= Acta Iranica, 31. Textes et Mémoires, 17), Leiden/ Louvain: Peeters/Brill. — (1994): »[Rez. zu] Helmut Waldmann: ›Der kommagenische Mazdaismus‹. Tübingen: Wasmuth 1991 […]«, in: Gnomon 66.2, S. 134–140. — (2011a): »Ritual Design – an Introduction«, in: Michaels, Ritual Dynamics, Bd. 4, S. 601–605. — (2011b): »The Re-Embodiment of Mr. Spock and the Re-Incarnation of Voldemort. Two Examples of Ritual Design in Contemporary Fiction«, in: Michaels, Ritual Dynamics, Bd. 4, S. 607–616. Boyce, Mary/Grenet, Frantz (1991): A History of Zoroastrianism, Bd. 3. Zoroastrianism under Macedonian and Roman Rule (= Handbuch der Orientalistik, Abt. 1. Der Nahe und der Mittlere Osten, Bd. 8. Religion, Abschn. 1. Religionsgeschichte des Alten Orients, Lfg. 2, H. 2A), Leiden: Brill. Dörner, Friedrich Karl (1987): Der Thron der Götter auf dem Nemrud Da÷. Kommagene – das große archäologische Abenteuer in der östlichen Türkei, 2. erw. Aufl., Bergisch Gladbach: Gustav Lübbe Verlag.
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»Ritualdesign« als heuristisches Werkzeug zur Beschreibung von rituellen Wandlungsprozessen Eine Annäherung am Beispiel der Krönungsordines des Hinkmar von Reims P AUL T ÖBELMANN
Die Begriffsneuschöpfung »Ritualdesign« ist ein wenig klassisches, aber darum potenziell nicht weniger wertvolles Konstrukt geisteswissenschaftlicher Heuristik. Die Zusammenführung zweier Begriffe zu einem Kompositum, um auszuprobieren, wohin diese Neukomposition den Wissenschaftler führen kann, mag willkürlich erscheinen. Dennoch hat sie nicht selten zu einprägsamen und angemessenen Neubildungen geführt, was Begriffe wie »öffentlicher Raum«, »Wissenskultur«, »Konsumgesellschaft«, »Sakraltopographie«, oder auch die Begriffsbildung »Ritualdynamik« des gleichnamigen Heidelberger Sonderforschungsbereichs belegen. Ritualdesign verstehe ich im Folgenden als eine Unterkategorie von Ritualdynamik. Dem Ritualdesign, das heißt dem bewussten und zielgerichteten Verändern oder Neuschaffen von Ritualen, steht die »Ritualevolution« als Gegenpol gegenüber. Ich hoffe zeigen zu können, dass die Begrifflichkeit des Ritualdesigns als eine Beschreibungsmöglichkeit für Ritualdynamiken heuristisch fruchtbar gemacht werden kann, um der grundsätzlichen Annahme, Rituale seien prinzipiell veränderlich, zusätzliche Dimensionen und Differenziationen hinzuzufügen. Im Anschluss an eine eher formale Diskussion der genaueren Ausformulierung dessen, wie der Begriff »Ritualdesign«
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fruchtbar gemacht werden kann, werde ich die getroffenen Unterscheidungen an einem Beispiel aus der mittelalterlichen Ritualgeschichte erörtern.
1. D IMENSIONEN
DES R ITUALDESIGNS AUS AKTEURZENTRIERTER P ERSPEKTIVE
Rituale sind bewusst gestaltete Handlungen.1 Die Nähe des Rituals zur Inszenierung, zum Theater, zum Spiel braucht kaum weiter ausgeführt zu werden (vgl. Bateson 1973: 157–163). Nicht nur die selbstreferentielle Rahmensetzung (›framing‹) spielt dabei eine Rolle, sondern auch die Gestaltetheit der gerahmten Handlungen selbst: Sie unterliegen bestimmten konstitutiven Regeln, welche aber zugleich einen gewissen Freiraum in der Durchführung erlauben.2 Ein Ritualpraktiker ist daher mit einer Gestaltungsmacht ausgestattet, die mit seiner ›agency‹ einhergeht: Er ist Herr seines Rituals, insofern er bestimmte Entscheidungen treffen kann, die beeinflussen, wie das Ritual in der konkreten Situation ausfällt. Allerdings ist er dabei ebenso an die Eigenarten und Regelhaftigkeiten des Rituals selbst gebunden, ganz gleich, ob man sie habituell, semiotisch oder kognitiv begründet. Daraus folgt: Wenn ein Ritualpraktiker seine Entscheidungen betreffs eines Rituals über eine – allerdings durchaus schwer zu bestimmende – Grenze hinaus frei trifft, dann führt er nicht mehr dieses Ritual aus, sondern ein anderes. Er hat das Ritual verändert und in ein anderes oder gar ein neues überführt. Er hat ein neues Ritual designt.
1
Die Kontrolle des Durchführenden über die individuelle Gestaltung der Ritualhandlung betonen besonders Caroline Humphrey und James Laidlaw am Beispiel der täglichen puja der Jain: Wie man sie genau ausführe, sei letztlich jedem selbst überlassen, wichtig sei lediglich das »commitment«, puja zu machen (Humphrey/Laidlaw 1994: 112 ff.). Bell ist der Ansicht, der Ritualpraktiker verfüge (lediglich) über »practical mastery«, d. h. praktisches Wissen um die Durchführung des Rituals und strategische Kompetenzen der Ritualisierung, wenn auch nicht über reflektierbares Wissen um das, was er durch das Ritual herbeiführe (vgl. Bell 1992: 98 ff.).
2
Zur Unterscheidung konstitutiver von regulativen Regeln vgl. Searle (1969: 33–42).
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ALS HEURISTISCHES
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Mein Blick auf das Ritualdesign ist also ein ganz und gar akteurzentrierter: Er geht von der Existenz eines Akteurs aus, der bestimmte Entscheidungen treffen kann und diese absichtlich – und absichtlich so und nicht anders – trifft. Darüber hinaus setzt die Existenz eines Ritualdesigners in diesem Verständnis die Neuschaffung oder zumindest deutliche Veränderung/Anpassung eines Rituals voraus. Das hat mehrere Auswirkungen: 1) Das Design eines Rituals kann nicht mehr losgelöst vom Kontext behandelt oder auch nur bestimmt werden. Ritualdesign ist in dieser Herangehensweise ein komparativer Begriff. 2) Weiterhin kann nicht einfach jedes Ritual als designt aufgefasst werden, denn diese Bezeichnung setzt a) die zumindest in Aspekten vorhandene Novität des Rituals voraus, und erfordert b) einen Akteur, der bewusst als Ritualdesigner auftritt. Diese Einschränkungen sind im Sinne einer Schärfung des Leitbegriffs für diesen Artikel aber durchaus willkommen. Wollte man jedem Ritual ein Design zuschreiben – wie es aus der eingangs getroffenen Feststellung, Rituale seien stets gestaltet, weitergedacht werden könnte –, so hätte man eine wenig nützliche Allaussage getroffen, die keinen heuristischen Gewinn verspricht. Die Vokabel »Ritualdesign« ist aber hinreichend unverbraucht, so dass sich dieser Fehler vermeiden lässt. Stattdessen plädiere ich für einen recht engen Begriff von Ritualdesign: Ritualdesign ist die bewusste Neu- oder Umgestaltung eines Rituals durch einen Akteur. Anstatt eine Eigenschaft von Ritualen zu sein, ist Ritualdesign in meinem Ansatz also ein Phänomen, das ausschließlich im Rahmen ritueller Wandlungsprozesse (Ritualdynamik) auftaucht. Genauer gesagt, ist Ritualdesign in dieser ersten Annäherung eine Unterkategorie von Ritualdynamik. Betrachtet man rituelle Wandlungsprozesse aber im Einzelfall, so wird rasch deutlich, dass diese erste knappe Definition zu kurz greift, begegnen uns doch praktisch keine Beispiele für ganz neu erfundene, komplett frei designte Rituale. Auch die Handlungsfreiheit des Akteurs
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muss, was die (Neu-)Gestaltung seines Rituals angeht, von Fall zu Fall unterschieden werden und kann nicht als stets gegeben vorausgesetzt werden. Gerade in stark ideologisch oder religiös aufgeladenen Kontexten – aber darüber hinaus auch ganz generell – muss bezweifelt werden, ob der Akteur sich seines Tuns als Ritualdesigner voll bewusst ist: Rituelles Handeln ist ja nicht zuletzt auch habituellen Geprägtheiten verhaftet und muss sich bis zu einem gewissen Grade etablierter Konventionen bedienen, um überhaupt als solches verstanden werden zu können. Gestaltungsfreiheit und Intentionalität der Akteure sind also entscheidende Messlatten ihrer Qualifikation zu Ritualdesignern. Mit der Verwendung des Plurals »Akteure« im letzten Satz deutet sich noch ein weiteres Problemfeld an. Nicht immer – in der Praxis sogar ausgesprochen selten – kann eine Einzelperson über die Art und Weise der Durchführung eines Rituals entscheiden. Viel öfter werden mehrere oder sogar sehr viele Akteure auftreten, deren gemeinsame Entscheidung die zukünftige Gestalt des Rituals bestimmt. Mithin beruht Ritualdesign nicht selten auf einem Aushandlungsprozess im Designerkollektiv.3 Ich spreche dennoch weiterhin von nur einem Ritualdesigner, verstanden als Aggregat der verschiedenen mit ›agency‹ ausgestatteten Kräfte. Schließlich lässt sich noch die Frage stellen, wie weit das Ritualdesign jeweils reicht: Wie viele betrifft es, wie viele akzeptieren es oder müssen es akzeptieren, wie lange hält es sich? Man halte sich den Fall eines Rituals vor Augen, das nur selten und von einer Handvoll Menschen durchgeführt wird und dann in Vergessenheit gerät, oder das der Ritualdesigner gar nur für den eigenen Hausgebrauch und für eine einmalige Gelegenheit schafft. Diese Ritualschöpfung besäße allerdings lediglich eine »individuelle Reichweite«, so dass die hochtrabende Bezeichnung »Design« mit ihren auf breite Zustimmung und möglichst große Reichweite angelegten Konnotationen der wettbewerbsorientierten Wirtschafts- und Konsumgesellschaft kaum angemessen erscheint. Aus diesen Ausführungen ergeben sich vier limitierende Faktoren für Ritualdesign – oder, anders gewendet, vier Dimensionen, in denen
3
Vgl. dazu den Beitrag von Marco Mattheis und Christian Witschel zu Aushandlungsprozessen und verschiedenen Akteuren bei der Transformation städtischer Rituale in der Spätantike im vorliegenden Band.
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Ritualdesign greifen kann. Diese vier Dimensionen beziehen sich, getreu dem hier vertretenen akteurzentrierten Ansatz, alle auf die Rolle des Akteurs. Die ersten beiden sind Merkmale des Akteurs selbst: 1) die ›Dichte‹ oder ›Härte‹ des kollektiv verstandenen DesignerAkteurs sowie 2) seine ›Intentionalität‹ in Bezug auf den Designprozess. Hinzu kommen die Bedingungen, unter denen der Akteur sein Ritualdesign vornimmt: 3) seine ›Freiheitsgrade‹ beim Designprozess und 4) der ›Erfolg‹ seines Designs. 1. 1 Die Dimension der ›Dichte‹ oder ›Härte‹ »Viele Köche verderben den Brei«, und viele Ritualdesigner verderben eventuell auch das Ritualdesign, oder zumindest bekommt niemand am Ende ganz das Ritual, das er gerne designt hätte. Ob die Köche den Brei verderben, hängt also zunächst einmal von ihrer Anzahl ab. Weiter ist wichtig, wie gut sie zusammenarbeiten, und ob – um im Bild zu bleiben – einer von ihnen lieber Suppe und ein anderer lieber Pasta hätte. Schließlich ist nicht unwichtig, ob einer der »Köche« exklusiven Zugang zur Speisekammer hat. Formaler gesprochen, meint die relative ›Dichte‹ des Ritualdesigners daher die Kombination aus a) der Anzahl von Einzelakteuren, die Einfluss auf den Designprozess nehmen können, mit b) ihrer Nähe zueinander, was Vorstellungen, Ziele und Mittel beim Design angeht, sowie c) die Fähigkeit einzelner Akteure, ihre je unterschiedlichen Vorstellungen und Ziele im Kollektiv durchzusetzen. Die ›Dichte‹ des kollektiven Ritualdesigners ist also ein Maß für die kumulierte Handlungsfähigkeit und die Grenzen dessen, was der Designprozess bewirken kann. Wo eine Einzelperson frei von Zweifeln und gemäß den eigenen Wünschen und Vorstellungen alle Entschei-
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dungen treffen kann, haben wir es mit einem vollkommen ›dichten‹ oder ›harten‹ Akteur zu tun. Nichts hält einen solch ›harten‹ Akteur prinzipiell davon ab, sich als Ritualdesigner zu betätigen. Wo dagegen eine große Gruppe, möglicherweise eine ganze Gesellschaft, das Ritual gestaltet, steht sie zumeist in einem kontinuierlichen Aushandlungsprozess, mit zäher Meinungsbildung und ständigen Kompromissen. Hier haben wir es also mit einem ›weichen‹, d. h. nicht ›dichten‹, sondern in Anzahl, Vorstellungen und Möglichkeiten sehr zerstreuten kollektiven Akteur zu tun. In einem solchen Fall ist nicht wirklich ein Designer sichtbar, so dass man überhaupt kaum von Design sprechen kann. Die ›Dichte‹ des Akteurs entscheidet also darüber, inwieweit er überhaupt sinnvoll als Ritualdesigner bezeichnet werden kann. Sie ist eine Eigenschaft, die dem Akteur in mehr oder minder großem Maße eignen kann. Für den konkreten Einzelfall kann die ›Dichte‹ in einem Kontinuum zwischen zwei Polen verortet werden: auf der einen Seite der in Bezug auf Entscheidungen der Neu- oder Umgestaltung des Rituals gänzlich eigenständige Akteur, auf der anderen ein in dieser Hinsicht vollkommen zerstreutes, also uneiniges Kollektiv. Halten wir fest: Je ›dichter‹ der Akteur ist, der einen rituellen Wandlungsprozess bewirkt, desto mehr trägt dieser Prozess den Charakter von Ritualdesign. 1. 2 Die Dimension der Intentionalität In welcher Weise der Akteur eines rituellen Wandlungsprozesses bezüglich seiner ›Dichte‹ auch konstituiert sein mag, eine weitere Eigenschaft hat mindestens so großen Anteil an seiner Rolle als Ritualdesigner: die Intentionalität seines Vorgehens. Design ist ein bewusster Prozess. Jeder Designer verfolgt die Absicht bewusster Gestaltung, welche Kriterien er dabei auch immer zugrunde legen mag. Diese Intentionalität des Akteurs, in unserem Fall die Intention, einen rituellen Wandlungsprozess einzuleiten und ein Ritual um- oder gar neu zu gestalten, unterscheidet Fälle von Ritualdesign fundamental von anderen Ritualdynamiken.
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Zwei Aspekte tragen zur Intentionalität des Ritualdesigners bei: a) das Bewusstsein, einen rituellen Wandlungsprozess zu bewirken oder ihn zumindest in einflussreicher Position zu begleiten; b) die Absicht, den Prozess in bestimmte Bahnen zu lenken und zu einem gewünschten Ergebnis zu kommen. Beide Merkmale können wiederum verschieden stark ausgeprägt sein und können sich auch mit der Zeit bzw. mit Fortschreiten des Prozesses graduell verändern. Das Bewusstsein, auf ein Ritual oder eine rituelle Invention einwirken und es bestimmten Bedürfnissen anpassen zu können, ist allerdings stets die Voraussetzung, während Absicht erst dann vorliegen kann, wenn ein Bewusstsein bereits besteht. Wenn eine Intentionalität im Sinne von zielgerichtetem Ritualdesign konstatiert wird, ist sich der Akteur immer zumindest vage oder unterschwellig bewusst, dass er Akteur eines rituellen Wandlungsprozesses ist. Es ist wichtig festzuhalten, dass die ›Dichte/Härte‹ des Akteurs in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit seiner Intentionalität steht. Eine Gemeinschaft, in der zahlreiche widersprüchliche Meinungen über die Richtung vorherrschen, die ein ritueller Wandlungsprozess nehmen soll, kann dennoch ein ausgeprägtes Bewusstsein für ihre Rolle als Ritualdesigner entwickeln. Umgekehrt kann auch eine Einzelperson, die ein Ritual um- oder neu gestaltet, die Tatsache verkennen, dass sie das tut, und so in der Sache ganz absichtslos handeln. Es bleibt festzuhalten: Je bewusster und absichtsvoller der Akteur eines rituellen Wandlungsprozesses diesen gestaltet, desto mehr trägt dieser Prozess den Charakter von Ritualdesign. 1. 3 Die Dimension der Freiheitsgrade Nicht ohne Grund herrschte in der Ritualforschung lange die Auffassung vor, Rituale zeichneten sich vor allem durch ihre Traditionsgebundenheit und Unveränderlichkeit aus. Nur selten erheben sich Stim-
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men, die auf die Dynamik von Ritualen verweisen.4 Die Zwänge, denen Ritualdesign ausgesetzt ist, sind denn auch häufig massiv. Nur selten hat ein Ritualdesigner die Autorität, sich über die Erwartungshaltung der vom Ritual Betroffenen hinwegzusetzen; nur selten erwarten diese Personen Veränderungen an oder Neuschöpfungen von Ritualen; nur selten findet Ritualdesign in derart luftleerem Raum statt, dass es solche frei vornehmen kann, ohne eine Erwartung erfüllen zu müssen; nur selten erlauben auch die sonstigen – zum Beispiel wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen – Rahmenbedingungen freies Design. Aber all diesen Zwängen zum Trotz können rituelle Wandlungsprozesse vorkommen, so dass sich vier ›Freiheitsgrade‹ des Ritualdesigns ergeben, gekennzeichnet durch a) die größere oder geringere Autorität des Akteurs, b) die zustimmende oder ablehnende Erwartungshaltung der Betroffenen, c) die geringere oder größere Bedeutung dieser Zielgruppe und d) die mehr oder weniger günstigen sonstigen Rahmenbedingungen5 des Rituals. Die ›Freiheitsgrade‹ des Ritualdesigns können zusammenfassend behandelt werden, da die einzelnen eben genannten Punkte in der Praxis durchaus ineinander übergehen können. Die Autorität eines Akteurs zum Beispiel hängt unter anderem davon ab, ob er in der Vergan-
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Obwohl ich – als Mitglied des SFB 619 »Ritualdynamik« – dieser Position durchaus zuneige, lassen sich gute Gründe finden, zur Definition von Ritualen Kriterien wie Stanley Tambiahs »Formalität (Konventionalität), Stereotypie (Rigidität), Verdichtung (Verschmelzung) und Redundanz (Wiederholung)« heranzuziehen (2002: 213 f.). Zumindest scheinen die Ritualpraktiker ihre Rituale häufig und gern so zu beschreiben, was allerdings auch als legitimierende Strategie im Sinne einer Traditionsbildung verstanden werden kann.
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Gerade diese sonstigen Rahmenbedingungen ließen sich sicher noch weiter aufschlüsseln, aber einen vollständigen Kriterienkatalog zu entwickeln, ist nicht das Ziel dieses Artikels. Welche Rahmenbedingungen bedeutsam sind, sollte fallweise entschieden werden.
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genheit die Erwartungshaltung der Zielgruppe erfüllt hat; wie bedeutungsvoll die Rolle der Betroffenen ist, kann durchaus rechtlich festgelegt sein oder von der tagespolitischen Konstellation abhängen etc. Zu den ›Freiheitsgraden‹ des Akteurs gehört immer auch die Bereitschaft des Akteurs selbst, als Ritualdesigner aufzutreten. Fühlt er sich einer Ritualtradition verpflichtet, engt dies seine Freiheit im Abweichen von der Tradition natürlich stark ein. Allgemein lässt sich formulieren: Je größer die Freiheit des Akteurs bei der Gestaltung eines rituellen Wandlungsprozesses, desto mehr trägt dieser Prozess den Charakter von Ritualdesign. 1. 4 Die Dimension des Erfolgs Der Begriff des Designs wird außerhalb unseres Kontextes bekanntlich zumeist auf Produkte angewendet, die gezielt auf Kundenbedürfnisse zugeschnitten werden. Designte Produkte sollen Funktionalität und Ästhetik verschieden kombinieren, um auf breitestmögliche Gegenliebe zu stoßen. Dabei ist nicht die Größe der Abweichungen von einem Vorläufermodell oder von vergleichbaren Produkten wichtig – es geht nicht um die Idiosynkrasie, sondern um die Attraktivität des Produkts. Angestrebt ist die möglichst weite Verbreitung, Akzeptanz und Langlebigkeit des Produkts auf dem Markt. Überträgt man diese Überlegungen auf Ritualdesign, so muss man auch hier seinen ›Erfolg‹ als Maßstab anlegen. Damit ist gemeint: a) Erreicht die Veränderung oder Neuschöpfung eine große Zielgruppe, die größere oder geringere Autorität des Akteurs, b) hält sie sich im Anschluss an den rituellen Wandlungsprozess verhältnismäßig lange, und c) vermag sie weitere rituelle oder gar gesellschaftliche Entwicklungen mitzuprägen, dann handelt es sich um hochwirksames Ritualdesign. Dringt der zielgerichtete rituelle Wandel dagegen kaum durch, wird nicht akzeptiert, verschwindet rasch wieder, erreicht nur einen kleinen »Kundenkreis« o. ä., dann handelt es sich, auch und gerade im Urteil
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der Ritualpraktiker, weniger um genuin eigenständiges Ritualdesign als um »unnütze«, »ignorante« oder gar »ketzerische« Abweichungen von der Norm, Ritualfehler, »Ausrutscher« – oder zumindest bietet sich eine solche Benennung doch weitaus eher an. Knapp lässt sich formulieren: Je erfolgreicher eine rituelle Um- oder Neugestaltung ist, desto mehr trägt der rituelle Wandlungsprozess den Charakter von Ritualdesign. 1. 5 Ritualevolution: Ein Gegenbegriff zu Ritualdesign Damit haben wir vier voneinander weitestgehend unabhängige Dimensionen, innerhalb derer sich eine mehr oder weniger große Tendenz zum Ritualdesign feststellen lässt. Was noch fehlt, wäre ein Gegenbegriff. Wo in der Masse der Handlungsträger kein näher bestimmbarer Akteur erkennbar ist; wo kaum das Bewusstsein ritueller Gestaltungsmöglichkeiten und jedenfalls keine zielgerichtete Absicht vorhanden sind; wo kaum Freiheiten existieren, eine solche Gestaltung aktiv vorzunehmen; wo alle Versuche der aktiven Um- oder Neugestaltung im Sande verlaufen – dort liegt kein Ritualdesign vor. Wenn aber dennoch ein ritueller Wandlungsprozess beobachtbar ist, worum handelt es sich dann? Um einen nichtintentionalen, nicht an bestimmten Akteuren festzumachenden Vorgang, der äußeren Zwängen und außerrituellen Gesetzmäßigkeiten folgt, und der so unbewusst verläuft, dass man nicht sinnvoll von Erfolg oder Misserfolg sprechen kann – kurz: um einen Prozess allmählicher, unmerklicher Anpassung an die Notwendigkeiten. Um diesen zu bezeichnen, kann der Begriff der Evolution verwendet werden. Diesen Begriff, die »Ritualevolution«, will ich dem des »Ritualdesign« gegenüberstellen. Ich postuliere, dass alle Formen von Ritualdynamik sich auf einer bipolaren Achse zwischen den zwei Idealtypen des auf Design und auf Evolution beruhenden Wandels einordnen lassen. An jeden rituellen Wandel kann man daher die Frage stellen: Haben wir es mit der Etablierung des Designs durch einen Designer zu tun oder handelt es sich eher um eine ihren eigenen Notwendigkeiten folgende Evolution? Diese Frage lässt sich, wie zuvor ausgeführt, in vier Fragen aufgliedern, die nicht notwendigerweise aufeinander Bezug nehmen. Diese zerfallen je nach Lage des Falls wiederum in Un-
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terfragen, die allerdings häufig in enger Beziehung zueinander stehen. Im Folgenden will ich meine Konzeption des Ritualdesigns an einem prominenten Beispiel aus der Mittelalterforschung erproben: den Krönungsordines Hinkmars von Reims.6
2. E IN B EISPIEL FÜR R ITUALDESIGN : D IE K RÖNUNGSORDINES H INKMARS
VON
R EIMS
Das klassische Beispiel für ein mittelalterliches Ritual ist die Königskrönung.7 Sie verknüpft liturgische mit politischen Elementen, insofern sie den politischen Herrscher mittels einer sakralen Zeremonie in einen quasi-sakralen Rang erhebt und seine Person in eine einzigartige Position zwischen Kleriker und Laien stellt. Die mittelalterliche Formulierung, der König sei mediator cleri et plebis, Mittler zwischen Klerus und Volk, fängt den königlichen Sonderstatus ein, der ihm in der Krönungszeremonie verliehen wird.8 Zu den ersten Texten, die den Charakter der Herrschererhebung als liturgisches Ritual überhaupt erkennen lassen, gehören bereits rituelle Vorschriften, die insbesondere die zu sprechenden Formeln und Gebete aufführen: die sogenannten ordines (ordo = Ordnung). Da die Krönung selbst und damit auch ihre konkrete Form als hochpolitisch zu gelten haben, ist die Frage, ob es sich bei ihrer Entstehung um einen Designprozess handelte oder um eine Ritualevolution, eine hochinteressante.
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Ich habe hier das Ritualdesign behandelt, nicht die Ritualevolution. Wenn ich daher im Folgenden ein Beispiel für rituelle Neugestaltungen aus der mittelalterlichen Geschichte erörtere, dann handelt es sich um ein Beispiel für offensichtliches Ritualdesign. Die Kategorie der Evolution dient als Gegenbegriff, auf den ich von Zeit zu Zeit zu sprechen kommen werde, ohne ihn hier näher ausführen zu wollen.
7
Grundlegend: Bouman (1957). Vgl. auch die instruktiven Sammelbände Bak (1990) und Steinicke/Weinfurter (2005).
8
Die Formulierung stammt aus dem sogenannten MAINZER ORDO, einer rituellen Vorschrift für die Weihe und Krönung des Königs, einem Teil des Pontifikale Romano-Germanicum (PRG) von ca. 960 (Vogel/Elze 1963: 258, Z. 25; vgl. Görich 1998).
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Liturgische Rituale waren im Mittelalter natürlich die Domäne des Klerus. Entsprechend ist es nicht überraschend, dass die ersten Herrscherweihen im hier angesprochenen Sinne eines nicht rein säkularen Aktes von hohen Klerikern durchgeführt wurden. Seit der Salbungszeremonie für den Frankenkönig Pippin I. in Soissons im Jahre 754 war dies – zumindest im Frankenreich, der damals bedeutendsten politischen Einheit Europas – der Papst persönlich.9 Auch Pippins Nachfolger wurden von Päpsten gesalbt. Diese Salbungen lehnten sich in ihrer Symbolsprache an die Taufsalbung an, verwiesen darüber hinaus aber auch auf die Königssalbungen des Alten Testaments. Auch wenn es sich bei den Salbungen Pippins I., seines Sohnes Karls des Großen und seines Enkels Ludwigs des Frommen noch nicht um Zeremonien der eigentlichen Königserhebung und gewiss nicht um herrschaftskonstitutive Akte handelte, war die Salbung eine Bestätigung ihres königlichen Status durch den Papst gewesen. Im mittlerweile in drei Teilreiche zerfallenen Frankenreich traten Mitte des 9. Jh.s die Bischöfe an die Stelle des Papstes. Im Westfrankenreich bildete sich in den Jahren von 848 bis 877 eine Form der Königskrönung heraus, die in der Niederschrift des ordo für die Krönung Ludwigs des Stammlers am 8. Dezember 877 in Compiègne fassbar ist. Diese Form der Königskrönung sollte die weitere Entwicklung des Rituals das ganze Mittelalter hindurch und in allen west- und mitteleuropäischen Monarchien bestimmen; noch die Krönung Elisabeths II. von England im Jahre 1953 machte von bestimmten Teilen des 877er ordo Gebrauch. Entscheidenden Einfluss auf die Krönungen – wie auch auf viele andere Aspekte des politischen Geschehens – hatte in diesen Jahren der Erzbischof von Reims, Hinkmar (845–882). Hatte die Krönung des westfränkischen Königs Karls des Kahlen in Orléans im Jahre 848 noch der fränkische Primas, Erzbischof Ganelon von Sens, durchgeführt, so war es bereits acht Jahre später Hinkmar, der Karls Tochter Judith in Verberie zur Königin von Wessex weihte. Im August 866 krönte Hinkmar Karls Gemahlin Ermentrude in Soissons, und am 9. September 869 führte er die später von eigener Hand ausführlich dokumentierte Krönung Karls des Kahlen im lothringischen Teilreich durch, das der Westfrankenkönig Karl sich nach dem
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Noch immer herrscht in der Forschung eine Kontroverse um die Frage, ob bereits Pippins I. Königserhebung im Jahre 751 mit einer Salbung einherging oder nicht (vgl. Semmler 2003).
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Tod seines Neffen, König Lothar II., zusätzlich einzuverleiben gedachte. Die Krönung des Jahres 869 weist zwei besondere Eigenheiten auf, die sie zu einem instruktiven Beispiel für die Erprobung meiner Auffassung von Ritualdesign machen. Hinkmar fügte der mit Segenssprüchen und Gebeten verbundenen Königssalbung nämlich zwei Elemente hinzu, die geradezu konstitutiv für den Charakter des fränkischen und später des französischen Königtums10 werden sollten: Die promissio regis, das Versprechen des Königs, gut zu herrschen und die Gesetze zu achten, und die Verwendung der Sainte Ampoule, der Ampulle mit heiligem Himmelsöl, das zur Salbung verwendet wurde. Die promissio regis war eine Erklärung des Königs in Antwort auf die Bitte des Erzbischofs, die Kirche zu schützen. Die promissio entstammte ursprünglich dem Verfahren bei der Weihe eines Bischofs, der traditionell von seinen zukünftigen Mitbrüdern examiniert wurde, um seine Rechtgläubigkeit zu prüfen. Der König leistete eine solche promissio regis unter diesem Namen erstmals bei der Krönung Ludwigs des Stammlers im Jahre 877. Aber bereits im Jahre 843, bei der Teilung Frankenreichs in drei Teile, hatte Karl der Kahle seinen Anhängern im Westreich im sogenannten pactum von Coulaines (Boretius/Krause 1897: Nr. 254. 253–255) versprechen müssen, die alten Gesetze zu achten und ihre Rechte zu verteidigen. Dieses Versprechen hatte er anlässlich verschiedener Reichssynoden einige Male wiederholt. Im Jahre 869 in Metz leistete Karl dann eine Erklärung, in der er auf eine diesbezügliche Frage der Bischöfe hin erneut versprach, die alten Gesetze einhalten und die Rechte besonders der Kirche schützen zu wollen (ebd.: Nr. 276. 339). Diese Erklärung wurde bei der Krönung Ludwigs acht Jahre darauf dann zum Versprechen (promissio) (ebd.: Nr. 283. 364). Ein solches Versprechen konnte als justiziabel aufgefasst werden. Hinkmar von Reims, von dem die Texte der Willenserklärungen stammten, die Karl im Jahre 869 und Ludwig im Jahre 877 vortrugen, verstand sie sicherlich als bindend. Ein anderes Verständnis wäre angesichts der Öffentlichkeit und gewaltigen Ausstrahlung eines solchen königlichen Versprechens wohl auch kaum möglich gewesen.
10 Die ordines der fränkischen und französischen Königskrönungen edierte in exzellenter Qualität Richard A. Jackson (1995/2000), so dass die Traditionsbildung nach dem Jahre 869 gut nachzuvollziehen ist.
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Die Sainte Ampoule war der Legende nach von einer Taube – der Versinnbildlichung des Heiligen Geistes – aus dem Himmel gebracht worden, als der heilige Remigius an Chlodwig, dem ersten christlichen Frankenkönig, das Taufsakrament vollzog. Die Ampulle mit dem himmlischen Salböl wurde anschließend in Saint-Remi in Reims aufbewahrt und im Jahre 869 erstmals zur Königssalbung herangezogen.11 Die Existenz einer solch heiligen Reliquie und besonders ihr Gebrauch im Ritual der Herrschererhebung verband die Krönung nicht nur direkt mit den Anfängen des christlichen Frankenreichs und dem Missionar der Franken, Remigius. Auch der Status der Reimser Kirche und mit ihr des Reimser Erzbischofs Hinkmar, der als Koronator fungierte, erhielt einen gewaltigen Schub. Die Heilige Ampulle war aus späteren Krönungen im Westfrankenreich und seinem französischen Nachfolgereich nicht mehr wegzudenken. Es ist vielleicht nicht gänzlich überraschend, dass die erste Niederschrift der Legende vom Himmelsöl durch Hinkmar von Reims selbst geschah und sogleich in einen liturgischen Text der Reimser Kirche übernommen wurde, als dessen Redakteur ebenfalls Hinkmar zu gelten hat.12 Hinkmar hatte also eine Legende geschaffen und sie umgehend als historische Folie einer Ritualkonstruktion genutzt, welche geeignet war, sein Prestige und das seiner Kirche dauerhaft zu erhöhen. Janet Nelsons Formulierung ist sicherlich Recht zu geben: »The bishops were also the ritual specialists in a Christian society, and therefore were uniquely qualified to manipulate ritual to express and to implement their own ideas.« (Nelson 1986b: 251) – allein, Hinkmar hatte die Gelegenheit genutzt, in seiner Konzeption über das Ritual selbst noch weit hinauszugehen.13
11 Hinkmar spricht in seiner Ansprache vor der Zeremonie vom »geliebten König der Franken Chlodwig« (»Hludowicus regis Francorum inclytus«), der vom heiligen Remigius »getauft und mit dem Himmelsöl, das wir daher bis heute besitzen, gesalbt und zum König geweiht« (»baptizatus et coelitus sumpto chrismate, unde adhuc habemus, perunctus et in regem sacratus«) worden sei (Boretius/Krause 1897: Nr. 276. 340). 12 Ausführlich und überzeugend begründet diesen Zusammenhang Nikolaus Staubach (2006). 13 So meint Nelson selbst an anderer Stelle: »Hincmar’s interests […] were basically practical: law and liturgy served him as means to political ends.« (Nelson 1986a: 169).
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Möglich machte dies einerseits eine das ganze 8. und 9. Jh. durchziehende Entwicklung des Episkopats hin zu einem enorm gesteigerten Selbstbewusstsein als Entscheidungsträger und politischer Weichensteller (vgl. ebd.: pass.). Vielleicht der wichtigere Faktor war aber die zunehmende Angleichung von Königs- und Bischofsweihe. Wie bei der Weihe von Amtskollegen traten die den König weihenden Bischöfe als Vermittler göttlicher Gnaden auf. Sie übermittelten das Amt des Königtums und erhoben somit auch einen Anspruch auf den höheren Rang, die maior dignitas, wie Hinkmar selbst anmerkte und begründete (Nelson 1986a: 140 f.). Der Erfolg gab ihm Recht: Der Reimser Erzbischof konnte das Vorrecht der Krönung dauerhaft für sich reklamieren. Die Erstellung der ordines aus den Jahren 869 und 877 ist ein in allen Bereichen stark zu Ritualdesign tendierendes Beispiel für Ritualdynamik. In Hinkmars Person tritt uns ein Akteur entgegen, dem das volle Bewusstsein seines Tuns und seine Intentionalität nicht abgesprochen werden können; er hat kraft seiner erzbischöflichen Autorität offenbar große Gestaltungsfreiheit, und sein Design überdauert trotz evolutionärer Weiterentwicklung erkennbar die Jahrhunderte. Betrachten wir den Fall aber sicherheitshalber nochmals genauer: Wer ist der Akteur, und wie ›dicht‹ oder ›hart‹ ist er? Wie bewusst, wie intentional handelt er in Bezug auf den rituellen Wandel? Wie groß ist seine Handlungsfreiheit hinsichtlich dessen Gestaltung? Und wie erfolgreich ist er dabei? Hinkmar von Reims war sowohl im Jahre 869 in Metz als auch im Jahre 877 in Compiègne der Koronator – eine Aufgabe, die er bei der Einsegnung der Königinnen Judith im Jahre 856 und Ermentrude im Jahre 866 bereits eingeübt hatte – und somit der wichtigste Akteur. Wir wissen zudem, dass er die ordines, also die Vorschriften für die zu sprechenden Formeln und Gebete, selbst verfasste oder zusammenstellte, wie auch der primäre Bericht über den Ablauf der Krönungen von ihm selbst stammt.14 Selbstverständlich ist aber anzunehmen, dass die
14 Dies ist übrigens eine einzigartige Situation für den Mediävisten: Normalerweise lassen sich die ordines kaum einer bestimmten Krönung zuordnen, so dass erwogen wurde, ob ein ordo in der Zeit nach Hinkmar vielleicht eher »deliberativen« denn normativen Charakter hatte (Schenk 2002: 107). Außerdem ist praktisch nie festzustellen, von wem ein ordo kompiliert wurde – und es ist nicht zu erwarten, dass sich der Koronator selbst dieser Aufgabe gewidmet hätte, da die ordines eben nicht unbedingt für eine bestimmte Krönung gedacht waren.
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gewählte Form der Krönungsrituale nicht gegen den Willen Karls des Kahlen bzw. Ludwigs des Stammlers hätte durchgesetzt werden können. Außerdem führte Hinkmar die Krönungen nicht alleine durch. Insbesondere bei der Metzer Zeremonie für Karl den Kahlen wandelte Hinkmar kirchenrechtlich auf dünnem Eis: Metz lag nicht in seinem Metropolitanbezirk, sondern in dem des Erzbistums Trier. Entsprechend hätte eigentlich der Trierer Erzbischof als »Hausherr« die Krönung durchführen müssen – allerdings war der Trierer Erzstuhl zu dieser Zeit vakant. Hinkmar schickte seiner Übernahme der zeremoniellen Leitung daher eine Erklärung voraus: »Damit es niemandem eventuell unpassend und vorwitzig erscheine, dass ich und die ehrenwerten Mitbischöfe unserer Kirchenprovinz dies unternehmen […] wisset, dass wir nicht gegen die heiligen Kanones verstoßen« (Boretius/Krause 1897: 339 f.) – was aus dem Kirchenrecht zu begründen Hinkmar sich im Folgenden bemühte. Außerdem musste er die anderen anwesenden Bischöfe um ihre Zustimmung bitten, die sie allerdings gewährten. Dass Hinkmar der Hauptakteur der Metzer Krönung war, ist dennoch unbestreitbar. Er war nicht nur einer der mächtigsten Männer und Kirchenfürsten des Reichs, seine Kenntnisse von Recht und Liturgik sowie seine Erfahrung waren für die Durchführung der Krönung auch unverzichtbar. Die Zustimmung des Königs wie der anderen Bischöfe zu erhalten, dürfte ihm nicht schwergefallen sein, zumal Hinkmars Zielsetzung – selbst bei der Einführung der promissio regis – sicher nicht auf eine Schwächung des Königs, sondern auf eine Stärkung des Reichs gerichtet war. In dieser Hinsicht ist es daher vollauf berechtigt, Hinkmar von Reims als Ritualdesigner zu bezeichnen. Dass Hinkmar gezielt vorging, dürften diese Ausführungen ebenfalls erhellen. Ob und inwieweit er allerdings tatsächlich beabsichtigte, einen rituellen Wandel bestimmter Form herbeizuführen, muss etwas differenzierter betrachtet werden. Nur ein sehr geringer Teil der ordines aus den Jahren 869 und 877 stammte von ihm selbst, das allermeiste war zusammengestellt aus älteren liturgischen Texten.15 Das betrifft nicht nur die Gebete und Segensformeln, die fast samt und sonders aus
15 Eine hilfreiche Aufstellung der Herkunft der verschiedenen Teile des 869er ordo liefert Jackson (1994: 45 f.).
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einem früheren ordo16 sowie aus dem Gregor dem Großen zugeschriebenen Sakramentar stammen. Selbst die promissio regis, die eine der beiden genuinen Inventionen in Hinkmars Krönungsordo, entspricht inhaltlich dem pactum von Coulaines aus dem Jahre 843. Es handelte sich alles in allem also nicht um eine Ritualinvention, sondern um eine Kompilation von Ritualelementen; Hinkmar bediente sich bei älteren Ritualtexten wie in einem Steinbruch. Die prinzipielle Absicht, eine passende Form für die vorzunehmende Ritualhandlung zu schaffen, kann Hinkmar dennoch nicht abgesprochen werden. Spätestens der ordo des Jahres 877 war, zumal er unter deutlich weniger Zeitdruck entstanden war, eine bei allen Wurzeln in vorherigen Texten genuin »hinkmarische« Schöpfung. Mit derselben Begründung der Methode könnte die Weite von Hinkmars Handlungsfreiheit angezweifelt werden: Wer nur zusammenkopiert, hat kaum die Freiräume, etwas Neues zu schaffen. In Bezug auf die Akteurssituation – und so möchte ich mein Sprechen von »Handlungsfreiheit« hier verstanden wissen – ist der Rückgriff auf älteres Material dagegen ein Schritt, der Räume eher schafft als zustellt. Denn der ältere Text hatte im Verständnis der Zeitgenossen stets das größere Gewicht und die höhere Autorität als die Neuschöpfung. Indem er sich auf das Gregorianische Sakramentar sowie den älteren ordo – der im Übrigen zu nicht unwesentlichen Teilen aus dem sogenannten Gelasianischen Sakramentar stammte, einem weiteren Text von hoher Autorität – bezog, konnte Hinkmar die auctoritas dieser Texte nutzen. Was die promissio regis angeht, war deren Verankerung im Krönungszeremoniell nicht weiter problematisch. Schließlich konnte Hinkmar im Jahre 869 auch hier auf das ältere, gar mehrfach öffentlich wiederholte Versprechen Karls des Kahlen zurückgreifen –
16 Jackson (1994) begründet überzeugend, dass es sich um den ordo der Wiedereinsetzung des im Jahre 833 abgesetzten Kaisers Ludwigs des Frommen im Jahre 835 gehandelt haben muss. Diese Wiedereinsetzung fand in Metz statt, wo man offenbar eine Abschrift des ordo oder gar das Original aufbewahrt hatte. Bei der Vorbereitung der 869er Krönung stand man aus politischen Gründen – Karls des Kahlen Übernahme des lotharingischen Reichsteils stand auf wackligen Füßen – unter enormem Zeitdruck, so dass anzunehmen ist, dass Hinkmar nicht alle, sondern nur lokal verfügbare liturgische Schriften zur Kompilation des 869er ordo heranziehen konnte, darunter den 835er ordo.
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und im Jahre 877 bereits auf die Tradition bauen. Ein Gegensteuern der zu krönenden Könige war hier nicht zu erwarten. Widerstand gegen Hinkmars Ritualdesign hätten allein die anderen Bischöfe mobilisieren können, und zwar gegen seinen Versuch, die Reimser Kirche in eine Sonderstellung vis à vis dem Königtum zu hieven. Diese Sonderstellung resultierte allerdings aus der Verankerung der Sainte Ampoule im Krönungsritual. Hinkmar konnte also zumindest behaupten, sich auf die älteste Tradition des christlichen Königtums bei den Franken zu stützen – und tat dies auch (vgl. Boretius/Krause 1897: Nr. 283. 364). Hinkmars Autorität war für die Zwecke seines Ritualdesigns daher unangreifbar, was seine Kontrolle über die Freiheiten, die er sich zu nehmen gedachte – die promissio regis und die Sainte Ampoule – absicherte. Wenn ich zum Abschluss über den Erfolg von Hinkmars Krönungs-Design spreche, kommt wieder der Gegenbegriff der Evolution ins Spiel. Nach Hinkmar nämlich ist die weitere Entwicklung der Königskrönung im Frankenreich – aber auch im Rest des christlichen Abendlands – nur mehr als eine solche zu fassen. Akteure treten fast gänzlich in den Hintergrund oder müssen als weitgehend kollektiv angenommen werden. Eine einheitliche Gestaltungsabsicht wird kaum noch erkennbar. Da Akteure des Ritualdesigns kaum greifbar sind, sind ihre Freiheitsgrade natürlich schwer abzuschätzen, aber das geringe Ausmaß grundlegenden Wandels im Krönungsritual nach dem Jahre 877 zeigt, dass ihre Autorität sich mit der Hinkmars in den zwei Jahrzehnten zwischen 856 und 877 nicht vergleichen lässt. Denn sein Ritualdesign blieb, zwar nicht unangetastet, aber doch in der Substanz unverändert, und zwar weit über das Mittelalter hinaus. Hinkmar von Reims hatte mit seinem Ritualdesign also einen durchschlagenden Erfolg: Die promissio regis blieb Bestandteil des Krönungsrituals, der König war den Bischöfen daher, zumindest formal, untergeordnet und für seine Amtsführung verantwortlich. Die Salbung mit dem Himmelsöl lieferte die Grundlage für das Selbstbewusstsein der französischen Monarchie, bei aller Ranggleichheit der christlichen Könige des Abendlandes doch diejenigen zu stellen, deren Verbindung zu Gott am direktesten war. Nicht zuletzt deshalb wurde den französischen Königen im Mittelalter nachgesagt, mit ihrer Berührung Krankheiten heilen zu können (vgl. Bloch 1924). Den Erfolg von Hinkmars ordo-Werk erklärt die einzigartig prominente Stellung, die er als Ritualdesigner in seiner Zeit einnehmen konnte. Zu keiner
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anderen Zeit konnte ein Akteur so autoritativ über das Ritual bestimmen. Zugleich war das Ritual selbst zu seiner Zeit noch nicht derart festgefügt, dass er mit einer etablierten Tradition hätte brechen müssen. Stattdessen konnte er im Jahre 869 noch an wichtigen Stellen Hinzufügungen vornehmen – und diese im Jahre 877 selbst in eine Tradition überführen. Seine hervorragende Kenntnis von Recht und Liturgie und seine rege Tätigkeit als Schriftsteller sorgten dafür, dass spätere ordines seine Kompilation übernahmen. Noch bei der Krönung Ludwigs XVI. am 11. Juni 1775 wurde das heilige Himmelsöl benutzt. Allein die französische Reformation zerstörte die Sainte Ampoule am 7. Oktober 1793 in einem öffentlichen Akt. Ein so mächtiges Symbol des französischen Königtums konnte sie nicht unberührt lassen. Es war Hinkmars Ritualdesign, das dieses Symbol geschaffen hatte.
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Die Transformation städtischer Rituale in der Spätantike Ein Fall von Ritualdesign? M ARCO M ATTHEIS & C HRISTIAN W ITSCHEL
1. E INFÜHRUNG : D AS B EGRÄBNIS K ONSTANTINS Im Mai des Jahres 337 n. Chr. starb Kaiser Konstantin I. in Nikomedia, wohin er sich in der Erwartung seines baldigen Todes begeben hatte, um sich taufen zu lassen und so vor seinem Hinscheiden von seinen Sünden befreit zu werden (Eus. v. C. 4, 62–641). Auf den Tod des Kaisers folgte eine bemerkenswerte Zeremonie, die Eusebius von Caesarea in seiner Biographie Konstantins in großer Detailfülle schildert (Eus. v. C. 4, 65–73): Nach dem Erhalt der Todesnachricht trauerte die gesamte Stadt. Die Leibwächter zerrissen ihre Kleider und warfen sich zu Boden, die Tribunen und Centurionen akklamierten den Toten als Retter, Rächer und Wohltäter, und die Soldaten drängten sich um den Leichnam, der in einen goldenen und mit Purpur geschmückten Sarg gelegt und wenig später nach Konstantinopel überführt wurde, um dort mit den Insignien seiner Macht, Diadem und Purpurkleid, in einem von Kerzen erleuchteten Zimmer des Palastes aufgebahrt zu werden:
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Lateinische Quellen werden nach dem Indexband des Thesaurus Linguae Latinae (1990), griechische nach Liddell/Scott (1996) und Lampe (2000) zitiert. Speziell herangezogene Editionen sind im Text durch den Namen des Herausgebers gekennzeichnet und im Quellenverzeichnis aufgelöst.
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Indem man dort ringsum Feuer auf goldenen Leuchtern entzündete, bot man den Betrachtern ein so wunderbares Schauspiel, wie man es noch nie unter den Strahlen der Sonne seit dem ersten Zeitalter der Erschaffung der Welt gesehen hatte. Denn im Palast, mitten in den kaiserlichen Hallen, umstanden viele Menschen Tag und Nacht den Leichnam des Kaisers, der geehrt durch königlichen Schmuck, Purpur und sein Diadem auf dem hohen goldenen Sarg lag, und bewachten ihn. (Eus. v. C. 4, 66)
Während der Zeit der Aufbahrung vollzog man noch wie zu Lebzeiten des Kaisers die Proskynese vor seinem Leichnam. In Rom wurden nach Bekanntwerden dieser Ereignisse alle Bäder und Märkte geschlossen und alle öffentlichen Veranstaltungen verboten. Um den Kaiser zu ehren, stellte man Bilder auf, die Konstantin in seiner neuen himmlischen Wohnstatt zeigten. Vor allem aber forderte man, dass der Leichnam – wie bislang üblich – nach Rom überführt werde, damit er dort verbrannt werden könne. Dazu kam es jedoch nicht, denn die Bestattungsfeierlichkeiten wurden bald darauf in Konstantinopel begangen. Constantius, der Sohn Konstantins, führte den Leichnam in einer feierlichen Prozession, an der die Heeresabteilungen, Lanzenträger und Schwerbewaffnete teilnahmen, vom Palast in die Apostelkirche, wo der Sarg des Kaisers feierlich bestattet wurde (Eus. v. C. 4, 70). Nach dem offiziellen Ende des Begräbnisses feierte die christliche Gemeinde einen Gottesdienst mit Gebeten für die Seele des verstorbenen Kaisers. Die soeben geschilderten Vorgänge bei der Bestattung Konstantins waren in der römischen Geschichte beispiellos. Bis zu diesem Zeitpunkt war es üblich gewesen, die sterblichen Überreste des Herrschers, wenn irgend möglich, nach Rom zu überstellen, wo in einer feierlichen Zeremonie dessen Konsekration vollzogen wurde, indem man den Leichnam auf dem Marsfeld verbrannte.2 Es scheint nun so, als habe Konstantin dieses Ritual in Hinblick auf seine eigene Bestattung bewusst und intentional umgestaltet. Schon zu Lebzeiten hatte er nämlich
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Die wichtigsten und ausführlichsten Quellen zur kaiserzeitlichen Konsekration sind Tac. ann. 1, 8, 3 ff.; Suet. Aug. 100; Cass. Dio 56, 31 ff.; 75, 4; Hdn. 3, 15, 7; 4, 2. Zur Konsekrierung allgemein vgl. Price (1987), Arce (1988) und Zanker (2004); zur Konsekration in der Spätantike vgl. Bonamente (1988), Schuhmacher (1995) und Amici (2002 und 2005).
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die Apostelkirche in Konstantinopel errichtet, um sich dort begraben zu lassen und nach seinem Tod Anteil an den Gebeten für die Heiligen zu haben – so zumindest berichtet es Eusebius (Eus. v. C. 4, 60). Obwohl der Quellenwert des eusebianischen Berichts im Einzelnen schwierig zu beurteilen ist und er zweifelsohne von seinem Autor im christlichen Sinne überformt wurde, scheint es doch sicher, dass Konstantin seinem Begräbnis auf diese Weise eine neue Semantik geben wollte.3 Gleichwohl knüpfte das von ihm vorgesehene Zeremoniell in vielen Punkten an das traditionelle Bestattungsritual der römischen Kaiser an.4 Ebenso wie der Leichnam eines Herrschers in Rom zunächst mehrere Tage lang im kaiserlichen Palast auf dem Palatin aufgebahrt worden war, ruhten nun die sterblichen Überreste des Kaisers in Konstantinopel zunächst längere Zeit im Palast, um von den städtischen Würdenträgern noch einmal wie zu Lebzeiten geehrt zu werden. Und so wie in Rom am Tag des Begräbnisses eine Prozession vom Palast auf das Forum Romanum zog, wurde in Konstantinopel der Kaiser vom Palast in die Apostelkirche überführt. Einzig der letzte Teil des traditionellen Rituals, der Zug vom Forum Romanum auf das Marsfeld und die anschließende Verbrennung eines Wachsbildes auf einem Scheiterhaufen, fehlte im konstantinischen Bestattungsritus und wurde durch die Bestattung des Kaisers ›ad sanctos‹ ersetzt. Ob sich Konstantin damit als dreizehnten Apostel oder gar als Inkarnation Christi stilisieren wollte, ist in der Forschung hoch umstritten.5 Klar ist jedoch, dass er mit seiner Entscheidung, sich nicht in Rom, sondern in Konstantinopel in einer Kirche inmitten von zwölf den Aposteln geweihten Kenotaphen bestatten zu lassen, eine deutliche und bewusste Abkehr von den gewohnten Formen des Herrscherbegräbnisses voll-
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Zum Quellenwert des Berichts vgl. Cameron/Hall (1999: 346): »Eusebius’ smooth phraseology makes it hard to know how much if any of the traditional Roman ceremonial took place […]; he may be discreetly passing over an actual pagan ceremony or suggesting that the traditional forms were on this occasion refused«. Ebenso Arce (1988: 160).
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Zu den Gemeinsamkeiten zwischen den christlichen und paganen Ritualen bei der Bestattung der Kaiser vgl. Arce (1987 und 1988).
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Identifizierung mit den Aposteln: Dörries (1954: 417 ff.), Karayannopulos (1956) und Bonamente (1988). Identifizierung als Christus: Speck (1995), Groß-Albenhausen (1996: 179) und Rebenich (2000: 311).
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zog.6 Damit setzte Konstantin ein wirkmächtiges Exemplum. Mit Ausnahme Julians wurden von nun an die meisten seiner Nachfolger nach ihrem Tod nach Konstantinopel überführt, dort im Palast aufgebahrt und dann nach einer feierlichen Prozession in der Apostelkirche beerdigt.7 Das Ritual wurde im Laufe der Zeit noch stärker christlich aufgeladen (etwa durch das Absingen christlicher Hymnen oder durch die aktive Mitwirkung des Klerus), blieb aber im Kern bis in die byzantinische Zeit weitgehend unverändert (vgl. Const. Porphyr. caer.1, 60 [S. 275 f. Reiske]). Konstantin gestaltete also bewusst, intentional und erfolgreich ein bestehendes Ritual um. Diesen Vorgang möchten wir als »Ritualdesign« bezeichnen und von einer bloßen Ritualtransformation durch die Intentionalität der Ritualveränderung abgrenzen. Um von Ritualdesign sprechen zu können, sollte unseres Erachtens eine Ritualveränderung auf das Wirken eines Ritualakteurs zurückgeführt werden können, dessen Intentionen entweder durch Quellen explizit greifbar sind oder sich zumindest plausibel rekonstruieren lassen. Das kaiserliche Bestattungsritual änderte sich beispielsweise nicht aufgrund langfristiger dispositiver Veränderungen, sondern durch den bewussten Eingriff Konstantins in den bestehenden Ritualbestand. Der Grund für dieses Ritualdesign war dabei offenbar das Bemühen, durch eine Bricolage aus Altem und Neuen ein bestehendes Ritual, das zentral für die kaiserliche Selbstdarstellung war, unter den veränderten Rahmenbedingungen der Spätantike für weite Bevölkerungskreise akzeptabel zu machen und es so in veränderter Form weiterführen zu können.
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Diese Abkehr vom bisherigen Standard zeigt sich vor allem daran, dass es traditionell üblich war, den Kaiser zu verbrennen und nicht zu beerdigen. Eusebius bemerkt hierzu, der Kaiser sei nicht wie ein Phoenix gestorben, der auf einem duftenden Räucherwerk sein Leben beende, nur für sich selbst sterbe und dann wieder auferstehe, sondern er habe wie Christus aus einem Weizenkorn mehrere Ähren, nämlich seine Söhne hervorgebracht (Eus. v. C. 4, 72). Dies scheint eine polemische Anspielung darauf zu sein, dass der Leichnam des Kaisers nicht verbrannt, sondern bestattet wurde.
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Vgl. Grierson (1962) und Croke (2010: 252 ff.). Vielleicht wurden auch Helena und Julian unter Theodosius in das Kaisermausoleum überführt; vgl. Woods (2006).
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2. D IE T RANSFORMATION STÄDTISCHER R ITUALE
IN DER
S PÄTANTIKE
So wie das Bestattungsritual der Kaiser veränderten sich viele weitere imperiale und städtische Rituale im Laufe der Spätantike. Einige von ihnen verschwanden völlig, andere existierten in veränderter Form fort und wieder andere entstanden neu. Der wichtigste Motor für diese Veränderungen war zweifellos die stetig an Dynamik gewinnende Christianisierung des Imperium Romanum. Als das Christentum zu Beginn des 4. Jh.s zunächst zur gleichberechtigten Religion erhoben und danach von den Kaisern erheblich gefördert wurde, stellte sich in aller Deutlichkeit die Frage, ob und wie die traditionellen städtischen Rituale, die sowohl für den innerstädtischen Zusammenhalt wie auch für die Kommunikation zwischen Peripherie und Zentrum so bedeutsam waren, mit dem nun immer dominanter werdenden Mehrheitsglauben zu vereinbaren waren. Denn die meisten dieser Rituale waren eng mit heidnischen Kultpraktiken verknüpft und wiesen entsprechende Ritualelemente, wie insbesondere den Vollzug von (blutigen) Opfern, auf. Dies galt auch für viele der im engeren Sinne ›politischen‹ Rituale, vor allem für jene, die mit der Person des Kaisers in Verbindung standen. Es stellt sich daher die Frage, wie sich der Ritualbestand in der Spätantike konkret verändert hat. Anders gefragt: War dieser Transformationsprozess das Ergebnis eines gezielten und intentionalen Ritualdesigns? Mit den christlichen Kaisern und den zunehmend an Einfluss gewinnenden Bischöfen scheinen – zumindest auf den ersten Blick – die Akteure auszumachen zu sein, die einerseits ein Interesse und andererseits die Mittel zur bewussten Veränderung von städtischen und imperialen Ritualen besaßen. In der Tat hat die ältere Forschung den Prozess der ›Christianisierung‹ des römischen Reiches im Gefolge des von der christlichen Historiographie vorgegebenen Modells oft als einen weitgehend monolithischen Prozess betrachtet, der von oben, d. h. von den christlichen Kaisern im Verbund mit den Kirchenführern, gegen alle Widerstände durchgesetzt wurde und spätestens zu Ende des 4. Jh.s weitgehend abgeschlossen war. Im 5. Jh. sei das Reich dann fast durchgehend christianisiert gewesen – und somit seien auch die alten, heidnisch geprägten Rituale weitgehend verschwunden bzw. durch die kaiserliche Gesetzgebung eliminiert worden. Die neuere Forschung hat zwar aufgezeigt, dass dieser Vorgang wesentlich weniger linear und zielgerichtet verlaufen sein dürfte, als es die christlichen Quellen
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glauben machen wollen, doch der eigentliche Motor der Ritualveränderungen bleibt dabei weiterhin im Dunkeln.8 Die zentrale Fragestellung des vorliegenden Aufsatzes lautet daher, ob wir die Transformation der Rituale in der Spätantike auf das Wirken einzelner Akteure zurückführen können, die bewusst und gezielt ihre Handlungsmacht einsetzten, um erfolgreich Veränderungen durchzusetzen. Zur Beantwortung dieser Frage wollen wir zunächst einen Blick auf die unterschiedlichen Akteure werfen, die als Ritualdesigner aufgetreten sein könnten.
3. D IE R OLLE DER K AISER BEI R ITUALVERÄNDERUNGEN IN DER S PÄTANTIKE An erster Stelle der potentiellen Ritualdesigner stehen der Kaiser und sein Verwaltungsapparat, also vor allem die Provinzstatthalter. Der Kaiser hatte in der Spätantike die alleinige legislative Gestaltungsmacht und vermochte durch seine Gesetzgebung, Vorgaben mit allgemeiner Bindungskraft zu machen, die darauf angelegt waren, den traditionellen Ritualbestand zu verändern. Die diesbezüglichen kaiserlichen Anordnungen sind uns auch in ihrer zeitlichen Abfolge durch die großen Gesetzessammlungen der Spätantike gut bekannt. Insbesondere die Gesetze, die Religion und Kultausübung betreffen, zeigen in der Tat deutlich, dass die einzelnen Kaiser – wenn auch in unterschiedlicher Intensität – bemüht waren, in den traditionellen Ritualbestand verändernd einzugreifen. Besonders hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die in der Mitte des 4. Jh.s einsetzenden und später mehrfach wiederholten Verbote von blutigen Opfern, welche bis in das mittlere 5. Jh. immer wieder bekräftigt wurden.9 Außerdem durften laut der
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Zur Christianisierung des Imperium Romanum in der Spätantike vgl. u. a. MacMullen (1984) und Brenk (2003).
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Die wichtigsten dieser gesetzlichen Anordnungen sind: Cod. Theod. 16, 10, 2 (341 n. Chr.); 16, 10, 10 (391 n. Chr.); 16, 10, 11 (391 n. Chr.); 16, 10, 12 pr. (392 n. Chr.); 16, 10, 23 (423 n. Chr.); 16, 7, 7 (426 n. Chr.); Cod. Iust. 1, 11, 7 (451 n. Chr.); 1, 11, 8 (472? n. Chr.). Zu diesen Gesetzen und generell zur – durchaus nicht unilinearen – Entwicklung des Opferrituals im 4. Jh. vgl. Bradbury (1995), Curran (2000: 161–217) und insbesondere Belayche (2005).
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Gesetze schon bald an Sonntagen und christlichen Feiertagen keine Spiele mehr veranstaltet werden, da die Menschen an diesen Tagen nicht vom Gebet und der inneren Einkehr abgelenkt werden sollten.10 Es ist jedoch einige Skepsis hinsichtlich der Wirksamkeit dieser kaiserlichen Vorgaben angebracht. Zunächst ist zu beachten, dass es sich bei ihnen nicht um deskriptive, sondern um normative Texte handelt, so dass wir durch sie keineswegs etwas über tatsächlich erfolgte Ritualveränderungen, sondern lediglich über die in diese Richtung zielenden Intentionen der Kaiser erfahren. Schon die Tatsache, dass zahlreiche Gesetze, gerade diejenigen zur Einschränkung des Heidentums, immer wieder neu erlassen werden mussten, zeigt sehr deutlich, dass Wunsch und Wirklichkeit an diesem Punkt oftmals erheblich auseinanderklafften. Vor allem aber war die Wirkungskraft kaiserlicher Anordnungen keineswegs im gesamten Reich gleichermaßen intensiv, sondern hing in hohem Maße von den lokalen Verhältnissen ab – zumal die staatliche Administration auch in der Spätantike nie stark genug war, um vor Ort für eine flächendeckende Umsetzung der kaiserlichen Befehle sorgen zu können. So verwundert es nicht, dass wir immer wieder davon hören, dass Anordnungen in Bezug auf städtische Rituale nur teilweise oder auch gar nicht befolgt wurden. Selbst das zunehmend verbotene blutige Opfer wurde offenbar an nicht wenigen Orten weiterhin praktiziert.11 Zudem gestaltete sich die Gesetzgebung der einzelnen Kaiser keineswegs immer einheitlich, sondern war von häufigen Richtungswechseln gekennzeichnet. Dies lag nicht zuletzt daran, dass die kaiserliche Gesetzgebung selbst wiederum Teil eines Aushandlungsprozesses war, da die Verfügungen des Herrschers häufig durch Anfragen von unten, d. h. aus der Bevölkerung oder von den provinzialen Behörden, angeregt wurden.12 Solche Anfragen ergaben sich unter anderem daraus, dass man vor Ort oftmals nicht genau wusste, wie mit einer bereits erlassenen kaiserlichen Generalanordnung im Einzelfall umzugehen war. Als etwa Constantius II. im Jahre 341 in
10 Cod. Theod. 15, 5, 5 (425 n. Chr.): »sie mögen wissen, dass es eine bestimmte Zeit für die Buße und eine andere Zeit für die Vergnügungen gibt« (»aliud esse supplicationum noverint tempus, aliud voluptatum«); vgl. auch Cod. Theod. 2, 8, 1 (386 n. Chr.); 2, 8, 19 (389 n. Chr.); 2, 8, 21 (392 n. Chr.); 2, 8, 23–25 (399, 400 u. 409 n. Chr.). 11 Vgl. Belayche (2005: 345–349). 12 Vgl. Schmidt-Hofner (2008).
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einem ersten größeren Angriff gegen heidnische Praktiken vorging, verbot er nicht nur Opfer, sondern wollte auch generell die ›superstitio‹ ein für allemal beseitigen (»cesset superstitio«: Cod. Theod. 16, 10, 2). Der Begriff ›superstitio‹ war aber schon in der Antike so vielschichtig besetzt, dass letztlich völlig unklar blieb, was hierunter genau zu verstehen war.13 Constantius II. musste daher ein Jahr später in einem weiteren Gesetz präzisieren, dass bestimmte Tempel ausgenommen waren, die mit Spielen und Agonen, also spezifisch städtischen Ritualen, verbunden waren und dadurch dem Wohlergehen (›voluptas‹) des Volkes dienten (Cod. Theod. 16, 10, 3, 342 n. Chr.).14 Doch auch diese Klarstellung verschob das Problem nur auf eine andere Ebene: Was nämlich rechtmäßige ›voluptates‹ und was pagane Riten waren, das musste wiederum vor Ort ausgelegt und ausgehandelt werden. Dabei versuchten unterschiedliche Akteure, die Deutungshoheit über den Gehalt der kaiserlichen Anordnungen zu gewinnen. Sehr schön zeigt sich dies an einem Vorfall in der nordafrikanischen Stadt Calama, etwas südlich von Hippo Regius im heutigen Algerien gelegen, über den wir durch einen Brief des Augustinus unterrichtet sind (Aug. epist. 90–91).15 Der Bischof von Hippo schildert darin, wie im Sommer 408 in dieser Stadt bei einer – aus seiner Sicht paganen – Feier an den Kalenden des Juni eine ausgelassene Prozes-
13 Vgl. Salzman (1987), Pérez Medina (1995), Martin (2004) und Kahlos (2007). 14 In eine ähnliche Richtung zielte ein Gesetz aus dem Jahre 399 (Cod. Theod. 16, 10, 17), welches konstatierte, dass zwar durch kaiserliche Verfügungen die ›profanen Riten‹ verboten worden waren, hierunter aber nicht die festlichen Zusammenkünfte der Bürger (»festos conventium civium«) und die kollektiven (d. h. in bestimmte Rituale gefassten) Vergnügungen aller Menschen (»communem omnium laetitiam«) zu verstehen seien. Diese ›voluptates‹ für das Volk müssten vielmehr nach alter Gewohnheit (»secundum veterem consuetudinem«) erhalten werden – allerdings ohne jedes Opfer und jegliche Form von schädlicher ›superstitio‹. Daher dürften auch alle Bürger an gemeinschaftlichen Banketten (»festa convivia«) teilnehmen, insbesondere denjenigen, die anlässlich der Gelöbnisse für das Wohlergehen der Kaiser (»publica vota«) veranstaltet wurden. 15 Vgl. Lepelley (1981: 97–101), Kaufman (2003) und Hermanowicz (2008: 156–164).
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sion von (rituell) Tanzenden (»petulantissima turba saltantium«) an der städtischen Kirche vorbeigezogen war, welche von den Festteilnehmer mit Steinen beworfen wurde, nachdem der dortige Bischof den Festumzug aufzuhalten versucht hatte: Gegen die jüngst beschlossenen Gesetze fand an den Kalenden des Juni während eines Festes der Heiden eine gottlose Feier (»sacrilega sollemnitas«) statt, ohne dass jemand dieser Einhalt geboten hätte. So dreist war ihr Unternehmen, dass die völlig zügellose Menge an Tanzenden in derselben Straße vor den Toren der Kirche vorbeizog. So etwas ist nicht einmal zu Zeiten des Kaisers Julian geschehen! Als die Kleriker versuchten, diesem allzu ungehörigen und unwürdigen Schauspiel Einhalt zu gebieten, wurde die Kirche gar mit Steinen beworfen! (Aug. epist. 91, 8).16
In der Forschung wird hinsichtlich der »jüngst beschlossenen Gesetze« zumeist auf eine Anordnung verwiesen, die (vermutlich) ein halbes Jahr zuvor von den Kaisern erlassen und am 5. Juni 408 auf dem Forum von Carthago bekanntgemacht worden war. Diese verbot Festbankette, Grabriten und andere pagane Rituale (Cod. Theod. 16, 10, 19 = Const. Sirm. 12).17 Was jedoch mit diesen »gottlosen Ritualen« (»sacrilegi ritus«) genau gemeint war, war alles andere als selbsterklärend. Für einen Bischof wie Augustinus bestand überhaupt kein Zweifel daran, dass der erwähnte Umzug in Calama ein solcher paganer Ritus war.18 Daher empfand er es auch nur als recht und billig, dass der
16 »Contra recentissimas leges Kalendis Iuniis festo paganorum sacrilega sollemnitas agitata est, nemine prohibente, tam insolenti ausu, ut, quod nec Iuliani temporibus factum est, petulantissima turba saltantium in eodem prorsus vico ante fores transiret ecclesiae. Quam rem illicitissimam atque indignissimam clericis prohibere temptantibus, ecclesia lapidata est«. 17 Da Augustin in seinem Brief den Wortlaut des Gesetzes wiederholte (»sollemnitas agitata est«), ist es wahrscheinlich, dass er tatsächlich auf eben dieses Gesetz Bezug nahm. Zu den chronologischen Problemen des Gesetzes, des Briefes und des Festzuges vgl. Hermanowicz (2008: 160 f.). 18 Auch das ist aber keineswegs sicher: »[I]t is unclear to what degree, or with what intentions, Calama’s residents were attending to non-Christian ideas or deities. The use by Augustine and the Catholic bishops of a word like ›pagan‹ often indicates an ill-defined non-Catholicism rather than a specific belief system« (Hermanowicz 2008: 159).
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Bischof von Calama den Festzug aufzulösen versuchte, und als unverständlich, dass der Stadtrat ihn dabei nicht unterstützte. Doch der Rat konnte sich genauso wie Augustinus auf die Vorgaben der Kaiser berufen, um zu begründen, dass kein Grund zum Eingreifen bestand, da schließlich traditionelle Festumzüge und ›voluptates‹ durchaus gestattet waren, solange während des Festes nicht geopfert wurde. Erst als die Situation eskalierte und es zu schweren Unruhen in der Stadt kam, schritten die staatlichen Stellen ein. Die zumeist eher vagen Formulierungen zu ›profanen Riten‹ und ›Aberglauben‹ konnten also selbst nach ihrer Präzisierung vor Ort durchaus unterschiedlich ausgelegt werden. Dies verdeutlicht eindrücklich die Grenzen des kaiserlichen Einflusses auf die konkreten Ritualveränderungen vor Ort. Wenngleich der Kaiser häufig den Anspruch erhob, ›Ritualdesign zu betreiben‹, konnte er seine Vorstellungen nur selten vollständig durchsetzen, da seine Anordnungen nur den Ausgangspunkt für weitere Aushandlungsprozesse darstellten. Es wäre daher mit Sicherheit falsch, die Geschichte der Transformation städtischer Rituale in der Spätantike, wie man es lange getan hat, nur aufgrund der Analyse der normativen Quellen zu schreiben. Vielmehr waren die kaiserlichen Verlautbarungen – trotz der zumindest potentiell großen Gestaltungsmacht der Herrscher – Teil eines fortlaufenden Aushandlungsprozesses. Das gilt nicht zuletzt deshalb, weil die Kaiser hierin selbst wiederum Partei waren, und dies zudem in unterschiedlichen Richtungen: Sie waren zumeist Christen und fühlten sich daher, wenn auch in sehr unterschiedlichem Maße, verpflichtet, die christlichen Glaubensvorstellungen in der Gesellschaft zu stärken und damit auf die Forderungen der Kirchenführer einzugehen. Sie waren aber bis zum späten 4. Jh. auch noch Oberpriester des gesamten, sehr heterogenen religiösen Gefüges im Imperium Romanum. Die Herrscher hatten daher auf das Wohlergehen des Volkes zu achten und mussten dafür sorgen, dass gerade die gemeinschaftsstiftenden Rituale innerhalb der Städte möglichst unversehrt erhalten blieben. Und schließlich mussten sie auch darauf achten, dass ihre eigene Machtstellung abgesichert wurde. Insbesondere hierfür waren nun die städtischen Rituale, die neben anderen Funktionen ein zentrales Medium der – affirmativen – Kommunikation zwischen Untertanen und Herrscher darstellten, von nicht zu unterschätzender Bedeutung.
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Besonders eindrücklich zeigt sich dies an der Entwicklung des Kaiserkults. In der hohen Kaiserzeit war dieser eines der wichtigsten Strukturelemente, um Zentrum und Peripherie symbolisch miteinander zu verbinden.19 Für die Christen stellte die allenthalben verbreitete Anbetung des Kaisers als Gott jedoch ein gewaltiges Problem dar. Man wollte dem Kaiser zwar durchaus die ihm gebührende Loyalität demonstrieren, ihm zu opfern war jedoch mit dem eigenen Glauben unvereinbar. Emblematisch für dieses Dilemma ist ein Dictum des Theophilus von Antiochia aus dem 2. Jh. n. Chr.: Deshalb werde ich den Kaiser lieber ehren und ihn nicht anbeten, sondern für ihn beten. Nur den echten und wahren Gott bete ich an, da ich weiß, dass der Kaiser durch ihn Kaiser geworden ist. Du wirst mir erwidern: »warum betest du den Kaiser nicht an«? Weil er nicht zum Anbeten geschaffen wurde, sondern um mit den ihm zustehenden Ehren geehrt zu werden. Er ist nämlich kein Gott, sondern ein Mensch, von Gott eingesetzt, nicht um angebetet zu werden, sondern um gerecht zu urteilen. (Theophl. Ant. Autol. 1, 11)
Mit der fortschreitenden Christianisierung des Imperium Romanum war es daher unabdingbar, den Kaiserkult an die neue Situation anzupassen. Man könnte nun vermuten, dass die Kaiser gerade an diesem für sie so wichtigen Punkt aktiv in den vorhandenen Ritualbestand eingegriffen hätten. Schließlich waren sie es ja selbst, die innerhalb des Kaiserkultes verehrt wurden. Und in der Tat wird in der modernen Forschung häufig die Meinung vertreten, die spätantiken Kaiser hätten gezielt eine Säkularisierung des Kaiserkults herbeigeführt, um den Christen die Teilnahme daran zu ermöglichen und so weiterhin über dieses wichtige Kommunikationsmedium verfügen zu können.20 Ganz im Gegensatz zu einer solchen Erwartung verhielten sich die Kaiser in dieser Frage jedoch überaus zurückhaltend: Wir kennen kein einziges Gesetz in den spätantiken Sammlungen, das den Kaiserkult explizit verboten hätte, wenn man auch zunehmend auf die damit verbundenen
19 Vgl. zum Kaiserkult u. a. Price (1984), Clauss (2001) und Gradel (2002). 20 Vgl. etwa Chastagnol/Duval (1972), Gascou (1967: 648) und Schumacher (1995: 119 f.).
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Opfer verzichtet zu haben scheint.21 Die Verehrung von Kaiserbildern wurde zwar durch Theodosius II. im Jahre 425 n. Chr. etwas eingeschränkt, doch auch hieran zeigt sich, wie offen formuliert eine solche Einschränkung sein konnte: Wenn zu einer bestimmten Gelegenheit unsere Statuen oder Bildnisse (»statuae vel imagines«) aufgestellt werden, sei es an Festtagen, wie es üblich ist, oder sei es an gewöhnlichen Tagen, dann soll (jedoch ohne allzu viel Eifer bei der Anbetung [»sine adorationis ambitioso fastigio«])22 ein kaiserlicher Beamter zugegen sein, um zu zeigen, dass seine Anwesenheit den Tag oder Ort und die Erinnerung an uns geschmückt hat. Auch wenn an den Spielen unsere Bildnisse (»simulacra«) aufgestellt werden, sollen diese deutlich machen, dass sich unser ›numen‹ und die Lobessprüche auf uns nur in den Herzen und den Tiefen des Geistes der Teilnehmer zeigen. Alle Verehrung, die die Würde der Menschen überschreitet, soll nämlich dem göttlichen ›numen‹ vorbehalten bleiben (»superno numini reservetur«). (Cod. Theod. 15, 4, 1, 425 n. Chr.)
21 Vgl. dazu das Verbot von ›superstitio‹ in dem Reskript von Hispellum aus spätkonstantinischer Zeit (CIL XI 5265 = ILS 705): Ein Tempel für die Verehrung der ›gens Flavia‹ dürfe errichtet werden, »sofern dabei beachtet wird, dass der unserem Namen geweihte Tempel nicht durch den Frevel irgendeines verderblichen Aberglaubens befleckt werde« (»ea observatione perscripta, ne aedis nostro nomini dedicata cuiusquam contagiose superstitionis fraudibus polluatur«). Es ist aber in der Forschung erneut umstritten, was genau hier mit ›superstitio‹ gemeint ist. In der Regel wird der Begriff als Synonym für blutige Opfer verstanden. In der Gesetzgebung Konstantins wurde der Begriff jedoch noch sehr unscharf verwendet, und erst gegen Ende des 4. Jh.s setzte sich eine christliche Deutung von ›superstitio‹ als Synonym für heidnische Praktiken durch. Es ist daher durchaus möglich, dass der Begriff hier in einem sehr viel engeren Sinne verstanden werden sollte (so etwa Belayche 2005: 346 f. und 353 f.) und damit nicht ein generelles Verbot der Opfer im Kaiserkult gemeint war. 22 In der Literatur wird der Ausdruck »sine adorationis ambitioso fastigio« zumeist im Sinne von »sine adoratione« übersetzt. So ergibt jedoch das einschränkende Attribut ›ambitiosus‹ keinerlei Sinn.
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Die Aufstellung und Verehrung von kaiserlichen Bildnissen wurde in diesem Gesetz also nicht grundsätzlich in Frage gestellt, und tatsächlich blieben die Kaiserbilder auch in Byzanz ein wichtiger Bestandteil der Herrscherverehrung.23 Die von Theodosius II. gemachte Einschränkung, die Ehren, die man dem Kaiser entgegenbrachte, dürften nicht die Würde eines Menschen überschreiten, war dagegen wiederum so mehrdeutig formuliert, dass sie lediglich einen Anstoß für weitere Diskussionen darüber geben konnte, welche Art von Verehrung für einen christlichen Kaiser nun eigentlich angemessen sein sollte (siehe unten, Kapitel 4). Insgesamt bleibt also festzuhalten, dass die Kaiser erstaunlich passiv blieben, was die Transformation des Kaiserkults betraf. Sie traten auf diesem Feld nicht so sehr als Ritualdesigner, sondern viel eher als Ritualbewahrer auf.24 So sprachen sie auch weiterhin von ihrem ›numen divinum‹ und verlangten von den Bewohnern des Reiches die ihnen zustehende ›adoratio‹.25 Auch ihre jeweiligen Vorgänger bezeichneten sie noch bis Justinian als ›divi‹.26 Wenn sich auch die Semantik des Divus-Begriffs im Laufe der Spätantike schrittweise veränderte, so war dies doch ein schleichender Prozess, der von den Herrschern nicht aktiv gefördert wurde.27 Die notwendige Folge dieser Passivität war, dass viele Einwohner des Reiches den Kaiser weiterhin als eine – wie
23 Vgl. etwa Treitinger (1938: 208 f.). 24 Zur Fortdauer des provinzialen und munizipalen Kaiserkultes in der Spätantike vgl. am Beispiel von Africa Chastagnol/Duval (1972), Lepelley (1979: 362–369) und Clover (1982). Allerdings geht aus den diesbezüglichen Quellen (in aller Regel Inschriften) zumeist nicht hervor, was die Priester des Kaiserkultes, unter denen sich zunehmend auch Christen befanden, im 4. und 5. Jh. eigentlich genau taten – es dürfte wohl immer noch mehr gewesen sein als die bloße Ausrichtung von Spielen. Es wurde jedenfalls lange Zeit nicht versucht, die traditionellen Formen der öffentlichen Kaiserverehrung durch christlich geprägte Rituale zu ersetzen. 25 Cod. Theod. 6, 4, 32 (397 n. Chr.); 6, 13, 1 (413 n. Chr.). 26 Cod. Iust. 1, 5, 8, 1 (455 n. Chr.); 2, 7, 17, 1 (474 n. Chr.); 3, 28, 29 pr. (479 n. Chr.); 8, 53, 32 (496 n. Chr.); 4, 1, 12, 6 (529 n. Chr.). 27 Zur Umdeutung des Begriffs vgl. Schumacher (1995: 117) und Clauss (2001: 23 f.).
