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German Pages 332 [336] Year 2013
Thilo Jungkind Risikokultur und Störfallverhalten der chemischen Industrie
perspektiven der wirtschaftsgeschichte Herausgegeben von Clemens Wischermann und Katja Patzel-Mattern Band 3
Thilo Jungkind
Risikokultur und Störfallverhalten der chemischen Industrie Gesellschaftliche Einflüsse auf das unternehmerische Handeln von Bayer und Henkel seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: Siegbert Hahn, Rauchzeichen, 1968–1970, 60 x 50 cm Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © 2013 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Druck: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10345-9
VORWORT UND DANK Die vorliegende Arbeit entstand aus einem Projektzusammenhang des Exzellenzclusters 16 „Kulturelle Grundlagen von Integration“ an der Universität Konstanz. Sie wurde als Dissertation vom Fachbereich Geschichte und Soziologie im Spätherbst 2011 angenommen. Das Promotionsverfahren wurde mit dem Tag der mündlichen Prüfung am 27. April 2012 abgeschlossen. Erster Referent war Herr Professor Dr. Clemens Wischermann, zweite Referentin Frau Professorin Dr. Katja Patzel-Mattern. Das Drittgutachten übernahm Herr Professor Dr. Jürgen Osterhammel. Ganz besonders möchte ich Herrn Wischermann danken. Er war nicht nur Erstbetreuer und Doktorvater für mich. Er schärfte stets mein intellektuelles Denken in Bezug auf die Verbindung von Wirtschafts- und Geschichtswissenschaften. Die Verbindung von Wissenschaft und Lebenswelt nimmt in der AG Wischermann einen zentralen Stellenwert ein. Die Arbeitsgemeinschaft steht für innovative wirtschafts- und sozialhistorische Forschung zusammen mit einem kollegialen und sympathischen Miteinander. Frau Patzel-Mattern möchte ich für die Übernahme des Zweitgutachtens danken. Auch Sie war für mich immer erreichbar und unterstützte mich in meinem Vorhaben. Ebenso danke ich Herrn Osterhammel für die Erstattung des Drittgutachtens. Meine Lebensgefährtin Tanja Lamberti steht mir seit den letzten Zügen des Promotionsverfahrens liebevoll zur Seite. Sie unterstützt mich unermüdlich in der Forcierung meiner weiteren Karriere, wofür ich auch ihr herzlich danke. Am meisten zu danken habe ich meinen Eltern, Gisela und Jürgen Jungkind. Bei ihnen war und ist der Ort, an dem ich immer willkommen war und bin. Meine Eltern leben Verantwortung, nicht nur indem sie mir die Publikation der vorliegenden Arbeit finanziell ermöglichen. Unterstützung ist heutzutage nicht mehr selbstverständlich. Ich bin dankbar, solche Eltern zu haben. Gedankt sei auch meinen Freunden und Kollegen aus Konstanz für anregende Diskussionen, schöne Abende und einige tolle Jahre. Für ihre eigenen Promotionsvorhaben wünsche ich Daniel Wilhelm, Mark Wallaschek und Max Rothfuß alles Gute. Herzlichen Dank auch an Micha und Steffi Kernler aus Köln, die mich seit langen Jahren auf meinem Weg begleiten. Für die absolut professionelle Unterstützung sage ich allen beteiligten Mitarbeitern der Unternehmensarchive herzlichen Dank. Ich danke Frau Dr. Sandra Schürmann für die Übernahme des Lektorat und meiner guten Freundin Sandra Heßing für die Formatierung der ursprünglichen Fassung. Diese Arbeit wurde in Erinnerung an diejenigen geschrieben, die eine solche Chance niemals bekamen: meinen Bruder Jörg (02. August 1974 – 11. Oktober 1999) und meinen Freund Jürgen Vesenmaier (10. Juli 1980 – 03. November 2010).
INHALTSVERZEICHNIS 1.
Einführung ............................................................................................ 11
1.1
Risikoverhalten aus unternehmenshistorischer Sicht – Zur Verbindung zwischen unternehmerischem Handeln und gesellschaftlichen Erwartungen ....................................................... 11 Periodisierung des Untersuchungszeitraums und Begründung der Unternehmensauswahl......................................................................18 Abgrenzung zum Forschungsstand.........................................................20 Charakteristiken und Vergleich der Quellenlagen bei Bayer und Henkel .............................................................................26
1.2 1.3 1.4
2. 2.1 2.2
Begriffliche Differenzierung und konzeptionelle Herangehensweise.................................................................................30
Der Risikobegriff im Kontext des Forschungsvorhabens.......................31 Die neoinstitutionalistische Organisationstheorie und ihre Anwendung in einer unternehmensgeschichtlichen Fallstudie ................................................................................................33 2.2.1 Institutionen und ihre Dimensionen in der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie .......................................35 2.2.2 Organisationale Felder............................................................................38 2.2.3 Entkopplung und Legitimität..................................................................40 2.2.4 Akteure, strategisches Handeln und Macht ............................................41 2.3 Ein Handlungsmodell des Unternehmens als offenes System im gesellschaftlichen Wertewandel im Umgang mit produktionsinduzierten Risiken: Analyseraster................................45 2.3.1 Theoriegeleitete Unternehmensgeschichte im kulturellen Paradigma ...............................................................................................45 2.3.2 Ein Zwei-Ebenen Modell zur Analyse von kontextgebundenem Unternehmenshandeln ............................................................................47 2.3.2.1 Interne Aspekte des Funktionierens von Unternehmen ..........................49 2.3.2.2 Eine reflektierte Betriebsanleitung des Unternehmens von außen................................................................................................55
8
Inhaltsverzeichnis
3.
Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel im Umgang mit produktionsinduzierten Risiken ..............................63
3.1
Legitime Kontinuität des Risikohandelns: Die 1950er und 1960er Jahre.....................................................................................63 Wenige Institutionen bestätigen das alte Selbstverständnis der Unternehmen ....................................................................................70 Macht- und Deutungshoheit der Unternehmen in einem nicht partizipationsbereiten organisationalen Feld: Das Beispiel der Nachbarschaft von Bayer und Henkel sowie der Gewerbeaufsichtsämter ..........................................................97 Nur das Nötigste: Spärliche Organisation und wenige innerbetriebliche Maßnahmen gegen Umweltrisiken ...........................120 Strategisches Umdenken? Institutionen und Kultur begünstigen ein Primat der legitimen Risikoproduktion der Unternehmen .............125 Zusammenfassung: Umwelt-Risiko macht Sinn – Stör- und Unfälle als Kollateralschäden ...............................................142 Verkehrte Verhältnisse – Aushandlungen unternehmerischen Risikoverhaltens vom Ende der 1960er Jahre bis zum Dioxinunglück von Seveso im Juli 1976 ................................149 Zunehmender institutioneller Druck – Wahrnehmung und Reaktion der Unternehmen ............................................................157 Machtumkehr – Sinnverschiebung des organisationalen Feldes und zunehmender Protest gegen die Unternehmen ..............................187 Allmähliche Abnahme von Umweltrisiken durch veränderte Maßnahmen in den Unternehmen ........................................................221 Zusammenfassung: Die Unternehmen zwischen Sinnsuche und Überzeugung der Richtigkeit ihres veränderten Risikohandelns .........241 Der Schreck sitzt tief: Risikoverhalten ausgerichtet an der Akzeptanz der Unbeherrschbarkeit chemischer Prozesse nach der Seveso-Zäsur: Juli 1976 bis Mitte der 1980er Jahre ..............247 Das Dioxinunglück von Seveso und die Krise bei Roche ....................247 Verstärkte und radikalisierte Proteste durch „Seveso“ gegenüber Bayer und Henkel und ihr Niederschlag in formalen Sicherheitsinstitutionen .....................................................255 Abschalten! Oder doch nicht abschalten? Neue Einstellungen gegenüber dem organisationalen Feld und organisatorisches Lernen nach „Seveso“ ..........................................................................270 Zusammenfassung: Ist Seveso überall? Die chemische Industrie vor der Herausforderung polemischer Angriffe, der ständigen Umwelt-Krise und der gescheiterten Reintegration als gesellschaftlicher Akteur .................................................................296
3.1.1 3.1.2
3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4
Inhaltsverzeichnis
9
4.
Schluss und Ausblick ..........................................................................303
5.
Anhang.................................................................................................314
5.1 5.2 5.3 5.4
Quellenverzeichnis ...............................................................................314 Literaturverzeichnis ..............................................................................319 Abbildungsverzeichnis .........................................................................330 Abkürzungsverzeichnis ........................................................................330
1. EINFÜHRUNG 1.1 RISIKOVERHALTEN AUS UNTERNEHMENSHISTORISCHER SICHT – ZUR VERBINDUNG VON UNTERNEHMERISCHEM HANDELN UND GESELLSCHAFTLICHEN ERWARTUNGEN Die vorliegende Arbeit stellt eine unternehmensgeschichtliche Fallstudie hinsichtlich des Umgangs chemischer Betriebe mit ihrer Risikoproduktion in Interdependenz mit gesellschaftlich veränderten Erwartungshaltungen dar. Den Prozess des unternehmenspolitischen Wandels werde ich an größeren und kleineren Stör- und Unfällen als zentralen Kristallisationspunkten zu zeigen versuchen. Gleichzeitig liefert auch der Blick über die Jahrzehnte wichtige Anhaltspunkte für eine Veränderung unternehmerischer Handlungslogiken, was den allgemeinen Umgang mit der eigenen Risikoproduktion der Unternehmen anbelangt. In der deutschen Unternehmenshistoriographie besteht ein theoretisches und empirisches Desiderat hinsichtlich der Verbindung zwischen unternehmerischem Handeln und gesellschaftlichen Erwartungen.1 Gerade ein Thema wie die Risikoproduktion der chemischen Industrie ist in besonderem Maße dafür geeignet, eine solche Verbindung in einer unternehmensgeschichtlichen Fallstudie zu entwickeln. Der Grund hierfür liegt in einem vielschichtigen Beziehungsgeflecht zwischen Unternehmen und Gesellschaft: Durch die Entscheidung eines Unternehmens, chemische Vor-, Zwischen- und Endprodukte herzustellen, wird die Werksumgebung in der Weise tangiert, als ihre Unversehrtheit von der sicheren Umsetzung dieser notwendigen Produktionsentscheidung abhängt. Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg galt dies in besonderem Maße, da die Produktion der chemischen Industrie durch die relativ einfache Umstellung von Kriegs- auf Friedensproduktion erneut stark ansteigen konnte, was zu erheblichen Umweltschäden führte.2 Gleich1
2
Hierzu der Vortrag von Inga Nuhn und Thilo Jungkind auf der European Business History Association (EBHA) – Conference 2010: „A great part of German business history is led by homogeneous methodological and theoretical concepts: In many cases companies are considered as limited, economic entities. The understanding of corporate existences, structure and functionality is closely linked to this line of thought as well. Question on how and why companies do act focus exclusively on internal phenomena and contexts. […] To sum up, in the last 20 years we can identify a trend towards a variety of conceptual and theoretical approaches dealing with corporate behaviour and functionality. Its explanations and analysis patterns concentrate on internal processes.“ Inga Nuhn / Thilo Jungkind: Theoretical and Empirical Interrelations Between Corporations And the Surrounding Society Beyond Operative Business, EBHA Conference: Business Beyond the Firm Glasgow, August 26–28 2010, URL: http://www.gla. ac.uk/media/media_167175_en.pdf (27.06.2012). Vgl. Walter Teltschick: Geschichte der deutschen Großchemie. Entwicklung und Einfluss in Staat und Gesellschaft, Weinheim 1992, S. 188. Der Begriff Umwelt bezeichnet hier die natür-
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1. Einführung
zeitig richtete die umgebende Gesellschaft veränderte Erwartungen bezüglich der Risikoproduktion für die Umwelt an die chemische Industrie, die sich innerhalb der folgenden sechseinhalb Dekaden stetig änderten. Diese Erwartungen und damit einhergehend gesellschaftliche Zuschreibungen gegenüber diesem Industriezweig verwandelten sich spätestens seit den 1970er Jahren so massiv, dass noch heute in weiten Teilen der Öffentlichkeit ein Konsens darüber herrscht, dass die großen Chemiewerke schon immer Gefahrenherde und Umweltsünder erster Güte waren; sie standen bis vor kurzer Zeit unter Generalverdacht.3 In der öffentlichen Meinung gegenüber Unternehmen herrscht seit kurzem wieder ein erhebliches Misstrauen. Besonders im Hinblick auf Risikotechnologien ist dieses Misstrauensverhältnis zwischen transformierenden Gesellschaften und Unternehmen historisch gewachsen. Moderne Verhaltensstrategien und Nachhaltigkeitskonzepte sowie die Diskussion um unternehmerische Verantwortung erwuchsen aus veränderten gesellschaftlichen Erwartungshaltungen gegenüber der chemischen Industrie – oder allgemeiner: einer Risikotechnologie –, die historisch operationalisiert und in Verbindung mit unternehmerischem Handeln gebracht werden kann.4 Ich möchte mit der vorliegenden Arbeit einen Beitrag dazu leisten, die Gründe des gewachsenen Misstrauens hinsichtlich der Risikoproduktion bzw. hinsichtlich der ‚produktionsinduzierten Risiken‘ aus einer unternehmenshistorischen Sicht zu beleuchten und gleichfalls die veränderten korporativen und strategischen Reaktionen auf dieses Misstrauen bei den Unternehmen Bayer und Henkel in den Blick nehmen. Hierzu werde ich zunächst einen allgemeinen Aufriss der mich interessierenden Fragestellungen anbieten. Im Fortgang dieser Einleitung und in Kapitel 1.2 werde ich diese Fragestellungen stetig unter veränderten Aspekten und unter Berücksichtigung des Forschungszeitraums weiterentwickeln. Unter dem Begriff ‚produktionsinduzierte Risiken‘ verstehe ich ganz allgemein jene Risiken für die natürliche und lebensweltliche Umwelt eines Unternehmens
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liche und die „künstliche“ (wirtschaftliche, politische, technische und gesellschaftliche) Umgebung von Unternehmen. Vgl. Gabler Wirtschaftslexikon, 16. vollst. überarbeitete Auflage, Bd. 4, S-Z, Wiesbaden 2004, S. 3003. In dieser Arbeit werden die Begriffe natürliche und lebensweltliche Umwelt gebraucht, wobei die natürliche Umwelt physische Gebilde wie Gewässer, Luft und Infrastrukturen sind. Lebensweltliche Umwelten sind hingegen gesellschaftliche Erwartungshaltungen und Strukturen, die sich auf allgemeines Unternehmenshandeln beziehen, etwa hinsichtlich des Umgangs mit der natürlichen Umwelt oder die Erwartung von Menschen, allumfassend durch produktionsinduzierte Risiken unversehrt zu bleiben. Vgl. hierzu auch Verena Winiwarter / Martin Knoll: Umweltgeschichte. Eine Einführung, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 24. So konstatierten beispielsweise Hans Mathias Kepplinger und Uwe Hartung ein „Störfallfieber“ nach einem Zwischenfall bei Höchst in Griesheim im Jahre 1993, das allein durch eine verzerrte massenmediale Darstellung aufgekommen sei. Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Uwe Hartung. Störfall-Fieber. Wie ein Unfall zum Schlüsselereignis einer Unfallserie wird, München 1995, insbesondere S. 11–41. Zur Herausbildung von Corporate Social Responsibility-Konzepten vgl. Katharina Bluhm: Corporate Social Responsibility – Zur Moralisierung von Unternehmen aus soziologischer Perspektive, in: Andrea Maurer / Uwe Schimank (Hg.): Die Gesellschaft der Unternehmen – Die Unternehmen der Gesellschaft. Gesellschaftstheoretische Zugänge zum Wirtschaftsgeschehen, Wiesbaden 2008, S. 144–163.
1.1 Risikoverhalten aus unternehmenshistorischer Sicht
13
der chemischen Industrie, die durch dessen Produktion entstehen sowie all jene Folgerisiken, die bei Entsorgung, Deponierung, Verbringung oder beim Transport der Produkte zu Tage treten. Aus dem umrissenen Themenfeld ergeben sich für die vorliegende unternehmensgeschichtliche Studie ganz allgemein folgende Forschungsfragen im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen unternehmerischem Risikohandeln und gesellschaftlichen Erwartungen: Wie haben die Unternehmen in unterschiedlichen historischen Settings ihre produktionsinduzierte Risiken wahrgenommen und bewältigt? Welche Verhaltensmuster und Managementpraktiken strebten sie diesbezüglich an? Wo sind die Gründe für einen sich einstellenden Wandel im unternehmerischen Handeln und dem damit verbundenen Wandel des institutionellen Arrangements innerhalb der Unternehmen zu suchen? Ist eine veränderte Risikoeinstellung und eine veränderte Risikoperzeption durch die Unternehmen das Produkt kultureller Differenzierung, die an ihren historischen Kontext gebunden ist? Der Untersuchungszeitraum der vorliegenden Arbeit umfasst die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Er ist für die hier angesprochenen Forschungsfragen in zweifacher Hinsicht besonders aussagekräftig: Zum einen steht die unternehmensgeschichtliche Aufarbeitung dieser Epoche gerade erst am Anfang.5 Zum anderen verloren nicht nur die in dieser Studie betrachteten Unternehmen gegen Ende der 1960er Jahre aufgrund einer institutionellen Neuorientierung und damit verbundener, zunehmend unternehmenskritischer Sinnentwürfe der westdeutschen Gesellschaft an Reputation.6 Die veränderte öffentliche Wahrnehmung insbesondere der chemischen Industrie wird etwa aus den Worten „Wir sind nicht schlechter als früher“ deutlich, mit denen Friedrich Bohmert, der Chef der Öffentlichkeitsarbeit der Firma Henkel im Jahr 1972 vor eine Betriebskonferenz trat.7 Bohmert reflektierte damit die Lage der chemischen Industrie im Allgemeinen und von Henkel im Besonderen im Kontext einer von außen auf das Unternehmen aufprallenden Stimmung der breiten Öffentlichkeit zu Beginn der 1970er Jahre. Wie rasch es zu dieser animosen Haltung gegenüber einem der Zugpferde der deutschen Wirtschaft nach 1945 gekommen war, verdeutlicht ein weiteres Zitat, das einem Bericht über eine Konferenz der Umweltschutzbeauftragten der Henkelgruppe entstammt: „Rauchende Schornsteine waren gestern noch ein Zeichen für die Prosperität eines Unternehmens. Heute gelten sie geradezu als die Inkarnation des Bösen“.8 5 6
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Dies wird beispielsweise daran deutlich, dass sich in der Zeitschrift für Unternehmensgeschichte innerhalb der letzten zehn Jahre nur etwa 30 Prozent der publizierten Artikel diesem Forschungszeitraum widmen. Exemplarisch Werner Kurzlechner: Von der Semantik der Klage zu einer offenen Medienpolitik. Selbstbild und Wahrnehmung westdeutscher Unternehmen, 1965–1975, in: Morten Reitmayer / Ruth Rosenberger (Hg.): Unternehmen am Ende des „goldenen Zeitalters“. Die 1970er Jahre in unternehmens- und wirtschaftshistorischer Perspektive, Essen 2008, S. 289–319. Referat von Dr. Friedrich Bohmert am 04. Juni 1972: „Problematik des Umweltschutzes in der Öffentlichkeitsarbeit“, in: Konzernarchiv Henkel, J 108 Imissionen/Umweltschutz 1950–1970. Referat von Dr. P. Behrt: „Umweltschutz – eine internationale Aufgabe“ auf der Konferenz der Henkel-Umweltschutzbeauftragten am 04. Juni 1971, S. 5, in: Konzernarchiv Henkel: Zug.-Nr. 451, Akten Opderbecke, Umweltschutz-Kommission/Konferenzen.
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1. Einführung
Mit diesen beiden Äußerungen sind Eckpfeiler markiert, mittels derer die sich wandelnden Handlungslogiken des Risikoverhaltens von deutschen Chemieunternehmen seit den ausgehenden 1960er Jahren aus unternehmenshistorischer Sicht mit gesellschaftlichen Erwartungen in Beziehung setzen lassen: Von Seiten der Öffentlichkeit wurde in den rauchenden Schornsteinen im alltäglichen Betrieb nun eine (latente) Gefahr für die natürliche und lebensweltliche Umwelt gesehen. Hatten die Produktionsanlagen und Produktionstechniken noch wenige Jahre zuvor als eine Antriebskraft gegolten, um der wirtschaftlichen Misere nach dem Zweiten Weltkrieg zu entkommen und als Sinnbilder für eine prosperierende, fortschrittsoptimistische Gesellschaft gestanden, so verkehrten sich nun die Verhältnisse ins Gegenteil.9 Die chemische Industrie sah sich plötzlich Anfeindung, Unverständnis und Protesten gegen all jenes gegenüber, was wenige Jahre zuvor noch als notwendig, erfolgreich und Wohlstand bringend gedeutet worden war. Angesichts der aktuellen wie auch der historischen gesellschaftlichen und ökonomischen Brisanz dieser Themen um Umweltschutz und den Schutz der Menschen vor Risikotechnologien ist es verwunderlich, dass Hartmut Berghoff und Mathias Mutz unlängst feststellen mussten, es gebe „no study from a business-historical perspective“10 für die Zeit nach 1945, die sich aus unternehmensinterner Sicht mit einer dezidierten Quellenanalyse dem Themenfeld von Risikopotenzialen insbesondere für die natürliche und lebensweltliche Umwelt zuwende. Diese Lücke soll in der vorliegenden Arbeit geschlossen werden. Um die Lücke jedoch schließen zu können, muss ein theoretisches und konzeptionelles Verständnis der Einbindung gesellschaftlicher Erwartungen in konkrete Handlungen des Unternehmens bzw. in dessen strategische Überlegungen entwickelt werden. Hierzu bedarf es einer Erweiterung ökonomischer Handlungstheorien durch Theorien der Organisation, in der die Rückkehr der Gesellschaft enthalten ist.11 Ziel der vorliegenden unternehmensgeschichtlichen Arbeit ist aus dieser kon9 10
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Vgl. Wolfgang König: Technikgeschichte. Eine Einführung in ihre Konzepte und Forschungsergebnisse, Stuttgart 2009, S. 211. Hartmut Berghoff / Matthias Mutz: Missing Links? Business History and Environmental Change, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2 (2009): „Nature incorporated“: Unternehmensgeschichte und ökologischer Wandel / Business History and Environmental Change, S. 9–22, hier S. 13. Vgl. hierzu Günther Ortmann / Jörg Sydow / Klaus Türk: „Organisationen […] sind in der Gesellschaft, sind Teil der Gesellschaft, sind eine besondere Form der Koordination und Zurichtung gesellschaftlicher Aktivität, werden von ihrer gesellschaftlichen Umgebung gefördert und beeinträchtigt, üben ihrerseits einen enormen Einfluss auf den Zustand und die Entwicklung der Gesellschaft aus […]. Eine Organisation ist aber auch selbst, in ihrem Inneren, Gesellschaft – wenn auch eine irgendwie geschlossene. Schließlich besteht sie aus sozialen Handlungen, aus Interaktion und Kommunikation in organisierter, formal geregelter und zugerichteter Form und ist nicht – wie oft ist das gesagt worden! – Maschine, nicht nur Vehikel, nicht nur und nicht einmal überwiegend.“, Günther Ortmann / Jörg Sydow / Klaus Türk: Organisation, Strukturation, Gesellschaft, in: Dies (Hg.): Theorien der Organisation. Die Rückkehr der Gesellschaft, 2. durchgesehene Auflage, Wiesbaden 2000, S. 15–35, hier S. 16–17. Zu einer neuartigen Soziologie des Unternehmens vgl. Andrea Maurer / Uwe Schimank: Die Gesellschaft der Unternehmen – Die Unternehmen der Gesellschaft, in: Dies.: (Hg.): Die Gesellschaft der Unternehmen, 2008, S. 7–17. Aus einer unternehmensgeschichtlichen Perspektive Jan-Ottmar
1.1 Risikoverhalten aus unternehmenshistorischer Sicht
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zeptionellen Perspektive eine Analyse des Geflechts zwischen dem Unternehmen als Risikoproduzent (und gegebenenfalls Störfallverursacher) und seinem gesellschaftlichen Umfeld als Betroffenen sowie dessen Erwartungen dem Unternehmen gegenüber. Aus der Einsicht, dass beide Perspektiven berücksichtigt werden müssen, wenn nach einem Handlungsmodell aus Sicht des Unternehmens bezüglich seines Risiko- und Störfallverhaltens und dessen Wandel in historischen Zusammenhängen gefragt wird, folgen konzeptionelle wie theoretische Herausforderungen. Die Entwicklung eines solchen konzeptionellen Handlungsmodells des Unternehmens wird in Kapitel 2 geschehen und daher hier nur schemenhaft umrissen. Eine erste Hürde liegt dabei in der Vielzahl der zu berücksichtigenden Dimensionen von Institutionen gegenüber dem betrachteten Unternehmen und deren Operationalisierung für die geplante Analyse. Mosaikartig muss hier aus Sozial-, Zeitund Kulturgeschichte12, Umwelt13- und Technikgeschichte14 ein Rahmen gebildet werden, der gesellschaftliche Sinnmuster den Unternehmen gegenüber darstellen kann. Auf der Analyseebene bedarf es eines Filtrats aus Quellen derjenigen Funktionsbereiche des Unternehmens, die Aufschlüsse darüber geben, wie das Unternehmen seinen relevanten institutionellen Kontext und seine kulturelle Rahmung wahrnahm. Weiterhin ist zu klären, inwiefern dieser Quellentypus die Beziehungen verdeutlichen kann sowie Aufschluss über unternehmerisches Handeln bzw. Nichthandeln liefert. Aus dieser Forderung einer gemeinsamen Betrachtung der Unternehmens- und der gesellschaftlichen Perspektive ergibt sich eine weitere Herausforderung an den theoretischen Zugriff: Die Mehrzahl der vorliegenden unternehmenshistorischen Fallstudien untersuchen Phänomene, die im Inneren des Unternehmens bzw. vom Innern her angeleitet stattfinden. Unternehmerisches Handeln erscheint somit ausschließlich abhängig von inneren ökonomischen Logiken und Kalkülen oder von unternehmenszentrierten Wertvorstellungen. Sofern er überhaupt Berücksichtigung findet, wird der gesellschaftliche Erwartungsrahmen als gegeben angenommen und bildet ein Potpourri zur Argumentationshilfe, wenn es um das Tagesgeschäft aus Unternehmenssicht geht.15 Abhilfe bietet eine kulturwissenschaftlich argumentie-
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Hesse / Tim Schanetzky / Jens Scholten: Idee zu einer gesellschaftsreformerischen Unternehmensgeschichte in methodischer Absicht – „Gabentausch“, „moralische Ökonomie“ oder „Unternehmensethik“, in: Dies.: (Hg.): Das Unternehmen als gesellschaftliches Reformprojekt. Strukturen und Entwicklungen von Unternehmen der „moralischen Ökonomie“ nach 1945, Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte Bd. 12, Essen 2004, S. 7–15, insbesondere S. 8–11. Vgl. neuerdings Axel Schildt / Detlef Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart, Bonn 2009 sowie Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008. Treffend hierzu Dieter Groh / Ruth Groh: Religiöse Wurzeln der ökologischen Krise. Naturteleologie und Geschichtsoptimismus in der frühen Neuzeit, in: Dies. (Hg.): Weltbild und Naturaneignung, Frankfurt am Main 1991, S. 11–91, hier S. 44. Ebenso Verena Winiwarter / Martin Knoll, S. 255–298. Vgl. Wolfgang König, insbesondere S. 109–216. Erste Versuche, die wechselseitige Abhängigkeit soziokultureller Kontexte und unternehmerischen Handelns zu zeigen, wurden von Hartmut Berghoff unternommen, der in seiner Habilitationsschrift eine „Unternehmensgeschichte als Gesellschaftsgeschichte“ postuliert. Vgl.
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1. Einführung
rende Unternehmensgeschichte, die davon ausgeht, dass Unternehmen funktionieren, weil die Akteure in spezifischen Sinnzusammenhängen handeln und ihre Handlungsregeln institutionalisieren. Organisationen und ihre Akteure wirtschaften demnach „in geschichts- und kulturgeprägten Kontexten.“16 So bleibt eine institutionentheoretische, um moderne Konzepte kulturwissenschaftlicher Forschung erweiterte Unternehmensgeschichtsschreibung handlungsfähig und ist nicht, wie unlängst behauptet, an ihrem Ende angekommen.17 Diese Art unternehmensgeschichtlichen Forschens bietet die Möglichkeit, die Kategorien ‚Zeit‘ und ‚Kultur‘ an eine ökonomische Theorie des Unternehmenshandelns anzufügen. Die Beschränkung auf die Erforschung innerer Phänomene wird durch das Postulat Clemens Wischermanns dahingehend aufgebrochen, dass Unternehmen in geschichts- und kulturgeprägten Kontexten wirtschaften. Explizit bedeutet dies, dass inner-unternehmerische Phänomene nur erfassbar werden, wenn historisch-kulturelle Kontexte für die Entwicklung des inneren Geschehens von Unternehmen mit verantwortlich gemacht werden. Auf der Grundlage des bis hierhin dargestellten Rahmens und des Forschungsinteresses der vorliegende Arbeit wird im Sinne einer interdisziplinären und theoriegeleiteten Unternehmensgeschichtsschreibung danach gefragt, wie sich Unternehmen der chemischen Industrie nach 1945 mit jener durch die Produktion selbst herbei geführten Gefahr18 sowie mit den damit verbundenen gesellschaftlichen Erwartungshaltungen (strategisch) auseinandersetzen und welche historischen Handlungen der Unternehmen damit verbunden waren. Hierfür wird der Versuch unternommen, die neoinstitutionalistische Organisationstheorie19 zum Ausgangspunkt zu nehmen und erstmals mit einer Theorie der Unternehmensgeschichte im kulturellen Paradigma zu vereinigen. Ziel dabei ist es, einen neuartigen Entwurf der Unternehmensgeschichte im kulturellen Paradigma in seiner Erweiterung um die gesellschaftliche Umwelt zu konzeptionieren. Dies wird in den Kapiteln 2.2 und
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Hartmut Berghoff: Zwischen Kleinstadt und Weltmarkt. Hohner und die Harmonika 1857– 1961. Unternehmensgeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Paderborn 1997, S. 15. Jüngst auch die Arbeit von Markus Raasch. Vgl. Markus Raasch: Wir sind Bayer. Eine Mentalitätsgeschichte der deutschen Industriegesellschaft am Beispiel des rheinischen Dormagen (1917– 1997), Essen 2007, hier insbesondere S. 20–24. Ebenfalls Martin Lutz: Siemens im Sowjetgeschäft. Eine Institutionengeschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen 1917–1933, Stuttgart 2011. Allen Arbeiten gemeinsam ist jedoch, dass sie in methodischer und theoretischer Hinsicht Experimente darstellen, die erst in den Anfängen stecken. Vgl. Clemens Wischermann: Von der „Natur“ zur „Kultur“. Die Neue Institutionenökonomik in der geschichts- und kulturwissenschaftlichen Erweiterung, in: Karl-Peter Ellerbrock / ders. (Hg.): Herausforderung, 2004, S. 17–31, hier S. 17. Vgl. Jan-Ottmar Hesse / Christian Kleinschmidt / Karl Lauschke: Herausforderungen und Perspektiven der Unternehmensgeschichte, in: Dies. (Hg.): Kulturalismus, Neue Institutionenökonomik oder Theorienvielfalt. Eine Zwischenbilanz der Unternehmensgeschichte, Essen 2002, S. 9–19, hier S. 13. Zum Gefahren-Begriff in Bezug auf komplexe technische Anlagen vgl. Charles Perrow: Normale Katastrophen. Die unvermeidbaren Risiken der Großtechnik, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1992. Einen hervorragenden Überblick über das relativ junge Forschungsfeld bieten Peter Walgenbach / Renate E. Meyer: Neoinstitutionalistische Organisationstheorie, Stuttgart 2008.