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auch immer geartete – Gottheit ansahen.28 Die Kaiser wiederum taten bei alledem nichts, um der Reichsbevölkerung explizit zu vermitteln, dass sie sich nicht mehr als Gottheit verstanden und fortan auch nicht mehr als solche apostrophiert werden wollten. Pedro Barceló hat daher sicherlich recht, wenn er davon spricht, »dass der Kaiser seine Untertanen einfach gewähren ließ. Er schritt gegen die kultische Verehrung seiner Person nicht ein, weil sie nicht als unüberbrückbarer Widerspruch empfunden wurde« (Barceló 2003: 337). Dennoch kam es gerade gegen Ende des 4. Jh.s mancherorts zu einer mehr oder minder gewaltsamen Zerstörung von Kaiserkulttempeln und deren Ausstattung, die nicht selten von einer Art von rituellen ›Bestattung‹ solcher Anlagen gefolgt wurde. So etwa der Fall der Kaiserkultanlage von Narona (Dalmatia), deren Statuenschmuck um 400 n. Chr. gewaltsam zerstört und mit Erde überdeckt wurde.29 Auch diese Vorgänge scheinen aber in der Regel auf lokale Initiativen zurückgegangen zu sein – über entsprechende Vorgaben der Kaiser, die die Vernichtung der eigenen Kultstätten gefordert hätten, ist jedenfalls nichts bekannt. Es zeigt sich also, dass die Kaiser in der Spätantike in nicht wenigen Fällen gar nicht den Anspruch erhoben, städtische Rituale tiefgreifend verändern zu wollen. Und wo der Herrscher dann doch normative Vorgaben machte, waren diese häufig so ambivalent formuliert, dass über die konkrete Bedeutung dieser Erlasse erst intensiv diskutiert werden musste, bis sich bestimmte Akteure mit ihrer Interpretation durchgesetzt hatten. Der Kaiser war daher Teil und oft auch Ausgangs-
28 Noch im späten 4. und frühen 5. Jh. wurden zahlreiche Inschriften mit der Schlussformel »devotus numini maiestatique eius« errichtet. Vgl. beispielsweise CIL VI 1186 (Theodosius I.); 1188–1190=31257 (Arcadius und Honorius); 1192 (Arcadius); 1193 (Honorius); 1703 (Honorius und Theodosius II.); CIL VIII 12275 (Honorius); IRT 476 (Valentinianus II.); IRT 477–479 (Theodosius I. oder II., Arcadius und Honorius). Der Panegyriker Pacatus dankte gegen Ende des 4. Jh.s Hispanien, dem Heimatland des Theodosius, dass es der Welt einen solchen Gott geschenkt habe: »Spanien schenkte uns den Gott, den wir hier sehen« (»deum dedit Hispania quem videmus«) (Paneg. 2 (12), 4, 5). Der Dichter Claudian wiederum beschrieb in einem Gedicht, wie Theodosius nach seinem Tod als Gott in den Himmel auffuhr und dort als ein neuer Stern erstrahlte (Claud. III cons. Honor. 163–188). 29 Vgl. Marin (2001: bes. 91 f.) und Witschel (2007: 121 und 144).
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punkt für ständige Aushandlungsprozesse, die den Charakter der Rituale langsam veränderten. Als echter (und erfolgreicher) Ritualdesigner trat er hingegen nur in Ausnahmefällen auf.
4. K IRCHENFÜHRER , HEIDNISCHE T RADITIONALISTEN , STÄDTISCHE E LITEN UND DIE P LEBS U RBANA Die allgemeinen normativen Vorgaben der Kaiser hatten somit einen geringeren Einfluss auf die Veränderung des Ritualbestands als man es eigentlich erwartet hätte. Weit wichtiger waren hierfür die Aushandlungsprozesse zwischen verschiedenen Gruppen vor Ort, die um die Hoheit bei der Deutung dieser Vorgaben stritten. Diejenige Gruppierung, die zweifelsohne das größte Interesse an tief greifenden Ritualveränderungen hatte, war die Kirche, insbesondere die wortmächtigen Kirchenführer, die ihre Vorstellungen einer christianisierten Gesellschaft durchzusetzen versuchten, und zwar mit Hilfe ihrer lokalen Vertreter wie Bischöfen, Klerikern oder Mönchen. Ihnen stand nicht selten eine ebenso rhetorisch ausgebildete ›heidnische Opposition‹ gegenüber, die in erster Linie philosophisch geprägte Personen umfasste, welche die traditionellen Rituale ohne größere Veränderungen zu erhalten, zu restituieren oder sogar auszubauen trachteten. Zwischen diesen beiden Polen standen die eher gemäßigten städtischen Oberschichten, bestehend aus Christen wie aus Heiden, welchen vor allem an der Etablierung eines innerstädtischen Kompromisses gelegen war. Jede dieser Gruppen hatte ein spezifisches Interesse daran, die traditionellen Rituale zu verändern oder sie zu erhalten. Und das Zusammentreffen dieser unterschiedlichen Intentionen war der eigentliche Motor des spätantiken Ritualwandels. Wenn wir hier bestimmte Gruppierungen ansprechen, dürfen wir allerdings nicht vergessen, dass auch diese keine einheitlich handelnden Akteure waren. Wenn wir beispielsweise von den Intentionen d e r Kirche sprechen, dann verkennen wir leicht, dass es unter den Christen lange Zeit keinen Konsens darüber gab, welche traditionellen Rituale in einer nunmehr christianisierten Gesellschaft akzeptabel waren und welche nicht. Emblematisch steht hierfür der Streit um die Verehrung des städtischen Genius von Carthago. Durch eine Predigt des Augustinus wissen wir, dass noch gegen Ende des 4. Jh.s sowohl Heiden wie
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Christen – vermutlich Angehörige der städtischen Oberschicht – die personifizierte Schutzgottheit dieser Stadt verehrten und hierbei an einem bestimmten Ort, an dem sich auch eine Statue und ein Altar des Genius befanden, entsprechende Feierlichkeiten, etwa in Form eines Festbanketts, veranstalteten (Aug. serm. 62).30 Die Christen unter ihnen rechtfertigten dies mit dem Hinweis darauf, dass der Genius Carthagos ihrer Meinung nach keine Gottheit sei: »Er ist kein Gott, sagten sie; denn es ist nur der Genius von Karthago. Nur wenn es ein Mars oder Merkur wäre, dann wäre es ein Gott« (Aug. serm. 62, 10).31 Wenn nun aber der Genius Carthagos kein Gott war, so war nach der Logik der Festteilnehmer die Teilnahme an dem Fest zu seinen Ehren, bei dem offenbar ohnehin keine Opfer mehr vollzogen wurden, auch kein Götzendienst.32 Augustinus konnte diese Sichtweise im Prinzip durchaus nachvollziehen, da er um die identitätsstiftende Bedeutung der Feier im innerstädtischen Kontext sehr wohl wusste. Er sträubte sich aber dennoch gegen die Teilnahme an dem Fest, da er unter allen Umständen den Eindruck vermeiden wollte, Christen partizipierten an heidnischen Kultpraktiken.33 Schließlich musste er sich von Gruppen wie den Manichäern schon jetzt vorwerfen lassen, dass die katholische Kirche eigentlich nur eine pagane Sekte sei, da sie die meisten Bräuche der Heiden übernommen und nur oberflächlich christianisiert hätte (Aug. c. Faust. 20, 4, 1).
30 Vgl. Lepelley (2001: bes. 49–52). 31 »Non est, inquit, deus quia genium (!) est Carthaginis; quasi si Mars aut Mercurius esset, deus esset«. 32 Sie konnten sich dabei auch auf die kaiserliche Gesetzgebung berufen, insbesondere auf ein Gesetz aus dem Jahre 399, das solche Festbankette ohne den Vollzug von Opfern ausdrücklich erlaubte (Cod. Theod. 16, 10, 17; dazu ausführlicher Anm. 14). Vermutlich ist die Predigt des Augustinus bald nach der Bekanntgabe dieser Verordnung gehalten worden. 33 Augustinus störte sich dabei vor allem an dem Vorhandensein eines Altares (Aug. serm. 62, 10): »Jener Altar bezeugt, was sie haben, wofür sie [die Statue des Genius] halten und was sie dort machen! Sie hat die Gesinnung aller Verehrer überführt, sie möge nicht auch noch die Bankettteilnehmer überführen« (»sed quid habeant, pro qua re habeant, quid ibi faciant, ara illa testatur. Convicit omnium colententium mentes, non convincat recumbentes!«).
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Ganz ähnlich wie mit dem Genius Carthagos verhielt es sich auch mit der Verehrung der kaiserlichen Bildnisse. Diese waren seit der frühen Kaiserzeit im gesamten Reich in Form von Statuen, kleinformatigen Darstellungen und gemalten Bildern verbreitet.34 Für Christen war indes die kultische Verehrung solcher Bildnisse eigentlich nicht mit ihrem Glauben zu vereinbaren. Die biblischen Schriften waren in der Ablehnung der Idololatrie sehr eindeutig, und während des 2. und 3. Jh.s war es geradezu ein identitätsstiftendes Moment für die Christen, sich zu weigern, vor dem Kaiserbild zu opfern.35 Seit der Mitte des 3. Jh.s setzte sich aber in der innerkirchlichen Diskussion immer mehr eine Sichtweise durch, die zwischen der Verehrung (›proskynesis‹) und der Anbetung (›latreia‹) der kaiserlichen Bilder unterschied und diese Unterscheidung von der inneren Einstellung des Adoranten abhängig machte. Wer jemanden nicht nur äußerlich, sondern aus tiefster Seele verehre, der bete ihn auch an. Wer jemandem dagegen nur äußerliche Ehrerbietung erweise, ihn jedoch innerlich nicht für einen Gott halte, der ehre ihn nur.36 Diese Unterscheidung war deshalb so erfolgreich, weil die innere Einstellung des Einzelnen naturgemäß nicht ohne weiteres zu überprüfen war. Selbst wenn die Christen also nun den kaiserlichen Statuen zeremonielle Ehren entgegenbrachten, konnten sie dies im innerchristlichen Diskurs als reine Loyalitätsbekundung ohne religiöse Implikationen abtun. Strukturell änderte sich die Kaiserbildverehrung damit kaum. Man opferte nun zwar nicht mehr vor den Bildnissen, brachte aber weiterhin Akklamationen auf sie aus, spendete Weihrauch vor ihnen und sang Hymnen.37 Was sich wirklich geändert hatte, war einzig der dominante christliche Diskurs zu der Kaiser-
34 Vgl. allgemein Pekáry (1985), sowie zur Spätantike Kruse (1934) und Stichel (1982). 35 Das zeigen zahlreiche Aussagen sowohl in der Bibel wie auch bei christlichen Schriftstellern; so Exod. 20, 4; Dan. 3, 16; Weish. 13, 1–4; 15, 15–17; Offb. 20, 4; Cypr. Fortunat. 12; epist. 55, 14; Tert. idol. pass.; spect. 13; apol. 12; Min. Fel. 29. 36 So bereits Or. hom. 1–13 in Ex. 8, 4 (nur fragmentarisch und in der Übersetzung des Rufinus überliefert; s. PG Migne 12, 354). 37 Ambros. in psalm. 10, 25; Chrys. laud. Paul. 1; Socr. h. e. 6, 18; Soz. h. e. 8, 20, 1; Marcell. chron. s. a. 403; Joh. D. 3, 123; Theophn. chron. p. 79 (de Boor).
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bildverehrung – ohne dass freilich die kritischen Stimmen hierzu völlig verstummt wären.38 Diese Beispiele zeigen, dass es selbst innerhalb einer auf den ersten Blick relativ homogenen Gruppe höchst umstritten sein konnte, ob und wie ein Ritual zu verändern war, um unter den gewandelten Bedingungen der spätantiken Gesellschaft fortbestehen zu können. Solche Veränderungen jedoch gegenüber konkurrierenden Gruppen durchzusetzen, war noch einmal ungleich schwieriger, da hier noch mehr potentiell widerläufige Intentionen aufeinandertrafen. Anhand der Transformation der spätantiken Festkultur lässt sich beispielhaft beobachten, wie bisweilen weder die christlichen Rigoristen noch die heidnischen Traditionalisten ihre Vorstellungen für ein spezifisches Ritualdesign als dominante Leitlinie zu etablieren vermochten.39 Seit jeher hatten Feste in der antiken Stadt eine bedeutende Rolle für die soziale Kommunikation innerhalb der städtischen Gemeinschaft gespielt.40 Zu solchen Anlässe kam die gesamte Bevölkerung zusammen, handelte dabei immer wieder aufs Neue die sozialen Rollen innerhalb der Stadt aus und vergewisserte sich somit der gemeinsamen Identität. Da nun aber diese Festkultur eng mit dem paganen Kult verbunden war,41 war sie seit jeher von christlichen Moralisten kritisiert worden.42 Auf mehreren Synoden und Konzilien
38 So etwa Hier. in Dan. 3, 18; Philost. h. e. 2, 17. 39 Vgl. u. a. Soler (2006) und Mattheis (2009). 40 Vgl. Burkert (1987) zur Festkultur der Archaik, Klassik und Kaiserzeit; zur Spätantike Soler/Thelamon (2008). 41 Macr. sat. 1, 16, 2: »Festtage sind den Göttern geweiht, die Werktage sind den Menschen zugestanden, um den Staat zu verwalten« (»Festi dies dis dicati sunt, profesti hominibus ob administrandam rem privatam publicamque concessi«) . Weitere Belege mit einem Verweis auf die kultische Verankerung von Festen: Varro rust. 1, 1, 6 (›Robigalia‹ für den Gott Robigo); ling. 6, 3, 13 (Quirinus); 6, 3, 19 (Neptun, Furina, Portunus); 6, 3, 20 (Vulcanus); Macr. sat. 1, 10, 7 (›feriae‹ für die Göttin Angeronia); 1, 10, 10 (›feriae‹ für die Laren); 1, 10, 11 (›feriae‹ für Jupiter). Zu Opfern vgl. Macr. sat. 1, 16, 3–4. 42 Christliche Kritik an den traditionellen Festen: Lact. instit. 6, 20; epit. 58. Zu christlichen Diskursen über Spiele und Feste vgl. Kytzler (2004) und Kahlos (2005). An Quellen vgl. u. a. Tert. spect. 4, 4; 5, 1–8; 6, 1–2; Chrys. kal.; Gelas. epist. 3; 23; Gr. Naz. or. 11, 6.
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wie etwa in Ankyra 314 oder in Laodikeia 363/64 n. Chr. wurden sogar ausdrücklich Strafen für Christen festgelegt, die an paganen Festen teilgenommen hatten (Ancyra: can. 4 u. 7 und Laodikeia: can. 39). Christliche Kritiker führten in diesem Zusammenhang besonders häufig den paganen Ursprung der Feste an. Wenn es jedoch konkret wurde, dann entzündete sich ihre Kritik nicht so sehr an spezifisch paganen Ritualbausteinen, denn diese gab es nach dem Wegfall der Opfer ja kaum noch, als vielmehr an der allgemeinen Ausgelassenheit während der Feste.43 Dabei stellten sie der heidnischen Oberflächlichkeit eine christliche Tiefgründigkeit gegenüber. Heidnische Traditionalisten wiederum machten den paganen Charakter der Feste gerade an den Opfern fest, deren Verschwinden sie denn auch heftig beklagten. Der antiochenische Sophist Libanios etwa empörte sich ein ums andere Mal, dass die Feste durch den Wegfall der Opfer profanisiert worden seien: Man schlafe während der Feste nur noch seinen Rausch aus, tanze unanständig und sei nur auf sein eigenes Vergnügen bedacht (Lib. or. 41, 16; 50, 11 sowie or. 53 pass.; descr. 12, 5, 9). Auch er versuchte daher, die Vorgaben der kaiserlichen Gesetzgebung in seinem Sinne auszulegen und den Festen (wieder) einen sakralen Charakter zu geben. In einer seiner Reden wandte er sich mit diesem Anliegen an Theodosius I.: Wenn einige Leute auf einem leuchtenden Platz zusammengekommen waren und ein Kalb oder ein Schaf oder beides opferten, indem sie einiges (davon) kochten und einiges brieten und sich dann, nachdem sie sich hingelegt hatten, aßen, weiß ich nicht, ob sie irgendwelche Gesetze überschritten haben. Du hast dies nämlich nicht per Gesetz untersagt, sondern nur eine Sache verboten, alles andere davon aber ausgenommen. Wenn sie deshalb mit allem Räucherwerk einen Trank nähmen, würden sie das Gesetz ebenso wenig überschreiten, wie wenn sie bei einem Freundschaftstrunk sängen und die Götter anriefen. Es war
43 Entsprechende Aussagen finden sich etwa bei Gr. Naz. or. 5, 35; 38, 5; 44, 9; Ast. kal.; Ambr. serm. 7, 2; Aug. serm. 9, 17. Vgl. hierzu Harl (1981: 123): »[I]ls [les évêques] dénoncent la fête des autres (celle des Juifs, des Grecs, et même celle des mauvais chrétiens) pour faire ressortir sur cet arrière-fond comme par un repoussoir leur conception de la fête idéale chrétienne«.
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Sitte, dass viele Landleute sich bei den Festen näher kamen, indem sie gemeinsam opferten und dann zusammen speisten. So lange es erlaubt war, dies zu tun, taten sie es auch. Abgesehen vom Opfer blieb die Möglichkeit dazu auch danach. (Lib. or. 30, 17)
Es ist an dieser Stelle interessant zu beobachten, wie ähnlich sich die Argumentationsmuster der paganen und christlichen Wortführer letztendlich waren – und sich doch in ihren Zielen stark unterschieden: Die christlichen Meinungsmacher beschrieben die traditionellen Feste als unmoralisch, um eine Rechtfertigung für ihre Abschaffung zu gewinnen; konservative Heiden prangerten ebenfalls die Ausgelassenheit während der Feste an, versuchten dies jedoch gerade als Argument zu verwenden, um wenigstens irgendeine Form des Opfers bewahren zu können. Dadurch entbrannte ein Kampf um die Frage, was nun eigentlich ein paganes und was ein christliches Fest ausmache. Am Ende scheiterten jedoch sowohl kirchliche ›Scharfmacher‹ als auch pagane Traditionalisten mit ihren Anliegen. Die gemäßigte Mehrheit, die sich in den meisten Gemeinden durchsetzte, vermochte es nämlich in der Regel, die Feste als reine Unterhaltung zu deklarieren und als Möglichkeit zur Zerstreuung von jeglicher kultischer Assoziation zu lösen. Auf die harsche Kritik des Bischofs von Ravenna, Petrus Chrysologus, der das Fest der Januarkalenden als heidnischen Götzendienst bezeichnet hatte, erwiderte seine Gemeinde nur, das ganze Treiben habe doch überhaupt nichts mit Religion zu tun. Es sei lediglich eine Neujahrsvergnügung, und daher sei es auch kein Sakrileg, daran teilzunehmen (Petr. Chrys. serm. 155, 3). Offenbar konnte und wollte die Mehrheit der städtischen Bevölkerung nicht auf die gemeinschaftsstiftende Wirkung der städtischen Feste verzichten.44 Interessanterweise war es gerade Kaiser Julian, der dies trotz seiner Abneigung gegenüber nichtsakralen Feierlichkeiten in seiner Schrift Misopogon sehr genau beschrieben hat:
44 Zu diesem Aspekt der spätantiken Stadt- und Festkultur, welche – bei allen religiösen Konflikten, die sich darin entzünden konnten – auch so etwas wie einen ›neutralen‹ oder ›profanisierten‹ Raum bildete, in dem sich alle Gruppierungen innerhalb der Städte wiederfinden konnten, vgl. Lepelley (2002), Belayche (2007) sowie Lim (im Druck).
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Wer wird denn auch einen Kaiser aushalten, der so häufig in die Heiligtümer geht, wenn es doch möglich ist, ein oder zwei Mal die Götter zu belästigen und ansonsten jene Volksfeste zu veranstalten, die für den ganzen Demos gemeinschaftlich sind und an denen nicht nur diejenigen teilnehmen können, die die Götter kennen, sondern auch diejenige, von denen die Stadt gerade voll ist. Bei solchen Festen gibt es Freude und Anmut im Übermaß, deren Früchte man fortwährend genießen könnte, wenn man tanzende Männer, Kinder und viele Frauen sieht. (Jul. Mis. 346C)
Sowohl für strenggläubige Christen wie Johannes Chrysostomos als auch für Heiden wie Julian oder Libanios sollte hingegen ein wahres Fest einen betont sakralen Charakter besitzen. In einer multireligiösen Gesellschaft, wie sie in den meisten Städten des 4. Jh.s existierte,45 konnte ein solchermaßen ausgestaltetes Fest jedoch keine gemeinschaftskonstituierende Wirkung entfalten. Genau dieses Bedürfnis hatte die Mehrheit der Bevölkerung aber offenbar auch weiterhin. Daher scheiterten sowohl die kirchlichen Führer als auch die paganen Traditionalisten bei dem Versuch, mit Blick auf die Festkultur Ritualdesign in ihrem Sinne zu betreiben, also die antike Festkultur vollständig zu christianisieren bzw. die abgeschafften Opfer wiederzubeleben. Die Widerstände dagegen waren einfach zu mächtig. Obwohl die Kirche seit dem frühen 4. Jh. beständig ihren Einfluss vergrößert hatte und ihr dadurch eine immer größere Handlungsmacht zukam, vermochte sie es nicht, die traditionellen Feste verschwinden zu lassen.46 So wurde etwa das Fest der Januarkalenden während der Spätantike in praktisch jeder Stadt des Reiches begangen;47 und die Zeugnisse für das Maioumas-Fest reichen bis weit in das 6. Jh.48 Auch die lokalen städtischen Feierlichkeiten wurden noch im 6. und 7. Jh. mit großer
45 Vgl. beispielsweise die Lage im spätantiken Ägypten; dazu Vinzent (1998). 46 Besonders gut zeigt sich dies etwa an der Situation im spätantiken Athen; vgl. Dally (2003). 47 Die wichtigsten Quellen zu diesem Fest sind: Lib. descr. 12, 5; or. 9; Chrys. kalend; Ast. kal. Literatur hierzu: Meslin (1970), Gleason (1986), Graf (1998) und Scheid (1998). 48 Vgl. Mentzu-Meimare (1996), Greatrex/Watt (1999), Schorsch (2003) und Belayche (2004).
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Begeisterung und ebenso großer Beteiligung gefeiert.49 Noch anlässlich der Trullanischen Synode Ende des 7. Jh.s konnte ein Kirchenkonzil Anstoß daran nehmen, dass man im Reich weiterhin das Fest der Januarkalenden, die ›Vota‹, die ›Brumalia‹ sowie das Fest des ersten März feiere (Can. 62).50 Hieran zeigt sich, dass die Kirchenführer mit ihren oft recht weit reichenden Forderungen nach einer durchgehenden Christianisierung der Gesellschaft und nach deutlicher Abgrenzung von all dem, was sie als Teil des ›saeculum‹ interpretierten, häufig schon bei ihren eigenen Gemeinden nicht recht durchdrangen. Eine radikale Neuorientierung des städtischen Lebens mit einer entsprechenden Neugestaltung aller Ritualkomplexe ließ sich somit bis in das 6. Jh. hinein an vielen Orten nicht durchsetzen, weil die Intentionen der Kirchenführer im innerstädtischen Aushandlungsprozess weder gegenüber dem Kaiser noch gegenüber den lokalen Eliten und der eigenen Gemeinde umzusetzen waren.
5. S CHLUSS : R ITUALDESIGN S TÄDTEN ?
IN SPÄTANTIKEN
Schlagen wir von hier nun noch einmal den Bogen zurück zu unserem Eingangsbeispiel. Kaiser Konstantin veränderte offenbar bewusst und intentional das Begräbnisritual der römischen Kaiser. Dabei übernahm er zahlreiche Elemente aus dem traditionellen römischen Konsekrationsritual, eliminierte jedoch die Verbrennung des Leichnams, die die Himmelfahrt des Kaisers symbolisierte und unentwirrbar mit dem paganen Kult verbunden war. Konstantins Ritualdesign war durchaus erfolgreich, denn noch in byzantinischer Zeit folgte man dem von ihm entworfenen Modell. Unmittelbar wirkungsmächtig wurde diese Ritualinnovation jedoch erst einmal nur in Konstantinopel selbst. In Rom hingegen wurde möglicherweise das traditionelle Konsekrationsritual fortgeführt – gewöhnlich wurde dort ohnehin nur eine Wachsfigur des Kaisers verbrannt. In jedem Fall scheint der römische Senat auch am Ende des 4. Jh.s noch offiziell über die Divinisierung von Angehörigen
49 Vgl. u. a. Lyd. mens. 4, 158; Chronic. Pasch. p. 474 Dindorf; Soz. h. e. 2, 4; Hieron. vita Hilar. 20; Malal. 172 ff. (= 7, 1 ff. Thurn). 50 Zur Interpretation vgl. Trombley (1978).
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der ›domus divina‹ entschieden zu haben.51 Auch anderswo im Reich wird man kaum von der Änderung des Begräbnisrituals Notiz genommen haben. Der Rezipientenkreis des neu gestalteten Bestattungsrituals war eindeutig die Einwohnerschaft von Konstantinopel. Die Provinzialbevölkerung hingegen verehrte den Kaiser oftmals noch bis weit ins 5. Jh. hinein als eine göttliche Instanz, und die Kaiser selbst taten nichts, um dem entgegenzuwirken. Es zeigt sich also an diesem Punkt erneut, dass es der Kaiser genauso wenig wie andere Akteure vermochte, im gesamten Reich wirkungsvoll als alleiniger Ritualdesigner aufzutreten. Stattdessen ergaben sich Ritualveränderungen in den spätantiken Städten zumeist als Folge intensiver Aushandlungsprozesse, bei denen verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Interessen und Intentionen darum stritten, wie das Ritualgeschehen unter den veränderten Bedingungen, die sich durch die Zugehörigkeit eines immer größer werdenden Teils der städtischen Bevölkerung zur christlichen Religionsgemeinschaft ergaben, auszusehen hatte. Die Transformation bestehender städtischer Rituale – sowohl durch morphologische Veränderungen wie auch durch die Re-Semantisierung vorhandener Elemente bzw. der Schaffung zumindest teilweise neuer Ritualsequenzen – wurde den städtischen Gemeinschaften also, so unsere These, nicht einfach von außen in einer einheitlichen Form aufgezwungen, sondern ihr gingen intensive Diskussionen zwischen verschiedenen Akteuren und Gruppierungen im innerstädtischen Rahmen voraus, die durch exogene Impulse
51 In seiner neunten ›relatio‹, welche er im Jahre 384/85 an Kaiser Theodosius I. und den jungen Arcadius richtete, dankte Symmachus, zu diesem Zeitpunkt ›praefectus urbi‹, den Herrschern für ihre zahlreichen Wohltaten. Dafür könne man ihnen zwar kaum eine ebenbürtige Gegenleistung geben, aber: »der höchste Stand fand eine liebenswerte Erwiderung, durch die er seine Dankbarkeit ausdrücken konnte. Denn den Urheber Eurer Familie und Eures Geschlechts, den einstigen Führer von Africa und Britannien, der durch seinen Samen eine für das Reich rettende göttliche Kraft erschuf, konsekrierte und versetzte er mit Reiterstatuen unter die alten Namen [sc. der Staatsgötter]. So werden diejenigen verehrt, deren Kinder zum öffentlichen Wohl geboren wurden« (Symm. rel. 9, 4). Auch Eutropius berichtet mehrfach von der Apotheose der Kaiser während des 4. Jh.s: Eutr. 10, 1 (Constantius I.); 10, 8 (Konstantin); 10, 15 (Constantius II.); 10, 16 (Julian); 10, 18 (Jovian). Vgl. Amici (2002).
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häufig nur angestoßen wurden. Hierbei wurde – mehr oder minder heftig – um die praktische und ideologische Ausgestaltung der städtischen Rituale gerungen, welche dann je nach Stärke, Durchsetzungswille und spezifischen Vorstellungen der einzelnen beteiligten Personen oder Gruppen lokal durchaus unterschiedlich ausfallen konnte. In aller Regel haben wir es also nicht mit einem einzelnen, sondern mit einem ganzen Konglomerat unterschiedlicher Ritualdesigner zu tun, die im städtischen und imperialen Diskurs ihre jeweilige Deutung durchzusetzen versuchten. Wenn wir daher Ritualdesign als intentionale Neu- oder Umgestaltung eines Rituals definieren, ist es fraglich, ob dieses Phänomen eine treibende Kraft bei dem zu beobachtenden Wandel des Ritualbestands in der Spätantike war. Dennoch halten wir das Konzept des Ritualdesigns in Anwendung auf unser Thema insofern für sinnvoll, als es den Blick auf die Bedeutung von Intentionalität bei Ritualveränderungen lenkt. Denn die spätantiken Städte ›christianisierten‹ sich nicht einfach von selbst, sondern durch aktive und reflektierte Eingriffe in die bestehenden Ritualstrukturen. Wir haben jedoch in diesem Aufsatz zu zeigen versucht, dass die Intentionen der hieran beteiligten Akteure nur selten eins zu eins umgesetzt werden konnten. Selbst eine Person mit einer erheblichen Handlungsmacht wie der römische Kaiser konnte Ritualveränderungen nicht einfach von oben durchsetzen. Diese waren vielmehr das Ergebnis von Aushandlungsprozessen, die dann selbst wiederum für neue Aushandlungen offenstanden. Man könnte daher sagen: In der Spätantike gab es zahlreiche Akteure, die den Anspruch hatten, als Ritualdesigner aufzutreten. Nur in den seltensten Fällen konnten sie diese Absicht jedoch in der von ihnen beabsichtigten Reinform verwirklichen. Statt von stufenweisen und zielgerichteten Ritualveränderungen sollten wir daher mit Blick auf die spätantiken Städte eher von dem Modell eines beständigen Arbeitens am vorhandenen Ritualbestand ausgehen. In der Spätantike gab es – zumindest mit Blick auf die hier im Fokus stehenden städtischen Zeremonien – viele potentielle Ritualdesigner, aber nur wenige in einheitlicher Form (neu) gestaltete Rituale.
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Zur Medienästhetik von Ritualdesign in narrativ-fiktionalen Darstellungen Theoretisch-methodische Überlegungen und Anwendungsperspektiven JAN RUPP, CARINA BRANKOVIû & ANTONY GEORGE PATTATHU
1. E INLEITUNG : R ITUALDESIGN
IN REALWELTLICHEN UND NARRATIV - FIKTIONALEN Z USAMMENHÄNGEN
›Ritualdesign‹ scheint zunächst wenig mit Ritualdarstellungen in narrativ-fiktionalen Medien gemeinsam zu haben. Sowohl der ökonomische Zusammenhang freiberuflicher Ritualschaffender, in dem der Begriff ›Ritualdesign‹ popularisiert wurde, als auch der Bereich des Designs als serienmäßiges Industrieprodukt unterscheiden sich auf den ersten Blick stark von dem nicht-pragmatischen Diskurs, den fiktionale Artefakte üblicherweise für sich reklamieren. Fragt man nach dem Nutzen und Zweck neuer Begrifflichkeiten, so spricht für Ritualdesign unter anderem, dass dadurch der Aspekt des Werts und der Verwertbarkeit von Ritualen profiliert werden kann. Dieser Dimension der Verwertbarkeit in realweltlichen Ritualzusammenhängen steht jedoch die ›Zwecklosigkeit‹ bzw. Entpragmatisierung fiktionaler Werke entgegen (vgl. Gumbrecht 1977 und Eagleton 21996: 7). Deren vielfältiges Wirkungspotential verdankt sich paradoxerweise der Tatsache, dass Fiktionen und Ritualdesign in ihnen keinem unmittelbaren, prak-
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tischen Zweck dienen, anders etwa als ein für eine säkulare Trauung in Auftrag gegebenes Ritualdesign. Neben ökonomischen Aspekten lässt sich mit dem Begriff des Ritualdesigns allerdings auch die ästhetische Dimension von Ritualen konturieren. Ritualdesign betont qua Begriff die Konstruktivität und Gemachtheit von Ritualen, während auch fiktionale Werke stets den Blick auf die formal-ästhetische Machart und nicht nur auf den Inhalt der Darstellung lenken. Um die durch den Begriff angezeigte Konstruktivität trennscharf zu charakterisieren, bietet es sich an, Ritualdesign nicht als weiteren Typus sondern als potentiellen Modus von Formen der Ritualdynamik wie ›Ritualinvention‹ und ›Ritualinnovation‹ zu verstehen, wobei die der Ritualveränderung zugrunde liegende Intentionalität betont wird.1 Aus dieser Sicht bezeichnet ›Design‹ einen bewussten individuellen oder begrenzt kollektiven Schaffensakt, der entweder im Sinne eines Individualdesigns von einer Person ausgeführt wird oder die Vorlage für eine größere Vergemeinschaftung im Ritualgeschehen liefert. In beiden Fällen verweist Ritualdesign zunächst auf den intentionalen Schaffensakt Einzelner, der häufig von ästhetischen Prinzipien der Gestaltung geleitet ist, um die Attraktivität des Designs zu steigern. Fiktionale Artefakte sind ebenfalls durch eine bestimmte Appellstruktur und Rhetorik gekennzeichnet und auch Autor/-innen ästhetischer Werke verfolgen bestimmte Wirkungsabsichten. Aus soziologischer Sicht ist selbst die Ökonomie dem Bereich der Ästhetik nicht fremd, denn bei der Produktion ästhetischer Werke geht es nicht zuletzt um den Erwerb von kulturellem Kapital. Unter dem Gesichtspunkt der Ästhetik haben Ritualdesign in realweltlichen Zusammenhängen und Ritualdesign in narrativ-fiktionalen Medien also viel mehr gemeinsam, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Dies macht einen Vergleich dieser beiden Formen von Ritualdesign sehr fruchtbar, um die Funktionen narrativ-fiktionaler Dar-
1
Vgl. Ahn (2011: 603): »[…] ›ritual design‹ can be differentiated from ›ritual transformation‹ by a quite clear-cut distinction: ›ritual design‹ needs a decision, it is often consciously done and always an intentional act, whereas ›ritual transformation‹ is also characterised by unconscious changes, for example, small differences in the course of repeated ritual performances. I therefore suggest that we understand ›ritual design‹ as a special case, a subset of ›ritual transformation‹ which is characterised by its intentionality.« (Vgl. dazu auch Ahn in vorliegendem Band).
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stellungen zu untersuchen: Replizieren diese Darstellungen lediglich, was sich anhand des realweltlichen Ritualdesigns beobachten lässt? Oder kommt ihnen womöglich eine besondere Rolle zu, welche sich von der eines realweltlichen Ritualdesigns deutlich abhebt? In diesen Fragen klingt die zentrale These des vorliegenden Beitrags an: Ritualdesign in narrativ-fiktionalen Medien ist durch eine gesteigerte Reflexivität gekennzeichnet, die der Alltagsenthobenheit und Entpragmatisierung fiktionaler Kommunikation zu verdanken ist. Zwar sind auch realweltliche Rituale durch eine bestimmte Virtualität geprägt (vgl. Kapferer 2004), durch die sie in Distanz zum Alltag treten. Dies gilt aber noch verstärkt für narrativ-fiktionale Medien, welche eine zeitenthobene Reflexion ermöglichen, die im konkreten Handlungsgeschehen des Rituals nicht in gleichem Maße gegeben ist. Aus dieser These ergibt sich als Arbeitsprogramm für diesen Beitrag, genau zu bestimmen, wo die besondere Reflexivität narrativ-fiktionaler Darstellungen von Ritualdesign angesiedelt ist und durch welche Gestaltungsmittel sie erzeugt wird. Dies wird in Abschnitt 2 zunächst in theoretisch-methodischer Hinsicht geklärt, während in Abschnitt 3 ausgewählte medien- und erzähltheoretische Analysekategorien für die Untersuchung von Ritualdesign in exemplarischen Medien versammelt und diskutiert werden. Abschnitt 2 wendet Paul Ricœurs Modell einer dreistufigen Mimesis auf Prozesse narrativ-fiktionalen Ritualdesigns an. Mit diesem Modell wird argumentiert, dass narrativ-fiktionales Ritualdesign durch realweltliches Ritualdesign präfiguriert und auf dieses bezogen ist. Letzteres wird allerdings auf spezifische Weise durch narrativ-fiktionale Darstellungsweisen konfiguriert und im entpragmatisierten Diskurs der Fiktion zur Anschauung gebracht. Dadurch ergibt sich ein gesteigertes Potenzial der Reflexion und Refiguration. Die tatsächliche Refiguration realweltlicher Modelle von Ritualdesign im Zuge der Rezeption narrativ-fiktionaler Darstellungen muss durch empirische Studien untersucht werden und stellt einen eigenen Analysekomplex dar. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf das entsprechende Funktionspotenzial narrativ-fiktionaler Darstellungen, durch das eine solche Refiguration ermöglicht wird. Er nimmt die Ebene der formalästhetischen Konfiguration in den Blick, die anhand der drei Medien Roman, Dramentext und Film illustriert wird. Für die Analyse von Ritualdesign in diesen Medien werden verschiedene Kategorien vorgestellt und skizzenhaft angewendet. In allen drei Fällen wird von einem
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erzähltheoretischen »Werkzeugkasten« (Sommer 2010: 95) Gebrauch gemacht, der durch medienästhetische Aspekte ergänzt wird.
2. N ARRATIV - FIKTIONALES R ITUALDESIGN KOMPLEXE M IMESIS
ALS
Der vorliegende Beitrag geht von der Annahme aus, dass narrativfiktionale Darstellungen Ritualdesign nicht lediglich abbilden oder ›widerspiegeln‹, sondern aktiv bestimmte Versionen von Ritualdesign erzeugen, die in ein Spannungsverhältnis mit Beispielen von Ritualdesign in realweltlichen Zusammenhängen treten können. Narrativfiktionales Ritualdesign ist auf vielerlei Weise mit realweltlichem Ritualgeschehen verwoben. Auf der Ebene der Produktion kann auf Elemente verschiedener Ritualhandlungen oder -diskurse zurückgegriffen werden, die jedoch aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst und im Medium der Fiktion zu neuartigen Entwürfen verarbeitet werden. Fiktionale Darstellungen bringen auf diese Weise die Mechanismen und die Struktur von Ritualdesign in besonderer Weise zur Anschauung. Sie stellen wichtige Reflexionsangebote für den Rezipienten bereit und können auch auf ritualpraktische Kontexte zurückwirken. Um diese komplexe Dynamik zwischen narrativ-fiktionalen Darstellungen und realweltlichem Ritualdesign zu konzeptualisieren, soll im Folgenden Paul Ricœurs Modell einer dreistufigen Mimesis herangezogen werden (Ricœur 1988). Mit diesem Modell beschreibt Ricœur das Spannungsverhältnis zwischen mimetischen und poietischen Aspekten von Literatur, d. h. zwischen der Nachahmung einer außerliterarischen Wirklichkeit einerseits und der aktiven, poietischen Schaffung fiktionaler Welten andererseits. Ricœur entwickelt und illustriert sein Mimesis-Modell zwar am Beispiel der Literatur, doch es kann in einer transmedialen und transgenerischen Perspektive produktiv auf fiktionale Darstellungen in anderen Medien wie z. B. Film übertragen werden. Gerade für die Konzeptualisierung und Analyse des Verhältnisses zwischen narrativ-fiktionalem Ritualdesign und einer vorgängigen ›Ritualwirklichkeit‹ bietet Ricœurs auf Aristoteles zurückgehender und auf drei Ebenen erweiterter Mimesis-Begriff wichtige Anhaltspunkte. Er basiert auf der Einsicht, dass narrativ-fiktionale Darstellungen dynamische Prozesse der Transformation anstoßen, bei denen sich fiktio-
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nale Welten und ihre vorgängigen kulturellen Sinnsysteme wechselseitig beeinflussen. Mediale Ritualdarstellungen lassen sich mit Ricœur als dreistufiges Zusammenspiel zwischen kultureller Präfiguration durch realweltliche Ritualzusammenhänge (Mimesis I), narrativfiktionaler Konfiguration (Mimesis II) und schließlich möglicher Refiguration von bestimmten Vorstellungen, Strukturen und Praktiken von Ritualdesign durch den Rezipienten (Mimesis III) beschreiben. Laut Ricœur sind Wirklichkeitserfahrungen stets symbolisch präformiert bzw. »symbolisch vermittelt« (ebd.: 94) und der »narrativen Struktur der Erfahrung« (ebd.: 98) ist zu verdanken, dass Handlungen überhaupt erzählbar sind. Auch die narrativ-fiktionale Ritualdarstellung kann als ein konstruktiver Prozess aufgefasst werden, der zwischen der Präfiguration durch eine vorgängige Ritualwirklichkeit und der möglichen Refiguration bestimmter Ritualvorstellungen im Zuge der Rezeption vermittelt. Zwischen den symbolischen Wissensordnungen von Ritualkulturen und den in der Fiktion entworfenen Alternativwelten besteht somit eine dynamische Wechselwirkung. Um dieses Verhältnis differenziert zu analysieren und die Besonderheiten narrativ-fiktionaler Rituale herauszuarbeiten, bildet das Konzept der dreigliedrigen Mimesis eine tragfähige Grundlage. Ricœurs Modell ist in kulturwissenschaftlichen Studien produktiv appliziert worden, um z. B. das Wirkungspotenzial literarischer ›fictions of memory‹ für die Herausbildung und Transformation von Erinnerungskulturen zu untersuchen.2 In ähnlicher Weise kann argumentiert werden, dass narrativ-fiktionale Ritualdarstellungen nicht etwa als defizitär zu bestimmen sind, weil ihnen das performative Moment der Ritualpraxis fehlt, sondern dass sie vielmehr ein konstruktives Potenzial zur Reflexion und Transformation von Ritualkulturen besitzen. Dies impliziert, dass narrativ-fiktionales Ritualdesign auf eine vorgängige Ritualwirklichkeit bezogen ist und trotz seiner Alltagsenthobenheit stets im Hinblick auf seine kulturelle Präfiguration (Mimesis I) zu kontextualisieren ist. Für den vorliegenden Beitrag ist daneben vor allem die zweite Stufe der Mimesis von Bedeutung, das »Reich des Als ob« (Ricœur 1988: 88), in welchem die vorgängige Ritualwirklichkeit auf formaler Ebene durch je medienspezifische Mittel konfiguriert
2
Vgl. z. B. Neumanns (2005) Untersuchung kanadischer ›fictions of memory‹, an deren Operationalisierung des Ricœurschen Modells sich dieser Abschnitt orientiert.
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wird. Ricœur (ebd.) definiert die Mimesis II als »konkreten Prozeß, durch den die Textkonfiguration zwischen der Vorgestaltung (préfiguration) des praktischen Feldes und seiner Neugestaltung (refiguration) in der Rezeption des Werkes vermittelt«. Ricœurs Fokus auf der Literatur lässt sich durch eine transmediale Perspektive erweitern, so dass sich narrativ-fiktionales Ritualdesign nicht nur in Roman und Dramentext, sondern auch im Film auf seine Vorgestaltung sowie auf sein Potenzial zur Neugestaltung untersuchen lässt. In jedem Fall ist dabei nicht nur das ›Was‹ sondern vor allem auch das ›Wie‹ der Darstellung zu berücksichtigen. Narrativ-fiktionale Darstellungen von Ritualdesign verdanken ihr Potenzial zur Neugestaltung wesentlich der Gestaltung ihrer Medienästhetik, wobei nicht so sehr Fragen der Wahrnehmung im Sinne eines rezeptionsorientierten Ästhetik-Begriffs, sondern die ›Machart‹ medialer Ritualdarstellungen im Sinne einer Produktionsästhetik im Vordergrund steht. Ricœurs Modell einer dreistufigen Mimesis ist nicht nur für kulturwissenschaftliche Gegenstandsbereiche wie Erinnerung und Gedächtnis fruchtbar gemacht, sondern ganz konkret auch auf die Analyse von Designprozessen angewendet worden. Designtheoretisch perspektiviert, lassen sich die drei Stufen der Mimesis als Vorgestaltung durch die ›available designs‹ (Mimesis I) der Ritualwirklichkeit, als ›designing‹ im Medium der Fiktion (Mimesis II) und als ›redesigned‹, d. h. als Neugestaltung im Rahmen der Rezeption (Mimesis III) beschreiben (vgl. Hallet 2009). Da die tatsächliche Rezeption und Refiguration von Ritualvorstellungen und -praktiken letztlich nur durch empirische Forschungen erfasst werden kann, richtet sich das Augenmerk des vorliegenden Beitrags auf die Mimesis II der medien- und produktionsästhetischen Konfiguration bzw. auf die Ebene des ›designing‹. Durch das Verständnis von narrativ-fiktionalem Ritualdesign als komplexer Mimesis wird jedoch sichergestellt, dass Prozesse des ›designing‹ stets an externe Ritualkontexte rückgebunden werden, da diese die formal-ästhetische Konfiguration maßgeblich präformieren. Ebenso wird auch die Stufe der Refiguration nicht ausgeblendet, denn die Art und Weise, wie narrativ-fiktionales Design auf bestehende Ritualzusammenhänge zurückwirken kann, ergibt sich wesentlich aus der Konfiguration formal-ästhetischer Gestaltungsmittel. Wie funktionsgeschichtliche Ansätze betonen, basiert die mögliche Wirkung fiktionaler Darstellungen unmittelbar auf deren ästhetischer
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Struktur. So stellt Fluck (1997: 10) heraus, dass literarische Texte »einer bestimmten inneren Organisation ihres Materials bedürfen, um Wirksamkeit zu erlangen. […] Ihre soziale Funktion kann mit anderen Worten nur über eine ästhetische Wirkungsstruktur realisiert werden«. Um die soziale Funktion bzw. potentielle Refiguration (Mimesis III) fiktionaler Darstellungen zu bestimmen, müssen diese stets hinsichtlich ihrer kulturellen Präfiguration (Mimesis I) kontextualisiert werden. Entscheidend ist jedoch zuallererst eine Analyse der formal-ästhetischen Konfiguration (Mimesis II) narrativ-fiktionaler Ritualdarstellungen, in der mögliche Wirkungs- und Funktionspotenziale angelegt sind. Damit verbindet sich die im nächsten Abschnitt diskutierte methodische Frage, welche Gestaltungsmittel bei der Analyse von Ritualdesign in Roman, Dramentext und Film besonders beachtet werden müssen.
3. V ON DER T HEORIE ZUR M ETHODE : AUSGEWÄHLTE MEDIEN - UND ERZÄHLTHEORETISCHE ANALYSEKATEGORIEN Entsprechend der Bedeutung formal-ästhetischer Konfiguration, die durch das Mimesis-Modell Ricœurs und durch funktionsgeschichtliche Ansätze betont wird, gilt es nun zu fragen, welche Aspekte und Gestaltungsmittel in den hier näher untersuchten Medien relevant sind und im Hinblick auf die Rezeption und Refiguration bestimmter Ritualvorstellungen wirksam funktionalisiert werden können. Dabei steht außer Frage, dass es sich bei den in diesem Abschnitt diskutierten medienund erzähltheoretischen Analysekategorien um eine selektive und offen geführte Auflistung handelt. Es ist mittlerweile Konsens funktionsgeschichtlicher Ansätze, dass ein eindeutiges ›form-to-function mapping‹, d. h. eine eindeutige Zuordnung von Formen und Funktionen, nicht möglich ist. Vielmehr handelt es sich bei Funktionen um je im Einzelfall zu analysierende Funktionalisierungen bzw. Wirkungsund Funktionspotenziale formaler Elemente. Im Blick auf literarische Texte definiert Sommer (2000: 328) solche Funktionspotenziale als »eine vom Text her begründbare Annahme über die möglichen Effekte der narrativen Strategien, die den nacherzählbaren Inhalt eines Textes strukturieren und organisieren und damit für den Sinn entscheidend sind«. Diese Betrachtung literarischer Funktionspotenziale soll auf den
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transmedialen Zusammenhang narrativ-fiktionalen Ritualdesigns übertragen werden. Wie in der Einleitung dieses Beitrags ausgeführt, kann Ritualdesign als eine Form bzw. als ein spezifischer Modus von Ritualdynamik aufgefasst werden, der wesentlich an die Rekonstruierbarkeit von Intentionalität und Autorschaft bei gleichzeitiger Veränderung und Neukonfiguration eines vorgefundenen Ritualgeschehens gebunden ist. Für die Analyse von narrativ-fiktionalem Ritualdesign bedeutet dies, dass jeweils solche Elemente und Aspekte fokussiert werden müssen, bei denen es sowohl um die narrativ-fiktionale Darstellung selbst als auch um deren paratextuelle ›Rahmung‹ geht. Denn versteht man Romane, Dramentexte und Filme im Sinne eines mehrschichtigen Kommunikationsmodells, so kann Ritualdesign nicht zuletzt auf der Kommunikationsebene zwischen Autor/in und Leser/in bzw. Zuschauer/in als intentionaler Schaffensakt artikuliert werden. Entsprechend interessieren neben den eigentlichen Darstellungen auch literarische und filmische ›Paratexte‹ wie Vorworte, Begleittexte, Interviewaussagen und ›Making-ofs‹ bzw. insgesamt solche Textsorten und medialen Elemente, in denen Autoraussagen dokumentiert sind. All diese Formen der ›Rahmung‹ narrativ-fiktionaler Darstellungen sind besonders zu beachten, wenn man das Kriterium der Autorintention bzw. der Intentionalität als zentral für den Begriff des Ritualdesigns annimmt. Die Betonung der Autorintention ist angesichts kontrovers diskutierter Thesen über den »Tod des Autors« (vgl. Barthes 1967 und Abschnitt 4) äußerst aktuell und instruktiv. In der Tat handelt es sich bei der Kommunikationsebene zwischen Autor/in und Leser/in um eine nicht zu vernachlässigende Dimension narrativ-fiktionalen Ritualdesigns, die die Rezeption der Darstellung wesentlich beeinflussen kann. Gleichzeitig darf bei diesem Fokus auf empirischer oder explizit dokumentierter Intentionalität aber nicht übersehen werden, dass narrativfiktionale Darstellungen zumindest implizit stets auf einen intentionalen Charakter verweisen. Wie Wolfgang Iser mit Blick auf die Literatur gezeigt hat, sind fiktionale Texte durch verschiedene Akte des Fingierens gekennzeichnet, in denen sich Bezugnahmen auf Reales mit fiktiven Elementen verbinden. Die Tatsache, dass Realitätsreferenzen fiktionaler Texte hochgradig selektiv vorgehen, markiert, so Iser, stets eine zugrunde liegende Intentionalität:
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Die Selektion als Akt des Fingierens erwiese sich dann als Möglichkeit, die Intentionalität eines Textes zu fassen, denn sie bewirkt es, dass bestimmte Sinnsysteme der Lebenswelt zu Bezugsfeldern des Textes und diese wiederum zum Kontext wechselseitiger Auslegung werden. (Iser 1993: 26, Herv. i. O.)
Unter Berücksichtigung von Isers Fiktionstheorie kann Ritualdesign demnach nicht nur über ›rahmende‹ Paratexte und Autoraussagen, sondern auch über die ästhetische Struktur erschlossen werden. Dies lenkt den Fokus wieder auf die Ebene der Konfiguration bzw. auf die zweite Stufe der Mimesis nach Ricœur, auf der sich das spezifische Funktionspotenzial narrativ-fiktionaler Darstellungen im Vergleich mit realweltlichem Ritualdesign konstituiert. Aufgrund der variablen Funktionalisierungen narrativer Formen muss sich die Analyse nicht auf bestimmte Formen beschränken, sondern kann die ganze Bandbreite formal-ästhetischer Gestaltungsmittel in den Blick nehmen. Definiert man Romane ebenso wie Dramentexte und Filme in einer transgenerischen Perspektive als narrative Gattungen, steht der gesamte erzähltheoretische »Werkzeugkasten« (Sommer 2010: 95) zur Verfügung, welcher »narratologische Modelle, Konzepte und Terminologien, mit deren Hilfe sich narrative Texte in ihre signifikanten Bestandteile ›zerlegen‹ lassen« (ebd.: 96), enthält. Die im Folgenden skizzierten Anwendungsperspektiven greifen sowohl auf Kategorien der ›story‹-Ebene, wie z. B. Plotstrukturen, als auch auf Kategorien der ›discourse‹-Ebene, wie z. B. erzählerische Vermittlung und Fokalisierung, zurück.3
4. ANWENDUNGSPERSPEKTIVEN : N ARRATIV - FIKTIONALES R ITUALDESIGN KONKRETEN M EDIENANGEBOTEN
IN
Das zentrale Augenmerk dieses Abschnitts ist auf Formen und Funktionen der Aneignung von Ritualdesign in Roman, Dramentext und Film
3
Zu der in der Narratologie gängigen Unterscheidung zwischen ›story‹ und ›discourse‹ als ›Was‹ der Erzählung bzw. ›Wie‹ der erzählerischen Vermittlung vgl. Shen (2005: 566): »Story, in its simplest terms, is what is told, whereas discourse refers to ›how‹ the story is transmitted« (Herv. i. O.).
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gerichtet. Dabei sei an die zentrale These dieses Beitrags erinnert, dass narrativ-fiktionalem Ritualdesign im Vergleich mit realweltlichen Ritualzusammenhängen ein gesteigertes Funktionspotenzial bzw. eine gesteigerte Reflexivität zukommt. Es ist zu betonen, dass hier ein gradueller Unterschied angenommen wird, da auch das realweltliche Ritual durch eine bestimmte Virtualität und Distanz zum Alltag gekennzeichnet ist: »[T]he virtual of ritual is a thoroughgoing reality of its own« (Kapferer 2004: 37). Dennoch kann zum Beispiel Literatur als ein privilegiertes Medium der Selbstreflexion angesehen werden, da ein fiktional inszeniertes Ritualgeschehen im Rahmen der Lektüre ›stillgestellt‹ und kontempliert werden kann und damit eine Form der Rezeption und Partizipation ermöglicht, die in der Ritualwirklichkeit üblicherweise nicht gegeben ist. Solche Unterbrechungen, Dehnungen oder auch Perspektivisierungen des Ritualgeschehens können durch Formen der Narrativierung auch innerhalb von Texten oder Filmen erzeugt werden, wodurch sich abermals Möglichkeiten der Reflexion ergeben. Zum Funktionspotenzial medialer Darstellungen zählt weiterhin, dass bestimmte Vorstellungen über das Wesen und die Struktur von Ritualen in heutigen Medienkulturgesellschaften häufig durch Medien erzeugt oder zumindest beeinflusst werden können (z. B. durch die Inszenierung von Hochzeitsfeiern im Film). Auf der Grundlage der in Abschnitt 3 diskutierten Kategorien zeigen die folgenden Anwendungsperspektiven exemplarisch auf, wie sich narrativ-fiktionales Ritualdesign in Romanen, Dramentexten und Filmen manifestieren kann. Medien- und erzähltheoretische Analysekategorien eignen sich zur Untersuchung narrativ-fiktionaler Ritualdarstellungen insgesamt, doch es gilt in erster Linie solche Kategorien auszuwählen, die im Hinblick auf Ritualdesign besonders aussagekräftig sind. Da Ritualdesign vor allem über das Kriterium der Intentionalität definiert wurde, wird es sich um Analysekategorien handeln, mit deren Hilfe die Intentionalität narrativ-fiktionalen Ritualdesigns sichtbar gemacht und untersucht werden kann. Im Sinne der Abgrenzung des hier thematisierten Phänomenbereichs ist außerdem zu beachten, dass sich der Begriff des Ritualdesigns nicht auf jedwedes Ritual oder jedwede Ritualdarstellung bezieht, sondern im Unterschied z. B. zum Begriff der ›Ritualinvention‹ ganz bestimmte »processes of adapting, transforming and re-organising or composing already existing elements out of different religious or secular traditions into the frame of an already known type of ritual« (Ahn 2011: 603) bezeichnet. Bei Ri-
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tualdesign handelt es sich demnach stets um eine durch Intentionalität markierte Adaption von ›available designs‹ und nicht etwa um eine Erfindung neuer Rituale. 4. 1 Ritualdesign im Roman Narrativ-fiktionales Ritualdesign kann im Roman – gemäß der in Abschnitt 3 getroffenen Unterscheidung – auf zweierlei Weise im Hinblick auf das zentrale Kriterium der Intentionalität erschlossen werden. Intentionalität wird zum einen durch dokumentierte Autoraussagen in Paratexten, zum anderen im Sinne Isers aber auch durch die ästhetische Selektionsstruktur von Romanen greifbar. Paratexte sollten in einem weiten Sinn verstanden werden: Zu ihnen gehören nicht nur Vorworte, Widmungen oder editorische Notizen, sondern auch Tagebücher oder Briefe, in denen Autor/-innen auf ihr schriftstellerisches Schaffen zu sprechen kommen. Beide – d. h. die dokumentierte Intentionalität durch Autoraussagen ebenso wie die implizite Intentionalität ästhetischer Selektionsstrukturen – stellen wichtige Ansatzpunkte zur Analyse narrativ-fiktionalen Ritualdesigns dar. Wie solches Ritualdesign unter dieser Doppelperspektive zu untersuchen ist, wird im Folgenden anhand von Virginia Woolfs Roman »Between the Acts« (1941) illustriert. Woolfs posthum erschienener Roman spielt im Jahre 1939 und handelt von einem dörflichen Historienspiel. Der Roman rekurriert unmittelbar auf die Tradition historischer pageant plays, die in Großbritannien seit dem Beginn des 20. Jh.s hohe Popularität genossen. Es handelte sich dabei um eine neuartige Form von Historienspielen mit großer Breitenwirkung, die zumeist in kleineren Städten oder dörflichen Kontexten aufgeführt wurden (vgl. Yoshino 2010). Pageants können mit Catherine Bell als »ritual-like activities« (1997: 138 ff.) bezeichnet werden. Bell spricht von ›ritual-ähnlichen Handlungen‹, da der Begriff Ritual häufig einen überkommenen Traditionsbestand autochtoner Kulturen impliziere: »[R]itual often seems to have more to do with other times and places than with daily life as we know it in postindustrial Europe and America.« (Ebd.: 138) Dennoch ließen sich auch in der westlichen Moderne Verhaltens- und Handlungsmusters beobachten, die aufgrund ihrer Förmlichkeit, Traditionalität, Regelhaftigkeit und Symbolik als »ritual or ritual-like« (ebd.: 139) wahrgenommen würden.
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Wie Bell zeigt, erfreuten sich historische pageants, in denen für bedeutend erachtete Epochen der Geschichte zur Aufführung gebracht wurden, nicht nur in Großbritannien sondern z. B. auch in den Vereinigten Staaten großer Beliebtheit.4 Ihre Konjunktur in Großbritannien wird häufig als Ausdruck eines kulturellen Identitätswandels interpretiert und als Rückbesinnung auf eine insulare ›Englishness‹ gewertet, die an die Stelle der mit dem Empire verbundenen ›Britishness‹ tritt: »[H]istorical pageants were ›rituals of social transformation‹ and the instruments for the very creation and dissemination of civic traditions.« (Ebd.: 161) Bezeichnenderweise wird die imperiale Geschichte Großbritanniens in den historischen Tableaus der pageants weitgehend ausgeblendet.5 Woolf rekurriert auf ein solches pageant und verändert es zugleich folgenreich, wobei ihre Gestaltungsabsicht sowohl anhand paratextueller Äußerungen als auch anhand formal-ästhetischer Kriterien erschlossen werden kann. Ihr Roman, der eine zeitgenössische, weit verbreitete ›ritual-ähnliche Handlung‹ adaptiert, erscheint als paradigmatisches Beispiel für narrativ-fiktionales Ritualdesign. Bevor näher auf die ›Intentionalität‹ des Ritualdesigns in Woolfs Roman eingegangen wird, muss betont werden, dass der Begriff der (Autor-)Intention in der Literaturwissenschaft umstritten ist. Leser/-innen, die vermeintliche Absichten von Autor/-innen anführen und zum Maßstab ihrer Interpretation machen, sehen sich häufig mit dem geflügelten Wort des ›intentionalen Trugschlusses‹ (›intentional fallacy‹, vgl. Wimsatt/Beardsley 1946) konfrontiert. Darin drückt sich eine generelle Skepsis gegenüber biographistischen Lesarten aus, die Parallelen zwischen Person oder Leben und Werk von Autor/-innen ziehen. Variiert und bestärkt wurde diese Skepsis durch Roland Barthes’ Wort vom »Tod des Autors« (vgl. Barthes 1967), die der Autorfigur und ihren potentiellen Bedeutungsabsichten die multiplen und im Sinne poststrukturalistischer Intertextualitätstheorie nur bedingt durch eine
4
Vgl. Bell (1997: 161): »[H]istorical pageants […] were particularly popular community events in the towns and cities of America from the end of the 19th century to the middle of the 20th. Indeed, there appears to have been a veritable explosion of commemorative pageants in which people used costumes and elaborate scenery to dramatize historical events associated with their community.«
5
Vgl. Yoshino (2010: 55): »The pageant offered its consumers a story of national history that generally stopped in the 17th century.«
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Autorfigur kontrollierbaren Bedeutungen des Textes gegenüberstellte. Barthes’ These ist ihrerseits vielfach kritisiert worden. Wenn nun von der »Rückkehr des Autors« (vgl. Jannidis et al. 1999) gesprochen wird, muss damit aber nicht die Einsicht der kritischen Textwissenschaft aufgegeben werden, dass die Bedeutungsstruktur eines Textes der Autorintention widersprechen kann. Vielmehr macht die Rede von der »Rückkehr des Autors« darauf aufmerksam, dass (Vorstellungen von) Autorfiguren auf vielfältige Weise die Produktion und Wahrnehmung literarischer Werke beeinflussen, selbst wenn weiterhin Widersprüche zwischen empirischer Rezeption und textkritischer Auslegung bestehen mögen. Im Fall von Woolfs »Between the Acts« (1941) können Tagebucheinträge und Briefe der Autorin die Romananalyse produktiv ergänzen und Aufschluss darüber geben, welche Gestaltungsabsichten sich mit der narrativ-fiktionalen Inszenierung des village pageant verbinden. Woolf begann die Arbeit an ihrem letzten Roman im Jahre 1938 und stellte ihn 1940 fertig. Die literarische Ausgestaltung des Dorfschauspiels steht unmittelbar unter dem Eindruck des drohenden bzw. eingetretenen Zweiten Weltkriegs, besonders der Angriffe der deutschen Luftwaffe während des sogenannten ›Blitzkrieges‹, den Woolf in London miterlebte. Briefe und Einträge im Tagebuch der Autorin bezeugen ihre große Sorge und existentiellen Ängste angesichts dieser Bedrohung.6 Vor diesem Hintergrund dient die literarische Inszenierung des village pageant sowie der vermeintlichen Idylle des Dorflebens als Kontrastfolie, auf der sich umso deutlicher die Bedrohung des Krieges abzeichnet. So wird das Ritualgeschehen immer wieder durch Nachrichten von Luftangriffen oder durch Bombenflieger, die sogar in ländlichen Gebieten am Himmel erscheinen, gestört. Wie die Bewusstseinsdarstellung einer Romanfigur suggeriert, dient das jährlich wiederkehrende village pageant der Vergewisserung, Stabilisierung oder auch Restituierung von Gemeinschaft (»all liberated; made whole«, vgl. Woolf 2008: 164). Dies deckt sich mit der Funktion realweltlicher pageants, die häufig auf die Stabilisierung kollektiver Identität bzw.
6
Vgl. Woolfs Berichte über den Tod Londoner Nachbarn durch einen Luftangriff in ihrem Tagebuch (Woolf 1984: 136) und in Briefen (Woolf 1980: 429).
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auf die Konstruktion und Konsolidierung von ›Englishness‹ abzielten.7 Anhand der ›paratextuellen‹ Äußerungen der Autorin über die akute Bedrohung von Gemeinschaft und englischer Gesellschaft durch den Zweiten Weltkrieg lassen sich ihre Gestaltungsabsichten unmittelbar erschließen: Die ›Re-Organisation‹ (vgl. Ahn 2011: 603) eines identitätsstabilisierenden ›available design‹, wie es das village pageant darstellt, vollzieht sich auf der Kontrastfolie ländlicher Idylle, wodurch es Woolf umso wirksamer gelingt, die Bedrohung des Krieges darzustellen und der kollektiven Sorge darüber Ausdruck zu verleihen. Wie bereits mehrfach betont, ist die Intentionalität des Ritualdesigns im Falle narrativ-fiktionaler Darstellungen aber nicht nur anhand überlieferter Autoraussagen greifbar, sondern sie manifestiert sich darüber hinaus als ›Intentionalität des Textes‹ (vgl. Iser 1993: 26) über dessen Selektionsstruktur und ästhetische Gestaltung. Diese Unterscheidung mag kleinlich erscheinen, da die meisten Leser/-innen zu Recht davon ausgehen, dass Autor/-innen ihre Intentionen in formalästhetischer Hinsicht auch umzusetzen versuchen. Dennoch ist stets der oben unter dem Stichwort des ›intentionalen Trugschlusses‹ angesprochene Vorbehalt zu beachten, dass die Autorintention auf der einen und die Bedeutungsstruktur des Textes auf der anderen Seite nicht zwangsläufig deckungsgleich sind oder – positiv gewendet – sich produktiv ergänzen können. Dies spricht weder gegen den einen Zugang zur Intentionalität des Ritualdesigns (über den Designer bzw. die Autorfigur) noch gegen den anderen Zugang (über das ›designing‹ bzw. die zweite Stufe der Mimesis). Es betont vielmehr die Eigengesetzlichkeit narrativ-fiktionaler Darstellungen, welche durch die spezifische Ausgestaltung ihrer formal-ästhetischen Struktur eine gesteigerte Reflexivität ermöglichen und es häufig erforderlich machen, erste Eindrücke, die anhand überlieferter Autorintentionen gewonnen werden, weiter zu differenzieren. So finden sich in Woolfs Roman zahlreiche Formen der narrativfiktionalen Inszenierung des village pageant, durch welche dessen ›Re-Organisation‹ als Ausdruck der bedrohlichen Intervention des Krieges realisiert wird. Dazu gehören die zahlreichen Thematisierun-
7
Vgl. Yoshino (2010: 125): »The approach of pageant writers might crudely be summed up as an attempt to present ›feel-good‹ history. Scripts go out of their way to endorse and provide a feeling of continuity that might be expected to be commonly shared across their audience and participants.«
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gen und Sichtungen von Flugzeugen, die den Ablauf des pageant immer wieder stören. Woolfs Ritualdesign zeichnet sich durch eine äußerst fragmentarische narrative Struktur aus, die den Zusammenhang des Ritualgeschehens auf der ›story‹-Ebene der fiktionalen Darstellung aufbricht und, wie der Titel des Romans andeutet, vielmehr das Geschehen ›zwischen den Akten‹ des Historienspiels fokussiert. Die Vergewisserung und Stabilisierung von Identität wird durch den Rekurs auf das ›available design‹ des pageant ebenso beständig suggeriert, wie dieses Versprechen fortwährend uneingelöst bleibt. Darin drückt sich in einer Zeit der »crisis in Britain in the 1930s« (vgl. Clark et al. 1979) eine weit über das ländliche Setting hinausgehende Verunsicherung aus. Die Störung des dörflichen Rituals zeigt zugleich eine Krise nationaler Identität während der Zwischenkriegsjahre an, zwischen den beiden ›Akten‹ des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Vor allem wird durch die Fragmentarisierung des Ritualgeschehens aber nicht nur die Bedrohung des Krieges sondern letztlich auch die Unzulänglichkeit des pageant thematisiert, auf diese Herausforderungslage zu reagieren. Anstatt kohärenzbildend zu wirken, wird das Ritualgeschehen auch auf der ›discourse‹-Ebene des Romans fragmentarisiert und durch ständig wechselnde Fokalisierungen multiperspektivisch aufgefächert. In den Gedanken und Bewusstseinsströmen der Figuren, die wiederum ›zwischen den Akten‹ oder ›zwischen den Zeilen‹ des Ritualgeschehenes angesiedelt sind und über das Ritual reflektieren anstatt darin zu partizipieren, wird die Funktion des village pageant als stabilisierendes Sinnangebot problematisiert. Wie diese skizzenhafte Analyse der Formen und Funktionen narrativ-fiktionaler Ritualdarstellung zeigt, geht es in Woolfs »Between the Acts« nicht um den Rückgriff auf ein Sicherheit und Stabilität versprechendes ›available design‹, das mit der Bedrohung des Krieges kontrastiert wird, sondern wesentlich auch um die Leistungsfähigkeit dieses Rituals selbst. Inwiefern die im Jahre 1939 angesiedelte Romanhandlung nicht nur die Gefahr des Zweiten Weltkriegs antizipiert, sondern literarisches Ritualdesign gleichzeitig als wichtiges Medium der Reflexivität und Ritualkritik fungiert, wird an anderer Stelle eingehender zu untersuchen sein. Festhalten lässt sich jedoch bereits, dass narrativ-fiktionales Ritualdesign im Roman nicht nur von der Autorintention geleitet ist und über dieses Kriterium bestimmt werden sollte, sondern sich wesentlich auch über die Intentionalität des Textes konstituiert. In der Analyse kann deshalb eine große Bandbreite erzählthe-
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oretischer Aspekte der ›story‹-Ebene (Plotstruktur, Zeitdarstellung usw.) und der ›discourse‹-Ebene (erzählerische Vermittlung, Fokalisierung) fruchtbar gemacht werden. 4. 2 Ritualdesign in Dramentexten Ebenso wie Romane können auch Dramen unter erzähltheoretischen Gesichtspunkten analysiert werden. Transgenerische Ansätze einer ›Narratologie des Dramas‹ (vgl. z. B. Nünning/Sommer 2002) haben das Drama nicht nur als dramatische, sondern auch als narrative Gattung profiliert.8 Unter dieser narratologischen Perspektive soll in diesem Abschnitt gezeigt werden, wie Ritualdesign in Dramentexten konfiguriert sein und mit Hilfe welcher Analysekriterien es untersucht werden kann. Zahlreiche Forschungen zur ›Narratologie des Dramas‹ nehmen insbesondere die jeweiligen Dramentexte im Unterschied zu deren konkreter Aufführung in den Blick.9 So differenziert Jahn in Anlehnung an und Weiterentwicklung von Chatmans ›Texttypen-Modell‹ (vgl. Chatman 1990: 115) zwischen dem Text (»written/printed«) und der Performance (»performed«). Im Anschluss an Jahn, der den Dramentext (»playscript«) der Kategorie »written/printed narrative« zuordnet (vgl. Jahn 2001: 675), soll im Folgenden das Drama in seiner Textform in den Fokus rücken. Mit dieser Bestimmung des Dramas als narrative Gattung lässt sich Ritualdesign in Dramentexten durch eine erzähltheoretische Analyse erschließen. Rituale und deren Designs können von Erzählinstanzen (z. B. Spielleiterfiguren) kommentiert und reflektiert werden oder in
8
Im Rahmen einer ›Narratologie des Dramas‹ werden narratologische »Kategorien, Modelle und Methoden […] auf die Dramentheorie und -analyse [angewendet und] die Gestaltungsmöglichkeiten der erzählerischen Vermittlung, verschiedene Formen und Funktionen von Erzählinstanzen sowie mono- und multiperspektivische Darstellungsformen im Drama [untersucht]« (Nünning/Sommer 2002: 103 f.).
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Vgl. ebd. (104). Aufführungs- und Inszenierungsgesichtspunkte werden in der narratologischen Analyse nicht berücksichtigt. Zu vermerken ist, dass auch theaterwissenschaftliche Positionen zwischen dem literarischen Text des Dramas und dem theatralischen Text der Aufführung unterscheiden (vgl. z. B. Fischer-Lichte 31995: 34–54).
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die narrativen Handlungsstrukturen des Dramentextes eingebunden sein.10 Im Hinblick auf das Konzept des Ritualdesigns ist dabei stets nach der Intentions- und Entscheidungskompetenz der Autor/-innen zu fragen (vgl. Ahn 2011: 603). Diese kann sich entweder als dokumentierte Autorintention oder als Dimension der dramenästhetischen Konfiguration manifestieren. Die Intentionalität des Ritualdesigns – verstanden als empirisch nachweisbare Aussagen, die mit einer Veränderung von Ritualen im Medium des Dramentextes verknüpft sind – kann auf der einen Seite über dokumentierte Primäraussagen von Autor/-innen (z. B. in Interviews) erfasst werden. Paratextuelle reflexive Äußerungen wie die Widmung eines Dramentextes oder Vorworte geben ebenfalls häufig Aufschluss über die Autorintention. Auch Ausführungen von Autor/innen in Programmheften und anderen nicht-fiktionalen Begleittexten können zu solchen Paratexten gezählt werden und Sekundäraussagen zu erkennen geben. Auf der anderen Seite wird Ritualdesign anhand der ästhetischen Konfiguration der Dramentexte selbst greifbar. Hier steht die Fragestellung im Vordergrund, wie Rituale oder rituelle Elemente in Dramentexten durch narrative Formen dargestellt und vermittelt werden. So lassen sich u. a. spezifische Formen und Funktionen von Erzählinstanzen im Drama auf das Ritualdesign bezogen untersuchen.11 Durch die Präsenz einer konkreten Erzählerfigur in Prolog oder Epilog wird z. B. eine Reflexion und Kommentierung der Handlungsebene mög-
10 Vgl. z. B. Nünning/Sommer (2002: 111–116) zur ›Narrativität im Drama aus erzähltheoretischer Sicht: Formen und Funktionen von Erzählinstanzen im Drama‹. 11 Vgl. Jahn (2001: 674) zur Kategorie der Erzählinstanz in ›written/printed‹ und ›performed narratives‹: »Of course, one of the main points […] was that all narrative genres are structurally mediated by a first-degree narrative agency which, in a performance, may either take the totally unmetaphorical shape of a vocally and bodily present narrator figure (a scenario that is unavailable in written epic narrative), or be a disembodied ›voice‹ in a printed text, or remain an anonymous and impersonal narrative function in charge of selection, arrangement, and focalization.« Vgl. auch Rajewsky (2007: 52 ff.) und die Diskussion dieser Aussagen, die auf die Beachtung der generischen und medialen Grenzen und Differenzen abzielt.
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lich. Auch eine ›Spielleiterfigur‹ kann als eine das Ritual kommentierende und reflektierende Erzählinstanz fungieren.12 Die Vielschichtigkeit von dramatischen Ritualdarstellungen in Erzählzusammenhängen lässt sich durch weitere narrative Formen wie z. B. die ›Metalepse‹ oder das ›Spiel-im-Spiel‹ erschließen (vgl. Sommer 2005: 121). Bezeichnet die ›Metalepse‹ den Wechsel zwischen den narrativen Ebenen eines Textes13 und hält damit ein weitreichendes reflexives Funktionspotenzial bezüglich des Ritualdesigns bereit, so kann auch der Einsatz des ›Spiel-im-Spiel‹ Brechungen in den narrativen Strukturen nach sich ziehen und verschiedene kommunikative Rahmen sowie mehrdimensionale Perspektiven- und Handlungsstrukturen des Dramentextes sichtbar machen. Hier lassen sich deutlich angelegte Reflexivitätspotenziale von Ritualdesign in narrativ-fiktionalen Zusammenhängen erkennen, die produktiv als verschiedene Formen der rituellen ›Reflexivität‹ (vgl. z. B. Stausberg 2006) und des dynamischen ›Framings‹ (vgl. Weinhold/Rudolph/Ambos 2006) erörtert werden können. Ritualdesign in Dramentexten ist bezüglich ausgewählter narrativer Formen durch zusätzliche Ebenen des Kommentars und der Reflexion gekennzeichnet. Darin liegt das Wirkungs- und Funktionspotenzial von Ritualdesign in Dramentexten begründet, denn auf der Rezeptionsebene werden zusätzliche Kommunikations- und Reflexionsräume für Leser/-innen eröffnet und im Verhältnis zu realweltlichem Ritualdesign noch ausgeweitet. 4. 3 Ritualdesign im Film Wie bei den Medien Roman und Dramentext zeichnet sich Ritualdesign im Spielfilm durch intentionale Veränderungen und Adaptionen von Ritualkomplexen aus. Solche Veränderungen lassen sich durch formal-ästhetische Strukturen oder paratextuelle Elemente nachweisen, wobei im Folgenden besonderes Augenmerk auf die Intentionalität äs-
12 Vgl. Sommer (2005: 121), der den »stage manager« als Figur erwähnt. 13 Der französische Literaturwissenschaftler Gérard Genette bezeichnet mit dem Begriff der ›Metalepse‹ den Wechsel zwischen den narrativen Ebenen eines Textes, so zwischen der diegetischen und extradiegetischen oder auch metadiegetischen Ebene (vgl. Genette 1972: bes. 243–246 zu ›Métalepses‹).
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thetischer Selektionsstrukturen gelegt wird. Im Sinne des dreistufigen Mimesisbegriffs werden verschiedene Aspekte filmischer Darstellung diskutiert, die die Dimensionen der Präfiguration und Konfiguration berücksichtigen und es ermöglichen, die intentionale Veränderung und das gesteigerte Reflexivitätspotenzial von Ritualdesigns im Spielfilm aufzuzeigen. Ausgangspunkt dieser Betrachtungen ist ein kommunikationstheoretischer Ansatz, der den Gegenstand stets unter Berücksichtigung des Interaktionsfeldes mit dem Zuschauer analysiert (vgl. Mikos 2008 und Ohler 1994). Der Spielfilm bietet dem Publikum ein Spektrum an Rezeptionsmöglichkeiten an, das bei der Darstellung von Ritualen durch narrative Strukturen und filmische Techniken geprägt ist. Es werden filmische Ritualszenarien geschaffen, die auf realweltliche Darstellungen rekurrieren und zugleich über diese hinausgehen, indem sie sie in einer neuen, veränderten Form und Perspektive darstellen. Um die Komplexität filmischer Darstellungen von Ritualen zu verdeutlichen, werden ausgehend von dem kognitiven Prozessmodell der Filmverarbeitung nach Peter Ohler (vgl. 1994: 32 f.), die Kriterien ›generelles Weltwissen‹, ›narratives Wissen‹ und ›Wissen um filmische Darbietungen‹ als Ansatzpunkt der Analyse dienen.14 Sie stehen in enger Verbindung mit der Produktionsästhetik sowie mit den Rezeptionsweisen des Spielfilms und ermöglichen eine systematische Betrachtung der Medienspezifik von Ritualdarstellungen im Spielfilm. Das ›generelle Weltwissen‹ (vgl. Ohler 1994: 34) der Zuschauer/innen stellt eine der Grundlagen der kommunikationstheoretischen Betrachtung von Spielfilmen dar. Es bezeichnet das Wissen um gesellschaftliche Handlungsnormen sowie kulturelle Praktiken und ist vergleichbar mit der Ebene der Präfiguration bei Ricœur (1988: 103): »[E]ine Handlung nachahmen oder darstellen heißt zunächst, ein Vorverständnis vom menschlichen Handeln haben: von seiner Semantik, seiner Symbolik und seiner Zeitlichkeit.« Diese Aspekte des menschlichen Handelns bilden den Unterbau für das Filmverstehen und die Darstellung von Ritualen im Spielfilm. Sie sind Teil des ›generellen Weltwissens‹ und manifestieren sich in kulturell etablierten Plotstrukturen, Handlungsmustern und spezifischen Ritualabläufen. Ritualdarstellungen setzen ›generelles Weltwissen‹ voraus, da in den meisten
14 Für eine einschlägige Behandlung der Themen Filmanalyse und Medienästhetik vgl. Schnell (2000) und Mikos (2008).
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Fällen nur einzelne Ritualelemente oder -sequenzen in fragmentierter Weise das Ritual repräsentieren (vgl. Mikos 2008: 25). Es liegt somit eine bewusste und zum Teil auch unbewusste Leerstellenkonstruktion vor (vgl. Neuß 2002), mit der zugleich eine Betonung bestimmter Ritualelemente einhergeht. Häufig lässt sich beobachten, dass besonders typische oder wiedererkennbare Ritualelemente die ästhetische Inszenierung dominieren. Im Fall von Hochzeiten im Spielfilm zählen dazu z. B. die Darstellung des Brautpaares vor dem Altar, die Ringübergabe oder das Ja-Wort. Die Wahrnehmung von Ritualdarstellungen im Spielfilm basiert auf der Wiedererkennung typischer Ritualelemente; weniger einprägsame Elemente werden bei der Produktion daher oft ausgespart. Eine solche Erkennung von Elementen und Sequenzen wurde von Gladigow (2004: 59 f.) als wichtig für die Ordnung von Ritualen herausgestellt: »Mit dieser Wiedererkennbarkeit [ritueller Elemente] korrespondiert auf der kognitiven Seite das Phänomen der Mustererkennung als komplexe Form von Gestaltwahrnehmung.«15 Bei einem Ritualdesign im Film ergibt sich das Funktionspotential durch die intentionale Veränderung, Adaptierung und Fokalisierung16 des Ritualgeschehens. Die Bedeutungen ritueller Elemente und Sequenzen gehen sowohl auf die Gestaltung von Plotstrukturen als auch auf die Perspektivierung der Ritualdarstellung zurück. Das Ritualdesign ist problemorientiert und fungiert als Mittel, die Erzählung in bestimmten Aspekten voranzutreiben (vgl. Scheuermann 2009: 17). Als Beispiel für Ritualdesign im Spielfilm und die eben beschriebenen Merkmale soll die Inszenierung einer jüdischen Hochzeit in dem Film WEDDING CRASHERS (2005) betrachtet werden. Die Hochzeit dient dort primär als Hintergrundfolie der hedonistischen Lebensweise der zwei Protagonisten, die als ungeladene Gäste, unter falschem Namen, an dem Ritual teilnehmen. Sie wird in erster Linie aus
15 Gladigow (2004: 65) verdeutlicht sowohl eine solche Erkennung von Ritualsequenzen und -elementen als auch eine Binnenstruktur am Beispiel des Tieropfers im Imperium Romanum. 16 Vgl. Kuhn (2011: 123 f.): »Das Konzept der Fokalisierung bezieht sich auf eine relationale Informationsselektion, genauer: Die Informationsrelation zwischen narrativer Instanz und Figur.« Die narrativen Instanzen im Spielfilm lassen sich dabei in visuelle Erzählinstanz (Kameraführung) und sprachliche Erzählinstanz (Figuren, Offsprecher) unterscheiden.