1.1 Risikoverhalten aus unternehmenshistorischer Sicht
17
2.3 geschehen, und die bis hierher dargestellten, allgemein gehaltenen Forschungsfragen können mit Hilfe einer solchen Konzeption verfeinert werden: Warum haben die betrachteten Unternehmen seit dem Ende der 1960er Jahre ihre bis dahin vertretenen, öffentliche Erwartungshaltungen ausklammernden Kalküle aufgegeben? Wo liegen die Gründe für diese – zumindest aus Sicht einer universalistisch argumentierenden Mainstreamökonomik und Unternehmenspolitikforschung seltsam anmutenden – Entscheidungen? Wie nahmen die betrachteten Unternehmen gesellschaftliche Erwartungen hinsichtlich ihres Risikopotenzials ihnen gegenüber wahr und in welche Richtung veränderten sich diese wahrgenommenen Erwartungen? Welche Maßnahmen ergriffen die Unternehmen, um diesen Erwartungen gerecht zu werden, stellten sie sich möglicherweise offensiv gegen diese Erwartungshaltungen? Welche Verteidigungsstrategien gegen die Erwartungen wurden ergriffen? Wie veränderten sich inner-unternehmerische institutionelle Arrangements? Welche Aktivitäten zur Risikominimierung wurden von Seiten der Unternehmen initiiert? Kurz: Kann ein direkter Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Erwartungen und unternehmerischem Handeln konzeptionell hergestellt und empirisch überprüft werden? Zusammenfassend sind für die angestrebte integrierte Unternehmensgeschichtsschreibung20 mehrere Aspekte von Bedeutung: Erstens geht von Unternehmen der chemischen Industrie als Ausgangspunkt ein produktionsinduziertes Risiko für ihre natürliche und lebensweltliche Umwelt aus. Hieraus folgt zweitens, dass eine unternehmensgeschichtliche Fallstudie diese Umwelten in die Analyse der internen Wandlungsprozesse des Unternehmens einbeziehen muss. Drittens ist es notwendig, ein Handlungsmodell des Unternehmens aufzustellen, das sein (strategisches) Verhalten und seine Handlungslogiken im Kontext gesellschaftlicher Erwartungshaltungen gegenüber dem Unternehmen thematisiert; dabei soll die Fruchtbarkeit eines solchen Modells für die Unternehmensgeschichte wie eine
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Zu den unterschiedlichen Ansätzen der Disziplin vgl. Hartmut Berghoff: Moderne Unternehmensgeschichte. Eine themen- und theorieorientierte Einführung, Paderborn u.a. 2004. Für eine Unternehmensgeschichtsschreibung, die an der Neuen Institutionenökonomik ausgerichtet und um Konzepte kulturwissenschaftlichen Forschens erweitert ist, vgl. Clemens Wischermann / Peter Borscheid / Karl-Peter Ellerbrock (Hg.): Unternehmenskommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, Dortmund 2000, weiterhin Clemens Wischermann (Hg.): Unternehmenskommunikation deutscher Mittel- und Großunternehmen, Münster 2003 sowie Karl-Peter Ellerbrock / Clemens Wischermann (Hg.): Die Wirtschaftgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics, Dortmund 2004. Exemplarisch Anne Nieberding / Clemens Wischermann: Unternehmensgeschichte im institutionellen Paradigma, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 43. Jg., Heft 1/1998, S. 35–48. Zu diesem Ansatz in gesamtwirtschaftlicher Perspektive Clemens Wischermann: Vom Gedächtnis und den Institutionen. Plädoyer für die Einheit von Kultur und Wirtschaft, in: Eckart Schremmer (Hg.): Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Gegenstand und Methode, Stuttgart 1998, S.21–33. Ebenfalls Clemens Wischermann / Anne Nieberding: Die institutionelle Revolution. Eine Einführung in die deutsche Wirtschaftsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2004. Teils kritisch zu institutionellen Ansätzen in der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte vgl. Jan-Ottmar Hesse / Christian Kleinschmidt / Karl Lauschke: Herausforderungen und Perspektiven der Unternehmensgeschichte, in: Dies. (Hg.): Kulturalismus, 2002, S. 9–19, hier S. 9–11.
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1. Einführung
historisch-qualitativ arbeitende Betriebswirtschaftslehre gleichermaßen deutlich werden. Ich habe bisher einen allgemeinen Aufriss der Arbeit gegeben, die Fragestellungen erörtert und eine notwendige Konzeption zur Erforschung der Thematik angeboten. Ich werde dies nun in einem spezifischen Aufriss verfeinern. Die Unternehmensauswahl und die Begründung des Forschungszeitraums stehen dabei im Mittelpunkt, wobei erste Beziehungen zu der konzeptionellen Herangehensweise und des verwendeten Risikobegriffs vertiefend in dieses Kapitel einführen. 1.2 PERIODISIERUNG DES UNTERSUCHUNGSZEITRAUMS UND BEGRÜNDUNG DER UNTERNEHMENSAUSWAHL Zur Operationalisierung des Verhältnisses von Unternehmenshandeln und veränderten gesellschaftlichen Erwartungen gegenüber dem Unternehmen wird der Blick auf solche produktionsinduzierten Risiken gerichtet, die nach außen wirken.21 Ein Unternehmen der chemischen Industrie als gesellschaftlicher Akteur hat es in diesem Zusammenhang mit Risikodeutungen, Risikoprävention, dem allgemeinen Umgang mit Produktionsrisiken sowie einer Selbst- und Fremdwahrnehmung dieser eigens produzierten Risiken und ihrer Relevanz für die natürliche und lebensweltliche Umwelt zu tun. Der Risikobegriff, wie er im Forschungsvorhaben Verwendung finden muss, wird aus der sozialwissenschaftlichen Risikoforschung hergeleitet, was in Kapitel 2.1 geschieht. Dort werde ich den Risikobegriff weiter operationalisieren; er stellt die Risikodeutungen in den Mittelpunkt. Ich werde diesen Risikobegriff in die Konzeption der Arbeit einbinden und ihn auf seine Tauglichkeit zur Beantwortung der gestellten Forschungsfragen überprüfen. Veränderliche gesellschaftliche Zuschreibungen und Deutungen von Risiken entstehen durch kulturelle Differenzierung und außer-unternehmerischen institutionellen Wandel, dessen Einfluss auf das unternehmerische Handeln dargestellt werden soll. Auf Basis der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie22 ist es möglich, die in der Umwelt von Organisationen bestehenden Institutionen als prägend für die Ausgestaltung von Organisationen zu exemplifizieren. Institutionen in bestimmten sozialen historischen Situationen führen dem Ansatz folgend dazu, dass von Unternehmen die Erfüllung von definierten Handlungsskripten erwartet wird. Vorstellungssysteme und Wirklichkeitsinterpretationen eines bestimmten historischen Kontextes rücken so in den Mittelpunkt der Beleuchtung unternehmerischen Handelns und werden zu ökonomischen Kerngrößen. Innerhalb von Unternehmen kommt es demnach nach einer reflexiven Auseinandersetzung mit dem institutionellen und kulturellen Umfeld zu Institutionalisierungs- bzw. Deinstitutionalisierungsprozessen von organisationalen Formen, Managementkonzepten und allgemeinen Praktiken. Die partiellen Schwächen der neoinstitutionalistischen 21 22
Produktionsinduzierte Risiken für die eigentlichen Produktionsbetriebe sowie das Thema Arbeitsschutz sollen hier nicht im Fokus stehen. Hierzu etwa Nicole Schaad: Chemische Stoffe, giftige Körper. Gesundheitsrisiken in der Basler Chemie, 1860–1930, Zürich 2003. Die explizite Darstellung des Ansatzes erfolgt in Kapitel 2.2.
1.2 Periodisierung des Untersuchungszeitraums
19
Organisationstheorie wie etwa das Fehlen eines Kulturbegriffes oder die höchstens implizite Beachtung historischer Sinnzusammenhänge und die daraus resultierenden Lücken des Ansatzes werden in einer integrierten, um Konzepte kulturwissenschaftlicher Forschung erweiterten Unternehmensgeschichte geschlossen. Hierdurch wird es möglich, ein kontextualisierungsfähiges Handlungsmodell des Unternehmens als offenes System im gesellschaftlichen Wertewandel für die vorliegende Fallstudie zu entwerfen, und damit ein Analyseraster für den analytischen Hauptteil der Arbeit in Kapitel 3 zu generieren. Vor diesem Hintergrund wird der gewählte Forschungszeitraum in Phasen eingeteilt. Von diesen Phasen wird angenommen, dass sie im Hinblick auf veränderte unternehmerische Handlungslogiken und entsprechenden Arten von Risikoverhalten von Bedeutung sind.23 Besonders die Beobachtung zweier grundlegender Strömungen innerhalb der Unternehmen wie in der umgebenden Gesellschaft machten den Forschungszeitraum besonders reizvoll und untermauern zusätzlich die getroffene Annahme: Einerseits scheint die Zeit nach 1945 in Westdeutschland zunächst durch die Beibehaltung außer- und innerunternehmerischer institutioneller Arrangements aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg geprägt zu sein, was pfadabhängige Verhaltensstrategien und Handlungslogiken in den betrachteten Unternehmen konstituierte, während auch die Gefahrenzuschreibungen von außerhalb der Unternehmen relativ konstant blieben. Andererseits können wir seit den ausgehenden 1960er Jahren beschleunigte institutionelle Neuformierungen24 sowie die Verschiebung gesellschaftlicher Sinnmuster hin zu einer schützenswerten Mensch-Natur-Umwelt-Beziehung beobachten.25 Beide Strömungen wirkten dabei in einem durchgehend demokratischen Setting, was sich unter anderem in der Zunahme privatwirtschaftlicher Produktion widerspiegelte. Letztere führte jedoch für die chemische Industrie als einer der Triebkräfte des wirtschaftlichen Booms der Nachkriegszeit mitunter zum Niedergang der tradierten Industriekultur und dürfte mitverantwortlich für eine notwendig gewordene Sinnsuche hinsichtlich des Umgangs mit ihren produktionsinduzierten Risiken gewesen sein.26 Ausgehend vom stattgefundenen gesellschaftlichen Perspektivenwechsel hin zu einer nachhaltigen Umweltpolitik lassen sich dezidiert Aushandlungsprozesse zwischen Unternehmen und den an sie gestellten Erwartungshaltungen aufspüren. Vor dem Hintergrund dieser Annahmen in Bezug auf die Abhängigkeiten und Verbindungen unternehmerischer Handlungslogiken und gesellschaftlicher Erwar23
24 25 26
Der analytische Hauptteil wird sich dem Zeitraum bis in die 1980er Jahre hinein zuwenden, da hier in beiden Unternehmen eine gleich bleibende Quellenbasis hierarchisch wie auch fakultativ vorhanden war. Im Schlussteil der Arbeit werde ich anhand von Quellen aus einem späteren Zeitraum weitere Möglichkeiten für zukünftige Forschungsarbeiten aufzeigen. Vgl. Lutz Raphael / Anselm Doering-Manteuffel, S. 11. Vgl. Kurt Egger: Humanökologie in Praxis und Theorie, in: GAIA Bd. 6 Nr. 2 (1997), S.146– 152, hier S. 150. Ebd. S. 39. Zur Bedeutung der wirtschaftlichen Zäsur 1973/74, die zu großen Teilen einer mikroökonomischen, also einer Unternehmensebene zuzuschreiben ist vgl. Morten Reitmayer / Ruth Rosenberger: Unternehmen am Ende des „goldenen Zeitalters“. Die 1970er Jahre in unternehmens- und wirtschaftshistorischer Perspektive, in: Dies.: (Hg.): Ende des „goldenen Zeitalters“, Essen 2008, S. 9–31, hier S. 11.
20
1. Einführung
tungen wurden auch die Unternehmen Bayer und Henkel als Fallbeispiele ausgewählt. Um eine valide Datenbasis zu erhalten, war meines Erachtens aus methodischer Sicht eine ergänzende Betrachtung zweier Unternehmen vonnöten. Nur an jenen neuralgischen Punkten, an denen sich die Parameter des unternehmerischen Handelns signifikant unterscheiden, werde ich eine vergleichende Perspektive aufspannen. Die beiden konkreten Unternehmen wurden weiterhin aufgrund ihrer traditionellen Einbettungen in ihre jeweiligen Standorte ausgewählt, da davon ausgegangen wird, dass dieser Aspekt für die untersuchten Themenbereiche von besonderer Relevanz ist: Die langjährigen Ansiedlungen der Unternehmen an ihren Standorten sind mit integrativen Potenzialen verbunden. Hieraus leitet sich insbesondere in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine Verbindung von Nachbarschaft und Werk ab, die das gemeinsame Ziel des Entfliehens aus der neuerlichen Mangelgesellschaft forcierte. Daraus leitet sich aber auch ab, dass eine ständige Gefährdung durch die Risikoproduktion der Werksumgebung bekannt gewesen war. So wird bei Bayer hauptsächlich der Standort Leverkusen und bei Henkel der Standort DüsseldorfHolthausen betrachtet. Ebenfalls ein Kriterium bei der Unternehmenswahl bildeten die Zugehörigkeit zur Chemiebranche, die jeweils führenden Rollen beider Unternehmen sowie deren Größen. So ähnlich sich die beiden ausgewählten Unternehmen auf den ersten Blick sind, so unterschiedlich sind sie jedoch in ihren Produktportfolios und in ihrer Produktionsweise: Während Henkel traditionell Hersteller von Konsumgütern und Anwendungschemie ist, besitzt Bayer als ‚Chemieriese‘ ein risikoreicheres Produktsortiment und Produktionsprogramm.27 Die letzte Begründung der Unternehmensauswahl schließlich ist geographisch begründet. Da die vorliegende Arbeit ihr Augenmerk auf die Risiken einer Verunreinigung der Luft durch industrielle Emissionen und auf die Gewässerverschmutzung durch Einleiten von Industrieabwässern richtet, wurden zwei Unternehmen in räumlicher Nähe zum Rheinstrom, zur Industrielandschaft des Ruhrgebietes und zum Niederrhein ausgewählt. Dahinter stand nicht zuletzt die Annahme, dass ähnliche Erwartungshaltungen gegenüber den Unternehmen bestehen dürften und so eine Vergleichbarkeit der Einzelergebnisse gewährleistet sein würde.28 1.3 ABGRENZUNG ZUM FORSCHUNGSSTAND Im einleitenden Aufsatz des jüngst erschienenen „Oxford Handbook of Business History“ plädiert Patrick Fridenson dezidiert für eine weitere Auseinandersetzung 27
28
Zur allgemeinen Darstellung der Unternehmens-, Produktions- und Produktgeschichte der beiden Unternehmen vgl. für Henkel: Wilfried Feldenkirchen / Susanne Hilger / Wolfgang Zengerling: Menschen und Marken. 125 Jahre Henkel 1876–2001, Düsseldorf 2001 sowie für Bayer: Erik Verg / Gottfried Plumpe / Heinz Schultheis: Meilensteine. 125 Jahre Bayer 1863– 1988, hrsg. von der Bayer AG, Konzernverwaltung Öffentlichkeitsarbeit, Köln 1988. Eine nicht selbstverständliche kooperative Haltung der Unternehmensarchive zu einem solch kritischen Thema unterstützte die Wahl zusätzlich.
1.3 Abgrenzung zum Forschungsstand
21
mit unternehmerischen Risiken in einer transdisziplinären und integrierten Unternehmenshistoriographie und sagt diesem Themenfeld eine ertragreiche Zukunft voraus, insbesondere im Fall der Zuhilfenahme kulturwissenschaftlicher Ansätze.29 Innerhalb der deutschen Forschungslandschaft hingegen steht bisweilen eine unternehmensgeschichtliche Krisenforschung im Vordergrund, die auf klassische Krisenauslöser wie Markt- oder Produktrisiken fokussiert ist.30 Gerade die von Fridenson exponierte Darstellung von Unternehmensrisiken bedarf verstärkt der Einbindung in den sozioökonomischen Kontext, wenn es um den Umgang mit produktionsinduzierten Risiken in der deutschen chemischen Industrie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geht.31 Diese noch ganz am Anfang stehende Form der unternehmensgeschichtlichen Risikoforschung nach 1945 bezieht sich dann auch auf erwachsende Krisenphänomene, ausgelöst durch das Versagen chemischtechnischer Anlagen in einem sich wandelnden kulturellen Umfeld der Unternehmen. Das Umfeld produzierte so neuartige Phänomene wie regional übergreifende Protestgruppen oder Bürgerbewegungen – oder, allgemein gesprochen, neue Sinndeutungsmuster – mit denen die Unternehmen als Risikoproduzenten konfrontiert wurden und die sich gegen ihre tradierte Art zu produzieren wandten.32 Dies kann 29 30 31
32
Vgl. Patrick Fridenson: Business History and History, in: Geoffrey Jones / Jonathan Zeitlin (Hg.): The Oxford Handbook of Business History, Oxford 2008, S. 9–37, hier S. 17. Etwa Stefanie van de Keerkhof: Krisen als Chance oder Gefahr für das Überleben von Unternehmen. In: Jahrbuch für Unternehmensgeschichte 2 (2006), Berlin 2006, S. 12–32. Für die chemische Industrie fehlt eine solche Studie für den Zeitraum nach 1945 gänzlich. Durch die hervorragende Arbeit von Michael Farrenkopf sind jedoch Explosionsrisiken, ihre Verhandlungen und unternehmensinterne Sinnmuster für den Bergbau gut erforscht, vgl. Michael Farrenkopf: Schlagwetter und Kohlenstaub. Das Explosionsrisiko im industriellen Ruhrbergbau (1850–1914), Bochum 2003. Der einzige ernsthafte Versuch, unternehmerische Handlungslogiken der chemischen Industrie in einen Zusammenhang mit gesellschaftlichen Anspruchgruppen zu stellen, stammt aus der amerikanischen Organisationsforschung, vgl. Andrew J. Hoffmann: Institutional Evolution and Change. Environmentalism and the U.S. Chemical Industrie, in: Academy of Management Journal 42/4 (1999), S. 351–371. Die Schwächen dieses Aufsatzes sehe ich darin, dass hier eine historische Betrachtung unternommen wird, ohne jedoch die verwendete organisationswissenschaftliche Theorie explizit zu historisieren. Das Resultat ist eine Mischung aus deskriptiven und statistischen Ergebnissen, vgl. ebd. S. 364f. Vgl. Thilo Jungkind: Risikoverhalten und ‚Störfallkrisen‘ in der chemischen Industrie. Eine unternehmensgeschichtliche Perspektive, in: Katja Patzel-Mattern / Carla Meyer / Gerrit Schenk (Hg.): Krisengeschichte(n). „Krise“ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive, (Beihefte der Vierteljahrsschrift zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, erscheint im Herbst 2012). Ebenso wurde im Rahmen der Exzellenzinitiative an der Universität Konstanz in Kooperation mit der Universität Heidelberg eine Netzwerkplattform unter dem Titel: „Industrielle Krisenkommunikation im 20. Jahrhundert. Theoretische Bestimmung und kommunikative Bewältigung industrieller Störfallkrisen im deutschen Sprachraum in historischer Perspektive“ ins Leben gerufen. Das Ziel dieses transdisziplinären Netzwerkes besteht in der Auslotung von Potenzialen der historischen und sozialwissenschaftlichen Krisenforschung, die in den vergangenen Jahren eine Blütezeit erlebte und darin, diese auch für die Betrachtung industrieller und unternehmensbezogener Phänomene fruchtbar zu machen. Dabei geht es neben einer differenzierten Betrachtung der materiellen Dimension des Störfallereignisses vor allem darum, kommunikative Strukturen industrieller Krisenverarbeitung und ihre Bedeutung für institutionellen Wandel zu diskutieren. Vgl. Daniel Wilhelm: Tagungsbericht
22
1. Einführung
weiteren Forschungen die Gelegenheit zu einer Vertiefung der Krisen- und Katastrophenforschung in einer um das gesellschaftliche Umfeld erweiterten unternehmensgeschichtlichen Perspektive im kulturellen Paradigma geben.33 Es bleibt zu hoffen, dass Fridenson mit seiner Forderung nicht allein bleibt. Eine dezidierte und quellenbasierte Auseinandersetzung mit unternehmerischen Handlungslogiken im Hinblick auf produktionsinduzierte Risiken nach 1945 fehlt bislang in der Forschungsliteratur. Dies wurde bereits einleitend durch die Feststellung von Hartmut Bergoff und Mathias Mutz postuliert, und dies gilt sowohl aus einer interdisziplinären wie auch einer zeitlichen Perspektive. Die eigens von den Konzernen in Auftrag gegebenen unternehmenshistorischen Darstellungen zeichnen zumeist ein unkritisches, sehr positives Bild der Unternehmensentwicklung und -politik, auch bezüglich des Themas Umweltschutz und Risikoproduktion.34 Unternehmensgeschichtliche Fallstudien für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts streifen ebenfalls das Thema Umweltschutz meist nur beiläufig.35 Eine Ausnahme
33
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35
Industrielle Krisenkommunikation im 20. Jahrhundert. Theoretische Bestimmung und kommunikative Bewältigung industrieller Störfallkrisen im deutschen Sprachraum in historischer Perspektive, 04.03.2010–05.03.2010 in Konstanz, in: H-Soz-u-Kult, 07.07.2010, URL: http:// hsozkult.geschichte.huberlin.de/tagungsberichte/id=3181&count=96&recno=16&sort=datum &order=down&search=Daniel+Wilhelm (19.07.2012). Des Weiteren zur narratologischen Konstruktionen infolge von Chemieunglücken bei der BASF nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg vgl. Katja Patzel-Mattern: „Sterben auf dem Feld der Pflicht“. Die sprachliche und bildliche Inszenierung der Opfer der Explosionsunglücke bei der BASF 1921 und 1948 im Sammelband zur Tagung „Politische Märtyrer. Sinnzuschreibungen in Vormoderne und Moderne“ des Exzellenzclusters „Religion und Politik“, Münster, erscheint Herbst/Winter 2012. Dies kann sich sicherlich aus der Loslösung der Konfliktgeschichte hin zu einer „Verflechtungsgeschichte“ zeigen. Eine angedachte Tagung im September 2011 will hierfür Wirtschafts-, Umwelt- und Unternehmensgeschichte zusammenführen. Die Ergebnisse bleiben abzuwarten. Vgl. Ralf Arens / Melanie Arndt: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=17000 (14.6.2012). Vgl. für die BASF Werner Abelshauser / Wolfgang von Hippel / Jeffrey Alan Johnson / Raymond G. Stokes: Die BASF. Von 1865 bis zur Gegenwart. Geschichte eines Unternehmens, München 2002. Für Henkel: Wilfried Feldenkirchen / Susanne Hilger / Wolfgang Zengerling: Menschen und Marken. Für Bayer: Erik Verg / Gottfried Plumpe / Heinz Schultheis: Meilensteine. Erste kritische Auseinandersetzungen für die Zeit der Frühindustrialisierung finden sich bei Michael Stolberg: Ein Recht auf saubere Luft? Umweltkonflikte am Beginn des Industriezeitalters, Erlangen 1994. Stollberg geht dabei dezidiert auf die Handhabung früher Umweltprobleme auf einer multiperspektivischen Ebene ein. Er kommt unter anderem zu dem Schluss, dass es eine Missinterpretation des Luftverschmutzungsproblems gebe, wenn die Kontroverse nicht in den geschichtlichen Kontext eingebettet werde, vgl. ebd. S. 201f. Jedoch sehe ich aus einer unternehmensgeschichtlichen Sichtweise das Problem eines nur wenig veränderten formalen wie auch informellen Kontextes in Stolbergs Forschungszeitraum. Das gilt auch für Ulrike Gilhaus: Schmerzenskinder der Industrie: Umweltverschmutzung, Umweltpolitik und sozialer Protest im Industriezeitalter in Westfalen 1845–1914, Paderborn 1995. Zur Frage der Amerikanisierung aus unternehmenshistorischer Perspektive im Kontext der Umweltschutzthematik etwa Susanne Hilger: Amerikanisierung deutscher Unternehmen. Wettbewerbsstrategien und Unternehmenspolitik bei Henkel, Siemens und Daimler-Benz (1945/49– 1975), Wiesbaden 2004, S. 149f. Ebenso Christian Kleinschmidt: Der produktive Blick. Wahrnehmung amerikanischer und japanischer Management- und Produktionsmethoden durch deutsche Unternehmer 1950–1985, Berlin 2002, S. 121f.
1.3 Abgrenzung zum Forschungsstand
23
stellt hier die mentalitätsgeschichtliche Studie von Markus Raasch dar, die unternehmensseitige Maßnahmen anlässlich eines Störfalls im Bayer-Werk Dormagen im Jahre 1979 aufzeigt und so eine Verbindung der Sinnmuster der Dormagener Bevölkerung und dem Bayer-Werk herstellt.36 Erste Versuche innerhalb des Faches Umweltgeschichte, eine akteurszentrierte Perspektive einzunehmen, wurden von Frank Uekötter unternommen. Obwohl er keine unternehmensinternen Quellen heranzieht, gelingt ihm in mehreren Publikationen eine breite Darstellung der Umweltverschmutzungen nach 1945 mit Blick auf die unter anderem von der chemischen Industrie ausgehenden Gefahren.37 Am deutlichsten wird diese umwelthistorische Akteurszentrierung in Uekötters Studie zur Rauchplage in den deutschen Industriegebieten seit der Hochindustrialisierung. Dort verwirft er in einer neuen Perspektive der Umweltgeschichte nach 1945 die bis dahin gegoltenen Stereotypen einer allein verursachenden Industrie, indem er auch den zuständigen Behörden Versagen auf dem Gebiet des Umweltschutzes nachweist.38 Auch der von Frank Uekötter und Jens Hohensee editierte Sammelband über falsche Ökoalarme39 bietet ein breites Spektrum an Beiträgen von der Frühen Neuzeit bis hin zur Zeitgeschichte. Insbesondere die Entstehung eines politischen und medialen Resonanzbodens für eine breite Risikodebatte, wie auch die Entwicklungen der Risikodebatte hinsichtlich gesellschaftlicher und politischer Partizipation markieren demnach den Wendepunkt der gesellschaftlichen Wahrnehmung von produktionsinduzierten Risiken und daraus (bisweilen zu Unrecht) generierter Umweltgefahren. Auch in diesem Band sucht man allerdings eine auf Unternehmensquellen basierende Sichtweise vergebens. In einer ähnlichen Arbeit richtet Kai F. Hünemörder seinen Blick auf die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise.40 Hünemörders Anliegen ist es, die Formierung einer deutschen und globalen Umweltpolitik aufzuarbeiten. Er zeigt auf, wie das Bewusstwerden der Grenzen des Wachstums alte Denkmuster eines Fortschrittsparadigmas ins Wanken gerieten ließen, wobei ihm in Bezug auf den deutschen Fall die ersten Versuche technischer Lösungsansätze von Seiten der (chemischen) Industrie trotz eines nicht vorhandenen Umweltbewusstseins wichtig sind.41 Insbesondere die von Hünemörder dar36
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Vgl Markus Raasch, S. 587ff. Die Thematik ist auch in einem populärwissenschaftlichen Buch bearbeitet worden: Klas Ewert Everyn: Der Dormagener Störfall. Eine Legende. Eine Real Fiction und ihre realen Folgen. Stuttgart 1997. Neben dem recht bekannten Störfall in Dormagen existiert auch eine Publikation zum Seveso-Unglück von 1976: Egmont R Koch und Fritz Vahrenholt: Seveso ist überall. Die tödlichen Risiken der Chemie, Frankfurt am Main 1986. Für eine weite Perspektive auf die Entwicklung der Großchemie und einige Umweltschutzbestrebungen der Branche bei Walter Teltschick, S. 123ff. Frank Uekötter: Von der Rauchplage zur ökologischen Revolution. Eine Geschichte der Luftverschmutzung in Deutschland und den USA 1880–1970, Essen 2003. Frank Uekötter: Das organisierte Versagen. Die deutsche Gewerbeaufsicht und die Luftverschmutzung vor dem ökologischen Zeitalter, in: Archiv für Sozialgeschichte 43 (2003), S. 127–150, im Folgenden: Uekötter (2003a). Frank Uekötter / Jens Hohensee (Hg.): Wird Kassandra heiser? Die Geschichte falscher Ökoalarme, Historische Mitteilungen / Beiheft 57, Stuttgart 2004. Vgl. Hünemörder, Kai F.: Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise und die Formierung der deutschen Umweltpolitik (1950–1973), Stuttgart 2004. Vgl. ebd. S. 11ff und S. 113.
24
1. Einführung
gestellten Vermittlungsleistungen der Medien, die sprachlichen Selbstfindungsprozesse der Umweltbewegung, die steigenden Antagonismen zwischen Umwelt- und Wirtschaftsinteressen sowie die politischen Polarisierungen dienten meiner Arbeit als Grundlage, um den gesellschaftlichen Akteur chemische Industrie auf seine kontextgebundenen Handlungslogiken besser befragen zu können. Richtet sich der Blick durch die Forschungslandschaft von umweltgeschichtlichen Betrachtungen, die beiläufig unternehmerische Handlungslogiken zu erfassen versuchen, auf die Technikgeschichte jüngeren Datums, so treffen wir auch dort nur auf mehr oder weniger eindimensionale Arbeiten, welche die Zeit nach 1945 nicht thematisieren.42 Arne Andersen versucht in seiner Studie über Technikfolgeabschätzungen, gezielt eingefahrene Paradigmen der Technik- und Umweltgeschichte aufzubrechen und die sozialen Folgen sowie die frühen Verhandlungen über Industrie-Emissionen am Beispiel der chemischen Industrie und des Metallhüttenwesens bis 1933 nachzuzeichnen. Mit dem paradigmatischen Bruch eines reinen „Fortschrittsparadigmas“ aus der Technikgeschichte sowie des „Niedergangsparadigmas“ will Andersen einen neuen Bewertungsmaßstab generieren. Dieser soll die gesellschaftlich verursachten Naturveränderungen und deren Ausmaß bemessen und so die historischen Sinndeutungen sowohl des wirtschaftlichen als auch des politisch-gesellschaftlichen Systems aufzeigen können. Obwohl hier die unterschiedlichen Vorstellungen von Technikfolgen aufeinander bezogen wurden, bleiben inner-unternehmerische Handlungsstrategien bezüglich produktionsinduzierter Risiken für die natürliche und lebensweltliche Umwelt nach 1945 im Verborgenen. Arbeiten aus anderen Disziplinen, die sich mit unternehmerischen (Störfall-) Risiken beschäftigen, dürfen meist der Kategorie Beraterliteratur zugemessen werden. Aus einer betriebswirtschaftlichen Perspektive wird ökonomischen Annahmen und Analyseverfahren gefolgt, und Störfallrisiken werden mit Hilfe von statistischen Verfahren zu minimieren versucht.43 Ebenfalls auf Handlungsanleitungen für Praktiker zielen kommunikationswissenschaftliche Arbeiten, die aus historischem Fehlverhalten in der externen Unternehmenskommunikation lernen wollen.44 In eine ähnliche Richtung des unternehmerischen Lernens – wenn auch nicht explizit 42 43
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Arne Andersen: Historische Technikfolgenabschätzung am Beispiel des Metallhüttenwesens und der Chemieindustrie 1859–1933, Stuttgart 1996. Friedrich Rosenkranz / Magdalena Missler-Behr: Unternehmensrisiken erkennen und managen. Einführung in die quantitative Planung, Berlin 2005. Weniger exemplarisch für die statistische Risikoforschung, allerdings auch auf die Beherrschbarkeit von chemisch technischen Risiken und nicht auf explizite Handlungsstrategien von Unternehmen zugeschnitten: Ulrich Krystek / Ralf Moldenhauer / Eugen Angsten: Handbuch Krisen- und Restrukturierungsmanagement. Generelle Konzepte, Spezialproblem, Praxisberichte, Stuttgart 2007. Etwa Norbert Baumgärtner: Risiko- und Krisenkommunikation. Rahmenbedingungen, Herausforderungen und Erfolgsfaktoren, dargestellt am Beispiel der chemischen Industrie, München 2005. Baumgärtners Dissertation fokussiert auf Risikokommunikation und Unternehmenskrisen als Resultat gescheiterter oder unzureichender Kommunikation. Das Verdienst der Arbeit liegt in der Aufarbeitung unternehmerischer Verlautbarungen nach Störfallen und zeigt vor dem Hintergrund „sozialer Entwicklungen“ seit dem Dioxinstörfall von Seveso Missverständnisse und sich daraus entwickelnde schwere Imageverluste auf.
1.3 Abgrenzung zum Forschungsstand
25
auf Störfälle bezogen – argumentiert die Wirtschaftsgeographin Katharina Karin Zöller, die den Faktor Akzeptanz regionalspezifisch in einem deutsch-amerikanischen Vergleich auf seine Effizienz befragen möchte. Sie geht von der Möglichkeit einer positiven Beeinflussung von Akzeptanz aus,45 was sie meiner Ansicht nach aufgrund fehlender Kontexteinbindung und konzeptioneller Schwächen nicht verifizieren kann. Aufgrund des Fehlens dezidiert unternehmensgeschichtlicher Arbeiten habe ich mir das Ziel gesetzt, den gesellschaftlichen Akteur in Gestalt der Unternehmen Bayer und Henkel herauszugreifen, sie mit Hilfe einer tiefschichtigen Quellenanalyse auf ihre Handlungsmuster zu befragen und so eine Abgrenzung zu bestehenden Forschungen der Technik- und Umweltgeschichte sowie von den anderen von mir dargestellten Ansätzen unterschiedlicher disziplinärer Provenienz zu erreichen. Es geht mir also weder um eine Rechtsgeschichte des Emissions- und Gewässerschutzes, noch geht es mir um eine kultur-, sozial- oder mentalitätsgeschichtliche Darstellung des Umweltschutzes; beide Aspekte dienen mir nur zur Konstruktion des formalen wie informell institutionalistischen Kontextes. Ich werde mithilfe jüngster Arbeiten aus den angesprochenen Forschungsdisziplinen einen historischen Kontext umreißen, der mir die Analyse unternehmerischen Handelns in einem um die Umwelt erweiterten kulturellen Paradigma der Unternehmensgeschichte erleichtert. Auf dieser Basis können dann weitere Forschungen der Umwelt-, Technik-, Unternehmens- und Wirtschaftsgeschichte sowie einer qualitativ vorgehenden Betriebswirtschaftslehre und Organisationswissenschaft darstellen, warum trotz mancher frühen Anstrengung auf dem Gebiet des staatlichen Umweltschutzes eine Zäsur hinsichtlich der allmählichen Verbesserung der Emissionsverhältnisse und der Gewässerverschmutzung erst seit den 1970er Jahren nachgewiesen werden kann. Daher verstehe ich meine Analyse als Ergänzung zu vorliegenden umwelt- und technikhistorischen Arbeiten sowie als Anregung für weitere unternehmens- und organisationswissenschaftliche Arbeiten auf diesem Gebiet. Ich werde im Folgenden die von mir durchgesehenen und analysierten Quellenbestände beschreiben. Nur eine quellenbasierte Arbeit in einem erweiterten kulturellen Paradigma der Unternehmensgeschichtsschreibung kann die Handlungslogiken des gesellschaftlichen Akteurs Chemieunternehmen in seinen Facetten und Verläufen darstellen und damit bestehende Forschungen ergänzen sowie Anregungen für weitere Forschungsvorhaben generieren. Die ausgewählten Quellen erlauben einen Einblick in zwei der größten Chemieunternehmen der Bundesrepublik, in kontextgebundene Sinnmuster dieser Unternehmen ebenso in die Interdependenzen mit dem institutionellen Kontext sowie der kulturellen Rahmung, wenngleich eine Vielzahl vorhandener Archivmaterialien noch der Sperrfrist unterliegt und damit erst in einigen Jahren Arbeiten zu einem Forschungszeitraum ab den späten 1980er Jahren entstehen können.
45
Ebd. S. 22.
26
1. Einführung
1.4 CHARAKTERISTIKEN UND VERGLEICH DER QUELLENLAGEN BEI BAYER UND HENKEL „Unternehmensquellen bzw. für Unternehmensentwicklung relevante Quellen sind unübersehbar, ebenso wie die Zahl möglicherweise zu untersuchender Unternehmen so groß ist, dass eine im statistischen Sinne repräsentative Erfassung aller möglichen Entwicklungsverläufe ausgeschlossen ist.“46 Die Vielzahl möglicher zu sichtender Quellen, von denen Werner Plumpe hier spricht, wird noch deutlicher, wenn man sich einem so komplexen Thema wie dem Risikoverhalten von Chemieunternehmen in Beziehung zu gesellschaftlichen Erwartungshaltungen annähert. Erschwerend kommt hinzu, dass die hier betrachteten Unternehmen hoch komplexe Konzerne sind, deren Unternehmensarchive ohnehin eine solche Fülle an Quellen beinhalten, so dass eine Eingrenzung und Systematisierung der Quellenbestände erfolgen musste. Oberstes Ziel bei einem solchen Vorhaben muss die Risiko-Operationalisierung respektive Umweltrisiko-Operationaliserung sein. Darum sind vor allem Quellenbestände des (nicht zu jeder Zeit) vorhandenen Umweltschutzes zu berücksichtigen, zumal nachträglich umweltrelevante Quellen in diese Bestände hineingespült wurden. Es zeigte sich, dass eine Operationalisierung von Risiken für die natürliche und lebensweltliche Umwelt anhand dieser Quellen möglich war. Aus methodischer Sicht wurde zumeist interner Schriftverkehr sowie nach außen gerichtete Korrespondenz der Unternehmen bzw. Korrespondenz an die Unternehmen betrachtet, um die Verlinkung von Erwartungshaltungen, Aushandlungsprozessen und internen Sichtweisen zu dem jeweiligen Thema auszuloten. Auf diesen unterschiedlichen Ebenen konnten so wiederkehrende Argumentationen und Meinungsbildungsprozesse eruiert werden. Die Funktionsbereiche und Hierarchieebenen der Unternehmensinnensicht waren dabei zu berücksichtigen, worauf an entsprechenden Stellen im analytischen Kapitel 3 hingewiesen wird. Diese Vorgehensweise ist insofern zielführend, als dass sowohl der Umweltschutz in Gestalt einer gesellschaftlichen Erwartung wie auch die sich im Zeitverlauf verändernden Diskurse über dieses Thema operationalisiert werden können. Es wird dann möglich, die Perzeption dieser operationalisierten Erwartungsstrukturen gegenüber dem Unternehmen zu fassen und hieraus folgend die angewandten Handlungsstrategien des Unternehmens nach innen – im Sinne eines veränderten institutionellen Arrangements – wie seiner Außendarstellung zu eruieren. Die vorliegende Arbeit untersucht explizit die Perspektive der Unternehmen; es geht darum, die Wahrnehmung der Erwartungshaltungen gegenüber dem Unternehmen und das hieraus resultierende Unternehmenshandeln aus dessen Sicht aufzuzeigen. Folglich werden all diejenigen Quellen, die von außen stammen – wie etwa Korrespondenz mit Behörden oder Protestgruppen und Zeitungsartikel – als wahrnehmungsrelevant angesehen. Diese wären auf der Absenderseite nur als Duplikat zu finden, so dass eine Analyse auf dieser Absenderseite nicht notwendig war. Es wird in jedem Gliederungspunkt des analytischen Hauptteils direkter Bezug 46
Werner Plumpe: Unternehmen, in: Gerold Ambrosius / Dietmar Petzina / Werner Plumpe (Hg.): Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung für Historiker und Ökonomen, München 1996, S. 47–66, hier S. 64.
1.4 Charakteristiken und Vergleich der Quellenlagen
27
von außer-unternehmerischen Quellen auf die inneren Reaktionen und Verhältnisse genommen. Insbesondere im Falle des Bayer-Konzerns galt es, eine Eingrenzung vorzunehmen. Hilfreich war hier die Durchsicht des Bestandes der Werksverwaltung Leverkusen und ihrer Vorgängerorganisation der Direktionsabteilung, die als Bindeglied zwischen unternehmerischem Umfeld und Werk fungierten. Sie nahmen Erwartungen gegenüber dem Unternehmen wahr, kanalisierten sie und setzten sie nach innen durch, so dass hier von einer transhierarchischen Stelle – in ihrer Besetzung wie auch ihrer richtungsmäßigen Durchsetzungsmacht – gesprochen werden kann. Im entsprechenden Bestand finden sich Schriftverkehre mit Ämtern, Behörden, Umweltgruppen und Politik bis auf Bundesebene bezüglich risiko- und umweltrelevanter Fragen des Konzerns im Allgemeinen sowie des Bayerwerks Leverkusen im Besonderen. Ebenso sind dort in- und externe Berichte und gutachterliche Expertisen über Emissionen und Immissionen des Werkes vorhanden, die Aufschluss über risikobehaftete, da umweltrelevante Handlungen des Unternehmens geben. Ein weiterer sehr aufschlussreicher Bestand ist jener der Ingenieurverwaltung. Aus einer chemisch-technischen Sicht der Chemiker und Ingenieure finden sich dort fakultative Dokumente sowie die kompletten Protokolle der so genannten AWALU (Abwasser- und Abluft)-Abteilung, der zugehörigen Kommission bzw. des AWALU-Labors, das 1954 eingerichtet wurde. Diese operativen, dem Tagesgeschäft entstammenden Risiko- und Umweltquellen enthalten Aufstellungen zu Umweltschutzausgaben des Standortes Leverkusen, Studien zu Abwasserfrachten, Luftmessungsprotokolle und dergleichen mehr. Hieraus lässt sich beispielsweise der Fortschritt des Risikoverhaltens im Sinne von technischem Umweltschutz nachzeichnen. Gleichzeitig ist dies aber auch problematisch, da sich Messverfahren über die Jahre änderten, Anlagen abgerissen oder modifiziert wurden, so dass eine durchgängige Bestimmung dieser Daten mit entsprechenden Vergleichswerten nur an wenigen Stellen möglich war. Im gleichen Bestand finden sich Beschwerden der Nachbarn gegen das Bayer-Werk, da die Abteilung samt dem zuständigen AWALU-Labor für die Besichtigung und Schadensabschätzung verantwortlich war. Wir haben es hier also mit einer direkten Verbindung zwischen Unternehmen und gesellschaftlicher Erwartung – in ihrer Reinform als Beschwerde – zu tun und können gegebenenfalls direkt auf rekurrierende Gegenmaßnahmen schließen. Ebenfalls im Bestand der Ingenieurverwaltung vorhanden ist die Dokumentation über Un- und Störfälle in allen Variationen von der Chlor- und Phosgenwolke bis hin zum Austreten von verunreinigten Abwässern in den Rhein oder Explosionen, die sich im Werk ereigneten. Im Bereich der in- und externen Unternehmenskommunikation sind zu Fragen des Risikoverhaltens und allgemeinen Umweltfragen auch die Werkszeitschriften sowie die Geschäfts- und Umweltberichte von Interesse, die ergänzend zu dem bisher dargestellten Quellenkorpus an gegebener Stelle in die Analyse einbezogen werden. Hier wird deutlich, wie Fragen der Risikoabwehr und des Umweltschutzes im Innern ausgehandelt wurden und wie versucht wurde, über Kommunikation eine Sicherheitskultur auch für die Werksumwelt zu erzeugen. Die externe Unternehmenskommunikation macht deutlich, wie sehr sich Bayer v.a. seit den 1970er
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1. Einführung
Jahren um Legitimierung bemühte, indem das gestiegene Umweltbewusstsein des Konzerns propagiert wurde und das Unternehmen auf getroffenen Maßnahmen insistierte. Die Darstellung des strategischen Umgangs mit produktionsinduzierten Risiken auf der höchsten Unternehmensebene wurde mit der Durchsicht der Vorstandsprotokolle sichergestellt. Die analysierten Quellenbestände im Konzernarchiv der Firma Henkel in Düsseldorf sind vielschichtiger, als jene bei Bayer. Dort finden sich in geringerem Maße zusammenhängende Einzelbestände. Es sind noch nicht alle für das Thema relevanten Quellen vom Archivteam erfasst und damit zum Teil nicht explizit durch Signaturen verzeichnet. Diese letzte Form der Quellen entstammt direkt den historischen Abteilungen und musste auf Grund der Vermutung eines Beitrags zum Thema einzeln durchgesehen werden. Der einzige Bestand bei Henkel, der in komprimierter Form Aufschluss über das Risikoverhalten in verschiedensten Unternehmensbereichen gibt, ist jener Otto Opderbeckes, des langjährigen Werksleiters des Düsseldorfer Stammwerkes und Leiters des Ressorts Ingenieurwesen. Dieser enthält ähnliche Dokumente wie der Bestand der Werksverwaltung Leverkusen bei Bayer, d.h. wiederum themenspezifische und teils strategische (Umwelt-)Risikoquellen von der operativen Ebene bis hin zum mittleren und gehobenen Management. Einen bedeutenden Vorteil bot die Auswertung der Protokolle der Werks- und Meisterkonferenzen. Durch sie kann der innere Aushandlungs- und Implementierungsprozess von gesellschaftlichen Erwartungshaltungen nachvollzogen werden. So war es möglich, den Prozess der veränderten Selbst- und Fremdwahrnehmung und die stattgefundenen inneren Aushandlungsprozesse über produktionsinduzierte Risiken des eigenen Unternehmens auf den unterschiedlichsten Hierarchiestufen ausfindig zu machen. Darüber hinaus sind diese gesellschaftlichen Erwartungen gegenüber einem Unternehmen der chemischen Industrie – und als ein solches nahm sich das Unternehmen seit den 1970er Jahren selbst wahr – in so genannten Firmenbildstudien überliefert. Solche Auftragsarbeiten von Meinungsforschungsinstituten finden sich in konzentrierter Form bei Henkel, da das Unternehmen anders als der ‚Chemieriese‘ Bayer Konsumgüter herstellte und damit die Nähe zum Endkunden besaß. Der entscheidende Vorteil in der Auswertung dieser repräsentativen Meinungsumfragen besteht in der qualitativen wie auch quantitativen Sichtbarmachung von Erwartungshaltungen gegenüber der chemischen Industrie im Ganzen. Gremienprotokolle des höheren und höchsten Managements wie etwa die so genannten Postprotokolle liefern bei Henkel ähnliche Ergebnisse wie die strategischen Quellen im entsprechenden Bayer-Bestand. Ein Unterschied liegt jedoch in der Struktur von Henkel begründet: Viel deutlicher als dies beim Großkonzern Bayer der Fall ist, treten hier personenzentrierte Entscheidungen zutage. Im Forschungszeitraum wird dies insbesondere an Dr. Konrad Henkel deutlich, der ein feines Gespür für Erwartungshaltungen gegenüber dem Unternehmen entwickeln konnte und dementsprechend stetig Veränderungen im inner-unternehmerischen institutionellen Arrangement vorantrieb. Gleiches gilt für den Chef der Öffentlich-
1.4 Charakteristiken und Vergleich der Quellenlagen
29
keitsarbeit, Dr. Friedrich Bohmert, aus dessen Nachlassbeständen47 und Kolumnen in der Werkszeitschrift sein über seine Zeit hinaus reichendes Denken über Verantwortlichkeiten eines Unternehmens der chemischen Industrie ersichtlich wird. Durch die Einbeziehung des überlieferten internen Schriftverkehrs in die Analyse konnten Sinnzuschreibungen und -bildungen nachgezeichnet werden. Zudem wurden hierdurch auch innere Widerstände und Zustimmungen zu den jeweiligen gesellschaftlichen Erwartungshaltungen ersichtlich, und es konnten Aushandlungsprozesse aufgespürte werden, die sich sowohl fakultativ wie auch hierarchisch nachzeichnen ließen. Im folgenden Kapitel greife ich die Differenzierung der verwendeten Begriffe und die konzeptionelle Grundsteinlegung der Arbeit auf.
47
Diese finden sich in Einzelakten zum Thema Umweltschutz, in den Akten der Stabsstelle Öffentlichkeitsarbeit und mehreren unverzeichneten Akten.
2. BEGRIFFLICHE DIFFERENZIERUNG UND KONZEPTIONELLE HERANGEHENSWEISE 2.1 DER RISIKOBEGRIFF IM KONTEXT DES FORSCHUNGSVORHABENS Risikoforschung – nicht nur hinsichtlich technischer Risiken und deren gesellschaftlicher Zuschreibungen – beschäftigt seit langer Zeit die unterschiedlichen Disziplinen der Geistes- und Sozialwissenschaften, wobei Risiko hier in den meisten Fällen als zuschreibungs- und wahrnehmungsabhängiges Konstrukt gefasst wird.1 Diesen Forschungsansätzen steht eine formalisierte Betriebswirtschaftslehre entgegen, die keine Probleme kennt, den Risikobegriff in all seinen Facetten zu fassen, indem sie ihn auf die einfache Formel reduziert, wonach ein Risiko der Eintrittswahrscheinlichkeit eines Schadensereignisses multipliziert mit der Höhe des (erwarteten) Schadens entspricht.2 Damit avanciert der Risikobegriff unter formalen Gesichtspunkten zu einer monetär mess- und distinguierbaren Größe, die mit Hilfe statistischer Modelle abgebildet und handhabbar gemacht wird. Der Kultursoziologe Karl-Siegbert Rehberg stellt sich gegen eine solche Simplifizierung von Versagensrisiken großtechnischer Anlagen innerhalb einer industrialisierten Gesellschaft;3 Mit Rehberg gesprochen dürfen Versagensrisiken chemisch-technischer Anlagen als die „Präsenz des Möglichen“ umschrieben werden.4 So wird der Blick auf die ständige Latenz innerhalb des betrieblichen Alltags der chemischen Industrie gelenkt, d.h. auf den Umstand, dass die Eintrittswahrscheinlichkeit des Nichtfunktionierens innerhalb vorgegebener Parameter jederzeit den Wert eins annehmen kann. Die Bewertung der Eintrittswahrscheinlichkeit und ih1
2
3 4
Vgl. hierzu den Sammelband von Gotthard Bechmann (Hg.): Risiko und Gesellschaft. Grundlagen und Ergebnisse interdisziplinärer Risikoforschung, 2. Auflage, Opladen 1997. Ebenfalls Gerhard Banse (Hg.): Risikoforschung zwischen Disziplinarität und Interdisziplinarität. Von der Illusion der Sicherheit zum Umgang mit Unsicherheit, Berlin 1996. Aus einer systemtheoretischen Sicht vgl. Niklas Luhmann: Soziologie des Risikos, Berlin / New York 1991, hier vor allem die S. 1–9, S. 93–111 und S. 135–155. Vgl. Friedrich Rosenkranz / Magdalena Missler-Behr, S. 20. Die Ingenieurswissenschaften folgten auch dieser Prämisse. Vgl. Mathias Heidenescher: Die Beobachtung des Risikos. Zur Konstruktion technisch-ökologischer Risiken in Gesellschaft und Politik, Berlin 1999, S. 41. Kritisch hierzu Birger P. Priddat: Risiko, Ungewissheit und Neues: Epistemologische Probleme ökonomischer Entscheidungsbildung, in: Gerhard Banse (Hg.): Risikoforschung, 1996, S. 105–125. Gleichfalls Rainer Schwarz: Ökonomische Ansätze zur Risikoproblematik, in: Gerhard Banse (Hg.): Risikoforschung, 1996, S. 125–132. Aufgrund ihrer Komplexität produzieren chemisch-technische Anlagen stets unter Risiko. Vgl. Charles Perrow, 1992, S. 34ff. Vgl. Julia Itin: Tagungsbericht Krisengeschichte(n). ‚Krise‘ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive. 23.07.2009–25.07.2009, Heidelberg, in: H-Soz-u-Kult, 25.09.2009, . (14.05.2012).
2.1 Der Risikobegriff im Kontext des Forschungsvorhabens
31
rer Folgen wiederum ist eine „soziale Konstruktion von Wirklichkeit“ innerhalb der Miniaturgesellschaft Unternehmen, die kontextabhängig ist.5 Durch eine solche kultursoziologische und konstruktivistische Forschungsperspektive werden die Bewertungen und Wahrnehmungen der produktionsinduzierten Risiken durch eine unternehmensgeschichtlichen Analyse in veränderter Form dargestellt: Innerhalb des Hierarchiegefüges eines Unternehmens sowie die daraus folgenden Handlungen zur Eindämmung der produktionsinduzierten Risiken vom Chemiewerker bis zum Vorstandsvorsitzenden ändern sich im betrieblichen Alltag im Zeitablauf. Dieses innere Verständnis – die kultursoziologische und historische Auslegung des inner-unternehmerischen institutionellen Arrangements – gilt gleichermaßen für den Umgang mit technischen Anlagen hinsichtlich ihrer schädlichen Wirkungen nach außen. Wir haben es also mit bestimmten historischen Sinnstrukturen im Unternehmen zu tun, die sich kontinuierlich zwischen Akzeptanz und Notwendigkeit der Präsenz des Möglichen bis hin zu dessen Verleugnung und Ablehnung bewegen.6 Ich fokussiere in dieser Arbeit auf diejenigen Risiken der chemischen Produktion, die eine Außenwirkung besitzen. Störungen technischer Systeme umschreibt Ulrich Krystek kurz als Dysfunktionalitäten im Bereich des Sachpotenzials von Unternehmen.7 Sie können im alltäglichen Geschäftsbetrieb nie vollständig ausgeschlossen werden, wobei ihre Intensität sich innerhalb eines Kontinuums bewegt, das von der Betriebsstörung ohne Folgen bis hin zum größten anzunehmenden Unfall (GAU) heranreicht. Diese phänomenologische Sichtweise des Nichtfunktionierens im Störungsbegriff versperrt jedoch die Sicht auf die mögliche Außenwirkung und damit auch die Operationalisierung dessen, was ich in der vorliegenden Arbeit mit produktionsinduzierten Risiken für die natürliche und lebensweltliche Umwelt umrissen habe. Mit dem Störfallbegriff wird dieser Bezug zur Werksumwelt hinsichtlich chemisch-technischer Anlagen kanalisiert: Störfälle sind das physische Wahrhaftigwerden des Risikos, das bei jeder chemischen Produktion stets latent vorhanden ist. Ein wesentliches Merkmal eines chemisch-technischen Störfalls ist die mögliche Schädigung des Raumes jenseits der Werkstore, was allerdings erst im Jahre 1980 eine formell-institutionelle Rahmung in der Bundesstörfallverordnung erhielt: „Störfall […] ist eine Störung des bestimmungsgemäßen Betriebes, durch die ein Stoff […] frei wird, entsteht, in Brand gerät oder explodiert und eine Gemeingefahr hervorgerufen wird. Gemeingefahr […] ist eine Gefahr für Leben oder hinsichtlich schwerwiegender Gesundheitsbeeinträchtigungen von Menschen, die nicht zum Bedienungspersonal des gestörten Anlagenteils gehören, […], für 5 6
7
Zur Umsetzung sozialkonstruktivistischer Ansätze in der Unternehmensgeschichte vgl. Anne Niebering / Clemens Wischermann, 1998, S. 40. Zur Entwicklung des Themenschwerpunktes auch in der chemischen Industrie vgl. den Sammelband von Franz-Josef Brüggemeier / Michael Toyka-Seid (Hg.): Industrie-Natur. Lesebuch zur Geschichte der Umwelt im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main / New York 1995. Ebenso Arne Andersen, Stuttgart 1996. Vermehrt nach 1945 kam demnach eine Abwehrstrategie ins Rollen, welche die Werksumwelt betraf. Offen bleibt jedoch, aus welchen Gründen sich diese inner-unternehmerischen Handlungslogiken veränderten, genauer, welche Risikorespektiven und Sicherheitserwartungen gegenüber dem Unternehmen zu Tage traten. Vgl. Ulrich Krystek / Ralf Moldenhauer / Eugen Angsten, S. 29.
32
2. Begriffliche Differenzierung und konzeptionelle Herangehensweise
Sachen von hohem Wert, die sich außerhalb der Anlage befinden, falls durch eine Veränderung ihres Bestandes oder ihrer Nutzbarkeit das Gemeinwohl beeinträchtigt wird.“8 Die Außenwirkung eines möglichen chemisch-technischen Störfalls wird demnach dergestalt operationalisiert, dass eine Gefährdung der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt auftritt, was Niklas Luhmann in seiner terminologischen Unterscheidung zwischen Risiko und Gefahr sehr deutlich macht.9 Störfälle und damit allgemein chemisch-technische Risiken, gehen also von der notwendigen Produktion einer chemisch-technischen Anlage aus und besitzen eine Außenwirkung jenseits der Werksgrenzen; hier wird der Risikoproduktion der chemisch-technischen Anlage wiederum eine Gefahr zugeschrieben. Diese Gefahrenzuschreibung für die natürliche und lebensweltliche Umwelt und damit verbundener Erwartungshaltungen an die Ausgestaltung der Risikoproduktion sind Produkte kultureller Sinndeutungen und veränderter gesellschaftlicher Wertvorstellungen.10 Wird das Risiko nicht als eine rein messbare Größe verstanden, sondern als ein Konstrukt, das auf einen Risikoproduzenten zurückgeht, so wird die Werksumwelt durch die Entscheidung des chemischen Produzenten einer Gefahr ausgesetzt. Für die natürliche und lebensweltliche Umwelt des Unternehmens entsteht diese Gefahr durch die Entscheidung des Unternehmens, unter Risiko zu produzieren.11 Somit ist die Bipolarität der Begriffe Risiko und Gefahr zwischen der Herstellungs- oder Entscheiderebene einerseits und der Betroffenen- oder Wahrnehmungsebene andererseits angesiedelt. Es wird ein Geflecht aufgespannt, welches den Begriff der produktionsinduzierten Risiken ins Licht der Öffentlichkeit rückt; folgerichtig lässt sich die Analyse des Verhaltens der betrachteten Unternehmen nur im Rückgriff auf gesellschaftliche Wahrnehmungs- und Zuschreibungsmuster von Gefahren sowie deren Thematisierung im öffentlichen Diskurs vertreten. Wir haben es mit einer kulturellen Wirklichkeitskonstruktion von Gefahren zu tun, die insbesondere durch die moderne Industriegesellschaft entstand;12 Gefahrenperzeption und Verhandlungen darüber, was als Gefahr wahrgenommen wird, werden gleichermaßen durch 8
9 10 11 12
Zwölfte Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Störfall-Verordnung) – 12. BImSchG vom 27. Juni 1980 § 2 (1), (2), (3). Die Auseinandersetzung mit Störungen und Störfällen erfährt in den Kulturwissenschaften gegenwärtig eine Renaissance. So fand etwa vom 12. bis 14. Mai 2010 in Berlin eine Tagung mit dem Titel „Störfälle. Epistemologie, Performanz, Ästhetik“ statt. Rein technische Störfälle in interdisziplinärer Perspektive finden an den Universitäten Konstanz und Heidelberg Beachtung, etwa auf der gemeinsamen Tagung in Konstanz am 04. und 05. März 2010 „Industrielle Krisenkommunikation im 20. Jahrhundert. Theoretische Bestimmung und kommunikative Bewältigung industrieller Störfallkrisen im deutschen Sprachraum in historischer Perspektive“. Innerhalb der Unternehmen kam dieser Begriff erst in den 1970er Jahren auf. Formal wurde er erst durch die erwähnte Bundesstörfallverordnung definiert. Ich werde deswegen im empirischen Teil hauptsächlich von Unund Störfällen sprechen. Vgl. Niklas Luhmann, S. 7. Die vorliegende Arbeit folgt keinem systemtheoretischen Ansatz. Jedoch scheint die Unterscheidung zwischen Risiko und Gefahr pragmatisch zu sein. Hierzu auch Mathias Heidenescher, S. 12ff. Vgl. ebd. S. 12–13. Vgl. Wolfgang Bonß: Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewißheit in der Moderne, Hamburg 1995, S. 43. Ebenfalls Mathias Heidenescher, S. 41ff.
2.2 Die neoinstitutionalistische Organisationstheorie
33
das gesellschaftliche Umfeld hervorgetrieben. Die von der chemisch-technischen Produktion ausgehenden produktionsinduzierten Risiken unterliegen somit historischem Wandel und verweisen jeweils auf kulturspezifische Ausformungen dessen, wie die Präsenz des Möglichen sowohl aus Sicht der Unternehmen als auch aus Sicht deren Umfeld hingenommen wird.13 2.2 DIE NEOINSTITUTIONALISTISCHE ORGANISATIONSTHEORIE UND IHRE ANWENDUNG IN EINER UNTERNEHMENSGESCHICHTLICHEN FALLSTUDIE Die neoinstitutionalistische Organisationstheorie14 erlebte in den letzten Jahren einen Aufschwung in der zumeist qualitativ arbeitenden Organisationswissenschaft und steht in der Tradition einer neuartigen Wirtschaftssoziologie.15 Grundsätzlich baut das Organisationsverständnis dieser Theorie auf dem Bürokratiemodell Max Webers auf,16 wobei eine technisch-funktionalistische Sichtweise hinten angestellt wird und die Annahme im Mittelpunkt steht, dass sich Organisationen in einer industrialisierten Moderne nicht mehr ausreichend mit den Weber’schen Idealtypen beschreiben lassen.17 Überdies knüpft die Theorie stark an Traditionen eines europäischen Institutionalismus an, was sich in ihrer Fundierung in der Wissenssoziolo-
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16 17
Aus einer gesellschaftstheoretischen Sicht darf hier von einem Konstituierungsprozess hin zu einer „Risikogesellschaft“ gesprochen werden, die sich von der früheren Industriegesellschaft abgrenzt. Vgl. Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986. Beck weist darauf hin, dass Risiken immer auch Ergebnis eines gesellschaftlichen Konstruktionsprozesses seien. Als bedrohlich wahrgenommen würden nicht die abstrakten Risiken selber, sondern ihre konkrete Thematisierung. Dies führe dazu, dass „Wirklichkeit […] nach einem Schematismus von Sicherheit und Gefahr kognitiv strukturiert und wahrgenommen wird.“ Vgl. ebd. S. 48. Die Begriffe Organisation und Unternehmen werden im Folgenden synonym verwendet, was mit der Theorie konform ist. Unternehmen sind eine Teilform von Organisation. Ebenso werden die Begriffe neoinstitutionalistische Organisationstheorie und Neoinstitutionalismus gleichbedeutend verwendet. Vgl. Peter Walgenbach / Renate E. Meyer, S. 15/16. Vgl. auch Ursula Mense-Petermann: Das Verständnis von Organisation im Neo-Institutionalismus, in: Konstanze Seneg / Kai Uwe Hellmann (Hg.): Einführung in den Neo-Institutionalismus, Wiesbaden 2006, S. 62–75. Deterministische Konzepte der „öffentlichen Exponiertheit“ werden hier nicht diskutiert. Vgl. dazu Günter Ulrich: Können Unternehmen sozial verantwortungsvoll handeln?, in: Thomas Beschorner u.a. (Hg.): Unternehmensverantwortung aus kulturalistischer Sicht, Marburg 2007, S. 69–99. Ebenso Edward R. Freeman: Strategic Management. A Stakeholder Approach, Boston 1984. Zur Ausrichtung der Theorie in Bezug auf ihre Affinität zur Wirtschaftssoziologie vgl. Andrea Maurer / Uwe Schimank: Die Gesellschaft der Unternehmen – Die Unternehmen der Gesellschaft, in: Dies. (Hg.): Gesellschaft der Unternehmen, 2008, S. 7–17. Vgl. hierzu v.a. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Auflage, Tübingen 1972. Ders.: Die protestantische Ethik. Bd. I: Eine Aufsatzsammlung, 7. Auflage, Tübingen 1984. Vgl. Gili S. Drori / John W. Meyer / Hokyu Hwang: Introduction. Globalization and Organization, in: Dies. (Hg.): Globalization and Organization. World Society and Organizational Change, Oxford 2006, S. 1–22, hier S. 13.