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ihrer Perspektive dargestellt und auf diese Weise zu einer ›Flirtgelegenheit‹ verändert. Es handelt sich um die erste einer Reihe von Hochzeiten, die die Protagonisten zum Kennenlernen von Frauen nutzen. Einer der beiden, der sich im Blickwechsel mit einer blonden Frau befindet, nutzt einen Moment, in dem sie ihm keine Aufmerksamkeit schenkt, um seine Augen zu befeuchten und so Tränen der Gerührtheit vorzutäuschen, welche die Frau kurz darauf angetan wahrnimmt. Zwei rituelle Sequenzen treten als besonders sinnbildlich für das Trauungsritual hervor. Braut und Bräutigam stehen vor dem Rabbi, welcher die beiden im Wechsel anschaut und die Worte verkündet: »I now pronounce you man and wife« (WEDDING CRASHERS 2005). Entsprechend dem jüdischen Brauch zertritt der Bräutigam daraufhin ein in Tuch gehülltes Glas auf dem Boden und das Publikum bricht in »Mazel tov«-Rufe aus (vgl. Stemberger 2006: 92 f.). Interne Fokalisierung und Perspektivierung stellen eine Adaption und Veränderung im Sinne von Ritualdesign dar, die der Hochzeit eine neue Bedeutungsebene als ›Flirtgelegenheit‹ verleihen. In den Vordergrund rückt hierbei der Aspekt der Konstruktion eines bereits etablierten Rituals durch die Produzenten des Films im Sinne Ahns: »[...] ›ritual design‹ deals with the construction of well established rituals (for example, wedding ceremonies)« (Ahn 2011: 604). Filmisches Ritualdesign konstituiert sich in WEDDING CRASHERS nicht zuletzt im Vergleich zu anderen Hochzeitsdarstellungen in Spielfilmen, die das Brautpaar und die Vermählung ins Zentrum rücken. Wie angedeutet, werden diese im besprochenen Beispiel lediglich in zwei kurzen Sequenzen des Rituals gezeigt. Der Großteil des Ritualdesigns befasst sich mit dem Verhalten der Protagonisten, welches dazu dient, die Figuren initial vorzustellen und damit die Erzählung voranzutreiben. Fokalisierung und Perspektivierung von Ritualdesign im Film betreffen neben generellem Weltwissen bereits Aspekte narrativen Wissens. Letzteres bezeichnet Wissensstrukturen, die das Verstehen von Plots, Handlungssequenzen, Charakterschemata, Erzählinstanzen, Dramaturgie und Zeitlichkeit ermöglichen (vgl. Ohler 1994: 37). Die narrativen Kategorien von story-time, discourse-time und narration-time dienen dazu, die Zeitlichkeit einer Ritualdarstellung zu untersuchen. So kann eine Hochzeit auf verschiedene Weise zeitlich dargestellt werden, z. B. als Rückblick, Zukunftsvision, oder Rahmung einer Geschichte (discourse-time). Was in einer Hochzeit gezeigt wird
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und welchen Zeitraum dies umfasst, wird als story-time bezeichnet. Innerrituelle Zeitlichkeit und die zeitliche Verortung des Rituals sind bedeutungsgebend, wie z. B. das provokative ›Ritualverhalten‹ der Protagonisten in WEDDING CRASHERS (2005) und die Platzierung der Hochzeit am Beginn des Films zeigen. Die narration-time hingegen ist außerfilmisch zu verstehen und beschreibt den festgesetzten zeitlichen Rezeptionsrahmen, kurz: die Laufzeit eines Films im Fernsehen oder im Kino (vgl. Nünning/Neumann 2008: 176). Zum narrativen Wissen gehören auch bestimmte Vorstellungen von Genres. Zuschauer/-innen werden während ihrer filmischen Sozialisierung mit Erzählmustern und medienspezifischen Ästhetiken vertraut gemacht, die Filme und ihre Genres ausmachen. Häufig ergibt sich ein dynamisches Genreverständnis, durch das Zuschauer/-innen nach jedem Sehen eines Films neue Vorstellungen über den Typ eines Genres erhalten können (vgl. Mikos 2008: 261–272). Die Konfiguration von Ritualdesign im Spielfilm ist durch kulturell verfügbare Genremuster präfiguriert, wird im Rezeptionsprozess aber stets individuell konkretisiert. Umgekehrt werden Genregrenzen durch die individuellen Vorstellungen der Filmschaffenden und deren Darstellungsintentionen, häufig neu definiert. Hinsichtlich des Wissens um filmische Darbietungsformen kann das Mise-en-Scène-Konzept17 für die Analyse fruchtbar gemacht werden. Dies schließt den rituellen Raum im Film, der durch die Kamera erschlossen wird, die Anordnung der Objekte und die Interaktion der Akteure mit diesen und untereinander, die Farbgebung des Bildes und den Ton ein (vgl. Mikos 2008: 56). Dabei stellt sich die Frage nach der Inszenierung von einzelnen Ritualelementen oder Akteuren im Kontext des dargestellten Rituals. Im behandelten Fallbeispiel werden die Protagonisten zu Beginn der Hochzeitszene gezeigt, wie sie sich unter falschem Namen vorstellen, in eine Synagoge eintreten und sich eine Kippa mit Davidstern aufsetzen. Diese Handlungssequenz verdeutlicht in symbolischer Weise die religiöse Referenz des Rituals, zugleich führt sie in den rituellen Raum der Synagoge ein. Die Belichtung in
17 Bordwell und Thompson definieren dieses Konzept wie folgt: »[… M]iseen-scene includes those aspects that overlap with the art of the theater: setting, lighting, costume, and the behavior of the figures. In controlling the mise-en-scene, the director stages the event for the camera« (Bordwell/ Thompson 1979: 75).
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dieser Szene ist dem Anlass entsprechend sehr hell gehalten; das Brautpaar steht vor einem großen Fenster, durch welches Tageslicht auf sie fällt. Das Fenster ist ebenfalls mit Davidsternen verziert. Die Vertonung, die für die Szene gewählt worden ist, betont zudem die Fokalisierung des Ritualdesigns. So wird die Predigt des Rabbi zu Beginn und am Ende des Rituals hörbar. Während des Rituals wird dagegen ein instrumentales Stück gewählt, das die Suche der Protagonisten nach attraktiven Frauen mit Spannungsbögen unterstützt, wohingegen die Predigt nur gedämpft hörbar ist. Die beschriebenen Aspekte der Mise-en-Scène verdeutlichen die Intentionen der Filmschaffenden und beleuchten einen weiteren Teil der ästhetischen Selektionsstruktur des Ritualdesigns, der stark mit der Kameraführung in Verbindung steht. Die Kamera spielt bei der Darstellung des Rituals eine besondere Rolle, da sie das Hauptinstrument der Inszenierung ist und eine weitere Analyseperspektive eröffnet, die Aspekte der Präfiguration und Konfiguration betrifft, nämlich das ›Wissen um filmische Darbietungsformen‹ (vgl. Ohler 1994: 36). Hierzu gehören die Perspektiven und Bewegungen der Kamera (vgl. Schnell 2000: 108), die Montage (ebd.: 51) und der Schnitt. Im beschriebenen Beispiel dienen Schnitte dazu, den Blickwechsel zwischen den Protagonisten und weiblichen Ritualteilnehmern zu inszenieren. Die Kamerabewegung wird in ähnlicher Weise genutzt, um den suchenden Blick eines Protagonisten für das Publikum nachvollziehbar zu machen. Die genannten Merkmale geben Aufschluss über die affektgenerierenden Tendenzen einer solchen Inszenierung. Über die Repräsentation von Emotionen wird der Hochzeit eine bestimmte Atmosphäre verliehen. Schnelle oder langsame Schnittfolgen schaffen Spannung oder Ruhe, und die Montage dient der Kontinuität des Rituals, die im Fallbeispiel durch die Aneinanderreihung der einzelnen Sequenzen dargestellt wird. Gerahmt wird das Ritual durch die hörbaren Worte des Rabbis am Anfang und am Ende des Rituals (vgl. Mikos 2008: 191–244). In der vorliegenden Analyse konnte gezeigt werden, wie sich Ritualdesign im Film durch die Kriterien ›generellen Weltwissens‹ ›narratives Wissen‹ und ›Wissen um filmische Darbietungsformen‹ nachvollziehen lässt. Dabei fällt die Komplexität ästhetischer Selektionsstrukturen ins Auge, welche neue Reflexionsräume für das Verständnis und die Rezeption von Ritualdesigns im Medium des Spielfilms eröffnet.
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5. F AZIT
UND
AUSBLICK
Hauptziel des vorliegenden Beitrags war es, einen theoretisch-methodischen Bezugsrahmen für die Analyse narrativ-fiktionalen Ritualdesigns zu entwerfen und einige Anwendungsperspektiven im Hinblick auf Romane, Dramentexte und Filme vorzustellen. Zu diesem Zweck wurde narrativ-fiktionales Ritualdesign zunächst als komplexe Mimesis realweltlicher Ritualzusammenhänge konzeptualisiert. Unter Rückgriff auf den dreistufigen Mimesis-Begriff Paul Ricœurs wurde der konstruktive bzw. poietische Charakter von Ritualdesign in verschiedenen Medien profiliert, der aus den Semantisierungen bzw. aus dem Funktionspotenzial formal-ästhetischer Gestaltungsmittel erwächst. Auf diese Weise wird der generellen Entpragmatisierung fiktionaler Alternativwelten Rechnung getragen, die zwar nicht in Opposition zu einer ebenfalls nicht mit dem Alltag zusammenfallenden Ritualwirklichkeit zu setzen sind, in denen die Virtualität und Reflexivität realweltlicher Rituale aber dennoch gesteigert wird. Da der formal-ästhetischen Ebene der narrativ-fiktionalen Konfiguration von Ritualdesign eine spezielle Bedeutung für die Erzeugung alternativer Welten und Reflexionsräume zukommt, wurden anschließend ausgewählte medien- und erzähltheoretische Analysekategorien diskutiert, die für die Untersuchung von Ritualdesign in narrativ-fiktionalen Darstellungen besonders relevant sind. Diese Analysekategorien wurden im Hinblick auf Roman, Dramentext und Film illustriert und appliziert, wobei es sich um skizzenhafte Anwendungsperspektiven handelte, die in auf dieser Grundlage aufbauenden Analysen weiter erprobt werden müssen (vgl. den Beitrag von Antony Pattathu in vorliegendem Band). In diesem Sinne kann das Fazit des vorliegenden Beitrags auf die bisherigen Punkte beschränkt und im Folgenden ein kurzer Ausblick gegeben werden, welche Aspekte bei der weiteren Analyse zu beachten sind und welche Erträge und Anknüpfungspunkte sich für die ritualwissenschaftliche Diskussion ergeben. Ein wesentlicher Ertrag des entwickelten theoretischen und methodischen Bezugsrahmens besteht darin, dass die zum Einsatz gebrachten medien- und erzähltheoretischen Kategorien bzw. der narratologische »Werkzeugkasten« auf verschiedenste mediale Darstellungen von Ritualen und Ritualdesign angewendet werden können. Insbesondere neuere Ansätze der transgenerischen und transmedialen Narratologie bieten ein vielfältiges Instrumentarium, mit dessen Hilfe die Medien-
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ästhetik von Ritualen noch genauer erfasst werden kann. Über die Narratologie lässt sich zudem produktiv an übergeordnete ritualwissenschaftliche Fragestellungen anknüpfen, indem z. B. die Kombination und Selektion von Ritualbausteinen als narratives ›Emplotment‹ auf der Ebene der Geschichte untersucht oder Aspekte der Perspektivierung und (kritischen) Reflexion von Ritualen über die Ebene der erzählerischen Vermittlung und Fokalisierung erschlossen werden kann. Wiewohl sich das vorgestellte Analyseinstrumentarium für die Untersuchung einer großen Bandbreite von Ritualdarstellungen eignet, können die dadurch erhobenen Funktionspotenziale je nach Medium stark differieren. Noch mehr als in dem vorliegenden Beitrag wird in Anschlussstudien daher auf die distinktiven Merkmale beteiligter Medien zu achten sein. Ebenso sollten nicht nur symbolische Aspekte der Medienästhetik, sondern noch stärker auch sozialsystemische Faktoren und materiale Aspekte von Rezeptionsbedingungen untersucht werden.18 Für die Formen und Funktionen narrativ-fiktionalen Ritualdesigns ebenso wie anderer medialer Ritualdarstellungen ist nicht nur die interne formal-ästhetische Struktur von Medien bestimmend, sondern letztlich die Gesamtstruktur medialer Dispositive.
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18 So wäre z. B. zu fragen, ob oder inwiefern die Materialität des Buches eine andere Möglichkeit der diskontinuierlichen oder ›stillstellenden‹ Rezeption und Reflexivität eröffnet als die Rezeptionsbedingungen des Films per Leinwand bzw. Bildschirm und Fernbedienung.
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F ILME WEDDING CRASHERS (2005) (USA, R: David Dobkin).
Ritualdesign im zeitgenössischen Hollywoodfilm Eine rhetorische Perspektivierung am Beispiel von »christlichen« Hochzeitsritualen A NTONY G EORGE P ATTATHU
1. E INLEITUNG : S ONDERFALL R ITUALDESIGN IM S PIELFILM Ritualdesign im Spielfilm bedarf einer gesonderten Betrachtung, da die Darstellung von Ritualen im Spielfilm an medienspezifische Bedingungen geknüpft ist. Dabei handelt es sich zumeist um eine sehr stilisierte und konstruierte Inszenierung, die sich zwar an realweltlichen Ritualen orientiert, dabei aber stets fiktional bleibt. Ahn (2011a und b) folgend bezeichnet Ritualdesign in diesem Beitrag den intentionalen und konstruktiven Charakter von Ritualdarstellungen im Spielfilm und unterscheidet sich dadurch von anderen Formen der Ritualdynamik. Im Vergleich zu Ritualtransformation, welche bereits durch unbewusste Veränderungen entstehen kann, wird Ritualdesign bewusst durchgeführt und hat somit einen intentionalen Charakter (vgl. Ahn 2011a: 603). Ritualdesign ist ein Prozess, bei welchem unter Rekurs auf bereits existierende religiöse oder säkulare Traditionen ein etabliertes Ritual neu konstruiert wird (z. B. Hochzeitsrituale, vgl. Ahn 2011a: 604). Dieses Merkmal grenzt Ritualdesign vom Konzept der Ritualinvention ab, welches Ahn als die Konstruktion völlig neuer Rituale versteht (ebd.). Die Definition über das Kriterium der Intention wurde aus heu-
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ristischen Gründen gewählt, um einer begrifflichen Unschärfe von Ritualdesign entgegen zu wirken. Die Intention muss diskursiv erfasst werden, denn sie wird primär durch Ritualmacher ausgedrückt oder mediiert, wird in einem kollektiven Schaffungsprozess geformt und findet in der Produktion ihre Manifestierung. Daher soll im Folgenden unter Intention keine eindimensionale oder festgeschriebene Absicht verstanden werden, die sich auf eine Person zurückführen lässt, sondern eine mehrschichtige intentionale Prägung, die aus der ästhetischen Selektionsstruktur des Mediums, sowie über Quellen wie Interviews und Paratexte ableitbar wird (vgl. Rupp/Brankoviü/Pattathu im vorliegenden Band). Die Analyse eines Ritualdesigns im Film kann somit Rezeptionsmöglichkeiten herausstellen, die zugleich intendierte Wirkungen der Darstellung offenlegen und die intentionale Prägung der Darstellung auf einer interpretativen Ebene erfassbar machen. Die Bestimmung, dass es sich bei Darstellungen von Ritualen in einem Spielfilm um Ritualdesign handelt, kann auf zwei Ebenen vorgenommen werden: Auf der innerfilmischen Ebene, welche die Perspektiven der Figuren im Film und den Plot berücksichtigt, und auf der außerfilmischen Ebene, welche den Film als Ergebnis eines Produktionsprozesses betrachtet und diesen widerspiegelt (vgl. Ahn 2011b). Um von Ritualdesign im Spielfilm sprechen zu können, muss auf außerfilmischer oder innerfilmischer Ebene eine intentionale Gestaltung eines bereits etablierten Rituals nachweisbar sein. Die Ritualdarstellungen werden am Reißbrett geplant, sie sind im Drehbuch beschrieben und die Darstellungsmöglichkeiten werden durch ein Budget beschränkt und letztlich auch durch die Personen, die am Schaffungsprozess teilnehmen. Ihre Fähigkeiten und ihr Unvermögen begrenzen den Raum der Möglichkeiten für eine Ritualdarstellung im Spielfilm. Aufgrund dieses mehrschichtigen Schaffensprozesses, der verschiedene Intentionen zu einem Produkt vereint, kann man von einer außerfilmischen Betrachtungsweise ausgehend häufig von Ritualdesign sprechen. Geht es um konventionelle Rituale wie Hochzeiten, so können sich die Macher am Gesamtkanon existierender Hochzeitsrituale und -traditionen bedienen, der ihnen zur Verfügung steht. Um ein Ritual zu designen, welches ihren Intentionen entspricht und sich in die erzählte Geschichte einfügt, wählen sie die Elemente, die ihrem Zweck dienlich sind.
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Die Betrachtung der innerfilmischen Ebene hingegen weist oft negative Indikatoren für Ritualdesign auf, da Figuren so dargestellt werden, als würden sie an konventionellen Ritualen (z. B. Hochzeit, Taufe, Bestattung etc.) teilnehmen, die keine intendierten Veränderungen aufweisen. Lassen sich innerhalb der Narration Hinweise auf eine intentionale Umkonstruktion des Rituals durch die Figuren finden oder aus der Erzählung ableiten, so liegt auch hier Ritualdesign im oben genannten Sinne vor (vgl. Ahn 2011b: 614). Ritualdesign stellt in dieser medienspezifischen Darstellungsweise einen Spiegel gesellschaftlicher Praktiken und eine Quelle für Bedeutungsproduktion dar, die bisher nahezu keine Beachtung gefunden hat.1 Im Spielfilm ist die Schwelle zwischen Fiktionalem und Realem zu einer durchlässigen Begrenzung geworden, wodurch die unterbewussten Auswirkungen durch den Spielfilm größer sind, als die meisten Rezipienten sich eingestehen wollen (vgl. Koch/Voss 2009: 7 f.). Durch diese Beeinflussung, die auch bewusst erfolgen kann, speisen sich die Vorstellungen, die Menschen von Ritualen haben, somit auch aus den narrativ-fiktionalen Darstellungen von Ritualen in Spielfilmen. The person sitting in the movie house or in front of the TV screen is the same person who worships and weds. The attitudes carried to ritual scenes are carried from the cinematic scenes. (Grimes 2006: 40, Herv. i. O.)
Der folgende Beitrag möchte sich auf Grundlage der bereits skizzenhaften Aufarbeitung der Medienästhetik des Ritualdesigns von narrativ-fiktionalen Darstellungen (vgl. Rupp/Brankoviü/Pattathu im vorliegenden Band) explizit dem Ritualdesign im zeitgenössischen Spielfilm widmen. Es stellt sich nicht nur die Frage, bei welchen Fallbeispielen im Spielfilm von Ritualdesign zu sprechen ist, sondern auch, auf welche Weise bestimmte Wirkungen auf die Zuschauer bereits im Ritualdesign angelegt sind, beziehungsweise welche intentionalen Prägungen in der Darstellung zu erkennen sind. Es geht dabei um die Umsetzung von Intentionen im Medium, die der folgende Beitrag in ihren unterschiedlichen Funktionen und Intensitäten untersuchen möchte. Die Rhetorik bietet ein Instrumentarium zur Untersuchung von Wirkungsweisen an, das auf Ritualdesign im Spielfilm angewendet werden kann und hier als methodologischer Zugang vorgestellt werden
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Eine Ausnahme bildet Ahn (2011b).
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soll. Wirkungsweisen stellen dabei keine festgeschriebenen Gesetze dar, sondern benennen eine Zielgerichtetheit, die in den Affekttechniken des Filmes sichtbar wird. Die Anwendung des rhetorischen Instrumentariums ermöglicht es, die Intentionen durch die im Medium angelegten Wirkungsweisen herauszustellen und genauer zu betrachten. Um jedoch der Spezifik des Mediums Spielfilm gerecht zu werden und die audiovisuelle Ebene sowie die Techniken des Filmes einbeziehen zu können, müssen die Intentionen durch das Konzept der Wirkungsintentionalität gefasst werden, welches in seiner kommunikationstheoretischen Prägung eingehend vorgestellt wird. Am Beispiel des Designs der Hochzeit im Film ARMAGEDDON (1998) wird eine weitere Differenzierung der Wirkungsintentionalität über rhetorische Mittel vorgenommen, um die verschiedenen Manifestationen und Eigenschaften der im Beispiel vorliegenden Intentionen zu verdeutlichen. Durch die Betrachtung der medienspezifischen ästhetischen Struktur des Designs können Rezeptionsmöglichkeiten aufgezeigt werden. Diese stellen einen entscheidenden Einflussfaktor für die Bedeutungsproduktion dar und fungieren zugleich als Indikatoren für den Prozesscharakter und die Intentionen im Kontext von Ritualdesign.
2. I NTENTIONEN UND P ROZESSCHARAKTER IM K ONTEXT VON R ITUALDESIGN IM S PIELFILM Ritualdesign zeichnet sich durch einen stark konstruktiven Charakter aus, der bereits im Spielfilm selbst angelegt ist. Als Medium der Kommunikation ist der Film darauf ausgelegt, dem Zuschauer Inhalte zu vermitteln und ihn von diesen zu überzeugen oder ihn zu unterhalten. Diese grundlegende Intention bezeichnet das kommunikative Verhältnis von Filmschaffenden, Medium und Adressat (vgl. Mikos 2008). In diesem Kontext ist Ritualdesign eine Form der Ritualdarstellung, die in ihrer Struktur die Intentionen der Filmschaffenden abbildet und verschiedene Bedeutungsangebote an den Zuschauer liefert, die in der Kontextualisierung durch die filmische Handlung und Technik angelegt sind. Implizit oder explizit rekurrieren Ritualdesigns im Spielfilm auf realweltliche Pendants. Hierbei stellen sie nie eine exakte Abbildung der Realität dar, sondern komplexe Repräsentationen mit eigenen Ge-
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setzmäßigkeiten, die durch Schnitte, Kameraeinstellungen/-bewegungen, Musik und die Darstellung der Schauspieler zustande kommen. Die narrativ-fiktionale Darstellung von Ritualdesign im Spielfilm ist »ästhetische Fiktion« (Koch 2009: 141), die sich auf das Denken und Fühlen der Rezipienten auswirken kann und in spezifischer Weise eine innere Kohärenz bildet, sowie einen Wahrheitsanspruch des Gezeigten stellt (vgl. ebd.). Es ist der Versuch und die Grundintention der Filmschaffenden, solche »ästhetischen Fiktionen« in der Form von Ritualdesigns zu verwirklichen, so dass die erzählerische und visuelle Fiktion dem Zuschauer die Möglichkeit gibt, das Gezeigte auf einer sensorischen und emotionalen Ebene mitzuerleben. Das Verständnis von Intentionen, die im Kontext von Ritualdesign im Spielfilm eine Rolle spielen, bezieht sich somit auch auf die Spezifik des Mediums, die »ästhetische Fiktionen« ermöglicht. Intentionen müssen auf der inner- oder außerfilmischen Ebene (siehe Einleitung) nachvollziehbar sein, um überhaupt von Ritualdesign sprechen zu können. Dazu muss der prozesshafte Charakter von Ritualdesign stärker fokussiert werden, da er deutlich macht, in welcher Weise die innerund außerfilmische Ebene zusammenwirken und betrachtet werden müssen. Um dies methodisch zu ermöglichen, knüpft die vorliegende Argumentation an den Designbegriff nach Scheuermann (2009) an. Ritualdesign im Spielfilm wird somit zusätzlich als zielgerichtete, problemorientierte kulturelle Praxis verstanden, an der […] zugleich die Gesellschaft und einzelne Akteure wie Objekte und Pragmatiken beteiligt sind: Gestalter, Rezipienten und gestaltete Objekte sind genauso wie der Prozess des Gestaltens selbst Teil von ›Design‹. (Scheuermann 2009: 17)
Mit dieser Definition steht Ritualdesign im Spielfilm im Nexus von Theorie und Praxis; der Produktionsprozess rückt in den Fokus, aber auch die Produzenten, Rezipienten und Produkte. Jedes identifizierte Ritualdesign gilt als Ergebnis einer Produktion und kann als praxisorientierte Vorlage für die Konstruktion eines neuen Ritualdesigns genutzt werden. Diese Aspekte erfordern eine detaillierte Analyse der einzelnen Komponenten, die das Ritualdesign im Spielfilm ausmachen, und sie sind dazu dienlich, den Prozesscharakter des Designs auf inner- und außerfilmischer Ebene abzuleiten.
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Der Prozesscharakter lässt sich zum einen aus dem Gegenstand selbst ableiten und wird ein weiterer Gesichtspunkt der Untersuchung: Kamerabewegungen und -einstellungen sind nicht nur Teil des Produktes ›Ritualdesign im Spielfilm‹ sondern auch Indikatoren des Prozesses und der Intentionen. Einer Kamerabewegung liegt in diesem Sinne beispielsweise die Intention zu Grunde, einer Figur zu folgen und deren Präsenz somit zu betonen. Zum anderen dienen paratextuelle Elemente wie ›Making-ofs‹, Drehbuchskripte oder Interviews mit Schauspielern und Filmschaffenden als außerfilmische Indizien für den Designprozess. Die kommunikationstheoretische Konzeption des Spielfilms prägt die Art und Weise, wie sich Prozesscharakter und Intentionen im Ritualdesign ästhetisch und strukturell manifestieren. In Anlehnung an Peter Ohlers Konzept des kognitiven Prozessmodells der Filmverarbeitung (1994), wird ein analytischer Zugang zu Intentionen und Prozesscharakter im Kontext von Ritualdesign im Spielfilm über eine kommunikationstheoretische Sichtweise möglich. Diese konstituiert sich hier durch die drei analytischen Kriterien ›generelles Weltwissen‹, ›narratives Wissen‹ und ›Wissen um filmische Darbietungsformen‹ (vgl. Ohler 1994: 32). Rezeption und Konstruktion des Filmes sind eng verzahnt mit diesen Kategorien, die miteinander verknüpft sind und aufeinander aufbauen. Das ›generelle Weltwissen‹, welches das Vorwissen über die im Film dargestellten Handlungen beschreibt und auf den Lebenserfahrungen der Rezipienten oder Produzenten beruht, bildet dabei die Basis. Es ist Ausgangspunkt und Orientierung, um bei Filmproduktionen Ritualdesigns zu kreieren. Gleichzeitig ist es die Grundlage für den Zuschauer, die ihm das Filmverstehen ermöglicht. In der Darstellung von Handlungsverläufen impliziert der Film »Leerstellen« (vgl. Neuß 2002), die der Zuschauer während der Rezeption durch sein ›generelles Weltwissen‹ ergänzen muss. Die »Leerstellen« führen dazu, dass die gezeigten Elemente eine besondere Betonung erhalten. Ritualdesigns zeichnen sich demnach durch ikonische Ritualbausteine aus, deren Funktion sich über die Bedeutungsrelation erklären lässt, die zwischen filmischen und realweltlichen Ritualelementen besteht. Diese Bedeutungsrelationen lassen sich als ›Codes‹ verstehen, und zwar als Teil einer außerfilmischen entstehenden ›Ikonologie‹, die Produzenten und Rezipienten von Filmen gemeinsam ist und sich im Vorgang der treffenden Deno-
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tation eines Bildes bewährt, ebenso wie als Vermögen der ›Perzeption‹, etwa in Form von visuellen Gewohnheiten, Raum- und Zeitwahrnehmungen oder auditiven Strukturen. (Schnell 2000: 174)
Nach dieser Ansicht speisen sich fiktionale Ritualdesigns aus einzelnen Ritualelementen, die durch den Film stilisiert werden und durch ihre Relation zu realweltlichen Pendants eine ikonische Funktion erhalten können. Der Zuschauer wird in seiner filmischen Sozialisation immer wieder mit bestimmten stilisierenden Ritualelementen konfrontiert, die somit für ihn eine verstärkte ikonische Funktion haben, da sich ihr Bild perzeptorisch verfestigt. Für Hochzeiten sind solche ikonischen Elemente beispielsweise das Eheversprechen, die Ringübergabe oder der Kuss des Brautpaars. Zusätzlich basiert der Film auf dem ›narrativen Wissen‹. Dieser Begriff bezieht sich auf die Plotkonstruktionen verschiedener Spielfilmgenres und die narrativen Strukturen des Spielfilms. Rollenverteilung, aber auch die narrative Vorstrukturierung durch das Genre müssen hier berücksichtigt werden (vgl. Langford 2005). In Bezug auf Ritualdesigns von Hochzeiten, sind hiermit beispielsweise Narrationsmuster gemeint, in denen Ritualelemente in einem bestimmten Handlungsverlauf gezeigt werden (vgl. Ohler 1994: 34). So wird der Hochzeitskuss üblicher Weise nach dem Eheversprechen gezeigt. Das ›Wissen um filmische Darbietungsformen‹ charakterisiert die Art und Weise wie Narrative des Spielfilms basierend auf dem ›generellen Weltwissen‹ und ›narrativen Wissen‹ technisch umgesetzt werden. Einstellungsgröße, Filmperspektivik und Filmtechniken wie Spezialeffekte sind nur einige Beispiele (Ohler 1994: 36 f.). Die Untersuchung der Nahaufnahme von ikonischen Ritualelementen, wie dem Hochzeitskuss, ist eine Möglichkeit der Applikation dieses Analysekriteriums. Betonung und Ästhetik des küssenden Brautpaars wird in der Produktion intentional eingesetzt, um die Aufmerksamkeit des Zuschauers zu leiten. Die drei Kriterien ›generelles Weltwissen‹, ›narratives Wissen‹ und ›Wissen um filmische Darbietungsformen‹ stellen einen Analyserahmen dar, der gleichzeitig grundlegende Aspekte des Filmverstehens und der Filmproduktion erklärt, den prozesshaften Charakter von Ritualdesign als zielgerichtete, kulturelle Praxis verdeutlicht und Möglichkeiten aufzeigt, wie intentionale Prägungen aus dem Medium hergeleitet werden können. Rhetorische Kategorien hingegen bieten in diesem
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Analyserahmen einen weiter vertiefenden Zugang zur Untersuchung und dienen dazu, verschiedene Formen der Intention in der innerfilmischen und außerfilmischen Gestaltung in ihren unterschiedlichen Intensitätsformen zu verdeutlichen.
3. R HETORISCHE P ERSPEKTIVIERUNG VON R ITUALDESIGN IM S PIELFILM Der folgende Abschnitt will aufzeigen, wie eine rhetorische Perspektivierung des Ritualdesigns im Spielfilm eine Differenzierung der im Kontext von Ritualdesign vorhandenen Intentionen ermöglicht, somit also zu einem besseren Verständnis von Ritualdesign führt und deutlich macht, welche Bedeutungsebenen sich hinter dem unscharfen Begriff der Intention verbergen. Dazu wird zunächst systematisch dargestellt, welches Konzept von Rhetorik vorausgesetzt wird, um es dann in adaptiver Weise zu übertragen. Forschungsgeschichtlich gibt es bereits eine Fülle an Untersuchungen, die die Rhetorik auf den Film beziehen (vgl. Chatman 1990, Blakesley 2004, Bordwell 1989 und Kanzog 2001). Dabei beschäftigen sich diese Ansätze mit Rhetorik im allgemeinsprachlichen, narratologischen oder metaphorischen Sinne oder kombinieren sie mit einem linguistischen oder semiotischen Ansatz. Für diesen Beitrag ist jedoch die Beschäftigung mit den Wirkungsweisen der Rhetorik im klassischen Sinne entscheidend. Die Rhetorik wird als ars bene discendi, die Kunst des guten Redens, des guten Textes definiert. Hierbei liegt die Gewichtung der Rhetorik auf dem ›guten‹ Reden, was sowohl moralische als auch ästhetische Beweggründe impliziert und im Vergleich zur Grammatik nicht immer das korrekte Reden nach Regeln in den Vordergrund stellt (vgl. Lausberg 2008: 40). Öffentliches Leben und ethisch-politische Bedingungen stellen den Anwendungsbereich der Rhetorik dar. Die primäre und definierende Rolle der Rhetorik liegt im Überzeugen und Überreden. (vgl. ebd.: 41). Übertragen auf Ritualdesign im Spielfilm muss in der rhetorischen Perspektivierung der dargestellte lebensweltliche Kontext in Rückbezug zu seinem realweltlichen Pendant untersucht werden, um mögliche Intentionen und Wirkungsweisen herauszustellen. Die Bedingungen, die durch das Genre für die Darstellung des lebensweltlichen Kontex-
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tes gegeben sind, sowie die narratologischen Strategien innerhalb der Handlung, sind ebenso entscheidend dafür. Techniken und Methodiken des Filmes dienen dazu, die rhetorische Funktion, die im Überzeugen liegt, umzusetzen. Die Produzenten eines Filmes versuchen den Zuschauer durch den Spielfilm wirkungsvoll zu adressieren und in einem weiter gefassten Sinne von dem Gezeigten zu überzeugen. Das Filmerlebnis wird im Sinne der rhetorischen Theorie als Wirkung der eingesetzten Mittel begriffen. Diese Wirkung ist es, die den Film vom reinen Kunstwerk unterscheidet und den rhetorischen Ansatz zugleich rechtfertigt. (Schanze 2006: 279, Herv. i. O.)
In diesem Kontext treten speziell die erprobten Methoden und Techniken von überzeugenden Filmkonzepten in den Vordergrund der Industrie, wie sich am gegenwärtigen Hollywoodkino zeigt (vgl. Blanchet 2003). Aufbauend auf dem triadischen Kommunikationskonzept von Sender, Medium und Adressat, lässt sich eine weitere Grundlage für ein rhetorisches Verständnis des Ritualdesigns im Spielfilm erklären. Bereits Aristoteles’ Rhetorik basiert auf den drei genera: rhetor (Redner), Medium (Redegegenstand) und Adressat (Zuhörer) (vgl. Sieveke 4 1993: 20 f.). Die Analogie zwischen den drei genera und dem triadischen Kommunikationskonzept stellt die Basis für ein kommunikationstheoretisches und rhetorisches Verständnis von Spielfilm dar und wird von Joost als Hauptargumentation für ihre Filmrhetorik angeführt (vgl. Joost 2008: 31). Ausgangspunkt der Trias ist der rhetor. Er muss für die Betrachtung von Ritualdesign im Spielfilm in einem erweiterten Feld verortet werden. Die Produktion eines Spielfilmes benötigt ein ganzes Team aus Filmschaffenden, die an dem Prozess der Inszenierung und Edierung beteiligt sind. Wenn auch der Regisseur oft in der Rolle des Autors gesehen wird (evident wird dies z. B. durch die Genrekategorie des Autorenkinos), so wäre es ein Trugschluss, ihm allein die Rolle des rhetors zuzuschreiben. Er muss als Teil einer rhetor-Funktion verstanden werden. Dies bedeutet, dass man ihm nicht die alleinige Autorenschaft zuspricht und zusätzlich die anderen beteiligten Aspekte und Personen berücksichtigt (vgl. Scheuermann 2009: 26 f.). Aufbauend auf die kommunikative Trias ist das Ziel der Rhetorik die persuasio, das Überzeugen durch die Rede, die mit der Gewinnung
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des Publikums einhergeht. Der Begriff der persuasio darf aber im Rahmen einer rhetorischen Betrachtung von Ritualdesign im Spielfilm nicht zu eng gefasst werden und muss in seinem Verständnis auf den Begriff der Wirkungsintentionalität erweitert werden. Wirkungsintentionalität bezeichnet im Sinne der rhetorischen Kommunikation eine intendierte Wirkung beim Adressaten, die sich aus der ästhetischen Struktur, welche sich durch die Techniken, Kodierungen und Inhalte des Filmes ausdrückt, ableiten lässt. Dabei wird nicht von einer Überzeugung des Adressaten im engeren Sinne ausgegangen, sondern es handelt sich um eine Generierung und Lenkung von Aufmerksamkeit und Affekten (vgl. Joost 2008: 30 f.). Für die Realisierung der Wirkungsintentionalität im Spielfilm werden u. a. Affekttechniken angewendet. Diese sind im Medium manifestiert und können durch rhetorische Mittel verstanden und differenziert werden. Sie dienen insbesondere der Emotionsgenerierung beim Rezipienten oder dazu, bestimmte emotionale Muster zu vermitteln. In regelgeleiteten Techniken und Darstellungsweisen des Films, beispielsweise im Schnitt und der Kameraführung, werden sie sichtbar und können im Rahmen von verschiedenen Filmgenres variieren. Affekttechniken lassen sich in repräsentative und präsentative Affekttechniken unterscheiden. Die Wirkung repräsentativer Affekttechniken erfolgt durch den Inhalt des Mediums, wohingegen die präsentativen Affekttechniken durch das Medium selbst induziert werden. Die Unterscheidung lässt sich am Beispiel der auditiven Elemente des Films demonstrieren. Der Klang von Streichern und einem Klavier, die das Eheversprechen des Brautpaars im Film A WALK TO REMEMBER (2002) untermalen, stellt ein Beispiel für präsentative Affekttechnik dar. Die Musik, deren Melodie und Rhythmus die Stimmung der Szene kreieren und dafür gewählt worden sind, hat dabei eine direkte Wirkung auf den Zuschauer. Bei einem geschulten ›Wissen um filmische Darbietungsformen‹ wird klar, dass diese Musik ihren Ursprung nicht im Bild selbst hat, da sie mit dem Sprechen der Protagonisten leiser und im Anschluss wieder lauter wird. Die repräsentative Wirkung stellt sich durch das gesprochene Eheversprechen ein. Beide Protagonisten sind beim Sprechen abwechselnd zu sehen. Die Worte des Brautpaars wirken auf repräsentative Weise in Kombination mit ihrer Gestik, Mimik und dem setting. Repräsentative und präsentative Affekttechniken wirken im Spielfilm in den meisten Fällen in kombinierter Weise, wie hier in der Kombi-
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nation von Musik und Dialog zu sehen ist (vgl. Scheuermann 2009: 54 f.). Der Ausschnitt des Eheversprechens weist in der Analyse eindeutige Merkmale einer intentionalen Konstruktion des Rituals auf außerfilmischer Ebene auf. Die Betonung, die durch die Anpassung der Musik an den Dialog gesetzt wird, stellt eine wirkungsintentionale Lenkung der Aufmerksamkeit des Zuschauers dar. Es kann hier nicht von einem einfachen Ritualtransfer (vgl. Langer et al. 2006) in ein anderes Medium gesprochen werden, da das Ritual im Sinne der Narration und Affektgenerierung konstruiert wird. Die rhetorische Perspektivierung von Ritualdesign im Spielfilm wird somit zentral über die Wirkungsintentionalität vorgenommen, welche sich durch die präsentativen und repräsentativen Affekttechniken in der ästhetischen Struktur des Filmes ausdrückt und über bereits vorgestellte Analysekriterien ermittelt werden kann. Das weiterführende Potential der rhetorischen Betrachtung liegt dabei jedoch in der Ausdifferenzierung der Wirkungsintentionalität durch die rhetorischen Mittel und Wirkungsfunktionen. Diese werden im folgenden Abschnitt vorgestellt. 3. 1 Die Ebenen der Wirkungsintentionalität Die persuasio im Sinne der Wirkungsintentionalität wird für das Ritualdesign im Spielfilm auf verschiedenen Ebenen sichtbar, die sich durch die Wirkungsfunktionen und rhetorischen Mittel aufschlüsseln lassen. Zu diesem Zweck werden im Folgenden die drei Wirkungsfunktionen docere (lehren), delectare (erfreuen), movere (bewegen) und ihre Mittel (logos, ethos, pathos) aus der klassischen Rhetorik erklärt und auf das Ritualdesign im Spielfilm übertragen. Diese Mittel ermöglichen es, die verschiedenen Ebenen und Gewichtungen von Intentionen bei einem Ritualdesign differenzierter aufzuzeigen und bieten somit das Instrumentarium, um über eine einfache Bestimmung von Ritualdesign als intentionaler Prozess hinauszugehen. Das docere ist der intellektuelle Weg der Überzeugung durch Argumentationen (logos) und spiegelt sich vor allem in der Nachvollziehbarkeit der Narration und des Inhaltes wider, daher gilt es auch als nahezu affektloses Mittel. Delectare ist die Sympathiegewinnung für den Redner und den Redegegenstand und bedient sich der sanften Affektmittel, die eine dauerhafte Wirkung haben und als ethos bezeichnet werden. Mit dem
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movere bezeichnet man die Erregung durch starke Affekte, die auf Emotionen des Publikums abzielen (pathos). Dabei werden spektakuläre Mittel verwendet, die nicht unbedingt nur in der Rede verankert sein müssen, z. B. die blutbefleckte Kleidung eines Ermordeten, die bei der Rede in einem Mordprozess vorgezeigt wird (vgl. Lausberg 2008:140 f.). Bezieht man diese Wirkungsfunktionen und rhetorischen Mittel auf das Ritualdesign im Spielfilm, so geht es im Falle des delectare um die Realisierung des ethos, die Glaubwürdigkeit für die Ritualdarstellung an sich, die mit der Sympathie für die Figuren, die am Ritual teilhaben oder mit dem Ritual in Verbindung stehen, einhergeht. Das Ritualdesign muss so konzipiert sein, dass ausreichend viele und überzeugende Identifikationsmerkmale für den Zuschauer abgebildet werden, so dass dieser am Ritual Anteil nimmt und es im besten Falle auch als authentisch wahrnimmt. Die Identifikationsmöglichkeiten werden dabei bereits über die Kamera vorgegeben. Beispielhaft für solche dominanten, ikonischen Identifikationen sind Nahaufnahmen von Personen, die durch ihre Mimik und Gestik sowie ihren Dialog bestimmte emotionale Haltungen vermitteln. Diese Form der Darstellung von einzelnen Figuren kann als Mikroebene des ethos bezeichnet werden, wohingegen die Charakterentfaltung einer Figur im Laufe einer filmischen Narration als ethos im Sinne einer Makroebene verstanden werden kann. Zusätzlich kann das ethos des Films an sich berücksichtigt werden, die Glaubhaftigkeit des Regisseurs sowie der Schauspieler und des Filmstoffes (vgl. Joost 2008: 116). Die Bewegtheit (movere) des Publikums wird durch das Mittel des pathos umgesetzt und ist bei der Untersuchung eines Ritualdesigns im Film von besonderer Wichtigkeit, da das Ritual an sich bereits eine pathetische Stoßrichtung vorgeben kann. Eine Hochzeit wird in diesem Sinne meist als ein positiv konnotiertes Ereignis dargestellt, wohingegen ein Bestattungsritual meist eine traurige Stimmung vermittelt.2 Ferner spielt die thematische Grundausrichtung des Filmes für das pathos des Rituals eine entscheidende Rolle. So können Hochzeiten in einigen Fällen eher für die Inszenierung der Komik dienen als per se
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Hierbei ist anzumerken, dass die Stimmung des Rituals im Kontext des Plots zum generellen Verständnis der beiden Ritualtypen als Trauerritual oder positiv konnotiertes Ritual quergestellt sein kann (z. B. im Fall einer Zwangshochzeit).
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mitfühlende, romantische Funktionen im Sinne des pathos zu erzeugen (vgl. ebd.: 124 f.). Wie in der klassischen Rhetorik beschrieben, ist die Grenze zum überschwänglichen pathos fließend, und so müssen sich Spielfilme zunehmend der Kritik stellen, zu pathetisch zu sein und damit ins Lächerliche abzurutschen.3 So ist es durchaus möglich, dass einige Zuschauer das Trauungsritual aus dem Film A WALK TO REMEMBER (2002) aufgrund der Inszenierung als zu pathetisch bewerten. Pathos ist zunehmend zum Leitmotiv der Filmindustrie geworden, es stellt das stärkste der Überzeugungsmittel dar, um das Publikum auf seine Seite zu ziehen und zu bewegen. Das Ende der Rede ist dabei die wichtigste Positionierung pathetischer Elemente (vgl. Ueding 2005: 77). Ob Hochzeitsrituale in romantisch-tragischen Filmen (vgl. A WALK TO REMEMBER 2002) oder Bestattungen in autobiographischen Filmen (vgl. MAN ON THE MOON 1999), solche Ritualdesigns besitzen ein besonders intensives pathos wenn sie zum Ende des Filmes gezeigt werden. Der nächste Abschnitt soll aufzeigen, in welcher Weise sich die rhetorischen Mittel und damit einhergehenden Wirkungsfunktionen am Beispiel eines Hochzeitsritualdesigns analysieren lassen. Dabei werden die Kriterien der Analyse angewendet, um abschließend deutlich zu machen, wie die Wirkungsintentionalität bei einem Ritualdesigns im Spielfilm als rhetorisch verfasst verstanden werden kann. Die rhetorischen Mittel dienen dazu, die Formen und Intensitätsgrade der Intentionen des Ritualdesigns aufzuzeigen. 3. 2 Ritualdesign am Beispiel der Hochzeitsinszenierung im Film ARMAGEDDON Ein Ritualdesign, das zugleich beispielhaft verdeutlicht, wie das pathos zum Ende hin effektvoll positioniert wird und wie Wirkungsfunktionen von pathos und ethos im Spielfilm auf kumulative Weise zusammengeführt werden, wird im Katastrophenfilm ARMAGEDDON (1998) gezeigt. Dieses Ritualdesign bietet ein besonders gutes Beispiel für die Anwendung der rhetorischen Perspektive, da es in extrem verdichteter Form dargestellt wird und deutlich macht, wie die Wirkungsintentionalität über die verschiedenen rhetorischen Mittel nachgewie-
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Zu den rezenten Problematiken mit pathos in filmischen Darstellungen vgl. Schanze (2006).
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sen werden kann. Dabei handelt es sich um ein Hochzeitsritual, das dem Zuschauer in Kombination mit der Einblendung des Abspanns am Ende des Filmes vorgeführt wird. Um die Wirkungsweise deutlich zu machen, muss zuvor kurz in die Handlung eingeführt werden: Die Erde wird durch den baldigen Aufprall eines Asteroiden bedroht. Die NASA sendet zwei Spaceshuttles zu dem herannahenden Asteroiden, um ihn rechtzeitig zu sprengen. Harry Stamper (Bruce Willis) und sein Ziehsohn A. J. Frost (Ben Affleck) werden als Leiter der beiden Shuttleteams auserkoren. Kurz vor der Mission deckt Harry die bisher geheim gehaltene Beziehung zwischen A. J. und seiner Tochter Grace (Liv Tylor) auf. Die Beziehung zwischen Harry und A. J. ist von nun an gespalten. Am Ende des Filmes versagt der Zeitzünder für die Sprengladung und A. J. wird ausgelost, die Zündung zu aktivieren und somit sein Leben zu opfern. Doch Harry überlistet ihn und übernimmt diese Aufgabe und verabschiedet sich mit folgenden Worten von A. J.: »You go, take care of my little girl now, that’s your job. I always thought of you as a son, always. I’d be damn proud to have you married Grace. You take care of yourself. I love you boy.« (vgl. ARMAGEDDON 1998) Nach ihrer Rückkehr werden die Überlebenden der Mission als Retter der Welt gefeiert und die Hochzeit von A. J. und Grace findet statt. Teile des Abspanns werden bereits während der Hochzeitszene eingeblendet und gehen dann in den eigentlichen Abspann über. Die folgende Beschreibung dieser Szene wird mit römischen Ziffern in bestimmte rhetorische Komponenten und Sequenzen unterteilt, die nachfolgend analysiert werden. I.) Die Kamera fährt aus einer Froschperspektive auf die Kirchendecke gerichtet in die Kirche ein, bis sie in leichter Untersicht (auf Höhe der Kirchenbänke) den Blick des Zuschauers auf das in weiß geschmückte Interieur der Kirche und A. J. und Grace vor dem Altar lenkt. II.) Kurz vor dieser Kamerafahrt setzt der Titelsong des Filmes »I don’t want to miss a thing« der Band Aerosmith ein und begleitet die Szene und den Abspann. III.) Eine Nahaufnahme von Graces Gesicht, mit Brautschleier bekleidet, folgt. Nach einem weiteren Schnitt zeigt die Kamera dann die erste Reihe der Besucher, unter welchen die überlebenden Mitglieder der Shuttleteams sitzen und die Verstorbenen der Mission, in Form von lebensgroßen Portraitfotos in Astronautenmontur, einen Ehrenplatz bekommen haben. Die Kamera verweilt dabei für einen sehr kurzen Moment auf Harrys Bild. IV.) Es gibt einen
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weiteren Schnitt und Grace und A. J. werden beim Hochzeitskuss vor dem Altar gezeigt. Der Rest der Hochzeit wird in Form von Erinnerungsclips in einer leichten Sepiafärbung dargestellt, die rechts und links neben dem in der Mitte des Bildes laufenden Abspann weiter eingeblendet werden. Ad I.) Die langsame Kamerafahrt am Anfang, die den Zuschauer in den rituellen Raum der Kirche einführt und so die Szenerie eröffnet, kann im Kontext des logos verortet werden. Es ist die Hinführung im Sinne einer nahezu affektlosen Argumentation. Dabei ist das Dach der Kirche ein erstes Indiz für das, was folgt und am Ende der Kamerafahrt sichtbar wird. Der Zuschauer wird mit dem festlich geschmückten Innenraum der Kirche vertraut gemacht, hierbei werden im Zentrum des Bildes die ersten Abspannpositionen eingeblendet. Weiße Blumen, Kirchenkronleuchter und kleinere Blumengestecke mit weißen Schleifen und brennenden Kerzen an den Kirchenbänken sind deutlich erkennbar und stellen ein Teil des ethos für das Ritualdesign dar. Die Einstellung am Ende der Kamerafahrt mit A. J. und Grace unter einem mit weißen Blumen und Grün geschmückten Hochzeitsbogen vor dem Altar, sowie ein in weiß gekleidetes Blumenkind zur Seite von Grace stellen ebenso Elemente zur Bekräftigung des Ritualdesigns dar, die gleichzeitig auf ästhetische Weise Identifikationsmöglichkeiten für den Zuschauer liefern. Auffällig bei dieser Einstellung ist, dass auf das Einblenden einer weiteren Abspannposition vorerst verzichtet wird. Der Abspann wird auf diese Weise instrumentalisiert, um Betonungen zu setzen. Das ethos des Rituals an sich wird durch das ethos der Charaktere Grace und A. J. gestützt und fließt mit dem pathos des freudigen Ereignisses der Hochzeit zusammen. In dieser Sequenz wird auch die religiöse Referenz der Hochzeit, welche durch ein großes Kreuz im Hintergrund des Altars als christlich ausgewiesen werden kann, ersichtlich. Es handelt sich bei der Kirche um die St. Brendan Catholic Church.4 Spezifizieren lässt sich die christliche Referenz in Bezug auf das Ritualdesign jedoch nicht weiter, da keine Anspielungen auf den konfessionellen Hintergrund der Charaktere gemacht werden und das katholische setting innerfilmisch nicht verifiziert werden kann. Dennoch dient die Referenz auf das Kreuz als Identifikationsmöglichkeit für christlich orientiertes Publikum. Dies ist typisch. In vielen Hollywood Filmen wird die religiöse Referenz des Ri-
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Vgl. IMDb (o. J.).
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tuals unspezifisch christlich dargestellt, um das Ritual erkennbar zu machen und ein mögliches Identifikationspotential für das Ritual zu schaffen. Ad II.) Eine weitere Komponente, die entscheidend ist für das pathos des inszenierten Ritualdesigns, ist der Titelsong des Films »I don’t want to miss a thing« von Aerosmith, der während des Hochzeitsrituals die einzige auditive Untermalung darstellt. Der Song ist eine lyrische Ballade und Hommage an die Liebe und die Unersetzbarkeit einer geliebten Person (vgl. Aerosmith 1998). Die präsentative emotionsgenerierende Wirkung der Musik unterstützt das Gezeigte und die lyrische Bedeutung kann vom Zuschauer zusätzlich als Repräsentation der Liebesbeziehungen zwischen A. J. und Grace eingeordnet werden. Andere Ritualelemente wie beispielsweise ein Eheversprechen (vgl. Abschnitt 3, A WALK TO REMEMBER 2002) werden ausgespart. Es wird auf eine dominante Anwendung der Musik und somit auf eine verstärkte Betonung präsentativer Affekttechnik im Sinne des pathos gesetzt. Ad III.) Die Nahaufnahme von der Braut mit Schleier bietet Identifikationsmöglichkeiten für weibliche Zuschauer. Männliche Rezipienten, die bereits selbst eine Hochzeit erlebt haben oder den Wunsch danach hegen, können sich durch die Kameraeinstellung auf das Gesicht der Braut in die Rolle des Bräutigams versetzten. Auch der gefühlvolle Blick von Grace dient sowohl als pathos im Gesamtkontext des Ritualdesigns als auch als ethos, um ein Mitfühlen mit ihrer Person zu assoziieren. Durch den Schwenk der Kamera über die platzhalterartigen Portraitfotos der Verstorbenen der Mission wird nochmals das ethos (im Sinne der Makro- und Mikroebene) in das Ritualdesign mit eingebracht und vermischt sich so mit dem pathos. Die verschiedenen Charakterentwicklungen der Figuren, die das Publikum über die ganze Handlung hinweg mitverfolgt hat, werden an dieser Stelle nochmals aufgerufen und in ihrer heldenartigen Tragik zusammengeführt. Durch das Einlenken der Kamera auf Harrys Foto wird an die dramatische Abschiedszene kurz zuvor erinnert. Die Trauung ist ein Indiz für die Realisierung von Harrys Wunsch (»You go, take care of my little girl now « vgl. ARMAGEDDON 1998) und bindet mögliche Sympathien und Gefühle für Harry in das Ritualdesign ein. Die Verwendung der Portraitfotos in diesem Ritualdesign stellt zugleich die intentionale Konstruktion des Rituals auf außer- und innerfilmischer Ebene dar. Die Veränderung des Hochzeitsrituals, die Toten mit in das rituelle Ge-
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schehen einzubinden, kann innerfilmisch auf keine Person zurückgeführt werden, und es bleibt somit ein gewisser ‚Spielraum’ für den Zuschauer, sie dem Hochzeitspaar zuzuschreiben. Außerfilmisch wird die Bezeichnung als Ritualdesign durch die bereits beschriebene Wirkungsintentionalität durch die Mittel von logos, ethos und pathos deutlich. Die Trauungsszene wird so zu einer Verdichtung von mikround makrostrukturellen ethos- und pathos-Elementen. Durch das freudige Ereignis der Hochzeit, in welcher sowohl überlebende Teammitglieder als auch die Verstorbenen in Form der Portraitfotos wieder auftauchen, sowie durch den Erfolg der Mission wird die Trauer über den Tod Harrys und der anderen Teammitglieder ikonographisch als Heldentod stilisiert. Ad IV.) Der Hochzeitkuss in Nahaufnahme vor dem Altar bildet den Höhepunkt des Ritualdesigns. Dies wird besonders durch die auditive Ebene des Ritualdesigns deutlich, der Refrain des Liedes ›I don’t want to miss a thing‹ setzt genau mit dem gezeigten Kuss ein. Zusätzlich symbolisiert der Kuss das erfolgreich vollzogene Ritual und somit auch die Erfüllung von Harrys Worten (»I’d be damn proud to have you married Grace.«, vgl. ARMAGEDDON 1998), dessen Bild eine Sekunde zuvor gezeigt wurde. Der Hochzeitskuss kann im Sinne dieser Inszenierung als ein ikonisches Ritualelement eingeordnet werden. Eine weitere Betonung des Vermählungskusses wird dadurch deutlich, dass während der Sequenz keine Abspannpositionen eingeblendet werden. Es folgt ein Schnitt und das Bild wird so aufgeteilt, dass in der Mitte der Abspann als durchgehender Schriftfluss läuft, während links und rechts in jeweils zwei fotoartigen Schaukästen gleichzeitig sepiafarbene Clips der Hochzeit laufen. Hierbei wird ein Sammelsurium an Hochzeitsbräuchen vorgeführt, das auf diese Weise mannigfaltige Identifikationsmöglichkeiten für den Zuschauer liefert und gerade durch die Sepiafärbung einen Erinnerungscharakter erhält. Grace und A. J. werden erneut beim Hochzeitskuss gezeigt, und wie sie vor der Kirche mit Reis beworfen werden. Ein Autokennzeichen mit den Worten »Just Married« verweist auf das vollzogene Ritual. Das Werfen des Brautstraußes und das Teilen der Hochzeitstorte werden in jeweils einem Clip inszeniert, dabei wird gezeigt, wie ein Freund die Spitze der Torte klaut. Es folgen weitere Clips, in denen Freunde des Brautpaars (meistens überlebende Crewmitglieder, die der Zuschauer den ganzen Film über begleitet hat) erscheinen, bis dann abschließend noch einmal ein kurzer Clip in Nahaufnahme von der Braut in schwarz-weiß zu sehen
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ist. Dieser wird ausgeblendet und der Abspann läuft auf schwarzem Hintergrund zur Titelmusik weiter. Die rhetorischen Mittel (logos, ethos, pathos) werden anhand des vorgestellten Beispiels in ihrer Vernetzung deutlich. Das Nachvollziehen der Handlung und des Inhalts, beispielsweise auf der Ebene der Inszenierung des Raumes, bilden die Basis für die Glaubwürdigkeit des Ritualdesigns. Aus dieser Darstellung der Charaktere und der Vertrautheit des Publikums mit ihnen können sich die Wirkungsintentionen beim Publikum entfalten. Es konnte festgestellt werden, wie Narration, Figuren, setting, Kameraführung und die auditive Ebene als Teilbereiche der Wirkungsintentionalität dienen. Die rhetorischen Mittel wurden in diesen Teilbereichen auf kumulative Weise zusammengeführt und dienten als Indiz für die Manifestierung der Wirkungsintentionalität. Logos, ethos und pathos sind mittels filmwissenschaftlicher Analysekriterien in ihrer Komplexität im Beispiel erfasst worden, in dieser Weise wurden die verschiedenen Formen und Intensitäten von Intentionen in Form von Bedeutungsangeboten beim Ritualdesign im Spielfilm ersichtlich. Überlappungen der Mittel sowie die gezielte Anwendung von repräsentativen und präsentativen Affekttechniken konnten zusätzlich miteinbezogen werden, um die spezifische Wirkungsintentionalität deutlich zu machen. Die Analyse des Fallbeispieles stellt einen ersten Versuch dar, der durch eine eingehendere Betrachtung mehrer paratextueller Elemente, Erfahrungsberichte der Schauspieler beim Dreh, oder Drehbuchskizzen weiter vertieft werden könnte.
4. S CHLUSSBETRACHTUNGEN Der vorliegende Beitrag hat in explorativer und exemplarischer Weise einen analytischen Zugang zu einer rhetorischen Perspektivierung von Ritualdesign im zeitgenössischen Spielfilm erarbeitet. Dabei wurde auf ein grundlegendes intentionales Verständnis von Ritualdesign im Spielfilm aufgebaut, welches in der Veranlagung des Films als Medium der Kommunikation und Bedeutungsproduktion und des Ritualdesigns als »ästhetischer Fiktion« verankert ist. Die Bestimmung des Ritualdesigns im Spielfilm als intentionaler, bewusster Prozess und kulturelle Praxis der Konstruktion eines Rituals unter Rückgriff auf etablierte Rituale sowie religiöse und säkulare Traditionen auf inner- und außer-
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filmischer Ebene diente dabei als heuristischer Ausgangspunkt. Die Anwendung des rhetorischen Impetus des Überzeugens auf den Film wurde mit dem Begriff der Wirkungsintentionalität beschrieben. Dieser bezeichnet eine intendierte Wirkung beim Publikum, die sich in der Erzeugung und Richtungsweisung von Affekten und Aufmerksamkeit ausdrückt. Mit der Wirkungsintentionalität wurde eine differenzierte Untersuchung von Intentionen im Medium über die repräsentativen und präsentativen Affekttechniken sowie die rhetorischen Mittel logos, ethos und pathos ermöglicht. Am Beispiel des Hochzeitsritualdesigns im Film ARMAGEDDON wurde dann aufgezeigt, auf welche Weise die rhetorischen Mittel sich kumulativ vernetzen und wie sie verschiedene Grade der Wirkungsintentionalität in Form von Bedeutungsangeboten aufzeigen können. Die rhetorische Perspektivierung hat somit in pointierter Weise eine vertiefende Betrachtung der Intentionen und des Prozesscharakters im Kontext von Ritualdesign im Spielfilm ermöglicht und damit eine medienspezifische methodologische Untersuchungsmatrix begründet. Die rhetorischen Mittel dienten dazu, die intentionale Prägung von Ritualdesign im Spielfilm stärker zu konturieren und ihre Formen und Intensitäten zu unterscheiden. Sicherlich ist die hier für den Spielfilm vorgenommene heuristische Bestimmung von Ritualdesign noch nachzuschärfen, da die Grenzen zu anderen Formen der Ritualdynamik fließend sind und nur am Gegenstand selbst überprüft werden können. Ritualdesign stellt nur eine Facette im Spektrum von Ritualdynamik dar, die in ihren vielen möglichen Anwendungsbereichen in kontextueller und medienspezifischer Weise erforscht und geprüft werden muss, um ihren Nutzen herauszustellen. Die hier vorgestellte rhetorische Perspektivierung kann durch rhetorische Figuren noch stärker ausdifferenziert werden. Somit ebnet sie den Weg für Anschlussforschungen, die sich über den Spielfilm hinweg auch mit dem realweltlichen Kontext von Ritualdesigns beschäftigen könnten, um festzustellen, ob eine rhetorische Perspektivierung auch hier fruchtbar gemacht werden kann.
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Dreimal Sacre Ritualdesign in der Choreographie H ANNA W ALSDORF
1. E INLEITUNG Mit »Ritual Design in the New Dance« überschrieb Millicent Hodson bereits 1985 einen Fachartikel, der ihre Rekonstruktionsarbeit an der Originalchoreographie des SACRE DU PRINTEMPS (dt. »Das Frühlingsopfer«) von 1913 begleitete. Angesiedelt im heidnischen Russland, wird im fiktiven Ritual des SACRE eine Jungfrau geopfert, um den Frühlingsgott Jarilo versöhnlich zu stimmen: Sie tanzt sich zu Tode. Als musikalisches Lokalkolorit markieren osteuropäische Volksweisen den zeitlichen und örtlichen Kontext einer Komposition, die auch aufgrund ihrer neuartigen rhythmischen und klanglichen Struktur als musikalischer Meilenstein des 20. Jh.s gilt. Die tänzerische Umsetzung der Musik von Igor Strawinsky ist seit ihrer Uraufführung in unzähligen verschiedenen Versionen erfolgt, und die dabei angelegten Ästhetiken könnten unterschiedlicher kaum sein. Was in Vaslaw Nijinskys Choreographie 1913 noch ›archaisch‹ daherkam – besonders durch die Kostüme und die die Musik verdoppelnden Stampfbewegungen –, ist in neueren Interpretationen ganz anderen Bewegungs- und Körperkonzepten verpflichtet. Jeder Choreograph, jede Choreographin hat das Ritual des Frühlingsopfers anders ›designt‹. So soll in diesem Beitrag zunächst die Originalchoreographie in der Rekonstruktion von Millicent Hodson und Kenneth Archer für das Chicagoer Joffrey Ballet (1987) beleuchtet werden, um dann zwei weitere Beispiele näher zu betrachten: Zum einen die westdeut-
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sche Fassung von Pina Bausch und dem Tanztheater Wuppertal 1975, zum anderen die ostdeutsche Version von Dietmar Seyffert an der Oper Leipzig 1981. Die Gegenüberstellung dieser beiden wird zeigen, in welchem Maße das Design eines (getanzten) Rituals nicht nur von herrschenden Ästhetiken abhängig ist, sondern auch von ideologischen Maßgaben und kulturpolitischen Direktiven.
2. R ITUALDESIGN 1913: S TRAWINSKY – R OERICH – N IJINSKY Um die Jahrhundertwende, jener Zeit des Übergangs zur Moderne, übten Rituale – oder das, was man sich in Europa darunter vorstellte – eine ungeheure Faszination auf Wissenschaftler und Künstler gleichermaßen aus. Das Fremde, Wilde, Barbarische bildete einen zentralen Topos der um 1900 noch jungen Ethnologie, und der Begriff des Rituals besetzte bei der Entdeckung der Gebräuche und Religionen fremder Kulturen und der daraus folgenden ›Erfindung des Primitiven‹ eine Schlüsselstelle (Kippenberg 1997). Aus der Melancholie heraus, nicht selbst das ›Ursprüngliche‹ der Kultur gesehen und miterlebt zu haben, rekonstruierten die Wissenschaftler »die ›Bedeutung‹ von Riten und Kultformen«. Doch haben mehr noch als die Forscher sicherlich die Künstler am Beginn des 20. Jh.s an der »Konstruktion von Kulturkonzepten« mitgewirkt (vgl. Brandstetter 1999: 371–373). Es waren imaginierte Rituale, intentional erschaffen und dabei an beobachtete fremde Ritualhandlungen angelehnt: In der Konstellation von Kunst und Wissenschaft im Bezug auf das Ritual als Kulturmuster – und zwar als Diskurs und als Szene zugleich – zeichnet sich damit eine Reflexion ab, die mir für die Situierung der Choreographie von Le Sacre du printemps wichtig erscheint. Nicht das Ritual ist Gegenstand der jeweiligen – wissenschaftlichen oder künstlerischen – Rekonstruktion, sondern Prozesse von Ritualisierungen beziehungsweise ›Darstellungen von Ritual‹. (Ebd.: 375, Herv. i. O.)
Dieser Befund trifft jedoch nicht allein auf die neu entdeckten und erstmals beschriebenen Rituale fremder Gesellschaften auf fernen Kontinenten zu, sondern ebenso auf die Ethnologie bzw. Brauchtumsforschung vor der eigenen Haustür. Im Zuge der Industrialisierung droh-
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Abbildung 1:Henri Matisse: DER TANZ (1909)
Quelle: bpk 00024201, © Succession H. Matisse/ VG Bild-Kunst, www.bildkunst.de
ten die über Jahrhunderte gewachsenen europäischen Volkslieder und -tänze aus der ländlichen Klangwelt und (rituellen bzw. ritualisierten) Lebenspraxis zu verschwinden, und alsbald fanden sich Wissenschaftler, die ins Feld zogen, um die letzten verbliebenen Lieder und Tänze des Volkes aufzunehmen und zu notieren. Die damit einhergehende Rettungsrhetorik zeugt zum einen davon, wie groß der lebensweltliche Abstand dieser Forscher zu ihrem Gegenstand war; zum anderen ist sie Ausdruck der typisch europäischen Annahme, nichtschriftliche Kulturpraktiken durch Verschriftlichung vor dem Vergessen bewahren zu können: Fremd war den akademisch gebildeten Stadtmenschen (Mittel-)Europas also nicht nur das ferne, sondern auch das nahe Ritual, das nun durch eine Flut ›wissenschaftlich‹ erstellter Kanons (in Form von Volkslied- und Volkstanzsammlungen) und künstlerischer Aufgriffe (man denke etwa an das berühmte Bild DER TANZ von Henri Matisse, 1909, Abb. 1) ›wiederbelebt‹ wurde. Wem die Idee zum SACRE DU PRINTEMPS nun zuerst und aufgrund welcher Inspiration kam, ist unterschiedlich kolportiert worden: Sowohl der Komponist Igor Strawinsky (1882–1971) als auch der Ethnologe und Bühnenbildner Nicholas Roerich (1874–1947) reklamieren die Urheberschaft für sich. Die »Vision einer großen heidnischen Feier« habe ihn 1910 bei der Niederschrift des FEUERVOGELS überkommen, erzählte Strawinsky später, und er habe sie »sogleich [s]einem Freund, dem Maler Nicholas Roerich, der ein Kenner auf dem Gebiet
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Abbildung 2: Nicholas Roerich: DIE IDOLE (1901)
Quelle: Decter 1989: 46
heidnischer Beschwörung war«, beschrieben (Strawinsky/Craft 1972: 39 f.) – auch wenn die Argumentation von Lawrence Morton plausibel erscheint, dass der Komponist bereits um 1907 von einem Gedicht Sergey Gorodetskys inspiriert worden sei (vgl. Lawrence 1979: 10 f.). Roerich berichtete seinerseits später, er habe nach der ersten erfolgreichen Zusammenarbeit mit den Ballets Russes 1909 deren Impresario Serge Diaghilev zwei Themen für ein ›russisches‹ Stück vorgeschlagen, darunter THE GREAT SACRIFICE, das »die Grundgedanken von Le Sacre du printemps bereits enthielt« (Brandstetter 1999: 376 f., Herv. i. O.) und das er 1910 in einer Temperazeichnung mit gleichem Titel als ersten (dann aber doch nicht realisierten) Bühnenbildentwurf auf Leinwand bannte. Diaghilev habe dann den Kontakt zu dem jungen, vielversprechenden Komponisten Strawinsky hergestellt und die Zusammenarbeit an dem Stoff angeregt. Roerichs Auseinandersetzung mit archaischen (slawischen) Motiven war zu diesem Zeitpunkt schon in mehreren Bildwerken, wie etwa DIE IDOLE von 1901 (Abb. 2), manifest geworden (vgl. Decter 1989: 83 f.). Gut möglich, dass beide in etwa zeitgleich den Stoff entdeckten; im Sommer 1911 jedenfalls gingen beide gemeinsam ans Werk und erarbeiteten das Libretto:
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[…] die archaische Geschichte eines slawischen Fruchtbarkeitsrituals, das mit Zeremonien der Ältesten, rituellen Kämpfen der jungen Männer und Reigentänzen der jungen Frauen verläuft bis zur Selbstopferung des durch das Los erwählten jungen Mädchens, das sich zu Tode tanzt. (Brandstetter 1999: 377)
Diese Ritualstruktur wurde, so die Deutung Volker Scherliess‘, von der urmenschlichen Fragestellung nach dem Verhältnis zur Natur und ihren Kräften motiviert: Die eigentliche Opferfeier war als Krönung einer Reihe von heidnischen Riten und mystischen Tänzen geplant, in denen das Erfahren elementarer Naturmächte, das Einswerden von Menschen und Natur dargestellt wird. Der gewaltige russische Frühling selbst ist im Grunde Thema des Werks […]. (Scherliess 1982: 8)
In diesem überzeitlichen Gedanken, den Kreislauf von Leben und Tod choreographisch und musikalisch, oder besser, klanglich nachzubilden, wird nicht nur der für Jahrhundertwenden und Umbruchzeiten typische Ruf ›zurück zum Ursprung‹ artikuliert, sondern auch dem Trend zum Primitiven, Urzuständigen entsprochen. Es ist eine »Rückblende in die Barbarei der Vorgeschichte« (Kirchmeyer 1974: 105), die in einer Folge von Reigentänzen ins Bild gebracht wird. Roerich entwarf neben den Bühnenbildern auch alle Kostüme für das Ballett. Seine Kostümzeichnungen, die heute im A. A. Bakhrushin State Central Theatre Museum in Moskau und dem Krasnodar Regional Art Museum ausgestellt sind, weisen reiche ornamentale Muster und volkstümliche ›Authentizität‹ auf und den Künstler damit als Kenner ethnographischer Details aus (Decter 1989: 86). Strawinsky zeigte sich von den Entwürfen begeistert: My God, how I like them – they’re a miracle! I only hope that their realization will be good … Lord! Just so long as Nijinsky manages to choreograph Le Sacre in time, it’s so complicated! Everything indicates that the work is going to ›come out‹ uncommonly well! (Syrkina 1978: 92, Herv. i. O.)
Seine Musik zum SACRE war neuartig und (seinerzeit) verstörend, verband rhythmische Akkuratesse mit russischen Volksweisen als exotischem Einsprengsel, wagte ungezügelten Primitivismus. Sie klang gefährlich, als würde sie die tanzenden Körper einhüllen oder gar ver-
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schlingen (Jordan 2007: 32; vgl. auch Kriajeva 1999: 466). Obgleich die neuere Forschung immer wieder versucht hat, in Strawinskys SACRE Kontinuitäten mit der russischen Kompositionstradition nachzuweisen, bleibt die Wirkung des Werkes dennoch einzigartig: Es oszilliert zwischen tonsetzerischer Innovation und evozierter Historizität, kontrastiert Wandel mit behaupteter Mythologie (Gloag 2003: 87). Strawinsky hat in seiner Komposition eine »Wiederaneignung des Archaischen« realisiert, indem er Melodiefloskeln in sich kreisen ließ, »vitale rhythmische Energien« freisetzte und mit der »eher flächig reihende[n] Formanlage« einen Zeitmodus gefunden hat, der »wenig Erinnerung kennt, wenig Erwartungen auf eine Entwicklung aufbaut, eher gedächtnislos im Jetzt weilt« (Schulz 2000: 153). Auch auf Vaslaw Nijinsky (1889–1950), den Startänzer der Ballets Russes, der für die choreographische Umsetzung des SACRE verantwortlich war, machten zunächst Roerichs Bühnenbilder und Kostümentwürfe einen großen Eindruck. Mit der Gestaltung der Ensembletänze begann Nijinsky erst, nachdem er die Entwürfe gesehen hatte (Decter 1989: 86 f.). Seine Schwester Bronislawa Nijinska schildert die Reaktion ihres Bruders auf Roerichs Kunst wie folgt: I recalled how we both admired not only the magnificent beauty of the colors but also the spirit of Ancient Russia so well captured in Roerich’s paintings, depicting the life and rituals of those ancient tribes. / »Now that I am working on Sacre,« Vaslav went on, »Roerich’s art inspires me as much as does Stravinsky’s powerful music – his paintings, The Idols of Ancient Russia, The Daughters of the Earth, and particularly the painting called, I think, The Call of the Sun. […] Roerich has talked to me at length about his paintings in the series that he describes as the awakening of the spirit of primeval man. In Sacre I want to emulate this spirit of the prehistoric Slavs.« (Nijinska 1981: 449, Herv. i. O.)
Als sich der Vorhang am 29. Mai 1913 im Pariser Théâtre des ChampsElysées schließlich hob, wirkten einige der Tänzerformationen und Bewegungen tatsächlich wie von den gemalten hölzernen Götzen inspiriert, die Roerich in seine Bilder vom antiken Russland platziert hatte (Decter 1989: 86 f.). Diaghilew war sich der möglichen Zuschauerreaktionen auf das Unerhörte und Ungesehene bewusst gewesen und hatte den Dirigenten Pierre Monteux gewarnt, er möge auf gar keinen Fall die Aufführung unterbrechen; den Tänzern hatte der Impresario
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aufgetragen, ruhig zu bleiben und das Stück unbedingt zu Ende zu tanzen, egal was komme (Reiss 1957: 93). Und so entspann sich also das fiktive, von Roerich gemalte, von Strawinsky vertonte und von Nijinsky choreographierte Ritual des Frühlingsopfers (vgl. Pasler 1986: 71– 81) in zwei Teilen: Erster Teil L’adoration de la terre – Die Anbetung der Erde »Man feiert das Frühlingsfest. Es findet auf den Hügeln statt. Man bläst auf Flöten. Junge Männer sagen wahr. Bei ihnen ist eine alte Frau. Ihr sind die Geheimnisse der Natur bekannt – sie lehrt, wie man sie weissagt. Junge Mädchen, die herausgeputzt sind, kommen in einer Reihe vom Fluss her. Sie tanzen den Frühlingstanz. Die Spiele beginnen. Das Spiel der Brautentführung. Man führt Frühlingsreigen auf. Man teilt sich in Lager. Ein Lager geht auf das andere zu. Keilförmig dringt in die Frühlingsspiele die heilige Prozession des ältesten, weisesten Greises ein. Das Spiel bricht ab. Unter Zittern erwartet man die große Handlung des Greises, die Segnung der Frühlingserde. Der Kuss der Erde. Man tanzt auf der Erde. Durch den Tanz heiligt man die Erde. Im Tanz wird man eins mit der Erde.« (Scherliess 1982: 9 f. und Souriau 1990: 5) Introduktion [1]1 / Die Frühlingsauguren. Tänze der Jünglinge [13] / Spiel der Entführung [37] / Frühlingsreigen [48] / Spiel der wetteifernden Städte [57] / Auftritt des weisen Alten [67] / Anbetung der Erde [71] / Tanz der Erde [72]. (Strawinsky/Roerich 1921 und Kirchmeyer 1974: 104) Schon in der ersten Szene, dem Frühlingsfest mit den tanzenden Jünglingen, wird der »Bruch mit der Repräsentations-Tradition des Balletts« deutlich (Brandstetter/Neumann 1997: 129), die Abkehr von konventionellen Raum- und Körperkonzepten demonstriert: Es ist eine »Brechung des klassischen Gedankens der Schönheit des Körpers, – der Grazie«; das »ideale Bild der aufgerichteten, in Leichtigkeit und
1
Die Ziffern in eckigen Klammern entsprechen den Partiturziffern.
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Abbildung 3: Joffrey Ballet: LE SACRE DU PRINTEMPS (Rekonstruktion 1987), Auswahl des Opfers
Quelle: http://www.danser-en-france.com/repertoire/sacre prod/sacrenijinsky.htm
mühelosem Einklang der Glieder repräsentierten Gestalt des Tänzers« ist im SACRE desorganisiert (ebd.: 130 f.). Nicht zufällig hat Millicent Hodson, die Nijinskys SACRE-Choreographie 1987 rekonstruierte, diese als »Crime against Grace« betitelt (vgl. Hodson 1996): […] Nijinsky seems to have grasped […] the fundamentals that characterize the ritual dance of highly developed traditional cultures: the use of postures that restrict the body’s attention, turning it inward; the prolonged repetition of simple motions, establishing a rhythm that can alter consciousness; and the limitation of group activity to primary patterns in space, often duplicating totem signs drawn on objects and garments. The postures, motions, and patterns, like the totem signs, are meant to focus energy through design, to channel the forces evoked by the rite and disperse them for the good of the community. (Hodson 1985: 39)
Ein Opferritual, wie es Roerich, Strawinsky und vor allem Nijinsky vorschwebte, war mit dem klassischen Ballett nicht plausibel darzustellen: Verrenkungen des Rumpfes, einwärts gedrehte Füße, schräggestellter Kopf und die »Betonung von Kraft und Schwere«, wie sie
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sich in den Stampfbewegungen ausdrückte, schienen im Verbund mit den die Choreographie bestimmenden Kreisformationen2 ›authentischer‹ (vgl. Brandstetter/Neumann 1997: 131). Besonders in der Darstellung des eigentlichen Opfers wird diese bewegte Geometrie von entscheidender Bedeutung sein (Abb. 3). Zweiter Teil Le Sacrifice – Das Opfer »In der Nacht halten die Jungfrauen geheimnisvolle Spiele ab. Herumgehen in Kreisen. Eines von den Mädchen ist als Opfer ausersehen. Das Schicksal bestimmt sie zweimal. Zweimal wird sie in den ausweglosen Kreis eingereiht. Die Jungfrauen ehren die Auserwählte mit einem stürmischen Tanz. Sie rufen die Vorfahren an. Sie übergeben die Auserwählte den alten Vorfahren der Menschen. In Gegenwart der Alten wird der große, heilige Tanz, das große Opfer ausgeführt.« (Scherliess 1982: 10 und Souriau 1990: 5) Introduktion [79] / Geheimnisvolle Kreise der Mädchen [91] / Verherrlichung der Auserwählten [104] / Anrufung der Ahnen [121] / Weihevolle Ahnenfeier [129] / Heiliger Tanz [142]. (Strawinsky/ Roerich 1921 und Kirchmeyer 1974: 104) Die Auswahl des Opfers erfolgt durch eine Art Zufallsauslosung: Eines der 13 Mädchen, die sich »in einem kreisförmigen Labyrinth« winden, stolpert wiederholt »unter den schreckgeweiteten Augen der anderen« und »wird schließlich in die Mitte des Kreises gestoßen« (Hodson/Schüller/Steiert 1991: 454). Durch ihr Fallen wird das Mädchen als Auserwählte erkannt; ihre Versuche, aus dem Kreis auszubrechen, scheitern. Der Kreis dient nicht nur zur Fesselung des Opfers,
2
Vgl. hierzu Hodson (1986/7: 12): »Many of the ground patterns in the original Sacre have antecedents in the ritual dance of shamanistic tradition – circles, concentric circles, squares, and the circle-in-the-square. Surely Roerich passed on to Nijinsky the importance of such patterns in the archaic rites of the Slavs. As designer, he would have already incorporated them as motifs on the costumes […]. So it is reasonable to suppose that the ground patterns of the ballet have this derivation from Roerich and ritual tradition.«
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sondern auch zu seiner Abschirmung, denn das »auf sich selbst bezogene Geschehen im Kreis« wird auf diese Weise auch »vom Blick des Zuschauers« abgeschlossen (Brandstetter/Neumann 1997: 132). Umringt von den Ahnen tanzt die Auserwählte nun also ihre Danse sacrale: Zitternd beginnt sich die Auserwählte aus ihrer Erstarrung zu lösen und springt fortwährend am Platz in die Höhe. Der Boden scheint sie immer wieder zurückzuziehen. Mit tiefen Beugungen der Knie versucht sie den Fall abzufangen, immer wieder schnellt sie empor. Die Arme zu Schwingen ausgebreitet, versucht sie zu entkommen und schlägt wie eine hampelnde Puppe um sich. Sie wird schwächer, sinkt immer öfter zu Boden. Die Ahnen nähern sich ihr, da bricht sie vollends zusammen. Die Ahnen heben sie gegen die verdunkelte Sonne. (Hodson/Schüller/Steiert 1991: 454)
In einem heiligen Tanz tanzt sich die Auserwählte zu Tode – bei der Uraufführung 1913 war aber zu diesem Zeitpunkt bereits ein solcher Lärm im Zuschauerraum entstanden, dass Maria Piltz als Auserwählte kaum noch das Orchester hören konnte und damit eine zusätzliche Herausforderung zu bewältigen hatte: Ganz so wie Diaghilew es vorausgesehen und befürchtet hatte, geriet das Publikum schon sehr bald nach Beginn der Vorstellung in Aufruhr. Die 46 Tänzer und der Komponist wurden beleidigt und ausgelacht, es wurde »gebuht, gepfiffen und geschubst, Türen w[u]rden geschlagen und eine Schlägerei begonnen« (Hartmann 2010: 212). Carl Van Vechten, der bei der Uraufführung anwesend war, erinnerte sich später: Ein Teil des Publikums erregte sich über das, was es als einen blasphemischen Versuch betrachtete, Musik als Kunst zu zerstören, und begann, vom Zorn hingerissen, kurz nach Aufgehen des Vorhangs zu pfeifen und mit lauter Stimme Vorschläge zu machen, wie die Vorstellung weitergehen solle. Das Orchester war nur dann zu hören, wenn eine leichte Beruhigung eintrat. Der junge Mann hinter mir in der Loge stand während des Balletts auf, um besser sehen zu können. Seine Aufregung verriet sich dadurch, dass er mit den Fäusten rhythmisch auf meinen Kopf einhämmerte. Meine Erregung war derart, dass ich die Faustschläge eine Zeitlang gar nicht bemerkte. (Zitiert nach Nijinsky 1981: 192)
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Der Tumult im Zuschauerraum artete hier und da tatsächlich in Handgreiflichkeiten aus – nach einem heftigen Streit zwischen zwei Logengästen soll es am Folgetag sogar zu einem Duell gekommen sein (vgl. Nijinsky 1981: 192) –, und schnell war durch Gustave de Pavlovsky das Schlagwort vom »Massacre du Printemps« geprägt.3 Jan Kounens Spielfilm COCO CHANEL & IGOR STRAVINSKY4 liefert in seiner Anfangssequenz eine beeindruckend anschauliche, bildgewaltige Nachstellung dieser Szenen und macht deutlich: Wohl nicht zu Unrecht ist jener Abend des 29. Mai 1913 als vielleicht größter Theaterskandal des 20. Jh.s in die Geschichte eingegangen. Nicht nur das (tanz-)ästhetische Konzept des dargestellten Rituals auf der Bühne empörte, sondern – in der Rückschau – auch die Außerkraftsetzung des Rahmen-Rituals, des theatralen Pakts: Jene Konvention des Zeigens und Betrachtens war (und ist) ein soziales Ritual, gekennzeichnet durch bestimmte »Regeln der Aktion (auf der Bühne) und des Zuschauens, von zeitlich und institutionell aus dem Alltag herausgehobenen Formen der szenischen Präsentation«; ein Ritual, das sich durch die »verabredete Rollen- und Funktionenverteilung einer unterschiedlichen Teilhabe am theatralen Ereignis zwischen bestellten Akteuren und passiven (zahlenden) Beobachtern« organisiert (Brandstetter 1999: 368). Trotz der Ablehnung, die das Werk bei seiner Uraufführung durch große Teile des Publikums erfuhr – selbst Enrico Cecchetti, der Ballettmeister der Kompagnie, bezeichnete das SACRE als Werk vierer Idioten (vgl. Hartmann 2010: 212) –, waren die Besprechungen in der Presse nicht allein auf die Schilderung (und Befeuerung) des Skandals aus, sondern wussten auch Positives hervorzuheben. Valérien Svetloff etwa lobte ausdrücklich die künstlerische Leistung Nicholas Roerichs: Les mœurs, les rites, les traditions anciennes de la Russie païenne ont en Roerich un interprète fidèle et prestigieux, savant et artiste à la fois, poète de cette période légendaire où l’histoire des premiers Russes se perd sous de lointains
3
Zitiert nach Berg (1988: 60): »Gustave de Pavlovsky dubbed the work the ›Massacre du Printemps‹, declaring the collaborators had brought off an improbable tour de force, a display of the ›unconscious, childish frenzy of primitive tribes, awakening to the mysteries of life‹.« Vgl. auch Lesure 1990.
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COCO CHANEL & IGOR STRAVINSKY (2009) (Frankreich, R: Jan Kounen).
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brouillards. / Cet ensemble de décors et de costumes d’une beauté sauvage, d’une crudité violente, crée un atmosphère artistique puissamment impressionnante. (Svetloff 1913: 30)
Das gemalte, gespielte und getanzte Ritual vermochte also doch den ein oder anderen Zeitgenossen zu überzeugen: Die Ballets Russes waren mit ihrem Aufgriff des Primitiven und Rituellen ganz am Puls ihrer Zeit. Aufrührend daran war der krasse, aber im Sinne des Stoffes notwendige Bruch mit der bis dahin gültigen Tanzästhetik. Opferritual und Ballett schienen unvereinbar; wohl aus diesem Grund ist das SACRE in der Spielzeit 1913 nicht über acht Aufführungen hinausgekommen, und die Rekonstruktion der Originalchoreographie erfolgte erst 1987 durch Millicent Hodson und Kenneth Archer.5 Dennoch ist das SACRE DU PRINTEMPS in den auf die Premiere folgenden Jahrzehnten zu einem Klassiker der Tanzliteratur geworden, in vielen neuen Fassungen aufgeführt und umjubelt worden. Zwei dieser späteren Versionen werden hier nun näher betrachtet.
3. R E -D ESIGN W EST : P INA B AUSCH (1975) Die tanzästhetischen Voraussetzungen waren für Pina Bauschs Neufassung oder Re-Design des FRÜHLINGSOPFERS 1975 gänzlich andere als 62 Jahre zuvor für die Autoren des Originals. Niemand erschreckte sich noch derart über die Absage an die Zwänge des klassisch-akademischen Tanzes, wie es beim Publikum der Pariser Uraufführung der Fall gewesen war, denn zwischenzeitlich hatte man in Europa ja die choreographischen Experimente der Ausdruckstanzbewegung und des Modernen Tanzes gesehen (vgl. Huschka 2002). Zwar hatte sich nach dem Krieg einerseits das klassische Ballett als Repräsentationskunst zwischen 1959 und 1970 »auf den Bühnen der BRD [r]etabliert« (Schlicher 1987: 44). Jedoch gab es andererseits eben auch junge Choreographen wie Pina Bausch, Johann Kresnik oder Reinhild Hoffman,
5
Ein dreiteiliger Videomitschnitt dieser Aufführung findet sich bei YOUTUBE (vgl. THE RITE OF SPRING. PICTURES OF PAGAN RUSSIA IN TWO ACTS 1987). Als mit großem Abstand höchstbewerteter Kommentar ist auf der YOUTUBE-Seite zu Teil 1 der von User ›metalheadedtothemax‹ zu lesen: »Let it be known, that Stravinsky incited the first official moshpit.«
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die spätestens seit den 1960er Jahren neue Wege gingen – oder besser: gehen durften, ganz anders als in der DDR. Sie machten »Körperlichkeit, das Ausstellen des Körpers und körperbezogener Zwänge« (ebd.: 25) zum Thema des westdeutschen Tanztheaters: Tänze zu choreographieren heißt im deutschen Tanztheater nicht, Tanz in einer bestimmten ästhetischen Konvention zu machen, sondern der Kontext liegt – durchaus mit der Konsequenz, konventionelle Grenzen des Genres zu sprengen – in der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Mediums und der Geschichte des Körpers als gesellschaftlich-individuelles und ästhetisches Konstrukt aus Bildern, Verhaltensformen und Ausdrucksregungen. Hierunter verändert das Bühnengenre Tanz seine ästhetischen Konstanten und findet – vor allem in den 1960er und 1970er Jahren – zu brisanten gesellschaftspolitischen Statements. (Huschka 2002: 278; vgl. auch Schmidt 1992: 25–27)
Nicht alles, was dieses neue deutsche Tanztheater auf die Bühnen der BRD brachte, stieß auf Anerkennung und Wertschätzung. Diese Erfahrung musste ganz besonders Pina Bausch (1940–2009) in ihren ersten Wuppertaler Spielzeiten machen: Es gab »lautstarke Proteste wütender Abonnenten […] gegen eine Theaterarbeit, die ihnen die gewünschte Befriedigung« (Hoghe 1986: 20) vorenthielt. Skandalträchtig ging es also trotz aller tanzästhetischen Freiheiten auch noch im Wuppertal der 1970er Jahre zu: »Vor halbleeren Häusern und pikierten Kritikern« entwickelte Pina Bausch dort »mit ihren ersten Tanztheaterstücken die offene Stückform, die später charakteristisch für sie […] werden sollte« (Schlicher 1987: 16). Ganz anders wurden Bauschs Tanzopern IPHIGENIE AUF TAURIS (1974) und ORPHEUS UND EURYDIKE nach Gluck sowie ihre SACREChoreographie (beide 1975) angenommen: Hier waren Presse und Publikum – zumeist – voll des Lobes: Es waren »zwar ungewöhnliche, aber vor allem doch ungewöhnlich gute Tanzstücke« (Schmidt 1992: 31). Jenem SACRE, das mittlerweile – auch über den Tod der Choreographin im Jahr 2009 hinaus – zu einem »Markenzeichen der Kompanie« (ebd.: 45) geworden ist, gilt vielen als »beste Interpretation des schwierigen Werkes, die einem Choreographen je geglückt ist« (ebd.: 45) – Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein haben ihm 2007 einen ganzen Sammelband mit Modellanalysen gewidmet (Brandstetter/Klein 2007).
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Abbildung 4: Pina Bausch: LE SACRE DU PRINTEMPS (1975), Frühlingsreigen
Quelle: Fernsehfassung 1979, © ZDF, Standbild bei 09:54
Bauschs SACRE DU PRINTEMPS wurde am 3. Dezember 1975 als dritter Teil und zugleich als Höhepunkt des dreiteiligen Strawinsky-Abends FRÜHLINGSOPFER in Wuppertal uraufgeführt, kam bald aber auch als eigenständiges Stück auf die Bühnen der Welt.6 Sich von früheren choreographischen Gestaltungen abwendend, die »das Stück in jenen Jahren als reine Feier des Eros zu inszenieren« pflegten, orientierte sich Pina Bausch wieder »deutlich an der ursprünglichen Opferhandlung«, entfaltete diese aber »aus der Perspektive derer, die das Todesurteil treffen könnte, neu, voller Angst und voller Mitleid« (Schmidt 1992: 45). Anders als im Original-SACRE von 1913 gibt es hier keine irgendwie benannten Figuren mehr – nicht einmal die Namen der Tänzerin und des Tänzers, die das Opfer und den männlichen Anführer verkörpern, werden im Programmheft7 hervorgehoben: [T]here are no specific cultural clues, no ancestors, no colourful costumes – just black trousers (chests bare) for the men and flimsy flesh-coloured shoulder-strap dresses for the women – and place is simply defined by a floor strewn
6
Vgl. Tanztheater Wuppertal Pina Bausch GmbH (o. J.).
7
Anlässlich der Wiederaufführung von CAFÉ MÜLLER (1978) und DAS FRÜHLINGSOPFER (1975) am 15. November 2008 in der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf, die ich besucht habe, wurde das 2004 erschienene Programmheft zur Wiederaufnahme beider Stücke ausgegeben; hg. von der Tanztheater Wuppertal Pina Bausch GmbH.
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with brown peat and prepared right in front of us before the dance begins (no curtain down). (Jordan 2007: 448)
Das Ritualdesign von 1913 findet sich hier in keiner Weise wieder, alles ist anders, alles ist neu. Dadurch aber, dass das Publikum Zeuge schon der Vorbereitung des Rituals wird – die Bühnenarbeiter verteilen tonnenweise frischen, nach Frühling duftenden Torf auf dem Tanzboden, es gibt keinen Theatervorhang –, entfaltet das Stück von Anfang an eine Sogwirkung, suggeriert eine Teilhabe am Ritual, die in der und durch die Theatralität des Originals nicht hatte aufkommen können. »[Rolf] Borziks Bühne ist dunkel und offen. Seitlich sieht man Beleuchtungsapparaturen. Der Boden ist dick mit Torf bestreut: eine künstlich hergestellte Waldlichtung. Zu Beginn liegt ein einzelnes Mädchen auf einem leuchtend roten Tuch. Ganz langsam füllt sich das Ensemble auf: zuerst die Mädchen, dann die Männer, bis zur vollen Stärke von dreizehn Paaren. Das rote Tuch spielt in der Folge eine wichtige Rolle. Es dient als Symbol der Opferung, als Katalysator für alles das, was die Aussicht, Opfer zu sein oder das Opfer bestimmen zu müssen, […] an Gefühlen bei Mädchen und Männern erweckt, Furcht, Schaudern, Verzweiflung, gemischt mit magischer Faszination. Schließlich verwandelt sich das rote Tuch in das rote Kleid des Opfers. Es wird von einem Mädchen zum anderen weitergereicht, bis es schließlich an der schmalen, kleinen, vor Schreck erstarrten Marlies Alt hängenbleibt […].« (Schmidt 1992: 45) Die durch die spärlichen Kostüme und das fehlende Bühnenbild noch betonte Körperlichkeit der barfüßigen Tänzer wirkt auf ihre Weise archaisch: Viel nackte Haut ist zu sehen, Schweiß und Dreck (durch den mit jeder Bewegungen der Tänzer umgepflügten und aufgewirbelten Torf), aber keine akademischen Bewegungen oder solche, die irgendwie einstudiert wirken – obwohl sie es natürlich sind: We have the impression that we are looking at real, unstyled bodies here, doing real physical work. The convulsions, tics, spasms and shivers have been identified as signals of hysteria, fundamental physical symptoms unmediated by thought or by intention to shape the movement into the symbol of an idea. (Jordan 2007: 449)
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Wie schon Nijinsky bedient sich auch Pina Bausch der Gruppen- und Kreisformationen, um einerseits die »dramaturgisch-narrative Entwicklung« des getanzten Rituals »mit Abschnitten der Partitur« zu koppeln und andererseits die behauptete Ursprünglichkeit des Geschehens zu verbildlichen (vgl. Boenisch 2007: 36–38): Was Strawinsky noch mit Rondes printanières (Frühlingsreigen, Abb. 4) überschrieben hatte, setzen die Tänzerinnen und Tänzer, »nach den Geschlechtern alternierend positioniert« (Raab/Soeffner 2007: 202), in synchronen Bewegungen um, und zeichnen einen großen Kreis auf den Bühnenboden, in den Torf. Was auf den ersten Blick als ›rituell‹ oder ›archaisch‹ erscheint, ist tatsächlich ein bewusster Ritualbruch: Der Reigen der Frauen und Männer bewegt sich gegensonnen (gegen den Uhrzeigersinn) und damit »gegen den natürlichen Lauf der Dinge« (ebd.: 203). Auch die Gleichförmigkeit des Kreistanzes wird nicht konsequent durchgehalten, jeder Blickkontakt vermieden. Die Jeux des cités rivales (»Spiel der wetteifernden Städte«) aus Strawinskys Partitur übersetzt Pina Bausch in einen »Konkurrenztanz, in dem die Männer und Frauen dieselbe Musik unterschiedlich interpretieren und mit ihren Formationstänzen die Selbstbilder der Geschlechtergruppen zum Ausdruck bringen« (Raab/Soeffner 2007: 206). Die Versöhnung der Geschlechter findet jedoch nicht statt, Differenz und Distanz bleiben auch im Opfer aufrecht. Das Opferritual, das dem Publikum in Bauschs SACRE vorgeführt wird, erzählt »von elementaren Kräften des Begehrens und Geschlechterkampfes« (Mersch 2007: 275): »Das Opfer scheint zunächst wie versteinert und tanzt beinahe nur mit den Augen und dem Gesichtsausdruck. Erst nach und nach geht der Schrecken über in einen Veitstanz willenlos gewordener Glieder, der jedoch auch dann nicht in tänzerischen Exhibitionismus mündet, wenn dem Opfer – scheinbar ungeplant, doch in Wahrheit exakt kalkuliert – das Kleid von der Schulter rutscht und ihre zerbrechliche Körperlichkeit zur Schau stellt […].« (Schmidt 1992: 45) (Abb. 5) Für die Tänzerin in dieser Rolle bedeutet(e) dies eine Anstrengung bis zur realen körperlichen Erschöpfung. Nicht nur ihr, sondern allen Tänzern scheint es, als würden sie ein Ritual (er-)leben. Der Schlussapplaus löse daher geradezu ein Schamgefühl in ihnen aus, wie Gitta
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Abbildung 5: Pina Bausch: LE SACRE DU PRINTEMPS (1975), Heiliger Tanz
Quelle: Fernsehfassung 1979, © ZDF, Standbild bei 31:41
Barthel 2006 berichtete: Es war ihr, als habe sie tatsächlich einer Menschenopferung beigewohnt und dafür am Ende Beifall erhalten (vgl. Jordan 2007: 449). Pina Bauschs Opferritual ist eben keine Versöhnungsgeste, die auf die Herstellung von Harmonie zielt, sondern hebt auf die Wahrung von Geschlechterdifferenzen ab: »Das Ritual, das die archaische Gesellschaft mit kollektiven Handlungen zu kollektiven Haltungen zusammenführte und so die sozialen Distanzen verringerte«, stellen Jürgen Raab und Hans-Georg Soeffner fest, verselbstständigte sich in der Moderne »zu einem destruktiven Mechanismus der Grenzziehung und Entfremdung« (Raab/Soeffner 2007: 212). Es geht in diesem Sacre nicht um etwas Heiliges oder um einen Götzendienst im Sinne der Gemeinschaft, sondern um eine Erneuerung und »Befreiung aus den überkommenen gesellschaftlichen Verhältnissen« der 1970er Jahre, die «nur durch ›die Frau‹ angestoßen und verwirklicht werden« könne (ebd.).
4. R E -D ESIGN O ST : D IETMAR S EYFFERT (1981) Wenige Jahre nach Pina Bausch entstand an der Oper Leipzig ein FRÜHLINGSOPFER von Dietmar Seyffert – einem Choreographen, der in der (westdeutschen) Tanzgeschichtsschreibung nahezu unbekannt ist.
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Die Mauer trennte nicht nur die zwei deutschen Länder, sondern auch deren Kulturleben rigoros voneinander. Was auf den Tanzbühnen des Ostens vor sich ging, nahm man im Westen so gut wie nicht zur Kenntnis, und was sich im Westen auf dem Gebiet des Modernen Tanzes mit oder neben der Pflege des klassischen Balletts etablierte, fand im Osten nicht statt. Auf der 5. Tagung des Zentralkomitees der SED am 17. März 1951 wurde der Kampf gegen den (niemals genau definierten) »Formalismus« eröffnet, und zwei Jahre darauf folgte ein Beschluss, der die Tanzentwicklung in der DDR bis zu deren Ende bestimmen sollte: Bei der ersten »Theoretischen Konferenz über die Tanzkunst«, die am 23. und 24. März 1953 in Berlin stattfand, wurde der Moderne Tanz (bzw. Ausdruckstanz) ausgemustert: Tanzkunst, Tanzausbildung und Tanzkritik hatten sich umgehend an der Ballettentwicklung der Sowjetunion zu orientieren. Klassischer Tanz, Nationaltanz und Volkstanz hießen nun die einzig zugelassenen Bereiche. […] Die vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einsetzende Entwicklung von Tanztechniken im modernen Tanz ging auf diese Weise an der DDR nahezu vollständig vorbei. Auch die Tanztheaterentwicklung8 hatte keinen Einfluss auf die Entwicklung des modernen Tanzes in der DDR. (Stabel 2008: 37–39)
Von nun an galt in der DDR die Doktrin des Sozialistischen Realismus – eine für das klassische Ballett nicht eben leicht umzusetzende Maßgabe, ist doch die Bewegungssprache des klassischen Tanzes der realistischen (oder natürlichen) Darstellungsfähigkeit eher unverdächtig. Die Tanzschaffenden der DDR übernahmen also einstweilen das sowjetische Ballettrepertoire und die russischen Klassiker des 19. Jh.s, und wo es um Neuschöpfungen aus eigener Feder ging, waren auch Elemente aus der Tanzfolklore willkommen. Dass die »Konflikte der neuen Realität im Sozialismus nur mit den Mitteln des klassischen Tanzes oder des Volkstanzes nicht zu gestalten waren«, wurde jedoch schnell deutlich, und so hielten die »gestalterischen Elemente des
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Das 1965 von Tom Schilling an der Komischen Oper in Berlin eingerichtete »Tanztheater« trug diesen Namen nur, um sich dem im gleichen Haus ansässigen »Musiktheater« Walter Felsensteins begrifflich anzuähneln. Weder Stil noch Inhalt waren jedoch mit den späteren Tanztheaterarbeiten aus der BRD – etwa von Pina Bausch – vergleichbar (vgl. Köllinger 1983: 9–12).
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Ausdruckstanzes dann doch wieder Einzug in die Choreografien der neuen Werke« – nur als solche benennen durfte man sie nicht (vgl. ebd.: 41). Dietmar Seyffert (*1943) war mit dem Modernen im Tanz durch seine Ausbildung in der Palucca-Schule in Dresden (die das Fach einfach umbenannt hatte in »NKT – Neuer Künstlerischer Tanz«) ebenso vertraut wie mit dem Klassischen; seine Ausbildung zum Choreographen absolvierte er in Leipzig und Leningrad (Sankt Petersburg). 1979 wurde er »Chefchoreograf und künstlerischer Leiter des Ballettensembles am Leipziger Opernhaus«9, wo er 1981 seine – ideologisch verfärbte – Version des SACRE DU PRINTEMPS schuf: »Die Handlung ist nicht auf einer durchgehenden Geschichte von Individualitäten und klassischen Konflikten aufgebaut. Sie führt zurück in das heidnische Rußland und erzählt von dem naturgebundenen Leben der Urvölker zu Beginn der sich langsam herausbildenden Klassengesellschaft. Mit der Natur erwachen auch die Menschen im Frühling zu neuem Leben. Um dieses Leben nicht nur zu erhalten, sondern es auch vor möglichem Untergang und Unfruchtbarkeit zu schützen, wird alljährlich der Erde ein Opfer dargebracht. Die kraftvollen erotischen Spiele des Anfangs gehen bald in Kulthandlungen zur Vorbereitung des Fruchtbarkeitsopfers über. Nach dessen Vollzug gewinnen die Menschen Vertrauen in die Zukunft, das in der Vereinigung der Geschlechter seine inhaltliche Entsprechung erfährt.« (TAL [Tanzarchiv Leipzig], PrNr 2201: 1) Seyfferts Ensemble – verstärkt durch Studenten der Fachschule für Tanz Leipzig – tanzt barfuss, die Herren mit freiem Oberkörper, die Damen in hautfarbenen leichten Kleidern. Handlung und Figuren folgen dem Libretto von Strawinsky und Roerich, es gibt ausdrücklich einen (bärtigen und grauhaarigen, ansonsten jedoch jung und energetisch wirkenden) Weisen und seine Auguren sowie eine Auserwählte. Das Re-Design des Opferrituals liegt hier vor allem in den schlichten natur- und erdfarbenen Kostümen und Bühnenbildern, die eine deutlich erotisch aufgeladene Körperlichkeit unterstreichen, die dem eher folkloristisch aufgemachten Original von 1913 nicht (oder
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Vgl. Gregor Seyffert & Compagnie (o. J.).
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Abbildung 6: Dietmar Seyffert: LE SACRE DU PRINTEMPS (1981)
Quelle: Fernsehfassung 1988, © Fernsehen der DDR, Standbild bei 25:45 Min.
nicht so sehr) eingeschrieben war. Die Geschlechterdarstellung folgt Althergebrachtem: Die Männer strahlen vor allem Kraft und Energie aus, die Frauen eine ›natürliche‹ Leichtigkeit, die durch auf Halbspitze getanzte Passagen und Hebefiguren betont wird. Anders als bei Pina Bausch wird diese gesellschaftliche Ordnung nicht in Frage gestellt, sondern vielmehr die Gemeinschaft – oder, wie man in der DDR zu sagen pflegte, das Kollektiv – als Wert an sich vorgeführt: »Einer der Hauptakteure in diesem Ballett ist das Volk« (Günter 1987). Stilistisch verbindet Seyffert in seiner Choreografie Balletttechnik mit Ausdruckstanzelementen, überblendet die archaische Ritualhandlung mit klassischem Schritt- und Bewegungsmaterial.10 Auch er bedient sich unterschiedlicher Gruppen- und Kreisformationen, um die Archaik des Rituals darzustellen, überrascht an einer Stelle aber mit der rechteckigen Anordnung der Tänzer (Abb. 6). Doch rechte Winkel gibt es in der Natur nicht, und so erscheint diese Formation alles andere als natürlich oder urwüchsig, sondern vielmehr künstlich, menschengemacht wie die hier und da unübersehbare Ballettästhetik.
10 Seyffert wurde schon seinerzeit »als Meister der kleinen Form apostrophiert« und für seinen »ausdrucksstarken Bewegungsgestus eigener Prägung« gerühmt, der »akademische Formen und moderne Bewegungssprache in sich vereint« – vgl. Kurt Petermann, Fragebogen VIII/S/39 für ein Tanzlexikon des Henschelverlags, Tanzarchiv Leipzig (TAL).
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Abbildung 7: Dietmar Seyffert: LE SACRE DU PRINTEMPS (1981), Opfertanz
Quelle: Fernsehfassung 1988, © Fernsehen der DDR, Standbild bei 31:10 Min.
Dennoch wird im Programmheft versichert, man befinde sich in heidnischer Vergangenheit: Der Mensch in der geschichtlichen Epoche zwischen Barbarei und Zivilisation kann die in der Natur und in der Gesellschaft waltenden Gesetze noch nicht erkennen, sie damit auch nicht beherrschen und so für sich nutzbar machen. Erist ihnen untertan und versucht durch religiöse Rituale, die in der Opferung eines jungen Mädchens – Jugend als Symbol für Fruchtbarkeit – gipfeln, seinen Lebenskampf durch Versicherung des Wohlwollens einer Gottheit und Aussöhnung mit möglichen, zerstörerischen Kräften günstig zu beeinflussen. Der weise Alte als Stammesführer lenkt die mythischen Handlungen. Als Versuch, die Existenz aller zu retten, muss einer geopfert werden. (TAL, PrNr 2201: 5)
Den Opfertanz lässt Seyffert in einer großen Runde von stummen, unbewegten Zuschauern aufführen, kehrt also hier noch einmal zur ›archaischen‹ Kreisform zurück. Doch am Ende dieses Seyffert’schen Frühlingsopfers ist es nicht die Auserwählte, die sich selbst zu Tode tanzt und sich damit selbst opfert, sondern es ist die Gemeinschaft, die den letzten Schritt macht: Die Felswände, die bislang die seitliche Rahmung des Bühnenraumes gebildet hatten, werden nach dem Opfertanz der Auserwählten (Abb. 7) von zwei Gruppen in der Bühnenmitte zusammengeschoben, das Opfer dazwischen zermalmt. Nicht ein Indi-
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viduum opfert sich hier für die Gemeinschaft, sondern die Gemeinschaft opfert um ihrer selbst willen das Individuum. Seyfferts FRÜHLINGSOPFER wurde von der Kritik indessen hochgelobt: Die Choreographie macht die Erdgebundenheit und das aufstrebende Glücksgefühl der Menschen archaischer Zeiten beim Frühlingsbeginn nachfühlbar deutlich. Meisterhaft die Auslotung des Raumes […] durch die kontrapunktierenden Tänze der Gruppen; glaubhaft die Unterordnung der zügellosen Kräfte unter die Herrschaft des alten Weisen und seiner Auguren […], einfallsreich die Wahl des Mädchens, das um des Einvernehmens mit den außermenschlichen Kräften willen geopfert werden soll. (Kirstein 1987)
Sicherlich ist die Gestaltung eines Balletts nach ideologischen Vorgaben und den daraus abgeleiteten kulturpolitischen Direktiven immer eine Gratwanderung – gerade dann, wenn es um die Re-Interpretation eines Klassikers wie dem SACRE DU PRINTEMPS geht, das schon so viele (vorgeblich?) unideologische choreographische Umsetzungen erfahren hat. Die von Seyffert gewählte Mischung von klassisch-akademischen Bewegungen und Elementen des Ausdrucktanzes – oder des »Neuen Künstlerischen Tanzes« – fügt sich in ästhetischer Hinsicht passgenau in die DDR-Tanzgeschichte. Der sozialistische Realismus war in diesen Bildern aus dem heidnischen Russland exemplarisch verwirklicht.
5. F AZIT Dreimal SACRE: Das designte Ritual des Frühlingsopfers war in seiner knapp einhundertjährigen Geschichte zahlreichen Inszenierungs- und Stilmoden ausgesetzt. Der Bruch mit der Ballettästhetik, den die Autoren des Originals 1913 wagten, war zur Darstellung des fiktiven Opferrituals zwingend nötig, löste aber mit seiner Radikalität einen gewaltigen Skandal aus: Die ›primitiven‹ Bewegungen der Tänzer und deren folkloristischen Kostüme, die komplexe Musik und die ›archaische‹ Opferhandlung überforderten das Pariser Premierenpublikum in ungeahntem Maße – bis in die Theater der sogenannten Hochkultur waren die zeitgenössischen Diskurse um das Fremde, Urwüchsige, war die Faszination des Rituellen noch nicht vorgedrungen. Jenes SACRE
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PRINTEMPS, das vor dem Ersten Weltkrieg noch als skandalös abgelehnt wurde, entwickelte sich vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s zu einem der erfolgreichsten Stoffe überhaupt. Pina Bauschs Frühlingsopfer von 1975 inszeniert eine gestörte rituelle Ordnung, indem es auf aktuelle Geschlechterdiskurse verweist, die nicht aus der dargestellten Zeit stammen und dem Opfer damit, wie gezeigt worden ist, eine neue Bedeutungsebene einschreiben. Mit ihrer Interpretation von Strawinskys SACRE DU PRINTEMPS hat sie das (westdeutsche) Tanztheater, so die Beurteilung Jochen Schmidts,
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auf einen einsamen Gipfel getrieben und die vorgegebene Form auf unübertreffliche Weise erfüllt […], radikal mit allen Vorbildern gebrochen und die jeweils benötigte Bewegung neu und absolut zwingend aus der jeweiligen Fragestellung heraus entwickelt. (Schmidt 1992: 27)
Im Kontext der ostdeutschen Kulturpolitik entstand 1981 in Leipzig Dietmar Seyfferts Version des Frühlingsopfers, das zum einen der Maxime des sozialistischen Realismus verpflichtet ist und zum anderen das Verhältnis von Individuum und Kollektiv thematisiert. Der Vergleich der hier betrachteten Beispiele macht deutlich, wie elastisch die Idee dieses Opferrituals ist – und in wie viele (un)ideologische Kontexte es sich schlüssig einfügen lässt. Das Ritualdesign von 1913 war eine von aktuellen Diskursen informierte und von ethnologischen Entdeckungen inspirierte Ritualinvention, und vielleicht haben Nicholas Roerich, Igor Strawinsky und Vaslaw Nijinsky damit tatsächlich eine ursprüngliche oder besser: urmenschliche ›Wahrheit‹ gefunden, die jeder neuen Deutung Anreiz und ausreichend (Frei-)Raum gibt. Die Re-Designs von 1975 und 1981 jedenfalls stehen ihrerseits als Ritualinnovationen – wie auch die vielen anderen, hier nicht untersuchten Adaptionen des Stoffes – in der Tradition des originalen SACRE DU PRINTEMPS und schreiben diesem als die Neudeutungen, die sie sind, eine eigene, rituelle Dynamik ein.
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Wenn Rituale Kulturerbe werden Zur Konstruktion und Ästhetik kulturellen Erbes in Uttarakhand, Nordindien K ARIN P OLIT
1. R ITUALDESIGN ALS M ITTEL ZUR O BJEKTIVIERUNG KULTURELLEN E RBES Wenn Rituale als Kulturerbe anerkannt werden, haben im Vorfeld diverse Aushandlungsprozesse, Kompromisse und Reflektionen über die eigene(n) Identität(en) stattgefunden.1 Denn die Idee, Rituale könnten etwas anderes sein als Arbeit und Pflicht, steht in engem Zusammenhang mit einem globalen Austausch von Ideen und Konzepten, in welchem Kultur zu einem Objekt wurde, das unter anderem als Mittel zur Distinktion eingesetzt werden kann. In jedem Fall steht im Zentrum all dieser Prozesse die Reflektion über bestimmte rituelle Traditionen und deren Objektivierung. Im Zusammenhang mit der Objektivierung kulturellen Erbes in Nordindien wird Ritualdesign als Mittel zur Modernisierung eigener Traditionen verstanden. Dies ist möglich, da heutzutage viele Menschen generell über ihre eigene Kultur reflektieren und diese als ein System verstehen, zu dessen Interpretation sie jederzeit bereit sind und in welches sie agierend eingreifen können.2 So ist die
1
Vgl. u. a. Polit (2009, 2010 und 2011) und Brosius/Polit (2011).
2
Einschlägig beschrieben von Richard Handler (1988 und 2011) in seiner Studie zu kultureller Identität im Quebec der 1980er Jahre.
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kulturelle Objektivierung von materiellen und immateriellen kulturellen Gütern längst alltäglich geworden, und auch Rituale bilden hier keine Ausnahme. Sie werden genutzt, verändert und gezielt eingesetzt, um in konkreten Situationen ganz bestimmte Ziele zu erreichen (Brosius/Polit 2011). Ritualdesign spielt hier, wie ich im Folgenden ausführen werde, deswegen eine so große Rolle, da das Design solcher Szenarien zu ihrem Erfolg und Misserfolg entscheidend beiträgt. Ritualdesign ist in diesem Fall also als eine Art der Kulturobjektivierung zu verstehen. Dabei lehnt sich mein Gebrauch des Begriffes »Ritualdesign« an das kontemporäre Verständnis von Produktdesign an. Ich gehe also davon aus, dass Design einen kreativen, sozialen und kulturellen Prozess beschreibt, der auf die Produktion eines Endproduktes ausgerichtet ist und in der Regel auf eine Weise in Auftrag gegeben wird. Der oder die Designer richten sich grob nach den Wünschen der Auftraggeber, sind aber in ihrem kreativen Prozess frei. Bedeutend dabei ist, dass zwischen Auftraggeber und Designer ein Vertrauensverhältnis besteht und beide Seiten sich des gegenseitigen Verständnisses sicher sind. Im Designprozess selbst werden nun verschiedene vorhandene Elemente und Ideen neu zusammengesetzt. Ziel ist vor allem, dass das Endprodukt ›ankommt‹, dass es sich verkaufen lässt. Dieses Verständnis von Ritualdesign ist anders als der von Don Handelman (2004) gefasste Begriff, bei dem Ritualdesign vor allem in Zusammenhang mit der Funktionalität des Events Ritual, welches die Ordnungsprinzipien einer Gesellschaft unterstützt, verändert und erschafft, gesehen wird. In diesem Artikel werde ich mich mit der Wandlung einer rituellen Performanz im indischen Garhwal-Himalaya beschäftigen. Aus einer rituellen Tradition – dem Pandava Nrtiya – wurde eine theatrale Darstellung des rituellen und kulturellen Erbes der Region, die aber in das Ritual selbst re-integrierbar ist. Der vorliegende Artikel versteht die ästhetischen Veränderungen, Ergänzungen und Anpassungen dieser rituellen Performanz − der Adaption einer Tradition zur Bühnenreife – insofern als Design, als dass es sich hier um eine bewusste, kreative Arbeit handelt, die zu dem Zweck durchgeführt wurde, rituelle Traditionen einem breiten Publikum nicht nur zugänglich zu machen, sondern dieses auch zu begeistern. Mit anderen Worten, die rituelle Performanz sollte über die dörflichen Grenzen hinaus in der Region, der Nation, und vor allem für jüngere Generationen attraktiv gemacht werden. Um dieses Ziel zu erreichen, nutzen die Ritualdesigner vorhandene Ressourcen aus verschiedenen regionalen Traditionen, um Musik, Sprache,
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Tanz, Kostüme und Bühnenbild zu kreieren. Die rituelle Tradition wurde so zum Objekt kulturellen Erbes, aber gleichzeitig auch zum Akteur bei der Suche nach einer eigenen Modernität der Tradition. In Wirklichkeit handelt es sich auch auf lokaler Ebene um verschiedene Modernitäten, denn was als modern und was als rückständig gilt, ist, wie ich im Folgenden ausführen werde, auch auf lokaler Ebene umstritten und stark abhängig vom Grad der Marginalisierung, Stand der Bildung, Kaste, Klasse und vom Zugang zu globalen Netzwerken.
2. U TTARAKHAND Uttarakhand, zwischen den Jahren 2000 und 2008 noch Uttaranchal genannt, löste sich im November 2000 vom größeren indischen Bundesstaat Uttar Pradesh und wurde ein unabhängiger Bundesstaat im Norden Indiens. Verschiedene Faktoren führten zu dem Wunsch nach Unabhängigkeit. Während es in vielen anderen Orten Indiens Fragen der Ethnizität sind, die Bestrebungen nach einem unabhängigen Bundesstaat hervorrufen, waren es in Uttarakhand vor allem ökonomische und politische Fragen. Die Bevölkerung fühlte sich in Uttar Pradesh sozial, politisch und ökonomisch marginalisiert und als die Quoten für reservierte Plätze in Universitäten, staatlichen Einrichtungen und Parlament für Angehörige der unteren Kasten zu deren Vorteil verändert wurden, kam es zu starken Ressentiments innerhalb der Bevölkerung der Bergregionen. Denn dort sind die Kastenverhältnisse anders als im heutigen Uttar Pradesh. Es gibt verschiedene Rajputen- und Brahmanen-Jatis3,
3
Jati ist der indische Begriff für die Geburtsgruppe, die seit der Kolonialzeit im Alltagsgebrauch der Nordinder oft mit »Kaste« synonym gebraucht wird. Die Jati ist die relevante Gruppe für die Ordnung sozialer Beziehungen, vor allem für Heiratsallianzen. Jatis sind, anders als die Varnas, lokal verortet. Es gibt vier Varnas: Brahmanen (Priester), Kshatriyas, auch Rajputen genannt (Krieger, Könige, politische Führer, oft landbesitzende Gruppen), Vaishyas (Händler) und Shudras (Angestellte). In der sozialen Hierarchie gibt es darüber hinaus weitere Jatis, auch ›kleine Jatis‹ genannt, die in Europa als ›Unberührbare‹ bekannt wurden. Sie werden auch Harijans oder Dalits genannt. Für einen ausführlichen Überblick zum indischen Kastensystem vgl. Dumont (1980), Deliege (1992), Moffatt (1979), Marriott (1968) und Fruzetti/Östör (1982).
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die zwischen siebzig und achtzig Prozent der Gesamtbevölkerung in der Region ausmachen, einige wenige Vaishyas und etwa fünfzehn Prozent sogenannte Harijans oder Dalits (vgl. Lall 1942, Berreman 1963, Sanwal 1976, Campbell 1976, Joshi 1984, Sax 1991 und Polit 2006). Der Anteil der unteren Jatis in der Gesamtbevölkerung der Region Uttarakhand ist also relativ gering im Vergleich zur Ebene in Uttar Pradesh, und da die Region ohnehin stark unter Arbeitslosigkeit, ökonomischer und politischer Marginalisierung zu leiden hatte, gab die Änderung der Reservationsgesetzgebung schließlich den ausschlaggebenden Impuls zum Kampf um die Unabhängigkeit. Die verschiedenen Regionen Uttarakhands teilen somit einige kulturelle Aspekte, aber es war nicht ein Gefühl der kulturellen und sozialen Einheit und Andersartigkeit gegenüber der Bevölkerung Uttar Pradeshs, die zu Unabhängigkeitsbestrebungen führten. Politische und ökonomische Aspekte waren hier wichtiger. Die Distrikte Uttarakhands teilen viele kulturelle, sprachliche und soziale Traditionen mit den anderen Bergregionen im Himalaya, wie etwa Ost-Nepal und Himachal Pradesh; sie sehen sich selbst als Paharis – Bergbewohner. Im Zuge der Bildung eines eigenen Bundesstaates machten sich die Uttarakhandis jedoch auch immer mehr auf die Suche nach einer eigenen ›nationalen‹ Identität. Dies warf einige Fragen auf: Was zum Beispiel kann den Bundesstaat bei Veranstaltungen von regionaler und nationaler Bedeutung, wie der Parade zum Unabhängigkeitstag, vertreten? Welche der diversen musikalischen, künstlerischen, rituellen und performativen Traditionen taugen als Objekte kulturellen Erbes ohne jedoch zu viele Kontroversen innerhalb des Bundesstaates hervorzurufen? Eine der kulturellen Ikonen ist die Göttin Nanda Devi,4 deren Bedeutung für die gesamte Region unumstritten ist. Die Pilgerreise der Göttin findet gewöhnlich in einem Turnus von zwölf Jahren statt und ist das größte und bekannteste rituelle Spektakel der Region (vgl. Sax 1991). Zu ihren rituellen Traditionen zählt die Ballade der Göttin. Gut vermarktet und modernisiert von dem König der Volksmusik in Uttarakhand, Narendar Singh Negi,5 ist sie jedem Kind in der Region bekannt. In den letzten Jahren bildeten sich verschiedene Vereinigungen,
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Für eine ausführliche Beschreibung der Göttin Nanda Devi und deren Be-
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Die zunehmende Kommodifizierung der musikalischen Traditionen Garh-
deutung in der Region vgl. Sax (1991). wals wurde von Stefan Fiol (2010 und 2011) eingehend untersucht.
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die andere rituelle Traditionen, vor allem solche, die mit performativen Ritualen verbunden sind, auf die Bühne des nationalen Kulturerbes bringen wollen. Auf dem Mahabharata-Festival, das im Frühjahr 2011 vom Indira Gandhi National Centre for the Arts in Neu Delhi veranstaltet wurde, waren etwa die Hälfte aller rituellen Präsentationen aus Uttarakhand. Das liegt zum einen natürlich daran, dass diese Region stark mit dem MAHABHARATA6 assoziiert ist, aber auch daran, dass die Menschen Uttarakhands den Marktwert der eigenen Traditionen erkannt und zur Bühnenreife adaptiert haben. Um die Rituale vermarkten zu können, mussten sie verändert werden. Im Folgenden werde ich aufzeigen, dass das Design dieser Performanzen, die sich an den rituellen Traditionen der Region orientieren, nicht nur für die Vermarktung auf den kulturellen Bühnen Indiens wichtig, sondern auch ein signifikanter Faktor in der Vermarktung der eigenen Traditionen innerhalb des Bundesstaates als ein ernstzunehmendes kulturelles Gut mit eigenem Wert ist. Die Umwandlungen der rituellen Traditionen in Objekte des Kulturerbes stehen am Ende eines langen Prozesses des Umgangs mit den eigenen Ritualen. Der Blick kultureller Außenseiter (z. B. Kolonialherren) stellte lokale Rituale als etwas Besonderes heraus und nahm ihnen damit ihre Alltäglichkeit. Als Teil des kolonialen und postkolonialen Diskurses wurden sie und damit vor allem die Ausführenden als rückständig, irrational und unwissend stigmatisiert. Dieses Stigma wurde immer mehr internalisiert und führte zu ambivalenten Gefühlen gegenüber den eigenen rituellen Traditionen, vor allem unter gebildeten Uttarakhandis. Diese rituellen Traditionen nun zum Kulturerbe zu machen, scheint diese Ambi-
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Das MAHABHARATA ist eines der beiden großen Epen Indiens. Es existieren verschiedene mündliche und schriftliche Überlieferungen des Epos und noch mehr performative Traditionen, die über den gesamten Subkontinent und weit über Asien verbreitet sind. Es erzählt die Geschichte einer Familie, die sich im Streit über den Thron entzweit. Dieser Streit endet in der großen Schlacht bei Kurukshetra in der alle Angehörigen der Familie außer den fünf Pandavas und ihrer gemeinsamen Frau Draupadi getötet werden. Die Pandavas ziehen sich daraufhin in den Himalaya zurück und steigen von da in das Reich der Götter auf. Damit habe das Zeitalter des Verderbens – das Kali Yuga –, in dem wir uns heute befinden, begonnen (vgl. Michaels 2004: 300). Viele Bewohner Uttarakhands sehen sich als Nachfahren der Protagonisten dieses Epos (vgl. Sax 2002).
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valenz aufzulösen und dem Selbstbild der lokalen Elite Uttarakhands zu entsprechen. Allerdings müssen die rituellen Traditionen dafür ästhetisiert und von bestimmten Elementen befreit werden. In diesem Sinne sind die Ritualmacher, die im folgenden Fallbeispiel ausführlich beschrieben werden, wichtige Agenten in der Vermarktung, vor allem aber in der Überlieferung ritueller Traditionen. Sie spielen damit eine bedeutende Rolle im steigenden Selbstbewusstsein der dörflichen Bevölkerung Uttarakhands, da die eigenen rituellen Traditionen mit dem ›richtigen‹ Design nun eben nicht mehr Zeichen der Rückständigkeit, sondern der Einzigartigkeit der Region sind. Welches Design allerdings das ›richtige‹ ist, um dieses Ziel zu erreichen, ist in der Region umstritten. Denn im Zuge dieses Designprozesses werden auch viele Aspekte der rituellen Traditionen, die nicht dem Zeitgeist eines modernen aufgeklärten Hinduismus entsprechen, etwa wilde Besessenheitstänze und blutige Tieropfer, marginalisiert und exotisiert. So entsteht mitunter ein merkwürdiger Zwiespalt in den rituellen Traditionen und eine ästhetisch-performative Hierarchie unter den Künstlern auf der Bühne des Kulturerbes. Diese Prozesse waren bei der Entwicklung und den Diskursen um eine Episode aus dem lokalen MAHABHARATA – dem Chakravyuha – deutlich zu beobachten.
3. D ER C HAKRAVYUHA Als ich das erste Mal eine Aufführung des Chakravyuha sah, hatte ich einiges von den rituellen Traditionen des Pandava Nrtiya (vgl. Abschnitt 4), die jedes Jahr im November und Dezember in verschiedenen Dörfern Garhwals – einer Region Uttarakhands – stattfinden, gehört, bislang jedoch noch keines miterlebt. Der Pandava Nrtiya ist ein mehrtägiges Ritual, in dem die Geschichte der fünf Pandava-Brüder durch Tänze, Gesang und Musik rituell aufgeführt wird. Jeder Protagonist der Geschichte, der hier als göttliches Wesen verehrt wird, hat eine Melodie, ein Lied und einen menschlichen Gastgeber, der es ihm oder ihr gestattet für die Zeit der rituellen Performanz in seinem Körper zu tanzen. Die Chakravyuha ist eine Episode aus dem Epos. Das Ritual diente als Inspiration für die Aufführung, die ich in Dehra Dun sehen sollte. Ich wurde von D. R. Purohit, einem der Autoren des neuen Textes für die Chakravyuha-Aufführung, gebeten, das geplante
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Abbildung 1: Der Chakravyuha
Quelle: Karin Polit, Narendarnagar, Uttarakhand, Oktober 2006
Spektakel, das einen der Höhepunkte eines Kulturerbe-Festivals in Uttarakhands Hauptstadt Dehra Dun ausmachte, auf Video aufzunehmen. Die Atmosphäre war urban, das Publikum bestand aus mehreren hundert Menschen, die meisten lebten in Dehra Dun und gehörten der Bildungsschicht der Stadt an. Für diesen Abend hatte man das Arrangement der Stühle so geändert, dass die Zuschauer nicht mehr frontal auf eine Bühne sahen, sondern im Halbkreis um das Labyrinth herum saßen, welches die Chakravyuha genannte, militärische Formation andeuten sollte. Mit Holzstöcken und bunten Saris hatte die Schauspieltruppe an diesem Tag den Chakravyuha errichtet, auf den am dreizehnten Tag der großen Schlacht des MAHABHARATA die fünf Pandavas im Kampf gegen die neunundneunzig Kauravas getroffen sein sollen (vgl. Abb. 1). Als die Sonne gerade untergegangen war, begann D. R. Purohit, Mitautor und künstlerischer Leiter der Aufführung, den Ort mit Rauch und Räucherduft zu reinigen. Am Eingang des Labyrinths opferte er eine Kokosnuss. Dann verschwand er wieder von der Bildfläche und es trat eine gespannte Stille im Publikum ein. Im Licht des Vollmonds schimmerte das Labyrinth. Langsam sah man Gestalten aus verschiedenen Richtungen auf die Arena zulaufen, als plötzlich die Scheinwerfer angingen und die Armeen der Kauravas und Pandavas, durch laute
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Trommeln und rituellen Gesang begleitet, anrückten. Abwechselnd erschollen die rituellen Hymnen, die die Pandava-Familie7 begleiteten, und die aggressiven militärischen Parolen der Kauravas aus den Lautsprechern. Langsam entfaltete sich die Episode des großen Epos vor den Zuschauern. Arjuna, der schlaue und geschickte Schütze der Pandava-Brüder, wurde von Krishna fortgelockt. Dann kam ein Bote, der die Pandavas mit einer tiefen Verbeugung und Berührung ihrer Füße grüßte und sich damit als enger Verwandter zu erkennen gab. Er überbrachte die Herausforderung des Tages. Die Kauravas standen in der militärischen Formation des Chakravyuha bereit und forderten die Pandavas heraus, sie in dieser zu schlagen. Es war eine Frage der Ehre, die Herausforderung anzunehmen, jedoch erkannte der König und älteste Bruder der Pandavas, Yudhishthira, dass einzig der von Krishna fortgelockte Arjuna wusste, wie die Kauravas in dieser Formation zu schlagen seien. So stand er der Nachricht ratlos gegenüber, als Abhimanyu, der noch sehr junge Sohn Arjunas, hervortrat und bat, kämpfen zu dürfen. Noch im Mutterleib habe er gehört, wie man in die Formation eindringen könne. Einzig den Weg zurück kenne er nicht. Bhima, der stärkste der Pandavas, beschloss, mit ihm zu kommen, sich sicher seiend, er könne Abhimanyu beschützen und den Weg zurück gewährleisten. So ließ Yudhishtira den Jüngling, begleitet von seinem Onkel Bhima, schweren Herzens in die Schlacht ziehen. An der Formation angekommen musste Bhima aber erkennen, dass die Kauravas den einzigen Krieger, dem die Götter die Macht gegeben hatten, ihn zu besiegen, an den Eingang des Labyrinths gestellt hatten. So blieb ihm also nichts anderes übrig, als Abhimanyu alleine ziehen zu lassen, da er an dieser Wache nicht vorbeikam. Tapfer und geschickt kämpfte sich Abhimanyu durch das feindliche Lager und besiegte die Kauravas, einen nach dem ande-
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Die Pandavas sind die fünf Söhne Pandus: Yuddhisthira, Bhima, Arjuna, Nakula und Sahadeva. Hier sind sie mit ihrer Mutter Kunti, ihrer gemeinsamen Frau und ihrer Schwiegertochter, der Ehefrau Abhimanyus (Sohn des Arjunas) dargestellt. Die Kauravas sind ihre 99 Cousins, mit denen sie um den Thron streiten. Kunti ist die leibliche Mutter der drei älteren Brüder Yudhishthira, Bhima und Arjuna sowie soziale Mutter der Zwillinge Nakula und Sahadeva, deren leibliche Mutter und zweite Frau Pandus, Madri, sich nach dem Tod ihres Mannes mit ihm verbrennen ließ und die Fürsorge für die Kinder an Kunti übergab.
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ren. Dabei tötete er die Feinde nicht, sondern begnügte sich damit, an ihnen vorüberzuziehen, denn im Zentrum stand sein Onkel Duryodhana. Würde er ihn besiegen, wäre nicht nur die Schlacht, sondern auch der Krieg gewonnen. Nur Lakshmana, Duryodhanas Sohn und Abhimanyus Cousin, war ihm in Kraft und Kampfeslust fast ebenbürtig und wurde daher von Abhimanyu getötet. Die Nachricht vom Tod seines Sohnes ließ König Duryodhana zunächst verzweifeln und dann den furchtbaren Plan fassen, sich an dem Jüngling zu rächen. Als Abhimanyu schließlich zu ihm durchgedrungen war und sich anschickte, auch mit ihm, dem König Duryodhana, zu kämpfen, appellierte Duryodhana an ihre Verwandtschaft, erzählte dem Jungen, er wolle ihn an seines Sohnes Stelle an sein Herz drücken und den Krieg beenden. So gelang es Duryodhana, den Jüngling Abhimanyu dazu zu bringen, ihm seine Waffen zu Füßen zu legen. Als er sich gerade in den Schoß des Onkels begeben wollte, stand dieser auf und forderte seine Armee auf, den nun wehrlosen Abhimanyu zu töten. Den toten Körper ließen sie auf dem Schlachtfeld zurück, damit seine Verwandten die letzten Riten durchführen konnten.
4. D ER C HAKRAVYUHA IN
DEM
P ANDAVA N RTIYA
Die Geschichte Abhimanyus ist in ganz Indien bekannt. Als Teil des lokalen MAHABHARATA ist die Geschichte des tapferen Abhimanyu und des unehrenhaften Sieges des Duryodhana in dieser Version jedoch auch Teil des alljährlichen Pandava Nrtiya. Pandava Nrtiya ist der Name eines rituellen Festes, welches in verschiedenen Dörfern der Distrikte Chamoli und Rudraprayag in den Monaten November und Dezember (Kartika) stattfindet. Während dieser zehn Tage werden verschiedene Episoden aus dem MAHABHARATA durch rituelle Tänze, Gesang und Musik zum Leben erweckt. Die Trommler sind Angehörige einer unteren Jati, den sogenannten Das. Die Tänzer sowie die meisten Zuschauer stammen aus den Jatis, die den Rajputen zugeordnet werden. Laut William S. Sax (2002) handelt es sich hier um ein elaboriertes Ahnenritual (shraddha). Die Rajputen aus den Dörfern, in denen das Ritual abgehalten wird, sehen sich folglich als Nachfahren der Protagonisten dieses alten Epos. Wie Sax anschaulich beschreibt, sind die rituellen Tänze mehr als gesungene und getanzte Geschichten. Vielmehr verbinden sie die Dorfbewohner auf performative Weise mit
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Abbildung 2: Nautanki-Einflüsse in den rituellen Performanzen Garhwals. Die Kostüme ähneln denen der urbanen Ram Lila.
Quelle: Karin Polit, Pipalkoti, März 2006
ihrer eigenen Geschichte und bringen dies ins Hier und Heute. Für den Moment des Tanzes werden aus den Tänzern die Pandavas, sowie deren Freunde und Feinde. Die Tanzenden hören auf, individuelle Dorfbewohner zu sein und verschmelzen stattdessen temporär mit den Ahnen.8 Während Sax (2002: 105) der Meinung ist, die ChakravyuhaEpisode wäre insgesamt eine Neueinführung in den Pandava Nrtiya, schreibt der Gründer des Centre for Folklore and Performance Studies an der H. N. B. Garhwal University, D. R. Purohit, sie wäre schon seit langer Zeit populär (Purohit 1993: 44). Geschichtlich nachzuvollziehen ist jedoch nur die Tatsache, dass zu Beginn des 20. Jh.s eine drastische Änderung in der Form der Performanz dieser einen Episode stattgefunden hat, die bis heute nachwirkt. Was bis dahin als Teil des oben
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Elisabeth Schömbucher-Kusterer (2006) hat ausführlich beschrieben, dass es in Indien für Phänomene, die in westlichen Kontexten oft unter dem Begriff ›Besessenheit‹ zusammengefasst werden, viele verschiedene Worte und Formen gibt. Die meisten haben keine negative Konnotation. Im Gegenteil, das geplante Verschmelzen mit einem göttlichen Wesen ist in Garhwal nicht nur erwünscht, sondern auch notwendig, um bestimmte Rituale vollständig durchführen zu können.
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kurz beschriebenen Rituals – dem Pandava Nrtiya – als Tanz mit begleitender Musik und Gesang im Hofe des größten Hauses des Dorfes stattgefunden hatte, wurde ganz bewusst zu einem theatralen Spektakel umgestaltet. Dies blieb allerdings Teil des einwöchigen Rituals und wurde fortan oft als Höhepunkt am letzten Tag des Rituals eingefügt. Zwei Theaterkünstler, Bacha Ram »Ariya« und Chandra Singh Butola, kehrten zu Beginn des 20. Jh.s aus unterschiedlichen Teilen Indiens, wo sie als Schauspieler an verschiedenen Bühnen gearbeitet hatten, nach Garhwal zurück und schlossen sich zusammen. Sie erkannten, dass die Episode des Chakravyuha sich hervorragend dazu eignete, als offenes Theater auf den Feldern der Dörfer aufgeführt zu werden (vgl. Ohri 2006). So schrieben sie gemeinsam ein Manuskript und machten sich an das Design der Aufführung. Laut D. R. Purohit sind die Einflüsse älterer indischer Theatertraditionen wie Nautanki und Parsi9 klar sichtbar im Design von Bühne, Kostüm, Text und Musik (vgl. Abb. 2). Dabei blieb die Episode allerdings immer Teil der rituellen Tradition. Sie wurde innerhalb des Rituals aufgeführt und durch die Götter des Dorfes und die Pandavas autorisiert. Aus D. R. Purohits Sicht begab es sich folgendermaßen: [Bacha Ram »Ariya« und Chandra Singh Butola] schrieben auch einen Text für die Prozession von Abhimanyus Sänfte, Abhimanyus Streitwagen. Er wurde von allen Göttern des Dorfes begleitet. Während sie [i. e. die Götter] auf das Feld zogen, bewarfen sie Abhimanyu pausenlos mit Reis und Blumen. Sie sangen Slogans, tanzten und bewegten sich so langsam zur Bühne, zum Schlachtfeld. Das war die einzige Prozession des Chakravyuha, die auf diese Art und
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Nautanki ist eine indische Musik-Theatertradition, die besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s im Punjab und in Uttar Pradesh populär war. Als Volkstheater, das an wechselnden Orten mythische Geschichten erzählte, hatte es vor allem auf die Ram Lila-Traditionen Nordindiens einen großen Einfluss. Für eine ausführliche Beschreibung und Geschichte des Nautanki-Theaters vgl. Hansen (1993). Das Parsi-Theater ist benannt nach der Gemeinschaft, die es in der Mitte des 19. Jh.s organisierte, den Parsis. Stark beeinflusst von westlichem Theater durch die Briten entstand in den urbanen Zentren Nordindiens (Delhi, Lucknow, Jaipur und Bhopal) ein Bühnentheater in Hindi (vgl. Hansen 1993: 39–42).
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Weise dekoriert wurde. Und es ist bis heute so geblieben. Die Prozession beginnt im Tempelhof. Dort erlauben die Pandavas [die göttliche Präsenz der Pandavas in den Körpern ihrer Ahnen] Abhimanyu, aufs Schlachtfeld zu ziehen. Und der Mann, der den Abhimanyu gibt, muss an diesem Tag fasten. Dann muss er den Pandavas am Morgen der Aufführung bestimmte Rituale darbringen. Im Laufe des Tages legt er sein Kostüm an und die Pandavas fahren in ihre Medien. Jetzt erlauben sie es Abhimanyu, in die Schlacht zu ziehen. (D. R. Purohit, Interview 2006, Übersetzung aus dem Englischen Karin Polit)
Das Spektakel, designt von den beiden lokalen Theaterkünstlern, passte gut in den Geist der Zeit und wurde von immer mehr Dörfern in ihr rituelles Repertoire aufgenommen. Sehr bald war es so sehr Teil der lokalen Tradition, dass die Urheberschaft immer mehr in Vergessenheit geriet. Gleichzeitig führten zunehmende Sanskritisierungsprozesse10 zu Veränderungen in der Performanz. Als Sax in den 1990er Jahren die Chakravyuha-Performanzen sah, waren es, in den Augen des nostalgischen, amerikanischen Ethnographen ästhetisch und künstlerisch fragwürdige Veranstaltungen (Sax 2002). Die Performanzen schienen vor allem bedeutend geworden zu sein, um ein bestimmtes Bild von den Dörfern und den Dorfbewohnern Garhwals hervorzuheben. Es war ihnen wichtig, zu zeigen, dass sie lesen konnten und dass sie mit der Ästhetik der Ram Lilas11 mithalten können. So schreibt Sax: In performances I attended in the Mandakini River basin, dancers relied on handheld printed scripts, from which they declaimed in a rather stilted fashion, reminiscent of ram lila performances in the plains and in nearby Kumaon.
10 Der Begriff ›Sanskritisierung‹ beschreibt bestimmte Prozesse von sozialer und kultureller Anpassung in Indien. Der Begriff wurde geprägt von dem Soziologen M. S. Srinivas (1966), der Sanskritisierung vor allem als Strategie der unteren Jatis verstand, durch die Übernahme von Praktiken der höheren Kasten in der sozialen Hierarchie aufzusteigen. Heute beschreibt der Begriff verschiedene Prozesse, die auf Aufstieg in der sozialen Ordnung ausgerichtet sind und von Anpassung an die Schriftkulturen Indiens sowie die anerkannten klassischen performativen Künste geprägt sind. 11 Die Ram Lila ist eine rituelle Performanz, die in theatralischer Weise das zweite große Epos Indiens – das RAMAYANA – erzählt. Ausführliche Beschreibungen finden sich bei Sax (1995).
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When I asked the old men if they were not able to recite the story from memory, as they do in Chandpur they said that for them it was a matter of pride that their sons could read from such a script. Why should they preserve their old, illiterate traditions? Perhaps because of its association with literacy, the Circular Array [Chakravyuha] seems to be growing rapidly in popularity and spreading well beyond its original area near Ukhimath, as far as Nandak and the region surrounding Rudraprayag. (Sax 2002: 105)
Die von Sax beschriebene Ästhetik und der Stil der Aufführung galt für die Mehrzahl der Dorfbevölkerung als Zeichen ihrer Fortschrittlichkeit. Man stellte die eigene Bildung und Weltoffenheit zur Schau und wandte sich so von einer gefühlten kulturellen Rückständigkeit ab. Dies ist vor allem im Zusammenhang der politischen und ökonomischen Marginalisierung der Region zu sehen. Es schien vor allem um ein Bedürfnis der ruralen Bevölkerung zu gehen, sich – vor sich selbst und Anderen – als den Hindus in den urbanen Zentren Nordindiens ebenbürtig darzustellen. Es wurden also immer mehr Elemente aus anderen Teilen Indiens und aus anderen Ritualtraditionen in die eigenen Performanzen integriert. Die eigenen Rituale wurden modernisiert. Ganz anders sah dies die Mehrheit der lokalen Bildungselite, die sich vor allem aus Universitätsprofessoren und Lehrern zusammensetzte. Sie wurden zunehmend von globalen Strömungen beeinflusst und begannen kulturelle Güter, lokales Handwerk, alte Architektur, traditionelle Volkstänze und -lieder, aber auch Teile ritueller Traditionen als Werte an sich zu betrachten. Diese rückwärts gerichtete und tendenziell melancholische Betrachtungsweise der eigenen Kultur lehnt, wie die berühmtesten Vertreter dieser Sicht aus der Frankfurter Schule (vgl. Adorno 131993), Veränderungen in und an diesen kulturellen Gütern ab. Sie tut dies in der Überzeugung, die – als unreflexiv empfundenen – modernisierenden Veränderungen würden letztendlich zur Zerstörung der Traditionen führen. In seiner Doktorarbeit beschreibt D. R. Purohit diese Prozesse als Sanskritisierung und äußert seine Bedenken. Der Grund für die, aus seiner Sicht »gravierend zerstörerischen« Entwicklungen sei (Purohit 1993: 43), und in diesem Punkt stimme ich ganz mit ihm überein, die zunehmende Sichtbarkeit der eigenen Marginalisierung durch die steigende Bildung der dörflichen Bevölkerung. Die Reaktion auf die Einsicht, dass Garhwal in urbanen Räumen als rückständisch und seine Bevölkerung als ungebildet und abergläubisch galt, schien die Anpassung der eigenen rituellen Perfor-
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manzen an klassisch-indische Standards zu sein. Man versuchte, die eigenen rituellen Traditionen den Aufführungen in der Ebene anzupassen. So begann man sich in Kostüm und Stil an der Ram Lila, die im urbanen Raum Nordindiens populäre Performanz des anderen Epos Nordindiens – RAMAYANA – zu orientieren. Im Zuge dieser Veränderungen wurden laut D. R. Purohit auch die lokalen Balladen immer mehr den geschriebenen und gedruckten Versionen der Ebene angepasst: […] since Mahabharata became available in print, there has been a gradual
tendency of the diction of the ballad being sanskritized. The ballad text sung by the drummers remained the same for some time, and now for the lack of interest and incentives, the performers, in a majority of cases, have forgotten the text. Whatsoever is sung by them, is only lines improvised to keep up with the rhythm of dance and drums. (Purohit 1993: 44)
5. D ER C HAKRAVYUHA WIRD
ZUM
K ULTURERBE
Gleichzeitig mit den oben beschriebenen Prozessen der Sanskritisierung oder der Anpassung der lokalen oralen Traditionen an die Schrifttraditionen der beiden großen indischen Epen MAHABHARATA und RAMAYANA, begann man in Garhwal, neben dem Chakravyuha noch andere Episoden des Pandava Nrtiya theatralischer zu gestalten. Man versuchte also auch auf Dorfebene, die eigenen Rituale zu modernisieren. Bis zum Ende des 20. Jh.s waren solche performativen und theatralen Höhepunkte als Teil der Pandava Nrtiya-Rituale sehr beliebt geworden. Da diese Adaptionen jedoch im Kreise der intellektuellen Elite als ›unauthentische‹ und ›zerstörerische‹ Veränderungen gesehen wurden, beschloss die lokale NGO namens REACH, diese Prozesse aufzuhalten, und gab ein Neudesign des Chakravyuha in Auftrag. Basierend auf einem Verständnis von kulturellem Erbe, welches von der Reflektion über die eigene Kultur geprägt ist und tief im Diskurs über Authentizität, kulturellen Wert und einem damit im Zusammenhang stehenden Sinn für Ästhetik wurzelt (vgl. Leistle 2011 und Smith 2006), sollten alle als unauthentisch und unästhetisch empfundenen Teile der Rituale aus der Performanz entfernt werden. Interessanterweise wurden dabei allerdings auch alle Bestandteile des Rituals, die im Diskurs der Moderne mit Rückständigkeit und Aberglauben assoziiert wurden,
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nämlich Tieropfer und göttliche Präsenz im menschlichen Körper, eliminiert und es wurde zunächst ein rein theatralisches Werk geschaffen. Ziel war es, lokale Performanzkunst zu erhalten und sie mit dieser Anstrengung vor dem Verschwinden zu bewahren, wie D. R. Purohit mir erläuterte: […] das Skript brütete schon viele Jahre in meiner Vorstellung. Jedes Mal, wenn ich den Chakravyuha sah, wollte ich es besser machen. So wuchs das Skript langsam über Jahre hinweg in mir heran, bevor ich mit der formellen Forschung überhaupt begonnen hatte. Aber dann bekam ich endlich die Gelegenheit meine Ideen zu verwirklichen. REACH erlaubte mir, es endlich zu tun, sie finanzierten das Vorhaben! Und so lud ich zwei weitere Künstler ein, mit mir zusammen zu arbeiten. Der eine war Saveshwar Kanpal. Er ist ein wunderbarer Sänger, ein Poet. Und der andere ist ein Schauspieler, ein Theaterschauspieler, Krishnan Nautiyal. Wir drei, wir setzten uns zusammen und begannen das Stück zu schreiben. Und dann bat ich noch jemanden hinzu – unseren Regisseur Suresh Kala. Wir stellten unseren Regisseur an und wir baten ihn, sich zu uns zu setzen. Wir begannen damit, Dialoge zu schreiben, und dann begann sich das Design der einzelnen Szenen in unserer Vorstellung zu formieren. Dann, als die Lieder und alles andere fertig geschrieben waren, versuchte ich, den Duktus der Dialoge noch zu verbessern. Ich hatte so viele Idiome gesammelt, Sprachmotive des alten Garhwali. Ich hatte eine Sammlung von etwa 2000 verschiedenen sprachlichen Leitmotiven, die die Sprache machtvoll machen konnten – rhetorisch. Und jetzt setzte ich diese rhetorischen Leitmotive ein und führte sie in jeden Dialog ein. (Purohit, Interview 2006)
Es handelt sich hier meiner Meinung nach um einen Design-Prozess im klassischen Sinne, denn es war sozusagen eine Auftragsarbeit. Die Designer bedienten eine ganz bestimmte Ästhetik und benutzten vorhandene Elemente in einer neuen Weise, um zu ihrem Endprodukt zu gelangen. Dieser gut durchdachte und gut recherchierte Designprozess führte letztendlich zu einem großen Erfolg der Produktion, denn die Professionalität mit der hier gearbeitet wurde, ist im Endprodukt, der nun kommodifizierbaren Bühnenversion des Chakravyuha, deutlich zu spüren. Noch wichtiger jedoch erscheint mir die Aussage, die der Prozess des Neu-Designs und das Endprodukt selbst implizieren. Denn das Design konnte nur erfolgreich sein, weil es einen Zeitgeist getroffen hat, und ist so als eine Reaktion auf Diskurse von Modernitäten und Unterprivilegierung zu verstehen. In seinem Buch über die Entste-
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hung des neuen Chakravyuha beschreibt einer der Mitbegründer von REACH, Lokesh Ohri, die Beweggründe der Organisation für die Entscheidung des Auftrags dementsprechend: The mass media and the education system are geared only towards mammon worship; the support systems for the tradition bearers have all but vanished. The situation has come to such a pass that in the absence of patrons and economic support from the government, the folk singers, performers, artists have begun to lose all pride in their eco-cultural traditions. In the absence of patrons, the youth of the villages to whom the eco-cultural practices were bequeathed through the oral traditions, now prefer to migrate to the cities and work as household helps and coolies rather than play the dhol-damau [Trommeln] by becoming bajgis [Musiker] or be the oracle defenders of the sacred groves. […] These values, we realized, are generally carried in a subtle manner through folklore and myth of a community and are evident in the ecologicalcultural practices. Such ecological-cultural practices that lead to sustainable coexistence are stored in the indigenous knowledge systems and oral consciousness. A need was felt to carry out research, document and provide wherewithal to the communities to sustain these practices in order to attain conservation without entering into conflict with the indigenous communities. In areas where erosion of these practices has occurred, it was our objective to restore these traditions through advocacy and support, both financial and ideational. (Ohri 2006: 19)
Die Organisation REACH hoffte, dass das, was für sie ästhetische Verbesserungen an der Tradition waren, letztendlich auch zur Popularität Uttarakhands als Urlaubsdestination für Erlebnisreisende beitragen würde. Aber das Hauptziel dieser Intervention war es, eine (imaginäre?) wertvolle lokale Tradition zu erhalten. Dabei sollte sie authentisch bleiben und gleichzeitig attraktiv für die auf Konsum und neue Medien ausgerichtete Jugend der Region sein. Wie ich andernorts weiter ausführte (Polit 2009), haben die hier involvierten Akteure klar verstanden, dass solche Performanzen unabdingbar mit der Tradierung von sozialem und kulturellem Wissen und Gedächtnis sowie einem Sinn für Identität verwoben sind. Performanz wirkt hier als Produzent von Tradition und verkörpertem Wissen. Man hatte verstanden, dass die Weitergabe kulturellen Wissens über bestimmte rituelle Traditionen nicht durch die Verschriftlichung der Tradition, über Bilder, Fotografien oder Audio- und Videoaufnahmen möglich ist. Der einzige Weg, diese
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Abbildung 3: Musiker im Kostüm kurz vor der Aufführung
Quelle: Karin Polit, Dehra Dun, Virasat-Festival, Oktober 2004.
Form von Wissen zu tradieren, ist ihrer Meinung nach die auch leibliche Einbindung der Leute in die performativen Traditionen. Dabei ist die Intervention geleitet von einer nostalgischen Sicht auf die eigenen Traditionen, wie es in der globalen Diskussion um Kulturerbe seit etwa 150 Jahren üblich ist.12 Diese Nostalgie wird von einem ästhetischen Sinn begleitet, der Altes und scheinbar Ursprüngliches gegenüber sichtbar neuen Änderungen in kulturellen Praktiken wertschätzt. Ganz im Sinne der Frankfurter Schule werden neue Medien, moderne Kostüme oder zeitgemäßer Sprachgebrauch nicht nur als unästhetisch und unkultiviert abgelehnt, sondern als die Tradition zerstörend empfunden. Das gezielte Design nahm also besonders die Elemente, die als wichtig und schön empfunden wurden, in die Performanz auf. Dazu gehörte zum Beispiel Garhwali, die Lokalsprache, aber in einer altertümlichen, als ursprünglich empfundenen Form, nicht in der heute gesprochenen. Ebenso gehörten dazu Kostüme, die an historische regionale Kleidung angelehnt sind (vgl. Abb. 3 u. 4). Hingegen sind Musik, Rhythmen und Instrumente eine Mischung aus klassisch-indischen und lokalen Stilen. So hat das Eingreifen von
12 Zum Diskurs von Kulturerbe vgl. Brosius/Polit (2011).
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Abbildung 4: Darsteller des Duryodhana legt letzte Hand an sein Kostüm
Quelle: Karin Polit, Dehra Dun, Virasat-Festival, Oktober 2004
REACH und das Neudesign des Chakravyuha nicht zum Erhalt oder der Tradierung eines alten, authentischen kulturellen Wissens geführt, welches in dieser Form auch höchstens in der Imagination der Protagonisten existierte, sondern vielmehr wurde ein Stück Kulturerbe geschaffen. Dieses Kulturerbe eignete sich nun zur Aushandlung verschiedener regionaler Interessen. Der neue Chakravyuha war in den darauffolgenden Jahren überaus erfolgreich. Der Premiere folgten zahlreiche weitere Aufführungen in Garhwal, vor allem auf Festivals, die lokale Kulturen und Kulturerbe zum Thema hatten, aber auch an der National School of Drama in Delhi oder auf der festinstallierten Folkloreausstellung Dilli Haat in Delhi. Für viele wurde der Chakravyuha ein Repräsentant für Garhwal und Uttarakhand. Das neue Design bediente das Bedürfnis der Elite, die eigenen Traditionen als ästhetisch wertvoll und intellektuell anspruchsvoll präsentieren zu können und sich trotzdem als einzigartige lokale Eigenart von anderen Traditionen Indiens abzuheben. Der Chakravyuha tat dies gleich auf mehreren Ebenen. Er steht im Kontext der großen Traditionen, da er eine in Indien weit verbreitete Episode des MAHABHARATA erzählt, sich aber von der allgemein bekannten Version als eine lokale Eigenheit absetzt. Er symbolisiert den Status der Re-
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gion Garhwal als Dev Bhumi, als Land der Götter, indem er die Verbindung der Gegend mit den Pandava-Brüdern andeutet (die in der gesamten Region als Götter verehrt werden), ohne jedoch zu stark an die Besessenheitstänze zu erinnern, die eher als ein Zeichen für Rückständigkeit ausgelegt werden. Außerdem deutet er durch Kostüm und Musik eine historische Kontinuität von Stil und Kultiviertheit an, die das Bild des armen, naiven Bauern aus Uttarakhand/Garhwal, welches in der Imagination der besagten Elite in den urbanen Zentren des Landes vorzuherrschen scheint, klar zu überschreiben versucht. Allerdings gilt all dies nur für einen bestimmten Standpunkt, den Standpunkt der Bildungselite der Region. Für sie ist es wichtig, sich von panindischen Hinduismusbewegungen abzugrenzen und eine Position einzunehmen, die sie auch im globalen Zusammenhang eindeutig als Bildungselite zu erkennen gibt. Diese Bildungselite reiht sich ein in die Diskussion um den Wert materiellen und immateriellen Kulturerbes, in dem es vor allem um Distinktion geht. Man hebt sich ab von denjenigen globalen Strömungen und Akteuren, die ›unkultiviert schnöden Mammon‹ verehren und blind kulturelle Werte zerstören. Diese nostalgische Sicht auf die Tradition wurde und wird jedoch keinesfalls von allen Garhwalis geteilt. Dies wurde besonders deutlich, als die Designer des Chakravyuha beschlossen, die ›verbesserte‹ Version nun zurück in die Dörfer zu tragen. Diese Idee, darauf ausgerichtet eine nachhaltige ›Verbesserung‹ der Tradition im dörflichen Kontext zu bewirken, stieß in vielen Dörfern auf großen Widerstand. Lokesh Ohri berichtet über die Verhandlungsschwierigkeiten: Out of several villages where Pandava ritual was on and where Chakravyuh is held as part of the ritual, Bhatwari village in Kedar Valley was approached, before Gandhari was taken up. The villagers initially agreed to hold Chakravyuh in the new format. But, when the rehearsals started, dissent grew among the artists. Most of them thought that the script and format were retrogressive and they would be branded backward if the performance were presented in the traditional Garhwali style. (Ohri 2006: 44)
In diesem Zusammenhang gab es also in den Dörfern auch die Meinung, dass der rückwärtsgerichtete Blick auf lokale Traditionen, der in der neuen Version des Chakravyuha ästhetisch verarbeitet wurde, politischen, ökonomischen und letztlich auch kulturellen Fortschritt verhindern würde. Die archaische Sprache und die nostalgischen
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Kostüme wurden dementsprechend von vielen als rückständisch und ästhetisch abstoßend betrachtet. In dieser Sicht fordert Modernität von Tradition eine völlig andere Ästhetik. Hier sind moderne Stoffe in den Kostümen (mit viel Glitter, Glitzer und Plastikteilen) wichtig, der Einsatz von neuen Technologien in der Performanz und die Anpassung der Sprache und des Plots an die Vorbilder aus Film und Fernsehen. Tatsächlich gibt es in Garhwal mittlerweile viele verschiedene Gruppierungen, die den Chakravyuha in verschiedenen Versionen und abgeänderten Designs in die Pandava Nrtiya-Rituale einreihen.