34
2. Begriffliche Differenzierung und konzeptionelle Herangehensweise
gie Berger-Luckmann’scher Prägung18 zeigt und in ihrer zentralen Aussage widerspiegelt: „Die Umwelt von Organisationen besteht aus institutionalisierten Erwartungsstrukturen, die die Ausgestaltung von Organisationen nachhaltig prägen.“19 Demzufolge werden die unterschiedlichsten Ansprüche, die an Unternehmen in modernen Gesellschaften gestellt werden, größer und verändern sich schneller im Laufe der Zeit.20 Der Neoinstitutionalismus hat es sich zur Aufgabe gemacht, Institutionalisierungs- und Deinstitutionalisierungsprozesse und deren Auswirkungen auf Organisationen zu untersuchen.21 Es wird davon ausgegangen, dass sich der Wandel von außer-unternehmerischen Institutionen in verschiedenster Weise auf das Organisationsverhalten selbst auswirkt. Der handlungstheoretischen Ausrichtung der Theorie entsprechend werden Unternehmen als offene Systeme verstanden, die in ihr gesellschaftliches Umfeld eingebettet22 sind und von ihm durchdrungen werden. 18 19
20
21 22
Vgl. Peter Walgenbach / Renate E. Meyer, S. 11. Die Verknüpfung zur Wissensoziologie von Peter Berger und Thomas Luckmann wird weiter unten deutlich gemacht. Peter Walgenbach / Renate E. Meyer, S. 11. Kritisch hierzu Nils Müller: Warum prägen Institutionen das Handeln in Organisationen? Die unbeantwortete Frage des Neoinstitutionalismus, in: Georg Schreyögg / Jörg Sydow (Hg.): Verhalten in Organisationen, Managementforschung 19, Wiesbaden 2009, S. 221–239, hier insbesondere S. 225–231. Vgl. John W. Meyer / Brian Rowan: Institutionalized Organizations. Formal Structure as Myth and Ceremony, in: American Journal of Sociology 83 (1977), S. 340–363, hier S. 345. Zum Wandel von Institutionen und dessen Einfluss auch Reiner Weinert: Institutionenwandel und Gesellschaftstheorie. Modernisierung, Differenzierung und Neuer Ökonomischer Institutionalismus, in: Gerhard Göhler (Hg.): Institutionenwandel, S. 70–93, hier insbesondere S. 88–89. Zu den unterschiedlichen Ausprägungen von institutionellem Wandel hinsichtlich der Schnelligkeit und Tiefenschärfe vgl. Gerhard Göhler: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Institutionenwandel, S. 8–56, hier S. 9–12. Vgl. Peter Walgenbach / Renate E. Meyer, S. 57. Die Verbindung zu modernen kulturwissenschaftlichen Ansätzen und damit die Überwindung partieller Schwächen der Neoinstitutionalistischen Organisationstheorie werde ich in Abschnitt 2.4 aufzeigen. Zum Konzept der „embeddedness“ und dessen Auswirkungen auf ökonomisches Verhalten zentral Mark Granovetter: Economic Action and Social Structure: The Problem of Embeddedness, in: American Journal of Sociology Volume 91 Number 3 (November 1985), S. 481–510. Hierzu auch Michael Schmid: Soziale Einbettung und ökonomisches Handeln. Mark Granovetters Beitrag zu einer soziologischen Theorie des Unternehmens, in: Andrea Maurer / Uwe Schimank (Hg.): Gesellschaft der Unternehmen, 2008, S. 78–105. Dies wird auch an den Überlegungen des Kultursoziologen Karl-Sigbert Rehberg zur „ökonomischen Herausforderung der Soziologie“ deutlich: Es scheint geradezu so zu sein, dass sich ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis der beiden Wissenschaften konstituiert, dass „in den Wirtschaftswissenschaften die Zeit für ‚soziologische Herausforderung der Ökonomie‘ angebrochen ist […]. Der NeoInstitutionalismus in Ökonomie und Soziologie hat zwar die heuristische Idealisierung des abstrakten homo oeconomicus-Modells nicht über Bord geworfen, aber kaum jemand würde noch denken, dass man die unterschiedliche Wirkung von Investitionen in Südostasien, auf dem Balkan oder in Afrika tatsächlich verstehen könnte, ohne die Kenntnis kultureller Hintergründe oder arbeitsethischer Motive […]. Dies und manches mehr zu analysieren, braucht es historisch-soziologische und kulturwissenschaftliche Bestimmungen. Und da eben kann auch die ‚Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen‘ hilfreich sein. Das steht nicht im Gegensatz zu subtil-formalen Analysen von Handlungskalkülen und rationalen Auswahlprozessen, diese sind jedoch notwendig eingebettet in kulturelle Voraussetzungen.“ Karl-Sigbert Rehberg: Institutionen, Kognitionen und Symbole – Institutionen als symbolische Verkörperung. Kultur-
2.2 Die neoinstitutionalistische Organisationstheorie
35
Daraus resultieren ständige Aushandlungsprozesse sowohl innerhalb von Unternehmen angesichts sich verändernder gesellschaftlicher Erwartungshaltungen als auch zwischen Unternehmen und diesen Erwartungshaltungen.23 Vorstellungssysteme und Wirklichkeitsinterpretationen eines bestimmten historischen Kontextes rücken in den Mittelpunkt zur Interpretation und Analyse unternehmerischen Handelns. Durch ein solches Verständnis von institutionellen Umwelten und kulturellen Rahmungen der Organisation wird die soziale Identität und damit die Wahrnehmung und Situationsdefinition von Akteuren geprägt. Es kommt nach einer reflexiven Auseinandersetzung mit Institutionalisierungs- bzw. Deinstitutionalisierungsprozessen im Äußeren zu Institutionalisierungs- und Deinstitutionalisierungsprozessen von organisationalen Formen, (Managment-)Praktiken und Glaubenssystemen im Innern von Organisationen. Um das Analyseraster vorzubereiten, werde ich nun die zentralen Begrifflichkeiten des Ansatzes und das damit einhergehende Forschungsanliegen darstellen. 2.2.1 Institutionen und ihre Dimensionen in der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie Der Neoinstitutionalismus versteht unter Institutionen „institutionalisierte Regeln, Erwartungen oder Vorstellungssysteme bzw. Interpretationsschemata […]. In diesem Sinne können Institutionen als verfestigte soziale Erwartungsstrukturen verstanden werden“.24 Der Institutionenbegriff dieser Theorie wurde von William Scott hinsichtlich ihrer Elemente und Kennzeichen weiter präzisiert, um sie besser analysierbar zu machen und ihre Auswirkungen auf Organisationen besser abschätzen zu können. Scott trennt zwischen regulativen, normativen und kulturell-kognitiven Dimensionen von Institutionen:
23 24
soziologische Anmerkungen zu einem handlungstheoretischen Forschungsprogramm, in: Andrea Maurer / Michael Schmidt (Hg.): Neuer Institutionalismus. Zur soziologischen Erklärung von Organisation, Moral und Vertrauen, Frankfurt am Main / New York 2002, S. 39–57, hier S. 54. Ähnlich Birger P. Priddat: Kultur und Ökonomie. Eine ökonomische Herangehensweise, in: Klaus E. Müller (Hg.): Phänomen Kultur. Perspektiven und Aufgaben der Kulturwissenschaft, Bielfeld 2003, S. 195–211, hier S. 205. Vgl. Peter Walgenbach / Renate E. Meyer, S. 121. Peter Walgenbach / Renate E. Meyer, S. 55.
Abbildung 1
36
2. Begriffliche Differenzierung und konzeptionelle Herangehensweise
Dimensionen von Institutionen Regulativ
Normativ
Cultural-Cognitiv
Basis of compliance
Expedience
Social obligated
Taken-for-grantedness Shared understanding
Basis of order
Regulative Rules
Binding expactations
Constitutive schema
Mechanism
Coercive
Normativ
Mimetic
Logic
Instrumentality
Appropriateness
Orthodoxy
Indicators
Rules, Laws, Sanctions
Certification, Accreditation
Common beliefs Shared logics of action
Basis of legitimacy
Legally sancioned
Moraly governed
Comprehensible Recognizable Culturally supported
Abb. 1: Dimensionen von Institutionen nach Scott25
JJMMTT_Berichtstitel_Kürzel
Mit den Elementen der ersten Säule werden die regulierenden Aspekte von Institutionen beschrieben, die den normativen und kulturellen Dimensionen zu Grunde liegen bzw. in wechselseitiger Abhängigkeit gesehen werden müssen. Die gesetzten Regelsysteme hinsichtlich des Verhaltens von Organisationen sind dabei beobacht-, kontrollier- und sanktionierbar. Aus der möglichen Sanktionierung des Verhaltens folgt das Interesse der organisatorischen Akteure, sich konform zu den vorgegebene formellen Institutionen zu verhalten, was mit einem Kosten-Nutzen-Kalkül der persistenten Befolgung erklärt wird.26 Die normative Säule des Scott’schen Modells umfasst vorschreibende, bewertende und verpflichtende Dimensionen von Institutionen. Werte und Normen kristallisieren sich als eine beobachtbare Einheit heraus, die gegenüber Unternehmen etwas Wünschenswertes ausdrückt. Aus einer solchen Konzeption institutioneller Verpflichtung ist eine valide Bewertung unternehmerischen Verhaltens möglich: Normative Systeme definieren demnach Ziele unternehmerischen Handelns. Normen und Werte tragen zu einer Stabilisierung der Organisation sowie zwischen Organisation und gesellschaftlichem Umfeld bei, da Verhaltenserwartungen maßgeblich das organisationale Handeln beschränken.27 Organisationen und deren Mit25 26 27
Three Pillars of Institutions, entnommen aus: William R Scott: Institutions and Organizations. Ideas and Interests, 3. Auflage, Los Angeles u.a. 2008, S. 52. Vgl. Paul J. DiMaggio / Walter W. Powell: The Iron Cage revisited: Institutional Isomorphism and collective Rationality in Organisational Fields, in: American Sociological Review 48 (1983), S. 147–160, hier S. 150. Vertiefend hierzu Konstanze Senge: Zum Begriff des Neo-Institutionalismus, in: Dies. / Kai Uwe Hellmann (Hg.): Einführung, 2006, S. 35–48, hier S. 40–44. Ebenso Thomas Beschorner
2
2.2 Die neoinstitutionalistische Organisationstheorie
37
glieder befolgen dabei Normen und entwickeln Werte, nicht, weil es aufgrund eines Kosten-Nutzen-Kalküls unmittelbar in ihrem Interesse oder aufgrund von Verträgen und Gesetzen durchsetzbar wäre, sondern weil die Befolgung von außen erwartet bzw. als angemessen betrachtet wird.28 So entsteht ein normativer Zwang, die „Logik der Angemessenheit“ zu befolgen;29 Unternehmen entsprechen den gesellschaftlich akzeptierten Werte und Normen oder erwecken den Anschein, dies zu tun. Daher erhalten sie Zuspruch für ihr Handeln.30 Es zeigt sich – so die These der Neoinstitutionalisten – dass Organisationen im Zeitablauf symbolisch und/oder intrinsisch motiviert jene normativen Vorgaben von außen adaptieren und ihr Handeln danach ausrichten.31 Die kulturell-kognitiven Dimensionen von Institutionen werden von den Neoinstitutionalisten im Gefolge von Scott als am wirkungsmächtigsten in ihren handlungsbeschränkenden Eigenschaften angesehen.32 Die kulturell-kognitive Säule bezieht sich auf diejenigen Elemente der die Organisation umgebenden Institutionen, welche die Wahrnehmung der Wirklichkeit in einer Gesellschaft bestimmen und durch welche die Wirklichkeit sinnhaft erschlossen wird.33 Diese Dimension ist stark an die Wissenssoziologie BergerLuckmann’scher Prägung angebunden. Institutionen haben demnach keinen deterministischen Charakter, indem sie bloße Handlung reproduzieren; vielmehr eröffnen sie einen Möglichkeitsraum von typischen Handlungsmustern. Sie funktionieren, weil sie durch Handeln einerseits zum Leben erwachen, aber auch deshalb, weil sie handlungsbeschränkend sind. Aus dieser Warte betrachtet haben sie also die Kraft, eine objektivierte Wirklichkeit zu erzeugen.34 Die kognitiven Prozesse eines organisatorischen Akteurs und seiner einzelnen Mitglieder werden darin wesentlich
28 29 30 31
32 33
34
/ Alexandra Lindenthal / Torsten Behrens: Unternehmenskultur II. Zur kulturellen Einbettung von Unternehmen, in: Forschungsgruppe Unternehmen und gesellschaftliche Organisation (FUGO) (Hg.): Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Theorie der Unternehmung, Marburg 2004, S. 273–309, hier S. 299. Vgl. Peter Walgenbach / Renate E. Meyer, S. 59. Der Terminus der „Logik der Angemessenheit“ stammt von March und Olsen und untermauert in diesem Kontext das Anliegen von Scott, vgl. James G. March / Johan P. Olsen: Rediscovering Institutions: The Organisational Basis of Politics, New York 1989, S. 146. Dieser Zuspruch wird im Neoinstitutionalismus als ‚Legitimität‘ bezeichnet. Auf diesen Zusammenhang und den Legitimitätsbegriff werde ich im Punkt 2.2.3 eingehen. Vgl. Paul J. DiMaggio / Walter W. Powell, S. 158. Hier wird auch die wirtschaftssoziologische Ausrichtung des Neoinstitutionalismus deutlich, da strukturell und nicht nur rational gefragt wird, warum Unternehmen funktionieren. Vgl. hierzu Heiner Minssen: Unternehmen, in: Andrea Maurer (Hg.): Handbuch der Wirtschaftssoziologie, Wiesbaden 2008, S. 247–265, hier S. 247–248. Zu einer wirtschaftsgeschichtlichen Unternehmenstheorie und einem mikro- bzw. makrotheoretischen Zugriff vgl. Werner Plumpe, S. 65–66. Vgl. William. R. Scott, S. 55–59. Vgl. Peter Walgenbach / Renate E. Meyer, S. 59. Insbesondere die Beziehung von individuellen und kollektiven Vorstellungssystemen und dem kulturellen Erbe einer Gesellschaft entscheidet hierbei über die Bewertung des Sinns einer Handlung. Vgl. Christopher Holl: Wahrnehmung, menschliches Handeln und Institutionen. Von Hayeks Institutionenökonomik und deren Weiterentwicklung, Tübingen 2004, S. 220. Vgl. Peter L. Berger / Thomas Luckmann: Die Gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 22. Auflage Frankfurt am Main 2009 (1967), S. 58.
38
2. Begriffliche Differenzierung und konzeptionelle Herangehensweise
durch eine kulturelle Rahmung außerhalb der Organisation bestimmt. Diese Rahmung beeinflusst die Wahrnehmung und erfordert eine dementsprechende Interpretation der Akteure, die dann in deren Handeln integriert wird. Die dreidimensionale Möglichkeit der Institutionenanalyse nach Scott nimmt in Bezug auf die Arbeit ihren Anfang in der historisch geltenden formalen Umweltgesetzgebung und der mit ihr transportierten normativen Vorstellungen und kulturellen Wirklichkeitsinterpretationen. Nachdem nun das derzeitige institutionelle Paradigma der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie vorgestellt wurde, erörtert der folgende Abschnitt die Manifestation und Hervorbringung von Erwartungsstrukturen. Hierzu wird das Konzept des organisationalen Feldes näher beleuchtet. 2.2.2 Organisationale Felder Das Konzept des organisationalen Feldes wurde von Paul DiMaggio und Walter Powell eingeführt. Ein solches Feld ist demnach eine bewegliche soziale Struktur, die institutionellen Wandel um das betrachtete Unternehmen herum anleitet und zugleich in einem Wechselspiel zu diesem Wandel dergestalt steht, als es durch diesen Wandel selbst verändert wird. Dabei hängt es innerhalb des Feldes von der Macht der Akteure ab, inwiefern die institutionelle Struktur geändert wird.35 Organisationale Felder bilden aus dieser Perspektive die gesellschaftliche Umwelt einer Organisation und erzeugen so einen Bezugsrahmen, der sich auf das organisationale Verhalten auswirkt.36 Nach einer frühen Definition sind organisationale Felder selbst Organisationen, die „in the aggregate, constitute a recognized area of institutional life: key suppliers, ressource and product consumers, regulatory agencies and other organisations that produce similar services or products“.37 Teilweise harsche Kritik an diesem organisationszentrierten Feldkonzept zeichnet sich jüngst durch die Einbeziehung der gesamten relevanten Umwelt von Organisationen ab. Das heißt, alle individuellen und kollektiven Akteure, die auf die Struktur, das Verhalten und das Überleben einer betrachteten Organisation Einfluss haben, etwa auch Behörden, Ämter oder soziale Bewegungen werden in die Analyse organisatorischen Verhaltens einbezogen und als Teil des organisationalen Feldes ausgewiesen.38 Mit Andrew Hoffmann wird das erweiterte Feldkonzept dann zur unternehmerischen Umwelt „in which competing interest negotiate over issue interpretation“.39 Organisationale Felder expandieren zu einem Konglomerat, das stetig neue Logiken, Erwartungen und Diskurse hervorbringt, verhandelt und verändert. Aus dieser Perspektive betrachtet operieren Unternehmen in organisationalen Feldern, 35 36 37 38 39
Vgl. Peter Walgenbach / Renate E. Meyer, S. 72/73. Vgl. Raimund Hasse / Georg Krücken: Neo-Institutionalismus, Bielefeld 1999, S. 16. Paul J. DiMaggio / Walter W. Powell, S. 148. Vgl. Peter Walgenbach / Renate E. Meyer, S. 34. Andrew J. Hoffmann, S. 351–352.
2.2 Die neoinstitutionalistische Organisationstheorie
39
die einem gemeinsamen Sinnsystem unterliegen.40 Unternehmen werden von ihrer Umwelt durchdrungen, was den organisationsspezifischen Akteuren aufgrund der angenommenen Offenheit ihres Systems durchaus bewusst ist. Dies führt dazu, dass erwünschte Strukturelemente, Managementpraktiken und allgemeinen Überzeugungen reflektiert übernommen bzw. implementiert werden oder dies mit den entsprechenden Konsequenzen nicht geschieht.41 Damit eröffnet der Neoinstitutionalismus eine Makroperspektive, die davon ausgeht, dass Organisationen in larger „systems of relations“ eingebettet sind.42 Die Ausrichtungen – also die Übernahme oder Einführung bestimmter Managementpraktiken, Strukturelementen, Glaubenssystemen usw. – können von Unternehmen zu Unternehmen innerhalb eines Feldes unterschiedlich ausfallen, was wiederum mit organisationalen Faktoren, der Größe des Unternehmen, internen Dynamiken, der Unternehmenskultur, der Art von Beziehungen zu den Anspruchsgruppen und dergleichen mehr zusammenhängen kann.43 Die Rolle eines Unternehmens als Mitglied des organisationalen Feldes ist somit aufgrund der inhärenten Felddynamik in ständiger Bewegung. Es fehlt noch die letztendliche Begründung, warum ein Unternehmen sich im Lichte der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie nach den Vorgaben des organisationalen Feldes richtet und hiernach handelt oder zumindest den Eindruck erweckt, dies zu tun.44 Die Antwort liegt im Konzept der Legitimität und im Akteursverständnis des Ansatzes.
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41 42
43
44
Vgl. Thomas Beschorner / Alexandra Lindenthal / Torsten Behrens, S. 291. Durch eine solche Sichtweise verliert die Organisationszentrierung an Bedeutung, und zwar zugunsten einer Themenorientierung innerhalb des Feldes, die auf das betrachtete Unternehmen einwirkt, insofern Unternehmen ihre Umwelt nicht einfach kooptieren. Ebd. S. 291/292. Hierzu auch Peter Walgenbach / Renate E. Meyer, S. 75. Vgl. William R. Scott / John W. Meyer: The Organisation of Societal Sectors: Propositions and early Evidence, in: Walter W. Powell / Paul DiMaggio (Hg): The New Institutionalism in Organisational Analysis, Chicago/London, 1991, S. 108–140, hier S. 123. Zur Einbettungshypothese der Theorie mit wirtschaftshistorischem Hintergrund ebenso Neil Fligstein: The structural Transformation of American Industry: An Institutional Account of the Causes of Diversification in the Largest Firms, 1919–1979, in: Walter W. Powell / Paul DiMaggio (Hg): New Institutionalism, 1991, S. 311–336, hier S. 313. Vgl. im Einzelnen Peter Walgenbach / Renate E. Meyer, S. 77–80. Dem Einspruch, „dass der Feldbegriff im NI (Neoinstitutionalismus, T.J.) als organisationaler Umweltbegriff zu kurz greift, wenn es darum geht, die Totalität des gesellschaftlich relevanten Einflußraums auf Fokalorganisation zu erfassen“, kann entgegen gehalten werden, dass gerade die themenorientierte Definition von Feldern dies entkräftet. Vgl. Jutta C.E. Becker-Ritterspach / Florian A.A. Becker-Ritterspach: Organisationales Feld und Gesellschaftlicher Sektor im Neo-Instititutionalismus, in: Konstanze Senge / Kai-Uwe Hellmann (Hg.): Einführung, 2006, S. 118–136, hier S. 134. Dieses Phänomen wird im Neoinstitutionalismus als „Entkopplung“ bezeichnet. Vgl. Peter Walgenbach / Renate Meyer, S. 30.
40
2. Begriffliche Differenzierung und konzeptionelle Herangehensweise
2.2.3 Entkopplung und Legitimität Die wirtschaftssoziologische Tradition des Neoinstitutionalismus führt zu einer Abkehr von einem basalen ökonomischen Handlungsmodell, das auf Generalkonzepten wie dem methodischen Individualismus, der Gleichgewichtstheorie und der auf exogen modellierten und konsistenten Präferenzordnungen basierenden Nutzenmaximierung des homo oeconomicus beharrt.45 Meyer und Rowan46 argumentieren, dass in Unternehmen bei einem Auftreten von Widersprüchen und Konflikten zwischen den Anforderungen des operativen Geschäfts und den Erwartungen der institutionellen Umwelt bzw. bei Inkonsistenzen zwischen institutionalisierten Erwartungen gegenüber der Organisation eine „Enkopplung“ der formalen Strukturen, Management- und Organisationspraktiken von den tatsächlichen Arbeits- und Tauschbeziehungen des Unternehmens stattfände. Die Funktionalität dieser oberflächlichen Herbeiführung von Übereinstimmung wurde von den Theoretikern von Beginn an kritisch gesehen. Sie wird bezweifelt, da weder das Management bereit sei, etwas zu implementieren, das nicht von Nutzen ist, noch werden sich Anspruchsgruppen aus dem Dunstkreis des organisationalen Feldes lange „an der Nase herumführen“47 lassen; empirische Arbeiten legen jedoch eine andere Sichtweise nahe. Es sind nicht nur formale Strukturen der Organisation zu beachten, um von Entkopplung zu sprechen: Neueste Arbeiten modifizieren das Konzept der Entkopplung dahingehend, dass auch institutionalisierte Strukturelemente und Managementpraktiken nicht eindeutig sind.48 Vielmehr sind sie interpretationsoffen, womit die Ablösung von der Vorstellung einhergeht, dass konkrete und eindeutige Management- und Organisationskonzepte ohne wesentliche Modifikationen adaptiert werden. Sowohl entkoppelte Verhaltensweisen eines Unternehmens, als auch diejenigen, die aus voller Überzeugung wahrhaftig und tatsächlich stattfinden, werden im Neoinstitutionalismus durch das Konzept der Organisationslegitimität begründet. Organisationen benötigen demzufolge mehr als nur materielle Ressourcen und 45
46 47
48
Vgl. Michael Schmid / Andrea Maurer: Institution und Handeln. Probleme und Perspektiven der Institutionentheorie in Soziologie und Ökonomie, in: Ökonomischer und soziologischer Institutionalismus. Interdisziplinäre Beiträge und Perspektiven der Institutionentheorie und -analyse, Marburg 2003, S. 9–46, hier S. 12. Vgl. John W. Meyer / Brian Rowan: Institutionalized Organizations. Formal Structure as Myth and Ceremony, in: American Journal of Sociology 83 (1977), S. 340–363. Exemplarisch Frederick G. Hilmer / Lex Donaldson: Management Redeement, New York 1997, S. 64–89. Vor allem Peter Walgenbach hat sich aus einer organisationswissenschaftlichen Perspektive mit diesem Phänomen auseinandergesetzt. Er zeigt in unterschiedlichen Studien, wie sich Unternehmen hinsichtlich ihrer Konzepte des Qualitätsmanagements entkoppeln. Vgl. hierzu Peter Walgenbach / Renate E. Meyer, S. 83 und die dort angegebene Literatur, insbesondere Peter Walgenbach: Die normgerechte Organisation, Stuttgart 2000, S. 121–242. Vgl. Barbara Czarniawska / Barbara Joerges: Travel of ideas, in: Dies. / Guje Sevón (Hg.): Translating Organisational Change, Berlin 1996, S. 13–48, hier S. 22. Siehe auch Kerstin Sahlin-Andersson / Lars Engwall: Carriers, flows and sources of management knowledge, in Dies. (Hg.): The Expansions of Management Knowledge: Carriers, Flows and Sources, Stanford 2002, S. 3–32, hier S. 13.
2.2 Die neoinstitutionalistische Organisationstheorie
41
aufgabenbezogene Informationen; es bedarf einer tiefschichtigen Akzeptanz und Glaubwürdigkeit des sichtbaren Handelns der Organisation.49 Für eine unternehmenshistorische Fallstudie „rücken die institutionelle Konstruktion von Rationalität und Effizienz sowie das Legitimitätspotenzial von Praktiken und Strukturen, die als ‚natürlich‘, ‚normal‘ und ‚angemessen‘ oder mit Sachzwängen begründet in organisationalen Feldern etabliert sind oder in dieses eingeführt werden, ins Blickfeld.“50 Legitimität wird dabei jedoch nicht als spezielle Ressource verstanden, die ebenso wie andere Ressourcen in (ökonomischen) Transaktionsbeziehungen eingesetzt werden kann, sondern als eine notwendige Bedingung, in der sich die Übereinstimmung der Organisation mit gesellschaftlich geteilten Werten, normativen Erwartungen sowie mit allgemeinen Regeln und Gesetzen widerspiegelt:51 „Legitimacy is a generalized perception or assumption that the action of an entity are desirable, proper, or appropriate within some socially constructed systems of norms, values, beliefs, and definitions“.52 Folglich werden eine Organisation und deren Handlungsweisen als legitim betrachtet, wenn ihre Aktivitäten innerhalb gesellschaftlicher Werte, Normen und Vorstellungen wünschenswert und richtig erscheinen.53 Diese Sichtweise zeigt in aller Deutlichkeit, dass Legitimität zugesprochen wird; sie wird also von einem gesellschaftlichen Umfeld gemäß dessen Überzeugungen verliehen und ist nicht a priori für ein Unternehmen der chemischen Industrie eine Selbstverständlichkeit. Auf der Basis dieser Überlegungen soll im Folgenden noch auf das Akteurskonzept der Theorie eingegangen werden, womit theoretische Erörterungen von Macht und strategischem Handeln verbunden sind. 2.2.4 Akteure, strategisches Handeln und Macht Eine der Hauptkritiken am Neoinstitutionalismus bezieht sich auf eine „übersozialisierte“54 Sichtweise der organisationalen Akteure, die sich bereitwillig und passiv in ihre institutionellen Umwelten fügen und damit Interessen, strategisches Han-
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50 51 52 53 54
Vgl. John W. Meyer / William R. Scott: Centralisation and the legitimacy problems of local government, in: Dies. (Hg.): Organizational Environment. Ritual and Rationality, 2. Auflage, Newbury Park, S. 199–215, hier S. 206. Kritisch zum Legitimitätskonzept im Neoinstitutionalismus vgl. Robin Stryker: Legitimacy processes as institutional politics. Implications for theory and and research in the sociology of organizations, in: Research in the Sociology of Organizations 17 (2000), S. 179–223, hier S. 200. Peter Walgenbach / Renate E. Meyer, S. 70. Ebenfalls Kai-Uwe Hellmann: Organisationslegitimität im Neo-Institutionalismus, in: Konstanze Senge / ders. (Hg.): Einführung, 2006, S. 75–89, hier besonders S. 80f. Aus Sicht einer neoinstitutionalistischen Tradition hängt gar das Überleben einer Organisation in erster Linie von deren Legitimität ab. Vgl. Peter Walgenbach / Renate E. Meyer, S. 12–13. Mark C. Suchman: Managing legitimacy: Strategic and institutional approaches, in: Academy of Management Review 17 (1995), S. 571–610, hier S. 574. Vgl. Peter Walgenbach / Renate E. Meyer, S. 64. Der Begriff wurde von Mark Granovetter eingeführt. Vgl ders., 1985, S. 487.