6. D IE R E -R ITUALISIERUNG
DES
C HAKRAVYUHA
Die oben beschriebene Bühnenversion aber ist die erfolgreichste. Trotz der Kontroversen scheint das Design gelungen. Denn letztlich fand sie in anderen Dörfern Anklang und wird mittlerweile in dieser Version in verschiedenen Dörfern zu Aufführung gebracht. Interessant ist dabei, dass das Design so geschickt gewählt wurde, dass es mehreren Ansprüchen genügt. Der Chakravyuha ist auf Festivals des Kulturerbes in urbanen Zentren Nordindiens oft einer der Höhepunkte. Meist besteht das Publikum dort zu einem großen Teil aus Bildungsbürgern, Menschen, die sich aus verschiedenen Gründen für die Kultur des eigenen Landes interessieren. Von ihnen wird die Performanz als Kunst angesehen und honoriert. Nur weil sie bestimmten künstlerischen Ansprüchen genügt, kann die Truppe zu solchen Ereignissen immer wieder eingeladen werden, denn natürlich verfolgen auch die Veranstalter eine bestimmte Agenda. Auch sie wollen die Region als traditionell und modern darstellen. Einen anderen Teil des Publikums bei Aufführungen in den urbanen Gebieten bilden Migranten aus Garhwal. Sie erinnert die Performanz an ihre Kindheit und ihre Wurzeln. Viele dieser Zuschauer werden von der Performanz emotional stark berührt. D. R. Purohit beschrieb dies folgendermaßen: Als wir zum ersten Mal in Delhi auftraten, war eine Frau im Publikum, die besessen wurde, und dann noch drei Männer. Und auf dem Virasat-Festival sah ich niemanden, der besessen wurde, aber ich sah, viele viele alte Männer und Frauen während dieser Szene weinen. (Purohit, Interview 2006) (vgl. Abb. 5)
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Abbildung 5: Abhimanyus Tod
Quelle: Karin Polit, Dehra Dun, Virasat-Festival, 2006
Die Grenze zum Rituellen ist also im Design der Performanz stark durchlässig. Es ist diese Ambivalenz, die der Chakravyuha auch im Kontext des Pandava Nrtiya immer beliebter werden lässt. Denn der Chakravyuha in der oben beschriebenen Version feiert im rituellen Kontext ganz andere Erfolge. Im Winter 2006 wurde in Mangoli, einem kleinen Dorf in der Nähe von Okimath im Zentrum Garhwals, ein weiteres Experiment gewagt. Eine Truppe aus Regisseur, Schauspielern, Sängern und Musikern arbeitete zusammen mit den aus den Rajputenund Brahmanen-Jatis stammenden Bewohnern des Dorfes und den unterkastigen Musikern und Trommlern an der Chakravyuha-Episode, die schließlich als Höhepunkt des jährlichen Pandava Nrtiya zur Aufführung kam. Während dieses Ereignisses lösten sich die Grenzen zwischen Theatralem und Rituellem zeitweilig auf. Die emotional stark aufgeladene Szene, in der Abhimanyu durch seine Blutsverwandten, seinen Onkel, und das auch noch durch einen Hinterhalt, ermordet wird (vgl Abb. 5), wurde plötzlich durch laute Schreie und heraneilende Menschen unterbrochen. Die Medien der Pandavas, die während der rituellen Performanzen im Dorf getanzt hatten, kamen nun, besessen von den göttlichen Pandavas auf die Bühne um Abhimanyu zu helfen. D. R. Purohit erinnert sich: In Mangoli waren drei Frauen besessen und sehr viele Männer – Du hast es gesehen! Das interessanteste waren die Pandavas selbst. Menschen strömten
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Abbildung 6: Publikum im semi-urbanen Raum
Quelle: Karin Polit, Narendarnagar, Uttarakhand, Oktober 2006 von allen Seiten herbei und plötzlich wurde das Theater in ein Ritual transformiert. Jeder Pandava-Charakter kam, das Medium oder Barai, der Landgott des Dorfes, tanzte umher und warf Reis auf alle. Er tanzte und tanzte um den sterbenden Abhimanyu herum – er starb natürlich nicht wirklich, er tat so als ob in seiner Rolle. Und er war umgeben von den acht Pandavas [den fünf Brüdern, ihrer Mutter Kunti, ihrer Frau Draupadi und Abhimanyus Frau]. Und die Kauravas hatten wirklich Angst vor ihnen. Sie liefen vom Feld, sie liefen einfach weg. Auf einmal hörte die Aufführung auf. Der Regisseur, Herr Prem Mohan Dhobal, der das damals übernommen hatte, er kam und bat die Schauspieler, wieder zurück an ihren Platz zu gehen und die Aufführung wieder aufzunehmen. Dann wurde es wieder zum Theater. So war das, vom Ritual zum Theater und zurück. (Purohit, Interview 2006)
7. D ESIGN , E RFOLG
UND
M ODERNITÄTEN
Erfolgreiches Design, ob im Ritual oder in anderen Bereichen, ist immer davon abhängig, ob der oder die Designer dazu in der Lage sind, den Zeitgeist zu treffen. Dabei ist es wichtig, eine Zielgruppe für das Endprodukt im Auge zu haben. Aber noch wichtiger ist, welche Aussage das Produkt letztlich treffen soll. Im oben beschriebenen Fall stehen rituelle Performanzen mitten in Prozessen der Selbstpositionierung verschiedener Akteure im neuen Staat Uttarakhand, in weiteren indi-
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schen Diskursen und globalen Fragen des guten Geschmacks und der Intellektualität. Der Chakravyuha ist mitunter nicht unbedingt ein Beispiel für Ritualdesign im Sinne der Neuschaffung eines Rituals. Vielmehr stand eine Ritualtradition zur Debatte, deren performative Aspekte verändert und teilweise in andere Kontexte gesetzt wurden. Letztlich hatte dies auch Auswirkungen auf das Ritual selbst. So wurde eine moderne, aber nicht gänzlich neue, an ein Ritual angelehnte Performanz geschaffen, die anziehend auf die jüngere Generation wirkt, den älteren Generationen traditionell erscheint und bühnentauglich ist. Bühnentauglich ist sie auf Theaterbühnen verschiedenster Art, wie der National School of Drama in Delhi, Folklore-Festivals oder in den Dörfern selbst. Überall zieht der Chakravyuha unterschiedliches Publikum an (vgl. Abb. 6). Die großen Massen an Publikum, die große Beliebtheit erreichte der Chakravyuha allerdings im rituellen Kontext der Dörfer. Re-integriert in die dörflichen Rituale, bewegt er die Garhwalis bis zur Ekstase. Insofern ist diese Art des Ritualdesigns auch als ein Puzzleteil verschiedener Anstrengungen auf der Suche nach einer eigenen Modernität der Region zu bewerten.
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Ritualdesign bei Konvergenzritualen Die Inszenierung eines christlich-islamischen Weihnachtsgottesdienstes U DO S IMON
Dieser Beitrag verfolgt ein doppeltes Ziel. Zum einen analysiert er die im Auftrag der Akteure filmisch dokumentierte Gestaltung eines christlich-islamischen Weihnachtsgottesdienstes mit Schülern einer Mannheimer Hauptschule im Gebetssaal einer Moschee. Die Feier in einem stark von Migration und Multikonfessionalität geprägten Stadtteil sollte den Schülern die Gemeinsamkeiten von Muslimen und Christen bewusst machen und sie zugleich nach außen hin demonstrieren. Zum anderen werden anhand des vorgestellten Falles Thesen zum Ritualdesign bei einem Typus von Ritualen formuliert, der hier unter dem Namen »Konvergenzrituale« eingeführt wird und dessen zentrales Merkmal darin besteht, dass zwei oder mehrere Gruppen, die sich in mindestens einem ihnen wesentlich erscheinenden Aspekt als unterschiedlich wahrnehmen, ihre Annäherung inszenieren. Ritualdesign wird in diesem Zusammenhang verstanden als die Gestaltung einer exemplarischen Interaktion zwischen den beteiligten Gruppen durch die Zuweisung von Rollen und Ressourcen, ›dicenda‹ und ›agenda‹ innerhalb des Bauplans der Feier. Dabei ist insbesondere nach der Rolle von Intentionalität, Reflexivität und der Verteilung von Handlungsmacht im Designprozess zu fragen.
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IN IHREN
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Im Jahre 2002 verständigten sich auf Initiative eines evangelischen Religionslehrers und eines muslimischen Bildungsreferenten, beide engagiert im »Institut für Deutsch-Türkische Integrationsstudien und interkulturelle Arbeit e. V.«1, das Kollegium der Johannes-KeplerHauptschule und die Leitung der Yavuz-Sultan-Selim-Moschee in Mannheim auf die Ausrichtung eines gemeinsamen christlich-islamischen Gottesdienstes für den 17. Dezember in den Räumen der Moschee. Der Planungsprozess und die Feier selbst wurden mit dokumentarischem Anspruch in einem Film inszeniert, der u. a. durch Fördermittel der EU möglich wurde. Der Film zeichnet implizit und explizit die Reflexions- und Aushandlungsprozesse nach, die die Gestaltung der Feier begleiteten. Gerade die filmische Darstellung zeigt, wie die Akteure die Handlungen verstanden wissen wollen. Auch wenn nicht alle Hintergrundkonflikte und Abstimmungsprozesse sichtbar werden, machen doch die Akteure selbst die Motive für das Design der Feier zu großen Teilen transparent. Insofern handelt es sich um zur Schau gestellte Reflexivität, die sich nicht zuletzt an das Umfeld der Dargestellten selbst wendet.2 Insofern kann man das Resultat als in doppeltem Sinne reflexiv bezeichnen. Man zeigt die Ritualgemeinschaft, die sich ex post als solche wiedererkennt. Die Dokumentation erscheint hier beinahe als ein Bestandteil des inszenierten Rituals selbst, der für die Wiederholbarkeit des Sentiments sorgt. Im Wechsel von Dokumentation und Fiktion gebührt den fiktionalen Sequenzen besondere Beachtung, weil in der filmischen Selektion und Zuspitzung die Sicht der Filmmacher auf die Verhältnisse deutlich wird und unterschwellige Konflikte auf den Punkt gebracht
1
Die Einrichtung hat sich inzwischen umbenannt in »Mannheimer Institut für Integration und interreligiösen Dialog e. V.«.
2
Reflexivität meint im Hinblick auf Rituale nicht nur die Auseinandersetzung mit Form und Sinn einer rituellen Handlung als solche, sondern eine Verhältnisbestimmung des Einzelnen oder einer Gruppe zum Ritual. Die korrespondierende Frage lautet: Was bedeutet das Ritual für mich bzw. uns? (vgl. Simon 2011).
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werden.3 Das »Nachgestellte« bleibt erkennbar, insofern wird nicht dokumentarische Objektivität behauptet, sondern die Authentizität der filmischen Verdichtung in der rekonstruierenden Inszenierung. Sowohl die mediale Umsetzung als auch der dargestellte Inhalt, sowohl der Film, als auch die Ritenfolge im Film sind umgesetztes Design. Der Film über den christlich-islamischen Gottesdienst füllt ca. 26 Minuten eines insgesamt 43minütigen Videos mit dem Titel »Christen und Muslime. Der Weg zu einem interreligiösen Miteinander«, das in vier Kapitel unterteilt ist: Die Abfolge der Kapitel im Überblick: 00:00 (1) der christlich-islamische Gottesdienst 26:13 (2) eine Moscheeführung, in der ein islamischer Religionslehrer Schüler verschiedener Konfessionen in Form und Sinn der islamischen Riten eingeführt4 35:55 (3) ein »Ramadanfest« im Kindergarten zum Ende der islamischen Fastenzeit5
3
Vgl. Hickethier (2007: 181) zum Verhältnis Dokumentation–Fiktion im Film. Die szenischen Elemente sind vor allem vom evangelischen Religionslehrer konzipiert worden. Gedreht wurde der Film von einem für den Anlass engagierten Team des SWR.
4
Unter dem Stichwort »Offene Moschee« erklärt der islamische Religionslehrer am Moscheebrunnen erst die vor dem Gebet notwendige rituelle Waschung und dann das Freitagsgebet, dessen Handlungsabfolge mitsamt Prosternation die Schüler imitieren. Das Bestreichen des Gesichts und des Körpers bei der Segensbitte am Schluss des Gebets, einer ›spirituellen Himmelsreise‹, übertrage Gnade, Schutz und Vergebung Gottes. Diese Geste findet sich auch am Ende des christlich-islamischen Gottesdienstes.
5
Komponenten sind hier Lieder (»Und wenn ein Nachbar mit dem andern Frieden macht, dann kommt der Frieden auch zu Dir, eh’ Du ’s gedacht«), gefolgt von einer Koranlesung (Eröffnungssure), einer Tanzvorführung muslimischer Mädchen und der Lesung einer Geschichte zum Sinn des Fastens. Der Kommentator betont, hier finde Integration schon im Kindergarten statt, indem Kinder gemeinsam ein muslimisches Fest feierten.
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40:07 (4) ein christlich-islamisches Fastenbrechen in der Moschee6 Der Handlungsablauf des Films folgt dem klassischen Muster von Ausgangssituation (multireligiöses Umfeld), Problemstellung (wie gemeinsam Weihnachten feiern?), Aktion (Formulierung einer Strategie, Design der Feier, Ausräumen von Widerständen, Proben) und Ergebnis (gelungene Durchführung der Feier, Stärkung des Gemeinschaftsgefühls). Eine wichtige Rolle spielen die Kommentare eines Sprechers aus dem Off, in denen die Außen- und Innenperspektive miteinander verbunden werden. Die Sequenzen des Kapitels (1) im Überblick:7 00:00 (1) »Exposition« Vorspann und Titel; Johannes-Kepler-Hauptschule Mannheim; Stadtteilcharakteristik; Zusammentreffen unterschiedlicher Glaubensrichtungen. 01:00 (2) »Eine ungewöhnliche Idee« Kollegium trifft sich im Lehrerzimmer, um über den
6
Laut Kommentar soll das gemeinsame Fastenbrechen den Islam zur Gesellschaft hin öffnen und Deutschen die Möglichkeit geben, ein Gefühl für die Gedankenwelt und Traditionen der muslimischen Migranten zu entwickeln. Den evangelischen Religionslehrer beeindruckt das Gemeinschaftserleben der Muslime, von dem man nur lernen könne. Man faste zusammen und esse zusammen. Offensichtlich wird hier ein Defizit der christlichen Kirchen wahrgenommen. Im Kommentar heißt es, das Fasten fördere die Neuentdeckung der Beziehung zu Gott, zum Nächsten und zu den Armen und sei eine Chance für einen jeden. Ein türkischer Würdenträger erklärt, ein sechstägiges zusätzliches Fasten im islamischen Monat SchaષbƗn im Anschluss an Ramadan diene dazu, »Zuneigung zu Jesus zum Ausdruck zu bringen«.
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Abkürzungen im Folgenden: ER = evangelischer Religionslehrer; IR = islamischer Religionslehrer, i. e. der Bildungsreferent; K = Kommentar aus dem Off.
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Ablauf des Weihnachtsgottesdienstes zu sprechen; Vorschlag des ER zu christlich-islamischer Gestaltung; Vorbehalte und Diskussion; IR kommt hinzu, nimmt Vorschlag positiv auf und skizziert Gestaltung der Feier; Skeptiker nun überzeugt. 05:22 (3) »Die Schüler machen mit« Schülerinnen diskutieren auf dem Pausenhof über die Feier und die Vorbehalte der Eltern. 06:48 (4) »Widerstände überwinden« Diskussion im Elternhaus einer christlichen Schülerin; Skepsis des Vaters wird durch Argumentation der Mutter überwunden. 09:31 (5) »Der Feier Gestalt geben« IR probt türkisches Lied mit den Schülern im Klassenzimmer; ER erklärt Leitmotiv der Feier; IR benennt Ziele; Vorbereitungen für Gottesdienst in Schule und Moschee; ER probt christliches Lied mit Schülern. 13:53 (6) »Die Feier gelingt« Der christlich-islamische Weihnachtsgottesdienst in der Moschee; Schlussappell zu interreligiösem Miteinander. In der Filmanalyse hat sich die Unterscheidung von vier Analyseebenen bewährt. Die ›Filmrealität‹ bezeichnet die gezeigte Handlung, den Inhalt und die Form des Films. Unter ›Bedingungsrealität‹ werden diejenigen Kontextfaktoren verstanden, die die Produktion inhaltlich und formal beeinflussen. Die ›Bezugsrealität‹ bezeichnet das Verhältnis der Darstellung zu den zugrunde liegenden historischen Ereignissen. Die ›Wirkungsrealität‹ schließlich bezieht sich auf die Rezeptionsgeschichte (vgl. Korte 2010: 23).8
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Wahrnehmungslenkung im Sinne von Schnitttechniken, Perspektive, Licht, Kameraeinstellung usw. werden in diesem Beitrag zugunsten von Akteurskonstellationen und Interaktionsverhältnissen vernachlässigt.
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Zu den Produktionsbedingungen zählen u. a. die Erwartungen der Rezipienten, aber auch die Hoffnung der Geldgeber, dass die dargestellten Aktivitäten das friedliche Miteinander der Religionen und Kulturen befördere. Die Kontextbedingungen von Film und Ritual sind sehr ähnlich gelagert. Zum Kontext des zeitgeschichtlichen Hintergrunds gehört die Bedeutung der Migration für die Gesellschaft ebenso wie die Voreinstellungen relevanter Akteursgruppen, die die Rezeption leiten. Eine wichtige potentielle Rezipientengruppe sind die offiziellen Vertreter der Religionsgemeinschaften, mit deren kritischen Nachfragen man rechnen muss. Schließlich wirken die Ereignisse des 11. September 2001 nach, in deren Folge »der Islam« als Ganzes unter Generalverdacht und die Muslime unter eine Art Rechtfertigungsdruck gestellt waren. Auf die Rezeptionsgeschichte wird hier nicht im Einzelnen eingegangen. Vielmehr geht es darum, wie die Ritualmacher die Feier wahrgenommen wissen wollen. Feier und Film wären nicht denkbar gewesen ohne das Engagement der im christlich-islamischen Dialog sehr aktiven Religionslehrer Ulrich Schäfer (ER) und Bekir Albo÷a (IR),9 die allerdings auf das Einverständnis und die Mitarbeit weiterer Akteure beider Religionsgemeinschaften aus Schule und Moschee angewiesen waren. Ort der Feier ist die Yavuz-Sultan-Selim-Moschee im Mannheimer Stadtteil Jungbusch. Deren Träger, der »Islamische Bund Mannheim e. V.«, wurde im Jahre 1973 gegründet und rechnet sich dem Dachverband DøTøB zu, dem mit – nach eigenen Angaben – ca. 900 Moscheegemeinden und Mitgliedervereinen größten muslimischen Dachver-
9
Schäfer war lange Jahre Pfarrer der Hafenkirche im Mannheimer Stadtteil Jungbusch und gehört heute dem Stadtrat von Mannheim an. Albo÷a war Bildungsreferent der Yavuz-Sultan-Selim-Moschee und Mitarbeiter des genannten »Mannheimer Institut[s] für Deutsch-Türkische Integrationsstudien und interreligiöse Arbeit e. V.«, das als Antragsteller im Rahmen einer Förderlinie der EU für »Projekte zur Diskussion und Reflexion über Europa« aufgetreten ist. Heute vertritt er als Beauftragter für interreligiösen Dialog die Interessen der DøTøB (siehe nächste Fußnote). Von Oktober 2007 an war Albo÷a für ein halbes Jahr Sprecher des »Koordinierungsrat[es] der Muslime in Deutschland«.
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band in Deutschland.10 Nach langen Kontroversen im Jahre 1995 gegen Widerstände eröffnet, war die repräsentative Moschee lange Zeit die größte in Deutschland. Seit dem Jahre 1995 und verstärkt zwischen den Jahren 2000 und 2007 wurden dort multireligiöse Schulgottesdienste und Morgenfeiern durchgeführt, in denen Gebet, Gesang, Koranrezitation und Bibellesung miteinander verbunden wurden.11 Die Bezeichnung »Morgenfeier« statt »multireligiöser Schulgottesdienst« sei in Gebrauch gekommen, nachdem es im Jahre 2008 zu Konflikten mit der Amtskirche gekommen war, als bei einer ähnlichen Feier eine Lehrerin und Pfarrerin einen Talar im Gebetssaal der Moschee getragen hätte. Die Kritik daran soll so heftig gewesen sein, dass man die Lehrerin an eine andere Schule versetzt habe (Albo÷a 2011: 233).12 Interreligiöse Praktiker müssen mit kritischen Einwänden der religiösen Institutionen rechnen. Leicht geraten sie in den Verdacht der »Religionsvermischung«, und man wirft ihnen eine »Verwässerung« des jeweiligen Wahrheitsanspruchs des Bekenntnisses und wechselseitige »Vereinnahmung« vor. Oder sie sehen sich gar dem Vorwurf ausgesetzt, sie machten aus einer ernsten religiösen Versammlung eine Schauveranstaltung (Lähnemann 2007: 75). Offensichtlich fürchtet man Bestrebungen, gemeinsame liturgische Formen zu entwickeln oder gar
10 DøTøB (Akronym von türkisch »Diyanet øúleri Türk øslam Birli÷i«) ist die »Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e. V.«, die sich der Kontrolle der staatlichen türkischen Religionsbehörde (Diyanet øúleri Baúkanlı÷ı) in Ankara unterstellt hat. 11 Albo÷a (2011: 233) spricht von einem ersten »interreligiösen Gottesdienst« im Jahre 1995 in der Moschee. Nach einer schriftlichen Mitteilung von Ulrich Schäfer an den Autor (15.06.2011) fanden solche Gottesdienste auch in der von ihm damals betreuten Hafenkirche statt. Alle Gottesdienste seien in Arbeitsgruppen mit den jeweiligen Lehrern intensiv vorbereitet worden. 12 Albo÷a beklagt, christlich-islamische Schulgottesdienste dürften nicht mehr »Gottesdienst« oder »Gebet« genannt werden, »weil die Kirchenoberhäupter es verbieten. Daher nennen wir sie seit einiger Zeit wegen angedrohter Sanktionen ›Schulfeier‹« (Albo÷a 2007: 49). Solche Feiern fänden in jedem Jahr mindestens fünfmal statt. Zum Ablaufschema eines christlich-islamischen Schulgottesdienstes in der Mannheimer Moschee aus dem Jahre 2007 vgl. Brendle (2007: 210-211).
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interreligiöse Sakralbauten zu errichten.13 Daher wird die Bezeichnung »interreligiöse Feier« zuweilen vermieden und man spricht lieber von »gemeinsamer religiöser Feier«. Sensible Punkte bei der praktischen Umsetzung solcher Feiern zeigen sich bereits beim Einladungstext, bei dem Formulierungen wie »interreligiöser Gottesdienst« Irritationen auslösen könnten. Die Ausstattung von Räumlichkeiten mit eindeutigen Symbolen kann hinderlich wirken, so stellen etwa Kruzifixe für Muslime ein Problem dar. Es wird empfohlen, die musikalische Begleitung der Feier neutral und besser ohne Text zu gestalten. Als allgemein akzeptable Symbole und Zeichen in solchen Feiern haben sich Blumen, Kerzen oder etwa Klangschalen bewährt, an deren Symbolgehalt entsprechende Reflexionen geknüpft werden können (vgl. Brendle 2007).14 Auch soll das Größenverhältnis der Religionen vor Ort bei der Wahl der Sprecher beachtet werden. Die Grundlinien der bereits im Jahre 1992 formulierten Empfehlungen der Islam-Kommission der Evangelisch-Lutheranischen Kirche in Bayern zur Unterscheidung von multi- und interreligiösem Gebet gelten auch heute noch. »Multireligiöses Beten« meine »Gebetsveranstaltungen, in denen Vertreter verschiedener Religionen je für sich aus ihrer eigenen Tradition heraus formulierte Gebete sprechen, während die übrigen andächtig zugegen sind.« (LKR der ELKB 1992: 7–8) Dagegen sei unter »interreligiösem Beten« das gemeinsam formulierte und verantwortete Gebet zu verstehen. Weiter wird festgestellt, dass es nach dem Selbstverständnis des christlichen Glaubens ein »gemeinsames Gebet« mit Angehörigen anderer Religionen nicht geben könne. Die Formulierung interreligiöser Gebete sei vor allem aufgrund des unterschiedlichen Gottesverständnisses zwischen den Religionen theologisch nicht möglich (ebd.).15 Die ganz andersartigen Anschauungen zur Natur Jesu bilden in der Tat eine Trennlinie zwischen Islam und
13 Wie etwa in Berlin Mitte geplant, vgl. Domradio (2010). 14 Zu Kerzen als unverfängliche Metaphern der Transzendenz vgl. WagnerWilli (2004: 125). 15 Ein vielzitierter Bezugspunkt von christlicher Seite im Hinblick auf das Beten in Anwesenheit der Anderen ist das Gebet der Religionen in Assisi, zu dem Johannes Paul II. im Jahre 1986 Vertreter verschiedener Konfessionen eingeladen hatte.
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Christentum, die den Amtskirchen wie den Muslimen als unüberwindbar gilt (vgl. Schmid/Renz/Sperber 2006: 241 und Simon 2007).16 Auf dieser Linie liegen auch verschiedene Handreichungen der Evangelischen Kirche Deutschlands aus dem letzten Jahrzehnt. Danach lassen sich religiöse Rituale und Bekenntnis nicht voneinander trennen. Interreligiöses Beten wird aus theologischen Gründen abgelehnt; der Eindruck, es finde ein gemeinsames Gebet statt, muss vermieden werden (vgl. Kirchenamt der EKD 2000 und Rat der EKD 2006).17 Neben dem multireligiösen Gebet (nebeneinander beten) und dem ebenfalls schon lange im Kontext von Schulen, Trauerfeiern, bei Tagungen usw. praktizierten interreligiösen Gebet (gemeinsam Formuliertes miteinander beten oder Beteiligung am Gebet der anderen Religionsgemeinschaft) findet sich auch eine Kombination von beidem, für die sich die Bezeichnung »abrahamisches Beten« durchzusetzen scheint. Diese weitere liturgische Möglichkeit verbindet die beiden genannten Betformen in der Weise, dass zunächst nacheinander die eigenen Gebete vorgetragen werden, am Ende der Feier aber ein gemeinsam formuliertes oder abgestimmtes Gebet gesprochen wird, so dass der eigenständige Charakter der Religionen wie auch das allen Gemeinsame gewürdigt wird (Wartenberger-Potter 2007: 14–16 und Bauschke 2006: 204–205). In einer weiteren Orientierungshilfe der Evangelischen Kirche zur Gestaltung religiöser Feiern, wird »Liturgie« zunächst als ritueller Ausdruck des Glaubens gefasst. Bei interreligiösen Feiern gehe es in der Regel um die Darstellung des Gemeinsamen (LK 2006: 20). Eine Typologie mit den Parametern 1. der Verantwortung für die Gestaltung, 2. der typischen Situation, 3. der theologischen und praktischen
16 Diese Differenz scheint der islamische Religionslehrer im Sinn zu haben, wenn er im Kapitel (2), der Moscheeführung betont »Wir sind keine Muhammedaner, beten Muhammed nicht an«. 17 Ebenso Evangelischer OKR (2003), wo der Versuch der Angleichung durch das Streichen differenter Auffassungen als nicht legitim gilt (vgl. auch Kranemann 2007: 5). Ähnlich auch die Diskussion in der katholischen Kirche, wo es heißt, die Begriffe »Gottesdienst« und »Liturgie« müssten vermieden werden zugunsten von »religiöser Begegnung«. Getrennte Schulgottesdienste für Christen und andere Religionen seien nicht zu umgehen (Sekretariat der DBK 2008: 33).
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Problemstellung und schließlich 4. der rechtlichen Einordnung unterscheidet a) liturgische Gastfreundschaft, b) multireligiöse Feier mit gemischter Vorbereitungsgruppe, c) interreligiöse Feier mit gemischter Initiativgruppe, und d) religiöse Feiern für alle (LK 2006: 29). Die insbesondere im Hinblick auf Typ c) bei vielen Protestanten feststellbare »Neigung, die Gemeinsamkeit religiöser Grundüberzeugungen über lehrmäßige Differenzen zu stellen« sei zu kritisieren (ebd.: 50). Die Feier der Sakramente in multi- wie in interreligiösen Ritualen wird ausgeschlossen. Klage, Frage, Bitte und Fürbitte sind als gemeinsame Formen des Gebets denkbar (ebd.: 56 u. 59). Das Fehlen einer Amtskirche und die zumindest idealiter horizontale Organisationsform der islamischen Religionsgemeinschaft verbietet es, von einer offiziellen Haltung auch nur des hiesigen Islam zu interreligiösen Gottesdiensten zu sprechen. In dem Infotext »Interreligiöser Dialog« betont die DøTøB auf ihrer Internetpräsenz die Wichtigkeit von Dialog, Toleranz und der Pflege einer guten »Atmosphäre der Begegnung und des Dialogs zwischen den Anhängern der verschiedenen Religionen, vor allem der Christen in Deutschland, die die Mehrheit der Bürger bilden« (DøTøB o. J.a). Vor diesem Hintergrund sollen interkulturelle und interreligiöse Projekte durchgeführt werden, so etwa der »Tag der Offenen Moscheen«, die »Interkulturelle Woche«, gemeinsame Friedensgebete, interreligiöse Seminare und Vorträge, Publikationen über Aktivitäten im interreligiösen Dialog usw. (ebd.).18 Der institutionell weniger gebundene muslimische Autor Hüseyin ønam unterscheidet sieben Typen des Betens mit interkonfessioneller Orientierung von a) dem Beten füreinander ohne Beteiligung Angehöriger der anderen Religionsgemeinschaft, über b) das stille Beobachten des Gottesdienstes, c) das Teilnehmen als Gast am Gottesdienst, d) das Beten nach eigenem Ritus am Gebetsort der anderen Glaubensgemeinschaft, e) das multireligiöse Beten, bei dem man nebeneinander im je eigenen Ritus betet, f) das textlich aufeinander abgestimmte, gemeinsame interreligiöse Gebet, in dem dogmatische Unterschiede durchaus zum Ausdruck kommen können, bis hin zu g) einem universellen oder transreligiösen Gebet, das unter Vermeidung wechselseitig problematischer Aspekte den Angehörigen beider Religionsgemeinschaften die innere Hingabe am Gottesdienst ermöglicht. Allerdings
18 Vgl. auch die türkische Version mit leichten Abweichungen DøTøB (o. J.b).
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zeige die Erfahrung, dass es vielen Christen schwer falle, allein mit universellen monotheistischen Formeln zu beten und auf trinitarische zu verzichten (Inam 2006: 130–133). Die »vielen Jahre mühsamer Überzeugungsarbeit auf beiden Seiten«19, die bis zum Stattfinden des christlich-muslimischen Gottesdienstes in der Mannheimer Moschee notwendig waren, sind indes nicht allein den Widerständen aus dem institutionell-religiösen Umfeld geschuldet. Auch die Skepsis so mancher Eltern galt und gilt es zu überwinden. In der Sequenz (3), die im Elternhaus einer Schülerin spielt, wird dies mit den Worten des Vaters exemplarisch dargestellt: Also hör mal. Findest Du das nicht ein wenig übertrieben? Weihnachtsgottesdienste sollten sowieso in der Kirche stattfinden. Weihnachtsgottesdienst in der Moschee … wo gibt’s denn das? Und überhaupt, man hört so viel von Fundamentalisten und Terroristen unter den Moslems. (07:08)
Die Mutter hingegen beklagt die Kontaktarmut des Vaters und weist auf Nikolausfeiern im Kindergarten, christlich-islamisch-jüdische Begegnungen in Kirchen und das gemeinsame Fastenbrechen im Ramadan hin. Während in dieser Szene der christliche Vater für die Idee gewonnen werden muss, spricht in einer vorausgehenden Szene eine muslimische Schülerin von ihren Schwierigkeiten mit dem traditionsorientierten, wenig Freiheiten einräumenden Erziehungsstil ihres Vaters. Neben den Erwartungshaltungen und Voreinstellungen direkt oder indirekt Beteiligter, institutioneller Beobachter und der breiteren Öffentlichkeit stellt die stark ausgeprägte Heterogenität der Einwanderungsgesellschaft einen konstitutiven Kontextfaktor, ja den eigentlichen Auslöser der Aktivitäten dar. Mit Stand vom 31.12.2010 haben von den ca. 326 000 Einwohnern Mannheims ca. 38 % einen Migrationshintergrund, hiervon besitzen 17,7 % die deutsche Staatsangehörigkeit, 20,4 % eine ausländische, davon wiederum 23 % die türkische (Kommunale Statistikstelle der Stadt Mannheim 2011a). Damit sind die tür-
19 So ein Kommentar in Sequenz (6) des Films. Auch der Vorsitzende des Moscheevereins spricht davon, dass man aufopferungsvoll für Verständnis unter den Muslimen geworben habe.
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kischen Staatsangehörigen die größte Nationalitätengruppe unter den Migranten. Im Stadtteil Jungbusch/Innenstadt liegt der Anteil der Einwohner mit Migrationshintergrund bei 56 %, davon 70 % mit ausländischer Staatsangehörigkeit (Kommunale Statistikstelle der Stadt Mannheim 2011b). Für das Jahr 2008 wird der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit einem solchen Hintergrund in der Alterskohorte der 6–16-Jährigen mit über 80 % angegeben und ist damit der höchste in Mannheim (ebd.). Die Zahlen für den Anfang des Jahrzehnts lagen nicht weit darunter. Sicher kann man Bevölkerungsgruppen nach Kriterien wie Religionszugehörigkeit, Nationalität, ethnische Verortung und lokale Verankerung zusammenfassen und gegeneinander abgrenzen. Solche Charakteristika gewinnen indes erst in der Interaktion mit anderen ihre volle Bedeutung und dienen dann als Identifikationspunkte. Faktisch gibt es viele Überlappungen und Überschneidung. Eine eindimensionale kulturelle oder auch religiöse Prägung ist insbesondere in der Generation der Schüler kaum zu erwarten. Religionszugehörigkeit bzw. Konfession als formales Kriterium ist zudem in mindestens zweierlei Hinsicht spezifikationsbedürftig. Zum einen muss die Zentralität von Religion im Denken und Leben der Einzelnen gewichtet werden. Andererseits sind die religiösen Gruppen nicht homogen. Muslime türkischer Herkunft sind anders geprägt als Muslime pakistanischer oder nordafrikanischer Herkunft, und auch innerhalb des türkischen Islam gibt es Unterschiede zwischen mehr oder weniger von der islamischen Mystik geprägten Strömungen, um nur ein Beispiel zu nennen. Solche Unschärfen relativieren quantitative Angaben. Ein Bezug zu Religion und individueller Gläubigkeit ist insgesamt bei Migranten stärker ausgeprägt als in der Mehrheitsgesellschaft, insbesondere gilt dies aber für Muslime.20 Innerhalb der Migranten bilden nun wiederum die Türkischstämmigen die Mehrheit, durch deren religiöse Vertreter repräsentiert zu werden, für viele nichttürkische Muslime höchstens dann erstrebenswert erscheint, wenn »der Islam«
20 So bezeichnen sich etwa 85 % der türkischstämmigen Jugendlichen als »religiös«, was auch immer das bedeutet (Brettfeld/Wetzels 2007: 16).
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als Ganzes seine Positionen hierzulande zu wahren hat.21 Auf nationaler Ebene sind die Gläubigen aller Denominationen gegenüber den Nichtgläubigen bzw. nur formal Religionszugehörigen in der Minderheit. Die Kontextfaktoren der Multikonfessionalität und der verbreiteten Skepsis, ja des Argwohns, werden in einer Schlüsselszene des ersten Filmkapitels (Sequenz 2) diskutiert, in der im Lehrerzimmer die Entscheidung über die »revolutionäre Idee« fällt, einen Weihnachtsgottesdienst in einer Moschee abzuhalten. Hier werden auch die thematischen Anknüpfungspunkte benannt und der Ablauf wird mit seinen wesentlichen Bausteinen skizziert. Nachdem der evangelische Religionslehrer die Idee eines christlichislamischen Gottesdienstes vorgebracht hat und bei seinen Kolleginnen und Kollegen auf Skepsis gestoßen ist, leitet zunächst der Kommentator die weitere Argumentation ein: Sequenz (2), »Eine ungewöhnliche Idee«: Im Lehrerzimmer; 5 Lehrer anwesend; Adventskranz, Gebäck, Kaffeekanne auf dem Tisch 02:00 Schwenk auf verschiedene Lehrer K: Aber was ist eigentlich so abwegig an diesem Gedanken? Zumal es in der Entstehungsgeschichte von Christentum und Islam viele Gemeinsamkeiten gibt. 02:09 Schwenk auf den ER ER: »Jesus muss fliehen, nach Ägypten fliehen, damit er überhaupt überlebt. Und was ganz Ähnliches gibt es ja am Beginn des Islam. Muhammad muss fliehen von Mekka
21 Die innermuslimische Heterogenität wird im Film etwa deutlich, wenn in Sequenz (5) ein türkisches Lied einstudiert wird, mit dem die nichttürkischen Muslime offensichtlich wenig anfangen können, bis ein homogenisierendes »LƗ ilƗha illƗ llƗh« einsetzt. Bei einem später folgenden christlichen Lied ist die Beteiligung auch bei den Muslimen reger, wohl weil die Schüler insgesamt dem deutschsprachigen Text besser folgen können.
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nach Medina. Sonst wäre er umgebracht worden. Also zwei Fluchtgeschichten. Ich denke, dann haben wir das Süßliche von Weihnachten ein bisschen raus. Das ist ja so’n bisschen verkitscht und ein Familienfest mit Truthahn und weiß nicht was. Und es ist ’ne sehr realistische, sehr dramatische und sehr harte Geschichte. Ne? Gott kommt nicht an. Wer braucht den denn? Und die Propheten werden vertrieben. Sowohl der Prophet Jesus als auch der Prophet Muhammad.« 02:44 Schwenk auf Lehrer B Lehrer B: »Vielleicht ist es der Beginn eines Zeitraumes, wo öfters – auch in anderen Städten – vielleicht Islam und christlicher Gottesdienst gemeinsam abgehalten werden. In der Moschee oder in der Kirche. Wenn es entsprechend in die Öffentlichkeit kommt. Vielleicht gibt es ein paar, die das sehr begrüßen, von beiden Seiten.« 03:01 Kamera auf Tür K.: Wie auf Stichwort kommt Bekir Albo÷a, der die Kinder islamischen Glaubens in Religion unterrichtet. IR: [zum ER] »Wie geht’s dir?« ER: »Gut, wenn ich dich sehe.« K.: Jetzt steht die revolutionäre Idee auf dem Prüfstand. Auch der islamische Geistliche zeigt sich inspiriert bei dem Stichwort Flucht. IR: »Ja, da gibt es also zwei entscheidende Fluchtgeschichten im Islam. Zum einen die Muslime – die ersten Muslime –, um das Leben zu schützen, eine Empfehlung des Propheten Muhammad folgen. Er hat empfohlen, nach Abessinien zu gehen. ›Dort gibt es einen christlichen König und der ist gerecht. Bei ihm könnt ihr Zuflucht suchen.‹ Und diese absolut schutzlose, unterdrückte Monotheisten des Islams Anfang des 7. Jh.s gingen dann wirklich hin und wurden herzlich aufgenommen. Von dem christlichen König. Wurden geschützt gegen die polytheistischen Verfolger. Eine Geschichte die mich sehr fasziniert und die ich sehr gerne erzähle …«
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IR: »Die kannte ich wieder nicht. Ich kannte nur die von Mekka nach Medina.« 04:14 Schwenk auf Tisch und den Adventskranz K.: Weihnachten, eines der Hauptfeste der Christen wird bei den Muslime gar nicht gefeiert, obwohl die Geburt Jesu im Koran ausführlich erzählt wird. 04:26 Schwenk auf IR IR: »Nicht nur einfach vorlesen … sondern die Kinder das spielerisch zum Ausdruck bringen lassen. Und dazu natürlich ein bisschen als Saft, christliche Lieder und muslimische Lieder mit den Kindern einüben und am Ende ein Segensgebet … gemeinsam, islamisches und christliches Segensgebet. Dass sowohl das christliche Element als auch das islamische Element zum Ausdruck gebracht werden. Keine Mischung entsteht, aber wir miteinander diese heiligen Tage gemeinsam feiern können.« K.: Die Skeptiker sind überzeugt. Es kann losgehen. 05:00 Schwenk auf Lehrer A und B Lehrer A: »… dass sich das auf jeden Fall lohnt, denk ich, die ganze Sache zu wagen.« Lehrer B: »Wir haben mehr islamische Schüler als christliche Schüler an unserer Schule. Das ist das Argument dafür, dass man das wagen muss. Auch an Weihnachten.« Am Anfang des Gestaltungsprozesses stand also nicht die Entscheidung zum Design, sondern der Wunsch, einer bestimmten Aufgabenstellung gerecht zu werden. Da eine kanonisierte Form von Liturgie für solche Fälle nicht zur Verfügung steht, ergibt sich die Notwendigkeit des Ritualdesigns ganz automatisch. Dies impliziert überdies, dass die üblichen rituellen Ordnungsstrukturen noch einmal konzeptionell und performativ bearbeitet werden müssen (Wulf/Zierfas 2004: 360). Die unter den genannten Einflussfaktoren stehenden Reflexionsund Diskussionsprozesse führen schließlich zur Auswahl folgender Ritualbausteine in ihrer im Film dargestellten Abfolge:
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1. 2.
christliches Lied Ansprachen der Autoritäten (Vorsitzender des Moscheevereins; Rektorin der Schule; Imam der Moschee) 3. Türkisches Lied 4. Koranrezitation 5. Ansprache des ER/Pfarrers 6. Spielszene: Sterndeuter erfährt Jesusgeschichte 7. Verlesung des islamischen Narrativs über die Verfolgung der Muslime 8. Spielszene: Muslime beim christlichen König in Abessinien 9. »Wovor Menschen heute fliehen müssen« (im Wechsel vorgetragener Text) 10. Abschlussgebete: a) freies Bittgebet des IR, b) christliche Gebetsformel, c) gemeinsames Amen22
2. R ITUALDESIGN Ritualdesign als Prozess kann unter verschiedenen analytischen Gesichtspunkten betrachtet werden, die die Untersuchung des Einzelfalls leiten können. Zu nennen sind hier insbesondere a) die ›Anforderung der Situation‹, b) die ›Intentionen‹ der Akteure, c) ihre ›Handlungsmacht‹ (›agency‹), d) die begleitenden ›Reflexionsprozesse‹, e) das Moment der ›Distinktion‹, und f) der ›Modellcharakter‹ des Designs. Gewöhnlich sieht man Ritualdesign als wesentlich intentionalen Akt, der an eine bewusste Entscheidung geknüpft ist. Gregor Ahn sieht darin die ›differentia specifica‹ zur allgemeineren ›Ritualtransformation‹ und grenzt Ritualdesign zugleich gegen den Begriff ›Ritualinvention‹ ab, der für die Komposition neuer Arten von Ritualen stehe. Ritualdesign sei ein »intentionally conducted act of constructing new forms of well-established rituals by using more or less common ritualistic components which might also stem from different traditions« (Ahn 2011: 603–604).
22 Nach Angaben des ER gibt der Film die Feier in ihrer chronologischen Reihenfolge wieder.
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Nun werden Rituale gewöhnlich nicht ex nihilo gebildet, sondern orientieren sich an Vorbildern, ändern Bestehendes ab, reduzieren es oder fügen neue Elemente hinzu, so dass eine völlig eigenständige Ritualinvention kaum vorkommt. Aber selbst wenn man dies unterstellt, mischen sich in einer übergeordneten Zeremonie oder Ritenabfolge die neuen und die hergebrachten Elemente, so dass eine eindeutige Zuordnung des Gesamtrituals schwerfällt. Zudem läge nach der genannten Bestimmung ohne Einpassung in eine vorgefundene Form kein Ritualdesign vor, was bedeutete, gerade der Ritualinvention als der kreativsten Form der Ritualgestaltung den Designcharakter abzusprechen. Hier wird vorgeschlagen, Ritualinnovation als generellen Oberbegriff zu Ritualdesign zu sehen, von dem wiederum Ritualinvention eine spezialisierte Form darstellt, die die freie und ungebundene Kreativität betont. Die Intention zum zentralen Bestimmungskriterium von Ritualdesign zu machen, heißt, eine einseitig akteurszentrierte Perspektive einzunehmen. Man kann jedoch streng genommen nur dann die Bedeutung der Intention im Ritualdesign für die tatsächlichen Ergebnisse richtig einschätzen, wenn man sie mit dem vergleicht, was gewollt, aber nicht realisiert wurde. Es ist sicher kontraintuitiv, Intentionalität nicht als das zentrale Merkmal zu fassen. Blickt man allerdings nicht nur auf den Prozesscharakter von Design, sondern auch auf das Ergebnis des Designs, nämlich das gestaltete Ereignis, in dem alleine sich das Design realisiert, so es nicht beim reinen Versuch geblieben sein soll, dann büßt dieses Kriterium doch etwas von seiner Sonderstellung ein.23 Selbstverständlich müssen wir eine mehr oder minder deutlich empfundene Grundintention zur Gestaltung unterstellen. Bei mehreren Akteuren mit möglicherweise selbst vielschichtigen, wenn nicht widersprüchlichen oder wechselnden Intentionen wird es allerdings nicht einfacher über Allgemeines hinaus zu bestimmen, welche Intention sich durchgesetzt hat. Hier können sich die Akzente weit verschieben hin zur Emergenz aus einem schwer durchschaubaren Zusammen-
23 Bei allen Unterschieden in der Gewichtung einzelner Bestimmungsstücke für eine allgemeinere Definition des Begriffs »Ritualdesign«, trifft Ahns Charakterisierung des Designs als »process of adapting, transforming and re-organising or composing already existing elements out of different religious or secular traditions into the frame of an already known type of ritual« (2011: 603) den vorliegenden Fall sehr gut.
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wirken von Akteuren, Situation, Objekten und Ressourcen, wobei das Ergebnis nicht viel mit den Intentionen der Einzelakteure zu tun haben muss. Ob eine Ritualinnovation überindividuell bedeutsam ist, hängt nicht von der Intention des Einzelnen ab. Auch in unserem Zusammenhang spüren die kirchlichen Instanzen, dass die Wirkungsdimension solcher Änderungen nicht beliebig zu steuern ist. »Für die konkrete Gestaltung religiöser Feiern ist die Differenz zwischen dem, was eine Vorbereitungsgruppe beabsichtigt, und dem was die Teilnehmenden erleben, zu beachten«, heißt es in einer Orientierungshilfe der evangelischen Kirche (LK 2006: 50).24 Greifbar wird die Intention am ehesten in der Reflexion des Designprozesses. Im Gegensatz zu Intentionen, über die unter Umständen nur spekuliert werden kann, lassen sich Reflexionen beispielsweise in Quellmaterialien nachvollziehen, auch wenn sie ohne narratologische Prüfung selbstverständlich nicht für bare Münze genommen werden können. Die Frage der Funktionalität von Ritualdesign hat nicht in gleichem Maß Kontroversen hervorgerufen wie die der Intentionalität. Dies mag auch daran liegen, dass der Begriff der Funktion ohnehin als problematisch gilt und oft vermieden wird, erinnert er doch allzu sehr an die Theorien des Funktionalismus, an denen man bekanntlich Ahistorizität, abgehobene Abstraktion und letztlich eine utilitaristische Ausrichtung kritisiert. Bedürfnisbefriedigung und Problembewältigung bleiben allerdings – jenseits jeder theoretischen Gewichtung – Grundtatsachen des Lebens, und die Leistung von Objekten oder Handlungen im Hinblick auf eine empfundene oder vorgegebene Aufgabe spielt auch bei der Gestaltung eines Rituals eine Rolle. Dabei versteht es sich von selbst, dass bereits die Aufgabenstellung kultur- bzw. milieuabhängig ist und dem historischen Wandel unterliegt. Zudem divergieren emische und etische Perspektiven auf Funktionen gewöhnlich und zerfallen in sich wieder in individuelle Funktionszuschreibungen. Letztlich spiegelt sich in der Multiperspektivität die Multifunktionalität von Objekt oder Handlung. Man kann hier unterscheiden
24 Von daher verliere auch die Unterscheidung zwischen multi- und interreligiösem Gebet an Bedeutung. »Wie auch sonst beim liturgischen Gebet wird es in nicht vorhersehbarer Weise bei den Einzelnen zum Einstimmen oder zur bloßen, inhaltlich distanzierten Anwesenheit kommen« (LK 2006: 50).
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zwischen primären und sekundären oder manifesten und latenten Funktionen. Denn zunächst muss eine konkrete Situation bewältigt werden, die allerdings in einen größeren Zusammenhang gestellt ist, der nicht unmittelbar wahrgenommen wird, aber nach Spannungsbewältigung, Orientierung und sozialer Integration verlangt. Den Weihnachtsgottesdienst der multireligiös geprägten Schule zu gestalten, ist eine konkrete Aufgabe, deren erfolgreiche Bewältigung die Schüler in einem weiteren Sinne einander näher bringen soll. Um von Design sprechen zu können, dürfen die Gestaltungsmöglichkeiten oder Lösungswege für die Aufgabe nicht vollständig vorbestimmt sein. Es müssen Wahlmöglichkeiten für den Designprozess vorhanden sein. Indes kann die Selektion nicht willkürlich erfolgen, wenn die Adaption des Neugestalteten gelingen soll. Die Nutzfunktion von Handlung oder Objekt ist nicht der allein entscheidende Punkt. Erst deren gestaltete Einpassung in das Werteregister, in die Deutungsschemata und die Prioritätenskala der Gruppe ergibt einen emotionalen Mehrwert. Erfolgreiches Design liegt vor, wenn Gebrauchstauglichkeit verbunden ist mit gelungener Gestaltung, die zum Selbstbild der Gruppe passt. Das kann dazu führen, dass die praktisch-technische Aufgabenerfüllung vollständig überlagert wird von der Demonstration der Distinktion. Auch wenn man nichts Neues machen will, will man etwas anders machen. Distinktion erscheint hier als Prozess, das Eigene, sei es individuell oder sozial bestimmt, vom Anderen unterscheidbar zu machen oder zu halten. Man hat es als ein Merkmal von Ritualen betrachtet, dass darin Invarianz nicht nur sichtbar, sondern als ein Wert in sich besonders betont werde (Rappaport 2008: 36 u. 42). In unserem Beispiel werden vorgängige Ritualbausteine modifiziert, Neues hinzugefügt, Spielelemente und Ritualelemente kombiniert. Auf der Handlungsebene kann hier schwerlich Invarianz behauptet werden. Konstanz wird auf der Ebene der Reflexion konstruiert durch den Bezug auf gemeinsame Wurzeln, die gleiche monotheistische Grundorientierung, analoge Erfahrungen und Ziele. Bei einem Ritual wird üblicherweise vorausgesetzt, dass die Gemeinde nach Form und Inhalt die gleichen Glaubensgrundsätze, die gleichen Praktiken und liturgischen Handlungen teilt (Turner 1989: 178–79). In unserem Fall tritt eine integrative Interpretation an die Stelle der doktrinären Übereinstimmung und das Ritualdesign an die Stelle der geteilten Liturgie. Die im Designprozess ent-
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standene rituelle Wirklichkeit ist eine vorgezeigte Wirklichkeit, ein Entwurf, in dem bestimmte Konstellationen gleichsam probeweise durchgespielt und akzeptiert werden. In der rituellen Inszenierung stellen die Akteure dar, wie sie sich selbst und ihr Verhältnis zu anderen sehen (Wulf/Zierfas 2004: 365 u. 372). Kehren wir noch einmal zurück zu den oben genannten analytischen Perspektiven. Auf unseren Fall bezogen, besteht die ›Anforderung der Situation‹ zunächst einmal darin, unter den Bedingungen der Multikonfessionalität einen Schulgottesdienst abzuhalten. Darüber hinaus muss die Feier so gestaltet werden, dass sie keine Empfindlichkeiten der direkt und indirekt beteiligten Gruppen verletzt wie auch die Schüler anspricht und zur Mitarbeit motiviert. Was die Frage der ›Intentionalität‹ angeht, so darf das Ziel, mit der Feier ein Gemeinschaftsgefühl zu stiften und durch rituelles Verhalten eine Veränderung kultureller Wahrnehmungsmuster (Wulf/Zierfas 2004: 368) herbeizuführen, für die Hauptinitiatoren wohl unterstellt werden. Christoph Wulf hat wiederholt darauf hingewiesen, dass sich im Ritual Gemeinschaften performativ herausbilden und Lernprozesse häufig in rituellen Arrangements stattfinden.25 Der Kommentator im Film stellt denn auch das gemeinschaftsbildende Moment der Feier schon bei den Proben in der Vorfreude auf das Ereignis und schließlich in der Performanz heraus. Verschiedene Intentionen, die miteinander verbunden werden, finden explizit Erwähnung, so etwa »zu beweisen, dass wir miteinander in Frieden leben können.« An anderer Stelle heißt es, es gehe um »Protest im Sinne der Menschlichkeit, im Sinne von Muhammad, im Sinne von Jesus«. Vielschichtiger noch sind die weitergehenden, nicht genannten Ziele der Akteure, die in längerfristige Interessen eingebunden sind. Zu nennen wären hier etwa gesellschaftliche Anerkennungsstrategien der Muslime, im Besonderen aber Aufklärungsund Rechtfertigungsstrategien in der Folge des 11. September 2001 und die Demonstration von Kooperationsbereitschaft.
25 Wulf/Zierfas (2004: 362) fassen dies in die Worte: »Das Bildungspotential von Ritualen liegt in ihrem symbolisch-performativen Charakter, in ihrer kreativen und wirklichkeitserzeugenden Seite, die Dispositionen und Disponibilitäten der Beteiligten hervorbringen kann. Rituale können gleichsam Katalysatoren für soziale und kulturelle Bildungsprozesse sein.« In diese Richtung weist auch die Forderung von Kuhn (2005), Angehörige der unterschiedlichen Religionen sollten eine Lerngemeinschaft bilden.
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Die ›Handlungsmacht‹ (›agency‹) der Akteure ist zunächst durch die eigenen Begrenzungen und die Verfügbarkeit von Ressourcen beschränkt. So spricht zum Beispiel weder der Imam der Moschee noch der Vorsitzende des Moscheevereins Deutsch. Weiter sind die Gestaltungsmöglichkeiten eingeschränkt durch gegenseitige Abhängigkeit oder die Abhängigkeit von übergeordneten Instanzen. Dennoch nimmt man die Dinge in die Hände und wartet nicht, »bis die Gesellschaft so weit ist«. Dies ist zunächst eine Entscheidung der mittleren Ebene von mehr oder minder offiziellen Repräsentanten. Nach deren ›placet‹ müssen zwar die Schüler und Eltern noch überzeugt und zur Aktion motiviert werden, die Unternehmung könnte also noch scheitern. Der entscheidende Impuls kommt von den Pädagogen und muss bei den Betreuten erst noch auf fruchtbaren Boden fallen. Im Film werden dagegen die Schüler selbst als die Hauptakteure benannt. ›Reflexivität‹ und Diskursivität wird vor allem bei den Repräsentanten der gesamtgesellschaftlichen Mehrheit dargestellt. Befremden und Widerstand gegen die Feier artikuliert vor allem die christliche Seite. Offizielle Vertreter aller Seiten würdigen das Ereignis während der Feier in recht einheitlicher allgemeiner Form. Während der evangelische Religionslehrer den Anstoß für den Gottesdienst gibt, gewinnt sein muslimischer Kollege bei der Planung und Reflexion an Gewicht. ›Distinktion‹ bedeutet im Falle des christlich-islamischen Weihnachtsgottesdienstes, sich von denjenigen abzuheben, die sich einer multikonfessionellen Realität verweigern, die die gemeinsamen Grundlagen leugnen oder gar eine friedliche Koexistenz ablehnen. Aber auch die Kritik und Abgrenzung gegen das »süßliche«, kommerzialisierte, unreflektierte Weihnachten der christlichen Mehrheit spielt eine Rolle. Der unterstellte ›Modellcharakter‹ der Veranstaltung kommt in der Aufforderung zum Ausdruck, selbst aktiv zu werden, damit die Feier kein Einzelfall bleibe. Offenbar geht man von einer mehr oder weniger adäquaten Schemabildung aus, nicht nur von einem Rezept für den Augenblick, wie dies bei freien Ad-hoc-Ritualen oder neuen individuellen Ritualen bzw. »Symbolhandlungen«, oft einmalige Kreationen ohne Anspruch auf weitere Tradierung, meist der Fall ist (Lüddeckens 2004).
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3. K ONVERGENZRITUALE Den hier behandelten christlich-islamischen Gottesdienst möchte ich als einen Fall der eingangs genannten Konvergenzrituale verstehen, in denen Design die Aufgabe erfüllen muss, zwei als unterschiedlich wahrgenommene koexistierende Gruppen einander symbolisch näherzubringen. Möglicherweise gelingt dies auch auf der persönlichen Ebene zwischen den Partizipanten des Rituals. Im Vordergrund stehen allerdings die Gruppen, nicht die Individuen. Die Gestaltung einer exemplarischen Interaktion zwischen den Gruppen macht es indes notwendig, dass deren Repräsentanten an der Performanz tatsächlich teilnehmen. Dies wäre selbst bei denjenigen kommemorativen Ritualen, die das Verhältnis von Gruppen zum Gegenstand haben, z. B. einem Holocaust-Gedenken, nicht unabdingbar. Konvergenzrituale sind nicht notwendigerweise Versöhnungsrituale. Hier müsste ein mehr oder weniger offen ausgetragener Konflikt vorliegen, den man im Ritual förmlich bearbeitet: Eine Entzweiung von einstmals zusammengehörenden oder jedenfalls friedlich koexistierenden Gruppen, die sich aufgrund eines einschneidenden Ereignisses entfremdet hatten, wird wieder rückgängig gemacht. Auch handelt es sich nicht um anpassende Rituale, bei denen eine Gruppe die Konventionen der anderen schrittweise übernimmt.26 Ein wichtiges Ziel solcher Annäherungs- oder Verständigungsrituale ist die Demonstration der Annäherung nach außen hin, wobei sich die Botschaft häufig auch nach innen an die Eigengruppe richtet. Gleichwohl müssen auch Abgrenzungen und Differenzmarkierungen vorgenommen werden. Ein möglicher Übergang von der Konvergenz zur Vereinigung bildet eine latente Gefahr für solche Prozesse der Annäherung, der durch entsprechende symbolische Markierungen begegnet werden muss. Am Anfang der Annäherung steht die Anerkennung der in irgendeiner Hinsicht als anders wahrgenommenen Gruppe. Weitere Prozesskomponenten umfassen das Auffinden von Gemeinsamkeiten, die Konstruktion von Parallelen, die symbolische Übernahme von Narrativen und Positionen, aber auch die inszenierte Akzeptanz der Differenz.
26 Ein Beispiel ist hier etwa das gelegentlich unter Muslimen anzutreffende Nachfeiern einer Art säkularisierter Weihnacht mit Bescherung und Tannenbaum zum Jahreswechsel.
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Schließlich muss eine ausgewogene Verteilung von Handlungsmacht, Rollen und Ressourcen sichergestellt werden. Die Anerkennung der Relevanz der Annäherung enthält implizit die Anerkennung des Anderen. Die Außerordentlichkeit des Geschehens bringt der Kommentator mit folgenden Worten zum Ausdruck: Natürlich warteten die Schüler gespannt auf ihre Auftritte, aber ein christlichislamischer Gottesdienst ist in dieser Konsequenz so eine außergewöhnliche Sache, dass die Reihe der Festredner nicht abreisen wollte. Es war schon so etwas wie eine historische Stunde, die die Mannheimer Schüler da selbst heraufbeschworen hatten. Das spürte auch die Direktorin der Schule. (14:40)
Das Ereignis selbst wird im Ereignis gefeiert, insofern ist das Geschehen selbstbezüglich. Man erkennt und feiert, was man gemeinsam zustande gebracht hat. Dennoch soll die Feier über sich selbst hinausweisen. Ein bewährtes Verfahren der Anerkennung besteht darin, Wertschätzung an einzelnen Repräsentanten der anderen Gruppe symbolisch zu demonstrieren. In unserem Fall vollzieht sich dies etwa in der Figur des Negus, des gerechten christlichen Königs, zu dem die verfolgten Muslime nach Abessinien fliehen. Auch werden die Anstrengungen der gesamtgesellschaftlich kleineren, ›bedrohteren‹ Gruppe besonders herausgestellt. Während die Kamera misstrauisch dreinblickende ältere Männer mit Gebetsketten zeigt, würdigt der Kommentator die Toleranzleistung der Muslime: Für die Traditionalisten der islamischen Gemeinde Mannheims war so ein Jugendgottesdienst ein schwieriger Selbstfindungsprozess. Musik, Symbole und Gebete aus einer anderen Religion in der Moschee, dazu bedarf es schon einer Menge Toleranz (16:10).
Eine grundlegende Strategie der Konvergenz ist das Auffinden und Konstatieren von Gemeinsamkeiten. Die geteilte monotheistische Orientierung bietet eine solche Basis, Gläubige beider Religionen sehen
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sich als »Kinder Abrahams«.27 Der Kommentator fasst dies in die Worte: LƗ ilƗha illƗ llƗh. Alles, was lebt, preist den einen Gott überall. In diesem Lied steckt eine Kernaussage des Islams, die wie viele Botschaften auch im Christentum Bestand hat. (10:43)
Zwar feierten Muslime nicht Weihnachten, die Geburt Jesu aber finde – so betont der Kommentator weiter – auch im Koran Erwähnung. In der Spielszene von der Flucht nach Abessinien, empfängt der Negus die Muslime als Gleiche unter Gleichen mit den Worten: Der Unterschied zwischen euch Muslimen und uns Christen ist so dünn wie dieser Strich. Ihr seid unsere Geschwister und könnt in meinem christlichen Königreich in Frieden und in aller Ruhe nach eurer Religion leben. (23:19)
Als Fundament der Verständigung kommen weiter in Frage: ein gemeinsamer Erfahrungsraum, geteilte Interessen und Ziele oder die Formulierung gemeinsamer Zukunftsperspektiven, aber auch Ängste. Der Imam spricht beim Gottesdienst von gemeinsamer Verantwortung der Gläubigen und meint dies in Abgrenzung zu den Nichtgläubigen insgesamt. In der Szene, in der die beiden Religionslehrer mit der Klasse über den geplanten Weihnachtsgottesdienst sprechen, formuliert der islamische Religionslehrer das gemeinsame Ziel:
27 Neben Abraham ist vor allem Noah ein möglicher gemeinsamer Bezugspunkt nicht nur für Christen und Muslime, da der Bund zwischen Gott und Noah alle Menschen eingeschlossen habe, wie auch der evangelische Religionslehrer im Kapitel (2) zur Moscheeführung feststellt. In der Tat mehren sich die Feieranlässe, die mit Noah verbunden werden. Die Einladung eines »Akademischen Dialog Kreis e. V.« aus Anlass eines Noah-Festes am 25.01.2009 bringt die Balance zwischen Gemeinsamkeit und Wahrung der Eigenidentität metaphorisch zum Ausdruck. Die Muslime feierten an diesem Tag (ષƖschnjrƗގ-Tag) alljährlich die Rettung der Menschen vor der Sintflut. Es sei Brauch eine Suppe zu kochen und Gäste zu bewirten. Die Suppe bestehe aus vielen Zutaten und habe einen Eigengeschmack, und dennoch könne man die einzelnen Zutaten noch herausschmecken. Die Einladung schließt mit dem Wunsch »Und genau so sollte unserer Meinung nach unsere gemeinsame Zukunft aussehen«.
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... das wollen wir auch demonstrieren, dass wir in der Lage sind in dieser deutschen Gesellschaft Muslime und Christen, dass uns dieses friedliche Zusammenleben sehr viel bedeutet und dass wir als Christen und Muslime in der Lage sind zu beweisen, dass wir miteinander in Frieden leben können. (11:33)
Das Auffinden von Gemeinsamkeiten setzt sich fort in der Konstruktion und Ausdeutung von Parallelen. Im vorliegenden Fall sind dies vor allem der Flucht-Topos und die analoge Betrachtung von Jesus und Muhammad. Jesus, »ein von Anfang an verfolgter Prophet«, gilt als unangepasster Kritiker des religiösen Establishments, ähnlich auch Muhammad, der im Übrigen, zeitgemäß, als Befreier insbesondere der Frauen und Sklaven bezeichnet wird. Die Flucht von Jesus und seinen Eltern nach Ägypten wird mit der Flucht von Muhammad nach Medina parallelisiert. Der evangelische Religionslehrer doziert vor der Klasse: Zu Weihnachten geht es nicht nur darum … um das Kind in der Wiege. Sondern das Kind wird gleich bedroht, nachdem es geboren ist. So wurde eben Muhammad am Anfang seiner Mission in Mekka auch bedroht. (10:57)
In seiner Feieransprache heißt es: ... und als dann Gott seine Boten auf die Erde schickte, Jesus, Muhammad, da werden sie angefeindet, bedroht. Jesus muss fliehen nach Ägypten, Muhammad und seine Anhänger mussten nach Abessinien, später nach Medina fliehen. Weihnachten, das ist nicht Zuckerwatte und das süße Jesulein, Weihnachten da geht es hart zur Sache und das werden wir gleich mit eurem Spiel, euren Worten wiedergeben. (18:04)
Der Kommentar fasst zusammen: »Flucht und Ankunft: die gemeinsame christliche und islamische Botschaft«. (24:06) Eine Szene, in der Schülerinnen Plakate anfertigen, wird folgendermaßen kommentiert: Muhammad musste fliehen, das Jesuskind wurde verfolgt, und auch im 21. Jahrhundert gibt es die verschiedensten Formen gesellschaftlicher Unterdrückung. Christen und Muslime erheben zusammen ihre Stimme und prangern auf Plakaten Krieg, Unterdrückung, Diskriminierung und jede Form von
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Gewalt an. Protest im Sinne der Menschlichkeit, im Sinne von Muhammad, im Sinne von Jesus. (12:00)
Verfolgung trifft nach den Worten des islamischen Religionslehrers auch heute noch Christen wie Muslime: »Christen werden in manchen islamischen Ländern verfolgt, wie auch Muslime in christlichen Ländern.« (11:18) Welche christlichen Länder er meint, ist nicht ganz klar. Die Konvergenz der Gruppen erfolgt so nicht zuletzt in gemeinsamer Verantwortung vor höheren Zielen. Es gibt so etwas wie eine »Mission«, die sich im rituellen Ereignis manifestiert.28 Der Kommentator resümiert denn auch: Die Wünsche und Sehnsüchte der Mannheimer Schüler begleiteten auch damals schon Jesus und Muhammad auf ihrem Weg, als sie für mehr Menschlichkeit kämpften und verfolgt wurden. Ihre Mission ist noch lange nicht zu Ende. (24:40)
Die Hoffnung auf die Vorbildfunktion der interreligiösen Feier kommt im Schlusskommentar zum Ausdruck: Ein christlich-islamischer Gottesdienst – ein schöner Einzelfall oder wäre er an deiner Schule auch denkbar? Diskutiert mit euren Mitschülern, Lehrern und Eltern oder werdet selbst aktiv. Es gibt viele Gemeinsamkeiten. (25:56)
Erst die Akzeptanz der Differenz schlägt eine Brücke zwischen dem status quo und der angestrebten Annäherung. Sie vermindert die Furcht vor Vereinnahmung und kommt dem Beharren wichtiger Akteure auf Eigenständigkeit entgegen. So charakterisiert der islamische Religionslehrer den christlich-islamischen Gottesdienst auch als »keine Mischung, aber ein Miteinander«. Die Differenz muss erkennbar bleiben, darf allerdings auch nicht zu sehr betont werden. Andersartigkeit wird daher den Partnern in der Form der Belehrung als eine Art Horizonterweiterung nahegebracht. Die Begegnung erscheint so nicht zuletzt als Chance, das eigene Wissen zu mehren. Diesen neuen Wissensbestand weitergehend auf Kon-
28 Wulf/Zierfas (2004: 364) nennen Rituale »die gegenwärtige Synthese von sozialem Gedächtnis und kommunitärem Zukunftsentwurf.«
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sequenzen zu durchdenken, bärge die Gefahr, dass gerade implementierte Konstruktionen der Gemeinsamkeit kritisch hinterfragt würden.29 Differenzmarkierungen über Symbolgebrauch bzw. -verzicht wie auch über eine beiläufige Inszenierung der Differenz macht sie wahrnehmbar, eröffnet aber gleichzeitig einen Raum für ihre Integration. So sitzt der evangelische Religionslehrer bei der erwähnten Koranrezitation zwar auch auf den Knien wie die anderen ›Offiziellen‹, aber abseits von der Gruppe der muslimischen religiösen Akteure. Ob dies so intendiert war oder einfach geschehen, wird nicht deutlich und wäre möglicherweise ex post ohnehin nicht mehr zweifelsfrei zu klären, da man nachträgliche Sinngebungen nicht ausschließen kann. In der Tat kann der Eindruck entstehen, dass hier das Ritual in der Performanz gebildet und symbolisch kodiert wird (Wulf/Zierfas 2004: 360). Vor dem Hintergrund der Verteilung von Handlungsmacht, Rollen und Ressourcen unter den Akteuren stellt sich die Frage »Wer sagt was und wer handelt wie?«, wobei man in Erinnerung behalten muss, dass Aussagen über die Verteilung von ›agency‹ nur im Hinblick auf deren filmisch inszenierte bzw. ausgewählte Darstellung getroffen werden können. Das Bestreben nach paritätischer Verteilung der Bild und Tonanteile wird bereits im Vorspann des Films deutlich, in dem abwechselnd je zwei Einstellungen mit orientalisch anmutender bzw. abendländischer Musik unterlegt werden, beginnend mit orientalischer für Einstellung 1 und 2, abendländischer 3 und 4 usw.30 Dennoch überwiegt, sieht man vom Kommentar ab, auf die Gesamtlänge des Films die Perspektive christlicher Akteure rein quantitativ die Perspektive muslimischer Akteure im Verhältnis 5:4. Bei der Verteilung der ›agenda‹ und ›dicenda‹ auf die Akteure fällt auf, dass die Idee des Gottesdienstes vom evangelischen Religionslehrer eingebracht wird, um dann vom islamischen Kollegen weiterentwickelt zu werden. Er ist es auch, der das Programm-Schema grob skizziert.
29 Gerade bei Schulfesten wird daher potentiell Trennendes ausgeklammert. Hier sollen vor allem die Bindung an die Institution und die Solidarität zwischen den Schülern gefördert werden (Wagner-Willi 2004: 139). 30 Die Bildfolge: 1. Moschee und Minarett, 2. Imam, dahinter Schüler die die Prosternation vollführen, 3. Szene aus der Schauspieleinlage der Feier, ein Schüler mit kreuzgeschmückter Krone stellt einen der Heiligen Drei Könige dar, 4. der ER singt zur Gitarre mit Schülern im Klassenzimmer, usw.
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Unverkennbar hat die Feier eher die Struktur eines christlichen Gottesdienstes mit den Elementen der Eröffnung, Gebeten, Liedern, Texten und Ansprachen sowie der Segensbitte am Ende. Das stark formalisierte islamische Ritualgebet als Kern des islamischen Gottesdienstes hat, wie die Sakramente, einen zu starken Identitätsfaktor, um in die Zeremonie eingebaut werden zu können. Ein typisch protestantisches Moment ist die ›confessio‹ der Ängste bei der Verlesung der Fluchtgründe (Punkt 9 des Ablaufs). Es ist nicht leicht, sich dergleichen in einem islamischen Gottesdienst vorzustellen. Die in den Gottesdienst integrierten Spielszenen variieren das Fluchtthema zunächst aus der christlichen und darauf aus der muslimischen Perspektive.31 Beim Abschlussgebet der Feier spricht zunächst der islamische Religionslehrer frei ein Bittgebet, worauf sein evangelischer Kollege mit der formelhaften, auf 4. Mose 6, 24–26 beruhenden Segensbitte und dem gemeinsam gesprochenen Amen schließt. Neben den beiden stehen im Halbkreis weitere Lehrer, die mit angewinkelten Armen und geöffneten Handflächen um Segen bitten. (24:56) IR: »Oh Allah, unser Herr, Du hast gesehen, dass wir füreinander da sind, und die Kinder dieser Schule haben das auch sehr schön zum Ausdruck gebracht. Wir bitten Dich auch um Deine Wärme, um Deine schützende Hand, um Deinen Frieden. Gib uns den Sinn und die Fähigkeit, miteinander friedlich umzugehen, dass wir miteinander auch nicht mehr Menschen töten, sondern dass wir unsere Mitmenschen schützen. Wir bitten Dich um die Fähigkeit und Deine Gnade für uns erweisen kannst.«
31 1. Der Sohn eines der Heiligen Drei Könige kommt zur Zeit des Pessahfestes nach Jerusalem und erfährt, dass Jesus der Prozess gemacht wird und ihn die Kreuzigung erwartet. Er sucht Maria auf, die ihm von ihrer Schwangerschaft, der Geburt, der Flucht nach Ägypten und Jesus’ Zeit als Wanderprediger berichtet. 2. Nach dem Vortrag eines Textes zur Verfolgung Muhammads in Mekka wird eine Spielszene dargestellt, in der Muslime auf Anraten des Propheten beim Negus in Abessinien Schutz und Zuflucht suchen.
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ER: »Der Herr segne uns und behüte uns, der Herr lasse sein Angesicht leuchten über uns und sei uns gnädig. Der Herr hebe sein Angesicht auf uns und schenke uns seinen Frieden.« Gemeinsam: »Amen.« Die Wahl der Moschee als Ort der Veranstaltung setzt ein Gegengewicht zum ursprünglichen weihnachtlichen Anlass der Feier. Symbolisch empfängt die Minderheit die Mehrheit. Auf die Schüler bezogen, dürfte allerdings umgekehrt die Minderheit der Christen bei der Mehrheit der Muslime zu Gast gewesen sein. Der deutsche Ort ist die Schule, den religiösen Ort repräsentiert die Moschee. Das eigentliche weihnachtliche Element der Geburt Christi ist ganz in den Hintergrund getreten und durch das Fluchtmotiv ersetzt worden, das dem islamischen Narrativ vom erzwungenen Auszug (hijra) verwandt ist, wie es sich exemplarisch in der Auswanderung der Muslime von Mekka nach Medina findet. Der Topos von »Flucht und Ankunft« wird an verschiedenen Stellen mit der Auswanderungserfahrung der Migranten nach Deutschland überblendet. So heißt es etwa »Gott sagt: Wer sich in meinem Namen auf den Weg macht und gezwungen ist auszuwandern, dem schenke ich Glück und Wohlstand.« (17:23) Bei der Posterpräsentation der Schüler gegen »Krieg, gesellschaftliche Unterdrückung, Diskriminierung und jede Form von Gewalt« (12:20) spiegelt die Aufzählung von Befürchtungen mit Ausnahme der Terrorangst eher die Erfahrungen der Muslime wieder: Krieg im Heimatland; staatliche Verfolgung; Arbeitslosigkeit; Hungersnot; Krankheit; schließlich andere Ängste vor Abschiebung; Zukunftsangst; Kriminalität; Terrorangst; Furcht um die eigene Sicherheit. Neben Narrativen werden auch bestimmte Positionen übernommen bzw. vermieden. An keiner Stelle ist von Jesus als Sohn Gottes die Rede. Durchgängig wird er wie Muhammad als Prophet bezeichnet. Fassen wir zusammen. Wie weiter oben geschildert, sind die Ritualgestalter im Designprozess bei der Auswahl und Kombination der Ritualbausteine in ihren Selektionsmöglichkeiten durch verschiedene situative und systematische Faktoren eingeschränkt (religiöse Dogmen; Empfindlichkeiten, Fähigkeiten der Akteure etc.). Die multiple Selbst- und Fremdverortung von Akteursgruppen im Hinblick auf Re-
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ligion, Staatsangehörigkeit, ethnischen Hintergrund, Zentralität der Religion und Zugehörigkeit zur Mehrheit/Minderheit auf lokaler bzw. nationaler Ebene macht die Aufgabe nicht einfacher. Die veränderte öffentliche Wahrnehmung des Islams nach dem 11. September 2001 ist nicht ohne Einfluss auf das gesellschaftliche Klima geblieben. Weiter wirken sich übergeordnete Debatten um das Verhältnis der Bekenntnisse aus, wie sie sich in unterschiedlichen Auffassungen zur Möglichkeit multireligiösen und interreligiösen Betens spiegeln. Im Ritualdesign müssen die Vorgaben und Intentionen in Vorlagen für konkrete Handlungssequenzen umgesetzt werden, die potentiell Modellcharakter haben. Zentral ist hierbei, dass eine Balance zwischen der Betonung von Gemeinsamkeiten und der Anerkennung von Differenz hergestellt wird. Wenn das Design erfolgreich und die Adaption des Neugestalteten gelingen soll, muss es den jeweiligen Selbstkonzepten der Gruppen Rechnung tragen und darüber hinaus die neu gebildete Ritualgemeinschaft repräsentieren. Im Migrationskontext scheinen sich Rituale, in denen Gruppen, die sich als unterschiedlich wahrnehmen, die aber ihre Annäherung inszenieren, gerade dadurch auszuzeichnen, dass die Mehrheit die Narrative der Minderheit symbolisch adaptiert. Mit dem für den Gottesdienst gewählten Leitmotiv der Flucht bezieht man sich auf eine Meistererzählung des Islams und zudem auf die Erfahrung der Migranten, die ihre Heimat in der Regel nicht ohne Not verlassen haben. Die Mehrheit erkennt die Minderheit an, indem sie deren Perspektive zumindest zeitweise integriert und ihre Anpassungsleistung würdigt. Dabei wird die faktische Heterogenität der Gruppen nur für den Augenblick aufgehoben. Dies betrifft nicht nur das Verhältnis von Gruppen verschiedener religiöser Observanz zueinander, sondern auch diese Gruppen selbst, denn sie unterscheiden sich nicht nur nach der Rolle der Religion im Alltag, sondern auch nach den jeweiligen ethnisch geprägten Traditionen. Es scheint indes, dass offizielle Anlässe die genannten Unterschiede erst voll ins Bewusstsein heben, um sie dann rituell zu bearbeiten und schließlich in eine Perspektive der Konvergenz zu stellen. So erinnern solche Rituale gleichsam an das Unbearbeitete und stellen es zugleich als ertragbar und weiterbearbeitbar dar. Das Paradox dieser Rituale aber besteht darin, dass die tatsächliche Vereinigung als Ergebnis der Konvergenz vermieden werden muss, denn dies würde Identitätsverlust und Selbstauflösung bedeuten,
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ohne dass an die Stelle der vertrauten Identitäten eine verlässliche Substitution treten könnte.
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»Vor Euch wird die Tafel des Hızır Paúa gerichtet« Aúura im Frühislam und rituelle Speisungen zwischen Aleviten und Sunniten im Monat Muharrem JANINA KAROLEWSKI
E INLEITUNG In den letzten Jahren wurden Sunniten vermehrt zu rituellen Speisungen der alevitischen Glaubensgemeinschaft eingeladen. Bis dahin waren deren Rituale für Außenstehende meist unzugänglich und das gemeinsame Begehen eines Rituals mit diesen größtenteils undenkbar. Bevorzugt werden diese Speisungen im islamischen Monat Muharrem veranstaltet. Speziell der darin liegende Aúura-Tag ist sowohl für Sunniten als auch für Aleviten von Bedeutung. Obgleich dies in beiden Traditionen auf eine im Kern verschiedene Begründung zurückgeht, bestehen dennoch Ähnlichkeiten in der Ritualpraxis. Die Gestalter dieser gemeinsamen Ereignisse beabsichtigen, Aleviten und Sunniten im wahrsten Sinne des Wortes an einen Tisch zu holen. Im Jahre 2008 erregte eine solche Speisung in Ankara großes Aufsehen, da sie von einem Politiker der türkischen Regierungspartei AKP initiiert war. Der Großteil der eingeladenen Aleviten weigerte sich bereits im Vorfeld, an diesem ›neuen‹ Ritual teilzunehmen. Für Um- bzw. Neugestaltung von Ritualen, der die Intention zugrunde liegt, ein neues Ritual zu schaffen, wird in der Ritualtheorie derzeit die Verwendung des Begriffes »Ritualdesign« diskutiert (vgl.
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u. a. Michaels et al. 2011). Im vorliegenden Beitrag wird diese Perspektive einerseits auf das rezente Beispiel der gemeinsamen Speisungen von Aleviten und Sunniten angewendet. Andererseits drängte es sich geradezu auf, das Fastenritual am Aúura-Tag als historisches Fallbeispiel für Ritualdesign näher zu betrachten. Für die junge Gefolgschaft des Propheten Muhammed war das von ihm festgelegte AúuraFasten ein ›neues‹ Ritual, das jedoch an vorislamische und jüdische Traditionen anknüpfte. Im Folgenden wird danach gefragt werden, wie Elemente verschiedener Traditionen für das Design neuer Rituale (im Sinne von Modell oder Muster) kombiniert werden. Hinzukommt die Frage nach religiösen Eigenheiten, die beispielsweise im neuen Ritual des Aúura-Fastens konstituiert werden, indem bekannte Formen oder Bedeutungszuschreibungen bewusste Abänderungen erfahren. Im Falle der gemeinsamen Speisungen von Aleviten und Sunniten rückt vor allem das Verhältnis zwischen Ritualdesigner und eingeplanten Teilnehmern in den Blick, welches für die Akzeptanz des gestalteten Rituals entscheidend sein kann. Hieran schließt der Aspekt des weiteren Umgangs mit einem designten Ritual und dessen mögliche Umgestaltungen an.
1. P IR S ULTAN ABDAL
UND
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Als Hızır Paúa, der Gouverneur von Sivas, den Dichter Pir Sultan zum Essen einlädt, lehnt dieser die Speisen ab. Hızır Paúa erkundigt sich erstaunt nach dem Grund. Pir Sultan sagt, die Speisen seien ›unrein‹, die Tafel errichtet auf den Ungerechtigkeiten des Paúa. Woher er dies wissen wolle, fragt Hızır Paúa nun. Pir Sultan erwidert, dies wüssten gar seine beiden Hunde. Der erzürnte Hızır Paúa fordert Pir Sultan auf, seine Hunde herbeizuholen und lässt ihnen zwei Speisen vorsetzen. Eine aus denselben Zutaten wie die für Pir Sultan, die andere aus ›reinen‹ Zutaten. Die Hunde kommen, riechen an den Speisen und fressen die ›reine‹. (Nacherzählt von Ahmet Do÷anbaú, 2011)1
Diese Episode ist Teil der volkstümlichen Legende über den dichtenden Mystiker Pir Sultan Abdal, der laut Überlieferung im osmanisch
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Übersetzungen aus dem Türkischen und Arabischen stammen von der Autorin und werden im Folgenden nicht gesondert gekennzeichnet.