42
2. Begriffliche Differenzierung und konzeptionelle Herangehensweise
deln und Machtpotenziale55 ausgeblendet werden.56 Dies verdeutlicht das nachfolgende Zitat: „Umwelt ist dabei ein Sammelbegriff für alles, was außerhalb der Organisation angesiedelt ist und von dem […] angenommen wird, dass es auf Organisation einwirken kann – entweder weil die Umwelt bestimmte Organisationsformen erzwingt (in Form rechtlicher Vorschriften und anderer Auflagen […]) oder weil sie bestimmte Organisationsentscheidungen nahe legt (z.B. um wirtschaftlich erfolgreich zu sein […]) […]. In dieser Hinsicht besteht die Besonderheit des NI darin, dass er die Prägung von Organisationen durch sog. harte Faktoren – wie technologische Bedingungen, Abhängigkeit von finanziellen und anderen Ressourcen, Marktstrukturen (Dichte der Konkurrenz, Ein- und Austrittsraten von Unternehmen) etc. – eher gering veranschlagt. Stattdessen werden sog. weiche Faktoren als entscheidenden Einflussfaktoren erachtet. Hierzu zählen Werte, Normen und Ideale guter Praktiken des Organisierens. Nach neo-institutionalistischer Auffassung bilden sie den kulturellen Rahmen, der Organisationen grundlegend beeinflusst.“57
Insbesondere durch das neuartige Verständnis der inhärenten Institutionentheorie im Gefolge des Scott’schen Modells, veränderte sich auch die Sichtweise auf Akteure, strategisches Handeln und Macht. Akteure werden innerhalb dieses theoretischen Gebäudes nicht als „Trottel“58 dargestellt, die sich unreflektiert allen institutionalisierten Erwartungen fügen. So erfuhren die unhinterfragten Selbstverständlichkeiten des Alltags, die im Neoinstitutionalismus bis Mitte der 1990er Jahre als Erklärungen für das Verhalten von Organisationen und Individuen vorherrschten, eine Erweiterung. Eine Veränderung vollzog sich in Richtung einer mehr auf Eigeninteresse gerichteten Handlungsstrategie, die jedoch nicht mit der Handlungstheorie eines rationalen-Choice-Modells verwechselt werden darf.59 In den Mittelpunkt 55
56
57 58
59
Der Neoinstitutionalismus verfügt nicht über einen expliziten Machtbegriff. Durch die Weber’schen Traditionen der Theorie ist aber dessen Vorstellung einer unternehmensöffentlichen Macht bzw. die Macht des Unternehmens, was die Adaption oder Nicht-Adaption von institutionalisierten Erwartungen anbelangt, angezeigt. „Macht“ steht hier, als „soziologisch amorpher“ Begriff, für jede Durchsetzungschance in einer sozialen Beziehung, unabhängig davon, worauf diese beruht. Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 28f, 122f, 541f. Vgl auch Simone Dietz: Die Legitimationsmacht der Öffentlichkeit: Die öffentliche Meinung der Mediendemokratie, in: Gerhard Göhler (Hg.): Macht der Öffentlichkeit – Öffentlichkeit der Macht, Baden-Baden 1995, S. 115–133, hier S. 118. Exemplarisch Christine Oliver: Strategic responses to institutional processes, in: Academy of Management Review 16 (1991), S. 145–179, hier S. 146. Ebenfalls Jens Beckert: Agency, entrepreneurs, and institutional change: The role of strategic choice and institutional practices in organisations, in: Organisation Studies 20 (1999), S. 777–799, hier insbesondere S. 783–786 und Joachim Wolf: Organisation, Management, Unternehmensführung. Theorie und Kritik, Wiesbaden 2003. Raimund Hasse: Der Neo-Institutionalismus als makrosoziologische Kulturtheorie, in: Konstanze Senge / Kai-Uwe Hellmann (Hg.): Einführung, 2006, S. 150–160, hier S. 150. Vgl. Hayagreeva Rao / Henrich R. Greve / Gerald F. Davis: Fool’s gold: social proof in the initiation and abandonment of coverage by Wall Street analysts, in: Administrative Science Quarterly 46 (2001), S. 502–526, hier S. 513. Ebenso Gerald F. Davis: Do theories of organizations progress?, in: Organizational Research Methods 13/4 (2010), S. 690–709, hier S. 695. Vgl. Peter Walgenbach / Renate E. Meyer, S. 116. Akteure handeln reflektierend innerhalb kultureller Rahmungen: Meyer und Jepperson etwa gehen davon aus, dass Akteure selbstständige Handlungsträger innerhalb historischer und kultureller Konstruktionen sind. Vgl. John W. Meyer / Ronald L. Jepperson: The ‚Actors‘ of Modern Society: The Cultural Construction of
2.2 Die neoinstitutionalistische Organisationstheorie
43
rückte die Analyse organisationaler Phänomene in bestimmten organisationalen Feldern, die in hohem Maße durch institutionelle Vorgaben gekennzeichnet sind. So entwickelten die Vertreter der Institutionentheorie ein Akteurs- und Handlungskonzept, das der kulturellen Prägung der Akteure ebenso Rechnung trägt wie auch deren Handlungsmächtigkeit erhellt. „Der Akteur ist […] ein agenthafter Akteur, der auf der Basis institutionalisierter oder kultureller Regelungen autorisiert ist, für sich selbst, für andere (Akteure oder Nicht-Akteure) oder für den kulturellen Rahmen zu handeln.“60 Strategisches oder rationales Handeln wird als ein mögliches – und nicht wie in universalistischen Handlungstheorien der Ökonomik als ein allgemeingültiges – Handlungsprinzip betrachtet. Damit darf strategisches Handeln auch als Ziel interpretierenden Handelns angesehen werden.61 Aus dieser Perspektive „wird darauf hingewiesen, dass die ökonomische Rationalität der Nutzenmaximierung wiederum selbst nur eine mögliche, sozial konstruierte und daher historisch und kulturell gebundene Rationalität ist […]“.62 Der Neoinstitutionalismus versucht also, „eine Gegenposition zu rational-Choice-Theorien einzunehmen.“63 Die Folge aus dieser Einsicht ist ein verändertes Verständnis von Organisationen, das sich von der funktionalistischen Zange einiger sozialwissenschaftlicher Ansätze entfernt; Unternehmen werden als offene Gebilde betrachtet, die von ihrer Umwelt durchdrungen werden. Die hierauf rekurrierenden Interessen ebenso wie das Verständnis des organisationalen Akteurs sind dann das Ergebnis von InstitutionalisierungsprozesSocial Agency, in: Sociological Theory 18 (2000), S. 100–120, hier S. 116. Das Handeln von Individuen und Organisationen wird als ein komplexes System sozialer Agentschaft verstanden, wobei unter Agentschaft die legitimierte Vertretung eines legitimierten Prinzipals zu verstehen ist. Hierbei sind die Bedeutungen des Agenten und des Prinzipals aber nicht mit jenen aus der ökonomischen Agenturtheorie zu verwechseln. Akteure besitzen im Neoinstitutionalismus die Fähigkeit und Verantwortung im Verhältnis zu sich selbst ebenso wie im Verhältnis zueinander als „Andere“ zu agieren sowie für andere soziale Einheiten und kulturelle Rahmungen zu handeln. Die neoinstitutionalistische Organisationstheorie wird als „an important break with rational-actor modells […]“ konzipiert. Paul DiMaggio: Interest and agency in institutional theory, in: Lynn Zucker (Hg.): Institutional Patterns and Organisations: Culture and Environment, Cambridge 1988, S. 3–21, hier S. 3. Aus einer theoretische Sicht der Soziologie vgl. Jürgen Schmidt: Die Grenzen der Rational Choice Theorie, Berlin 2001, S. insbesondere S. 15–22. 60 Peter Walgenbach / Renate E. Meyer, S. 126. 61 Im Bezug auf Organisation und Umwelt vgl. Georg Schreyögg: Organisation. Grundlagen moderner Organisationsgestaltung, 5. vollständig und erweiterte Auflage, Wiesbaden 2008, S. 278. Ebenso Charles E. Weick: Macking sense of the organisation, Oxford 2001, S. 46. 62 Peter Walgenbach / Renate E. Meyer, S. 119–120. Auch der Wandel von Rationalitätskriterien „ergibt sich zumeist aus der Kumulation von kleinen Veränderungen, die zunächst relativ unbeachtet bleiben.“ Rainer M. Lepsius: Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung von Rationalitätskriterien, in: Gerhard Göhler (Hg.): Institutionenwandel, 1997, S. 58–69, hier S. 65. Zu den verschiedenen Ausprägungen von rational-Choice-Theorien in Institutionentheorien und der Anwendung auf kollektive Akteure vgl. Thomas Voss: Rational-Choice-Analyse organisationaler Steuerungsstrukturen, in: Andrea Maurer / Michael Schmid (Hg.): Neuer Institutionalismus. Zur soziologischen Erklärung von Organisation, Moral und Vertrauen, Frankfurt am Main / New York 2002, S. 169–193, hier S. 171–174. 63 Vgl. Peter Walgenbach / Renate E. Meyer, S. 121.
44
2. Begriffliche Differenzierung und konzeptionelle Herangehensweise
sen.64 Damit zeichnet der Neoinstitutionalismus ein Bild von Interessen respektive Machtinteressen, Akteuren und Handlungen, das anderen Organisationstheorien diametral widerspricht. Rationale Akteure und autonome Entscheidungen verlieren ihren Glanz zugunsten sozialer Akteure, deren Interessen institutionell definiert sind. Interessen und strategisches Verhalten werden dezentriert und als vom kulturellen Rahmen abgeleitete Kategorien behandelt.65 Christine Oliver hat vor einigen Jahren ein Schema entwickelt, das mögliche strategische Handlungen innerhalb institutioneller Umwelten und kultureller Rahmungen pragmatisch veranschaulicht. Ihr geht es dabei um konkrete Fragen des Handelns, Abbildung 2 wie sie sich für ein Unternehmen bei seinem Angleichungsprozess an institutionelle Umwelten, kulturelle Rahmungen und organisationale Felder stellen und das hier dargestellte Akteurskonzept berücksichtigen.66 Strategie
Taktik
Beispiele für die Taktik
1. Erdulden
a. b. c.
Gewöhnen Imitieren Befolgen
• Als gesichert geltende Normen befolgen • Institutionalisierte Modelle nachahmen • Regeln befolgen und Normen akzeptieren
2. Kompromiss
a. b. c.
Ausgleichen Befrieden Verhandeln
• Erwartungen unterschiedlicher Akteure ausgleichen • Besänftigen, institutionalisierte Elemente ausgleichen • Mit den „stakeholdern“ in Verhandlungen treten
3. Vermeiden
a. b. c.
Verbergen Puffern Fliehen
• Nichtkonformität verstecken • Anknüpfungen zur institutionellen Umwelt lockern • Ziele, Aktivitäten oder Standort ändern
4. Trotzen
a. b. c.
Zurückweisen Herausfordern Angreifen
• Explizite Normen und Werte ignorieren • Gegen Regeln und Anforderungen ankämpfen • Quellen institutionalisierter Zwänge angreifen
5. Manipulieren
a. b. c.
Kooptieren Beeinflussen Steuern
• Einflussreiche Akteure einbinden • Werte und Kriterien entwickeln und formen • Institutionelle Akteure und Prozesse beherrschen
Abb. 2: Strategische und taktische Reaktionen auf institutionalisierte Erwartungen nach Oliver67
JJMMTT_Berichtstitel_Kürzel
Nachdem die grundlegenden Begrifflichkeiten des Neoinstitutionalismus herausgearbeitet wurden, gilt es nun, eine Verknüpfung mit einer theoriegeleiteten Unternehmensgeschichtsschreibung herzustellen. Dabei sollen partielle Schwächen des Neoinstitutionalismus aufgezeigt werden, die mit Hilfe einer modernen unternehmensgeschichtlichen Forschung im kulturellen Paradigma ausgeräumt werden können. Des Weiteren werden Begrifflichkeiten aus dem Neoinstitutionalismus für 64 65 66 67
Vgl. Peter Walgenbach / Renate E. Meyer, S. 121. Ebd. S. 122. Dabei spielen Machtverhältnisse und daraus folgende strategische Handlungen eine große Rolle für die Adaption oder Nicht-Adaption gesellschaftlicher Erwartungen. Vgl. Thomas Beschorner / Alexandra Lindenthal / Torsten Behrens, S. 297f. Strategische Reaktionen auf institutionalisierte Erwartungen in Anlehnung an Christine Oliver. Vgl. Dies., S. 152.
3
2.3 Ein Handlungsmodell des Unternehmens
45
die vorliegenden Arbeit und deren Analyseraster modifiziert. Ziel dieses Rasters ist es, ein dynamisches und kontextualisierungsfähiges Modell des Unternehmens zu entwickeln. Gesellschaftliche Erwartungshaltungen sind dabei in ihrem historischinstitutionellen Kontext und der kulturellen Rahmung für das Verhalten des Unternehmens im Umgang mit produktionsinduzierten Risiken ausschlaggebend und explizieren dessen Handlungen aus einer historischen Sicht. 2.3 EIN HANDLUNGSMODELL DES UNTERNEHMENS ALS OFFENES SYSTEM IM GESELLSCHAFTLICHEN WERTEWANDEL IM UMGANG MIT PRODUKTIONSINDUZIERTEN RISIKEN: ANALYSERASTER Um den Erklärungsgehalt der neoinstitutionalistischen Theorie in einem Analyseraster und dem dazugehörigen Handlungsmodell des Unternehmens zu erhöhen, werde ich in diesem Abschnitt die vorgestellten Basiskonzepte des Neoinstitutionalismus um Aspekte einer kulturwissenschaftlichen Unternehmensgeschichtsschreibung erweitern. Als Ergebnis werde ich eine Unternehmensgeschichte im kulturellen Paradigma vorstellen, die um die Umwelt eines Unternehmens erweitert ist, und so einen erhöhten Erklärungsgehalt für das Funktionieren von Unternehmen in veränderten (historischen) Settings anbietet, indem die Neuausrichtung gesellschaftlicher Werte- und Normgefüge als handlungsanleitend betrachtet werden. 2.3.1 Theoriegeleitete Unternehmensgeschichte im kulturellen Paradigma Eine integrierte, theoriegeleitete und um Konzepte kulturwissenschaftlichen Forschens erweiterte Unternehmensgeschichtsschreibung nimmt ihren Anfang an der Kritik des so genannten neoklassischen Paradigmas, das nicht in der Lage ist, unternehmerisches Handeln in einer real-historischen und komplexen Welt zu explizieren. In wenigen Strichen sollen daher zum besseren Verständnis die zentralen Aussagen dieses Paradigmas nachgezeichnet werden. Das neoklassische Paradigma prägte lange Zeit den analytischen Zugang der Wirtschaftswissenschaften zu ihrem Untersuchungsgegenstand.68 Übertragen auf ein Unternehmen der chemischen Industrie existiert in der Welt der Neoklassik das Idealmodell69 eines freien und friktionslosen Marktes in- und außerhalb des Unter68
69
Eine gute Übersicht zu diesem Ansatz aus ökonomischer Perspektive bietet neuerdings Ulrich Albertshauser: Kompaktlehrbuch Makroökonomie, Wirtschaftspolitik moderne Verwaltung, Göttingen 2007, S. 109–159. Aus einer wirtschaftssoziologischen Sicht vgl. Michael Schmid / Andrea Maurer: Institution und Handeln. Probleme und Perspektiven der Institutionentheorie in Soziologie und Ökonomie, in: Dies. (Hg.): Ökonomischer und soziologischer Institutionalismus, 2003, S. 9–46, hier S. 12–13. Aus umweltpolitischer Sicht vgl. Michael Häder: Umweltpolitische Instrumente und neue Institutionenökonomik, Wiesbaden 1997, S. 5ff. Zu einer ökonomisch ausgerichteten Unternehmensgeschichte vgl. Toni Pierenkemper: Unternehmensgeschichte. Eine Einführung in ihre Methoden und Ergebnisse, Stuttgart 2000. Streng genommen existiert ein Unternehmen in der Neoklassik nicht, da die ökonomischen
46
2. Begriffliche Differenzierung und konzeptionelle Herangehensweise
nehmens, dessen Benutzung keine Reibungsverluste im Sinne von Transaktionskosten verursacht. Auch darüber hinaus wird sich in einem so abstrakten Gebilde wie dem Unternehmen, das einzig eine Produktionsfunktion darstellt,70 keine Störung im Betriebsablauf finden lassen. Der einzelne Akteur wie auch der kollektive Akteur Unternehmen ist in diesem Verständnis ein vollständig informierter und mit objektivem Wissen ausgestatteter Nutzenmaximierer, ein Homo Oeconomicus, der seine Interessen rational und zielgerichtet verfolgt.71 Gesellschaftliche Erwartungen gegenüber einem solchen Modellunternehmen existieren nicht. Ziel des Akteurs ist es stets, in einer Welt der knappen Güter den größtmöglichen Eigennutzen aus seinem Handeln zu ziehen. Als Handlungsplattform betrachtet wird allein der Markt, auf dem ökonomische Akteure miteinander interagieren. Den Hintergrund des neoklassischen Paradigmas bildet das Postulat einer universalistischen Wirtschaftswissenschaft, deren friktionslose Modellwelt völlig raum- und zeitunabhängig funktioniert. Damit verschwindet die Vorstellung gänzlich, wonach wirtschaftliches bzw. unternehmerisches Handeln – und dies gilt in besonderem Maße für das Risikoverhalten der chemischen Industrie – Sinnmustern unterworfen ist, die ihrerseits in Raum und Zeit zu verorten sind.72 Toni Pierenkemper nimmt der Unternehmensgeschichte jene Chance, ein kontextualisierungsfähiges und dynamisches Handlungsmodell des Unternehmens zu entwickeln, wenn er schreibt: „Hinsichtlich der mikroökonomischen Leistungsfähigkeit eines kulturellen Paradigmas bin ich zugegebener Maßen ein wenig skeptisch, und es erscheint mir mehr als fraglich, in wie weit es darüber hinaus als allgemeines Handlungsmodell dienen kann. ‚Kontextualisierung sozialen Handelns‘ ist gewiss notwendig und genau darin besteht ja das Alltagsgeschäft des Historikers doch es entbindet ihn nicht davon, sich um die Erkenntnisse und Erklärungen des jeweiligen Kerns sozialen Handelns zu bemühen, bei allem Verständnis für die Komplexität der sozialen Situation.“73
Die Frage nach jenem Kern des unternehmerischen Handelns beantwortet sich in einer unternehmenshistorischen Fallstudie aus Sicht der betrachteten Unternehmen der chemischen Industrie im Bezug auf deren Umgang mit produktionsinduzierten Risiken gerade in der Art und Weise, wie und warum Unternehmen in unterschiedlichsten historischen Settings agieren und damit als gesellschaftlicher Akteur
70 71
72 73
Austauschbeziehungen über den Markt und nicht innerhalb von Unternehmen also über Hierarchien erfolgen und augenscheinlich dort nicht effizient sind. Vgl. Ronald H. Coase: The Nature of the Firm, in: Economica 4 (1937), S. 386–405. Vgl. Anne Nieberding / Clemens Wischermann, S. 37. Ebenso Holger Bonus: Unternehmen in institutionenökonomischer Sicht, in: Clemens Wischermann / Peter Borscheid / Karl-Peter Ellerbrock (Hg.): Unternehmenskommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, S. 17–31, hier S. 17. Zum Konzept des homo oeconomicus in den Wirtschaftswissenschaften vgl. Gebhard Kirchgässner: Homo oeconomicus. Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Tübingen 2008, hier insbesondere S. 12–79. Vgl. Clemens Wischermann, 2004, S. 21. Toni Pierenkemper: Theorieprobleme einer Wirtschaftsgeschichte im institutionellen Paradigma. Einführung, in: Karl-Peter Ellerbrock / Clemens Wischermann (Hg.): Herausforderung, 2004, S. 13–17, hier S. 15.
2.3 Ein Handlungsmodell des Unternehmens
47
auftreten. Es gilt also gerade aus dem Neoinstitutionalismus und einer Unternehmensgeschichtsschreibung im kulturellen Paradigma, das Spagat aus Makro- und Mikroperspektive zu erzeugen; die Verbindung zwischen ‚Außen‘ und ‚Innen‘ in ihren Interdependenzen glaubhaft darzustellen. Folgte die vorliegende Arbeit Pierenkempers Vorschlag, ein (neoklassisches) mikroökonomisches Kalkül als handlungslogisches Erklärungsmuster zu Grunde zu legen, so würde das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Der Kern ist nur ausfindig zu machen, indem er als in die Komplexität der sozialen und historischen Situation eingebettet angesehen wird. Die Frage nach der Interaktionen zwischen Wirtschaft und Umwelt – und hier ist Umwelt in einem doppeldeutigen Sinne zu verstehen, nämlich als die Beeinträchtigung der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt durch Unternehmen der chemischen Industrie auf der einen Seite, sowie der Vorgaben der institutionellen Umwelt und kulturellen Rahmung auf der anderen – wurde in der deutschen Unternehmensgeschichte lange vernachlässigt.74 Eine unternehmensgeschichtliche Fallstudie ist aber dazu verpflichtet, alle relevanten Akteure in ihren Handlungslogiken und den emergenten Interdependenzen ernst zu nehmen, wenn es aus Sicht der betrachten Unternehmen um deren autonome Handlungsmuster geht. Die Unternehmen selbst, die jeweilige Umwelt- und Wirtschaftspolitik samt ihrer Durchsetzungsinstrumentarien, Experten, Medien und soziale Bewegungen müssen beachtet werden, wenn es um raum- und zeitabhängige Handlungslogiken von Unternehmen der chemischen Industrie geht. Woher kommen die Impulse für den umweltbezogenen Wandel von Unternehmensstrategien und Unternehmensorganisation bzw. die Resistenz gegen einen solchen Wandel? Welche Rolle spielt externer Druck seitens Politik und sozialer Bewegungen? Welche Lerneffekte, Pfadabhängigkeiten und Wandlungsprozesse lassen sich in Unternehmen, Politik und Umweltbewegungen beobachten? Pointiert ergibt sich aus diesen Fragen die Feststellung: „Institutionen ebenso wie Märkte, Organisationen und ihre Akteure wirtschaften in geschichtsund kulturgeprägten Kontexten“.75 Diese These ist für das vorliegende Analyseraster elementar und richtungsweisend. 2.3.2 Ein Zwei-Ebenen Modell zur Analyse von kontextgebundenem Unternehmenshandeln Das Postulat Clemens Wischermanns, wonach im übertragenen Sinne Unternehmen der chemischen Industrie in geschichts- und kulturgeprägten Kontexten ihr Wirtschaften hinsichtlich ihres Umgangs mit produktionsinduzierten Risiken stets auf neue Handlungslogiken zu überprüfen haben, verlangt vom Unternehmenshistoriker ein Zwei-Ebenen-Modell zur Analyse dieser Handlungslogiken: Die erste 74
75
In der angelsächsischen Unternehmensgeschichte wird diese Frage weniger stiefmütterlich behandelt: „Business historians study the historical evolution of business systems, entrepreneurs and firms, as well as their interaction with their political, economic, and social environment“ Geoffrey Jones / Jonathan Zeitlin: Introduction, in: The Oxford Handbook of Business History, Oxford 2008, S. 2–6, hier S. 5. Clemens Wischermann, 2004, S. 17.
48
2. Begriffliche Differenzierung und konzeptionelle Herangehensweise
Ebene betrifft die eines handlungsfähigen Unternehmens in all seinen betriebswirtschaftlichen Bedürfnissen, seinen inneren institutionellen Arrangements und seinen unternehmenskulturellen Eigenarten selbst. Die zweite Ebene wird jedoch außerhalb der Werkstore operationalisiert, in den dort vorherrschenden institutionellen Arrangements und der kulturellen Rahmung des Unternehmens, die allesamt in der Zeit differieren, das unternehmerische Handeln jedoch in erheblichem Maße tangieren.76 Wir haben es dann – weiterhin im Bild des Werkstores gesprochen – mit einer nach beiden Seiten durchlässigen Membran zu tun. Denn nur wenn beide Ebenen betrachtet werden, lässt sich eine (innere) Handlungslogik sichtbar machen. In der vorliegenden Arbeit steht das Interesse im Vordergrund, die von außen nach innen diffundierenden Formen gesellschaftlicher Erwartungsstrukturen ausfindig zu machen und daraus folgend die real-historischen ökonomischen Handlungslogiken im Innern auf ihre Kompatibilität bzw. Inkompatibilität sowie ihre Adaptions- und Verwertungsstrategien zu überprüfen. Um diesen Vorgaben gerecht zu werden und den gestellten Forschungsfragen nachgehen zu können, scheint allein der Weg einer Unternehmensgeschichte im kulturellen Paradigma gangbar zu sein. Mit den dargelegten Konstrukten der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie ist es möglich, ein Analyseraster in einem erweiterten kulturellen Paradigma auszuarbeiten. Dabei wird es darum gehen, den Neoinstitutionalismus als eine erweiterte Form einer unternehmenshistorischen Handlungstheorie aufzufassen und daraus abgeleitet das Analyseraster zu entwerfen. Hierzu bedarf es Anschlussmöglichkeiten des Neoinstitutionalismus an eine moderne Unternehmensgeschichtsschreibung im kulturellen Paradigma herauszuarbeiten und interdisziplinäre Gräben zu überwinden, was eine moderne und theoriegeleitete Unternehmensgeschichte auszeichnet.77 Um eine Systematik zu gestalten, wird nun ein möglicher Ansatz der Unternehmenshistiographie im kulturellen Paradigma vorgestellt, der sich zunächst inneren Handlungslogiken zuwendet und diese explizieren wird. Danach werde ich versuchen, Anbindungsmöglichkeiten 76 77
„Institutionen haben eine Geschichte, die sie prägt.“ Zum besseren Verständnis des Konzepts der Pfadabhängigkeit vgl. Clemens Wischermann, 2004, S. 21f. Eine moderne Unternehmensgeschichte muss theoriegeleitet sein, wobei sie sich nicht scheuen darf, auf Ansätze verschiedener Disziplinen zurückzugreifen, denn nur so kann die Geschichte eines oder mehrerer Unternehmen als komplexes Gebilde innerhalb einer differenzierten Welt nachgezeichnet und verstanden werden. Durch die Überwindung interdisziplinärer Gräben werden Phänomene, die mit dem Unternehmen in Verbindung stehen, besser analysierbar, und es stellen sich Erkenntnisfortschritte ein. Vgl. Hartmut Berghoff: Wozu Unternehmensgeschichte? Erkenntnisinteressen, Forschungsansätze und Perspektiven des Faches, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 49 (2004), Heft 2, S. 131–149, hier S. 141f, im Folgenden: Berghoff (2004b). Eine intensive Debatte über die Verbindung von Kultur, Institutionen und wirtschaftlichem Handeln findet sich bei Hartmut Berghoff / Jakob Vogel: Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Ansätze zur Bergung transdiszipliärer Synergiepotenziale, in: Dies.: (Hg.):Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt am Main 2004, S. 9–43. Dazu ebenfalls Hansjörg Siegenthaler: Geschichte und Ökonomie nach der kulturalistischen Wende, in: Geschichte und Gesellschaft 25/2 (1999), S. 276– 301. Eine kritische Stimme hierzu findet sich bei Toni Pierenkemper: Was kann eine moderne Unternehmensgeschichtsschreibung leisten? Und was sollte sie tunlichst vermeiden, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 44 (1999), S. 15–31.
2.3 Ein Handlungsmodell des Unternehmens
49
zum Neoinstitutionalismus herzustellen, um die These der Wirkungsmächtigkeit sozialer Erwartungsmuster auf innere Handlungslogiken zu untermauern und in ein neues konzeptionelles Kleid zu hüllen. 2.3.2.1 Interne Aspekte des Funktionierens von Unternehmen Der Weg zu einer Unternehmensgeschichte im kulturellen Paradigma, die sich für das innere Funktionieren und Handeln von Unternehmen interessiert, führt ausgehend von der oben beschriebenen Kritik am neoklassischen Paradigma über eine Handlungstheorie ökonomischer Provenienz, die – wie auch der Neoinstitutionalismus – Institutionen und ihre Existenz als ökonomische Kerngrößen anerkennt und in der Lage ist, ökonomisches Handeln in Raum und Zeit differenziert zu betrachten. Der Startpunkt für einen handlungstheoretischen Zugang ist üblicherweise die Neue Institutionenökonomik.78 Ganz allgemein gesprochen fokussieren institutionenökonomische Theorien auf ökonomische Institutionen.79 Die institutionelle Sichtweise sieht in Institutionen die Spielregeln wirtschaftlicher Interaktion. Rudolf Richter zufolge beruht der institutionenökonomische Ansatz auf mehreren wirtschaftstheoretischen Grundannahmen, aus denen die Unterschiede zum neo78
79
Einen guten Überblick zur Neuen Institutionenökonomik bieten Rudolf Richter / Erik G. Furubotn: Neue Institutionenökonomik, 4. überarbeitete Auflage, Tübingen 2010. Ebenso Matthias Erlei / Martin Leschke / Dirk Sauerland: Neue Institutionenökonomik, Stuttgart 1999. Da heutzutage sehr viele unternehmensgeschichtliche Fallstudien die Neue Institutionenökonomik als theoretischen Zugriff wählen, soll eine ausschweifende Debatte hier nicht stattfinden. Ein Handlungsmodell des Unternehmens aus Sicht der Neuen Institutionenökonomik und seine Anwendung in unternehmenshistorischer Perspektive bei Clemens Wischermann: Kooperation, Vertrauen und Kommunikation: Ein Rahmenmodell des Unternehmens auf institutionenökonomischer Grundlage, oder: Was macht ein Unternehmen handlungsfähig?, in: Ders. (Hg.): Unternehmenskommunikation deutscher Mittel- und Großunternehmen, Dortmund 2003, S. 76–93, insbesondere S. 79–83, im Folgenden Wischermann (2003c). Eine allgemein anerkannte Definition liegt für den Institutionenbegriff nicht vor. Die zielführendste Beschreibung innerhalb der Theorie lautet wohl: „Eine Institution ist ein auf bestimmte Zielbündel abgestelltes System von formalen und informellen Regeln (Normen) einschließlich ihrer Garantieinstrumente, mit dem Zweck, das individuelle Verhalten in eine bestimmte Richtung zu lenken.“ Rudolf Richter. Neue Institutionenökonomik. Ideen und Möglichkeiten, in: Gerold Krause-Junk (Hg.): Steuersystem der Zukunft, Berlin 1998, S. 323–355, hier S. 325. Die jüngste Definition lautet: „‚Institutionen lassen sich definieren als die Menge von Funktionsregeln, die man braucht, um festzulegen, wer für Entscheidungen in einem bestimmten Bereich in Frage kommt, welche Handlungen statthaft oder eingeschränkt sind, welche Aggregationsregeln verwendet werden können, welche Verfahren eingehalten werden müssen, welche Information geliefert oder nicht geliefert werden muss, und welche Entgelte den einzelnen entsprechend ihren Handlungen zugebilligt werden muss. Alle Regeln enthalten Vorschriften, die eine Handlung oder ein Ergebnis verbieten, gestatten oder verlangen. Funktionsregeln sind diejenigen Regeln, die tatsächlich angewendet, kontrolliert und durchgesetzt werden, wenn Einzelpersonen oder Gruppen über ihre zukünftigen Handlungen Entscheidungen treffen. […] Und insoweit sie dieses Ziel zu verwirklichen vermag, bringt eine Institution Ordnung in die alltägliche Tätigkeit und vermindert damit Unsicherheit.“ Rudolf Richter / Erik G. Furubotn, S. 7.
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2. Begriffliche Differenzierung und konzeptionelle Herangehensweise
klassischen Ansatz deutlich werden:80 Erstens befindet sich nach der Annahme des methodologischen Individualismus der individuelle Akteur im Zentrum des Ansatzes. Kollektives Unternehmenshandeln basiert demnach auf den Handlungen der einzelnen Unternehmensmitglieder. Zweitens wird zwar die neoklassische Annahme rationalen Handelns übernommen, doch besteht ein gradueller Unterschied darin, dass individuelles Handeln nicht allein durch die persönliche Nutzenmaximierung, sondern auch durch andere Faktoren beeinflusst wird. Die Neue Institutionenökonomik geht nämlich in ihrer mikroökonomischen Analysetradition von einer begrenzten Rationalität (bounded rationality) des Menschen aus.81 Dieses Konzept geht auf die Arbeiten von Herbert Simon zurück,82 der die neoklassische Grundannahme des rationalen Handelns kritisierte und einen handlungstheoretischen Ansatz vorschlug, der eben von dieser begrenzten Rationalität ausgeht. Auch wenn ein Akteur rationales Handeln im Sinne des nutzenmaximierenden Homo Oeconomicus intendiert, ist ihm dies demnach aufgrund unvollständiger Informationen nicht immer möglich.83 Der neoklassische vollständig informierte Akteur, der unter allen verfügbaren Handlungsoptionen die für ihn günstigste auswählen kann, existiert in dieser Welt begrenzter Verarbeitungskapazitäten nicht. Damit sind im Konzept der bounded rationality individuelle Handlungen nicht naturgegebenen und/oder objektiven Codizes oder Diktaten unterworfen, sondern immer subjektiv und von den kognitiven Fähigkeiten des Akteurs abhängig. Drittens – und hier wird der realitätsnahe Charakter der Theorie am deutlichsten – lehnt die Neue Institutionenökonomik die Annahme eines friktionslosen Marktes ebenso ab wie das reibungslose Funktionieren eines Unternehmens. Reibungsverluste führen immer zu so genannten Transaktionskosten, und es wird versucht, diese durch Anreize oder durch Institutionen zu minimieren. Es gibt somit innerhalb des betrieblichen Alltags formale und informelle Spielregeln, die durchaus ökonomische Zwecke haben. Obwohl Institutionen der Steuerung dienen, stellen wir innerhalb von Unternehmen oft das Versagen dieser Steuerungsmechanismen trotz drohender Sanktionen fest. Wir müssen demnach von einem pfadabhängigen Verhalten von Unterneh80 81 82
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Rudolf Richter: Institutionen ökonomisch analysiert. Zur jüngeren Entwicklung auf einem Gebiet der Wirtschaftstheorie, Tübingen 1994, S. 4. Vgl. Horst Hegemann: Implizites Wissen und die Grenzen mikroökonomischer Analyse, in: Gerold Blümle / Nils Goldschmidt / Rainer Klump / Bernd Schauenberg / Harro von Senger (Hg.): Perspektiven einer kulturellen Ökonomik, Münster 2004, S. 11–29, hier S. 13. Herbert Simon: Models of Man, Social and Rational. Mathematical Essays on Rational Human Behavior in a Social Setting. 5. Auflage New York 1967. Einen guten Überblick über die Simon’sche Handlungstheorie findet sich auch bei Hartmut Esser: Sinn, Kultur und „Rational Choice“, in: Friedrich Jaeger / Burkhard Liebsch (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften Band 2. Paradigmen und Disziplinen, Stuttgart 2004, S. 249–265, hier 259. Mir ist die Provokation dieser Aussage in Richtung der Wirtschaftswissenschaften bewusst. Jedoch muss zwischen den Begriffen „begrenzter“ und „unvollständiger“ Information fachwissenschaftlich unterschieden werden. Zur Kritik und der Weiterentwicklung des Konzeptes des homo oeconomicus in den Kulturwissenschaften vgl. Nils Goldschmidt / Hans G. Nutzinger: Handlung und Verhalten in der Ökonomie. Eine Einführung aus kulturökonomischer Sicht, in: Nils Goldschmidt (Hg.): Vom homo oeconomicus zum homo culturalis. Handlung und Verhalten in der Ökonomie, Münster 2009, S. 9–23.
2.3 Ein Handlungsmodell des Unternehmens
51
men ausgehen, das einem Weg von „shared ideas about the proper way to behave“ folgt.84 Diese Einsicht hat sich in der deutschen und angelsächsischen Unternehmensgeschichtsschreibung seit mehreren Jahren etabliert und wird allmählich auch in der deutschen Wirtschaftswissenschaft und Soziologie geteilt.85 Es geht dabei um das Aufzeigen von Grenzen einer mikroökonomischen Institutionenanalyse und ihrer abgeleiteten Handlungstheorie, von ihrer Fähigkeit unternehmerisches Einzelund Kollektivverhalten in alltäglichen Abläufen und Zusammenhängen zu deuten und zu erklären. Wir haben es mit eingespielten, sozialisierten und sinngebundenen Handlungen zu tun – mit Unternehmenskulturen innerhalb einer „Miniaturgesellschaft“, wie eine moderne Unternehmensgeschichtsschreibung meint.86 Mit Hilfe einer modernen Unternehmenskulturforschung, die an die neoinstitutionenökomische Theorie von Douglass C. North angelehnt ist, diese aber hinsichtlich des verwendeten Kulturbegriffs erweitert, wird die Nachvollziehbarkeit einer in sich definierten Effizienz von Unternehmenskulturen sichtbar.87 Douglass Norths’ Institutionenökonomische Theorie spielt für die Wirtschaftsund Unternehmensgeschichtsschreibung eine bedeutenden Rolle, da sie historisch gewachsenen Institutionen informeller Natur eine wirkungsmächtige Rolle hinsichtlich ihres Antriebs für ökonomisches Handeln zuerkennt: „Dies war der Einzug von Kultur, Zeit und Geschichte in die ökonomische Theorie […].“88 North stellte in seinen frühen Arbeiten, ausgehend vom Property-Rights- und Transaktionskostenansatz, fest, dass sich effiziente Institutionen nicht immer nach dem Motto „survival of the fittest“ durchsetzen, sondern vielmehr von einer Perpetuierung ineffizienter Institutionen ausgegangen werden muss.89 Folgerichtig erwei84 85
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Mark Granovetter: The Impact of social structure on Economic Outcomes, in: Journal of Economic Perspectives 19/1 (2004), S. 33–50, hier S. 33. Vgl. Stephan Märkt: Kulturelle Ökonomik und Wirtschaftssoziologie, in: Berliner Journal für Soziologie 17/1 (2007), S. 121–130, hier S. 121. Ebenso Birger P. Priddat: Kultur und Ökonomie. Eine ökonomische Herangehensweise, in: Klaus E. Müller (Hg.): Phänomen Kultur. Perspektiven und Aufgaben der Kulturwissenschaft, Bielfeld 2003, S. 195–211, hier insbesondere 200ff. Vgl. Horst Hegemann, S. 16. Der Begriff des Unternehmens als Miniaturgesellschaft oder Deutungsgemeinschaft wurde von Clemens Wischermann in die unternehmensgeschichtliche Diskussion eingeführt. Vgl. Ders., 2000, S. 39. Zu betrieblichen Sozialisationsprozessen und ihrer Bedeutung für den alltäglichen Betriebsablauf vgl. Anne Nieberding: Unternehmerische Sinnkonstruktionen, in: Karl-Peter Ellerbrock / Clemens Wischermann (Hg.): Herausforderung, 2004, S. 216–226, insbesondere S. 223f. In Bezug auf das Gesamtwerk von Douglass C. North vgl. Ingo Pies: Theoretische Grundlagen demokratischer Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik — Der Ansatz von Douglass North, Diskussionspapier Nr. 2008-8 des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle 2008. Einen guten Überblick biete auch Helmut Leipod: Kulturvergleichenden Institutionenökonomik, Stuttgart 2006, S. 53–63. Clemens Wischermann, 2003, S. 82. Eben diese theorieinhärente Historisierung macht die Neue Institutionenökonomik aus, hierzu Birger P. Priddat: Historische Methode und moderne Ökonomie. Über das Methodische in der Historischen Schule und das Historische in der Neuen Institutionenökonomik, in: Hartmut Berghoff / Jakob Vogel (Hg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt am Main 2004, S. 99– 119. Vgl. Douglass C. North / Robert P. Thomas: An Economic Theorie of the Growth of the West-
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2. Begriffliche Differenzierung und konzeptionelle Herangehensweise
terte er das klassische Anreiz- und Koordinationssystem von allgemeinen Verträgen und Gesetzen (North nennt sie formgebundene Beschränkungen) um die Kategorie der formlosen Beschränkungen. Unter diesen informellen oder eben formlosen Institutionen versteht North eine Ordnung unseres täglichen Lebens, die durch Verhaltenskodizes, Sitten, Gebräuche und Konventionen bestimmt ist.90 Somit sind wirtschaftliche und damit auch inner-unternehmerische Handlungen eingeklammert in ein Regelwerk bestehend aus formlosen und formgebundenen Beschränkungen. Formlose Beschränkungen „entstehen aus Informationen, die in der Gesellschaft weitergegeben werden, und sind ein Teil jenes Erbes, das wir Kultur nennen“, und Kultur lässt sich definieren als „die Übertragung von Wissen, Werten und anderen verhaltensrelevanten Faktoren vermittels Lehre und Nachahmung von einer Generation auf die nächste.“91 North betont in institutionenökonomischer Manier das klassische Problem der Unvollständigkeit von Informationen (zwischen Prinzipal und Agent) und weist auf den Bedarf von Spielregeln hin, die jegliches Handeln im Sinne eines Informationsaustausches koordinieren.92 Kultur dient ihm dabei als ein Informationsfilter, der für Dauer sorgt, und zwar in dem Sinne, dass Lösungen von Tauschproblemen aus der Vergangenheit auch noch in der Gegenwart bestehen.93 Die älteren Arbeiten von North bestehen demnach auf einen akkumulativen Kulturbegriff, in dem Information niemals interpretationsbedürftig wäre, indem Wissen in historischen Settings stets eindeutig ist. Damit wird natürlich Steuerung von Individual- und Kollektivverhalten um ein Vielfaches einfacher, denn es bedarf einzig des Wissens über formale wie informelle Institutionen. Wie Reinhard Pirker zu Recht kritisch anmerkt, verschwendet diese Sichtweise allerdings „keinen Gedanken darauf, sich darüber klarzuwerden, dass Information, um zu Wissen werden zu können, interpretiert werden muß und unterschiedliche Interpretationen stets möglich sind, auch bei Vorliegen von ein und derselben Information […].“ Seiner Ansicht nach können in der Transaktionskostenerklärung eines Unternehmens „Effizienzhindernisse auf die Existenz unterschiedlicher Wahrnehmungsmuster und damit möglicher unterschiedlicher Sicht- und Verhaltensweisen der Welt zurückgeführt werden“, Lernen und Fähigkeitserwerb sind „eben nicht nur ein Prozess simpler Informationsaufnahme, wie die Transaktionskostenökonomie
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ern World, in: The Economic History Review 23 (1970), S. 1–17. Dies.: The Rise of the Western World. A New Econmoic History, Cambridge, Mass., 1973. Douglass C. North: Theorie des institutionellen Wandels. Eine neue Sicht der Wirtschaftsgeschichte, Tübingen 1988. Ders.: Institutions, Institutional Change and Economic Performance, Cambridge, Mass., 1990; deutsche Fassung: Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, Tübingen 1992. Douglass C. North / John J. Wallis / Barry R. Weingast: A Conceptual Framework for interpreting recorded Human History, National Bureau of Economic Research (NBER), Working Paper 12795, Cambridge, Mass., December 2006, S. 5. Diesen formlosen Beschränkungen liegen formgebundene Beschränkungen zugrunde. Sie beeinflussen unsere täglichen Entscheidungen und im Speziellen die Interaktion von wirtschaftlichen Akteuren in einem nicht zu unterschätzenden Maße. Vgl. Douglass C. North, 1990, S. 43. Ebd. S. 44. Vgl. Douglass C. North, 1992, S. 44. Ebd. S. 44.
2.3 Ein Handlungsmodell des Unternehmens
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gezwungen zu unterstellen ist, sondern Lernen ist ein essentiel offener, provisorischer und potenziell irrtumsbehafteter Prozeß“94 Eine Unternehmensgeschichtsschreibung im kulturellen Paradigma verabschiedet sich also von einfachen Steuerungswünschen und dem Glauben, jegliches Wissen und jegliche Information innerhalb von Unternehmen stets erkennen, erklären, kodieren und koordinieren zu können. Informations- und Wissensweitergabe stellt für sie mehr als reine Informationsübermittlung dar, Wissen über die inneren Handlungslogiken des Unternehmens ist niemals eindeutig, da es in spezifische historisierbare Sinnhorizonte eingebunden ist.95 Dies bringt Clemens Wischermann auf den Punkt, wenn er schreibt: „Die Weitergabe von Wissen vollzieht sich in primären und sekundären Sozialisationsprozessen. Die Institutionen verkörpern die Sinndeutung einer ‚objektiven Wirklichkeit‘ und sind jedoch immer im Wandel, nur temporär stabil, solange sie als sinnvolle Deutungsangebote Akzeptanz finden. […] Bezogen auf das Unternehmen heißt dies, dass es eine Subsinnwelt darstellt, die – im hier gemeinten positiven, nicht gewaltsam aufgezwungenen Fall – eine gesellschaftlich verhandelbare Lösung des Problems der Allokation von wirtschaftlichen Ressourcen anbietet. Durch alle Mitglieder dieser Subsinnwelt wird die Sinnwelt Unternehmen ständig neu geschaffen. Alle sind, wenn auch in unterschiedlichem Maße, Träger dieser Sinnkonstruktion und verändern diese durch ihr Handeln. […] Allerdings haben nicht alle gleichermaßen Zugang zu diesem Wissen und der mit ihm verbundenen Macht.“96
Mit einem solchen Unternehmenskulturbegriff, der das Unternehmen als Sinndeutungsgemeinschaft versteht, geht die These einher, dass es innerhalb von Unternehmen Vertrauensstrukturen gibt, die gegen den auch in der Neuen Institutionenökonomik vorherrschenden Opportunismus antreten.97 Institutionalisierte, oder besser habitualisierte Handlungen und Entscheidungen im Innern von Unternehmen sind nicht einfach zu steuern und zu koordinieren. Unternehmen funktionieren und überleben unter anderem deswegen, weil die einzelnen Akteure bzw. das Kollektiv im Sinne eines vorgebenden und interpretationsbedürftigen Ziels handelt und kooperiert. Durch die Weitergabe von kulturellem Wissen über gemeinsame Ziele und Regeln sowie die ihnen zugrunde liegenden Werte und Normen führt dies zu effizientem Wirtschaften.98 Dem Unternehmenshistoriker kommt dann die Aufgabe zu, 94 95 96 97
98
Reinhard Pirker: Die Unternehmung als soziale Institution. Eine Kritik der Transaktionskostenerklärung der Firma, in: Günther Ortmann / Jörg Sydow / Klaus Türk (Hg.): Theorie der Organisation, 1997, S. 67–80, hier S. 77f. Vgl. Clemens Wischermann, (2003a), S. 84. Ebd. S. 84–85. Aus sozialkonstruktivistischer Sicht vgl. Peter L Berger / Thomas Luckmann, S. 69f. Zum Vertrauensansatz in Unternehmen Martin Fiedler: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist teuer: Vertrauen als Schlüsselkategorie wirtschaftlichen Handelns, in Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 576–592. Ebenfalls Clemens Wischermann, (2003a), S. 86f. Ähnlich Markus Beckmann: Vertrauen, Institutionen und mentale Modelle, in: Martin Held / Gisela Kubon-Gilke / Richard Sturn (Hg.): Reputation und Vertrauen, Marburg 2010, S. 59–83. Vgl. Herbert Matis: Unternehmenskultur und Geschichte, in: Wilfried Feldenkirchen / Frauke Schönert-Röhlk / Günther Schulz (Hg.): Wirtschaft, Gesellschaft, Unternehmen. Festschrift für Hans Pohl, Band 2, Stuttgart 1995, S. 1028–1053, hier S. 1048. Dies ist auch ein Plädoyer dafür, dass der Unternehmenshistoriker sich nicht nur mit der formalen Analyse von Satzungen und Organigrammen zufrieden geben darf. Er hat weiterhin konkrete Entscheidungsprozesse
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2. Begriffliche Differenzierung und konzeptionelle Herangehensweise
dieses Wissen samt seinen zu Grunde liegenden Institutionen und die damit korrespondierenden Sinndeutungen anhand der ihm zur Verfügung stehenden Quellen interpretierend zu erschließen und so die Frage des Funktionierens der Subsinnwelt Unternehmen zu beantworten.99 Dem kulturellen Paradigma selbst fehlte es jedoch bislang an einem fundierten theoretischen Zugang, der es ermöglicht hätte, diese inneren Handlungslogiken in ihren Interdependenzen mit dem institutionellen Umfeld, der kulturellen Rahmung und dem allgemeinen sozio-ökonomischen Kontext in Verbindung zu setzen. Ebenfalls erscheint es aus Sicht einer Mainstreamökonomik fraglich zu sein, inwieweit diese von außen nach innen diffundierenden Erwartungsstrukturen ökonomische Relevanz besitzen; ihre Berechtigung wurde bisweilen zugunsten der ‚harten Faktoren‘ des Wirtschaftens verleugnet. Im Folgenden werde ich versuchen, die Ver-
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und ihre Wertigkeit bzw. die Werte zu analysieren, auf die jene Entscheidungen rekurrieren. Vgl. Peter Borscheid: Das Unternehmen in institutioneller Perspektive. Einführung, in: KarlPeter Ellerbrock / Clemens Wischermann (Hg.): Herausforderung, 2004, S. 157–159, hier S. 159. Diese Diskussion über eine moderne Unternehmenskulturforschung kann und soll in dieser Arbeit nicht ausufern. Grundsätzlich wird zwischen Unternehmenskultur als „root metapher“ oder als Variable unterschieden. Letzterer Ansatz zielt auf die Steuerung von Unternehmenskulturen ab. Erstere ist verwand mit dem Modell des Unternehmens als Sinndeutungsgemeinschaft, zielt aber explizit auf die Klärung der Beziehungen von Unternehmenskultur zu anderen betrieblichen Funktionen. Bezogen auf Umweltschutz in Unternehmen explizit: „Ziel einer umweltbewussten Unternehmenskultur ist es, kulturelle – in diesem Fall ökologische – Strömungen aus dem Umfeld des Unternehmens aufzunehmen und zu versuchen, diese gezielt im Unternehmen zu verankern bzw. zu institutionalisieren.“ Barbara Maria Hammerl: Umweltbewusstsein im Unternehmen. Eine empirische Analyse im Rahmen der Unternehmenskultur, Frankfurt am Main 1994, S. 89. Zu den beiden Ansätzen und ihren unterschiedlichen Analysepotenzialen sowie zur Darstellung des Zusammenspiels von Unternehmenskulturen und gesellschaftlichen Erwartungen in der Bundesrepublik vgl. Thilo Jungkind: Unternehmenskultur in Deutschland seit den 1950er Jahren – Eine unternehmensgeschichtliche Bestandsaufnahme, Diplomarbeit, Konstanz 2009, URL: http://kops.ub.uni-konstanz.de/volltexte/2009/8358/ (25.06.2012). Einen guten Überblick über solche Vorhaben bietet auch Anne Nieberding: Neuere Ansätze der Unternehmenskommunikation seit den 1980er Jahren, in: Clemens Wischermann (Hg.): Unternehmenskommunikation deutscher Mittel- und Großunternehmen, Münster 2003, S. 57–76, hier S. 65ff, (2003a). Zu den unterschiedlichen Ansichten in der Betriebswirtschaftslehre vgl. Edmund Heinen: Unternehmenskultur als Gegenstand der Betriebswirtschaftlehre, in: Ders. / Matthias Fank (Hg.): Unternehmenskultur, 2. bearbeitete und erweiterte Auflage, München 1997, S. 1–40, insbesondere S. 13ff. Ebenso Peter Dill: Unternehmenskultur. Grundlagen und Anknüpfungspunkte für ein Kulturmanagement, München 1986. Die Erfassung artifizieller Gegebenheiten und deren zugehörige Interpretation der vorherrschenden Unternehmenskultur gelingt über so genannte Ebenenmodelle. Vgl. Edgar H. Schein: Unternehmenskultur. Ein Handbuch für Führungskräfte, Frankfurt am Main / New York 1995. Ebenso Sonja A. Sackmann, S. 25. Diese Modelle unternehmen den Versuch, ideelle und materielle Aspekte der Kultur – womit der sichtbare und der unsichtbare Teil der Unternehmenskultur angesprochen ist – multikausal zu verknüpfen. Beide Modelle können als Synthese des Variablen- und des Metaphernansatzes verstanden werden. Jürgen Kaschube: Betrachtung der Unternehmens- und Organisationskulturforschung aus (organisations-)psychologischer Sicht, in: Meinolf Dirkes / Lutz von Rosenstiel / Ulrich Steger (Hg.): Unternehmenskultur in Theorie und Praxis. Konzepte aus Ökonomie, Psychologie und Ethnologie, Frankfurt am Main / New York 1993, S. 91–141, hier S. 107.
2.3 Ein Handlungsmodell des Unternehmens
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bindung von äußeren und inneren – d.h. adaptierten – institutionellen Arrangements und damit allgemeinen Handlungslogiken im unternehmenskulturellen Sinne herzustellen und damit der These nach deren ökonomischen Relevanz mehr Gewicht verleihen. Es gilt dabei auch, das Wissen über die Gefahren chemischer Produktion des kulturellen Kontextes und seiner Zuschreibungen gegenüber den Unternehmen der chemischen Industrie zu integrieren.100 2.3.2.2 Eine reflektierte Betriebsanleitung des Unternehmens von außen Ziel dieses Abschnitts ist es, die Interdependenzen zwischen von außen kommenden institutionellen und kulturellen Erwartungen gegenüber einem Unternehmen der chemischen Industrie und seinem inneren institutionellen Arrangement und den inneren Handlungslogiken herzustellen. Erneut hilft dabei zunächst Douglass North, dessen Arbeiten nicht nur Aufschluss über die grundlegende Effizienz des inneren institutionellen Gefüges und im Anschluss daran von Unternehmenskultur geben, indem seine ökonomische Theorie Anschlussmöglichkeiten für eine kulturwissenschaftliche Erweiterung bietet. Sie lässt sich ebenso in einem Makrozusammenhang betrachten. Die im Folgenden dargestellten neueren Arbeiten von North unterscheiden sich signifikant von seinen älteren Annahmen, in denen es durch einfache Steuerung des Restriktionsarsenals von formalen und informellen Institutionen noch möglich war, menschliches und – im Falle dieser Arbeit – auch unternehmerisches Handeln zu lenken. In seinem 2005 erschienenen Buch „Understanding the Process of Economic Change“ wendet sich North erneut der Frage zu, welchen Einflussfaktoren menschliches Handeln zugrunde liegt, und seine Schlussfolgerungen lassen sich auch auf kollektives unternehmerisches Handeln übertragen.101 Aus unterschiedlichen natur- und sozialwissenschaftlichen Ansätzen erarbeitet er einen Ansatz, der die Pfadabhängigkeit menschlicher Entwicklung in einen biologisch-evolutionären sowie einen soziokulturellen Kontext einbettet. Individuen sind demnach zunächst von ihrer genetischen Ausstattung (genetic architecture) beeinflusst, die sie zu intentionalem und bewusstem Handeln befähigt (consciousness). Auf dieser Basis agieren Menschen in ihrer Umwelt, lernen aus ihrer sozialen Umgebung und werden damit Teil der Kultur ihrer Gesellschaft: „Humans start out with genetic features which provide the initial architecture of the mind; the mind interacts with the cultural heritage and the experiences of individuals to shape learning.“102 Ausgestattet mit biologischen gegebenen und gelernten soziokulturellen Fertigkeiten sind Menschen damit in der Lage, gezielt ihre soziale Umgebung zu beeinflussen und so den institutionellen Wandel ihrer Gesellschaft aus individuellen rationalen Gesichtspunkten heraus zu gestalten. 100 Aus einer gesellschaftstheoretischen Sicht vgl. Stefan Böschen: Risikogenese. Prozesse gesellschaftlicher Gefahrenwahrnehmung: FCKW, DDT, Dioxin und Ökologische Chemie, Opladen 2000. 101 Vgl. Douglass C. North: Understanding the Process of Economic Change, Princeton University Press 2005. 102 Ebd. S. 71.
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2. Begriffliche Differenzierung und konzeptionelle Herangehensweise
Hier bleibt North nicht wie in seinen früheren Arbeiten auf halbem Wege stehen, wenn es um die Verbindung von historischen Kontexten, Kultur und effizientem wirtschaftlichem oder unternehmerischem Handeln aus Sicht seiner institutionenökonomischen Theorie geht. Er weicht in jüngster Vergangenheit von einem Prunkstück der ökonomischen Theorie und ihres Handlungsmodells ab, indem er den Glauben an eine universalistische Gültigkeit und einfache Steuerungswünsche des institutionellen Arrangements ad acta legt: „Wenn wir [..] versuchen, institutionelle Rahmenbedingungen zu gestalten, […] dürfen wir keineswegs außer Acht lassen, daß das jeweilige Anreizsystem […] eine abhängige Variable des kulturellen Erbes einer bestimmten Gesellschaft ist. Dies ist einer der Gründe, warum Wirtschaftswissenschaftler als Berater anderer Länder so oft falsch liegen. Sie gehen davon aus, daß ein und dasselbe Wirtschaftsmodell überall anwendbar ist. Aber das kulturelle Erbe, das dafür verantwortlich ist, inwieweit wir dieses Wirtschaftsmodell als ein sinnvolles betrachten, ist eben nicht universal.“103
North exponiert also das kulturelle Erbe einer Gesellschaft und verbindet es direkt mit einer ökonomischen Handlungstheorie. Zu den Emergenzprozessen eines kulturellen Erbes einer jeden Gesellschaft gehören regelmäßige historische Verschiebungen von institutionalisierten Erwartungshaltungen gegenüber Unternehmen. Bei aller Einsicht, die North neuerdings so vehement vertritt, ist jedoch sein jüngster Schwenk stark an eine wissensoziologische Argumentation angeknüpft, die bereits lange vor dem Aufstieg der North’schen Theorie eine differenzierte „Wirtschaftskultur“ auswies und die North bei seinen jüngsten Ausführungen sicherlich als Folie diente. Mit dem Blick in die Arbeiten Peter L. Bergers verliert der Innovationscharakter der North’schen Ausführungen gehörig an Glanz; stellte Berger doch bereits 1992 fest: „Der Terminus ‚Wirtschaftskultur‘ meint nicht irgendein geheimnisvolles, empirisch unzugängliches Element, sondern bezeichnet ganz einfach den soziokulturellen Kontext, in dem wirtschaftliche Tätigkeiten und Einrichtungen existieren. Er weist auf ein bestimmtes Gefüge von Beziehungen hin, impliziert aber nicht eine Theorie dieser Beziehungen.“104 Eine weiter gefasste Definition (historischer) Wirtschaftskultur würde diese Argumentation unterstützen und ergänzen. Sie würde nämlich sehr wohl von der Hypothese ausgehen, dass jegliche ökonomische Interaktion in allen Organisationstypen und auf allen Hierarchieebenen auf kulturellen Normen, Symbolen, Mustern und Strategien aufbaut.105 In letzter Konsequenz folgt daraus die Annahme, dass ökonomisches Handeln und damit – im Falle eines Unternehmens – unternehme103 Douglass C. North: Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis des wirtschaftlichen Wandels, in: Max Miller (Hg.): Welten des Kapitalismus. Institutionelle Alternativen der globalisierten Ökonomie, Frankfurt am Main / New York 2005, S. 127–143, hier S. 137. Diese Einsicht ist natürlich nicht nur auf geographische oder strukturelle Aspekte von Gesellschaft, sondern auch auf historische Ausdifferenzierungen übertragbar. 104 Peter L. Berger: The Capitalist Revolution. Fifty Positions about Prosperity, Equality and Liberty, New York 1986, deutsch: Die kapitalistische Revolution. Fünfzig Leitsätze über Wohlstand, Gleichheit und Freiheit, Himberg, 1992, S. 23f. 105 Hierzu Clemens Wischermann: Unternehmensgeschichte als Kulturgeschichte, in: Ders. (Hg.): Unternehmenskommunikation deutscher Mittel- und Großunternehmen, Dortmund 2003, S. 11–21, hier S. 16, im Folgenden: Wischermann (2003d).