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beherrschten Anatolien des 16./17. Jh.s wirkte. Als Anhänger der schiitisch-mystisch orientierten Safavidendynastie im benachbarten Persien opponierte er gegen den ›ungerechten‹, da sunnitisch begründeten Herrschaftsanspruch des osmanischen Sultans. In seinen Gedichten rief Pir Sultan Abdal die Bevölkerung zum Widerstand gegen die osmanische Staatsmacht auf, wofür er letztendlich mit dem Tode bestraft wurde. Pir Sultan Abdals Gegenpart Hızır Paúa, sein ehemaliger Schüler und späterer Gouverneur von Sivas, verkörpert nicht nur den religiös ›ungerechten‹ Herrschaftsanspruch des Osmanensultans, sondern steht auch für die Ungerechtigkeit der Herrschenden, welche die Bevölkerung unterdrücken und ausbeuten. 1. 1 Pir Sultan Abdal und die Aleviten in der Türkei Besondere Verbreitung finden die Legende des Pir Sultan Abdal und die ihm zugeschriebene Dichtung im heutigen Alevitentum, einer religiösen Tradition, die unter anderem auf islamisch-mystische, nicht immer klar voneinander abzugrenzende Strömungen innerhalb der anatolischen Landbevölkerung zurückgeht. Für viele Aleviten ist Pir Sultan Abdal ein früher Vertreter ihrer Tradition, dessen Dichtung zentrale Aspekte der alevitischen Lehre vermittelt und dessen Legende wie keine andere für den Widerstand gegen die osmanische Vorherrschaft steht. Vor allem seit dem frühen 16. Jh., als sich große Bevölkerungsteile, meist turkmenische Nomadenstämme, mit Unterstützung der persischen Safavidendynastie zum Widerstand formierten, erklärte die osmanische Führung die Opponenten zu »Häretikern«, die verfolgt und bestraft wurden. Die betroffenen Gemeinschaften gaben den Widerstand auf und siedelten in abgelegenen Landstrichen Zentral- und Südostanatoliens. Ihre gesellschaftliche Ausgrenzung dauerte bis in die folgenden Jahrhunderte, mitunter bis zum heutigen Tage. So werden Aleviten, die ihre Tradition meist als eine Ausformung des Islam ansehen, von Teilen der sunnitischen Mehrheitsgesellschaft in der Türkei nicht als Muslime anerkannt und in vielen sozialen Bereichen benachteiligt. Als es in der Türkei seit den 1970er-Jahren vermehrt zu politisch und religiös motivierten Gewaltausbrüchen gegen Aleviten kam, begannen diese, sich in Vereinen zu organisieren, um öffentlich Präsenz zu zeigen und ihre gesellschaftliche Anerkennung als Traditionsgemeinschaft einzufordern. Symbolfigur ihrer Bemühungen wurde u. a.
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Pir Sultan Abdal, dessen Widerstand mittlerweile von vielen Aleviten als beispielhaft im Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit gedeutet wurde (vgl. Baydar et al. 2006: 50). So schlossen sich etwa im Jahre 1988 politisch links eingestellte und eher religionskritische Aleviten zum »Pir Sultan Abdal Kulturverein« zusammen.2 1. 2 Alevitische Rituale und die Tafel des Hızır Paúa Es waren insbesondere alevitische Vereine im Ausland, die »Kulturveranstaltungen« ausrichteten, um in der jeweiligen Einwanderungsgesellschaft darauf aufmerksam zu machen, dass Aleviten, anders als viele andere Migranten aus der Türkei, keine sunnitischen Muslime sind. In der sunnitisch dominierten Gesellschaft der türkischen Großstädte gingen alevitische Vereine anfangs zaghaft vor, befürchteten sie doch heftige Reaktionen von sunnitisch-konservativen und nationalistischen Gruppierungen. Nach wie vor sind in der türkischen Gesellschaft Diffamierungen von Aleviten weit verbreitet. Ihnen wird ›abnormales‹ Sozialverhalten und ›häretische‹ Religionsausübung unterstellt. Für einige Sunniten gelten Aleviten daher als religiös ›unrein‹ und werden entsprechend als eine Gefährdung der eigenen religiösen ›Reinheit‹ angesehen. Die Situation in der Türkei ist somit meist eine besondere, wenn Nichtaleviten, dort also größtenteils Sunniten, zu einem alevitischen Ritual als ›Besucher‹ zugelassen werden. In jüngster Vergangenheit fanden derartige alevitisch-sunnitische Interaktionen häufig während der alevitischen Trauerzeit am Anfang des islamischen Monats Muharrem statt, wenn allabendlich rituelle Versammlungen abgehalten werden. Die geschichtlich bedingten, vor allem religiösen Vorprägungen spielen in solchen Situationen eine zentrale Rolle. Dies wurde bei einem im Januar 2008 organisierten, offiziellen Bankett in Ankara besonders deutlich. Ein Politiker der sunnitisch dominierten, religiös-konservativen Regierungspartei AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi) hatte dieses initiiert, um die alevitische Trau-
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Die im historischen Kontext des Pir Sultan Abdal vorrangig religiös motivierte Opposition gegen die osmanische Herrschaft trat im Laufe der Überlieferung zunehmend in den Hintergrund. Die Motive des ungerechten, sein Volk unterdrückenden Herrschers und des sich wehrenden Helden stehen häufig losgelöst von religiöser Legitimation, während die Legende aber weiterhin die religiöse Dimension des ›unreinen‹ Essens beinhaltet.
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erzeit unter Teilnahme zahlreicher Nichtaleviten zu begehen. Mit Verweis auf die Legende von Pir Sultan Abdal und die ›unreine‹ Tafel des Hızır Paúa sprachen sich viele Aleviten gegen diese Veranstaltung aus, da sie u. a. die »Sunnitisierung« eines ehemals exklusiv alevitischen Rituals befürchteten.
2. AùURA – M UHARREM – AùURE Laut ণadƯ৮-Literatur, der schriftlichen Überlieferungen über die Aussprüche und Taten des Propheten Muhammed, habe dieser das Fasten am Aúura-Tag, dem 10. Muharrem empfohlen. Dieser Tag ist für viele Muslime von religiöser Bedeutung, mitunter ähneln sich die hier durchgeführten Rituale und Bräuche ebenso wie die verwendeten Bedeutungszuschreibungen und Symboliken. Der Glaube daran, durch bestimmte, an diesem religiös bedeutsamen Tag ausgeführte Handlungen Gottes Segen, Schutz oder Vergebung erreichen zu können, ist weit verbreitet. Hierzu zählt die Zubereitung einer besonderen, in der Türkei als Aúure bekannten Speise und deren Verteilen im familiären und sozialen Umfeld oder an Unbekannte und Hilfsbedürftige. Im religiösen Feld des schiitischen Islam, der starken Einfluss auf die alevitische Tradition hatte, stellen Muharrem und Aúura-Tag jedoch eine Zeit der Trauer dar. 2. 1 Ritualdesign im Frühislam: Muhammed befiehlt Aúura-Fasten Die verfügbaren Quellen aus frühislamischer Zeit bieten mehrere, mitunter einander widersprechende Erklärungen für das Aúura-Fasten. Aus religionshistorischer Perspektive kann man daher nur ansatzweise nachvollziehen, wie dieses Ritual entstand oder welche bestehenden rituellen Elemente aus anderen Traditionen inkorporiert wurden. Es zeigt sich aber, dass Rituale nicht ex nihilo geschaffen werden. Sie vereinen das »Be-/Anerkannte« mit anderen rituellen Elementen und Formen. Diese Modifikation an Ritualkomplexen, der eine nachweisbare Intention zugrundeliegt, kann mit dem Begriff »Ritualdesign« bezeichnet werden (Ahn 2011: 603). Im vorliegenden Falle besteht jedoch die Schwierigkeit, einen Designer auszumachen, der seine Intentionen und vor allem seine Vorgehensweise offen darlegt. Aus religiö-
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ser Perspektive wäre Gott als Designer zu benennen, da »die Form und Zeit der Glaubensausübung von Gott festgelegt wird« (Yavuz 1991: 25). Propheten wie Muhammed artikulieren demnach Gottes Willen; sie formulieren ihn und die Rituale nicht selbst. In der ণadƯ৮-Literatur finden wir Schilderungen über das AúuraFasten. Sie gewähren einen Einblick in die rituelle Praxis, geben Auskunft über historische Entwicklungen und stellen ihrerseits einen Bestandteil des Designs dar, indem sie die Narrativen zum entsprechenden Ritual schriftlich festhalten und somit maßgeblich an der Formung eines Kanons beteiligt sind. In den gesammelten Prophetenüberlieferungen von al-BuপƗrƯ findet sich u. a. diese auf Ibn ޏAbbƗs zurückgehende Schilderung über das Fasten an Aúura: Der Prophet, Gott segne ihn und schenke ihm Heil, kam nach Medina. Da sah er die Juden am Aúura-Tag fasten. Und so sagte er: »Was ist dies?« Sie sagten: »Dies ist ein guter Tag. An diesem Tag rettete Gott das Volk Israel von seinen Feinden. Daher fastete Moses an ihm.« Er sagte: »Wir haben mehr Anspruch auf Moses als ihr.« Und so fastete er an ihm und befahl das Fasten an ihm. (alBuপƗrƯ 30: 69[, 5], entspr. 31: 2223)
Eine andere Überlieferung, die Bezug nimmt auf die Erzählung der ޏƖގiša, einer Gattin des Propheten, schildert dahingegen: Es war der Aúura-Tag, den die Qurayš[, die Angehörigen des Stammes Muhammeds,] in der ۛƗhiliyya[, der vorislamischen Zeit,] fasteten, und der Gesandte Gottes, Gott segne ihn und schenke ihm Heil, hatte ihn in der ۛƗhiliyya gefastet. Als er nach Medina kam, fastete er ihn, und er befahl sein Fasten. (alBuপƗrƯ 30: 69[, 3], entspr. 31: 220)4
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Verweise auf ণadƯ৮ folgen der Kapiteleinteilung und Nummerierung innerhalb des zitierten Werkes. (Bei al-BuপƗrƯ ist die Nummer des ণadƯ৮ in eckigen Klammern angegeben, da in arabischer Edition keine Nummerierung vorliegt.) Zitate basieren auf Editionen des arabischen Textes, der stets als erste Referenz genannt wird; falls vorhanden, wird folgend auf die entsprechende Stelle einer englischen Übersetzung verwiesen.
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Vgl. al-BuপƗrƯ 30: 1[, 3], entspr. 21: 117.
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Einstimmigkeit der verschiedenen Überlieferer herrscht aber darüber, dass Muhammed im Jahr nach seiner Ankunft in Medina den Ramadan als islamischen Fastenmonat festlegte und das Fasten am Aúura-Tag als empfohlen beibehielt (vgl. al-BuপƗrƯ 30: 1[, 2], entspr. 31: 116 und 30: 69[, 2], entspr. 31: 219). Es ist den Kommentatoren und Interpreten der ণadƯ৮-Werke überlassen, wie sie mit Passagen umgehen, die auf den ersten Blick widersprüchlich oder unklar erscheinen. Diese Problematik, die einen eigenen Zweig der islamischen Theologie begründete, kann hier nur kurz angeschnitten werden, um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie die teilweise stattfindende Auslese bestimmter Narrative einen nachträglichen Designprozess ermöglicht. Für den religionshistorischen und ritualtheoretischen Blick ist natürlich auch interessant, die Funktion der voneinander abweichenden Narrative zu hinterfragen, legen sie doch offen, wie das Ritual unter Fortführung und Umdeutung bekannter ritueller Elemente designt wurde. Im bedeutenden Werk »Chronologie der orientalischen Völker« des al-BirnjnƯ (gest. 11. Jh.) findet sich im Kapitel über die religiös bedeutenden Tage des Islam auch Aúura. Al-BirnjnƯ führt diesen Fastentag der sunnitischen Tradition jedoch nicht auf einen Brauch im vorislamischen Arabien zurück (Überlieferung der ޏƖގiša, s. o.). Auch heute verfügbaren Quellen aus vorislamischer Zeit ist nicht zu entnehmen, ob die Araber am Aúura-Tag fasteten. Es ist bereits schwierig, generelle Aussagen über die damalige Praxis des Fastens zu machen (vgl. Baú 2004: 170). Dennoch weisen spätere Texte islamischer Theologen auf das Fasten in vorislamischer Zeit hin. Darin werden Muslime kritisiert, die statt im Monat Ramadan weiterhin im Monat Raۜab fasteten, einem der heiligen Monate der Araber (vgl. Kister 1993: 374 und Goitein 1966: 92–94). Muhammeds frühe Anhänger unter den arabischen Stämmen dürften folglich mit der Praxis des Fastens vertraut gewesen sein. Die Überlieferung der ޏƖގiša könnte genau auf diesen Sachverhalt Bezug nehmen, ganz unabhängig davon, ob die vorislamischen Araber zum Aúura-Tag oder einem anderen Anlass fasteten. Die Überlieferung, nach welcher Muhammed das Aúura-Fasten festlegte, als er vom Fastentag der Juden in Medina erfuhr, erwähnt alBirnjnƯ in seinem Werk zwar, aber er stuft sie als nicht »richtig« ein. Seine zu diesem Ergebnis führenden kalendarischen Berechnungen basieren jedoch u. a. auf der nicht belegten Annahme, das Aúura-Fasten sei von jeher am 10. Muharrem begangen worden (s. u.). Zudem macht
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al-BirnjnƯ den in der Überlieferung erwähnten jüdischen Fastentag als Jom Kippur aus und geht sogar auf Parallelen zwischen Jom Kippur und Aúura eingeht. Durch seine gegen die Überlieferung sprechenden Berechnungen ist es für ihn aber offensichtlich hinfällig, diese Parallelen genauer zu betrachten (Sachau 1878: 330). Ein näherer Blick offenbart jedoch eine frappierende Ähnlichkeit beider Tage. Gestützt auf die Überlieferung des Ibn ޏAbbƗs könnte dies für eine teilweise ›Anleihe‹ aus der jüdischen Tradition des Fastens an Jom Kippur sprechen. An Jom Kippur, dem zehn Tage nach dem jüdischen Neujahr gelegenen Versöhnungsfest, kann jeder Reue Zeigende durch Gebet und Enthaltsamkeit göttliche Vergebung erlangen (vgl. Herr/Sperling 2007: 490 f.). Man gedenkt u. a. dem zweiten Aufenthalt Moses‘ auf dem Sinai, als Gott die Anbetung des Goldenen Kalbes vergab und abermals die Zehn Gebote übermittelte (vgl. Goitein 1966: 97). Das Motiv, in Erinnerung an die »Herabsendung« des Wortes Gottes zu fasten, findet sich nicht in der Begründung zu Aúura, wird aber für das später eingeführte Ramadanfasten ins Zentrum gestellt (vgl. Goitein 1966: 101). Eine Parallele zwischen Aúura und Jom Kippur ist jedoch die Vergebung von Sünden, die während dieser Tage erreicht werden kann (vgl. Goitein 1966: 99 f.). Nach Muslim, einem weiteren Sammler von Prophetenüberlieferungen, sagte Muhammed, angesprochen auf das Fasten am Aúura-Tag: »Es vergibt das vorherige Jahr«, womit die Sünden des Vorjahres gemeint sind (Muslim 13: 36, 197, entspr. 6: 437, 2603 vgl. auch Abnj DƗwud 8: 53, 2425, entspr. 13: 2419). Dieser Konnex von Fasten und Sündenvergebung findet sich auch für andere Formen des Fastens, wie etwa das Fasten am ޏArafƗtTag, welches die Sünden sowohl des vorherigen als auch des kommenden Jahres vergibt (ebd.). Auch über das Ramadanfasten heißt es in der Überlieferung, »wer im Ramadan aus aufrichtigem Glauben und in Hoffnung auf Gottes Lohn im Jenseits fastet, dem wird vergeben, was vorausging« (al-BuপƗrƯ, 30: 6, entspr. 31: 125).5 Augenfälliger wird die Verbindung zwischen Jom Kippur und Aúura durch zwei weitere Parallelen. Das Wort »Aúura«, arabisch »ޏƖšnj-
5
Auch bei Muslimen, die den Raۜab als Fastenzeit beibehielten, sind Aussagen des Propheten Muhammed verbreitet, die von Sündenvergebung sprechen, so z. B.: »[H]e who fasts fifteen days [in Raۜab], a herald will announce from Heaven that [G]od forgave him every sin which he had committed in the past« (Kister 1993: 475).
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rƗ«ގ, basiert in seiner Bildung nicht auf der im Arabischen üblichen Morphologie. Al-BirnjnƯ bemerkt daher: »Es wird gesagt, ޏƖšnjrƗގ, das ist arabisiertes Hebräisch, also ޏƖšnjr, und das ist der Zehnte des jüdischen TišrƯ, dessen Fasten das Kippnjr-Fasten ist.« (Sachau 1878: 330) »Der Zehnte«, hebräisch »ޏƖsǀr«, scheint eine eher selten gebrauchte Antonomasie für Jom Kippur zu sein, der das Datum des Fastentages zugrunde liegt (vgl. Dozy 1864: 8 und Goitein 1966: 96).6 Beiden Worten (»ޏƖsǀr« und »ޏƖšnjrƗ )«ގist jedoch gleich, dass sie auf dieselben wortbildenden Konsonanten (–ޏs/š–r) zurückgehen, deren Bedeutung mit der Zahl Zehn verbunden ist. Die zweite Parallele zwischen Aúura und Jom Kippur bezieht sich auf die Daten der zwei Fastentage. Beide finden am zehnten Tag nach Neujahr statt (10. Muharrem nach islamischem, respektive 10. Tischri nach jüdischem Kalender). Die Festlegung eines Datums für Aúura im islamischen Mondkalender führte zwangsläufig dazu, dass dieser nicht mehr per se mit dem Datum von Jom Kippur nach dem jüdischen Lunisolarkalender zusammenfiel.7 Das gleichzeitige Begehen des Fastentages mit den jüdischen Gemeinden kam folglich zu einem Ende (sollte es jemals praktiziert worden sein). Es ist unklar, wann der 10. Muharrem als Datum festgelegt wurde, da die verfügbaren Quellen hierüber keine Auskunft geben. Im Haupttext der Prophetenüberlieferung wird der Tag zumeist nur »Aúura-Tag« (arab. »yawm ޏƖšnjrƗ )«ގgenannt (vgl. al-BuপƗrƯ 30: 69); erst im Laufe der Zeit fügten Herausgeber und Übersetzer die Datumsangabe als erklärenden Zusatz ein. Die wenigen Prophetenüberlieferungen, die ein Datum angeben, beziehen sich auf das des Aúura-Fastens, so etwa die Schilderung des ণakam b. al-ޏAraۜ über ein Gespräch mit Ibn ޏAbbƗs: Ich sagte zu ihm: »Berichte mir vom Aúura-Fasten.« Da sagte er: »Wenn Du den Neumond des Monats Muharrem gesichtet hast, dann zähle und beginne
6
In der Thora bezeichnet »ޏƗsǀr« den Jom Kippur nur wie folgt: »am ޏƗsǀr des [siebenten] Monats« (vgl. u. a. Lev. 16: 29, 23: 27 und 25: 9). Nach Wensinck (1960 ) und Goitein (1966: 96) könnte das arabische »ޏƖšnjrƗ«ގ dem hebräisch-aramäischen »ޏƗsǀrƗ« nachempfunden sein (die Endung »Ɨ« repräsentiert den Determinativ).
7
Nach dem abendländischen Kalender fällt Jom Kippur in die Zeitspanne Anfang September und Anfang Oktober und Aúura findet jedes Jahr ca. elf Tage früher statt als im Vorjahr.
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am neunten Tag zu fasten.« Ich sagte: »Hat der Gesandte Gottes, Gott segne ihn und schenke ihm Heil, es auf diese Weise gefastet?« Er sagte: »Ja.« (Muslim 13: 20, 132, entspr. 6: 424, 2526 f.)
Zu dieser Überlieferung kommentiert NawawƯ, die Zählung der Tage richte sich nach derjenigen der Araber, welche exklusiv ist, folglich den Tag, der den Anfang bildet, nicht einschließt (Fn. 2 in Muslim 13: 20, 132). In diesem Falle wäre das Aúura-Fasten am 10. Muharrem begangen worden, doch es bleibt unklar, ob Aúura-Tag und Aúura-Fasten von jeher auf denselben Tag fielen. Zwei weitere, ebenfalls auf Ibn ޏAbbƗs rekurrierende Überlieferungen machen vor allem Eines deutlich: Der frühen Gemeinde Muhammeds war es bekannt, dass die Juden den Aúura-Tag fasteten. Noch zu Lebzeiten des Propheten könnte der Wunsch seiner Gemeinde, sich von den Juden zu unterscheiden, zu Abweichungen bezüglich des Datums geführt haben: Als der Gesandte Gottes, Gott segne ihn und schenke ihm Heil, den Aúura-Tag fastete und sein Fasten befahl, sagten sie: »Oh Gesandter Gottes, das ist ein Tag, den die Juden und Christen in Ehren halten.« Da sagte der Gesandte Gottes, Gott segne ihn und schenke ihm Heil: »Im nächsten Jahr, so Gott will, fasten wir am neunten Tag.« […] Doch das nächste Jahr kam nicht, bevor der Gesandte Gottes, Gott segne ihn und schenke ihm Heil, verstarb. (Muslim 13: 20, 133, entspr. 6: 424, 2528)8 Der Gesandte Gottes, Gott segne ihn und schenke ihm Heil, sagte: »Fastet am Aúura-Tag und unterscheidet Euch darin von den Juden, so fastet einen Tag vor ihm oder einen Tag nach ihm.« (Ibn ণanbal 2154)9
Die in diesen Überlieferungen zum Vorschein tretende Absicht, sich von den Juden und Christen zu unterscheiden, weist aber auch darauf hin, dass vormals Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Traditionen bestanden. Möglicherweise versuchte Muhammed zu einem bestimmten Zeitpunkt bewusst, die ihm offenbarte Religion an die jüdische und christliche Tradition anzulehnen (z. B. auch die Festlegung der Gebetsrichtung nach Jerusalem, vgl. Watt 1956: 198 f.). Später wird hiervon jedoch Abstand genommen (ebd.: 204 f.), wobei dies aus
8
Vgl. Muslim 13: 20, 134, entspr. 6: 424, 2529.
9
Vgl. Ibn ণanbal 2214 und 2540.
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religionshistorischer Perspektive nicht eindeutig zu begründen ist. Häufig wird vermutet, die zunehmend feindselig werdende Stimmung zwischen der Gemeinde Muhammeds und den dortigen Juden habe zu diesen Änderungen geführt (ebd.: 201), einhergehend mit der Tendenz, der islamischen Religion einen ›eigenen‹, den arabischen Stämmen aber mitunter bekannten Charakter zu geben. So steht das Ramadanfasten in Verbindung zu Muhammed, anders als das Aúura-Fasten, das Moses als Bezug hatte. Auch wird, ähnlich der vorislamischen Praxis im Raۜab, ein gesamter Monat gefastet (Goitein 1966: 105 f.). Zudem wird nun die Abstammung der arabischen Stämme von Abraham, dem Propheten, auf den sich auch Judentum und Christentum beziehen, verstärkt zum Ausdruck gebracht (Watt 1956: 204 f.). So werden einige aus vorislamischer Zeit bekannte Praktiken und Anschauungen auf Abraham ›rückgedeutet‹ (z. B. die Wallfahrten ণaۜۜ und ޏUmra und das Zentralheiligtum Kaޏba, vgl. ebd.: 307). Die fraglichen Überlieferungen zum Aúura-Fasten wurden und werden von sunnitischen Theologen zu unterschiedlichen Gesamtbildern zusammengefügt, sodass mehrere Formen und Bedeutungszuschreibungen nebeneinander existieren. Diesem Phänomen wird hier nicht umfassend nachgegangen, es soll jedoch auf den rezenten Kommentar eines sunnitischen Theologen aus der Türkei geblickt werden, der sich den verschiedenen Überlieferungen zum Aúura-Fasten widmet. Im Eintrag zu Aúura in der »Islam-Enzyklopädie« des türkischen Präsidiums für religiöse Angelegenheiten (»Diyanet øúleri Baúkanlı÷ı«, kurz »Diyanet«) wird die (religions)historische Herangehensweise der beiden Orientalisten Caetani und Wensinck stark kritisiert. Sie würden behaupten, Muhammed habe über das Aúura-Fasten von den Juden gelernt, es aber durch das Ramadan-Fasten ersetzt, als sich die Beziehung zu den Juden verschlechterte. Dies sei »äußerst subjektiv und darüber hinaus Ausdruck eines [negativen] Hintergedankens«; Caetani wäre dem Islam gegenüber gar »böswillig« eingestellt, würde er doch meinen, Muhammed und nicht Gott erkläre das Fasten zur religiösen Pflicht (Yavuz 1991: 25). Der Verfasser des Eintrages vertritt dahingegen die Auffassung, »Aúura [sei] ein Tag, der in allen abrahamitischen Religionen seit Noah existiert und auch unter den Arabern der ۛƗhiliyya seit Abraham als wichtig angesehen und gefastet wurde.« (Ebd.: 24) Dies habe Muhammed, der selbst in vorislamischer Zeit gefastet hätte, bestätigt, indem der die Aúura-Praxis der Juden nicht für unrichtig er-
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klärte, sondern ebenfalls das Fasten an Aúura befahl (ebd.: 25).10 Interessant ist folgende Aussage über die Abänderung des Datums für das Aúura-Fasten (s. o.): Um die Juden nicht nachzuahmen und um das Eindringen von vorislamischen Bräuchen in die Struktur des Islam zu verhindern, hat der Prophet die Gläubigen außerdem ermahnt und [ihnen] empfohlen, dass sie nicht nur am AúuraTag, sondern am neunten, zehnten und elften Tag des Muharrem fasten. (Ebd.: 25)
Sollte der Verfasser hier nicht unpräzise formuliert haben, so sieht er Muhammed beim Abändern des Datums offensichtlich als Akteur (Designer) mit ›eigener‹ Intention. Der Verfasser kommt den von ihm kritisierten Orientalisten daher in einem Punkt nahe: Die Distinktion von der vorherigen Praxis der Araber und der fortdauernden Praxis der Juden wurde nicht nur durch eine veränderte Zuschreibung, sondern auch durch Abänderungen an der Form des Fastens erreicht. Es sei dahingestellt, aus welcher Motivation oder durch wessen Eingebung Muhammed das Aúura-Fasten befahl, das Design des Rituals lässt sich wie folgt zusammenfassen: Eine bekannte Praxis aus der vorislamisch-arabischen und/oder jüdischen Tradition diente als Anknüpfungspunkt für ein neu zu etablierendes Ritual und legitimierte letzteres teilweise. Gleichzeitig erfolgte eine Abgrenzung von diesen anderen Traditionen, um dem Ritual einen ›eigenen‹ islamischen Charakter zu geben. Durch die Interpretation der Narrative zum Ritual findet ein nachträglicher Designprozess statt, der insbesondere Bedeutungszuschreibungen betrifft (z. B. Verweis auf abrahamitische Herkunft), aber auch die Form des Rituals beeinflussen kann (Fasten ›nur‹ am Aúura-Tag, oder am Tag davor, etc.). 2. 2 Schiitische Trauerrituale an Aúura Nach dem Tode Muhammeds im Jahre 632 war dessen Nachfolge umstritten. Eine Fraktion der muslimischen Gemeinde, aus der sich später die sunnitische Tradition des Islam entwickelte, vertrat die Ansicht, Muhammed habe keinen Nachfolger benannt, sodass er aus der Ge-
10 Vgl. Baú (2004: 171), der gegen die Überlieferung argumentiert, Muhammed habe vor seiner Ankunft in Medina gefastet.
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folgschaft des Propheten heraus ernannt werden müsse. Die Schiiten11 stützten sich dagegen auf eine Überlieferung, nach der Muhammed seinen Cousin und Schwiegersohn Ali auf Gottes Befehl hin als Nachfolger bestimmt habe. Während die machtpolitisch stärkere Fraktion der Sunniten ›ihre‹ Kalifen als Nachfolger Muhammeds ernannte und die Dynastie der Umayyaden begründete, kämpften die Schiiten darum, den Anspruch Alis und, nach seinem Tod, den seiner Nachkommen durchzusetzen. Einen Höhepunkt erreichte dieser gewaltsam ausgetragene Kampf im Jahre 680, als Alis Sohn Hüseyin gegen den umayyadischen Kalifen Yezid rebellierte. Laut Überlieferung seien Hüseyin, seine Familie und die ca. einhundert Mann starke Gefolgschaft am Anfang des Monats Muharrem vom zahlenmäßig weitaus überlegenen Gegner in der Wüste von Kerbela (heute Irak) ohne Zugang zu Wasser festgesetzt worden. Am 10. Muharrem, also am Aúura-Tag, habe dann die Schlacht stattgefunden, in der Hüseyin und viele seiner Männer starben. Zu den wenigen Überlebenden zählte auch Hüseyins Sohn Zeynelabidin, der später die geistige Führerschaft der Schiiten übernahm. Dieses Ereignis führte zu einer endgültigen Teilung der bereits vorher auseinandertriftenden Lager. Die Umayyaden hatten durch die Ermordung des Hüseyin und anderer Nachkommen des Propheten ein drastisches Zeichen gegen die Ansprüche der Schiiten gesetzt. In der schiitischen Tradition wurde Kerbela alsbald zum Symbol für den Kampf von ›Richtig‹ und ›Gerecht‹ gegen ›Falsch‹ und ›Ungerecht‹ (Nakash 1993: 162). Hüseyin habe als Sohn Alis die richtige Form des Islam verteidigt und sich hierfür aufgeopfert.12 Schiitische Traditionen berichten, die Trauerbekundungen für Hüseyin und die anderen Märtyrer hätten bereits direkt nach den Ereignissen von Kerbela begonnen. Bis zum Ende des Umayyaden-Kalifats in Damaskus (750 n. Chr.) fanden Trauerrituale noch im Privaten statt, doch bildeten sich in dieser Zeit vermutlich die ersten rituellen Formen heraus. In den folgenden Jahrhunderten wurden diese Rituale von eini-
11 »Schiiten« und »schiitisch« (arabisch »šƯޏƯ«) gehen zurück auf Arabisch »ŠƯޏat ޏAlƯ«, die »Partei Alis«, im Deutschen meist »Schia«. 12 Die Parallele bezüglich »gerechter« Herrschaft zur eingangs erwähnten Legende des Pir Sultan Abdal ist nicht von ungefähr, sondern verdeutlicht, wie aktuell die Frage nach der rechtmäßigen Nachfolgerschaft des Propheten über Jahrhunderte hinweg blieb.
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gen sunnitischen Herrschern auch im öffentlichen Raum geduldet, mitunter sogar befürwortet (Nakash 1993: 163). Vor allem aber unter schiitischen Dynastien, beispielsweise unter den Buyiden (10.–11. Jh., heutiger West-Iran und Irak), wurden die Trauerfeierlichkeiten als offiziell erklärt und nahmen größere Ausmaße an. So wird berichtet, in Bagdad seien Geschäfte und Werkstätten geschlossen worden, Häuser seien mit schwarzen Stoffbahnen und anderem Dekor versehen worden und in den Straßen sei es zu sehr ausdrucksstarken Formen der Trauerbekundung gekommen (Bozkuú 2008: 46 und Nakash 1993: 169). Bereits im 9./10. Jh. wurden in Bagdad, Aleppo, Kairo, aber auch in persischen Städten spezielle Versammlungshallen für Trauerrituale errichtet (Nakash 1993: 163 und Ayoub 1987: 875). Aber auch das vermeintliche Grab des Hüseyin in Kerbela wurde schon früh zum Wallfahrtsort erklärt. Insbesondere an seinem Todestag und vierzig Tage danach wurde dort getrauert (Nakash 1993: 167 f.). Dies geht möglicherweise auf Anhänger der Partei Alis zurück, die im Jahre 684 erneut gegen die Umayyaden revoltierten. Vor der Schlacht beklagten sie am Grab Hüseyins dessen Tod, aber erbaten auch Gottes Vergebung für ihre Schuld, ihm nicht beigestanden zu haben. Den Tod fast aller durch die Umayyaden soll einer ihrer Anführer im Voraus als Buße für ihre Schuld an Hüseyins Martyrium benannt haben (Hawting 1994: 168). Insbesondere die Selbstbezeichnung dieser Bewegung als »TawwƗbnjn« (d. h. die sich Gott in Buße zuwenden) verdeutlicht, wie die Trauer um Hüseyin schon damals mit Buße zusammentrifft.13 Mit der Etablierung des Islams schiitischer Prägung als ›Staatsreligion‹ des safavidischen Persiens im frühen 16. Jh. kam es zu einer weiteren Ausdifferenzierung der Trauerrituale. Schiitische Gemeinschaften in anderen Regionen wurden hiervon beeinflusst, besitzen aber auch jeweils spezifische Variationen der Rituale (z. B. im heutigen Irak, Aserbaidschan, Pakistan, Indien, Libanon, Bahrain und Indonesien). Am weitesten verbreitet sind 1) das gemeinsame Betrauern der Märtyrer mit Rezitationen und 2) Prozessionen mit Inszenierungen der Ereignisse von Kerbela und teilweisen Selbstgeißelungen (Nakash 1993: 163 und passim, vgl. auch Halm 22007: 41–85).
13 Die Trauerbekundung der TawwƗbnjn fand jedoch nicht im Muharrem statt ist folglich nicht »[t]he first ޏƖshnjrƗ ގDay ritual […] performed«, wie Sindawi (2001: 205) behauptet.
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Obgleich heutzutage viele Schiiten die rituellen Selbstgeißelungen als Zuschauer verfolgen (vgl. Norton 2005 über Aúura in Naba৬iyya, Libanon), ist es doch nur eine kleine Gruppe der Teilnehmer, die dieser besonderen Form der Trauer und Buße nachkommt.14 Ein Großteil der Schiiten, die Muharrem und vor allem Aúura begehen, nehmen an gemeinsamen Treffen teil, die häufig im privaten Kontext oder in Vereinen stattfinden. Es werden verschiedene Texte rezitiert, die das Leiden und den Tod Hüseyins darstellen und interpretieren (vgl. al-Adeeb 2008: 18 f. und Neubauer 1972: 259–262). Hinzu kommen die öffentlichen Prozessionen und die Aufführungen der Ereignisse von Kerbela, bei denen sich die Trauernden auch in einer großen Menge Gleichgesinnter versammeln, um ihre Trauer zu ›präsentieren‹ und zu teilen. Zum Höhepunkt der Trauerfeierlichkeiten, dem 10. Muharrem, wird eine besonders aufwendige Speise zubereitet, die je nach Region aus anderen Zutaten besteht.15 Das anschließende Verteilen der jeweiligen Speise an Familienmitglieder und das nahe soziale Umfeld, aber auch an Unbekannte gilt als segenbringende Handlung, symbolisiert die Verbundenheit der Trauernden und beinhaltet ebenfalls den Aspekt der Buße und Aufopferung, indem eigene ›Ressourcen‹ abgegeben werden. Anders als beim sunnitischen Aúura stellt das Fasten eher einen Bestandteil der Trauer und Buße dar. Der siebte Imam, Enkel des Zeynelabidin, soll beispielsweise geraten haben, keinen strikten Fastentag zu halten, sondern bis in den Nachmittag hinein wie Hüseyin Hunger und Durst zu erleben (Hawting 1994: 177; vgl. auch Sindawi 2001: 208). 2. 3 Distinktion und Gemeinsamkeiten an Aúura Betrachtet man die im schiitischen Islam verbreiteten Trauerrituale, so wird deutlich, dass im Kern keine Verbindung zum sunnitischen Aúu-
14 Meist handelt es sich um Männer jungen bis mittleren Alters, die teilweise bewusst blutende Wunden (vorwiegend auf der vorderen Hälfte des Kopfes) herbeiführen (vgl. Nakash 1993: 174 und Norton 2005: 150 f.). 15 In Naba৬iyya (Libanon) ist es sehr häufig HarƯsa, eine herzhafte Speise aus Weizen und Hühnerfleisch. Für irakische Schiiten, insbesondere aus Naۜaf, gilt auch QƯma, eine Art Eintopf aus Kichererbsen und Fleisch, als Spezialität zu Aúura (Norton 2005: 150 und al-Adeeb 2008: 10).
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ra-Fasten besteht.16 In der Vergangenheit führten die unterschiedlichen Formen, Aúura zu begehen, immer wieder zu Auseinandersetzungen und gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Sunniten und Schiiten (vgl. Baú 2004: 176–178 und Halm 22007: 96). Auffällig ist in jedem Falle die bewusste Distinktion von der jeweils anderen Traditionsrichtung. Bereits al-BirnjnƯ berichtet nicht nur von den Trauerritualen der Schiiten, sondern erwähnt auch, die Umayyaden hätten an Aúura einen Feiertag begangen, neue Kleidung getragen, sich geschmückt, die Augenlider geschwärzt, gefeiert, Bankette gegeben und Süßspeisen verzehrt (Sachau 1878: 329). Sunnitische Rechtsgelehrte verurteilten diese und andere »Neuerungen« in der Aúura-Tradition, da sie in der Prophetenüberlieferung nicht belegt oder als Gegenmaßnahme zu den schiitischen Aúura-Ritualen eingeführt worden seien (Bashear 1991: 310). Dennoch haben sich einige dieser Bräuche durchgesetzt und werden nach wie vor von zahlreichen Sunniten praktiziert (vgl. Fierro 1995: 196–198). Auch in der heutigen Türkei sind einige dieser Handlungen an Aúura als segensbringend verbreitet,17 wobei das Kochen und Verteilen der nach Aúura »Aúure« genannten Suppe am bekanntesten ist und, im Vergleich zu etwa dem Schwärzen der Augenlider oder dem Färben der Hände mit Henna, von sunnitischen Theologen anerkannt wird (vgl. Yavuz 1991: 25 f.). Es scheint nicht von ungefähr, dass auch beim schiitischen Aúura viel Wert darauf gelegt wird, eine Speise an die Familie, das soziale Umfeld, aber auch an Unbekannte und Bedürftige zu verteilen, da dies als segenbringend angesehen wird. Hierhinter verbirgt sich u. a. die Bedeutung, die Aúura in beiden muslimischen Traditionen beigemessen wird: An diesem Tag habe Gott die Menschheit gesegnet, indem er u. a. Noahs Arche landen ließ, Adam und David vergab und Jonah aus dem Bauch des Wales entließ (vgl. Sachau 1878: 329, Sindawi 2001: 207, Fierro 1995: 195 und Yavuz 1991: 25). Trotz aller Distinktion im Ritual und in den Bedeutungszuschreibungen finden sich hier Gemeinsamkeiten, die auch in der alevitischen Tradition bekannt sind und, wie im Folgenden gezeigt wird, bei designten Rituale zwischen Aleviten und Sunniten als Bezugspunkte fungieren, um »Gemeinsamkeit« neu zu schaffen.
16 Zu einem möglichen Bezug zum jüdischen Jom Kippur, vgl. Hawting (1994), Sindawi (2001) und Halm (2007: 41 f.). 17 Zu Ritualen an Aúura im Osmanischen Reich, vgl. Baú (2004: 179–188).
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3. »M UHARREM -F ASTENBRECHEN «: ALEVITISCH ? Im Dezember 2011 widmete sich die Zeitschrift des türkischen »Diyanet« dem Thema »Muharrem und Kerbela«. Obgleich in den Beiträgen auf unterschiedliche Arten, Muharrem und Aúura zu begehen, eingegangen wird, kommt der Aúure-Suppe eine besondere Rolle zu: Sie sei ein »Symbol der Gemeinsamkeit« in der »Vielfalt« (u. a. Altındaú 2011). Doch neben der Aúure-Suppe wird eine weitere Gemeinsamkeit am Aúura-Tag betont: Ohnehin messen alle Muslime in Anatolien, Aleviten, Sunniten, [und die Angehörigen des Derwischordens der] Betaschis, diesem Fasten [i. e. Aúura] großen Wert bei; sie fasten und ferner bereiten sie die Aúure-Süßspeise zu und bieten sie an. (Altındaú 2011: 20)
Die Annahme, der Aúura-Tag würde von allen Muslimen als Fastenritual begangen werden, ist, wie bereits erwähnt, für die schiitische Tradition nur eingeschränkt gültig. Auch für die alevitische Tradition lässt sich dies nicht ohne Weiteres behaupten. 3. 1 Muharrem und Aúura im Alevitentum Wie die Legende des Pir Sultan Abdal bis heute vermittelt, stand die alevitische Tradition im 16. und 17. Jh. unter dem Einfluss der schiitisch-orientierten Dynastie der Safaviden in Persien. Ob bereits in dieser Zeit Trauerrituale aus der schiitischen Tradition übernommen wurden, oder gar früher, ist unklar, da die Quellenlage hierzu mehr als dürftig ist. Vor allem in den ländlichen Gebieten Anatoliens fanden diese Ereignisse bis in die Mitte des 20. Jh.s fast immer im nach außen geschlossenen Kreis einer alevitischen Gemeinschaft statt. Bei der Betrachtung der rezenten (sowohl ländlichen als auch städtischen) Ritualpraxis fallen schiitische Elemente jedoch eindeutig auf, wobei spätere Einflüsse mitunter nachweisbar sind. Die Erinnerung an die Ereignisse von Kerbela findet in verschiedenen alevitischen Ritualen Platz, so beispielsweise in den Versammlungsritualen, wenn Trauerhymnen gesungen werden, das Leid der Märtyrer beklagt wird und symbolisch für den Durst der in der Wüste von Kerbela Festsitzenden Wasser in die Teilnehmermenge gesprenkelt wird (Langer 2008: 98). Gleich der schiitischen Tradition sind es
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die ersten Tage des Muharrem, in denen Trauer und Enthaltsamkeit geübt werden, und Aúura gilt als zentraler Tag. Häufig werden im Alevitentum aber in Gedenken an die »Zwölf Imame«, die Nachkommen Muhammeds, die ersten zwölf Tage getrauert. Die Bedeutung der Trauer wird durch eine Vielzahl von Handlungsvorgaben für diese Tage in Erinnerung gerufen. So wird tagsüber auf Essen und Trinken verzichtet. Es finden keine Vergnügungen und Feiern jeglicher Art statt. In Gedenken an die Gewalttätigkeit der Schlacht von Kerbela dürfen keine scharfen Gegenstände (Messer, Rasierklinge etc.) verwendet werden. Abends kommt man zu einer rituellen Andacht zusammen, singt Trauerhymnen, rezitiert Texte zur Erinnerung an die Märtyrer, nimmt gemeinsam ein einfaches, fleischloses Mahl zu sich und trinkt in Nachempfindung der Wassernot der Märtyrer in Kerbela kein reines Wasser. (Vgl. u. a. CEM Vakfı 2000: 57, Üzüm/Üçer 2011: 27 f. und Langer 2008: 102) Bei den Trauerbekundungen kommt es je nach Beteiligten zu lautem Wehklagen, Weinen, mitunter auch leichten Formen der Selbstgeißelung, wie Schlägen gegen die Brust. Gegen Ende der Trauerzeit wird dann die meist süße, aus Trockenfrüchten, Nüssen, Reis und weiteren Zutaten bestehende Aúure-Suppe zubereitet und im nahen sozialen Umfeld verteilt. Aleviten, welche die ersten zwölf Tage trauern, bereiten Aúure daher erst am zwölften oder dreizehnten Tag zu. Aúure gilt häufig als Ausdruck des Dankes dafür, dass Zeynelabidin, der Sohn Hüseyins, Kerbela überlebte. Außerdem sollen etwa in Gedenken an die »Zwölf Imame« zwölf Zutaten verwendet oder die Suppe an mindestens zwölf Familien verteilt werden. (Üzüm/Üçer 2011: 28) In städtischen Zentren der Türkei übernehmen oft alevitische Vereine die Organisation der Trauerzeit, die früher in den ländlichen Gebieten von religiösen Spezialisten oder ihren Vertretern innerhalb der Dorfgemeinschaft getragen wurde. Letztmalig während des Muharrem 2010 besuchte die Autorin verschiedene alevitische Vereine in Ankara, um deren Aktivitäten zu dokumentieren. Für den Trend der letzten Jahre lässt sich zusammenfassend Folgendes feststellen: Häufig werden in den Abendstunden, wenn auch Berufstätige teilnehmen können, Veranstaltungen geplant. Dies können rituelle Gedenkfeiern mit Trauergesängen sein, bei denen vor allem ältere Teilnehmer partizipieren, die mit dieser Form der Trauer vertraut sind. Mitunter werden aber auch eher informativ angelegte Veranstaltungen
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angeboten, um insbesondere jüngere Generationen anzusprechen, deren religiöse Sozialisierung in den Städten größtenteils ausblieb. In einigen Vereinen stellen Theatergruppen die Ereignisse von Kerbela nach, was offensichtlich auf einen rezenten Einfluss aus dem Libanon oder Iran zurückgeht (Langer 2008: 102). Den Abschluss der abendlichen Veranstaltungen bildet fast immer das gemeinsame Mahl, bei welchem u. a. darauf geachtet wird, keine zu meidenden Speisen zu servieren. Vermutlich waren es die alevitischen Vereine in der europäischen, beispielsweise deutschen Diaspora, die diese gemeinsamen Speisungen als Anlass dafür nahmen, ihre eigene Tradition interessierten Mitbürgern zu präsentieren und dadurch den interreligiösen Dialog zu fördern. So habe der alevitische Verein in Duisburg bereits in den 1990erJahren damit begonnen, Personen des öffentlichen Lebens, Vertreter anderer Religionsgemeinschaften, aber auch Nachbarn zu den abendlichen Speisungen einzuladen (Ahmet Do÷anbaú, 2011). Vorbild hierfür waren die sunnitischen Moscheegemeinden, die eine öffentliche und gemeinsame Speisung während des Ramadan anboten, wenn nach Sonnenuntergang das Fasten gebrochen wird (vgl. Sternbach 2010: 191). 3. 2 »Wir sind gegen neue Hızır Paúas«18 Im Januar 2008 berichteten Medien über ein geplantes Bankett im Fünf-Sterne-Hotel »Bilkent« in Ankara, zu dem hochrangige Gäste, u. a. der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdo÷an, Mitglieder des Kabinetts und zahlreiche andere Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Zivilgesellschaft erwartet werden. Erstmalig solle ein »alevitisches Fastenbrechen« (»Alevi iftarı«) bzw. ein »Muharrem-Fastenbrechen« (»Muharrem iftarı«) im großen öffentlichen Rahmen und unter Beteiligung von Nichtaleviten, zumeist sunnitischen Muslimen, stattfinden. Als Initiator dieses Ereignisses trat Reha Çamuro÷lu auf, ein Parlamentsabgeordneter der sunnitisch dominierten, religiös-konservativen AKP, Historiker und Schriftsteller, der selbst aus einer alevitischen Familie stammt. Kurz nach Bekanntwerden dieser Nachricht sprachen sich viele alevitische Vereine gegen die Teilnahme am geplanten »Muharrem-
18 Slogan auf Spruchband bei Protest von Aleviten in Ankara (SOL 2008).
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Fastenbrechen« aus – es wurden Protestnoten verfasst, Pressekonferenzen gegeben und Demonstrationen veranstaltet, wobei auffällig oft die Legende um Pir Sultan Abdal und die Tafel des Hızır Paúa aufgegriffen wurde. Auch der »Pir Sultan Abdal Kulturverein« nahm, ganz seiner Politik folgend, diese Metapher auf, und warnte: »Vor Euch wird die Tafel des Hızır Paúa gerichtet« (EVRENSEL 2008a). Einerseits richtete sich die Kritik der alevitischen Vereine gegen die AKP im Allgemeinen, die während ihrer Regierungszeit eine doppeldeutige Rolle bei der von Aleviten eingeforderten Anerkennung und Gleichstellung ihrer Traditionsgemeinschaft spielte. Trotz medienwirksam angekündigten Gesprächen und Treffen mit alevitischen Vertretern war es zu keinerlei konkreten Umsetzungen zentraler Forderungen gekommen (EVRENSEL 2008a und BøRGÜN 2008). Andererseits wurde stellvertretend für die AKP auch Reha Çamuro÷lu als Hızır Paúa angegriffen, der von vielen Aleviten als Verräter an seiner eigenen Tradition angesehen wird – gleich Hızır Paúa, der seinen früheren Meister Pir Sultan Abdal zu Tisch bittet, aber bereits verraten hat (VATAN 2008 und ALEVø HABER AJANSI 2008). Am 11. Januar wurde schließlich, wie eine Zeitung überspitzt titelte, ein »alevitisches Fastenbrechen ohne Aleviten« abgehalten (EVRENSEL 2008b). Eine große Anzahl alevitischer Vereine aus der Türkei und Europa hatte bereits im Voraus erklärt, nicht teilzunehmen (ZAZAKø FORUMU 2008). Noch härter war die Maßnahme des »Pir Sultan Abdal Kulturvereins« und einiger alevitischer Geistlicher, die mit dem Ausschluss aus der alevitischen Gemeinschaft drohten, wenn man am Bankett teilnähme (EVRENSEL 2008a).19 3. 3 »In der alevitischen Lehre gibt es kein gemeinsames Fastenbrechen«20 Yılmaz Ateú, ein alevitischer Parlamentsabgeordneter der sozialdemokratisch und säkular orientierten Oppositionspartei CHP (Cumhuriyet Halk Partisi) übte als einer der Ersten noch eher verhaltene Kritik:
19 Die als »düúkünlük« (wörtlich »Fallen«) bezeichnete Strafe wurde im traditionellen Alevitentum bei schweren Vergehen (z. B. Totschlag) oder dem ›Verrat‹ des eigenen Glaubens verhängt. Gelegentlich wird dies auch heute noch angedroht (vgl. u. a. Hendrich 2012). 20 Auf der Protestnote alevitischer Vereine (ZAZAKø FORUMU 2008).
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»Ich freue mich darüber, dass die Regierung die alevitischen Mitbürger integriert, doch ist es nötig, sie mit ihren ursprünglichen Werten zu akzeptieren.« (BUGÜN 2008) Die alevitischen Vereine und Vertreter sprachen gar von einem bewussten Versuch der AKP, die Aleviten und ihre Tradition zu »sunnitisieren« (u. a. vgl. ZAZAKø FORUMU 2008) oder zu »assimilieren« (u. a. vgl. EVRENSEL 2008a). Betrachtet man die Veranstaltung des »Muharrem-Fastenbrechens« genauer, so wird deutlich, wie Angehörigen beider Traditionen »Vertrautes« und »Neues« geboten wurde. Immerhin habe ungefähr die Hälfte der ca. 1 000 Teilnehmer aus Aleviten bestanden (CNN TÜRK 2008), die andere Hälfte setzte sich vor allem aus sunnitischen Teilnehmern, viele davon AKP-Politiker und Vertreter staatlicher Behörden, zusammen. Des Weiteren waren auch einige wenige Repräsentanten anderer Religionsgemeinschaften anwesend (RADøKAL 2008). Der Saal wurde für das Bankett mit einer Türkeiflagge geschmückt, links und rechts gerahmt von Darstellungen Alis und Atatürks, und auf einem Transparent war ein Ali zugeschriebener Ausspruch zu lesen. Im Hintergrund wurde traditionelle Musik türkischer Sufiorden gespielt (ZAMAN 2008), die der ›religiösen‹ Musik des Alevitentums nur bedingt ähnelt; zudem ist es in einigen alevitischen Gemeinschaften verpönt, während der Trauerzeit ein Musikinstrument zu spielen. Das Programm der Veranstaltung begann mit einigen rituellen Elementen: Zunächst sang ein alevitischer Geistlicher ein Trauerlied für den Propheten und seine Nachkommen, woraufhin der Vorsitzende eines alevitischen Vereins ein Tischgebet für »Einheit« und »Zusammensein« sprach (ZAMAN 2008). Vor dem Essen wurde dann die Eröffnungssure des Koran gesprochen (YENø ùAFAK 2008), die in den Ritualen der meisten alevitischen Gemeinschaften nicht vorkommt. Es wurden Linsensuppe, ein fleischloses Gericht mit Gemüse, dazu Reis und Blätterteigpastete und zum Nachtisch Süßspeisen gereicht (CNN TÜRK 2008). Als Getränk wurde u. a. Ayran angeboten, doch auch reines Wasser für diejenigen, die den Verzicht auf Wasser nicht einhielten (RADøKAL 2008). Im eher politischen Teil der Veranstaltung folgten Begrüßungsworte von u. a. Çamuro÷lu, der sich gegen die im Vorfeld aufgekommene Kritik verteidigte (EVRENSEL 2008b). Den Abschluss bildete eine Rede von Erdo÷an, der betonte, die Trauer der Aleviten im Muharrem zu teilen (RADøKAL 2008). Im Vergleich mit den abendlichen Andachten in alevitischen Vereinen fehlte diesem Bankett die eher ruhige, bedächtige und gedrückte
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Stimmung, aber auch die Zurückhaltung und Schlichtheit (z. B. bei Kleidung oder Mahl). Das »Muharrem-Fastenbrechen« scheint unmittelbar durch die im Ramadan mittlerweile üblichen offiziellen Empfänge beeinflusst zu sein, bei denen Vereine, öffentliche Institutionen, aber auch Parteien oder gar der Staatspräsident als Gastgeber auftreten.21 Meist finden diese »iftar«, Fastenbrechen, in großen Sälen statt und häufig wird ein teures und aufwendiges Menü serviert. In den letzten Jahren ist das Ramadanfastenbrechen in türkischen Großstädten zudem zu einem Geschäft geworden, das dieses überwiegend im Privaten angesiedelte Ritual immer stärker in den öffentlichen Raum verlagert. Supermärkte, Restaurants oder Veranstaltungsunternehmen bieten spezielle Angebote zum Fastenbrechen an und dominieren einen Monat lang die Wahrnehmung vieler Türken (egal welcher Religionszugehörigkeit) (Sandikci/Omeraki 2007: 611–614). Doch der Einfluss des sunnitischen Umfeldes geht über diese rezenten Entwicklungen hinaus. Häufig verwenden Aleviten für die Trauerzeit im Muharrem die für den Ramadan gebräuchlichen Bezeichnungen »iftar« (Fastenbrechen) und »oruç« (Verzicht, bzw. Fasten). Weshalb und vor allem wann diese parallele Verwendung der Begriffe einsetzte, kann nicht beantwortet werden, doch wurde sie bis zum besagten »Muharrem-Fastenbrechen« nur bedingt von alevitischer Seite problematisiert. Viele Kritiker wiesen nun aber auf die unterschied-
lichen Bedeutungsnuancen von »oruç« und die falsche Verwendung des Begriffs »iftar« hin: »Im alevitischen Glauben gibt es keine ›iftar‹Essen. […] ›Oruç‹ zu Muharrem ist Trauer.« (BUGÜN 2008) Anstelle von »iftar« sei der Ausdruck »orucu açması« (wörtlich »das Öffnen des Verzichts«) korrekt, der zwar besage, dass am Ende des Tages der Verzicht auf Nahrung unterbrochen wird, jedoch nicht an die meist reichhaltigen abendlichen »iftar«-Essen im Ramadan erinnere (ZAZAKø FORUMU 2008). Aller Kritik zum Trotz fand das »Muharrem-Fastenbrechen« im darauffolgenden Jahr eine Wiederholung, diesmal in Istanbul. Abermals übernahm Çamuro÷lu die Schirmherrschaft und die Einladungsliste war ähnlich: Erdo÷an, AKP-Politiker, Vertreter anderer Religionsgemeinschaften, Vertreter alevitischer Vereine usw. Obgleich Ça-
21 Diese ›øftar‹-Essen werden seit einigen Jahren auch von politischen Akteuren in Deutschland oder den USA angeboten, um den Dialog mit muslimischen Mitbürgern zu stärken (vgl. Sternbach 2010).
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muro÷lu davon sprach, dieses Fastenbrechen nun zu einem Brauch zu machen (CNN TÜRK 2009), war es dennoch das bis dato letzte seiner Art. Interessanterweise laden zahlreiche alevitische Vereine nach wie vor Nichtaleviten zum gemeinsamen Essen im Muharrem ein und folgen dabei einem ähnlichen Design: Die Veranstaltungen sind von den abendlichen Andachten getrennt und der rituelle Anteil besteht in der Rezitation einiger weniger Gebete oder Hymnen. Meist wird im Programm ein kurzer Vortrag aufgenommen, um vor allem Nichtaleviten über die alevitische Tradition zu informieren (vgl. u. a. HABERNAME 2009 und YAMAN HABER 2009).
4. »W IR TEILEN ALLE GEMEINSAM 22 IN F RIEDEN AùURE «
UND
Das Design des »Muharrem-Fastenbrechens«, welches Aleviten und Sunniten ansprechen sollte, lässt sich aus einer ökonomischen Perspektive wie folgt zusammenfassen: Entsprechend des Anlasses war man bemüht, die Vorgaben für die alevitische Trauerzeit einzuhalten. Die äußere Form war jedoch stark an die des Fastenbrechens im Ramadan angelehnt (siehe auch die Bezeichnung als »Muharrem iftarı«). Es sei dahingestellt, ob Çamuro÷lus Absicht tatsächlich darin bestand, politisches ›Kapital‹ für die AKP oder soziales für sich selbst zu ›erwirtschaften‹. Entscheidend war letztendlich, dass ihm genau dies von den (eingeplanten) alevitischen ›Kunden‹ bzw. Teilnehmern vorgehalten wurde. In den Augen vieler Aleviten ging die rituelle Authentizität der abendlichen Rituale dabei verloren (EVRENSEL 2008a). Das Ereignis wurde als eine »Show« bezeichnet (ZAZAKø FORUMU 2008), obgleich Çamuro÷lu betonte, das Bankett sei den Vorgaben entsprechend gestaltet gewesen (ZAMAN 2009). Doch wie erklärt sich der ›Erfolg‹ solcher Ereignisse sowohl im Voraus als auch im Nachhinein, die andernorts ohne ähnlich harsche Kritik veranstaltet wurden? Offensichtlich ist es von Vorteil, die rituellen Elemente der Trauer auszuklammern bzw. auf ein Minimum zu reduzieren, da genau hier eine Differenz beider ritueller Traditionen liegt. Für Sunniten ist es praktisch nicht möglich, an einem solchen Trauerritual aktiv zu partizipieren, auch dürfte die Form der Trauerbekundun-
22 Zazaki Forumu (2008).
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gen für viele befremdlich wirken.23 Stattdessen wird eine Tischgemeinschaft gebildet, bei der nur wenig rituelle Vorkenntnis von Nöten ist. Dies wird insbesondere im Falle der Aúure-Suppe deutlich, deren Verteilen von einigen Kritikern des »Muharrem-Fastenbrechens« als gemeinsames Ereignis für Aleviten und Sunniten vorgeschlagen wurde (ZAZAKø FORUMU 2008). Dieses Ritual ist in der alevitischen Tradition zwar zusätzlich mit den Ereignissen von Kerbela assoziiert, doch treffen sich die beiden Traditionen in der Vorstellung, dass es segensreich sei, an einem besonderen Tag wie Aúura eine Speise mit Dritten zu teilen. Für einige Muslime ist es sogar weniger ein religiöses Ritual als vielmehr ein Brauch, der gemeinsam begangen werden kann, ohne die jeweilige Religionszugehörigkeit zu berücksichtigen. Einige Vertreter des »Pir Sultan Abdal Kulturvereins« nahmen daher wenige Tage nach dem »Muharrem-Fastenbrechen« demonstrativ beim Verteilen der Aúure an der CHP-Zentrale in Ankara teil (HABER AKTÜEL 2008). Hier wurde auf ein bereits bestehendes und ›erfolgreiches‹ Design zurückgegriffen, das eine feste ›Kundschaft‹ besitzt.
S CHLUSSBEMERKUNG Als Hızır Paúa fragt, weshalb Pir Sultan das Essen nicht isst, antwortet dieser: »Du bist vom Weg abgekommen, Du isst ›Unreines‹, die Waisen verfluchen Dich, ich werde dieses ›unreine‹ Mahl nicht essen, und auch meine Hunde nicht.« (Bozkurt 1998)
Auch in dieser Version der Legende ist von ›unrein‹ (türkisch ›haram‹) die Rede, also von all dem, was nach islamischem Recht als verboten gilt, da nicht ›rein‹ (türkisch ›helal‹). Insbesondere in Hinblick auf das Design des »Muharrem-Fastenbrechen« soll der Aspekt der ›rituellen Reinheit‹ hier abschließend aufgenommen werden, da er beim Blick vieler Sunniten auf Aleviten eine zentrale Rolle spielt (vgl. Yalman 1969: 53). Einerseits existieren im Alevitentum nicht alle in der sunnitischen Tradition bestehenden Vorschriften. Andererseits kursieren un-
23 Mitunter wird von sunnitischer Seite an der Form der alevitischen Trauer Kritik geübt, da diese die Unterschiede zwischen beiden Traditionen fortführen und festigen würde (Bozkuú 2008: 61); auch wird darauf hingewiesen, Gemeinsamkeiten zu betonen (vgl. u. a. Altındaú 2011: 20).
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ter Sunniten zahlreiche, meist absurde Gerüchte über das ›unreine‹ Verhalten von Aleviten, so etwa über die Zubereitung von Speisen. Dies führt mitunter dazu, dass Sunniten von Aleviten zubereitetes Essen nicht verzehren (PSAKD et al. 2005: 62–73). Çamuro÷lu wollte, wie er später äußerte, »mit der Einladung zum Fastenbrechen [diesen] in Anatolien weitverbreiteten Glauben brechen« und die öffentliche Teilnahme Erdo÷ans hätte einen »sehr großen symbolischen Wert« besessen (ZAMAN 2009). Doch muss erwähnt werden, dass dieses Bankett nicht von Aleviten, sondern aus der Küche des »Bilkent«-Hotels stammte. Möglicherweise war dies lediglich der Lokalität geschuldet; eventuell geschah es aber aus ›Rücksicht‹ auf die sunnitischen Gäste (für die u. a. auch ein Gebetsraum gerichtet wurde, vgl. ZAMAN 2008). Mit der Metapher des Pir Sultan Abdal nahmen auch die Gegner des »Muharrem-Fastenbrechens« Bezug auf die Reinheitsvorschriften im Islam. Pir Sultan Abdals Ablehnung der Speisen entspricht Interpretationen, wie Muslime ›Unreines‹ zu meiden haben. Bei al-ƤazƗlƯ wird u. a. erwähnt, dass durch Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Tyrannei Gewonnenes als ›unrein‹ gilt, und besonders Gottesfürchtige auch dann fernbleiben, wenn ›Reines‹ in Kontakt mit ungerechter Herrschaft steht (al-ƤazƗlƯ, 811–821). Diese religiöse Begründung wurde bei den Protesten nicht ausdrücklich betont, da vielmehr die Politik der AKP im Zentrum der Kritik stand. Doch als man all diejenigen, die am Bankett teilnehmen wollten, des Essens »unreiner Speisen« bezichtigte, transportierte das Wort »haram« doch genau dieses (BøRGÜN 2008).
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Ritualdesign®? Positionierungs- und Vermarktungsprozesse gegenwärtiger spiritueller Heilrituale NADJA MICZEK
1. E INLEITUNG In der gegenwärtigen religiösen Landschaft der meisten westlichen Länder ist neben ›traditionellen‹ Religionen (z. B. Christentum, Judentum, Islam) inzwischen das Segment der gegenwärtigen Spiritualität zu einem fast schon selbstverständlichen Bestandteil geworden. Der Begriff ›Spiritualität‹ ist dabei in seiner derzeitigen populären Verwendung jedoch noch relativ jung. Er löst die vormals verwendeten Bezeichnungen ›Esoterik‹ (im deutschsprachigen Raum) und ›New Age‹ zunehmend ab, da diese in den diskursiven Aushandlungen der religiösen Felder eine steigend kritische bis negative Konnotation erfahren haben1 und daher nun von den religiösen Akteuren selbst abgelehnt werden. Inwieweit sich mit der Verwendung einer neuen Bezeichnungsbegrifflichkeit auch inhaltliche Veränderungen im Feld ergeben, ist derzeit noch schlecht abzusehen. Es ist jedoch zu bemerken, dass es bereits seit der Popularisierung der gegenwärtigen Esoterik in den 1970er Jahren (Hanegraaff 1998) immer wieder bestimmte Themen innerhalb des Feldes gab, die sozusagen ganz besonders ›in Mode‹ waren
1
Entscheidend für diesen Prozess sind z. B. massenmediale und kirchliche Darstellungen des ›Phänomens Esoterik‹. Vgl. dazu auch Miczek (2009).
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und die dann oft auch in anderen religiösen oder sozialen Feldern2 wahrgenommen wurden. Zu solchen dominanten diskursiven Aushandlungen zählen seit ein paar Jahren z. B. das Phänomen der Engel, die u. a. über das Feld der Spiritualität hinaus Eingang in verschiedenste kulturelle und soziale Felder (z. B. Werbung und Kino) gefunden haben (vgl. Ahn 21997 und Murken/Namini 2008). Ähnlich verhält es sich mit dem Bereich der Heilrituale, von denen insbesondere die auf energetischer Basis konzipierten derzeit vor allem in alternativ-medizinischen, aber auch in pflegerischen oder tiermedizinischen Feldern eine wachsende Popularität erfahren. Insgesamt ist die Vielzahl der Rituale, die auf ›Heilung‹ ausgerichtet sind, im Feld der Spiritualität nahezu unüberschaubar. Bereits die hier auf Funktion bzw. Wirkung hin orientierte Klassifikation entbehrt jeglicher Eindeutigkeit, da im Feld selbst verschiedenste Konzepte von ›Heilung‹ existieren: so kann darunter sowohl auf körperlicher Ebene das Beheben von Krankheiten, aber auch die Steigerung des Wohlbefindens verstanden werden, wie auch auf nicht-körperlicher Ebene eine ›Heilung‹ von ›seelischen Wunden‹ oder in religiöser Hinsicht die eigene geistige Weiterentwicklung. Ebenso vielfältig sind auch die angebotenen Heilmethoden und -techniken. Es finden sich z. B. schamanistisch-orientierte Rituale, bei denen Krafttiere und Naturmächte zur Heilung angerufen werden; bei anderen wirken Engel als heilende Instanz im Ritual; oder im neopaganen Bereich wird z. B. »die große Göttin« angerufen. Trotz der gegebenen Vielfalt ist zu bemerken, dass bei vielen dieser Rituale Energiekonzepte eine Rolle spielen, bei einigen stehen diese auch zentral im Mittelpunkt. So geht es z. B. bei Reiki, einer der derzeit wohl populärsten alternativ-spirituellen Heilmethoden, darum sogenannte universelle Lebensenergie durch bestimmte Techniken auf den zu Behandelnden zu übertragen. Dazu werden bestimmte Handpositionen und Symbole verwendet (Klatt 2005). Gleich jedoch, wie die Heilrituale konzipiert sind und welche meta-empirischen Entitäten gegebenenfalls als Akteure auftreten, ihnen ist gemeinsam, dass es sich bei ihnen um relativ neue Rituale handelt, die erst in den letzten Jahren oder Jahrzehnten entstanden sind. Sie eigenen sich daher besonders als Untersuchungsbeispiel für den in diesem Band thematisierten Fokus ›Ritualdesign‹. Wie bereits in der Einleitung zu dieser Publikation deutlich wurde, sind verschiedene An-
2
Der Feldbegriff wird hier in Anlehnung an Pierre Bourdieu verwendet.
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sätze zur Konzeptionalisierung eines (analytischen) Konzepts ›Ritualdesign‹ denkbar. Da Designkonzepte innerhalb der Ritualforschung bislang jedoch erst wenig diskutiert wurden, stellen sich insbesondere im Hinblick auf die Abgrenzung, aber auch bezüglich der Anwendungsfelder noch zahlreiche Fragen. Bevor daher ein Einstieg in den materialorientierten Teil dieses Artikels erfolgt, sollen im Folgenden zunächst einige zentrale Problembereiche bei der Konzeptionalisierung von ›Ritualdesign‹ aufgezeigt werden. Im Anschluss folgt dann eine Vorstellung ausgewählter Heilrituale, anhand derer die Problemfelder dargestellt und diskutiert werden. Abschließend bleibt zu fragen, inwieweit ein Konzept ›Ritualdesign‹ dazu beitragen kann, analytische Perspektiven auf Rituale zu schärfen und auszubauen.
2. R ITUALDESIGN : E INFÜHRENDE Ü BERLEGUNGEN Bei der Rede über ›Ritualdesign‹ müssen m. E. zunächst zwei Ebenen differenziert werden. Die Bezeichnung »Ritualdesigner« wird seit ein paar Jahren von einigen wenigen Ritualakteuren zur Selbstbezeichnung verwendet. Im deutschsprachigen Raum sind dies meist Akteure, die Alternativrituale zu traditionellen christlichen Zeremonien (Taufe, Hochzeit, Beerdigung) anbieten. Der Terminus »Ritualdesigner« findet sich jedoch auch in diesem sehr begrenzten Feld nur recht selten.3 Andere und öfters gewählte Selbstbezeichnungen sind u. a. »Freie/r Trauerbzw. Hochzeitsredner/-in« oder »Ritualbegleiter/-in«. Trotz der noch nicht weit verbreiteten Verwendung als Selbstbezeichnung scheint der Begriff »Ritualdesigner« jedoch ein gewisses Zugpotential zu besitzen. Insbesondere in der Presse findet er verstärkt Anklang. So fragt das Hamburger Abendblatt vom 19.01.2008 im Wirtschaftsteil »Was macht eigentlich ein … Ritualdesigner« (Keil 2008), im hr2-Radio vom 31.05.2006 wird der »Neue Beruf[e]: Ritualdesigner/in« vorgestellt (Himmel 2006), oder auch auf Bayern 2 wurde »Über den neuen Markt ›Ritualdesign‹« als »Segen für Atheisten?« debattiert (Arnold 2009). Wie und ob sich der Begriff sowohl als Selbstbezeichnung als auch in medialen Aushandlungen in den kommenden Jahren weiter durchzusetzen vermag, bleibt bislang noch abzuwarten.
3
Vgl. die Homepages BESTATTUNG OBERHUBER und CHRISTINA BAMBERGER.
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Von dieser Verwendung des Begriffs durch Ritualakteure selbst sowie in medialen Diskursen gilt es die Diskussion um Ritualdesign durch wissenschaftliche Akteure zu differenzieren, die seit einiger Zeit gerade in Bezug auf die Entwicklungen gegenwärtiger Ritualpraxis verstärkt geführt wird. Hier stehen Bemühungen im Vordergrund, Ritualdesign als analytisches oder theoretisches Konzept zu entwerfen, das eine spezifische Erfassung neuer Rituale ermöglicht (Radde-Antweiler 2011). Betrachtet werden hier sowohl Personen, die für den Bereich der Ritualentwicklung als Designer klassifiziert werden können (als Fremdbezeichnung), aber auch die Prozesse der Entstehung und Gestaltung von Ritualen (vgl. Handelman 2004 und Ahn 2011). Eine Differenzierung der Ebenen zwischen Wissenschaftlern und Ritualakteuren bedeutet selbstverständlich nicht, dass beide als strikt getrennt und von einander unabhängig betrachtet werden können. Im Gegenteil, es ist davon auszugehen, dass einerseits das Verständnis und die Auswahl der Untersuchungsgegenstände, die unter dem Fokus ›Ritualdesign‹ betrachtet werden, wesentlich von den diskursiven Aushandlungen um den Topos innerhalb des Feldes der Ritualakteure abhängt. Andererseits kann angenommen werden, dass die wissenschaftliche Diskussion um ›Neue Rituale‹ oder ›Ritualdesign‹ zumindest partiell von Ritualakteuren registriert bzw. rezipiert wird.4 Für eine weitere wissenschaftliche Diskussion stehen nun zwei Möglichkeiten für den Bezug auf die Akteursperspektive zur Wahl. In Berufung auf die Ritualakteure gibt es einerseits die Möglichkeit, nur diejenigen Personen und die dazugehörigen Rituale unter dem Fokus ›Design‹ zu untersuchen, bei denen sich der Begriff als Selbstbezeichnung finden lässt. Damit entstünde ein zwar recht kleines und auf rezente Kontexte bezogenes Untersuchungsfeld, das jedoch eindeutig abzugrenzen wäre. Andererseits besteht aber auch die Möglichkeit, die Akteursperspektive bzw. die hier verwendeten Selbstbezeichnungen und Termini lediglich als einen Teil eines umfassenderen Aushandlungsraums um ›Design‹ bzw. ›neue Rituale‹ zu sehen. Die Frage, ob sich jemand selbst als »Ritualdesigner« bezeichnet oder nicht, wäre also in diesem Fall kein striktes Ausschlusskriterium für eine Untersu-
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Eine Emailanfrage der Autorin bei einem Schweizer Ausbildungsinstitut für Rituale ergab, dass z. B. die Forschungsergebnisse des Heidelberger Sonderforschungsbereichs 619 »Ritualdynamik« wahrgenommen werden und teilweise in die Ausbildung mit einfließen.
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chung, sondern kann in diskursiver Perspektive als Positionierungsprozess gedeutet werden, der wiederum eingebettet ist in bestimmte soziale, kulturelle oder politische Kontexte. Für die folgenden Ausführungen wird im Hinblick auf die Reflexion der Akteursperspektiven die zweite Ausrichtung gewählt, da sie einen weiteren Raum für eventuelle Konzeptionalisierungen von Ritualdesign eröffnet. Als einen zentralen Punkt weisen Akteure in wissenschaftlichen Diskussionen auf das Kriterium der Intentionalität hin. In Anlehnung an Designkonzepte aus den Bereichen wirtschaftlicher Produktion wird angenommen, dass es sich bei Design um Prozesse bewusst reflektierter, ziel- und kundenorientierter Gestaltung handelt, deren Intention es ist, ein ›neues‹ oder ›andersartiges‹ Gut zu schaffen, das sich gegenüber anderen Gütern abhebt. Endprodukt des Designprozesse ist schließlich etwas, das in genau dieser Form bislang noch nicht existent war. Dabei ist weniger entscheidend, ob bei der designerischen Gestaltung lediglich eine Neuzusammensetzung von altbekannten Elementen – in diesem Fall Ritualbausteinen – erfolgt oder bislang nicht in diesem Kontext verwendete neue Elemente Eingang finden.5 Auf empirischer Ebene ist die Untersuchung von Handlungsintentionen jedoch oft schwierig. Die Spannweite der Darstellungen von Intentionalität, die sich über sprachliche Äußerungen der Ritualakteure erfassen lässt, kann von einem expliziten Selbstverständnis als »Gestalter«, »Designer« oder »Entwickler« mit den dazugehörigen narrativen Reflexionen des Gestaltungsprozesses bis hin zur dezidierten rhetorischen oder narrativen ›Verschleierung‹ eines solchen Designprozesses reichen – etwa wenn neue Rituale als »alte« oder »wiederentdeckte« rituelle Handlungen präsentiert werden. In Anlehnung an die zuvor genannten Ausführungen zur Akteursperspektive in Bezug auf die Selbstbezeichnung kann daher auch die Intentionalität als ›hartes‹ oder ›weiches‹ Kriterium zur Konzeptionalisierung von Ritualdesign herangezogen werden. Erneut soll hier letztgenannter Weg gewählt werden, da – wie die folgenden Beispiele zeigen werden – auch die Hand-
5
Die genuine Neuschaffung von Ritualen aus Elementen, die noch nicht aus einem rituellen Kontext bekannt sind, dürfte eher einen Sonderfall darstellen. Denn auch in Designprozessen muss die Erkennbarkeit des Rituals als solches für die Akteure gewährleistet bleiben.
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lungsintentionalität nicht per se festgeschrieben ist, sondern Teil eines komplexen Aushandlungs- und Positionierungsgeschehens ist. Vorläufig lässt sich an dieser Stelle zunächst festhalten, dass unter der Perspektive ›Ritualdesign‹ Handlungen und Akteure betrachtet werden, die im Kontext der Entstehung und Gestaltung neuer Rituale zu beobachten sind. In Anlehnung an einen allgemeinen Design-Begriff, wie er heute aus wirtschaftlichen Bereichen bekannt ist, können sich diese ›neuen Rituale‹ dabei insofern auszeichnen, als dass sie kunden- und marktorientierter konzeptionalisiert werden. Vorausgesetzt werden hier also kapitalistische Marktstrukturen, die das Verständnis von Design wesentlich bestimmen und aus welchen der Begriff in seiner heutigen Verwendung zusammen mit seinem Gebrauch u. a. in Feldern der Kunst, Architektur oder Mode erst entstanden ist. Da im Folgenden Beispiele aus rezenten, westlich geprägten Kontexten im Mittelpunkt stehen, erscheint die Verortung an einen derart kontextualisierten Design-Begriff zunächst als nachvollziehbare Möglichkeit. Bei einer Übertragung in historische Untersuchungsfelder wäre die Verwendung eines so konnotierten Begriffs jedoch kritisch zu hinterfragen. Abgesehen von den analytischen Foki wie Intentionalität oder Marktorientierung, auf die ein Konzept von ›Ritualdesign‹ die Aufmerksamkeit zu lenken vermag, ist jedoch im Hinblick auf weiterführende ritualwissenschaftliche Untersuchungen auch die Frage zu stellen, wie sich Design beispielsweise zu Prozessen der Transformation oder Invention verhält. Lassen sich bestimmte Kriterien bestimmen, um diese Prozesse sinnvoll voneinander zu differenzieren? Oder muss angenommen werden, dass sich diese Prozesse lediglich graduell unterscheiden, sie sich meist in fließenden Übergängen zueinander befinden und alle als Teile ritualdynamischer Aushandlungen zu sehen sind? Diese Fragen auf Basis rein theoretischer Überlegungen zu diskutieren, scheint mir bei den sich derzeit eben erst herausbildenden generellen Diskussionen um Ritualdesign wenig zielführend. Sie sollen daher im abschließenden Teil dieses Artikels wieder aufgegriffen werden, wenn zumindest einige Ausschnitte aus empirischem Material präsentiert wurden, die dann als Basis für weiterführende Überlegungen dienen können. Vor dem Hintergrund dieser einführenden Bemerkungen zu möglichen Grundkonzeptionalisierungen von Ritualdesign bieten sich zur weiteren Vertiefung verschiedene Perspektiven. Es kann beispiels-
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weise die Frage nach den Auswahl- und Zusammensetzungsverfahren gestellt werden, nach denen rituelle Elemente – z. B. Handlungs- oder Sprachbausteine – in einem neuen Ritual zusammengefügt werden. Oder es kann mit Blick auf beteiligte Personen untersucht werden, welche Rollen und Positionen diesen im Designprozess oder schließlich bei der Performanz des designten Rituals zugeschrieben werden. Für die Betrachtung der folgenden Beispiele sollen neben der Selbstund Fremdpositionierung der Ritualgestalter, deren mögliche Intention auch Fragen nach ökonomischen Faktoren gestellt werden. Denn gerade wenn wie hier ein Designkonzept zu Grunde gelegt wird, in dem Markt- und Kundenorientierung als Merkmale für den Gestaltungsprozess angesetzt werden, können beispielsweise Vermarktungsstrategien oder finanzielle Aspekte der Ausbildungs- und Anwendungspraxis von Interesse sein. Um nun die angesprochenen Fragen auf eine empirische Basis zu stellen, auf der im Anschluss weiterdiskutiert werden kann, werden im Folgenden einige signifikante Beispiele aus dem Bereich ›spiritueller‹ Heilrituale präsentiert. Im Vordergrund stehen dabei zunächst zwei Beispiele aus dem Bereich »Reiki«, das derzeit eines der bekanntesten ›spirituellen‹ Heilsysteme sein dürfte. Aus ursprünglich einem ReikiSystem haben sich heute viele weitere entwickelt, Karuna- und Rainbow-Reiki sind zwei von diesen. Ausgewählte Entstehungs- und Gestaltungsnarrative zu beiden Heilsystemen, die sich im Internet auf den Webpräsenzen der jeweiligen ›Designer‹ finden lassen, bilden die empirische Basis für weitere Überlegungen.
3. R EIKI - SYSTEME – P ERSPEKTIVEN D ESIGN UND D ESIGNER
AUF
Die heute wohl am weitesten verbreitete Form von Reiki, aus der sich alle anderen bislang bekannten Systeme entwickelt haben, ist das sogenannte Usui-Reiki. Es wird von praktizierenden Akteuren wie auch von den wenigen Wissenschaftlern, die sich bislang mit Reiki befasst haben (Dehn 2002 und Macpherson 2008), auf den Japaner Mikao Usui zurückgeführt, der von 1865 bis 1926 gelebt haben soll. Während die Reiki-Praktizierenden von der historischen Existenz dieser Person ausgehen und für diesen Nachweis inzwischen auch eigene Nachforschungen direkt in Japan durchführen (vgl. Petter 2005: 32–34), sind sich
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Wissenschaftler noch nicht einig, ob Usui tatsächlich gelebt hat oder mit der Usui-Legende ein hagiographischer Biographieentwurf vorliegt (vgl. Dehn 2002: 112). Sicher ist jedoch, dass es eine japanischstämmige Hawaianerin namens Hawayo Takata war, die Reiki – in Berufung auf die Usui-Legende – ab den 1940er Jahren zunächst in den USA verbreitete. Die von ihr ausgebildeten Schüler vermittelten die Reiki-Praxis dann jedoch bald auch in anderen Ländern. In Europa dürfte Reiki ab den späten 1970er Jahren bekannt gewesen sein und erfuhr hier rasch steigende Popularität. In seiner ›ursprünglichen‹ Version, dem Usui-Reiki steht zunächst eine dreistufige Einweihung im Mittelpunkt. Hier werden die Auszubildenden schrittweise im Umgang mit der sogenannten »universellen Lebensenergie« geschult, die durch Verwendung bestimmter Handpositionen und Symbole an andere weitergegeben wird und hier Heilung bewirken soll. Mit der dritten Einweihung erhält der Schüler schließlich die Befugnis, selbst auszubilden und Schüler einzuweihen. Die so ausgebildeten Personen bieten dann meist in eigenen Sitzungen Heilbehandlungen an. Sowohl die Reiki-Einweihungen wie auch die Heilbehandlungen können als rituelle Performanzen gesehen werden, die aus historiographischer Perspektive der Ritualakteure von Usui ›entdeckt‹ wurden. Nach einer langen Suche nach religiösem Wissen um Heilung widerfährt Usui der Legende nach beim Abschluss einer 21-tägigen Meditation an einem von Japans heiligen Bergen ein Schlüsselerlebnis. In einer Art Erleuchtung sieht er die Symbole, die fortan im Reiki zur Heilung verwendet werden. Auch das Heilen mittels Handauflegen führt Usui kurz nach dem Schlüsselerlebnis erstmals durch (Klatt 2005: 8 ff.). Damit steht Usui in der Begründungsnarration von Reiki an zentraler Stelle. Mit der Popularisierung von Reiki und seiner zunehmend globalen Ausbreitung lässt sich seit Beginn der 1980er Jahre und verstärkt ab den 1990er Jahren beobachten, dass zum Usui-Reiki weitere ReikiSysteme hinzutreten. Diese orientieren sich zwar am ›ursprünglichen‹ Usui Reiki, variieren jedoch oft sowohl die Anzahl der Einweihungsschritte und die Art der eingesetzten Energie. Auch kommt es vor, dass die rituelle Praxis der Energieübertragung durch weitere Elemente wie »Channeling«, »Chakren-Arbeit« etc. ergänzt wird. Bei einigen dieser neuen Systeme gilt als Voraussetzung für das Erlernen und die Ausübung, dass interessierte Personen zunächst eine Ausbildung im ›tra-
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ditionellen‹ Usui-Reiki durchlaufen. Andere können auch ohne jegliche Vorbildung erlernt werden. Zählte der Religionswissenschaftler Olav Hammer in seiner »New Age«-Studie aus dem Jahr 2001 noch 30 verschiedene Reiki-Systeme (vgl. Hammer 22004: 378), so hat sich die Zahl heute mindestens verdreifacht.6 Deutlich wird dies bereits bei einer flüchtigen Suche im Internet. Auf vielen Homepages finden sich neben dem Usui-Reiki noch zahlreiche weitere Reiki-Systeme, die die Akteure im Angebot haben – sei es zur Vermittlung der Einweihung oder von Heilbehandlungen (vgl. Amann o. J.). Zwei der bekanntesten Neuentwicklungen von Reiki sollen im Folgenden nun kurz vorstellt werden: Karuna-Reiki und RainbowReiki. Dabei interessiert in Bezug auf den Fokus ›Ritualdesign‹ zunächst insbesondere die Perspektive der Gestalter: Wie sehen sie selbst ihre Position? Wie legitimieren sie das neue Ritualsystem? Aus Perspektive der Rezipienten gilt es weiterzufragen, inwiefern die Selbstpräsentationen und -positionierungen der Gestalter angenommen, modifiziert oder abgewiesen werden. Weiterführend sollen dann, wie oben bereits angedeutet, ökonomische Aspekte betrachtet werden. Inwiefern können Aussagen getroffen werden über die Zusammenhänge von ökonomischen Faktoren, wie Kundenorientierung oder Marktpräsenz, und den konkreten Ausgestaltungsprozessen von Ritualdesign? 3. 1 Karuna-Reiki Der US-Amerikaner William Lee Rand, heute einer der bekanntesten Reiki-Buchautoren, entwickelte Ende der 1980er Jahre ein neues ReikiSystem namens »Karuna-Reiki«. Dies lehrt er am »International Center of Reiki-Training« (ICRT), das von ihm gegründet wurde und dem er vorsteht. Voraussetzung für das Erlernen von Karuna-Reiki ist der erfolgreiche Abschluss des »Usui Reiki Master Trainings«. KarunaReiki wird in zwei Anwender- und zwei Master-Level differenziert, auf denen jeweils unterschiedliche Symbole gelehrt werden und die jeweils mit einer Einweihung abschließen. Das erste dieser Symbole beispielsweise »prepares the client for deep healing and is useful with past life issues. It helps release karma and deeply seated issues on the
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Im Zuge eines Forschungsprojekts zu Aushandlungen gegenwärtiger Religiosität wurden über eine Internetsuche im Jahr 2009 etwas über 80 verschiedene Reiki-Systeme gefunden. Vgl. Miczek (2009).
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cellular level.« (ICRT o. J.a) Besonders betont wird in diesem ReikiSystem der verstärkte Kontakt zu meta-empirischen Wesen, wie zu Engeln, dem »Höheren Selbst« oder anderen »erleuchteten« Gestalten (ICRT o. J.a). Zusätzlich wird während der Heilbehandlungen mit »Chanting« und »Toning« gearbeitet. Durch die Vibrationen der Stimme soll die Heilenergie besser wirken können (ICRT o. J.b). Insofern gibt es einige zentrale Punkte, in denen sich Karuna- von Usui-Reiki unterscheidet, und man daher von einem neu entstanden System spirituellen Heilens sprechen kann, welches auch – wie später gezeigt wird – abgegrenzt wird von der bisherigen Reiki-Praxis. Zunächst soll jedoch die Person William Lee Rand und seine Rolle bei der Entstehung bzw. Entwicklung von Karuna-Reiki näher beleuchtet werden. Rand hatte nach eigenen Angaben zunächst eine ›klassische‹ Ausbildung in Usui-Reiki gemacht und vertiefte sein Wissen dann im Austausch mit anderen Reiki-Meistern und Praktizierenden (ebd.). Zur Entstehung von Karuna-Reiki ist auf seiner Homepage folgendes Statement zu lesen: I did not originally intend to create a new system of Reiki, but starting about 1989, I began being given non-Usui Reiki symbols and attunement techniques which were claimed to have benefit. I filed these symbols away along with the attunement processes that were included with some of them and also begin experimenting with some of them. After a number of years, I had quite a collection and many of my students began asking me about these »additional symbols« and wanting to know if they should use them. In the winter of 1993, I gathered together a number of my best students many of whom were spiritually sensitive, to experiment with the additional symbols, try them out and decide which were the most useful. […] Later I was guided in the further development of the attunement process and this eventually evolved into a new system of Reiki. Throughout the process, I prayed for help from the Higher Power and asked that I be connected to a healing energy that would be of greater benefit. I did not channel any of these symbols myself. They came from other Reiki masters. In 1995, I was guided to more clearly define the system and to name it Karuna Reiki® which can be defined as the Reiki of Compassion. While some of the symbols in Karuna Reiki® are the same as those used by other schools and systems, because the attunements are different and the intention is different, the energies that are connected to Karuna Reiki® are unique to the system. (Ebd.)
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Rand bezeichnet in dieser Beschreibung Karuna-Reiki dezidiert als ein »neues System«, dessen Entwicklung jedoch aus Perspektive des Akteurs als nicht geplant dargestellt wird. Er betont, dass nur aufgrund der Hinweise und Mithilfe seiner Studenten und vor allem anderer Reiki-Meister das neue System überhaupt entstehen konnte. Der Gestaltungsprozess wird hier als Vorgang beschrieben, der sich zum einen über einen längeren Zeitraum hinzog und in dem zum anderen – zumindest anfänglich – wenig systematisch, sondern eher experimentell vorgegangen wurde. In der Narration positioniert sich Rand primär als passiv Empfangender, wobei die handlungs- und entwicklungsbestimmende Macht nicht explizit genannt wird. Er beschreibt sich als »being guided« oder »being given«, nur der einmalige Hinweis auf Gebete, die er an eine »Höhere Macht« richtete, könnte darauf hindeuten, dass er den gesamten Entwicklungsprozess von Karuna-Reiki als gelenkt durch meta-empirische Entitäten versteht. Auch der offizielle Gründungsakt von Karuna-Reiki im Jahre 1995, in dem vorhergehende Bemühungen um eine Entwicklung systematisiert wurden und die Benennung als »Karuna – Reiki of Compassion« erfolgte, ist bei Rand im Passiv formuliert. In der Selbstbeschreibung tritt er also lediglich als »Entwickler«, nicht aber als »Erfinder« oder gar »Designer« auf. Die Aushandlungen dieser Selbstpositionierung auf Rezipientenseite zeigen deutlich, dass hier die Person Rand unterschiedlich aufgenommen und seine Rolle im Gestaltungsprozess von Karuna-Reiki verschieden bewertet wird. Einige Beispiele dazu werden im Folgenden vorgestellt. In der Wahrnehmung derjenigen Akteure, die Karuna-Reiki praktizieren, finden sich Darstellungen der Systementwicklung, in denen auch Rand und seine Position thematisiert werden. So schreibt eine deutsche Karuna-Reiki-Praktizierende zur Entstehung des Systems folgendes: Das Karuna-Reiki-System wurde von William L. Rand entwickelt. Die Symbole wurden von einigen anderen Reik-Meistern [sic!] gechannelt, einschließlich Marcy Miller, Kellie Ray Marine, Pat Courtney, Cathrine Mills Belamont und Marla Abraham. (Köck o. J.)
Die Selbstpositionierung Rands als Entwickler wird von dieser Akteurin aufgegriffen und übernommen. Durch die Nennung der Namen derjenigen Personen, die die neuen Symbole gechannelt haben, verstärkt sich hier jedoch der Eindruck, dass die Entstehung des Systems nicht
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ausschließlich an die Person Rands gekoppelt ist. Eine namentliche Aufzählung der ›durchgebenden‹ Reiki-Meister findet sich auf der Homepage des »International Center of Reiki-Training« (ICRT). Eine andere Akteurin stellt Karuna-Reiki in ihrer Darstellung in einen engen Kontext zum Usui-Reiki: Karuna Reiki can be defined as a progression of Usui Reiki. It is a type of Reiki that is based on the original Usui Reiki concepts, which has been enhanced considerably by Reiki Master William Lee Rand. Karuna Reiki is a modern addition to the ancient art of Reiki healing, which has been widely used since the mid-19th century. (Reiki Training 2008, Herv. i. O.)
Karuna-Reiki wird hier als »modern addition« zum Usui-Reiki verstanden. Entsprechend wird Rand als »Förderer« bzw. »Weiterentwickler« positioniert; das System selbst in einen engen Zusammenhang mit dem ›ursprünglichen‹ Usui-Reiki gestellt. Besonders wird hier das ›hohe‹ Alter der Heiltradition betont. Neben den Positionierungen als Entwickler, bei denen klar gemacht wird, dass Rand nur unter Mithilfe Anderer das neue System kreieren konnte, finden sich allerdings auch Positionierungen als »(Be)Gründer« (Chow/Chow o. J.). In den Beispielen wird deutlich, dass es sich im Hinblick auf die Selbst- und Fremdpositionierung um ein Aushandlungsgeschehen durch verschiedenste Akteure handelt.7 Wie zu sehen ist, werden als konkrete Bezeichnungstermini verschiedene Begriffe verwendet, die je nach Einsatz und Kontext, unterschiedliche Bedeutungszuschreibungen erfahren. Eine Selbstpositionierung als Entwickler bedeutet noch nicht, dass dies von anderen Akteuren auch so angenommen wird. Sie können die Selbstpositionierung zurückweisen und eine eigene, nun Fremdpositionierung vornehmen, die den Ritualmacher beispielsweise eng mit bestehenden Ritualtraditionen verknüpfen und ihm damit den Anspruch der Neuheit seines Rituals verwehren. Oder aber die Selbstpositionierung wird angenommen und sogar noch verstärkt, indem die Rolle der weiteren Beteiligten – in diesem Fall der channelnden anderen Reiki-Meister – nicht dargestellt wird.
7
Prozesse der Positionierung wurden im Kontext der Auswertung narrativer Interviews von Lucius-Hoene/Deppermann (2004) beschrieben. Die Aushandlung von verschiedenen Positionen lässt sich aber auch in anderen Feldern nachvollziehen.
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An die Betrachtung der Bezeichnungsterminologie lässt sich eine Reflexion der Intentionalität anschließen, die in diesem Falle eng damit verbunden ist. In der narrativen Darstellung von Rand wird die Absicht der Kreation eines neuen Systems explizit verneint. Die Selbstpräsentation im Passiv, die Eigeneinschätzung als Entwickler und die Betonung des experimentellen Zusammenfügens des Systems lassen in der Erzählung den Eindruck entstehen, der Gestaltungsvorgang sei nicht ziel- und kundenorientiert. Die Legitimation des neuen Systems erfolgt über die Betonung der Erprobung durch Rand und seine Studenten, jedoch auch über das Hervorheben der erhöhten Wirksamkeit von Karuna-Reiki. Diese, in Bezug auf das Usui-Reiki erhöhte Wirksamkeit wird beispielsweise auf der Webpräsenz des »International Center of Reiki-Training zweifach dargestellt. Hier verweist Rand selbst mehrfach in seinen Erzählungen auf die Erfahrungswerte der Studenten, die ihm berichteten und die er nun aufgreift: »The general response of these students is that Karuna Reiki® is stronger or heals more deeply etc. than Usui Reiki.« (ICRT o. J.b) Außerdem kommen auf der Homepage auch die Studierenden selbst zu Wort. In der Sektion »Karuna Comments« finden sich direkte Zitate verschiedener ReikiLehrer, die das Ausbildungsprogramm zu Karuna-Reiki absolviert haben. So schreibt Laura Ellen Gifford, Center Certified Teaching Reiki Master: I really enjoyed the group energy and learning from one another. The Karuna energy is different than Usui energy, being more all encompassing, inter-dimensional and transformational. I am convinced that it heals our cellular memory where needed. My entire vibration is lighter and I feel different physically in that I feel more filled with light. All my energy bodies are more integrated and balanced. (ICRT o. J.a)
Weitere, ähnliche Kommentare anderer Reiki-Meister finden sich in demselben Abschnitt. Auch sie betonen die erhöhte Wirksamkeit von Karuna-Reiki, meist basierend auf ihrer persönlichen Erfahrung.8
8
Die Betonung der eigenen Erfahrung gerade auch als entscheidendes Beurteilungskriterium für die Qualität von religiösen oder rituellen Elementen ist ein bekanntes Muster aus dem Bereich der gegenwärtigen Spiritualität. Vgl. dazu Bochinger/Engelbrecht/Gebhardt (2005) und Hammer (22004).
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Gleichzeitig dazu werden das Ausbildungsseminar und Rand als Lehrer positiv hervorgehoben: »As ever, William Rand was a focused, intuitive and powerful teacher. […]« Darlene Abraham, Practicing Reiki Teacher […] »This has been a wonderful enriching and healing weekend. […]« Clair Gibb, Teaching Reiki Master (ICRT o. J.a, Herv. i. O.)
Die Integration von Erfahrungsnarrativen, die aus Sicht der ersten Person geschrieben sind, bekräftigt sowohl die Legitimität von KarunaReiki gerade in Bezug auf Usui-Reiki als auch die Position Rands als Entwickler und daher Expertenfigur für das neue System. Auch wenn Rands Entstehungsnarrativ weder eine Entwicklungsabsicht, noch eine direkte Markt- oder Kundenorientierung aufweist, so kann durch die Veröffentlichung der positiven Erfahrungsberichte angenommen werden, dass hiermit eine Auszeichnung von Karuna-Reiki als neuem System vorgenommen wird. Über die bezeugte erhöhte Wirksamkeit wird dessen Besonderheit deutlich gemacht, es wird als etwas Neues gegenüber Altem abgegrenzt und als neues System wird es, wie folgende Ausführungen zeigen werden, durchaus als etwas betrachtet, dass sich auf einem pluralen religiösen Markt behaupten muss. Noch im Jahr der finalen Systematisierung und Benennung von Karuna-Reiki (1995) wurde das neue Reiki-System beim United States Patent and Trademark Office registriert.9 Als registrierte Marke sind seitdem sowohl der Name als auch die dazugehörigen »instructional training classes« geschützt. Damit nahm Rand, auf den die Registrierung läuft, eine deutliche Abgrenzung des neuen Reiki-Systems gegenüber dem Usui-, aber auch anderen Subsystemen vor. In Lehrgängen können sich nun Akteure zu Ritualexperten ausbilden lassen, die auf der von Rand entwickelten und geschützten Vorlage von Karuna-Reiki das Heilsystem erlernen, anwenden und gegebenenfalls selbst weitergeben. Die Registrierung als Marke hat damit in mindestens zweifacher Hinsicht Konsequenzen: Einerseits fördert sie die Herausbildung einer distinkten Identität, andererseits wird eine günstige Positionierung auf einem pluralen religiösen Markt unterstützt. Damit gehen so-
9
Der Registrierungsprozess wurde zum 01.04.2008 abgeschlossen (vgl. TESS).
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wohl Prozesse der Standardisierung als auch der Professionalisierung einher. Am Beispiel des »New Karuna Reiki® Registration Program« sollen die angeführten Punkte kurz verdeutlicht werden. Das »Registration Program« ist für diejenigen Studenten gedacht, die am »International Center for Reiki Training« das »Karuna Reiki® Master Training« absolviert haben und nun selbst unterrichten möchten. Mit ihrer Registrierung verpflichten sie sich einen »Code of Ethics« und »Minimum Teaching Standards« einzuhalten (ICRT o. J.c). Zur Begründung für dieses Vorgehen findet sich auf der Homepage folgende Passage: These new standards improve the professional image of all who teach or practice Karuna Reiki® and create a more uniform level of quality for the training. Whenever you advertise Karuna Reiki® people will know they can expect a quality class or healing session. (Ebd.)
Deutlich werden hier Aspekte der Vereinheitlichung und Qualitätssicherung hervorgehoben, mit dem Verweis auf »advertise« wird jedoch auch eine günstige Positionierung auf dem Markt angesprochen. Die Minimalanforderungen, die im Bereich der Lehre gestellt werden, umfassen insgesamt zehn Punkte, von denen im Folgenden nur einige ausgewählte genannt werden können. Als bindend für die Durchführung der Karuna-Reiki-Ausbildung wird z. B. der Gebrauch der »ICRT Karuna Reiki® Manuals« bestimmt, deren Vorgaben sowohl zur Einführung in die Geschichte also auch zum Symbolgebrauch oder zu den Einweihungen der einzig leitende Faden für zukünftige Lehrer sein soll. Die »Manuals« dürfen nicht vervielfältigt werden, sondern die Lehrer verpflichten sich, ihre Schüler anzuweisen, die »Manuals« über den »Shop« des ICRT käuflich zu erwerben. Weiterhin wird genau angegeben, wie viel Zeit und welche Inhalte in den unterschiedlichen Ausbildungsstufen vermittelt werden sollen. Auch über den sogenannten »Code of Ethics« wird eine gewisse Qualitätssicherung signalisiert, die wiederum dazu beiträgt, die distinkte Identität von Karuna-Reiki zu stärken und es vor dem Hintergrund anderer Reiki-Systeme deutlich positiv hervorzuheben. Neben eher allgemein orientierten Hinweisen auf die eigene Entwicklung oder Haltung wie »[b]e actively working on your own healing so as to embody and fully express the essence of Reiki in everything you do« (ICRT o. J.c) finden sich im »Code of Ethics« auch Anweisungen, die
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deutlich die systematische und organisatorische Stärkung des KarunaReiki-Ausbildungsinstituts fördern. So wird z. B. gefordert: »Be in agreement with and working to fully express the Usui Ideals, the Center Philosophy and the Center Purpose« oder »Never use another person’s copyrighted material in your classes without permission and giving credit.« (Ebd.) Die Herausbildung von Karuna-Reiki als Marke, die damit einhergehende Standardisierung und Positionierung deuten darauf hin, dass sich Rand sowohl der steigenden Pluralität im Feld des spirituellen Heilens wie generell der religiösen Angebote bewusst ist. Die Abgrenzung von Karuna-Reiki nach außen und die damit verbundene Identitätsbildung können daher durchaus als markt-, anwender- bzw. kundenorientierter Vorgang gedeutet werden. Strategien der Vermarktung und gezielten Positionierung verbunden mit der Einführung von Qualitätsstandards stehen daher in einer gewissen Spannung zur narrativen und rhetorischen Präsentation des Gestaltungsprozesses von KarunaReiki, wie ihn Rand auf seiner Homepage entwirft. Unter der Perspektive ›Ritualdesign‹, wie sie oben skizziert wurde, lassen sich diese Vorgänge jedoch als diskursive Aushandlungsprozesse im Rahmen der Gestaltung und Präsentation eines neuen Ritualkomplexes – bestehend aus Einweihungen und Heilritualen – verstehen. Um eine vergleichende Perspektive zu eröffnen und die anschließende vertiefende Diskussion zum Thema ›Ritualdesign‹ auf eine breitere Materialbasis zu stellen, wird im Folgenden ein zweites Beispiel zur Entstehung und Gestaltung eines neuen Reiki-Systems vorgestellt. 3. 2 Rainbow-Reiki Ähnlich wie beim Karuna-Reiki verhält es sich hinsichtlich des Gestaltungsprozesses auch bei einem weiteren Reiki-System. Das sogenannte »Rainbow-Reiki« geht auf den Deutschen Walter Lübeck zurück. Nach Lübecks Angaben entstand es Ende der 1980er Jahre und wurde »1994 offiziell aus der Taufe« (Klatt 2005: 81) gehoben. Ebenso wie Rand hatte auch Lübeck zunächst eine Ausbildung in Usui-Reiki absolviert. Im Anschluss daran wollte er seine Kenntnisse nach eigenen Angaben stetig vertiefen und auf Basis seiner »Forschungsergebnisse« (Lübeck 2002: 10) das Usui-Reiki Stück für Stück weiterentwickeln. Hierzu schreibt der Autor selbst:
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Im Laufe der Jahre hat sich daraus ein komplexes System entwickelt, das ich Rainbow Reiki nenne, da es zwar auf dem Usui-System des Reiki aufbaut, aber einen wesentlich weiter gespannten Bereich der Energiearbeit und auch Möglichkeiten der feinstofflichen Kommunikation abdeckt. (Ebd. 2002: 11)
Rainbow-Reiki wird hier als Ergebnis eines Entwicklungsprozesses beschrieben, wobei nicht deutlich wird, ob die Gründung eines neuen Heilsystems von Beginn an beabsichtigt war. Lübeck selbst tritt als wesentliche Antriebsgestalt in diesem Prozess hervor, der außerdem für die Benennung und damit gleichzeitig für die Abgrenzung des neuen Systems vom Usui-System verantwortlich war. Rainbow-Reiki wird von ihm als »Oberstufe der Reiki-Energiearbeit« (ebd.) beschrieben und als System dargestellt, bei dem die »spirituelle Energiearbeit und Persönlichkeitsentwicklung« (ebd.: 7) im Vordergrund steht. Zwar wird betont, dass das Usui-Reiki die Grundlage für RainbowReiki darstellt, jedoch weist Lübeck selbst darauf hin, dass sich letzteres inzwischen zu 90% in den verwendeten Elementen unterscheidet (Klatt 2005: 83). So beinhaltet Rainbow-Reiki u. a. Elemente aus dem »Huna«,10 der Arbeit mit dem »Inneren Kind« und an Chakren sowie die Anwendung von Essenzentechniken11. Eine detaillierte Auflistung der Unterschiede zu Usui-Reiki findet sich auf der Homepage des von Lübeck gegründeten »Reiki Do Institut International« (RDII). So gibt es im 1. Einweihungsgrad zu den Elementen aus dem Usui-Reiki u. a. folgende Ergänzungen im Rainbow-Reiki (im Zitat mit RR abgekürzt): • Sensibilisierungsübungen zur Erweckung/Verbesserung der Wahrnehmungsfähigkeit für spirituelle Energien. Diese Übungen werden seit Jahrtausenden im traditionellen chinesischen Nei Gong verwendet. • Ein RR-Symbol und Mantra zur Auflösungen von Stauungen und Blockaden auf allen Ebenen (Übertragung per Einweihung). • Das japanische Medizinbuddha-Mantra des Esoterischen Buddhismus (Übertragung per Einweihung) • Einweihung in die drei wichtigsten RR-Heilungslieder.
10 Unter »Huna« wird vor allem im Feld der gegenwärtigen Esoterik/Spiritualität eine Art hawaiianischer Schamanismus verstanden. 11 Unter »Reiki-Essenzen« werden energetisch aufgeladene Trägersubstanzen (z. B. Wasser, Zucker) verstanden. Vgl. dazu ausführlich Lübeck (2004: 149–177).
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• Diverse RR-Techniken, wie: Systematische Chakrabehandlung; Intuitives Reiki; Reiki-Kristallheilung; Reiki-Auraheilung; Wolkenhände; RR-Kraftball; RR-Meditation; Homöopathische Berührung. (RDII o. J.b)
Wie bereits aus dieser verkürzten Auflistung deutlich wird, werden im Rainbow-Reiki eine Vielzahl neuer religiöser und ritueller Elemente hinzugefügt, die ein ganzes Spektrum von Interessen- und Anwendungsgebieten abdecken. Warum Lübeck in der Zusammenstellung von Rainbow-Reiki genau diese Elemente ausgewählt hat, geht zumindest aus den kurzen Entstehungsnarrativen über das neue System nicht hervor. Immer wieder wird jedoch auf seine Forschungen verwiesen, die ihm die Kenntnis zur Erweiterung des Systems gebracht hätten. Der Gestaltungsprozess wird über diesen Topos legitimiert, der inzwischen auch von zahlreichen Rezipienten aufgegriffen und angenommen wird.12 Viele Punkte können hinsichtlich der Diskussion um Ritualdesign analog zum vorangegangenen Beispiel Karuna-Reiki festgehalten werden. Lübeck tritt ebenso wie Rand nicht explizit als Designer hervor, in Bezug auf das Gesamtkonzept ›Rainbow-Reiki‹ sieht er sich eher als Weiterentwickler. Für einige Elemente, die Lübeck in das Rainbow-Reiki aufgenommen hat, bezeichnet er sich jedoch in einem YOUTUBE-Video explizit als »Erfinder«, dazu zählt er u. a. systematische Chakren-Arbeit und eine »Programmierungsmethode« für Kristalle. Seine starke Selbstpositionierung als Erfinder (»I invented«) wird in seiner Erzählung relativiert durch folgende Passivkonstruktion: »There are a lot of inventions which came to me through the years which are just based on the traditional Usui-system, but they were not taught by Usui.« (Lübeck 2009) Auch hier werden die neuen Elemente zwar hervorgehoben, Lübeck stellt sie jedoch in eine Traditionslinie mit dem Usui-Reiki. Unter Berücksichtigung der Akteursaussagen kann die Frage nach der Intentionalität des Ritualmachers auch hier nicht eindeutig beantwortet werden. Je nach Präsentationskontext wird die Selbstpositionierung von Lübeck angepasst bzw. bestimmte Aspekte werden eher betont als andere. In den Darstellungen praktizierender Rainbow-ReikiAkteure ist ebenso wie beim Karuna-Reiki zu beobachten, dass es zu
12 Vgl. exemplarisch Kegelmann (2010).
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verschiedenen Aushandlungen der Positionierung Lübecks kommt.13 Ebenfalls können beim Rainbow-Reiki Prozesse der Professionalisierung wie auch der Standardisierung beobachtet werden. RainbowReiki ist zwar nicht als eingetragene Marke geschützt, wurde aber insofern professionalisiert, als dass Lübeck sein eigenes Ausbildungsinstitut, das »Reiki Do Institut International«, gründete, von welchem er inzwischen weltweit Zweigstellen unterhält. Auch in seinen Büchern zu Rainbow-Reiki wird die Eigenständigkeit des Systems hervorgehoben, indem ausführlich praktische Erläuterungen zu den neuen Elementen zu finden sind (vgl. Lübeck 2002). Anders hingegen stellt sich die Situation bei der neusten Weiterentwicklung von Rainbow-Reiki dar. Hier zeigt sich deutlich eine starke Kundenorientierung, deren Bedürfnisse im Gestaltungsprozess als entscheidend angegeben werden. Daraus lässt sich gleichermaßen eine Intention zur bewussten Gestaltung einer neuen Variante erkennen. Die Neuentwicklung trägt den Namen »Marayana Sayi«. Der Gestaltungsprozess basiert dabei auf einer Problematik, die auf der Homepage des »Reiki Do Instituts International« wie folgt beschrieben wird: Die Ganzbehandlung mit 17 Positionen plus Sonderpositionen ist das große Mittel des Rainbow Reiki im ersten Grad. […] Doch die Reiki Ganzbehandlung dauert lange – etwa eine Stunde, mit Sonderpositionen sogar bis zu zwei Stunden. Dies ist für die meisten Menschen zu viel Zeit, um im hektischen Alltag so etwas mehrfach pro Woche unterbringen zu können. Doch nur so ergeben sich die besten Erfolge bei Gesundheitsstärkungen. Ausserdem [sic] können Heilpraktiker, Krankengymnasten, Ärzte, Masseure und Geistheiler oft die Dauer der Reiki Ganzbehandlung und die wirtschaftliche Notwendigkeit, einen bestimmten Stundensatz zu erziehlen [sic], damit die Praxis rentabel ist, nicht unterbringen. (RDII o. J.a)
In der Problemanzeige stehen deutlich wirtschaftliche Aspekte im Vordergrund: der (Arbeits-)Alltag sowohl von Reiki praktizierenden Experten wie auch von ihren Klienten ist durch Kriterien der Zeiteffizient
13 Aufgrund des begrenzten Umfangs dieses Artikels werden an dieser Stelle keine exemplarischen Akteurspositionen dargestellt. Es sei hier auf die Beispiele in der Darstellung bei Karuna-Reiki verwiesen. Positionierungsprozesse von Lübeck durch Akteure verlaufen nach ähnlichen Mustern wie bei Rand und Karuna-Reiki.
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und der Wirtschaftlichkeit geprägt. Lübeck, der sich hier als jemand darstellt, der diese Problemlage erfasst hat, bietet nun folgende Lösung an: Die neueste Entwicklung von Walter Lübeck im System des Rainbow Reiki verkürzt die Zeit, die der Behandler [sic] für eine Reiki Ganzbehandlung braucht[,] auf die unglaubliche Zeit von 4-8 Minuten! Und das inklusive mehrerer Sonderpositionen und sogar mit Heilsteinen kombiniert! (Ebd.)
»Marayana Sayi« wird hier als etwas dargestellt, das genau auf die Bedürfnisse der ›Kunden‹ zugeschnitten wurde. Sowohl die Länge der Heilbehandlung als auch einige Elemente werden verändert bzw. werden hinzugefügt, sodass man hier von einem neu designten Ritual sprechen kann. Wie auf der Homepage zu lesen ist, wird »dieser neue Weg der Rainbow Reiki Ganzbehandlung« als »Standart [sic] im 1. Grad« (ebd.) gesetzt. Wie an diesem Beispiel deutlich wird, lässt sich klar eine zielgerichtete Intention erkennen, ein neues Ritual zu entwerfen, dessen Gestaltung sich deutlich an Aspekten der Wirtschaftlichkeit und damit verbunden der Praktikabilität und Effizient orientiert. Diese erscheinen gleichsam als Motor oder Motiv für den Designprozess, zusammen mit einer starken Kundenorientierung. Auf der Homepage wird vor allem die Effizient und die erhöhte Wirksamkeit von Marayana Sayi betont, allerdings (noch) nicht durch Zuhilfenahme von direkten Zitaten von Anwendern. Aufgrund des noch jungen Alters von Marayana Sayi bleibt in nächster Zeit wohl noch abzuwarten, wie einerseits Differenz zu Rainbow-Reiki geschaffen und kommuniziert wird und wie andererseits die Systematisierung und Identitätsfestigung des Systems vorangetrieben wird.
4. R ITUALDESIGN : ABSCHLIESSENDE R EFLEXIONEN Die eben vorgestellten Beispiele bilden eine vorerst ausreichende Grundlage, um nun zum Abschluss einige, in Kapitel 2 angesprochenen Punkte zum Thema ›Ritualdesign‹ erneut aufzugreifen und zu diskutieren. Wie anhand der Darstellungen der beiden Personen William
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Lee Rand und Walter Lübeck deutlich wurde, ist eine Positionsbestimmung von Ritualakteuren als Designer nicht ohne weiteres vorzunehmen. Als Eigenbezeichnung wird der Begriff in keinem der beiden Fälle verwendet. Die Selbstpositionierung erfolgt eher als »Entwickler« oder »Gestalter«, in den Narrationen um die Entstehung der beiden Reiki-Systeme wird die Absicht zur gezielten Entwicklung eines neuen Rituals zurückgewiesen. Beide nehmen Subjektpositionen ein, die einerseits zwar mit innovativen Elementen verbunden werden, die andererseits aber eine zu deutliche Betonung der eigenen Handlungsmacht im Entwicklungsprozess ablehnen. In beiden Fällen wird jedoch auch deutlich, dass Positionierungen immer als kontext- und akteursabhängige Aushandlungen zu begreifen sind, die dynamisch gestaltet werden und deshalb nicht eindeutig und letztgültig festzuschreiben sind. Fragt die ritualwissenschaftliche Forschung daher nach der Position des ›Designers‹ im Rahmen eines Prozesses neuer Ritualgestaltung, so ist stets auch nach der Perspektive zu fragen, aus der die Position beschrieben bzw. wahrgenommen wird. Damit in einem engen Zusammenhang stehend ist auch die Frage nach Intentionalität als einem möglichen charakteristischen Merkmal von Ritualdesignprozessen als Bereich zu erachten, der ebenfalls nicht eindeutig bestimmbar ist. Die Angaben der Akteure, die ihre Intention für den Vorgang der Ritualgestaltung betreffen, können insbesondere in narrativen Legitimierungs- und Kontextualisierungsentwürfen dem entgegenstehen, was aus einer Außenperspektive heraus über die Intention der Macher ausgesagt werden kann, wenn Parameter wie Vermarktung oder Abgrenzung von anderen Ritualsystemen zur Analyse herangezogen werden. Ebenso wie Positionierungen werden auch Aussagen über Intentionen in kommunikativen Aushandlungsprozessen präsentiert, angepasst oder revidiert. Für Designprozesse kann jedoch festgehalten werden, dass – vielleicht in gesteigertem Maße als bei anderen ritualdynamischen Prozessen – verstärkt darüber reflektiert wird, wie es zu einer Neugestaltung eines Rituals kommt und wie die Position des Ritualmachers innerhalb dieses Geschehens zu bestimmen ist. Reflexivität würde so zu einem Fokus erhoben, unter den sowohl Positionierungsleistungen als auch die Frage nach Intentionalität gefasst werden könnten. Die Beispiele zeigen weiterhin, wie wichtig im Kontext von Designprozessen die Schaffung von Differenz ist. Gerade der Bereich des spirituellen Heilens ist auf einem Markt mit steigender Konkurrenzsi-
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tuation angesiedelt, wobei gleichzeitig mutmaßlich sinkende Abnehmerzahlen anzunehmen sind.14 Derzeit sind viele Angebote im Feld des spirituellen Heilens darauf ausgelegt, neue Heiler auszubilden. In den Kursen zu den unterschiedlichen Reiki-Systemen werden über verschiedene Einweihungsstufen eine Vielzahl an Ritualexperten ›produziert‹, die tatsächliche Anwendung der Heilverfahren scheint jedoch zunehmend in den Hintergrund zu treten. Umso bedeutsamer ist es für Akteure, die neue Systeme schaffen, diese deutlich von anderen abzugrenzen und für sich eine Nische in dem pluralen und komplexen Markt zu finden. Einerseits muss das Design dabei an Bekanntes anschließen, um eine Widererkennung und damit verbunden eine Feldzuordnung für die Rezipienten zu gewährleisten. So verwenden beide hier vorgestellten Ritualdesigner Elemente, die noch direkt oder indirekt an das ›ursprüngliche‹ Usui-Reiki anschließen. Dies gewährleistet, dass die Rezipienten eine Zuordnung und Kontextualisierung der neuen Rituale zu einem bestimmten religionsgeschichtlichen Feld vornehmen können. Andererseits muss sich das Design jedoch durch neue Elemente auch klar von Bekanntem abheben, um attraktiv zu sein. Denn auch die Rezipienten sind in der Ausbildung ihrer religiösen und rituellen Profile daran interessiert, eine Nischenbesetzung im Sinne einer Herausarbeitung von Individualität vorzunehmen. Denn ein dominantes narratives Muster in den biographischen Konstruktionen der Akteure im Feld der Spiritualität ist die Konstruktion eines individuellen, sehr persönlichen religiösen Entwicklungsweges, den die Akteure aus ihrer Sicht durchlaufen (vgl. Bochinger/Gebhard/Engelbrecht 2005 und Miczek 2009). Auf praktischer Ebene werden hierfür Ritualentwürfe benötigt, die eben diese Einzigartigkeit und Individualität unterstreichen. Die fortschreitenden Ausdifferenzierungen des Marktes des spirituellen Heilens dürften durch eben dieses Bedürfnis der Rezipienten wesentlich katalysiert werden. Über die genauen Zusammenhänge in diesem Bereich sind jedoch noch weiterführende Detailstudien durchzuführen. Im Zuge der Bemühungen um Schaffung von Differenz bleibt weiterhin im Hinblick auf die Beispiele festzuhalten, dass diese zweifach vollzogen wird: Einerseits wird eine Abgrenzung nach Außen angestrebt, andererseits erfolgt eine Kohärenzbildung nach Innen. Über
14 Leider liegen zu diesem Bereich noch keine umfassenderen quantitativen Untersuchungen vor.
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Systematisierungen und der Herausbildung von Organisations- und Hierarchiestrukturen gelingt so die Ziehung von Grenzen zu Anderen, gleichzeitig wird jedoch ein eigener, kohärenter Identitätsentwurf erstellt. Die Eintragung als geschützte Marke (vgl. auch Einstein 2008), die Gründung eines eigenen Ausbildungsinstituts oder die Entwicklung eines »Registration Program« verbunden mit einem »Code of Ethics« sind Beispiele für diese doppelte Orientierung in der Schaffung von Differenz. In Kapitel 2 wurde außerdem die Frage nach einer möglichen Verhältnisbestimmung von Prozessen des Designs zu Ritualtransformationen und -inventionen aufgeworfen. Bei beiden Beispielen wurde deutlich, dass Designprozesse beides umfassen können. In der Gestaltung eines neuen Reiki-Systems werden sowohl bekannte Reiki-Elemente (z. B. Einweihungen) aufgegriffen und dann modifiziert bzw. transformiert, als auch ›neue‹ Ritualelemente wie »Channeling« oder die Arbeit mit Energieessenzen eingefügt. Designprozesse können daher als Teil ritualdynamischer Aushandlungen begriffen werden, in denen sich sowohl transformative, wie auch inventive Prozesse vollziehen. Es macht jedoch m. E. wenig Sinn, nach Kriterien zu suchen, anhand derer die einzelnen Prozesse strikt voneinander differenziert werden können. Zum einen gehen die Prozesse oftmals fließend ineinander über, zum anderen erscheint es aber auch immer eine Frage der Perspektive, ob ein Vorgang eher als Invention oder als Transformation verstanden wird. Abschließend bleibt nun noch zu fragen, was ein Fokus auf Ritualdesign als Perspektive für ritualwissenschaftliche Forschung leisten kann. Es kann festgehalten werden, dass die Untersuchungsperspektive ›Ritualdesign‹ die Aufmerksamkeit auf die Aushandlungen von Positionierungen sowohl von Gestaltern als auch von Rezipienten lenkt. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit können somit Fragen nach Autorität, Legitimierung, Akzeptanz und Handlungsmacht gestellt werden, welche letztlich Fragen nach Identitätsbildung und Differenzschaffung generieren. Ritualdesign richtet den Fokus weiterhin auf Entstehungsprozesse und Entstehungskontexte von neuen Ritualen. Die Perspektive verweist hier insbesondere auf Einflussfaktoren, die auftreten, wenn neue Rituale in Feldern platziert werden, in denen bereits andere Ritualentwürfe verhandelt werden. Wie die Beispiele zeigen, spielen ökonomische Faktoren dabei als Motor für Entstehungsprozesse von Ritualdesign eine Rolle: Kriterien der Effizienz, Gestaltungsästhetik, Kun-
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denorientierung sind wichtige Faktoren, an denen sich Gestaltungsprozesse orientieren. Für eine weitere zukünftige Beschäftigung mit dem Thema Ritualdesign stellen diese und weitere Punkte wohl noch viele spannende Diskussions- und Analyseansätze für ritualwissenschaftliche Forschungen dar.
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Von Linien und schwarzen Schlangen Design im Hindu-Ritual∗ C HRISTOF Z OTTER
1. E INLEITUNG : B RAHMANISCHES R ITUAL ALS B AUKASTEN Brahmanische Rituale haben eine lange Tradition, deren Wurzeln teilweise bis ins 2. Jahrtausend v. Chr. zurückreichen. Obwohl eine umfangreiche Ritualtexttradition erhalten ist, werfen vor allem die frühen Formen des Rituals noch immer viele Fragen auf. Die ältesten Quellen, die vedischen SaূhitƗs, sind liturgische Texte, die nur wenig über die rituellen Handlungen aussagen, bei denen sie verwendet wurden. In der daran anschließenden interpretativen Literatur – den ebenfalls zum Veda (wörtlich: »Wissen«) gezählten BrƗhmaas, Upaniৢads und Arayakas – werden zwar etliche Ritualdetails diskutiert und esoterisch gedeutet, aber
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Mein Dank gilt den Priestern Mani Adhikari, Ramsharan und Harihar Aryal, Rishi Khanal, Balaram Paudel, Devprasad Paudel und ihren Kollegen im Kathmandu-Tal, die mir Einblick in ihre Arbeit gewährten. Anmerkung zu originalsprachlichen Termini: Falls nicht anders gekennzeichnet, stammen kursiv gesetzte Begriffe aus dem Sanskrit (Skt.), sind aber auch im Nepali (Nep.) geläufig. (Zur Übernahme ritualspezifischer Sanskritbegriffe in die Regionalsprachen vgl. Michaels 2010a: 144). Der Plural wird durch ein angehängtes »s«, nicht durch die originalsprachliche Form angezeigt, also z. B. saۨskƗras statt saۨskƗrƗ( ۊSkt.) oder saۨskƗraharu (Nep.).
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auch hier ist die tatsächliche Form des Rituals oft, wenn überhaupt, nur mit Mühe rekonstruierbar. Erst am Ende der vedischen Zeit entstanden innerhalb der verschiedenen vedischen Schulen (ĞƗkhƗs) sogenannte ›Leitfäden‹ (snjtras). Diese Texte machen in mehr oder weniger systematischer Form konkrete Angaben zu den Abläufen, den einzelnen Handlungen, den als Mantras zu sprechenden Versen und Formeln, den verwendeten Materialien usw.1 Gemäß den Snjtras lassen sich generell zwei Arten von Ritualen unterscheiden: Die ĝrauta-Rituale, worunter die oft sehr aufwendigen, öffentlichen Rituale verstanden werden, und die Ghya-Rituale, welche die Opferungen ins Hausfeuer sowie die lebenszyklischen Rituale (saۨskƗras) umfassen. Nach Michael Witzel ist das ĝrauta-Ritual, wie es in den ĝrautasnjtras beschrieben wird, aus »multiple frames or ›boxes‹« aufgebaut: »Smaller and larger sets put together, form new (sub)units, and there is a tendency […] to substitute one set by another.« (Witzel 2003: 77) Die als eine Art Appendix zu den ĝrautasnjtras verfassten Ghyasnjtras legen Zeugnis davon ab, dass bei der Gestaltung der häuslichen Rituale vielfach auf solche ›sets‹ and ›units‹ des ĝrauta-Rituals zurückgegriffen wurde (ebd.: 88 und Gonda 1977: 549 und pass.). So kommt z. B. dem in Indien von alters her bedeutenden Feueropfer (havana, homa oder yajña) auch im häuslichen Ritual – in stark vereinfachter Form – eine wichtige Rolle zu. Die meisten Ghyasnjtras beschreiben nicht nur den richtigen Umgang mit dem Hausfeuer, sie skizzieren auch ein Modell des Feueropfers, das, gegebenenfalls modifiziert, mit verschiedenen anderen Ritualen kombiniert werden soll.2 Ähnliche Prozesse der Adoption und Adaption sind auch für spätere Zeiten nachweisbar. So lässt sich beispielsweise die pnjjƗ, die heute populärste Form der Verehrung in Südasien, als eine Art ›Baukasten‹ verstehen, der, gespeist aus unterschiedlichen Quellen, in verschiedenen Arten von Ritualen Verwendung findet (vgl. Zotter 2010: 30). Einzelne Elemente werden in der Regel jedoch keineswegs willkürlich zu einem Ritual zusammengefügt. Neben dem ›Baukasten‹, der je nach Wissenstand des Ritualtextverfassers oder –kompilators bzw. ritualausführenden Priesters verschieden bestückt sein kann, existiert ein Set von teils expliziten, teils impliziten Regeln oder Vorstellungen,
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Zur Snjtra-Literatur vgl. Hillebrandt (1897) und Gonda (1977).
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Zum Modell des homa in den Ghyasnjtras vgl. Kane (1974: 207–210) und Zotter (2010: 27 f. [mit weiteren Referenzen]).
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wie die verschiedenen Elemente miteinander kombiniert (oder untereinander substituiert) werden können.3 Untersucht man die brahmanische Ritualliteratur in dia- und synchroner Perspektive, offenbart sich die hohe Flexibilität und Kreativität einer ihrem Selbstverständnis nach konservativen Tradition: Mit Hilfe der beiden soeben genannten Komponenten – den meist vorgefertigten, nur selten wirklich neu geschöpften Bauelementen und den kompositorischen Regeln – wurde eine beachtliche rituelle Formenvielfalt hervorgebracht. Zieht man Beobachtungen der tatsächlichen Praxis hinzu, wie dies zumindest für die heutige Zeit möglich ist, wird die anzutreffende Vielfalt noch gesteigert, denn Ritualaufführungen können regionale, lokale oder gar individuelle Elemente enthalten, die von der schriftlichen Tradition nicht erfasst werden. Gerade für die häusliche Ritualpraxis ist die Formbarkeit des Rituals von enormer Wichtigkeit. Der Priester muss das Ritual nicht nur an die Bedürfnisse und Möglichkeiten seiner Klienten anpassen. Vor allem in komplexeren, nach den oben angesprochenen Regeln zusammengesetzten Ritualgebilden kann das paradoxe Phänomen auftreten, dass das Ritual selbst Bedingungen stellt, die seinen idealen Vollzug unmöglich machen. Um nur ein Beispiel zu geben: In der heute in Nepal üblichen Form der brahmanischen Initiation (vratabandha oder upanayana), in welcher der Initiand nacheinander vier, ursprünglich getrennt vollzogene, lebenszyklische Rituale (saۨskƗras) durchläuft (vgl. Zotter 2009 und 2010: 23–26), sind einige zentrale Handlungen an astrologisch als günstig bestimmte Momente gebunden. Diese Zeitmarken fallen naturgemäß bei jedem Ritualvollzug anders aus. Sie können den Zeitrahmen des Rituals so verengen, dass man einige der vorgeschriebenen Handlungen nur verkürzt vollziehen oder ganz übergehen muss. Es kann umgekehrt aber auch der Fall auftreten, das Ritual so in die Länge ziehen zu müssen, dass gegen die Regel verstoßen wird, die ›eigentliche Initiation‹ (den saۨskƗra upanayana) vormittags zu vollziehen.4 Will man das Ritual fehlerfrei ausführen, muss man ›richtig‹ auf derartige Umstände reagieren können. So kennt die brahmanische Ritualtradition nicht nur etablierte Wege, ein Ritual bei Be-
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Zu diesen ›syntaktischen‹ Regeln vgl. Michaels (2007). Zum formalen Prinzip der ›Rahmung‹ vgl. Zotter (2010: bes. 28–30 und 37 f.).
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Diese Vorschrift findet sich z. B. in RƗmadatta ৫hakknjras DaĞakarmapaddhati (MiĞra 1999: 57; vgl. auch MarƗsini 2000: 248).
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darf zu verkürzen oder zu verlängern, sondern auch Elemente, die – meist prophylaktisch am Ritualende vollzogen – bewusst oder unbewusst begangene Fehler unwirksam machen sollen. Mit Hilfe des ›Ritualbaukastens‹ und des Regelsets lassen sich aber nicht nur bestehende Rituale an veränderliche Bedingungen anpassen, sondern auch ›korrekte‹ neue Rituale recht einfach erschaffen. Sowohl die Wandelbarkeit bestehender Rituale als auch die Fähigkeit der Übertragung des Rituals in neue Kontexte sicherte über Jahrhunderte das Überleben der Tradition in einer sich verändernden Umwelt. Den Fragen nach Beschaffenheit und Aufbau von Ritualen wurde bereits mit Hilfe verschiedener Metaphern nachgegangen. Michael Oppitz (1999: 73) verwendet z. B. Begriffe aus der industriellen Fließbandproduktion und spricht von »vorgefertigten Versatzstücken«, die mit Hilfe eines »Montageplans« zusammengesetzt werden. Burkhard Gladigow (1998: 459) wählt ein anderes Bild und fordert, die »Grammatik« von Ritualen zu untersuchen (vgl. auch Michaels 2007 und 2010b). Diese Ansätze konzentrieren sich auf die Analyse der formalen Struktur des Rituals (seiner Segmentierung und Sequenzierung), sagen meist aber nur wenig oder nichts über die Bedingungen aus, unter denen rituelle Formen geschaffen oder modifiziert werden. Auch der vorliegende Beitrag nimmt formale Aspekte des Rituals in den Blick. Er widmet sich jedoch der Frage, inwieweit das Konzept »Ritualdesign« helfen kann, die Form des Rituals in Wechselwirkung mit dem religiösen und sozio-ökonomischen Umfeld besser untersuchen zu können, ohne gleich auf Interpretationen zu verfallen, die das Ritual auf eine gesellschaftliche Funktion, symbolische Repräsentation o. ä. reduzieren (vgl. dazu Handelman 2004a und 2004b). An einem aktuellen Beispiel aus Kathmandu (Nepal) soll demonstriert werden, wie mit Hilfe des bewährten ›Ritualbaukastens‹ ein Ritual für ein neu aufgekommenes Bedürfnis ›designt‹ und im Laufe seiner Aufführungen weiter verändert und angepasst wurde. Zuvor sollen jedoch noch andere mögliche Nutzbarmachungen des Begriffes ›Design‹ für die Ritualforschung behandelt werden, wobei vertiefend auf formale Dynamiken brahmanischer Rituale eingegangen wird.
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2. D ESIGN ALS M USTER : D IE ›L INIEN ‹ DES F EUERRITUALS Aufgrund seiner Wortgeschichte hat der Begriff ›Design‹ verschiedene Bedeutungsebenen (vgl. Einleitung des vorliegenden Bandes). In der Ritualforschung wird ›Design‹ meist aus einer akteurszentrierten Perspektive betrachtet. Im Fokus steht dann insbesondere der Designer, seine Intention, ein Ritual zu gestalten, seine Möglichkeiten, diese umzusetzen usw. (vgl. Kapitel 3). Davon abweichend wird hier an einen Aspekt von ›Design‹ erinnert, der in der aktuellen Debatte meist vernachlässigt wird, bei der Analyse von Ritualen aber meines Erachtens durchaus gewinnbringend angewandt werden kann. Gemeint ist das Verständnis von ›Design‹ als Muster, zunächst im Sinne einer sich auf einer Fläche wiederholenden Struktur, aber, daran anschließend, auch im Sinne eines Modells oder einer Vorlage. Bevor gezeigt wird, wie sich anhand eines graphischen Musters generelle Prinzipien der Ritualtransformation veranschaulichen lassen, zunächst einige Bemerkungen zum Kontext der hier vorgestellten Beispiele: Wenn im heutigen Nepal bei den BƗhun und Chetri5 ein Sohn initiiert oder ein Paar verheiratet wird, geschieht dies meist unter Verwendung von Ritualhandbüchern (paddhati, vidhi oder prayoga), die zwar in der Tradition des Ghyasnjtra der in Nepal dominanten vedischen Schule – dem MƗdhyandina-Zweig des Weißen Yajurveda – stehen, aber erheblich weiterentwickelte Formen des jeweiligen Rituals beschreiben. Besonders deutlich wird dies bei den Handbüchern für das Errichten des Opferfeuers (agnisthƗpana), die meist hinzugezogen werden, um den Priester beim Vollzug des rahmenden Feuerrituals anzuleiten. Diese spezialisierten Texte folgen dem durch das Ghyasnjtra der Schule vorgegebenen Modell des homa und schreiben damit etliche bereits aus dem ĝrauta-Ritual bekannte Gerätschaften und Handlungen vor, etwa das Aufstellen und Herrichten bestimmter Wassergefäße (namentlich pra۬ƯtƗ- und prok܈a۬ƯpƗtra). In den heutigen Handbüchern erscheinen diese Ritualelemente jedoch mit verschiedenen Standards der pnjjƗ kombiniert. Beispielsweise werden beim modernen agnisthƗ-
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Die Nepali als Muttersprache sprechenden, auch als Parbate oder Indo-ParbatiyƗ bezeichneten BƗhun (Brahmanen) und Chetri (Kৢatriya) sind jene ethnische Gruppe Nepals, deren Ritualkultur der panindischen Sanskrit-tradition am nächsten steht.
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Abbildung 1: Der Priester zeichnet die ›Linien‹ für ein Hochzeitsritual (Blick von Süden)
Quelle: Christof Zotter, Kathmandu, 23. April 2011
pana eine Lampe (Skt. dƯpa, Nep. dƯyo), die Gottheit GaeĞa und der Ritualkrug (kalaĞa) verehrt. Oft werden diese und andere aus der pnjjƗ übernommenen Elemente nicht einfach nur eingeschoben, sondern als wirkungssteigernde Additive geschickt in die bestehende Struktur integriert. Dabei können verschiedene Bezüge zwischen ›Altem‹ und ›Neuem‹ hergestellt werden, wie dies etwa der Fall ist, wenn die bei der Verehrung des kalaĞa herbeigerufenen Götter im späteren Verlauf des Rituals mit Opferungen ins Feuer bedacht werden. Was Madhav M. Deshpande (1996) für Text und Sprache des brahmanischen Rituals festgestellt hat, gilt ebenso für die Handlungen und andere Bestandteile des Rituals. Historisch jüngere Elemente können einen quasi-vedischen Charakter annehmen. Umgekehrt kann aber auch ›Altes‹ und ›Überkommenes‹ durch Modifikationen und Ergänzungen dem Zeitgeist angepasst werden. Dieser kompositorische Charakter und die Wandelbarkeit des agnisthƗpana kommt auch in einem graphischen Muster oder ›Design‹ zum Ausdruck, das von ganz ›grundlegender‹ Bedeutung für das Ritual ist. Betritt ein Priester den Platz, auf dem u. a. ein Feuerritual stattfinden soll, ist eine seiner ersten Handlungen das ›Auftragen der Linien‹ (Nep. rekhƯ hƗlne, Skt. ra۪gavallƯracana o. ä.). Dazu zeichnet er mit farbigen Pulvern eine an den Himmelsrichtungen ausgerichtete, weitgehend punktsymmetrische Figur, die er mit verschiedenen Details ergänzt (siehe Abb. 1). Den wenigen Handbüchern zufolge, die dazu
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Abbildung 2: Die beim »Errichten des Opferfeuers« (agnisthƗpana) zu zeichnenden ›Linien‹ (Darstellung, wie in Südasien üblich, nach Osten ausgerichtet)
Quelle: Zeichnung von Mani Adhikari, Kathmandu, April 2011
überhaupt Angaben machen, rezitiert man begleitend Segenssprüche.6 In der Praxis wird das Zeichnen der ›Linien‹ jedoch meist ohne Rückgriff auf ein Handbuch und stumm vollzogen. Gemäß einer vom Priester Mani Adhikari freundlicherweise für diesen Beitrag angefertigten Skizze (Abb. 2) befindet sich im Zentrum der Figur, gekennzeichnet durch eine achtblättrige Lotusblüte, die Feuerstelle (Skt. vedi, Nep. (meist) vedƯ). Sie ist umgeben von zwei, jeweils aus drei Linien bestehenden, ringförmigen Strukturen, die als die Gürtel (mekhalƗ) des Feuers bezeichnet werden. Vom inneren Gürtel aus führen Linien in die acht Himmelsrichtungen. Diese enden im Norden, Osten und Süden in einem stilisierten Drei-
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AdhikƗrƯ (2003: 19–20), RƗƗ/Bha৬৬arƗƯ (1969: 14–15), Pokharela (2004: 4), Gautama/DƗhƗla (2006: 7); vgl. auch ParƗjuli (o. J: 8–9).
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zack (triĞnjla), im Westen dagegen in einem Rechteck, das den Sitz (Ɨsana) des Feueropferers (hot )܀markiert. Im Osten wird darüber hinaus, wie auch am Ende der Linien der vier Zwischenrichtungen, eine achtblättrige Lotusblüte gezeichnet. Auf jede dieser fünf Blüten wird später ein Ritualkrug (kalaĞa) platziert. Desweiteren wird im Nordosten eine Swastika als Sitz der Gottheit GaeĞa und im Südosten ein Hexagramm für das Gefäß mit dem ›Gastwasser‹ (arghapƗtra) gezeichnet. Aus der Beschriftung in Abb. 2 ist weiterhin erkennbar, dass im Osten (neben GaeĞa) eine Lampe, im Norden die beiden als pra۬ƯtƗ- und prok܈a۬ƯpƗtra bekannten Gefäße und im Süden die Gottheiten BrahmƗ, Viৢu und PrajƗpati aufgestellt werden, sowie südlich davon der Sitz (Ɨsana) des Opferherrn (yajamƗna) bereitet wird. Diese auf den Boden gezeichneten ›Linien‹ stellen nicht nur eine Art Grundriss des Rituals dar und legen den zentralen Ritualraum sowie die Position bestimmter wichtiger Ritualutensilien fest. Sie können selbst Gegenstand der Verehrung werden und dienen als Stütze oder Träger des Rituals.7 Auf ihnen werden die Gefäße und andere Ritualgegenstände platziert, in denen der für das Hindu-Ritual typische Kosmos von Göttern erweckt, verehrt und dann im Zentrum der Struktur mit Hilfe des Feuers beopfert und damit zugunsten des Opferherrn manipuliert wird. Interpretiert man Rituale in Bezug auf die gesellschaftliche oder religiöse Bedeutung, rücken meist die jeweils spezifischen Handlungen in den Vordergrund. Aus einer solchen Perspektive haben die ›Linien‹, ja das ganze agnisthƗpana, nur einen peripheren Charakter. Sie gehören zum allgemein üblichen Vor- bzw. Nachritual8 und bilden lediglich den Rahmen, der das jeweilige Hauptritual ins ›rechte Licht‹ rückt. Betrachtet man jedoch die formale Anordnung des Ri-
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Zumindest einige der Handbücher beschreiben eine mekhalƗpnjjƗ, bei der in den drei Linien des Gürtels die Gottheiten Viৢu, BrahmƗ und Rudra verehrt werden, vgl. AdhikƗrƯ (2003: 23 f.) und Anonym (o. J.: 12 f.).
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Die am Anfang des Rituals konstruierte Struktur muss am Ende ordnungsgemäß aufgelöst werden, um das Ritual wirksam zu machen. Die Götter werden entlassen. Bevor die Gefäße entleert werden, wird deren Wasser als Segen über die Köpfe der am Ritual Beteiligten gesprenkelt usw.
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tuals im Raum, wie sie durch das Design der ›Linien‹ angezeigt wird, erscheint das Feuer als Zentrum, um das sich die je nach Ritual spezifischen Handlungen (oft kreisförmig wie in einem Orbit) bewegen. Die ma۬ڲala-ähnliche Figur der ›Linien‹ trägt und verankert einen Kern, der die im Ritual stattfindende Transformation erst ermöglicht. Vergleicht man die ›Linien‹ in Abb. 1 und 2, zeigen sich einige Unterschiede. In Abb. 1 fehlt etwa die übliche Markierung des Sitzes des Feuerpriesters. Das Gefäß mit dem für die pnjjƗ benötigten ›Gastwasser‹ soll mal auf ein Dreieck in einen Kreis (Abb. 1), mal auf ein Hexagramm (Abb. 2) gestellt werden usw.9 Doch trotz aller Abweichungen sind beide Figuren als ›Linien‹ der BƗhun-Priester erkennbar und unterscheiden sich deutlich von den Mustern, die etwa ihre newarischen ›Kollegen‹ auf die für ein Ritual vorgesehene Fläche zeichnen.10 Betrachtet man die Gestaltung und das Arrangement der verschiedenen, später auf den ›Linien‹ platzierten Ritualgefäße – auch hier wäre es dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend durchaus möglich von ›Design‹ zu sprechen – stößt man auf einen ähnlichen Befund. Sowohl ›Linien‹ als auch Gefäße verweisen eindeutig auf eine bestimmte Ritualkultur. Man könnte sagen, dass beide zu einem – im hier beschriebenen Falle ethnisch spezifischen – ›corporate design‹ des Rituals beitragen. Variationen der ›Linien‹ lassen sich noch in einem anderen Zusammenhang feststellen. Wie oben erwähnt, besteht die brahmanische Initiation bei den BƗhun und Chetri heute aus insgesamt vier lebenszyklischen Ritualen (saۨskƗras), wobei jedes dieser vier saۨskƗras von einem entsprechenden homa gerahmt wird. Für die Initiation wird das beschriebene graphische Muster jedoch nicht einfach redupliziert, sondern die vier (nun) Subrituale in das allgemeine Grundmuster der ›Li-
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Darüber hinaus kann das ›Gastwasser‹ im Nordosten aufgestellt werden, vgl. Pokharela (2004: 5) und Gautama/DƗhƗla (2006: 8). Auch die Gestaltung des Gürtels kann variieren, vgl. Gray (1979: 91) und SuvedƯ (2004: 54).
10 Zu den von buddhistischen Newar-Priestern beim Feuerritual gezeichneten ›Linien‹ vgl. Kaji (2010: 105). Zu den Mustern in verschiedenen newarischen Hindu-Ritualen vgl. etwa Gutschow/Michaels (2008: 42 f. und 181).
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Abbildung 3: Die beim Initiationsritual (vratabandha) zu zeichnenden ›Linien‹ (Darstellung geostet)
Quelle: Zeichnung von Mani Adhikari, Kathmandu, April 2011
nien‹ des agnisthƗpana integriert (vgl. Abb. 3). Auf der zentralen Nord-Süd-Achse werden vier weitere Feuerstellen arrangiert11 und an der Ostseite acht Lotusblüten ergänzt, auf die später die Krüge gestellt werden, mit deren Wasser der Initiand bei seiner »Rückkehr« (samƗvartana), dem letzten der vier zu absolvierenden saۨskƗras, gebadet wird. Der Rest der Struktur – die Gürtel des Feuers, die Sitze für Lampe, GaeĞa und Ritualkrug etc. – muss nicht erneut gezeichnet werden. Die einzige Ausnahme, zumindest in der Zeichnung von Mani Adhikari, stellt ein zusätzliches Set von pra۬ƯtƗ- und prok܈a۬ƯpƗtra dar, das
11 Diese werden im Laufe des Rituals von Süden nach Norden beopfert. Diese Anordnung ist keineswegs belanglos. So wie der Initiand an das brahmanische Ritual herangeführt wird (vgl. Zotter 2009), bewegt man sich vom mit dem Tod assoziierten Süden in den Norden, die Richtung der Götter. Zur Bedeutung der Himmelsrichtungen vgl. Bodewitz (1983: 43–45 [mit weiteren Referenzen]).
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bei den Opfern in die vier saۨskƗra-Feuer Verwendung findet.12 Es demonstriert die gestalterische Freiheiten eines Priesters, wenn hier, teils aus praktischen Überlegungen,13 vor allem wohl aber aus ästhetischen Gründen die beiden Sets westlich des Feuers symmetrisch arrangiert werden. Achtet man, wie in diesem Beitrag, auf die Wandelbarkeit des Rituals, ist außerdem von Interesse, dass die beiden aus dem ĝrauta-Ritual übernommenen Wassergefäße nun plötzlich auf einem aus der pnjjƗ bekannten Sitz, der achtblättrigen Lotusblüte, platziert werden. Das oben beschriebene Grundmuster bzw. -design der ›Linien‹ wird zum Modell, zu einer Vorlage, die unter veränderten Umständen entsprechend modifiziert und angepasst wird. Dabei können verschiedene Variationen auftreten.14 Die Wiedererkennbarkeit des ethnischen ›corporate design‹ wird jedoch gewahrt. Versteht man unter dem ›Design eines Rituals‹, wie durchaus möglich, die gesamte Gestaltung eines Rituals, kann man sich nicht, wie hier bisher geschehen, auf die Verwendung von ›Design im Ritual‹ beschränken. Ein Ritual besteht nicht nur aus graphischen und gestalteten materiellen Elementen. Es ist vor allem Handlung und im hier behandelten brahmanischen Kontext Sprache bzw. Klang (Mantra). Dennoch, die meisten der am Beispiel der ›Linien‹ aufgezeigten Mechanismen (die Verwendung von und der Umgang mit Vorlagen, die Transformation durch Kombination und Reduktion, die identitätsstiftende Wiedererkennbarkeit der Form, usw.) behalten ihre Gültigkeit, wenn man den Begriff ›Design‹ auf das Ritual in seiner Gesamtheit (als Komplex aus vorgeschriebenen Mustern, Materialien, Handlungen und Sprache) ausdehnt.
12 Dies scheint ein individueller Zug des genannten Priesters zu sein. Zumindest ist das Detail in keiner anderen mir bekannten Abbildung belegt, vgl. Ghimire (2000: 237), Gray (1979: 91) und Gautama/AdhikƗrƯ/ DƗhƗla (2000: 70). 13 Die Gefäße sind so besser für den im Westen sitzenden Priester erreichbar. 14 Nach Ghimire (2000: 237) werden pra۬ƯtƗ- und prok܈a۬ƯpƗtra sowie die drei im Süden aufgestellten Götter (BrahmƗ, Viৢu und PrajƗpati) auf einem stilisierten Dreizack (triĞnjla) platziert. Laut Gautama/AdhikƗrƯ/ DƗhala (2000: 70) erhält jede der eingefügten Feuerstellen mindestens einen Gürtel.
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3. R ITUALDESIGN ALS P ROZESS : D IE V EREHRUNG DER »S CHWARZEN S CHLANGE « Der Begriff ›Design‹ verweist nicht nur auf den Modellcharakter oder die Gemachtheit einer Form, sondern auch auf das Machen selbst. Heutzutage wird Design unter anderem als Prozess der Gestaltung, der zum einem Produkt, im Falle von ›Ritualdesign‹ einem Ritual führt, verstanden. Begreift man Ritualwerdung und -gestaltung – oder zumindest bestimmte Formen davon (s. u.) – als Designprozess und das daraus resultierende Ritual als ein Produkt, hat dies eine Reihe von Implikationen: Neben die Funktion eines Rituals tritt seine Ästhetik. Die Aufmerksamkeit wird aber auch auf einen Markt mit seinen Bedürfnissen gelenkt, und schließlich rückt der ›Designer‹, der den Markt idealerweise mit funktionalen wie ästhetischen Angeboten bedient, in den Blick. In der aktuellen Debatte um ›Ritualdesign‹ wurden aus heuristischen Gründen verschiedene Engführungen des Begriffes vorgeschlagen (vgl. Einleitung im vorliegenden Band). Dabei fungiert meist die Intention des Designers – bei Engstführung sogar die eindeutig nachweisbare – als Definitionskriterium. Allerdings ist im Falle der brahmanischen Ritualtradition für historische Beispiele in der Regel kaum mehr nachvollziehbar, wie Formungsprozesse im Detail abliefen oder ob sich Intentionen dahinter verbargen, und, wenn ja, welche. Für die oben angeführte Kombination der vier saۨskƗras ließe sich rekonstruieren, dass wahrscheinlich das ökonomische Motiv der Kostenreduzierung ausschlaggebend war, welches andernorts dazu geführt hat, die Initiation in Kurzform direkt vor der Hochzeit zu absolvieren (vgl. Keßler-Persaud 2010). Jedoch bleibt ungewiss, wann, durch wen und wie genau diese tiefgreifende Veränderung des Initiationsrituals eingeführt wurde. Die oft anonymen Ritualhandbücher sind hier wenig hilfreich, denn sie folgen konservativ älteren Textvorlagen und reagieren meist nur zögerlich auf Veränderungen der Praxis (vgl. Zotter forthc.).15
15 Noch heute wird die in der Praxis längst etablierte Kombination der saۨskƗras in manchen Handbüchern nur als Alternative genannt (vgl. etwa MiĞra 1999: 41 und RƗƗ/Bha৬৬arƗƯ 1973: 4) oder lediglich durch Einfügen einer gemeinsamen Überschrift angedeutet (vgl. MarƗsini 2000: 238).
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Prozesse der Ritualentstehung und -gestaltung lassen sich weitaus besser erforschen, wenn neben dem Textstudium Beobachtungsdaten erhoben werden können. Damit wird auch Ritualdesign als Prozess besser greifbar. Im Folgenden möchte ich unter Rückgriff auf schriftliche Quellen und eigene Beobachtungen ausführlicher auf ein erst kürzlich entstandenes Ritual eingehen, welches hier – meines Wissens – erstmals wissenschaftlich behandelt wird. Dabei müssen zunächst die Bedingungen und der Kontext, in denen das ›neue‹ Ritual erschaffen wurde, kurz vorgestellt werden. Hiernach wird der Aufbau des Rituals als räumliches und zeitliches Arrangement seiner Elemente näher beleuchtet, um abschließend auf ›Design als sozio-ökonomischen Prozess‹ einzugehen. 3. 1 Ritual und Astrologie Bereits in der Einleitung zum vorliegenden Beitrag wurde angedeutet, dass hinduistische Rituale und Astrologie eng miteinander verbunden sind. Vor allem im Textgenre der Kompendien (nibandhas) finden sich oft unzählige Vorschriften dazu, wann ein astrologisch günstiger Zeitpunkt für ein Ritual (oder einen bestimmten wichtigen Moment innerhalb desselben) gegeben ist bzw. welche astrologischen Bedingungen den Vollzug bestimmter Rituale untersagen. Angaben dazu können auch in Ritualhandbüchern enthalten sein und die meisten Priester verfügen zumindest über das nötige Grundwissen, um ihre Klienten diesbezüglich mit Hilfe eines astrologischen Almanachs (pañcƗ۪ga) beraten zu können. Eine besondere Rolle in der indischen Astrologie kommt den sogenannten »neun Greifern« (navagrahas) zu, zu denen neben Sonne (Snjrya), Mond (Candra), Mars (Maৄgala), Merkur (Budha), Jupiter (Bhaspati), Venus (ĝukra) und Saturn (ĝani) auch RƗhu und Ketu, der auf- und absteigende Mondknoten, zählen. Ihnen wird nicht nur ein Einfluss auf das allgemeine Weltgeschehen nachgesagt. Anhand der im Geburtshoroskop (janmaku۬ڲalƯ) vermerkten Positionen der »Greifer« (grahas) werden Vorhersagen über Werdegang und Leben des Individuums gewonnen. Auch aus dem Ritual sind die grahas nicht wegzudenken (vgl. Kropf 2005). Bei den BƗhun und Chetri gehört das »Befrieden der Greifer« (grahaĞƗnti), ebenso wie das agnisthƗpana zu den Standardvorritualen. Selbst wenn keine konkrete astrologische Störung vorliegt, wird bei jedem größeren Ritual in der Nordostecke
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des Ritualplatzes ein entsprechender Opferaltar (Nep. grahavedƯ) errichtet, auf dem prophylaktisch die navagrahas mit verschiedenen Darbringungen verehrt und befriedet werden. Mit Mitteln des Rituals kann auch spezifisch auf astrologische Missstände reagiert werden. Von Astrologen als störend erklärte Konstellationen (yoga) bieten Anlass für Rituale, darunter Neuschöpfungen. Meist handelt es sich bei diesen um spezifisch zugeschnittene Gelübde (vrata), die an bestimmten Wochen- oder Feiertagen absolviert werden sollen und häufig das Murmeln ausgewählter Mantras (japa), pnjjƗs und manchmal einen homa enthalten. Zumindest wenn ein vrata aufwendiger gestaltet ist, werden auch Priester als Ritualspezialisten hinzugezogen. Seit Jahrhunderten führen Priester und Astrologen so ein recht ›symbiotisches Dasein‹. Mit vereinten Kräften halten sie einen Markt lebendig, der von beiden bewirtschaftet werden kann. 3. 2 Literatur zur »schwarzen Schlange« In den letzten Jahren wurde von Astrologen in Printmedien, Fernsehen und Internet immer wieder auf ein Phänomen aufmerksam gemacht, dem eine äußerst negative Wirkung auf so gut wie alle Lebensbereiche (Gesundheit, Familie und Nachkommen, Beruf, Finanzen etc.) nachgesagt wird. Gemeint ist die »Konstellation der schwarzen Schlange« (kƗlasarpayoga).16 Diese liegt vor, wenn die grahas in den zwölf Feldern des Geburtshoroskops so verteilt sind, dass sie in einer Hälfte des Horoskops zwischen den sich stets gegenüberstehenden Mondknoten liegen und so RƗhu und Ketu als ›Kopf‹ und ›Schwanz‹ einer ›Schlange‹ erscheinen.17
16 Das Sanskritnomen kƗla hat verschiedene Bedeutungen. Neben »dunkler Farbe« bezeichnet es, oft personifiziert, die »Zeit« und den »Tod«. So könnte man kƗlasarpa auch als »Todesschlange« übersetzen. Spezifischer ist damit die Brillenschlange (Naja naja L.) gemeint. 17 Je nachdem, wo RƗhu und Ketu stehen, werden zwölf Grundformen des kƗlasarpa unterschieden, die die Namen mythischer Schlangen tragen (Ananta, Kulika, VƗsuki, ĝaৄkhapƗla bzw. ĝaৄkhanƗda, Padma, MahƗpadma, Takৢaka, KƗrko৬aka, ĝaৄkhacnjঌa, GhƗtaka, Viৢadhara bzw. ViৢƗkta und ĝeৢanƗga). Da auch die Positionen der restlichen grahas variieren, sind insgesamt 144 Formen des kƗlasarpa möglich, vgl. Bahala (2010: 44), MiĞra (2007: 37), ĝrƯmƗlƯ (2010: 26) und TrivedƯ/TrivedƯ (2009: 81 f.).
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In Indien kam es zu einem wahren Boom an Hindi-Publikationen, die dem Leser erklären wollen, was der kƗlasarpayoga ist, wann und wie er wirkt, aber auch, welche Umstände ihn unwirksam machen oder schwächen.18 Vor allem aber werden in solchen Publikationen Ratschläge gegeben, wie man selbst dem yoga entgegenwirken kann. Obwohl gelegentlich das Tragen bestimmter Steine als hilfreich empfohlen wird (vgl. etwa Bahala 2010: 102–105), sind die vorgeschlagenen Lösungen meist ritueller Natur. Die Autoren bedienen sich dabei einer ganzen Palette bekannter Praktiken (vratas, japas, pnjjƗs, yantras,19 Gaben (dƗna) an Brahmanen etc.), wobei häufig bestimmte Tage (etwa die NƗgapañcamƯ),20 Orte (wie ĝiva-Tempel und Verbrennungsplätze)21 und Gottheiten (insbesondere MahƗmtyuূjaya, der »Große Bezwinger des Todes«)22 als besonders wirksam hervorgehoben werden.23 Manche der rituellen Anwendungen sollen die angenommenen
18 Manche Autoren demonstrieren die Auswirkungen der verschiedenen Konstellationen am Beispiel prominenter Persönlichkeiten, die eine Form der »schwarze Schlange« im Geburtshoroskop haben. Beliebt ist auch, darauf zu verweisen, das am 15. August 1947 in Delhi ›geborene‹ unabhängige Indien leide an der Ananta-Schlange, vgl. ĝrƯmƗlƯ (2010: 46) und TrivedƯ/TrivedƯ (2009: 94–96). 19 Yantras sind Diagramme, die zur Erlangung bestimmter Ziele eingesetzt werden können (vgl. Bühnemann 2003a: 28–49). Zur Beseitigung der Störung durch die »schwarze Schlange« werden vor allem yantras wunderwirkender Gottheiten wie HanumƗn oder BagalƗmukhƯ empfohlen, vgl. Bahala (2010: 157–160) und MiĞra (2007: 233–237 und 267 f.). 20 (Meist) der fünfte Tag der hellen Hälfte des Mondmonats ĝrƗvaa, der traditionell mit Schlangenverehrung verbunden ist, vgl. Bahala (2010: 60, 74 f. und 93–101), ĝrƯmƗlƯ (2010: 100 und 195 f.) und TrivedƯ/TrivedƯ (2009: 298). 21 Besonders beliebt ist der TryambakeĞvara-Tempel in Nasik, vgl. etwa Bahala (2010: 77), MiĞra (2007: 8 und 274) und TrivedƯ/TrivedƯ (2009: 364). Eine kƗlasarpapnjjƗ in diesem Tempel ist auch online buchbar (http:// www.trambakeshwar.com/kalsarpa.htm vom 20.4.2011). 22 Vgl. MiĞra (2007: 233, 238–240 und 267–270), ĝrƯmƗlƯ (2010: 170–182) und TrivedƯ/TrivedƯ (2009: xiii und 317). 23 Vgl. etwa die Auflistungen ritueller Praktiken in Bahala (2010: 47, 66 f. und 152–156), MiĞra (2007: 8–10 und 285), ĝrƯmƗlƯ (2010: 100 f.) und TrivedƯ/TrivedƯ (2009: xii-xiv).
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Ursachen (hetu) des kƗlasarpayoga bekämpfen, andere zielen eher auf bestimmte Auswirkungen. Da der yoga für gewöhnlich mit unzufriedenen Ahnen (pit )܀in Verbindung gebracht wird, verweisen die meisten Autoren auf die Wichtigkeit von Totenritualen (ĞrƗddha) und geben entsprechende Anleitungen.24 Auch das traditionell gegen Kinderlosigkeit und Kindstod angewandte »Schlangenopfer« (nƗgabali), mit dem die Schuld an einer in diesem oder früheren Leben verursachten Schlangentötung getilgt werden kann, wird oft empfohlen,25 genauso wie das ebenfalls zur Sicherung der Nachkommenschaft dienende Opfer (bali) an NƗrƗyaa (Viৢu).26 Mittlerweile hat die »schwarze Schlange« auch den nepalischen Markt erobert. In Kathmandu machen regelmäßig Plakate auf das Phänomen aufmerksam und preisen die Dienste von Astrologen und Priestern an, die feststellen, ob man betroffen ist, und gegebenenfalls Abhilfe schaffen können.27 Im letzten Jahr erschienen die ersten, speziell für Nepal konzipierten Anleitungen für ein Ritual, das meist als »Befrieden« bzw. »Beseitigen der Störung der schwarzen Schlange« (kƗlasarpado܈aĞƗnti bzw. -nivƗra۬a) bezeichnet wird (VƗgle 2010 und SuvedƯ 2010).28 Beide Texte beginnen (in leicht variierender Reihenfolge) mit Standards, wie sie aus der pnjjƗ bekannt sind (vgl. Bühnemann 1988) und auch beim agnisthƗpana vollzogen werden: Bereiten der fünf reinigenden Produkte der Kuh (pañcagavya); Aufstellen des Ritualgefäßes (karmapƗtra); »Kuhgabe« (godƗna) an den Brahmanen nebst Ablegen des rituellen Beschlusses (saۨ-
24 Vgl. Bahala (2010: 76–92), MiĞra (2007: 6 und 20–29), ĝrƯmƗlƯ (2010: 114–129) und TrivedƯ/TrivedƯ (2009: 305–307 und 354–358). 25 Vgl. Bahala (2010: 109 f.), MiĞra (2007: 13 f.), ĝrƯmƗlƯ (2010: 82–85) und TrivedƯ/TrivedƯ (2009: 312 f.). 26 Vgl. Bahala (2010: 109 f.), MiĞra (2007: 275), ĝrƯmƗlƯ (2010: 86–99) und TrivedƯ/TrivedƯ (2009: 307–314). Für weitere wichtige Elemente vgl. die Ritualbeschreibungen unten. 27 Nach Auskunft verschiedener Priester hat man in Kathmandu vor etwa fünf bis sechs Jahren begonnen, entsprechende Rituale zu vollziehen. 28 Während VƗgle (2010: [2]) sich allgemein auf Publikationen (indischer) Astrologen beruft, verweist SuvedƯ (2010: kha) explizit auf VƗgle (2010) sowie auf eine, mir nicht vorliegende Publikation von BhojarƗja DvivedƯ.