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rische respektive soziale Ordnung von Menschen hergestellt wird und nicht von diffusen und unsichtbaren, als gegeben gesetzten Marktgesetzen gemacht wird. Diese Argumentation vernachlässigt North doch sehr fahrlässig, sie kann aber aus einer Synthese der North’schen Fassung der Neuen Institutionenökonmoik mit der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie abgeleitet werden. Begründet liegt dies unter anderem in der traditionellen Anlehnung letztgenannter Theorie an die Wissenssoziologie Berger-Luckmannscher Prägung.106 Angesichts der Einbettung von Unternehmen in divergierende historische Settings unterliegt jegliches unternehmerische Handeln Zuschreibungen von außen.107 Hier sehe ich eine mögliche Verbindung oder wechselseitige Bereicherung der wirtschaftssoziologischen Theorie des Neoinstitutionalismus mit der neoinstitutionenökonomischen Handlungstheorie jüngster North’scher Prägung. Die von North angesprochenen Versuche, institutionelle Rahmenbedingungen zu gestalten, erfahren in neoinstitutionalistischen Organisationstheorien jedoch einen Perspektivenwechsel, der sich von einer universalistischen Gültigkeit und somit von einfachen Steuerungswünschen weg bewegt. Hierin darf aus der Perspektive dieser Arbeit eine Kompatibilität der beiden Ansätze gesehen werden. Institutionelle und kulturelle Rahmungen werden nicht gestaltet, aber Organisationen reagieren auf sie, was zwangsläufig dazu führt, dass sich ähnliche Organisationen und inner-organisatorische Verhaltensmuster ausprägen. North folgend bedeutet dies auch weiterhin, dass Organisationen nicht allein einem inneren rationalen Kalkül folgen, und dennoch wirtschaftlich im Sinne einer institutionenökonomischen Theorie handeln. Vorstellungssysteme und Wirklichkeitsinterpretationen eines bestimmten historischen Kontextes rücken in den Mittelpunkt zur Beleuchtung unternehmerischen Handelns, avancieren zu ökonomischen Kerngrößen. In einem solchen Verständnis von institutionellen und kulturellen Umwelten der Organisation wird soziale Identität und damit die Wahrnehmung und Situationsdefinition von Akteuren geprägt, indem es nach einer reflexiven Auseinandersetzung zu Institutionalisierungs- bzw. Deinstitutionalisierungsprozessen von organisationalen Formen, Managementkonzepten, allgemeinen Praktiken und Glaubenssystemen im Innern der Organisation kommt.108 Damit kann die Analyse unternehmerischen Risikoverhaltens, das sich kontextuell verändert, nur mit Hilfe einer Verbindung zur neoinstitutionalistischen Organisationstheorie adäquat erfolgen. Wenngleich die angesprochenen Verbindungen der beiden Theorien aufgrund ihrer disziplinspezifischen Besonderheiten und Provenienzen schwer herzustellen sind,109 so sehe ich in einigen kongruenten Konzepten 106 107 108 109
Vgl.Peter L. Berger / Thomas Luckmann, S. 69f. Vgl. Clemens Wischermann, S. 84. Vgl. Peter Walgenbach / Renate E. Mayer, S. 201. Zu möglichen Bindegliedern der beiden Ansätze, die jedoch meist nicht tragfähig waren vgl. Peter Walgenbach / Renate E. Meyer, S. 151–158 sowie Fabrizio Ferraro / Jeffrey Pfeffer / Robert I. Sutton: Economics Language and Assumpition. How Theories can become self-fulfilling, in: Academy of Management Review 30/1 (2005), S. 8–24, hier insbesondere S. 13–16. Hinsichtlich der Möglichkeiten, die empirische Studien bieten, vgl. Peter Walgenbach / Renate E. Mayer, S. 155. Es wird hier absichtlich nur von einer wechselseitigen Bereicherung des Neoinstitutionalismus und der Neuen Institutionenökonomik gesprochen werden, da es zurzeit
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2. Begriffliche Differenzierung und konzeptionelle Herangehensweise
Anschlussmöglichkeiten und damit einen erhöhten Erklärungsgehalt des unternehmerischen Risikohandelns für die vorliegende Arbeit im erweiterten kulturellen Paradigma der Unternehmensgeschichte. Vor allem im Konzept der Institution selbst, die sowohl in der institutionenökonomischen Theorie North’scher Fassung und damit auch in einer Unternehmensgeschichte im kulturellen Paradigma, als auch im Neoinstitutionalismus als „the rules of the game“110 interpretiert werden kann, liegt ein bedeutender Erklärungsgehalt für das ökonomisch sinnvolle und zugleich sinnhafte Handeln in einem kulturellen Kontext des Unternehmensinnern, das eben auch durch den institutionellen Kontext von außen angeleitet werden kann. Diese Einsicht hat ebenfalls Auswirkungen auf die dargestellten Konzepte des Neoinstitutionalismus: Für das Konzept der Legitimität des Risikoverhaltens eines Unternehmens der chemischen Industrie bedeutet es, dass dieses niemals eindeutig ist und in hohem Maße durch die Verschiebung gesellschaftlicher Sinndeutung beeinflusst wird. Das Konzept des organisationalen Feldes dient dieser Arbeit als Instrument, die außer-unternehmerischen Sinnverschiebungen sichtbar zu machen; das Feld tritt als Zuschreibungs-Produzent in einem stetigen institutionellen Wandel auf, aber nur insofern, wie es für die betrachteten Unternehmen wahrnehmungsrelevant war. So lässt sich auf einen kultur-rationalen Akteur und ein Akteurshandeln schließen: Strategisches und taktisches Verhalten muss aus Sicht der betrachteten Unternehmen im Sinne Christine Olivers als Ziel interpretierend intendiert werden. Auch die neueren Arbeiten von Douglass North verfügen über ein Akteurskonzept, das dem kulturell handelnden Akteur und somit einer kulturrationalen Handlung im Sinne des Neoinstitutionalismus sehr nahe kommt und eine universal gültige Idee ökonomischen Handelns verwirft. Die Schlussfolgerung hieraus kann nur sein, dass die vorgestellten Konzeptionen der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie wie Machtverhältnisse, Legitimität, Entkopplung und strategisches Handeln sich dynamisch in historisch-kulturellen Settings verändern und unterschiedliche Auswirkungen und Ausprägungen auf das Innere des Unternehmens annehmen. Die Begründung liegt also im Kontext selbst: In verschiedenen historisch-kulturellen Settings mitsamt ihren ausgestalteten Erwartungsstrukturen gegenüber einem Unternehmen der chemischen Industrie schälen sich dynamische und kontextabhängige Zuschreibungen gegenüber der Entscheidung, chemische Produktion zu betreiben heraus. Auf die kurze Formel gebracht heißt das für die vorliegende Arbeit: Der Neoinstitutionalismus samt seiner traditionellen Anknüpfung an die Institutionen-Konzepte von Berger und Luckmann liefert eine überzeugende Erklärung der Prägung eines Unternehmens durch äußere institutionelle Kontexte und kulturellen Rahmungen, die in seinem Innern adaptiert werden. Die Neue Institutionenökonomik und in ihrem Anschluss das Modell des Unternehmens als Sinndeutungsgemeinschaft erklären die ökonomische Wirkungsmacht dieser inneren Institutionen und Kulnoch keine konzeptionellen Arbeiten gibt, die diese beiden Ansätze verknüpfen können. Da die Erläuterung dieses „Methodenstreits“ den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, sei auf das ähnliche Akteurskonzept und die Emergenz von Institutionen selbst verwiesen. Näheres bei Peter Walgenbach / Renate E. Mayer, S. 154ff. 110 Aus Sicht des Neoinstitutionalismus vgl. Peter Walgenbach / Renate E. Mayer, S. 76.
2.3 Ein Handlungsmodell des Unternehmens
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turen. Damit ist die Verbindung von unternehmerisch sinnvollen und ökonomisch relevanten Handlungslogiken des Unternehmens im Wechselspiel mit gesellschaftlichen Erwartungsstrukturen hergestellt, die in einer Unternehmensgeschichtsschreibung im kulturellen Paradigma kulminiert; neu ist dann die konzeptionell glaubwürdige Erweiterung des Paradigmas um die Umwelt des Unternehmens. Mit anderen Worten ist damit ein kontextabhängiges Handlungsmodell des Unternehmens aufgestellt, das raum- und zeitabhängiges Wirtschaften in seinen unterschiedlichen Ausprägungen zu analysieren und darzustellen vermag. Übertragen auf Organisationen finden Institutionalisierungsprozesse dann statt, sobald sich habitualisierte Handlungsmuster innerhalb der Organisation ausprägen, die von Institutionen außerhalb der Werkstore angeleitet werden. Durch Sedimentation bilden sich innerhalb eines Unternehmens Glaubenssysteme an die Richtigkeit und den (nicht notwendigerweise monetären) Nutzen der übernommenen Elemente heraus, wobei dies auf keinen Fall bedeutet, dass es immer wieder zu Widerstand hiergegen kommen kann.111 Damit wird die Ebene in Richtung einer inneren Betrachtung geöffnet, und die weit fortgeschrittene Diskussion um Unternehmenskultur als Sinnsystem einer „Miniaturgesellschaft“ Unternehmen kann an dieser Stelle neu entfacht werden. Die Übernahme institutionalisierter Regeln, deren Beständigkeit und Weitergabe hängt ebenfalls maßgeblich von der Einbettung der Organisation in gesellschaftliche Sinnzusammenhänge ab, woraus sich ständig verändernde Ordnungs- und Vertrauensbeziehungen bilden.112 Der Neoinstitutionalismus geht von einer existenten kulturellen Rahmung außerhalb des Unternehmens aus, lässt aber einen expliziten Kulturbegriff vermissen.113 Mit Hilfe des Konzeptes des organisationalen Feldes in seinem Wechselspiel mit einem Wandel außerunternehmerischer Institutionen lassen sich aber Anknüpfungspunkte an moderne kulturwissenschaftliche Überlegungen knüpfen: Organisationale Felder selbst bilden den institutionellen Kontext und die kulturelle Rahmung von Organisationen bzw. sind das Ergebnis von institutionellem Wandel. Sie bringen stetig neue Logiken, Erwartungen und Diskurse hervor, in die Unternehmen aufgrund ihres neoinstitutionellen Charakters als offene Systeme eingebunden sind, nach denen sie sich reflektiert ausrichten und damit einer kulturellen Rationalität folgen. Unternehmen operieren in einem sich dynamisch verändernden Sinnsystem, das außerhalb der Unternehmensgrenzen lokalisiert, jedoch zur Erlangung von Legitimität adaptiert wird. Im Falle dieser Arbeit heißt das insistierte Thema 111 Vgl. Peter Walgenbach / Renate E. Meyer, S. 60. Hierzu auch Peter L. Berger / Thomas Luckmann, S. 93. 112 Aus neoinstitutionalistischer Sicht vgl. Lynn G. Zucker: The Role of Institutionalisation in cultural Pesistence, in: American Sociological Review 42 (1977), S. 726–743, hier insbesondere S. 729–732. Dies: Institutional Theories of Organisations, in: Annual Review of Sociology 13 (1987), S. 443–464, hier S. 450. Zu einer unternehmensgeschichtlichen Darstellung des Unternehmens als Sinndeutungsgemeinschaft vgl. ClemensWischermann: Kooperation, in: Ders. (Hg.): Unternehmenskommunikation deutscher Mittel- und Großunternehmen, Münster 2003, S 76–93, hier S. 39. 113 Gemeint ist hier nun eine äußere kulturelle Rahmung, da der Neoinstitutionalismus in seinen inneren Institutionalisierungs- und Deinstitutionalisierungprozessen einem wissenssoziologischen Ansatz Berger-Luckmann’scher Prägung folgt.
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2. Begriffliche Differenzierung und konzeptionelle Herangehensweise
produktionsinduzierte Risiken für die natürliche und lebensweltliche Umwelt des Unternehmens. Die Entscheidung chemische Vor-, Zwischen- und Endprodukte herzustellen, beruht auf dem Zweck der Existenz des betrachteten Unternehmens; es richtet sein inneres institutionelles Arrangement und seine ihm eigene Sinndeutung danach aus. Auf der anderen Seite stellt die Entscheidung zur Produktion eine Gefahr für die natürliche und lebensweltliche Umwelt des Unternehmens dar. Die entsprechende Zuschreibung und Wahrnehmung der institutionellen Umwelt und der kulturellen Rahmung des Unternehmens führt zu differierenden Managementpraktiken und allgemeinen Überzeugungen, die reflektiert übernommen oder mit den entsprechenden Konsequenzen abgelehnt werden.114 Beide Varianten führen zum Herausschälen neuer Glaubenssysteme oder zur reflektierten Beibehaltung der alten Glaubenssysteme innerhalb des Unternehmens. Die vorliegende Arbeit hat sich das Ziel gesetzt, diese außerhalb des Unternehmens vorhanden Sinnsysteme bezüglich produktionsinduzierter Risiken und sich wandelnder Gefahrenzuschreibungen für die natürliche und lebensweltliche Umwelt zu identifizieren und sodann ihre Wahrnehmungen und konkreten Umsetzungen respektive streitbare Nichtumsetzung aus Sicht der betrachteten Unternehmen nachzuzeichnen und zu analysieren. Die Ausrichtungen – also die Übernahme oder Einführung bestimmter Managementpraktiken, Strukturelementen, Glaubenssystemen und allgemein von Institutionen – kann dabei von Unternehmen zu Unternehmen innerhalb eines Feldes unterschiedlich ausfallen, was mit organisatorischen und strukturellen Faktoren wie der Größe des Unternehmens, internen Dynamiken, der Unternehmenskultur, der Art der Beziehungen zu den Anspruchgruppen und dergleichen erklärt werden kann.115 Die Rolle eines Unternehmens als Mitglied eines organisationalen Feldes ist aufgrund der inhärenten Felddynamik in ständiger Bewegung, und Unternehmenshandeln lässt sich als kontextgebundene Sinnhandlung verstehen. Diese dynamische, stets neu auszuhandelnde Rollendefinition und die daraus entstehenden Probleme, die es gleichwohl zu analysieren gilt, können mit einem modernen Kulturbegriff umrissen werden, der die neoinstitutionalistischen Vorstellungen bezüglich der ständig neu zu definierenden Aushandlungsprozesse erweitert. Danach ist die kulturelle Rahmung eines Unternehmens „nicht allein dafür zuständig, gegebene soziale Verhältnisse mit Sinn und Legitimation zu beliefern“, sondern kulturelle Semantiken und soziale Strukturen „stellen zwei interdependente Größen dar, die sich auf spannungsreiche und dynamische Weise wechselseitig hervortreiben, bedingen und irritieren“. Anstatt vor allem sozialen Konsens zu gewährleisten, umfasst Kultur somit „das Kontinuum aller Abweichungsgrade innerhalb von Praktiken und Diskursen und bringt dadurch einen Möglichkeitsüberschuss hervor, ohne den […] Gesellschaften nicht hinreichend elastisch auf ihre innere Uneinheitlichkeit und Kontingenz zu reagieren vermöchten.“116 114 Ebd. S. 291/292. Hierzu auch Peter Walgenbach / Renate E. Meyer, S. 75. 115 Vgl. im Einzelnen Peter Walgenbach / Renate E. Meyer, S. 77–80. 116 Exzellenzcluster 16 „Kulturelle Grundlagen von Integration“ an der Universität Konstanz: Wissenschaftliches Konzept, URL: http://www.exc16.de/cms/wiss-konzept.html (03.07.2012).
2.3 Ein Handlungsmodell des Unternehmens
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Der Unternehmenshistoriker ist nach einer solchen Auffassung von Kultur dazu aufgefordert, institutionelle, soziale und kulturelle Phänomene ausfindig zu machen, die aus Sicht der betrachteten Unternehmen für das insistierte Thema des organisationalen Feldes von Relevanz sind. Es gilt, das historisch wandelbare organisationale Feld bezüglich der Verhandlung produktionsinduzierter Risiken ex post zu identifizieren und seine historische Dynamik und Einwirkungsmechanismen auf die betrachteten Unternehmen zu analysieren. Sowohl die das Unternehmen von außen durchdringenden kulturellen Kontexte wie auch die inneren Sinnsysteme, die dabei auf den Prüfstand gestellt werden, können mit modernen kulturtheoretischen Zugängen im Modell des Unternehmens als Sinndeutungsgemeinschaft beschrieben und interpretiert werden. Es wird in der Analyse darum gehen, die sich wandelnden organisationalen Felder samt dem zugehörigen institutionellen Wandel ausfindig zu machen und in einem zweiten Schritt die beschriebenen Aushandlungsprozesse und damit Gefahrenzuschreibungen in ihrer Veränderung und damit in ihrer Wirkung auf die betrachteten Unternehmen herauszuarbeiten. Ziel ist die Darstellung der historischen Felddynamik, die Ausdruck von institutionellem Wandel und Pfadabhängigkeiten ist und die die betrachteten Unternehmen in stets neue und veränderte Rollen drängt. Dynamisierung bedeutet in diesem Zusammenhang, „dass sich die Relevanz einzelner Akteure, die Kräfteverhältnisse zwischen den Akteuren, die Zusammensetzung der Akteure in einem Feld sowie die Grenzen des Feldes im Zeitverlauf ändern können“ und „dass die Bedeutung der Institution und die durch sie gebildeten sozialen Kategorisierungen […] modifiziert werden können.“117 Um die Frage zu beantworten, mit welchen Strategien es den betrachteten Unternehmen gelang, für ihr kontextgebundenes Handeln Legitimität zu erlangen, bedarf es einer Institutionenanalyse118 außerhalb des Unternehmens nach Scott in dem Sinne, wie sich Erwartungshaltungen und Zuschreibungen aus der Wahrnehmung der Unternehmen im historischen Kontext veränderten. So ergibt sich eine notwendige Strategieanalyse durch das dargestellte Schema von Christine Oliver, das Ziel interpretierendes Handeln als eine kulturrationale Sinnhandlung darstellen kann, woraus wiederum auf die Verschiebung von Machtpotenzialen geschlossen wird. Hierzu müssen die Aushandlungsprozesse zwischen Unternehmen, ihrem institutionellen Kontext und ihrer historisch-kulturellen Rahmung eruiert werden. Die hinter diesen Strategien liegenden inner-unternehmerischen Institutionen und Sinndeutungen müssen sichtbar gemacht werden, soweit das die vorhandenen Quellen zulassen, indem sie auf zeitgenössische Argumentationen und Meinungen der Unternehmensverantwortlichen befragt werden. Dabei werde ich von der Unternehmensspitze bis hin zu der operativen Ebene eine Institutionenanalyse in den jeweiligen Funktionsbereichen der Unternehmen durchführen, die für die jeweilige Zeit zuständig waren. Ziel ist es, das kontextgebundene und dynamische Handlungsmodell des Unternehmens als offenes System im gesellschaftlichen (Werte-) 117 Peter Walgenbach / Renate E. Meyer, S. 73. 118 Es werden die formalen und informellen Dimensionen von Institutionen vorgestellt, die aus Sicht der Unternehmen für ihr Handeln relevant waren. Die vollständige Darstellung besonders der Umweltgesetzgebung in ihrer Entwicklung kann hier nicht geleistet werden.
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2. Begriffliche Differenzierung und konzeptionelle Herangehensweise
wandel in seinem Umgang mit produktionsinduzierten Risiken auf die Handlungslogiken der Unternehmen von den 1950er bis in die 1980er Jahre hinein anzuwenden und dabei immer auch die Rolle der betrachteten Unternehmen als gesellschaftlicher Akteur darzustellen.
3. EINE UNTERNEHMENSGESCHICHTE VON BAYER UND HENKEL IM UMGANG MIT PRODUKTIONSINDUZIERTEN RISIKEN 3.1 LEGITIME KONTINUITÄT DES RISIKOHANDELNS: DIE 1950ER UND 1960ER JAHRE Die Organisation von Unternehmen, wie sie vor 1945 zu erkennen war, setzte sich in den „langen 1950er Jahren“ fort:1 „Im Westen Deutschlands konnte es gar nicht zu einer kapitalistischen Restauration kommen, weil die privatwirtschaftliche Grundstruktur 1945 gar nicht gestört oder tiefgreifend verändert war. Es ist richtiger, von kapitalistischer – und bürokratischer – Kontinuität zu sprechen.“2 In diesem Kapitel wird es um die Frage gehen, ob diese von Kocka konstatierten Kontinuitäten hinsichtlich des Umgangs mit produktionsinduzierten Risiken ebenfalls gelten oder ob bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg außerunternehmerische institutionelle Brüche oder veränderte Gefahrenzuschreibungen auszumachen sind, die sich auf das Verhalten und das institutionelle Arrangement der betrachteten Unternehmen niederschlugen. Die Folgen der chemischen Produktion für die natürliche und lebensweltliche Umwelt der großen Chemiewerke waren nicht erst seit der Zeit des „Wirtschaftswunders“ sichtbar. Bereits in der Phase der Hochindustrialisierung hatte es aus einer natur- und heimatschützerischen Bewegung heraus immer wieder Debatten um die zerstörerischen Auswirkungen der chemischen Produktion gegeben. Sie nahmen jedoch in keiner Weise die Intensität des Diskurses über Umweltschutz und Risiko-Verantwortungskonzepte der Unternehmen an, wie wir es seit den 1970er Jahren beobachten können.3 Daraus lässt sich einerseits schließen, dass sich die 1 2
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Deswegen sei deutsche Geschichte nach 1945 vor allem Wirtschaftsgeschichte. Vgl. Werner Abelshauser: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München 2004, S. 11. Jürgen Kocka: 1945: Neubeginn oder Restauration?, in: Carola Stern / Heinrich A. Winkler (Hg.): Wendepunkte deutscher Geschichte 1848–1990, überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, Frankfurt am Main 1994, S. 159–192, hier S. 190. Ergänzend auch Hans-Ulrich Wehler: Umbruch und Kontinuität. Essays zum 20. Jahrhundert, München 2000. Ders. aus strukturgeschichtlicher Perspektive: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5, Bundesrepublik und DDR 1949–1990, München 2008, siehe hier die entsprechenden Kapitel zur BRD. Vgl. hierzu auch die einleitend erwähnten, einschlägigen unternehmensgeschichtlichen Publikationen der betrachten Unternehmen: Für Henkel vgl. Wilfried Feldenkirchen / Susanne Hilger / Wolfgang Zengerling, S. 110ff. Für Bayer vgl. Erik Verg / Gottfried Plumpe / Heinz Schultheis, S. 300ff. Ebenfalls Werner Abelshauser: Die BASF seit der Neugründung von 1952, in: Ders. (Hg.): Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte, München 2002, S. 359–633. Vgl. Franz-Josef Brüggemeier / Michael Toyka-Seid, S. 16. Aus unternehmenskultureller Sicht bei den Farbenfabriken Bayer Leverkusen für die Zeit des Kaiserreiches vgl. Anne Nieberding: Unternehmenskultur im Kaiserreich. J.M. Voith und die Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer &
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
Unternehmen der Risiken ihrer Produktionen durchaus bewusst sein mussten. Aus den nach 1945 extrem hohen Schadstofffrachten der Flüsse und der starken Luftverunreinigung, die in den Umweltverschmutzungsbilanzen der Bundesrepublik leicht erkennbar sind, ist aber auch zu ersehen, dass die Unternehmen lange Zeit nur in geringem Maße zu Veränderungen bereit waren.4 Toxische Produkte wie auch die so genannten „üblichen Emissionen“ – d.h. vor allem säurehaltige Dämpfe sowie Stick- und Schwefeloxide – gelangten oft unkontrolliert nach außen.5 Die Unternehmen der chemischen Industrie scheinen es lange Zeit versäumt zu haben, ihre produktionsinduzierten Risiken für ihre Umwelt einzudämmen. So zeigt eine unternehmensinterne Studie der Ingenieurabteilung der Farbenfabriken Bayer Leverkusen, dass es im Erhebungsjahr 1956 im Werk insgesamt 56 Apparaturen zu Abluftreinigung gab. Keine dieser Anlagen war vor 1920 installiert worden, 37 Anlagen waren erst nach 1950 in Betrieb genommen worden, indes waren 19 weitere in Planung.6 Noch Mitte der 1960er Jahre musste ein Chemiker des Bayerwerks bezüglich der SO2-Emissionen des Werkes allerdings eingestehen: „Unsere Untersuchung hat ergeben, dass die amtliche Toleranzgrenze an verschiedenen Meßpunkten […] nahezu ausgeschöpft ist.“7 Diese Luftverschmutzungen wurden durch den institutionellen Kontext und die kulturelle Rahmung des Unternehmens zu dieser Zeit zwar nicht gänzlich toleriert, aber es gab dagegen auch keinen großen Widerstand. Ein solcher wäre von der chemischen Industrie offensichtlich auch nicht verstanden worden, wie aus einem Kongress-Bericht zum Thema deutlich wird: „Eine Forderung auf Reinigung der Abgase wurde nicht gestellt. Die emittierende Industrie wurde als gegeben hingenommen […]“.8 Kritischere Stimmen, wie die im Folgenden zitierte auf einer Betriebskonferenz bei Henkel, blieben keine Ausnahmen, jedoch finden sich im hier betrachteten Zeitraum auch nur wenige valide Ergebnisse des Unternehmenshan-
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Co, München 2003. Einen Grund dafür, dass der Umweltschutz eine Randnotiz blieb, sehe ich darin, da die Unternehmen sich nach dem Zweiten Weltkrieg auf effiziente Führungskonzepte als Hauptziel der Unternehmenspolitik konzentrierten. Vgl. Clemens Wischermann, 2003b, S. 28f. Ebenso Thilo Jungkind, 2009, S. 35ff. Vgl. allgemein Werner Wäßle: Das Verhältnis von Industrie und Umwelt seit 1945, in: Hans Pohl (Hg.): Industrie und Umwelt. Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Beiheft 69 (1993), S. 45–69, hier S. 49. Ebenso Frank Uekötter: Rauchplage, 2003, S. 403ff. Ders. Umweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, München 2007, S. 63–73. Im Falle der Gewässerverschmutzung vgl. E. Gajewski / K. Nöthlich: Die Verunreinigung des Rheins und seiner wichtigsten Nebenflüsse, in Wasser und Boden 17/10 (1968), S. 271–274. Ich werde auf die Verhältnisse innerhalb der Werke an gegebener Stelle eingehen. Hierzu ein Artikel in der Werkzeitschrift der Farbenfabriken Bayer Leverkusen, der auf diese Umstände als „ein Erbe, das wir übernommen haben“ verweist. Vgl. „‚AWALUKO‘…?“, in Unser Werk, 42. Jg. H.2, März/April 1956, S. 36. Vgl. Schreiben der Ingenieurabteilung A an die Mitglieder der Abwasser und Abluftkommission des Werkes Leverkusen der Farbenfabriken Bayer AG vom 02. Februar 1956 betreffend Abluft- bzw. Abluftreinigungsanlagen und Tagung des Engineers Joint Council in Ohio, USA, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1954–1956. Information an das Bakteriologische Labor der Farbenfabriken Bayer Leverkusen über den Hygieniker- und Mikrobiologenkongress in Bad Kissingen vom 5. Mai 1955, in BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1954–1956. Ebd.