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kalpa); Rezitation von Segenssprüchen (svastivƗcana bzw. svastyayana); Verehrung (pnjjƗ) von »Gastwasser« (arghya), Schneckentrompete (Ğa۪kha) und Glocke (gha۬ܒa); Wählen (vara۬a) des Priesters; »Deklarieren des günstigen Tages« (pu۬yƗhavƗcana); Verehrung der am Ende des Rituals den Beteiligten ums Handgelenk gebundenen Schutzschnur (rak܈Ɨbandhana) sowie Verehrung von Lampe, Ritualkrug (kalaĞa) und GaeĞa (VƗgle 2010: 1–17 und SuvedƯ 2010: 3–44).29 VƗgle (2010: 17–20) beschreibt außerdem eine Verehrung der navagrahas im Nordosten des Ritualplatzes. SuvedƯ (2010: 45) verweist diesbezüglich auf die entsprechenden Handbücher, beschreibt aber recht detailliert eine Verehrung der Muttergottheiten (mƗt܀kƗpnjjƗ) im Südosten des Platzes (ebd.: 45–54) und erwähnt das nƗndƯĞrƗddha, eine als Vorritual übliche Form der Ahnenverehrung (ebd.: 54). Das Hauptritual besteht bei beiden Autoren aus folgenden Elementen: Verehrung (pnjjƗ) für die Gottheiten MahƗmtyuূjaya (inklusive verschiedener nyƗsas)30 und KƗla,31 für die Schlangen (nƗga), die als kƗlasarpa vorkommen,32 für die ManasƗ DevƯ33 sowie für RƗhu und Ketu34 (vgl. VƗgle 2010: 20–36 und SuvedƯ 2010: 54–88).
29 SuvedƯ (2000: 1 f.) beschreibt zusätzlich die Verehrung des Flusses GaৄgƗ nebst Bad (snƗna) und das Verstreuen von Senfsamen (ebd.: 14–16) zum Vertreiben von Geistern und anderen Störenfrieden (vgl. Bühnemann 1988: 119 und TrivedƯ/TrivedƯ 2009: 345). 30 Zu MahƗmtyuূjaya vgl. Fn. 22. Unter nyƗsa versteht man das Besprechen verschiedener Körperteile mit Mantras, das vor allem im tantrischen Ritual genutzt wird, um die Gottheit im eigenen Körper »niederzusetzen«. 31 Zur Verehrung des KƗla vgl. auch Bahala (2010: 115, 119 und 127 f.), MiĞra (2007: 276) und ĝrƯmƗlƯ (2010: 102–104 und 183). 32 Vgl. Fn. 17. Zur Verehrung einer Gruppe von neun Schlangen vgl. MiĞra (2007: 277 f.), ĝrƯmƗlƯ (2010: 103–106) und TrivedƯ/TrivedƯ (2009: 316– 325). 33 Vgl. Bahala (2010: 118 und 122–124), MiĞra (2007: 278), ĝrƯmƗlƯ (2010: 106–108) und TrivedƯ/TrivedƯ (2009: xiii). 34 Zur separaten Verehrung der Mondknoten vgl. Bahala (2010: 111–117 und pass.), ĝrƯmƗlƯ (2010: 109–112) und TrivedƯ/TrivedƯ (2009: 365–368).
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Beide Autoren nennen verschiedenen japas und Feueropfer, die während der pnjjƗ erfolgen sollen, und zählen schließlich übliche Abschlussriten auf (vgl. VƗgle 2010: 36 f. und SuvedƯ 2010: 89).35 3. 3 Verehrung der »schwarzen Schlange« in der Praxis Keine der von mir im Laufe der letzten fünf Jahre im Kathmandu-Tal beobachteten Aufführungen der kƗlasarpapnjjƗ wurde nach einem der beiden eben vorgestellten Bücher vollzogen, dennoch hatten die verschiedenen Priester anhand der astrologischen Hindi-Publikationen und dem ihnen vertrauten ›Ritualbaukasten‹ jeweils sehr ähnliche Rituale entworfen, deren genereller Ablauf sich wie folgt zusammenfassen lässt: • Vor- bzw. Rahmenrituale: Verehrung von Lampe, Krug (kalaĞa)
und GaeĞa; Verehrung der »Sechzehn Mütter« (܈oڲaĞamƗt܀kƗ) nebst GaeĞa und den »Sieben Butterfettmüttern« (saptagh܀tamƗt܀kƗ);36 ein (meist in Kurzform vollzogenes) Ahnenritual (nƗndƯĞrƗddha); Verehrung der navagrahas,37 der 64 YoginƯs,38 des sarvatobhadrama۬ڲala39 nebst darauf aufgestelltem Krug,
35 SuvedƯ (2010: 90–102) fügt seiner Anleitung noch eine Liste mit den tausend Namen der Schlange (nƗgasahasranƗmƗvali) bei. VƗgle (2010: 37 f.) dagegen hängt einen Mantra an, der regelmäßig rezitiert werden soll, damit die Schlangen nicht zurückkehren, und macht Angaben zu verschiedenen Gelübden (vrata) nebst entsprechenden pnjjƗs (ebd.: 38–50). 36 Findet ein größeres Ritual im eigenen Haus statt, werden diese Göttinnen an der Wand verehrt und beim sogenannten »Strom der Reichtümer« (vasor dhƗrƗ) mit Butterfett übergossen. 37 Dabei kann eine sehr elaborierte Form der grahapnjjƗ zum Einsatz kommen, bei der andere Göttergruppen (Adhi-, Pratyadhi- und PañcalokapƗladevatƗ) den grahas zugeordnet und auf der vedƯ verehrt werden, vgl. etwa TrivedƯ/TrivedƯ (2009: 360–362). 38 Vgl. etwa TrivedƯ/TrivedƯ (2009: 353 f., 377 f. und 380). 39 Vgl. Abb. 5. Erwähnt wird dieses Diagramm z. B. von Bahala (2010: 126), MiĞra (2007: 275) und ĝrƯmƗlƯ (2010: 102). Zu diesem, bei vielen vratas verwendeten ma۬ڲala vgl. Bühnemann (1987: 43–50 und 61–65, und 2003b: 75 f. und 81 f.).
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der 51 »Hüter der Welt« (lokapƗla)40 sowie des li۪gatobhadrama۬ڲala41 nebst Krug; in einigen Fällen darüber hinaus auch eine vƗstuĞƗnti;42 schließlich das agnisthƗpana mit den üblichen Opferungen, in welche die mit den anderen Vorritualen verbundenen Opfer integriert werden. • Hauptritual: Verehrung von MahƗmtyuূjaya (z. B. in dem auf dem li۪gatobhadrama۬ڲala aufgestellten Krug); eine aufwendige Form der Verehrung ĝivas (ĞivapnjjƗ bzw. rudrƯ);43 Verehrung der Schlangen, etc. • Abschlussritual: das Entsorgen der verehrten Schlangen in einem fließenden Gewässer;44 übliche Abschlussriten des agnisthƗpana und der anderen pnjjƗs. Obwohl in den beobachteten Fällen meist die gleichen Programmpunkte absolviert wurden, gab es markante Unterschiede zwischen den Aufführungen. Das »Zentrum für vedische Ritualpraxis« (Vaidika SƗdhanƗ Kendra) in Deopatan, ein von einigen jungen engagierten Priestern gegründeter Verein, der sich auf verschiedene Gruppenrituale spezialisiert hat,45 bietet seit etwa zwei Jahren »Großopfer zum Befrieden der Konstellation der schwarzen Schlange« (kƗlasarpayogaĞƗntimahƗyajña) an. In den beiden beobachteten Fällen am 8. Februar
40 TrivedƯ/TrivedƯ (2009: 376 f.) verzeichnen zumindest die entsprechenden Feueropfer. 41 Vgl. dazu Bühnemann (1987: 50–62 und 65–70, und 2003a: 76 f.). 42 Die vƗstuĞƗnti ist eine elaborierte Befriedung der Himmelsrichtungen etc., die etwa beim Beziehen eines neuen Hauses vollzogen wird. 43 Vgl. ĝrƯmƗlƯ (2010: 130–162) und TrivedƯ/TrivedƯ (2009: 364). Da dabei acht mit Rudra (ĝiva) verbundene Kapitel des Veda (von idealerweise elf Brahmanen) rezitiert werden sollen, ist diese pnjjƗ auch als rudrƗܒ܈ƗdhyƗyƯ bekannt. Zu anderen Formen der ĞivapnjjƗ beim Befrieden der Schlangen vgl. MiĞra (2007: 256–263) und ĝrƯmƗlƯ (2010: 163–169). 44 Zu verschiedenen Alternativen des ›Entsorgens‹ vgl. Bahala (2010: 47 und 110), MiĞra (2007: 288), ĝrƯmƗlƯ (2010: 101) und SuvedƯ (2010: 89). 45 Z. B. vollzogen einige Priester des Vereins parallel zur am 8. Februar 2011 beobachteten kƗlasarpapnjjƗ ein gemeinschaftliches Initiationsritual (samnjhika vratabandha).
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Abbildung 4: Blick von Norden auf den Ritualplatz einer kƗlasarpapnjjƗ
Quelle: Christof Zotter, Deopatan, 8. Februar 2011
und 2. März 2011 (dem Feiertag MahƗĞivarƗtri) fand das Vorritual bis zum agnisthƗpana bereits am Vortag in den Räumen des Vereins statt. Die Klienten kamen nachmittags kurz vorbei und wurden daran erinnert, als »Observanz« (vrata) für die Zeit des Rituals kein Fleisch oder mit Zwiebeln und Knoblauch gewürzte Speisen zu essen. Das am nächsten Tag folgende Hauptritual fand jeweils an einem Platz nahe des PaĞupatinƗtha-Tempels statt.46 Am Morgen dieses Tages trug man die grahavedƯ und anderes Material aus den nahe gelegenen Vereinsräumen auf den Ritualplatz, wo dann unter freiem Himmel die ›Linien‹ des agnisthƗpana (siehe Kapitel 2) gezeichnet wurden. Der gesamte weitere Ritualaufbau wurde um diese agnisthƗpana-Struktur arrangiert (vgl. Abb. 4). In der Nordostecke wurden neben den navagrahas auch Mtyuূjaya, ĝiva und die Schlangen installiert. Die Klienten saßen auf Matten in einem Quadrat um den Platz herum, mit Blick auf das Zentrum, in dem sich die Priester bewegten, um Materialien zu verteilen oder einzusammeln, die Anweisungen des Hauptpriesters für diejenigen Klienten zu wiederholen, die außer Hörweite saßen, usw. Die
46 Im ersten Fall hatte man eine Fläche nur wenige Meter vom Westtor des Tempels gemietet. Im zweiten Fall war man aufgrund des Gedränges anlässlich ĝivarƗtri auf einen ruhigeren Platz in einen nahe gelegenen ƗĞrama am Gauri Ghat ausgewichen. Zumindest im ersten Fall erfolgte die ĞivapnjjƗ des Hauptrituals teilweise im Tempel.
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Klienten hatten im Voraus 3500 NRs. (entspricht etwa 35 Euro) bezahlt und bekamen dafür von den Organisatoren das gesamte Material gestellt, darunter Blattteller, Tonkrüge, ein (mit 24 Karat) vergoldetes Schlangen-yantra,47 das mitgenommen und zuhause weiter verwendet werden konnte, zwei kleine Silberschlangen (nƗga und nƗginƯ), die verehrt und am nächsten Tag rituell ›entsorgt‹ wurden, Blüten und andere als Darbringungen verwendete Materialien. Die pnjjƗs wurden parallel von den Priestern im Zentrum und von den Klienten auf vor ihren Sitzen stehenden Tellern vollzogen, wobei die Klienten jeweils am Ende einer pnjjƗ einige Darbringungen in die Mitte des Platzes brachten. Am Ende des Hauptrituals wurden nach einigen Abschlussriten die verehrten Schlangen nebst Zetteln mit den Namen der Klienten sowie Angaben zu deren Klan (gotra) und der jeweiligen Schlange in kleine Kunststofftüten verpackt. Das noch ausstehende ›Entsorgen‹ der Schlangen wurde am Morgen des dritten Tages als eine Art Ausflug gestaltet. Mit mehreren gecharterten Mini-Bussen fuhr man an den Zusammenfluss (saۨgam) dreier Flüsse etwa 50 km außerhalb Kathmandus, verehrte dort den Fluss GaৄgƗ, gab die Silberschlangen ins Wasser, erhielt von den Priestern das segnende »Bad« (abhi܈eka), badete im Fluss und ließ ein Kleidungsstück am Ufer zurück. Schließlich wurden als geweihte Speise (prasƗda) kleine Picknick-Pakete mit Gebäck, Süßigkeiten und Obst verteilt, die man vor der Heimreise gemeinsam verzehrte. Vor allem der letzte Abschnitt des Rituals hatte eher Event-Charakter, und die meisten Beteiligten genossen es, aus der Stadt heraus ›ins Grüne‹ zu fahren. Das Ritual versprach nicht nur die Beseitigung eines astrologischen Problems, sondern vermittelte auch das Gefühl, dass man für sein Geld etwas geboten bekam. Wie die Priester berichteten, wechselt gelegentlich das ›Ausflugsziel‹, und im zweiten Fallbeispiel wurde das Ritual in leicht vereinfachter Form vollzogen, da aufgrund des Feiertags weniger Klienten als sonst gekommen waren und der übliche Hauptpriester anderweitig beschäftigt war. Aber ansonsten scheint der beschriebene Aufbau und Ablauf beim eingespielten Priesterteam des Vereins etabliert. Wie ein Ritualaufbau trotz gleichbleibenden Veranstalters und Programms variiert werden kann, wird anhand der am 20. Dezember 2006, 19. März 2008 und 16. Januar 2011 in der Tempelanlage des DhanavantarƯ BƗrƗhƯsthƗna, im Ortsteil JvƗgala von Patan, beobachteten pnjjƗs
47 Eine Abbildung des yantras findet sich in TrivedƯ/TrivedƯ (2009: 321).
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deutlich. Der alte Gebäudekomplex unweit des Flusses BƗgmatƯ wird derzeit von dem Yoga-Zentrum eines Gurus genutzt, das dort mehr oder weniger regelmäßig eine »Verehrung zum Befrieden der Störung der schwarzen Schlange« (kƗlasarpado܈aĞƗntipnjjƗ) anbietet. Obwohl das Ritual in den genannten drei Fällen immer am selben Ort stattfand, wurde der verfügbare Raum jedes Mal anders okkupiert. Einzig die integrale ĞivapnjjƗ fand immer am festinstallierten li۪ga eines ĝivaSchreins auf dem Gelände statt, und die Schlangen wurden jedes Mal in der BƗgmatƯ ›entsorgt‹. Die anderen Gegenstände der Verehrung – Lampe, Krug, GaeĞa, die verschiedenen Diagramme usw. – wurden in den ersten beiden Ritualen in einer Reihe angeordnet, im letzten Fall jedoch (wie auch beim Vorritual im Vaidika SƗdhanƗ Kendra) in einem Quadrat arrangiert. Bei diesen Unterschieden in der räumlichen Anordnung spielten verschiedene Faktoren zusammen. So gab es unter den Priestern, auch an der Spitze der Hierarchie, personelle Veränderungen, wodurch jeweils andere Vorstellungen davon, was die beste Form sei, zum Tragen kamen. Zumindest für die Position der zu verehrenden Schlange könnte auch der jeweilige Kalendermonat eine Rolle gespielt haben.48 Vor allem aber musste man auf die stetig wachsende Kundenzahl reagieren und den Ritualaufbau so verändern, dass alle Teilnehmer Platz fanden. Schließlich nahm auch die zunehmend elaborierte Logistik Einfluss. Während man beim ersten beobachteten Fall noch unter freiem Himmel saß, wurde später mit Planen eine temporäre Überdachung aufgebaut, die zumindest bei Regen oder in der Mittagssonne das Ritual deutlich komfortabler machte, aber auch dafür verantwortlich war, dass die Feuerstelle verlegt wurde. Bei den pnjjƗs im BƗrƗhƯ-SthƗna fand auch bezüglich der zeitlichen Ordnung der Ritualteile eine markante Veränderung statt. Während man in den ersten beiden Aufführungen das gesamte Ritual an einem Tag absolvierte und den Klienten so ein mindestens achtstündiges Programm zumutete – was bei einigen Teilnehmern zu Ungeduld und Verstimmungen führte – wird mittlerweile auch hier das Vorritual bereits einen Tag früher separat veranstaltet. Diese durch einen Feedback-Prozess induzierte Modifikation hat einen doppelten Effekt: Das
48 In astrologischen Almanachen finden sich Angaben dazu, in welchem Monat der Kopf der Schlange bei einer nƗgapnjjƗ in welche Himmelrichtung zeigen soll (vgl. etwa Duৄgela 2010: 29).
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Abbildung 5: Zwei Priester verehren im Rahmen einer kƗlasarpapnjjƗ mit Hilfe eines Ritualhandbuchs das sarvatobhadramaঌala
Quelle: Christof Zotter, Patan, 20. Dezember 2006
Vorritual (bei dem ein Vertreter des Veranstalters als Opferherr fungiert und kein Klient anwesend sein muss) kann elaborierter vollzogen werden49 und am Haupttag wird kundenfreundlich Zeit gespart. Auch bezüglich einzelner Ritualelemente wiesen die drei Fälle Variationen auf. So wurde etwa im ersten Fall anstelle des li۪gatobhadraein zweites sarvatobhadrama۬ڲala verehrt (vgl. Abb. 5). Aber der Normierungsprozess schreitet rasch voran. Die drei derzeit in führender Position mit dem Ritual betrauten Priester verbessern und ergänzen bei jeder neuen Aufführung ihr sorgfältig geführtes Notizbuch, das sie demnächst als Ritualanleitung veröffentlichen wollen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Klienten am BƗrƗhƯ-SthƗna für 3000 NRs. (etwa 30 Euro) ein aufwendiges und logistisch50 wie perso-
49 Das Vorritual am 15. Januar 2011 dauerte ganze sechs Stunden. 50 Die Kommunikation erfolgte hier über Mikrofon und Verstärkeranlage. Während bei den Ritualen am PaĞupatinƗtha-Tempel ›Einweggeschirr‹ aus Blättern und Ton verwendet wurden, verteilte man im Yoga-Zentrum Metallutensilien, die nach dem Ritual wieder eingesammelt wurden.
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nell51 sehr gut ausgestattetes Ritual erhalten, das sich nun vor allem dadurch auszeichnet, zeitlich sehr kompakt zu sein. Die beiden hier vorgestellten Institutionen haben das neu aufgekommene Bedürfnis erkannt und jeweils mit einem eigenen Ritualangebot reagiert.52 Die innovative Leistung bestand nicht nur darin, aus den verschiedenen Vorlagen ein ›neues‹ Ritual zusammenzusetzen. Traditionell kann ein Priester im Ritual (etwa bei einer Hochzeit) zwar mit mehreren Akteuren zu tun haben, aber meist sieht er sich nur einem Opferherrn (yajamƗna) gegenüber. Die modernen kƗlasarpapnjjƗs sind aber auf Plakaten beworbene Gruppenrituale mit nicht selten mehr als fünfzig, teils bis zu hundert Kunden – zumindest in diesem Ausmaß eine völlig neue Herausforderung für die BƗhun-Priester. Die oben erwähnte Aufspaltung der pnjjƗ in die vom Priester im Zentrum und von den Klienten vor ihren Sitzen vollzogene Verehrung ist eine Antwort auf dieses Phänomen. Der multiplen Opfer-herrenschaft wird auch in Modifikationen der rituellen Beschlussformel (saۨkalpa) Rechnung getragen. Eine solche intentio solemnis (vgl. Michaels 2005), in der ein Opferherr in einer Sanskrit-Formel u. a. seinen Namen und Klan (gotra) nennt, ist zu Beginn eines jeden Rituals oder wichtigen Ritualteils abzulegen. Im BƗrƗhƯ-SthƗna sprach der Priester die Formel mikrofonverstärkt und zerlegt in wiederholbare Stücke (vgl. Deshpande 1999: 411 f.) vor und erklärte an den entsprechenden Stellen in Nepali, dass nun jeder seinen Namen etc. sagen solle. Bei den Ritualen am PaĞupati-Tempel las der Hauptpriester zu-nächst die komplette Formel unter Verwendung von »N. N.« (amuka), ging dann jedoch von Klient zu Klient und sprach mit ihm zusammen eine Kurzformel, in die er neben Namen und Klannamen des Klienten auch den Namen der jeweils zu verehrenden Schlange einbaute. Die Informationen entnahm er den zu Beginn des Rituals nach Abgleich mit dem
51 Für jedes Ritual waren 18–20 Priester engagiert worden. So erfolgte etwa die ĞivapnjjƗ, wie als Ideal vorgeschrieben, mit elf Brahmanen. Anders als bei den Veranstaltungen des Vaidika SƗdhanƗ Kendra, bei denen die 5–7 Priester auch für die Logistik verantwortlich waren, wurde hier das Verteilen und Einsammeln der Materialien, die Ausgabe von Essen usw. von einer Gruppe freiwilliger Helfer besorgt. 52 Bezüglich des Aufbaus des Ritualplatzes wichen alle nepalischen Fälle in mehreren Punkten von den indischen Vorgaben ab; vgl. etwa die Skizze in Bahala (2010: 112) und MiĞra (2007: 279).
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Kassenbuch verteilten Zetteln, die später beim Verpacken der Schlangen (s. o.) als Namensschilder dienten – eine sowohl kundennahe als auch logistisch geschickte Lösung. Es ließen sich etliche weitere Details anführen, die zeigen, wie das Ritual den Bedingungen und Bedürfnissen der Klienten angepasst, ästhetisch umgestaltet, kurzum verändert und ›designt‹ wurde. Aber wer sind eigentlich die ›Designer‹ dieses ›neuen‹ Rituals? Die priesterlichen Astrologen, die das Ritual aufgebracht und verschiedene Vorschläge zur Durchführung gemacht haben? Oder deren Leser, die sich aus den angebotenen Anleitungen ihr eigenes Ritual zusammenbauen? Fragt man für den konkreten Einzelfall nach den Akteuren, die das Ritual gestalten, stößt man meist auf ein noch komplexeres Zusammenspiel verschiedener Personen- und Interessengruppen. Zweifelsohne haben die Priester als Ritualspezialisten hier eine gewisse Autorität und Gestaltungshoheit. Aber, wie gesehen, können sowohl die Veranstalter, die in der Regel einen Großteil der Logistik organisieren, als auch die Klienten mit ihren Wünschen und Beschwerden sehr direkten Einfluss auf die Gestalt des Rituals nehmen. Selbst wenn man auf die Priester als vornehmliche Ritualgestalter, die die Vorschläge und Vorgaben der anderen Interessengruppen letztendlich umsetzen, fokussiert, wird deutlich, dass Rituale in Aushandlungsprozessen entstehen. Je nach Verteilung der Autorität konnte die Priesterhierarchie von einzelnen Personen stark dominiert werden, aber in keinem Fall stammte der Ritualentwurf ›aus einer Hand‹. Der Hauptpriester diskutierte den Ablauf mit seinen Kollegen und letztendlich übernahmen verschiedene Priester mehr oder weniger selbstverantwortlich die Gestaltung der ihnen zugewiesenen Ritualteile. Wenn bei der konkreten Formgebung wie im beschriebenen Fall verschiedene Personen(gruppen) beteiligt sind, können und müssen auch plurale Intentionen ausgemacht werden. Der ›organisierende‹ Guru, der von seinen Anhängern seine Lehrschriften an die Ritualteilnehmer verteilen lässt, wird das Ritual mit anderen Absichten initiiert haben, als die Priester, die es umsetzten. Bleiben wir bei letzteren: Der in Analogie zum modernen Industrie-Design kapitalistischer Produktionsweise naheliegende Schluss, dass ›neue‹ oder bestehende Rituale ›designt‹ werden, um besser verkauft werden zu können, darf für die geschilderten Beispiele nicht zu kurz gezogen werden. Die Priester aus dem erwähnten Verein arbeiteten unentgeltlich und auch die Bezahlung der ›gemieteten‹ Priester fiel eher gering aus. Dennoch kann ein
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ökonomisches Interesse nicht ausgeschlossen werden. Die Mobilität der modernen nepalischen Gesellschaft, vor allem die auch nach dem Ende des Bürgerkriegs nicht rückläufige Landflucht, hat zu erheblichen Störungen im traditionellen Priester-Klienten-System geführt. Insbesondere neu nach Kathmandu zugezogene Priester können nur noch in den seltensten Fällen auf einen vom Vater ererbten Klientenstamm zurückgreifen, der ihnen ein zum Überleben ausreichendes (Neben-)Einkommen sichert.53 Zumindest aus Sicht der Priester sind die neuen Sammelrituale daher auch wichtige Kontaktbörsen. Überzeugt ein Priester durch sein Wissen oder seine Performance, besteht die berechtigte Hoffnung, dass ihn einer seiner Kunden auch für eines der oft besser bezahlten Rituale privateren Charakters engagiert. Dies wird aber selten direkt und frei als Intention geäußert. Für die Debatte um mögliche Engführungen des Begriffes ›Ritualdesign‹ ist aber noch bedeutsamer, dass die Neuartigkeit des angebotenen Rituals üblicherweise nicht als wertsteigernd angeführt wird. Im Gegenteil, in allen hier behandelten Fällen wurde Werbung damit gemacht, dass man das Problem mit einem »vedischen« Ritual angeht. Dem alten ›heiligen‹ Sanskrit, insbesondere in seiner vedischen Form, wird von vielen Hindus eine ungeheure Wirkkraft zugemessen. Dies gilt auch – oder erst recht – für das Ritual, das die ›Sprache der Götter‹ in den richtigen Rahmen setzt und damit wirksam macht. Diese Überzeugung kann in modernen Bildern ausgedrückt und gedacht werden. So erklärte ein Priester, die kƗlasarpapnjjƗ sei wie ein »Antibiotikum« und wie bei anderer Medizin gebe eine einmalige Anwendung noch keine Garantie auf Heilung.54 Bedenkt man, dass damit geworben wird, dass mit diesem Ritual gleichzeitig verschiedene andere astrologische Probleme behoben werden können,55 könnte man hier sogar von einem neuentwickelten ›Breitband-Antibiotikum‹ sprechen. Dennoch, auch wenn meist (noch) zugegeben wird, dass das Problem ›neu‹ ist, die Lö-
53 Zum traditionellen Klienten-System der BƗhun-Priester im ländlichen Nepal vgl. Caplan (1972: 32 und pass.). 54 Für gewöhnlich empfehlen Priester, das Ritual insgesamt dreimal zu vollziehen; oder wie einer der Priester nach dem Ritual einem Klienten gegenüber erklärte: »Beobachte, ob es gewirkt hat, und wenn es noch Probleme gibt, komm wieder.« (Deopatan, 8. Februar 2011). 55 So etwa auf dem Plakatanschlag, der auf die pnjjƗ am 16. Januar 2011 hinwies.
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sung gilt als ›alt‹ und bewährt. Auch ›neue‹ Rituale ziehen ihre Wirkkraft aus der Tradition (vgl. Houseman 2011: 701). Dies führt zur Frage nach der gestalterischen Freiheit des ›Designers‹. In seinem Artikel zu »Design as Bricolage« unterscheidet Panagiotis Louridas (1999) zwischen dem modernen »selfconscious« und dem traditionellen »unselfconscious« Designer, wobei er letzteren in den Grenzen seiner Tradition gefangen sieht (vgl. dazu die Kritik von Klassen im vorliegenden Band). Paul Töbelmann (im vorliegenden Band) dagegen wirft die Frage auf, ob man überhaupt noch von einem ›Designer‹ sprechen kann, wenn die Freiheit des Gestaltenden so beschränkt ist, dass dieser nur noch als Ausführender erscheint. Eine klare Grenze lässt sich hier, wie auch Töbelmann feststellt, nicht ziehen. Bei der ›neuen‹ kƗlasarpapnjja scheint es noch recht einfach, anzuerkennen, dass es sich um ›Design‹ handelt, obwohl die meisten der verbauten Elemente vorgefertigt sind und auch die Art, wie diese miteinander verbunden werden, vielfach überkommenen Regeln und Mustern folgt. Wie am Beispiel der ›Linien‹ des agnisthƗpana gezeigt wurde (vgl. Kapitel 2), gibt es aber auch bei den althergebrachten Ritualformen gewisse Gestaltungsspielräume. So können auch traditionell etablierte Rituale (wie die saۨskƗras) in der Performanz individuelle Züge aufweisen. Oft ist dies sogar unvermeidlich, denn die normative Tradition, etwa die Ritualhandbücher, schreiben nur gewisse Eckdaten (welche Handlung, welcher Mantra, etc.), aber nicht das genaue ›Wie‹ vor. Meist setzt gerade hier in der Praxis die qualitative, oft ästhetischen Kriterien folgende Beurteilung an, was ein ›gutes‹ oder gelungenes und was ein ›schlechtes‹ Ritual ist. Fasst man den Begriff sehr weit, kann man auch in diesem Fall von ›Design‹ sprechen. Die Traditionsverbundenheit ›neuer‹ Rituale hat eine weitere Implikation. Obwohl die nepalische kƗlasarpapnjjƗ eine neue Auswahl, Kombination und Adaption von Ritualelementen darstellt, weisen die verschiedenen Ergebnisse eindeutig auf eine bestimmte Ritualkultur und tragen alle üblichen Zeichen des ›corporate designs‹ (vgl. Kapitel 2). Hätte ein newarischer RƗjopadhyƗya-Priester das Ritual gestaltet, was meines Wissens bisher noch nicht vorgekommen ist,56 sähe das Ritual mit Sicherheit anders aus.
56 Wegen der geringen Zahl praktizierender Priester herrscht bei den newarischen Brahmanen ein Überangebot an Klienten. Sie sind ausgelastet und haben wenig Zeit und Interesse, sich mit ›neuen‹ Ritualen zu beschäftigen.
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Da in Kathmandu bisher nur BƗhun-Priester dieses Ritual anbieten, die »Schwarze Schlange« dank moderner Medien aber rasant über geographische, soziale und ethnische Grenzen hinweg an Einfluss gewonnen hat, zählen zu den Kunden auch viele Newar, die zur Lösung ihres ›neuen‹ Problems ihre eigene, ›alte‹ Ritualkultur verlassen.57 Auch dies ist ein Aspekt der vielschichtigen Ritualdynamik, der mit Hilfe des auf einen ›Markt‹ verweisenden Begriffes ›Design‹ sichtbar wird.
4. Z USAMMENFASSUNG Um das analytische Potential des zumindest in der Ritualforschung noch unverbrauchten Konzepts »Design« aufzuzeigen, ging es im vorliegenden Beitrag nicht darum, einen möglichst scharf abgegrenzten Begriff ›Ritualdesign‹ zu formulieren und diesen dann an Beispielen auf seine Brauchbarkeit zu prüfen. Stattdessen wurden verschiedene Aspekte von ›Design‹ angewandt, um neue Blicke auf das Phänomen der Ritualgestaltung zu werfen. Nachdem in der Einleitung die historische Dimension der hier behandelten Tradition umrissen und auf den kompositorischen Charakter von Ritualen verwiesen wurde, ging es im zweiten Kapitel darum, ›Design‹ zunächst als ›Muster‹ zu untersuchen und am Beispiel der ›Linien‹ des agnisthƗpana einige generelle Prinzipien der Ritualtransformation und -umgestaltung aufzuzeigen. ›Designs‹ im Sinne von ›Mustern‹ werden auch bei der im dritten Kapitel vorgestellten »Verehrung der schwarzen Schlange« auf vielfältige Weise eingesetzt. Geometrische Formen, wie ma۬ڲalas und yantras, spielen im hinduistischen Ritual eine wichtige Rolle und tauchen in etlichen Abwandlungen auf. Sie geben dem Ritual sichtbare Ordnung. Hier ließe sich z. B. weiterführend fragen, inwieweit diese Ordnung nicht nur ästhetisch, sondern auch funktional wirksam ist, oder allgemeiner, welche Bezüge zwischen Form, Funktion und Wirkung sich mit dem Konzept »Design« feststellen und untersuchen lassen. Das Aufzeigen eines ›corporate design‹ des Rituals ist nur ein Aspekt, doch hier deutet sich meines Erachtens ein weit größeres mögliches Forschungsfeld an.
57 Priesterwechsel sind unter den Newar kein neues Phänomen und wurden z. B. bewusst zur Verbesserung der sozialen Position eingesetzt, vgl. Rosser (1966: 95 und pass.) und für weitere Referenzen Gellner (2010: 171).
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Im dritten Kapitel ging es vor allem darum, ›Ritualdesign als Prozess‹ zu beschreiben und für ein aktuelles Beispiel die Ritualgestaltung in den konkreten sozio-ökonomischen Kontext zu setzen. Im heutigen Kathmandu, einem modernen städtischen Umfeld, in dem, zumindest was die BƗhun und Chetri betrifft, die traditionellen rituellen Okkupationen und Patronagen extremem Wandel unterworfen sind, treten verschiedene Institutionen mit neuartigen Ritualangeboten auf den Plan, die anders als die traditionellen saۨskƗras nicht aufgrund einer sozialen Verpflichtung, sondern als Maßnahme zur Lösung individueller Probleme auf großes Interesse bei verschiedensten Bevölkerungsteilen stoßen. Obwohl diese mit massenwirksamen Medien (wie Plakaten) beworbenen, ökonomisch günstige Gruppenveranstaltungen viele Übereinstimmungen bezüglich Aufbau und Programm aufweisen, konnten verschiedene Strategien, das Angebot attraktiv zu gestalten, aufgezeigt werden. Zumindest für den zweiten Fall wurde durch Skizzieren der Entwurfsgeschichte der Prozess der Optimierung des Angebots nachverfolgt. Die Anpassung des Rituals an Kunden, etwa über Ökonomisierung oder den Transfer in neue Kontexte, ist keine neue Entwicklung in der brahmanischen Tradition, sondern zieht sich wie ein roter Faden durch die Ritualgeschichte. Immer wieder, mit teils großem Geschick, passten Priester und Ritualgelehrte ihre Tradition an sich verändernde Umstände an und sicherten so ihr Fortbestehen. Obwohl bei verschiedenen vorgeschlagenen definitorischen Einschränkungen die hier untersuchten Beispiele nicht mehr unter den Begriff ›Ritualdesign‹ fallen würden, etwa da der ›Designer‹ nur als korporatives Wesen (und im historischen Material oft gar nicht mehr) bestimmbar ist oder die Neuartigkeit des Produkts nicht Teil der ›Vermarktungsstrategie‹ ist, scheint ›Design‹ in einem weiter gefassten Sinne durchaus geeignet, fruchtbar den Blick für bislang wenig berücksichtigte Zusammenhänge zu schärfen.
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Ritual, Tradition, and the Force of Design∗ PAMELA E. KLASSEN
The concept of ›ritual design‹ has a doubled tension at its core: both terms, ritual and design, connote acts of human agency at the same time that they are forces to which human bodies must often bend. Put another way, we can ask, where is the power in ritual design? When thinking of design in particular as an act of human agency, the scale leans toward what might be called ritual intention—or how people purposefully make use of ritual and what Kerstin Radde-Antweiler calls »traditional scripts« in the service of religious innovation (RaddeAntweiler 2006: 66 f.). For Radde-Antweiler, ritual design, considered via the example of German Wiccan websites, is a conceptual tool for thinking about a radically individualized, technologically mediated ritual »Angebot,« the practical effects of which are difficult to determine. On this side of the scale, ritual design foregrounds the individual agency involved in ritual innovation.
∗
I am grateful to my uncle Victor Klassen for introducing me to the temascal, to Ron Grimes and Matt Nish-Lapidus for many helpful literature suggestions, and to Nadja Raith of Universität Tübingen for her excellent research assistance with this article. I would also like to thank the editors of this volume, especially Dr. Nadja Miczek, who, with Prof. Dr. Gregor Ahn, first invited me to think about ritual design in Heidelberg. Finally, I thank Roland Hardenberg and the Institut für Ethnologie at EberhardKarls Universität Tübingen for providing me with research assistance during my time as a Visiting Professor at the institute, and for the support of the Humboldt Foundation.
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On the other side of the scale, ritual design has been used to emphasize ritual constraint, or more specifically, the way history and discourses (in the Foucauldian sense of both ideas and practices) necessarily structure any ritual process, setting constraints on intentionality and the »newness« of innovation. Matthias Frenz, for example, argues that: Whatever shape ritual dynamics take, whoever is involved, whatever degree of intentionality is observable—if the ritual that emerges in the formation process is to be perceived as real, valid, and functioning, it is tied to the framework of the historic a priori. Ritual design is no exception in this respect. The deliberate fabrication of a particular ritual, the piecing together of ›ritual clippings‹ is only productive in the context of the historic a priori of the respective domain. (Frenz 2010: 13)
Frenz prefers to set individual agency in ritual innovation with the »frame« of the historical a priori (a concept he borrows from Foucault) to emphasize how changing senses of the past shape »ritual space.« For Frenz, space is »a limited entity with fuzzy borders which are discernible at a specific point of time but which are subject to historical change« (ibid.: 15). Frenz focuses on the example of a Marian shrine in South India to demonstrate that actors with various levels of power over the most sought-over ritual spaces—churches and procession routes—are involved in launching and policing new forms of ritual design at the margins and the center of this space, but that all human actors are limited by what the historical a priori—itself a shifting kind of constraint—allows to take place. While both approaches to ritual design share some commonalities, they differ in emphasis: Radde-Antweiler’s study of Wiccan ritual formulae on the Internet highlights individual agency and innovation as aspects of ritual design, whereas Frenz’s study of South Indian Marian devotion focuses on how history and space both constrain and enable ritual innovation. In this essay, I want to approach the question of intentionality and constraint from a different angle, by engaging primarily not with theorists of ritual, but instead with theorists of design. This has led me to thinking not only of how people act as agents of ritual innovation or ritual intentionality, or how history constrains their innovation, but also to consider the ›force‹ of built and natural environments on the human pursuit of ritual activity. More specifically, I ask the question, how do buildings and structures, as commodified and his-
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toricized artifacts, exert the force of design upon rituals and bodies? I reflect on two very different contemporary North American examples of ritual innovation within built forms: the current revival of the Mexican temascal, or sweat bath, among a wide variety of Mexicans and tourists, and the diversity of new ritual forms, including church yoga, inhabiting large urban Protestant Canadian churches with declining numbers of congregants.1 Built environments are dynamic (Kilde 2008: 3); they are akin to what Birgit Meyer has called »sensational forms,« or the modes and matter involved in »invoking, framing and rendering accessible the transcendental« (Meyer 2006: 9). Sensational forms, and more specifically buildings, help to ›produce‹ the very notion of the transcendent at the same time that they provide the spaces in which religious practitioners go to ›experience‹ it . My argument takes sensational forms one step further, contending that the ways that built environments frame space and their active—even sometimes coercive—effects on the human body make built environments ›actors‹ in the design of ritual. Here I borrow from Bruno Latour’s sense of the vitality of »quasiobjects« and the keen sense of design theorists that design shapes the human body, just as human bodies shape design (Latour 1993: 73). For Latour, quasi-objects »mix up different periods, ontologies, and genres« and also »trace networks« (ibid.: 89 f.); they can take many forms, from the materiality of architectural style to the discursive form of narratives. Buildings, then, are quasi-objects that do what Latour calls the »work of mediation.« They are not simply inert structures, but »original events«—in Latour’s words, they are »actors endowed with the capacity to translate what they transport, to redefine it, redeploy it, and also to betray it« (ibid.: 81). Paying attention to the interplay among building, body, history, and economics, I bring together the field of design studies with that of ritual studies, to open up another channel for thinking with the concept of ritual design.2
1
Another fascinating example of the force of design on ritual, in this architectural sense, could include prison chapels, where the forced enclosure of the inmates has a range of unpredictable religious and ritual effects (Becci 2010).
2
Bringing together ritual studies with design studies has a parallel precursor in the fruitful conversation between ritual studies and performance studies (Grimes forthcoming).
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1. D ESIGN S TUDIES /R ITUAL S TUDIES Design studies is just as ›new‹ a field of study as that of ritual studies, beginning in the 1960s with architects, artists, and theorists who sought in part to critically understand, and to resist, the overwhelming profusion of ›designed‹ consumer goods that were flooding European and North American ›markets‹ (Clark/Brody 2009). Critics of design wrote both books and manifestos, emphasizing how design was everywhere, but that its politics, histories, economics, and cultural assumptions needed to be more overtly exposed and investigated in order for design to be not (only) a capitalist tool but (also) a democratic force (ibid.). Design is an activity that is deeply pervasive, underlying everything from the food we eat and the clothes we wear, to the buildings we work and live in, and the word processing systems we use to write. It is not hard to see, then, how design, like ritual, can be a very capacious term—it presumes a kind of universality that carries both great interpretive power and the risk of dissolving into a meaningless ubiquity (cf. Bell 1992). Within the field of design studies, definitions of design range widely. In his frequently cited 1964 book, »Notes on the Synthesis of Form,« architect and design theorist Christopher Alexander wrote that design was »the process of inventing physical things which display new physical order, organization, form, in response to function« (Alexander 1964: 1).3 Also in the 1960s, Anni Albers, a textile artist and German émigré to the United States, cultivated a theory of design as a path to »wholeness,« offering this definition: »Material form becomes meaningful form through design, that is, through considered relationships« (Albers 2000: 76). John Chris Jones, another design theorist active in the 1960s, offered this broad definition of design: »to initiate change in man-made things« (Jones 2009: 78). At the heart of these diverse definitions is the question of the effects of human imagination, activity, and relationships upon the givenness of materiality— the stuff the world is made of—and the related question of how the products of human innovation—›designed things‹—relate to the past and the future. At the same time, there is a notably ›metaphysical‹ or
3
Christopher Alexander’s book is still cited often in design studies literature, and a Toronto designer recommended it to me as a place to start for thinking about ›design‹.
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›mystical‹ cast to many definitions of design, in that the ›meaning‹ inherent in design is not located solely in human activity, but in an elusive ›wholeness‹ or ›good fit‹ between designed things, human bodies, and relationships to a variety of quasi-objects, including ›the earth‹. Many design theorists share convictions that some ritual theorists continue to cultivate: namely, that 1) design is (like ritual) a human activity—or technique—that reaches far back into antiquity, and that 2) design is fundamentally constitutive of what it is to be human (Willem 1991: 132–136 and Rappaport 1999). Design theorists also share an assumption with some ritual theorists that design (like ritual) operates as both an unreflective practice and as a highly reflexive one. For example, Panagiotis Louridas, a scholar of computing design, borrows Claude Levi-Strauss’ notion of bricolage (a favorite of ritual theorists as well) to argue that »unselfconscious designers« work in an iterative (or perhaps citational) fashion, constrained both by tradition and the limitations of the material they have at hand, but nevertheless creating »vernacular styles« (Louridas 1999: 525). By making structure out of »contingent events,« unselfconscious designers achieve a result akin to bricolage, that when it is »good design« is beautiful and fits its context well (ibid.: 522). Louridas contrasts the traditional designer with the »modern,« professionalized, »trained« designer—also a bricoleur, but one with a heightened reflexivity, less constrained by tradition than by the modern compulsion to innovate and differentiate his or her work from that of others: »He has to tackle the contingency, without any a priori limits set by tradition. In a sense, tradition designs through the unselfconscious designer. But the self-conscious designer has to design for himself« (ibid.: 526).4 Interestingly, Louridas situates this hyper-autonomy of the designer in the transition to capitalism, in which technological change and a drive for profits caused design to be separated from manufacture. A capitalist mode of production values innovation in and of itself couched under the rubric of freedom, in which the consumption of new products becomes a central way to demonstrate one’s originality. As-
4
See Anni Albers critique of this »design as freedom« thinking (Albers 2000). The work of Judith Butler on performativity and citationality could also be deployed to critique the »bound-by-tradition« hypothesis (Butler 1993).
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pects of this drive to originality, albeit largely through mimicry across architectural ›fields‹, can be seen in the mutual influences among entertainment venues, corporate headquarters, and church architecture in North America.5 Louridas drew his distinction between unselfconscious and selfconscious design from Alexander’s »Notes on the Synthesis of Form« (1964). Alexander argued that unselfconscious designers—Amazonian Indians, ›Eskimos‹, Navajos, and even some southern Italians— achieved »good fit« between form and context, and thus produced designs far superior to those of the building industry of post-war suburban America. They were able to do this, Alexander argued, because, as unselfconscious designers, they were not able to innovate—they were bound by the »rigidity« that comes with ritual, myth, and tradition, and thus continually rebuilt the same dwellings in accordance with the past, only making small and immediate changes to »fix« misfits with the environment and to maintain »equilibrium« (Alexander 1964: 50 f.). Self-conscious design, by contrast, saw the shift from »traditional craftsmen« to »architectural individualism,« in which the designer became unmoored by the arbitrary and unlimited horizon of his own inventiveness, and designed more problems than he solved (ibid.: 57). What was Alexander’s solution? To establish rationality to the process of design, dependent, in his view, on cultivating a »feeling for« the process of design (ibid.: 35). Alexander went on to write »The Timeless Way of Building,« a sort of mystical blueprint for what he called the »fundamental order« of architecture and planning—one part I Ching, one part New Thought, and one part 1970s Berkeley, in which he recommends building according to the »quality that has no name« by rejecting the »system« and it methods: […] to purge ourselves of these illusions, to become free of all the artificial images of order which distort the nature that is in us, we must first learn a discipline which teaches us the true relationship between ourselves and our surroundings. Then, once this discipline has done its work, and pricked the bubbles of illusion which we cling to now, we will be ready to give up the disci-
5
For critiques of the capitalist commodification of design from within, see Clark/Brody (2009). On church design, see Kilde (2005 and 2008), Loveland/Wheeler (2003) and Clarke (2009).
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pline, and act as nature does. This is the timeless way of building: learning the discipline—and shedding it. (Alexander 1979: 15 f.)
In a complex blend of feeling and reason, rigidity and individualism, Alexander’s version of design considered innovation to come from the shedding the constraints of culture and embracing the freedom of nature. Differentiating self-conscious modern from unselfconscious traditional design along an axis of autonomy in which the reflexive designer designs for himself, free from tradition but under the conditions of capitalism, is a distinction with a familiar ring to it. Drawing the line between unselfconscious and self-conscious design along a boundary of traditional, repetitive practice and capitalist, innovative practice, Alexander moved into the fraught territory of neo-primitivism, as defined by Victor Li. For Li, neo-primitivism perpetuates the idea of Western modernity as »rational« and self-critical through the essentialization of the primitive as traditional and holistic; in fact, Li argued, the study and construction of »primitivism« as an unreflective, holistic »techne« (or design) was a distinction that »enabled the West to be self-critical, to free itself from itself« (Li 2006: 12). Victor Li directly addresses the relationships among ritual, history, and economy by considering Jürgen Habermas’ theories of modernity as a case in point. Li argues that Habermas’ return to the work of scholars such as Malinowski and Durkheim enacts a neo-primitivism in which »Habermas opposes modern economy to archaic or primitive exchange with its lack of differentiation between economy, kinship, religion, and social norms« (ibid.: 182).6 Considering the »ritual exchange of valuable objects« in primitive exchange to be a social mechanism that does not recognize a separate »economy,« Habermas secures a line between ritual object and capitalist commodity (Habermas quoted in ibid.: 185). A neo-primitivist distinction between ritual space and capitalist commodity becomes particularly problematic when thinking about the temascal and the church. The temascal is often categorized by scholars and laypeople as »traditional« pre-Hispanic architecture, at the same time that the church is considered consecrated space by Christians and tax-exempt property by the State. In contemporary Mexico and Canada, however, both the temascal and the church
6
See also Latour (2009).
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operate in overlapping fields of tradition and economy, as rituallymarked built environments that are at once ›consecrated‹ and ›real estate‹. In the changing cultures of revival and decline that shape the temascal and the church, how do design and ritual together serve as nodes of history, tactility, and economy that constrain the very possibilities of crafting the new? The scholar of religion who has most directly focused his attention on the intersection of ritual and design is Lindsay Jones, whose twovolume work, »The Hermeneutics of Sacred Architecture,« explores what he calls »ritual-architectural events,« or the conjunction of built forms and ritual action in the context of specific occasions (Jones 2000a and 2000b). Drawing from philosophers such as Heidegger and Gadamer, Jones argues that built environments are »events« that are deeply formative of ritual practice. It is the task of the scholar of religion, he contends, to work comparatively with the help of what he calls morphologies of ritual-architectural events to trace out »reception histories« of the congruence of ritual and architecture (Jones 2000a: 195). Similarly to theorists of design, Jones offers a rather broad definition of his concept of ritual-architectural events as »occasions in which specific communities and individuals apprehend specific buildings in specific and invariably diversified ways« (Jones 2000b: xiii). I find the concept of the ritual-architectural event helpful for its insistence that the »superabundance« of built environments shapes what kinds of rituals people can enact, while also calling forth certain kinds of bodily comportment and establishing certain kinds of religious ambiance.7 That said, Lindsay Jones also puts forward an almost mystical conceptualization of the relationship between architecture and time similar to that of some design theorists. He frequently depicts »archaic« or »traditional« religions as timeless entities that can be directly accessed through his cited scholarly writings, many of which are decades old. But, as Bruno Latour has made clear, just as »we have never been
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For more on the notion of »ambiance« see Matthew Engelke’s notion of »ambient faith,« which he describes as a »sensual semiotics« that reveals how particular historical and cultural contexts of material culture, notions of public and private, and religious »tradition« all combine to make certain kinds of religious display more acceptable, unnoticed, and unpredictably powerful than others (Engelke n. d.).
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modern,« we (and/or they) can never be traditional—the practices of »purification« by which modernity and the traditional, nature and culture, human and thing have been distinguished in Western, scientific cultures obscure the networks that bind all these categories together (Latour 1993). In fact, Latour argues, echoing Simone de Beauvoir: »One is not born traditional; one chooses to become traditional by constant innovation« (ibid.: 76). Any evocation of tradition in the ritual-architectural event—whether thus named by practitioners or scholars—returns us to the balancing act between the force of design and human innovation. In my use of the term, then, ritual-architectural events must be understood as historically sedimented, locally crafted, and economically constrained conjunctions of embodied people and built environments, designed matter and invented traditions.
2. T EMASCALS : T HE P RE - HISPANIC P AST AND THE G LOBAL G RAN M ISTERIOSO The temascal and church yoga are both compelling examples of ritualarchitectural events that do the work of mediating the ›matter‹ of built environments with the ›bodies‹ of ritual in contexts where tradition and innovation are hotly debated. As it is used in Mexico, the word temascal (or temazcal) signifies both the structure that houses a sweat bath, and the process of a person undergoing the event of the sweat bath.8 In the colonial era, both the state and the Catholic Church condemned temascals as unhygienic, immoral sites of paganism and sexual license. Over the course of the twentieth century, however, a growing movement of Mexicanidad has sought to revalue and re-appropriate pre-Hispanic cultures through both scholarly reassessments and popular practices (Gonzales Torres 1996: 17). Attributed with healing, medicinal effects as well as with spiritual transformations, the temascal is framed at both elite and popular levels as an indigenous
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There are several words for the »sweat bath« in Spanish, but temascal is the most popular and widespread today. The sweat bath is found in indigenous cultures throughout Mexico, the United States and Canada. See Lopatin (1960), Fisher (1951), Findeiss (2007), Alcina Franch/Cuidad Ruiz/ Iglesias Ponce de León (1980), Contreras (2001), Groark (1997), Wilson (2003) and Child (2007).
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tradition that offers new benefits in a Mexico awakening to its spiritual heritage. As such, the temascal is part of a growing reclamation of »indigenous« traditions, spurred in part by migrants returning from abroad (De la Torre Castellanos 2009: 41). At the same time, the temascal has also been commodified, offered by hotels and spas as a way to »purify the soul« and as a form of »medical tourism«.9 One can even visit a temascal in the Canary Islands led by a German practitioner trained in »traditional Mexican medicine«.10 Scholars approaching the question of the temascal from archaeology, medical anthropology, and religious studies are divided on whether the temascal is a ritual-architectural event in decline or in revival in Mexico. Regardless of the numbers of actual temascals in Mexico, it is clearly a built form that has provoked new rituals and new social imaginaries of spirituality and health in Mexico and beyond.11 The temascal is able to produce such political and spiritual effects precisely because of what the built form does to the human body, within the context of a ritual-architectural event. There are several architectural and regional varieties of temascals in Mexico, but they all share the basic structure of a small room enclosing a pile of very hot rocks upon which water is poured to create steam.12 Temascals are often used for pregnancy and childbirth-related matters, and in some regions households build (and ritually ›open‹) a temascal as a family bath (Groark 1997). But temascals are also increasingly popular as re-
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See MedToGo (2007) and Hotel La Casona (n. d.); both web pages.
10 See TEMAZCALLI ICHAZAGUA, web log. 11 Findeiss has argued that the household temascals of Highland Mexico were in decline due to pressures of urbanization (Findeiss 2007), and Alcina Franch, Cuidad Ruiz and Iglesias Ponce de León (1980) contended that the temascal had lost its religious significance to become simply hygienic and therapeutic. In contrast, Contreras argued that such reductive analyses missed the multifaceted nature of the temascal revival, including its role in the »neocurandero« movement, and its significance for the new vision of Mexican indigeneity on the part of both intellectuals and campesinos (Contreras 2001: 140). See also Gonzales Torres (1996) and Groark (1997). 12 For a discussion of the architecture and rituals surrounding the building and opening of temascals in different regions and historical periods, see Groark (1997), Findeiss (2007), Alcina Franch/Cuidad Ruiz/Iglesias Ponce de León (1980) and Houston (1996).
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Figure 1: Temascal in central Mexico
Photo by author, 2009
curring rituals for spiritual, emotional, and bodily cleansing, in which a temascal leader invites family, friends, acquaintances, sometimes including tourists, to gather in a sweat bath that usually last between three to five hours. One of the more common types of temascals currently found in central Mexico is a small dome made of cement and adobe, with one small door and evenly-spaced airholes around the perimeter. Temascals can house groups of approximately ten to fifteen people, and reach temperatures of between 30° to 50°C (Fig. 1). The dark dome is entered crouching, and then one crawls clockwise around the pit of burning hot rocks to find a place to sit, with one’s back against the low overhang of the dome, feet pointed toward the pit. Once all are gathered, more heated rocks are added to the pit, each rock welcomed by the group with a greeting such as »Bienvenida abuelita, corazón de la tierra« (»Welcome grandmother, heart of the earth«). The curtain at the opening of the puerta (door) is closed and the airholes filled with cloths, and the temascal is in complete darkness. The temascal leader sprinkles water and herbs on the rock, the steaming heat slowly rising in an overwhelming blanket, stifling one’s breathing little by little, doing the work of the sweat bath. The temascal encloses a powerful ritual of cleansing and regeneration that, in the hands of some leaders, blends indigenous and Chris-
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tian Mexican traditions with a cosmopolitan sensibility that welcomes into the dome the gran misterioso in whatever form it might take: Mother Earth, Ometeotl, Jesus, Buddha, and Mohammed.13 Rooted in a four-stage metaphor of the ideal life cycle, the temascal is both a psychological and physical test, experienced communally among family, friends, and sometimes strangers, lying next to each other in the dark. The heat intensifies throughout the four symbolic puertas of the temascal—the first representing childhood, the second adolescence, the third adulthood, and the fourth, the stage of elderhood. In self-consciously ›spiritual‹ temascals, the leader encourages the participants during each puerta, giving them a chance to address their personal struggles to Ometeotl, the Nahuatl mother/father creator divinity. Collectively, the group may sing folk songs, Christian hymns, and indigenous chants. In some temascals, the leader insists that all participants must remain inside during all four doors, but other leaders allow those participants who need a breath of fresh air and a drink of cold water to exit between the puertas. By the last puerta, the hottest one, silence largely reigns, until finally, the leader calls out »Puerta!« and participants emerge from the darkness into the daylight to pour cold water over sweating bodies. Participants then take some time to adjust to the outdoors, resting their bodies, dipping in a cold pool, or drinking water and eating snacks. Upon leaving, participants are given an opportunity to leave a small donation in a dish as a token of their appreciation (Fig. 2). A practice often coded as »religious« or »spiritual,« but situated outside of any larger institutional structures, the ritual innovation of the temascal has its parallels in Mexican/American traditions of curanderismo (healing), which readily blend Ometeotl and other indigenous divinities with Christian symbols and rituals, statues of the Buddha and Shiva, and practices of Afro-Caribbean Santeria.14 The hot, steamy dome of the temascal, especially when bringing together strangers and acquaintances, is an incubator for criss-crossing religious flows and personal testimonies, none of which can be easily encapsulated into a particular religious identity. The structure of the temascal, however, al-
13 I base my discussion of ritual of the temascal on the anthropological literature cited above and my own experience of a temascal in central Mexico. 14 On curanderismo, see León (2004).
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Figure 2: Table beside temascal
Photo by author, 2009
so coerces a shared physical reaction in all its ritual participants; its intense heat is ambivalently viewed as both healing and dangerous, demanding submission and respect (Groark 1997: 35). Those with more practice are better able than others to cope with the ordeal of intense heat, closed air, and darkness, but all participate in the antiquity of the temascal’s ritual-architectural coercion by virtue of their sweating bodies, guided by the leader to think of their sweat as produced by literal »petrified historical events«—the rocks given by mother earth (Taussig 1993). At the same time, the invocation of a diversity of deities makes the temascal an instance of both tradition and cosmopolitan blending. In contemporary Mexico, the mixed assemblage of people who now sweat their way through this ritualized condensation of the life cycle submit themselves to the ritual design of the temascal by allowing the heat to »warm« their bodies both therapeutically and ritually (Groark 1997). Silently commodified in the donation dish at the side of the temascal, the ritual design of the temascal depends on antiquity to produce the new, at the same time that it enacts a new configuration of antiquity.
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3. C HURCH Y OGA: N EW M OVEMENTS IN O LD R OOMS The temascal revival demonstrates clearly what I found in my other example of a ritual-architectural event, yoga in contemporary Protestant churches. Both the temascal and church yoga are ritual-architectural events that evoke tradition in their innovation via a relationship to the past—a ›historicity‹—that is not always intentional or overt, but that necessarily carries the weight of Christian colonialism along with its ritual design.15 Western Christian yoga practitioners revalue a practice once considered heathen by their fellow Christians—namely yoga—by performing the sun salutation or the downward dog in a sanctuary or parish hall that would have never been the site of such bodily movements one hundred years ago. In the case of the temascal, practitioners turn to both Grandmother Earth and Jesus to revive a tradition once (and still) condemned as heathen by many Christian missionaries. Though old churches as (often drafty and cold) buildings do not produce the same predictable bodily effects as the heated dome of the temascal, both are quasi-objects carrying their own history with them in their bricks and their designs. Like the temascal, ›the church‹ is both a building and a practice—Christians speaking of going to church as well as ›being church‹, inhabiting a space as well as being a community. Both are quasi-objects literally grounded on the authority of tradition, but a tradition that implies, and even demands, innovation. At the same time, the temascal and the church are ritual-architectural events that are at once sensational forms for accessing the transcendent and commodities in the market of ›real estate‹. Despite its antiquity as a ritual-architectural event, many active Mexican temascals have been built more recently than most of downtown Toronto’s churches. I visited many such churches in the process of fieldwork for my book on the changing understandings of healing among Canadian liberal Protestants (Klassen 2011). I was struck repeatedly by the contrast between the nineteenth-century architecture of neo-Gothic and Edwardian churches meant to evoke a particularly Christian past and the twenty-first century diversity of »healing prac-
15 I discuss the relationship between yoga and Protestant Christianity in more detail in Klassen (2011) and Klassen (2005).
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tices« that took place inside their walls, including yoga, Reiki, meditation/bible study groups, and Taizé prayer and healing services. For many churches, this ritual cosmopolitanism has emerged partly in response to the pressures of commodification and changing real estate markets in the city. Mostly built in the late nineteenth and early twentieth century, Protestant and Catholic churches anchor Canadian street corners in both large cities and small towns with astonishing regularity. Many of these churches, however, house declining congregations—what were once optimistic buildings holding hundreds of worshippers are now large, expensive-to-maintain edifices with congregations in the dozens, or with multiple congregations often divided along ethnic lines. With the hindsight allowed by the demography of a country shaped both by a growing ›non-religious‹ population and by increasing religious diversity, the architectural dominance of Christianity in the cityscape could now be read as failed urban planning. With a more specific lens, we can see how these artifacts of BritishChristian imperialism have become new sites of ritual innovation with complicated relationships to the past. In one church where I worked, yoga classes were offered as part of the ›community outreach‹ of the church. The two-hour Saturday morning classes were a time of relaxation and exertion, in which the teacher, Nadia, had carefully prepared the old parish hall with dimmed lights, yoga mats, and an ›ersatz altar‹ with candles and icons of the Black Madonna and the Mohawk Christian Kateri Tekawitha. With Nadia’s gentle encouragement, the class of beginners and more advanced students stretched their way through yoga poses and learned the basics of ujjayi breathing, all the while inhabiting the high-ceiled, neo-Gothic space designed for nineteenth-century rituals of eucharists, baptisms, and church suppers. Nadia herself considered the yoga classes to be not only bodily manipulations, but also interventions into the historicized space of the church: Like any kind of consecrated space, there’s a layering of energy, because this [space] has been used for years and years and years. I mean, it’s like when you have an altar at home or a prayer room, vibrations build up. (Nadia [pseudonym], interview 2001)
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Figure 3: Protestant Church turned into a theatre and dance school
Photo by author, 2010
Adding another layer to this sedimentation of vibrations, Nadia’s combination of ritual and design bears similarities to the broadly ›spiritual‹ invocation of the gran misterioso in a temascal. As she phrased it: That was part of my discipline, if you want to call it […] to be available and open to whoever came, to try to create a nice space and to also try to find ways of including spirituality but without naming it in a particular way. (Nadia [pseudonym], interview 2001)
For Nadia, however, the building of the church was not the main route of access to the authority of tradition. Instead, she pointed repeatedly to the antiquity of yoga, often using Sanskrit terminology. At the same time, she described the therapeutic and stress-relieving benefits of yoga in terms of a scientific discourse of physiology. Of the people who came to Nadia’s yoga classes, some were from the congregation and many were not. The people in the church were not gathered in a group to practice »Christian yoga« per se, which itself has developed as an invented twentieth-century tradition.16 By vir-
16 See, for example, Winslow (1923), Appasamy (1926), Déchanet (1960) and Roth (1989).
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tue of the building, however, they all were practicing »church yoga«. They exerted their bodies in relation both to a ›tradition‹ of yoga and a ›tradition‹ of Christianity, evoked through icons, stained glass, and neo-Gothic arches. Lying in repose at the end of the class, however, the participants could not count on the building warming them up. For that, they had to depend on Nadia’s act of compassion, as she placed woolen blankets on every cooling body. The antiquity and ›timelessness‹ of bodily reactions to the culturally created ordeals of the temascal and yoga postures—the sweat, the pain, the bursts of clarity—are what give them much of their power.17 In a culture steeped in a message that design is ›freedom‹ yet increasingly aware that the unceasing design of products has a price tag and a growing residue of waste that binds us all, ritual designs that provoke physiological ›truths‹ across cultures and religions may be a particularly attractive form of innovative constraint.
4. T RADITION , O BSOLESCENCE , L IVES OF B UILDINGS
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The churches where I did my fieldwork had held off the threat of closure by sharing their church buildings with other congregations, and renting out rooms for a wide variety of activities, such as dance classes, non-profit groups, summer children’s camps, and daycares. Other churches have not been so lucky. They have been transformed from ritual-architectural events in a Christian idiom to structures of domesticity and real estate, becoming condominiums, mosques, and
17 Church yoga is reminiscent of what Millicent Hodson has called the »ritual design« of Nijinsky’s highly controversial choreography of the ballet RITES OF SPRING (1913), itself a kind of neo-primitivism. Hodson argues that Nijinsky sought to stage not a dance but a »rite,« designing the »theatrical« space of the stage, the rhythms of the music, and the choreographed bodies of the dancers as a performative innovation, on the line between ritual and dance. Hodson adds: »the irony is that what seemed new was the ancient technique of altering states of body consciousness through rhythmic ordeals« (Hodson 1985: 41). For the »ritual design« of Nijinsky’s ballet by different choreographers see the contribution of Hanna Walsdorf in this volume.
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schools of dance (Fig. 3). In their very material monumentality and their relative ubiquity, these churches are reminders of what once was a confident Christianity, and what now is uncertain, if not obsolete. The most precarious churches, on the verge of deconsecration, often struggle to prevent their commodification into naked structures of design that no longer house Christian rituals. When a church is deconsecrated, the process involves both ritual and urban planning, as community groups, historical societies, architectural heritage groups, and government all consider themselves to have a stake in the process, along with the closing congregation.18 Ritual design, then, also makes way for considering how the built environments of rituals can be both ›sacred spaces‹ and commodities. Architectural historian Neil Harris argues that buildings themselves live through life cycles in which rites of passage mark their erection, preservation, and often, their decay (Harris 1999). We can see this architectural ritualism in the case of both temascals and churches, as they are ritually opened, memorialized, and sometimes closed (Groark 1997). Harris argues that analyzing the ritualization of built environments generates critical insight into the ways that »constructed buildings contribute so powerfully to the mythification of social reality« (Harris 1999: 165). Considering buildings not only as ›sacred space‹ but as structures that have their own ritual histories, reveals shifts in meaning and power that we misrecognize either by being oblivious to our built environments or by aestheticizing them out of their historical context. As Harris puts it, »the elements« for a ritual history of the lives of buildings, »the stories, the folklore and ceremonies and procedures, lie all around us, so numerous, so trivialized, so repetitive that they have narcotized us about their larger meaning« (ibid.: 166). Thinking about ritual design in this sense, then, allows us to locate the built environments of ritual practice as at once ›sacred spaces‹ that are ›set apart‹ by rites of purification or tax-exempt status, and also as forms of real estate, or commodities, built out of particular physical materials. These buildings, in their very materiality, set constraints on human interac-
18 See the work of Ronald Grimes and Barry Stephenson on the deconsecration of a church in Southern Ontario: HIGHGATE: THE DECONSECRATION OF A
CANADIAN CHURCH, REVISED VERSION (2011). See also the docu-
mentary MONEY AND THE MAKER (2006) by Robin Benger.
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tion, while also compelling an encounter with their historicity, or the ways they articulate the past in the present (Klassen 2005). Bruno Latour makes a similar point in a recent essay, arguing that the proliferation of the concept of ›design‹ demonstrates his thesis in »We Have Never Been Modern«: design lays bare the ways that the past is always with us, that progress, mastery, and innovation will never emancipate us from our attachment to and our dependence on living with material objects and technologies within the constraints of earthly existence (Latour 2008). Or, to put it another way, the ›life support‹ that surrounds us—food, shelter, breathable air—complicates the line between humans and thingness. Latour argues: The expanding concept of design indicates a deep shift in our emotional make up: at the very moment when the scale of what has to be remade has become infinitely larger (no political revolutionary committed to challenging capitalist modes of production has ever considered redesigning the earth’s climate), what [it] means to ›make‹ something is also being deeply modified. […] [T]hings are no longer ›made‹ or ›fabricated‹, but rather carefully ›designed.‹ (Ibid.: 3 f.)
There is, of course, a certain irony to marshalling design as an antidote to the progress narrative of modernity, since design, in both its historically embedded and innovative modes, is considered to be both the source of and the solution to many of the environmental and social crises of our time (Baumann 2009). However, Latour’s understanding of design as a conceptual tool for undoing the very distinctions between modernity and the archaic puts us in a very different universe than that of Alexander. In this, we can see the ways that the concept of design, like that of ritual, can work both to uphold classificatory power and to disrupt it. A somewhat less optimistic reading of design’s historical embeddedness is found in anthropologist Michael Taussig’s discussion of the curious power of obsolescence in capitalist modernity, in which the designs of old technologies, precisely because of their obsolescence, allow the past to haunt the present in a »gorgeous billowing forth of superseded promise« (Taussig 1993: 232). For Taussig, the commodity does more than yield the measure of history as time. It is also the petrified historical event where nature passed into culture, where raw material combined with human labor and technology to satisfy cultured design.
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Standing thus at the crossroad of past and future, nature and culture, and submerging birth in death, the commodity is hardly a sign or symbol. Only in religion and magic can we find equivalent economies of meaning and practises of expenditure in which an object, be it a commodity or a fetish, spills over its referent and suffuses its component parts with ineffable radiance. (Taussig 1993 233)
Even in its »superseded promise,« the obsolescent commodity (perhaps a church?), by way of its very materiality, is a monument to stuff, human labor, and the act of design. The question remains, however, whether religion and magic are merely »equivalent« economies of meaning and expenditure, or whether the designed commodity is actually ›necessary‹ to religion and magic, and whether, in fact, the designed commodity is actually necessary to ritual dynamics.19
5. C ONCLUSION ›Ritual design‹ is most helpful for the ways it brings together ritual and commodity, and wider questions of tradition, historicity, and the retrieval and creation of desire through materialized practices. Many theorists and practitioners of design are both theoretically engaged and technologically capable—they may not always have what Catherine Bell called a »sense of ritual« but they do have a ›sense of technology‹, allowing them to see new ways that technology operates as a kind of ›design for ritual‹: how people use cell phones to initiate new forms of mating rituals, or turn to obsolete forms, such as the ›mixed tape‹ of compiled music in order to tap into the nostalgic frisson of older techniques of courting.20 In addition to this attention to the pleasures of the obsolete, design theorists also worry about the perils of commodification—the morphing of the ›good fit‹ of design into the ›bad end‹ of overconsumption, environmental degradation, and the perpetuation of inequality and structural violence.
19 See, for example, Daniel Miller’s discussion of how, in Trinidad, finding car parts (commodities) replaced marriage to women (also sometimes commodities) as the prime example of transience and unreliability (at least in the eyes of men) (Miller 2005). 20 See Matt Nish-Lapidus (2009), Kamal Fox (2002) and Pinn (2009).
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Is the ritual-architectural event of yoga practiced in a Church, framed by consecrated space and icons of Christian holiness, a ›good fit‹? Is the cosmopolitan temascal, open to all comers (including me), and inviting of all deities, a ›timeless way‹? Judged by the standards of design, temascals and church yoga are in many ways the opposite of a ›good fit‹. Their juxtaposition of architecture, tradition, and bodies with particular histories and class positions makes these ritual-architectural events that articulate anew historical injustices, colonial religious prejudice, and continuing economic disparities that give some more cultural and real capital than others. However, comparing the temascal and church yoga also focuses attention on how legacies of wealth and social status can be burdens to religious innovation—the fixity and expense of the very bricks and mortar of Protestant churches built with neo-Gothic splendor end up costing struggling congregations so much that they must close, moving into superseded promise. The modest structure of the temascal is much more affordably renovated, maintained, and replicated than a neo-Gothic church built in the nineteenth century, and has no constraints or debts placed upon it by denominational hierarchies or institutional powers; this is partly why its ritual innovation has a more promising future.21 In their ongoing experimentation, the temascal’s renovation of indigeneity and the church’s reconstitution of bodily wisdom through yoga focus our gaze on what is often obscured, throwing into relief many paradoxes: that rituals of the body are always housed somewhere, and these places, outdoor and in, have bodily and historicizing effects; that ritual ordeals in which the body is tested may become ›universal‹ resources that all can experience precisely because of their physicality, but that such ordeals might also be understood as historical inheritances that some can claim and not others; that consecrated space may also be real estate. In the ritual-architectural events of the temascal and church yoga we can see how ritual ordeals housed in ›traditional‹ buildings produce bodies containing physiological truths at the same time that they display bodies enacting cultural training. The very
21 That said, some Protestant Churches in Canada have come to understand the deconsecration and sale or renovation of their buildings as opportunities for creating new kinds of community, including subsidized housing. See the following accounts of the histories of Bathurst Street United Church and Parkdale United Church, both in Toronto (BATHURST UNITED CHURCH and PARKDALE UNITED CHURCH; both websites).
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materiality of designed built forms is what makes them capable of serving as sensational forms that force, or even coerce, a new reckoning with the limits of our physicality, as well as with the past, our environment, and our ability to design.
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Autorinnen und Autoren
Gregor Ahn studierte Religionswissenschaft, Katholische Theologie, Philosophie und Altiranistik in Bonn und Kopenhagen. Seit 1996 ist er Professor für Religionswissenschaft an der Universität Heidelberg. Im Sommer 2000 vertrat er an der Universität München den Romano-Guardini-Lehrstuhl. Er ist seit 2002 Teilprojektleiter und Vorstandsmitglied im Sonderforschungsbereich 619 »Ritualdynamik« an der Universität Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind neben religionswissenschaftlicher Theoriebildung vor allem die altiranische und die neuere europäische Religionsgeschichte. Carina Brankoviü studierte Religionswissenschaft, Evangelische Theologie, Europäische Kunstgeschichte und Jüdische Studien in Heidelberg und Zürich. 2009–2011 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich 619 »Ritualdynamik« an der Universität Heidelberg. Ihr Promotionsvorhaben widmet sich spezifischen Ritualkonstruktionen in ausgewählten Holocaust-Dramen von George Tabori. Seit 2011 ist sie Promotionsstipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Ritual und Theater, Ritualtheorie, Religionsästhetik, Gegenwartsreligiosität und religionswissenschaftliche Theoriebildung. Janina Karolewski studierte Islamwissenschaft (Osmanistik und Arabistik) und Politische Wissenschaften in Heidelberg. 2007–2011 arbeitete sie im Sonderforschungsbereich 619 »Ritualdynamik« an der Universität Heidelberg im Teilprojekt C7 zum Ritualtransfer bei marginalisierten religiösen Gruppen im Vorderen Orient und in der Diaspora. Seit 2010 arbeitet sie im Sonderforschungsbereich 950 »Manuskript-
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kulturen in Asien, Afrika und Europa« im Teilprojekt C04 »BuyrukManuskripte im Alevitentum« zur Überlieferung religiösen Wissens in der alevitischen Tradition. Pamela E. Klassen studierte »Anthropology of Religion« an der Drew University in Madison, New Jersey. Seit 1997 ist sie Professorin am Religionswissenschaftlichen Seminar der Universität Toronto. Seit 2008 leitet sie das Projekt »Religion in the Public Sphere« in Toronto. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Anthropologie und Geschichte des Christentums, Ritualwissenschaft und Religion und Medialisierung. Der Titel ihres aktuellen Buches lautet: »Spirits of Protestantism: Medicine, Healing, and Liberal Christianity« (Univ. of California Press, 2011). Marco Mattheis studierte Alte Geschichte, Latinistik und Gräzistik in Heidelberg, Cambridge, Rom und Paris. Seit 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter des Teilprojekts B10 »Politische Rituale in der Spätantike (4.–6. Jh.)« des Sonderforschungsbereichs 619 »Ritualdynamik« an der Universität Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind die spätantiken Provinzialstädte, spätantike Herrschaftsrituale und die Augusteische Dichtung. Nadja Miczek studierte Religionswissenschaft und Evangelische Theologie in Heidelberg. 2005–2010 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt C2 »Zwischen Online-Religion und Religion-Online: Konstellationen für Ritualtransfer im Medium Internet« des Sonderforschungsbereichs 619 »Ritualdynamik« an der Universität Heidelberg. Seit 2010 ist sie Oberassistentin am Religionswissenschaftlichen Seminar der Universität Luzern. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Gegenwartsreligiosität, Religion und Medien und Religionsökonomie. Antony George Patthathu studierte Religionswissenschaft, Klassische Indologie und Ethnologie in Heidelberg. Seit 2009 arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt C10 »Rituale ohne Performanz« des Sonderforschungsbereichs 619 »Ritualdynamik« an der Universität Heidelberg. 2010 war er Gastwissenschaftler am »Center for the Study of Social Systems and Science« an der Jawaharlal-NehruUniversität in Delhi, Indien, und 2011 »Department of Anthropology« an der Universität in Berkeley. Seine Forschungsschwerpunkte sind
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Performanztheorie, Film, Medien und Religion, Gegenwartsreligiosität, Globalisierung und Medizinethnologie. Karin Polit studierte Ethnologie und Islamwissenschaft in Heidelberg und Australien. Seit 2006 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin des Sonderforschungsbereichs 619 »Ritualdynamik« an der Universität Heidelberg tätig. Im Teilprojekt A4 forschte sie zuerst über »Rituelle Spektakel in Garhwal: Rituale als regionales Kulturerbe« und ab 2009 über »Rituale und Jugendkultur in Neu Delhi«. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Performanz, Gender und Performativität, visuelle Anthropologie und Medizinanthropologie. Sie ist Autorin des Buches: »Women of Honour: Gender and Agency among Dalit Women in the Central Himalayas« (Orient Blackswan, 2011). Jan Rupp studierte Anglistik, Komparatistik und Musikwissenschaft in Bochum und Norwich. 2006–2008 arbeitete er im Sonderforschungsbereich 434 »Erinnerungskulturen« an der Universität Gießen. 2009 promovierte er und war im LOEWE-Schwerpunkt »Kulturtechniken und ihre Medialisierung« am Zentrum für Medien und Interaktivität, Gießen tätig. Seit Herbst 2009 arbeitet er im Teilprojekt C10 »Rituale ohne Performanz« des Sonderforschungsbereichs 619 »Ritualdynamik« an der Universität Heidelberg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören »black British literary studies«, literaturwissenschaftliche Gedächtnisforschung, Erzähltheorie und Neue Medien sowie das Arbeitsfeld »Ritual und Literatur«. Udo Simon studierte Geschichte, Islamwissenschaft, Allgemeine Sprachwissenschaft und Ethnologie in Mannheim und Heidelberg. 2002–2004 vertrat er eine Professur für Sprach- und Kommunikationswissenschaft an der Hochschule Darmstadt. Von 2005–2009 arbeitete er im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 619 »Ritualdynamik« an der Universität Heidelberg im Teilprojekt C9 zur rituellen Reinheit im Islam. Seit 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter des Exzellenzclusters »Asia and Europe in a Global Context« an der Universität Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Arabistik, Geschichte der Rhetorik, Religionssoziologie, Migration und Transkulturalität. Paul Töbelmann studierte Mittelalterliche und Neuere Geschichte, Politische Wissenschaft und Philosophie in Heidelberg. 2008 promo-
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vierte er zum Thema »Stäbe der Macht. Stabsymbolik in Ritualen des Mittelalters« im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 619 »Ritualdynamik« an der Universität Heidelberg, in dem er seit 2008 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt B8 »Ritualisierung politischer Willensbildung im Mittelalter« tätig ist. Seine Forschungsschwerpunkte sind politische Geschichte und Mentalitätsgeschichte im hohen und späten Mittelalter. Hanna Walsdorf studierte Musik- und Tanzwissenschaft, Politische Wissenschaft sowie Historische Hilfswissenschaften und Archivkunde in Salzburg, Bonn und Bern. Seit 2009 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin des Teilprojekts B7 »Ritual und Inszenierung der musikalischen Aufführungspraxis im Zeitalter des Barock« des Sonderforschungsbereichs 619 »Ritualdynamik« an der Universität Heidelberg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Tanz im französischen Jesuitentheater des 18. Jh.s, Volkstanz im 20. Jh., das Verhältnis von Musik und Politik, Ballettmusik und Filmmusik. Christian Witschel studierte Alte und Neue Geschichte, Ur- und Frühgeschichte sowie Klassische Archäologie in Berlin und Oxford. Die Promotion erfolgte 1998 in Frankfurt a. M., die Habilitation 2004 in München. Seit 2005 ist er Professor für Alte Geschichte an der Universität Heidelberg und leitete von 2007–2009 das Teilprojekts B2 »Ritual und Kommunikation in den städtischen Gemeinden Griechenlands« des Sonderforschungsbereichs 619 »Ritualdynamik«. 2009 übernahm er gemeinsam mit Kai Trampedach die Leitung des Teilprojekts B10 »Politische Rituale in der Spätantike (4.–6. Jh.)«. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte des 3. Jh.s n. Chr. und der Spätantike, die Stadt in der Spätantike, die Repräsentation des römischen Kaisers sowie die lateinische Epigraphik. Christof Zotter studierte Indologie und Ethnologie in Leipzig. Seit 2006 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt A2 »Lebenszyklische Übergangsrituale in Nepal« des Sonderforschungsbereichs 619 »Ritualdynamik« an der Universität Heidelberg, in dem er 2009 zum Thema »Die Initiation der Indo-ParbatiyƗ in Nepal. Text und Praxis des Rituals« promovierte und derzeit über Hochzeitsrituale arbeitet. Weitere Forschungsschwerpunkte sind die spätere Entwicklung des vedischen Rituals, der Hinduismus und die Kulturgeschichte Nepals.
Kultur- und Medientheorie Sabine Fabo, Melanie Kurz (Hg.) Vielen Dank für Ihren Einkauf Konsumkultur aus Sicht von Design, Kunst und Medien November 2012, ca. 180 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2170-9
Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien November 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5
Sandro Gaycken (Hg.) Jenseits von 1984 Datenschutz und Überwachung in der fortgeschrittenen Informationsgesellschaft. Eine Versachlichung September 2012, ca. 170 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2003-0
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Claudia Mareis, Matthias Held, Gesche Joost (Hg.) Wer gestaltet die Gestaltung? Praxis, Theorie und Geschichte des partizipatorischen Designs Dezember 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2038-2
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Tobias Nanz, Johannes Pause (Hg.) Politiken des Ereignisses Mediale Formierungen von Vergangenheit und Zukunft Dezember 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1993-5
Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.) Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien September 2012, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1092-5
Wiebke Porombka Medialität urbaner Infrastrukturen Der öffentliche Nahverkehr, 1870-1933 Oktober 2012, ca. 410 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2168-6
Johanna Roering Krieg bloggen Soldatische Kriegsberichterstattung in digitalen Medien Oktober 2012, ca. 340 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2004-7
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)
Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012
Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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