3.1 Legitime Kontinuität des Risikohandelns
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delns, die eine strikte Umsetzung solcher Ausführungen bestätigen bzw. die darauf hinweisen, dass der als oberstes Gebot und damit legitime Überlebenszweck der Produktion hinten angestellt wurde. Das Protokoll der besagten Betriebskonferenz vermerkt: „Es wurde über die Frage der Immissionen, d.h. der Belästigung der Umgebung durch Staub, Geruch und Geräusche berichtet. Diese Immissionen stellen ein ebenso ernstes Problem wie das Abwasser dar, da sie nicht nur unser Verhältnis zur Aufsichtsbehörde, sondern auch unser Verhältnis zur Nachbarschaft stark belasten. Nach den gesetzlichen Grundlagen […] können vorhandene Anlagen durch die Gewerbeaufsichtsämter überprüft werden. Je nach dem Ergebnis können zusätzliche Auflagen zum Nachbarschaftsschutz gemacht werden. Den Nachbarn können nicht mehr wie früher Immissionen im ortsüblichen Umfang zugemutet werden. Die Nachbarn können bei sehr erheblichen Belästigungen den Antrag auf Verbote stellen. Sie können in jedem Fall Schadenersatzansprüche stellen. […] Unsere Werksleitung hat die Absicht, alle nach dem Stand der Technik möglichen Anstrengungen zu machen, um Immissionen zu verhindern bzw. ganz zu vermeiden.“9
Wie hier angedeutet, besserten sich sowohl die Immissions- wie auch die Abwasserverhältnisse nur marginal, mancherorts verschlechterten sie sich sogar. Es handelte sich einzig um gute Absichten, die jedoch unerfüllt bleiben sollten. Daraus schließe ich auch auf eine für sich beanspruchte und auch vorhandene Machtstellung der Unternehmen, die jeglicher von außen angeleiteter institutionellen Veränderung trotzte und damit auch die Revision des inner-unternehmerischen institutionellen Arrangements verhinderte.10 Der Zeitraum von den 1950er Jahren bis zum Ende der 1960er Jahre war geprägt von Kontinuitäten im Umgang mit produktionsinduzierten Risiken. Ich werde im Folgenden den Versuch unternehmen, die Gründe dieser Kontinuitäten sowie ihre Facetten zu analysieren. Dabei sind mir die wenigen Institutionen des Immissions- und Gewässerschutzes wichtig. Diese Institutionen wurden von den Unternehmen durchaus wahrgenommen, jedoch wurden sie offensichtlich nicht konsequent umgesetzt bzw. konnten die Unternehmen aufgrund ihrer starken Lobby nicht durch formal-institutionellen Druck zu der konsequenten Umsetzung gezwungen werden. Anders gedeutet, sah es die chemische Industrie als selbstverständlich an, bei etwaigen Gesetzgebungsverfahren Einfluss zu nehmen. Noch 1967 wurde dies bei Henkel zum Ausdruck gebracht: „Der technische Ausschuss im Verband der Chemischen Industrie beschäftigt sich z.Z. mit der Frage der Immissionen, um bei einer gesetzlichen Regelung ggf. eigene Vorschläge vorbringen zu können. Auch in unse-
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Niederschrift über die Betriebskonferenz Nr. 10 vom 10 Oktober 1960, in: Konzernarchiv Henkel J 105, Betriebskonferenzen 1943–1976. Dieser Umstand rekurriert auf eine Änderung des § 16 GewO, die auch auf einer technischen Direktionskonferenz bei Bayer wahrgenommen wurde. „Bei Belästigungen der Nachbarn wird der Begriff ‚ortsüblich‘ nicht mehr anwendbar sein.“ Auszug aus der Niederschrift über die TDC in Leverkusen am 22. Februar 1960, in BAL 329/377 Direktionsabteilung, AWALU. Eine schöne Darstellung hierzu bei Franz-Josef Brüggemeier / Michael Toyka-Seid, S. 11f. Vgl. auch Hartmut Berghoff / Matthias Mutz, S. 13f.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
rem Werk soll an der Frage in erhöhtem Maße weitergearbeitet werden.“11 Folglich werde ich die weiterhin bestehende Macht- und Deutungshoheit der betrachteten Unternehmen im Bezug auf die Definitionen von „risikoreich“ bzw. „gefährdend“ aufzeigen. Diese Macht- und Deutungshoheit erwuchs aus der Verschlossenheit und dem damit verbundenen Verbleib des Wissens über die Risiken im eigenen Hause – Emissionswerte galten als Betriebsgeheimnisse.12 Erst in den späten 1960er Jahre gelangten die Unternehmen bezüglich der Preisgabe von Emissionswerten unter institutionellen Druck, was zu Debatten über ihre Daseinsberechtigung und ihr Risikohandeln führte. Diese Debatten nahmen in den 1970er Jahren an Heftigkeit zu, was im Folgekapitel 3.2 dargestellt wird. Ein nicht partizipationsbereites organisationales Feld unterstützte die Beibehaltung alter Handlungsmuster der Unternehmen ebenfalls bis zum Ende der 1960er Jahre und ließ Bayer und Henkel in pfadabhängigen Strategien verharren. Ich werde diese Sinnzuschreibungen dort darstellen, wo die betrachteten Unternehmen mit ihnen konfrontiert wurden, d.h. vor allem bei der Darstellung des institutionellen Kontextes und der kulturellen Rahmung bis zum Ende der 1960er Jahre. Ich gehe dort explizit auf die Gefahrenzuschreibung aus der Perspektive der organisationalen Akteure in Gestalt der Nachbarschaft der Unternehmen und der zuständigen Behörden ein. Diese Gefahrenzuschreibungen an die teilweise starken Immissionen waren zu dieser Zeit schwächer als der Wunsch nach einer wieder erstarkten Industrienation, die, ausgehend von paternalistischen Unternehmen der chemischen Industrie, emporwachsen sollte. Damit einher geht in diesem Kapitel die These, dass der hier betrachtete Zeitraum allumfassend geprägt war von wirtschaftlichem Erfolg, zu dem die chemische Industrie einen großen Beitrag leistete. Wie kaum ein anderer Industriezweig konnte die chemische Industrie nach dem Zweiten Weltkrieg wie „Phoenix aus der Asche“13 zum neuerlichen wirtschaftlichen Erfolg beitragen. Abermals nach ihrem Erfolg im Deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik stieg sie zu einem ökonomischen Heilsbringer empor, was aber problematische Umweltverhältnisse zur Folge hatte.14 Im Jahre 1967 kam der VCI aus einer ökonomischen Perspektive betrachtet zurecht zu der glorifizierenden Einschätzung: „Die chemische Industrie hat in Nordrhein-Westfalen hinsichtlich ihres Umsatzes die Spitzenstellung unter allen Industriezweigen erreicht, wogegen sie im Bundesgebiet an dritter Stelle nach der Nahrungs- und Genussmittelindustrie und dem Maschinenbau folgt.“15 Die 11 12 13 14 15
Niederschrift über die Betriebskonferenz Nr. 3 vom 7. März 1967, in: Konzernarchiv Henkel J 105, Betriebskonferenzen 1943–1976. Hierauf werde ich dann in Kapitel 3.2 im Zusammenhang mit dem so genannten Emissionskataster eingehen. Vgl. Werner Abelshauser, 2004, S. 383. Vgl. Werner Wäßle, S. 64. Auszug aus: Wirtschaftliche Mitteilungen der Niederrheinischen Industrie- und Handelskammer Duisburg-Wesel zu Duisburg Nr. 4/67, Zusendung an die Firma Henkel vom 11. Mai 1967, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Akte Verband der chemischen Industrie Ersatzteillager Chemie- und Braunkohleindustrie Beseitigung von Abfallstoffen Reinhaltung der Luft. Eine allgemeine Darstellung findet sich bei Werner Abelshauser: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, Bonn 2005, S. 383ff. Für die Produktions- und Umsatzentwicklung bei
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3.1 Legitime Kontinuität des Risikohandelns
gestiegenen Umsatz- und Produktionszahlen können über den hier zu betrachteten Zeitraum hinaus am Beispiel von Henkel exemplifiziert werden; die nachfolgende Überblickdarstellung zeigt die Zuwächse der Gesamtproduktionsmengen aller Produkte des Unternehmens in der Gegenüberstellung zu dessen Umsatzsteigerungen. Dabei wuchs die Produktionsmenge um den Faktor 9,81, und die Umsätze steigerAbbildung 3 rasant, um den Faktor 8,89. ten sich ähnlich Jahr
Bruttoumsatz in Mio. D-Mark (1947-1948: Millionen Reichsmark)
Produktionsmengen in Tonnen
1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973
1.028.389 1.117.283 1.228.587 1.240.080 1.366.868 1.399.532 1.481.991 1.481.991 JJMMTT_Berichtstitel_Kürzel
Abb. 3: Gegenüberstellung der Produktionsmengen und der Umsatzsteigerungen bei Henkel 1947–197316
Solche starken ökonomischen Abhängigkeiten der Werksumwelten lassen mich vermuten, dass das altgediente und wiederentdeckte Modell einer umfassenden „Sozialpartnerschaft“ stärker als die Gefahrenzuschreibungen gegenüber den betrachteten Unternehmen auf unternehmerisches Risikohandeln einwirkte.17 Die
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1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973
Henkel vgl. Wilfried Feldenkirchen / Susanne Hilger / Wolfgang Zengerling, S. 110ff. Für Bayer exemplarisch Erik Verg / Gottfried Plumpe / Heinz Schultheis, S. 308ff. Ebenso eine gute wirtschaftsgeschichtliche Darstellung für die Zeit der frühen Bundesrepublik bei Harm G. Schröter: Von der Teilung zur Wiedervereinigung (1945–2004), in: Michael North (Hg.): Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Ein Jahrtausend im Überblick, München 2005, S. 356–427. Produktionsmengen und Bruttoumsätze der Henkel & Cie 1947 bis 1973, in Anlehnung an die Darstellung bei Wilfried Feldenkirchen / Susanne Hilger / Wolfgang Zengerling, S. 146. Zu der Wiederentdeckung einer „Vergemeinschaftung“ nach dem Zweiten Weltkrieg, die mit der Ordnungspolitik der „Sozialen Marktwirtschaft“ im Einklang war vgl. Gertraude Krell: Vergemeinschaftende Personalpolitik. Normative Personallehren, Werksgemeinschaft, NSBetriebsgemeinschaft, betriebliche Partnerschaft, Japan, Unternehmenskultur, München 1996. Vertiefend in Bezug auf die Einbettung von Unternehmen in ihren historischen Kontext mit Betonung familiärer und partnerschaftlicher Komponenten vgl. Thilo Jungkind, 2009, S. 30ff. Ähnlich Christian Kleinschmidt, 2002, S. 180ff. Vor diesem Hintergrund fällt die Vermeidung der Verletzlichkeit der Werksgemeinschaft auf, die durch Unfallverhütungsmaßnahmen erzie-
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
praktische Umsetzung einer solchen Sozialpartnerschaft finden wir beispielsweise im Konzept der ‚Werksfamilie‘, demzufolge die Unternehmer auch gegenüber ihrem institutionellen Kontext und ihrer kulturellen Rahmung als Patriarchen auftraten. Diese zeitgenössische Praxis unternehmerischen Handelns und damit transportierter Ordnungsvorstellungen zwischen Werk und Umwelt stellte eine Verbindung von Arbeits- und Lebenswelt her und umschloss sicherlich in den allermeisten Fällen auch die Werksumgebung von Bayer und Henkel.18 Die Macht- und Deutungshoheit der Unternehmen über die produktionsinduzierten Risiken sowie ihr Nichtwille, diesbezüglich Verantwortung abzugeben, folgte aus ihrer Patronage über die Werksumwelt, und dies reichte aus zeitgenössischer Sicht aus, um als gesellschaftlicher Akteur aufzutreten.19 Damit eng verbunden konnten die Unternehmen auch mit ihrem tradierten Risikoverhalten die Rolle eines gesellschaftlich legitimierten Akteurs annehmen. Die Begründung hierfür liegt in der ihnen zugeschriebenen Pflicht, wirtschaftlich erfolgreich und technologisch fortschrittsorientiert bzw. innovativ zu sein. Dies zeigt sich etwa in einem Referat des Chefs der Öffentlichkeitsarbeit der Firma Henkel vor einer Meisterkonferenz noch im Jahre 1966: „Die Firma Henkel & Cie. hat sich aus kleinen Anfängen […] zu einem der großen Chemiewerke der Bundesrepublik entwickelt. Diese Veränderungen haben nun auch Folgen für das Verhältnis unseres Unternehmens zur Öffentlichkeit. […] Es geht um die Frage, wie man sich am besten und einprägsamsten der Öffentlichkeit präsentiert. […] Welch große wirtschaftliche Bedeutung der Ruf eines Unternehmens in der Öffentlichkeit hat […] zeigt sich darin, daß es oft in einer kritischen Situation am Vertrauen in die Fortschrittlichkeit des Unternehmens fehlte. […] Im Jahre 1960 sieht die Öffentlichkeit in der Firma Henkel eine Waschmittelfirma, sie wird als sympathisch, vertrauenswürdig und wirtschaftlich solide geschildert und ihr werden Eigenschaften der Fortschrittlichkeit und Beweglichkeit zugeschrieben […]. Im Jahre 1965 wird festgestellt, daß die Firma Henkel in die Nähe der Unternehmen der chemischen Industrie gerückt ist, denen man diese Eigenschaften noch mehr zuschreibt. […]“20
18
19 20
herisch hauptsächlich mittels der Werkzeitschriften in die Unternehmen getragen wurde. Unfallverhütung in den 1950er und 1960er Jahre zielte hauptsächlich auf die Vermeidung der Zerstörung der klassischen Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital, also Mitarbeiter und chemische Anlagen, eine Außenwirkung galt als zweitrangig. Dies wird exemplarisch an den Kolumnen „Auf ein Wort“ oder „Wenn Sie mich fragen“ des Chefs der Öffentlichkeitsarbeit, Dr. Friedrich Bohmert, der Firma Henkel deutlich. Beispielhaft: „Auf ein Wort“, in: „Blätter vom Hause“, Monatsschrift für die Werksgemeinschaft Henkel, H. 9. 1959, S. 2. Hier wird ersichtlich, wie sehr die Henkel-Gemeinschaft im Mittelpunkt der Unfallverhütungsmaßnahem steht, da nur eine starke Werksgemeinschaft den Produktionsanforderungen der Zeit standhalten kann. Im Falle von Bayer bestätigt die eigene Unternehmensgeschichte dies hinsichtlich regionaler und mentaler Verbundenheit: „Kaum ein anderes Werk der Großchemie bildet mit ‚seiner‘ Stadt so sehr eine Einheit wie Bayer mit Leverkusen.“ Erik Verg / Gottfried Plumpe / Heinz Schultheis, S. 403. Exemplarisch für Bayer Erik Verg / Gottfried Plumpe / Heinz Schultheis, S. 372f. Der Aspekt der Sozialpartnerschaft ist bei Henkel als Familienunternehmen noch klarer zu erkennen vgl. Wilfried Feldenkirchen / Susanne Hilger / Wolfgang Zengerling, S. 272ff, insbesondere 298f. Referat von Friedrich Bohmert über die Public-Relations-Arbeit auf der Meisterkonferenz Nr. 4 am 20. April 1966 / Niederschrift über die Meisterkonferenz Nr. 4 vom 20. April 1966, in: Konzernarchiv Henkel, J 106 Meisterkonferenzen 1949–1967.
3.1 Legitime Kontinuität des Risikohandelns
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Die Unternehmen begannen in den 1950er Jahren allmählich mit der Professionalisierung ihrer Organisation, um den ungünstigen Verhältnissen in den Werken und um die Werke herum entgegenzuwirken. Jedoch zeigten diese Maßnahmen lange Zeit nur geringe Verbesserungseffekte oder waren ganz auf Eigeninteressen ausgerichtet. Ich werde diese organisatorischen Maßnahmen im vorliegenden Kapitel umreißen und dabei die allmählichen Verbesserungen des technischen Standards sowie die Folgen von Forschung und Entwicklung nur am Rande behandeln. Dies geschieht zum einen, um den Rahmen der Arbeit zu begrenzen. Zum anderen sind mir gerade die Aushandlungsprozesse und daraus erwachsenen Sinnmuster innerhalb der Unternehmen wichtig. Technischer Fortschritt ist dann nur ein Folgeeffekt dieser veränderten Spielregeln im Unternehmen; damit folge ich den Annahmen einer „Institutionellen Revolution“21 auf dem Gebiet unternehmerischer Handlungslogiken. In Bezug auf den Umgang mit produktionsinduzierten Risiken für die Umwelt gehe ich vom Vorrang der legitimen Risikoproduktion aus. Dies gilt aus der Perspektive der Unternehmen als auch aus der Sicht ihres institutionellen Kontextes und ihres kulturellen Umfelds. Deshalb wurde eine dezidierte Auseinandersetzung mit nachhaltiger Umweltpolitik oder des Umweltschutzes bis zum Ende der 1960er Jahre negiert.22 Wie ich im Laufe des nachfolgenden Kapitels herausarbeiten möchte, wurden die Diskussionen zwischen Unternehmen und ihrem Umfeld meist im Keim erstickt. Daran schließt sich zwangsläufig – der konzeptionellen These dieser Arbeit folgend – die Beobachtung der Diskussionen im Innern des Unternehmens an: Wie verhandelten die Unternehmen im Kontext des bereits Dargestellten Stör- und Unfälle, und wie wurden sie im Innern behandelt? Welche Position nahmen die Unternehmen nach innen und außen über die Präsenz des möglichen Störfalls ein? Diesbezüglich müssen auch aktivierte in- und externe Unternehmenskommunikationsstrategien infolge von Stör- und Unfällen auf ihre Inhalte befragt werden. Dabei muss stets der eruierte, und vom institutionellen Kontext und der kulturellen Sinnzuschreibung beeinflusste pfadabhängige „proper way to behave“ im Auge behalten werden, der ein legitimes Primat der Produktion vorherrschen ließ und der das Selbstverständnis der betrachteten Unternehmen prägte. Diese Vorgänge lassen sich zumeist auf sehr hohen Hierarchiestufen bei Bayer und Henkel nachvollziehen. Federführend waren dabei meist die Verwalter chemischtechnischen Wissens, also hauptsächlich Chemiker und Ingenieure sowie von ihnen gebildete Fachkommissionen und Konferenzen, wobei deren Ansichten und Argumentationen bis in die Vorstandsetagen hineingespült und dort diskutiert wurden. So weit es die Quellenlage zulässt, werde ich zusätzlich die interne Unternehmenskommunikation heranziehen, um diese Argumentationen, das damit gekoppelte Selbstverständnis und die inneren Handlungslogiken der betrachteten Unternehmen und damit deren kontextgebundene Sinnmuster aufzuspüren.
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Zu dieser Prämisse zentral: Clemens Wischermann / Anne Nieberding, 2004. Vgl. Samuel Rapaport: Chemie und Umwelt. Weltenergieversorgung, Strahlenrisiko, Industriestandort, Berlin 1995, S. 23.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
3.1.1 Wenige Institutionen bestätigen das alte Selbstverständnis der Unternehmen In einer kurzen rechtsgeschichtlichen Betrachtung werde ich im Folgenden die wahrnehmungsrelevanten gesetzlichen Regelungen darstellen, die aus Sicht der Unternehmen für ihr Verhalten hinsichtlich produktionsinduzierter Risiken für ihre natürliche und lebensweltliche Umwelt von Belang waren. Dabei wird auf die größten Probleme des hier betrachteten Zeitraumes von den 1950er bis zum Ende der 1960er Jahre eingegangen. Vor allem waren dies die Emissionsverunreinigung der Luft und damit die Belastung der Werksumgebung durch Immissionen. Problematisch war auch die Einleitung von toxischen Abwässern in die Flüsse, wodurch in erster Linie deren Sauerstoffgehalt sank und das Leben dort gefährdet wurde. Mein Fokus liegt auf den bestehenden wie auch den neu erlassenen formalen Institutionen, die ein pfadabhängiges Verhalten der betrachteten Unternehmen erklären. Dies muss auch vor dem Hintergrund der Geschichte des deutschen Immissionsschutzrechtes wie des Wasserrechtes geschehen. Der Konzeption dieser Arbeit folgend, vermischen sich dabei naturgemäß formale Institutionen mit normativen und kulturellen Dimensionen von Institutionen. Den Aspekte gesellschaftlicher Sinnmuster und wünschenswerten unternehmerischen Handlungen werde ich dann aber im Kontext der kulturellen Rahmung in Gestalt des organisationalen Feldes der Unternehmen für den gewählten Betrachtungszeitraum vertiefen. Dieser Abschnitt stellt einerseits die formalen Institutionen des Immissionsschutzes und des Gewässerschutzes dar, andererseits die hierdurch angeleiteten strategischen und zumeist begünstigten pfadabhängigen Handlungsmuster der Unternehmen sowie die (im konkreten Fall wenig notwendigen) Aushandlungsprozesse zwischen den Unternehmen und dem Gesetzgeber. Die wohl wichtigste übergeordnete formale Institution zur ImmissionsschutzGesetzgebung, die in den betrachteten Unternehmen rezipiert wurde, bildete die Gewerbeordnung (GewO) des Norddeutschen Bundes und des späteren Kaiserreichs in den Fassungen aus den Jahren 1869 bzw. 1900: „Der Betrieb eines Gewerbes ist Jedermann gestattet, soweit nicht durch dieses Gesetz Ausnahmen oder Beschränkungen vorgeschrieben oder zugelassen sind. […] Zur Errichtung von Anlagen, welche durch die örtliche Lage oder die Beschaffenheit der Betriebsstätte für die Besitzer oder Bewohner der benachbarten Grundstücke oder für das Publikum überhaupt erhebliche Nachtheile, Gefahren oder Belästigungen herbeiführen können, ist die Genehmigung der nach den Landesgesetzen zuständigen Behörde erforderlich. […] Soweit die bestehenden Rechte zur Abwehr benachtheiligender Einwirkungen, welche von einem Grundstücke aus auf ein benachbartes Grundstück geübt werden, dem Eigenthümer oder Besitzer des letzteren eine Privatklage gewähren, kann diese Klage einer mit obrigkeitlicher Genehmigung errichteten gewerblichen Anlage gegenüber niemals auf Einstellung des Gewerbebetriebes, sondern nur auf Herstellung von Einrichtungen, welche die benachtheiligende Einwirkung ausschließen, oder, wo solche Einrichtungen unthunlich oder mit einem gehörigen Betriebe des Gewerbes unvereinbar sind, auf Schadloshaltung gerichtet werden“ 23
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Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869 i.d.F. vom 26. Juli 1900 (RGBL. S. 871) unter Berück-
3.1 Legitime Kontinuität des Risikohandelns
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Die Gewerbeordnung war einerseits der formal-institutionelle Ausgangspunkt einer Handlungsbeschränkung hinsichtlich des Verhaltens der chemischen Industrie bezogen auf den Umgang mit produktionsinduzierten Risiken. Andererseits regelte sie die Verhältnisse zwischen chemischer Industrie, Behörden und Nachbarn ebenso wie die gegenseitigen Ansprüche.24 Ein Beamter des Gewerbeaufsichtsamts Solingen schilderte diese Verhältnisse und gegenseitigen Ansprüche aus seiner Sicht im Jahre 1954 eindrücklich, wobei er großes Verständnis für die Bedürfnisse der chemischen Industrie aufbrachte: „Die Verunreinigung der Luft in Industriegebieten durch Staub, Rauch, Dampf, Gase und sonstige Ausscheidungen ist bekannt. Sie zeigt sich schon äußerlich durch die Dunstglocke an, die über den Industriegebieten zu hängen pflegt. Unter dieser Verunreinigung der Luft leiden gesundheitlich die Menschen in hohem Maße […]. Sie sind z.Z. gegen diese Plage wehrlos. […] In Verbindung mit den Schäden an den Menschen stehen die Schäden an ihrer Umwelt, der Landschaft, die zur Erhaltung und Förderung der Gesundheit dieser Menschen dient. […] Seit mehreren Jahrzehnten bemüht sich die Industrie, den Staub und die Verunreinigungen, die sie in die Luft entsendet, herabzumindern. Sie hat dabei beachtliche Erfolge erzielt, doch ist der Gesamteffekt noch immer nicht befriedigend. […] Nicht jeder der Rauch und Staub erzeugenden Betriebe macht diese Bestrebungen mit (ja, es gibt noch Egoisten in dieser Welt!). Jene Betriebe aber, die diese Bestrebungen haben, können vielfach ihre Absichten nicht finanzieren […]. In Deutschland gibt es kein besonderes Luftgesetz, das die Verunreinigung der Atmosphäre verbietet oder unter Strafe stellt. Die Reichsgewerbeordnung, die von den Gewerbeaufsichtsämtern gehandhabt wird, enthält in ihren §§ 16 und 24 Bestimmungen über die Genehmigung von gewerblichen Anlagen. […] Wenn einerseits die Auflagen dazu dienen, die Anwohner vor Belästigungen und Schädigungen […] zu schützen, so sollen die Gesetzesbestimmungen […] gewährleisten, daß die Gewerbetreibenden ihre Anlagen dauernd in Betrieb halten können. […] Es wäre nicht gut, wenn ein Gesetz die technischen Auflagen, die von staatlichen Genehmigungsstellen gegeben werden müssen, im einzelnen fixiert und damit dem Stand der Technik Rechnung trägt und dem technischen Fortschritte im Wege stünde. […] Der Selbstverwaltungskörper kann elastischer dem modernen Fortschritt folgen, andererseits auch von Fall zu Fall festsetzen, ob, wann und wie eine Einzelanlage zu verbessern sei.“25
24
25
sichtigung seitheriger Änderungen, in: Hans Kiskalt / Karl Wolff, Gewerbeordung. Kommentar, 3. Auflage, 1961, S. 1. Der „Nachbarschaftsschutz“ sowie etwaige Ansprüche gegen die emittierende Industrie von Seiten der Nachbarn war in § 906 BGB geregelt, dieser schien in der Wahrnehmung der Unternehmen jedoch keine zentrale Stellung einzunehmen: „Der Eigentümer eines Grundstücks kann die Zuführung von Gasen, Dämpfen, Gerüchen, Rauch, Ruß, Wärme, Geräusch, Erschütterungen und ähnliche von einem anderen Grundstück ausgehende Einwirkungen insoweit nicht verbieten, als die Einwirkung die Benutzung seines Grundstücks nicht oder nur unwesentlich beeinträchtigt. Das gleiche gilt insoweit, als eine wesentliche Beeinträchtigung durch eine ortsübliche Benutzung des anderen Grundstücks herbeigeführt wird und nicht durch Maßnahmen verhindert werden kann, die Benutzern dieser Art wirtschaftlich zumutbar sind.“ § 906 BGB, (1), (2) in der Fassung von 1960 und wie er über den Forschungszeitraum Bestand hatte. Vgl. URL: http://lexetius.com/BGB/906#2 (24.07.2012). Insbesondere auf die wirtschaftliche Zumutbarkeit wird sich von Seiten der chemischen Industrie im hier betrachteten Zeitraum immer wieder berufen. Die Luft im Industriegebiet muss sauberer werden, aus: Chemische Industrie, Juli 1954, Ab-
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
Diese dichte Beschreibung aus der Perspektive eines Durchsetzungsorgans der formalen Immissionsschutzgesetzgebung zeigt, dass die Gewerbeordnung die Grundlage eines Anreiz- und Sanktionssystems bildete. Sie war über mehrere Dekaden zur rechtlichen Basis pfadabhängiger und legitimer Verhaltensmuster avanciert. Die vorangegangenen technischen Entwicklungen und die damit einhergehende Verschlechterung der Emissionsverhältnisse im Zuge starker Produktionsausdehnungen machte im Jahre 1959 eine Modifikation des § 16 GewO notwendig. Der neue § 16 GewO regelte in Verbindung mit § 906 BGB das Einschreiten der Behörden zugunsten des Nachbarschaftsschutzes und brachte bessere Chancen für Schadenersatzansprüche seitens der Nachbarn gegenüber den Werken. Allerdings wurden die verschärften Regelungen allem Anschein nach nur unzulänglich durchgesetzt, da nur wenige Anwohner hiervon Gebrauch machten.26 In eindeutig von den Werken verursachten Immissionsschadensfällen entstand eine Praxis der Begutachtung – die durch die Unternehmen selbst durchgeführt wurde – und der nachträglichen Erstattung von Schäden, wobei es des Nachweises eindeutiger kausaler Zusammenhänge zum Werk als Verursacher bedurfte. Die Gewerbeaufsichtsämter scheinen bei der Umsetzung nur eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben. Die Regelungen und die dazugehörigen Ansichten des Unternehmens können im Falle der Farbenfabriken Bayer Leverkusen rekonstruiert werden: „Die bisherige Art der Regulierung von Schadensfällen durch die Rechtsabteilung war so, daß nur dann in irgendeiner Form ein Schadenersatz geleistet wurde, wenn einwandfrei nachgewiesen werden konnte, daß der entstandene Schaden in dem Verschulden eines Betriebes […] seine Urasche hatte. Erst wenn durch uns als Gutachter einwandfrei ein kausaler Zusammenhang zwischen schuldhafter Handlung und dem entstandenen Schaden nachgewiesen werden konnte, wurde eine Schadensregulierung vorgenommen. […] In Fällen, wo z.B. durch den Brand in einem Betrieb Schäden außerhalb des Werksgeländes entstanden waren und unserer Meinung nach ein ganz klarer Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung vorlag, wurden wir von der Rechtsabteilung dahingehend aufgeklärt, daß an eine Anerkennung und Regulierung des Schadens erst dann und nur dann gedacht werden könne, wenn der Brand durch eine schuldhafte Handlung entstanden wäre. Alle anderen Fälle wurden für den Antragsteller negativ bewertet. […] Bei der bisherigen Rechtslage, wie sie vor Änderung der Gewerbeordnung und des § 906 BGB bestand, mag diese Einstellung noch hingehen, trotzdem auch hier ernste Zweifel anzumelden sind, da bei der juristischen Bearbeitung der Fälle der gegebene Begriff der Ortsüblichkeit zu Gunsten des Werkes ausgelegt worden ist.“27
Die Spielregeln betreffend der Immissionsschäden und deren Regulierung, die das Werk sich und seiner Umgebung auferlegt hatte, entstammten einer traditionellen Sichtweise, die eine durch die Gewerbeordnung gestützte Normalität der Schäden beinhaltete. Immissionsschäden galten als ortsüblich. Das Werk hatte damit die
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schrift des Zeitungsdienstes (Handelspolitisches Büro) der Farbenfabriken Bayer Leverkusen, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1954–1956. Vgl. Hans Kiskalt / Karl Wolff, S. 87. Schreiben von Dr. Wolff / Abluftlabors an Chefingenieur Prof. Rieß betreffend Schadenersatz bei Abluftschäden vom 17. November 1960, S. 1, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1959–1960.
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Handhabe, selbst als Verwalter des chemisch-technischen Wissens und in gutachterlicher Manier aufzutreten und so Immissionen gegebenenfalls als Schäden oder Risiken der eigenen Produktionen zu deklarieren oder eben nicht. Sicherlich hatten die frühen „Umweltschützer“ innerhalb der Werke das Problem erkannt, aber auch sie konnten die Produktionssteigerungen und ihre Folgen nicht kompensieren. Zudem scheiterten sie an eingefahrenen Vorstellungen der Betriebe und der Mitarbeiter, die davon ausgingen, dass eine Sicherheitskultur auch für die Gebiete außerhalb des Werkes nicht notwendig sei. Die bestehenden formalen Regelungen ließen immer noch genügend Ermessungsspielraum für alte Sinndeutungen innerhalb der Betriebe. Allerhöchstens als gute Absicht muss daher die im Folgenden zitierte Äußerung des Leiters des Abluftlabors – und damit einem Umweltschützer der ersten Garde – im Jahr 1960 gesehen werden: „Es sei daran erinnert, daß diese Änderungen der bestehenden Gesetze […] der allgemein geänderten Einstellung zu diesen Dingen geschuldet ist. […] Unter diesen Gesichtspunkten ist es meines Erachtens nicht mehr zu vertreten, allgemein zu behaupten, daß es ja bekannt sei, daß die Luft in der Umgebung des Werkes durch Abgase bedingt, sauer, daß die Staubauswürfe – soweit solche für Schäden in Frage kommen – hinzunehmen, kurz, daß die resultierenden Schäden als unvermeidlich anzusehen sind. Die bestehenden Abluftverhältnisse sind keineswegs alle unvermeidbar, sie könnten mit entsprechenden Maßnahmen in den Betrieben eingeschränkt werden […].28
Die problematischen Verhältnisse sind also durchaus erkannt worden, was sich auch in den folgenden Kapiteln immer wieder zeigen wird. Jedoch ging der Leiter des Abluftlabors davon aus, daß im Optimalfall „frühestens in ca. 3 Jahren mit einer merklichen Verbesserung“ zu rechnen sei, womit er nicht Recht behalten sollte.29 Im Übrigen war auch dieser Pionier im Kampf gegen die widrigen Immissionsverhältnisse nicht zur völligen Revision des alten Selbstverständnisses, der Handlungsmuster und Routinen des Werkes bereit. Er wusste aus seiner eigenen innerunternehmerischen Sozialisation gleichfalls um die schwierigen Aufgaben der kommenden Jahre für Bayer: „Gegen eine großzügigere Behandlung der Schadensregulierungen wird der Einspruch erhoben, daß dann sofort die Zahl der Antragsteller in die Höhe schnellen und somit die aufzubringenden Entschädigungssummen erheblich steigen würden.“30 Neben der Furcht vor zu Recht geforderten Schadensersatzzahlungen und etwaigen Trittbrettfahrern spielten in den Überlegungen ebenfalls die real existierenden Verhältnisse in Leverkusen und dem Kölner Norden eine Rolle. Hier widerspricht sich der Leiter des Abluftlabors in gewisser Hinsicht selbst und bestätigt die Hypothese, dass gesetzliche Regelungen nur unzureichend für Verbesserungen sorgten und vor allem, dass Störfälle und übliche Immissionen im Kalkül des Unternehmens inbegriffen waren: „Selbstverständlich wird eine 100 %-ige Vermeidung von Immissionen – selbst wenn man Betriebsstörungen irgendwelcher Art unberücksichtigt lässt – nicht zu erreichen sein, so daß immer eine gewisse Summe für Schadenersatz zu zahlen sein wird. […] Ich möchte daher 28 29 30
Ebd. Vgl. ebd. Ebd. S. 2.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
vorschlagen, dass man […] den neuen gesetzlichen Bedingungen in diesen Fragen mehr Rechnung trägt als bisher […].“31 Chefingenieur Rieß der Farbenfabriken Bayer Leverkusen als Adressat dieser Überlegungen und ebenfalls Pionier auf diesem Gebiet mahnte dann gegenüber der Rechtsabteilung des Unternehmens: „Das bloße Ablehnen wird nicht mehr möglich sein. Andererseits bin ich nach wie vor für eine sorgfältige Behandlung von Seiten des sachverständigen Abluft-Labors und eine sehr höfliche und wohlwollende von Seiten der Rechtsabteilung“, denn „müssen wir oft zugeben, daß der Schaden nur von uns kommen kann.“32 Die Gewerbeordnung darf nicht zuletzt als Versuch gesehen werden, die Gewerbefreiheit auf der einen Seite mit der Konzessionierung und der Kontrolle emittierender Anlagen durch die zuständigen Behörden auf der anderen Seite zu verbinden.33 Für den hier zu betrachtenden Zeitraum waren diese zuständigen Behörden überwiegend die Regierungspräsidien und damit die Gewerbeaufsichtsämter.34 31 32 33
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Ebd. S. 2–3. Prof. Rieß an Direktor Rechtsanwalt Silcher / Rechts- und Steuerabteilung betreffend Schadenersatz bei Abluftschäden vom 22. November 1960, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1959–1960. Die Situation stellte sich seit dem Kaiserreich schwierig dar: „Zugleich bedeutete die Erteilung einer Konzession jedoch einen weitreichenden Bestandsschutz, so dass diese Regelungen während des 19. Jahrhunderts belastende Betriebe wohl stärker geschützten haben als die Nachbarn. Ohnehin fiel es in der Praxis schwer, wirksame Kontrollmechanismen zu entwickeln und durchzusetzen […]. Generell ließen die Kontrollmöglichkeiten zu wünschen übrig, worüber selbst die Behörden klagten. […] Nachdem die Entscheidungs- und Kontrollbefugnisse an die Behörden übergegangen waren, blieb den Nachbarn und den Geschädigten noch die Möglichkeit, Schadenersatz zu verlangen. Das war jedoch nicht einfach, da argumentiert wurde, dass eine polizeilich genehmigte Fabrik keinen Schadenersatz zahlen müsse, selbst wenn eine Schädigung eindeutig durch sie verursacht sei. […] In der Folgezeit trat aber ein neues Problem auf. Die Industrie setzte sich mehr und mehr durch, so dass belastende Betriebe bald keine Ausnahme mehr bedeuteten, sondern zur Norm wurden.“ Franz-Josef Brüggemeier / Michael Toyka-Seid, S. 152. In dieser sich im Kaiserreich eingeführten Situation sehe ich einen Pfadbeginn, wie sich das Verhältnis zwischen chemischer Industrie, Behörden und Nachbarn einstellte und wie es sich auch für die Zeit nach 1945 zunächst fortsetzte. Vgl. Frank Uekötter: Das organisierte Versagen. Die deutsche Gewerbeaufsicht und die Luftverschmutzung vor dem ökologischen Zeitalter, in: Archiv für Sozialgeschichte 43 (2003), S. 127–150. Uekötter diskutiert den Umgang der deutschen Gewerbeaufsicht mit Luftverschmutzungsproblemen vom späten 19. Jahrhundert bis zum Beginn des „Zeitalters der Umweltpolitik“. Er konstatiert für diesen Zeitraum das weitgehende Fehlen einer einheitlichen Linie der Gewerbeaufsicht. Die rechtlichen Bestimmungen machten demnach zwar deutlich, dass die Bekämpfung übermäßiger Luftverschmutzung zu den behördlichen Aufgaben und speziell auch denen der Gewerbeaufsichtsbeamten als sachverständigen Gutachtern gehörte, aber detaillierte Vorgaben gab es nur selten. Die Attitüde der Gewerbeaufsicht wurde durch ein lethargisches Abwarten gegenüber der Industrie ausgewiesen; man dachte schlicht „von Fall zu Fall“, ohne dass der damit einhergehende Verzicht auf Systematik und Kohärenz Anlass zu kritischer Reflexion gegeben hätte. Uekötter sieht das Schlüsselproblem nicht in grundsätzlichen Wertorientierungen der Gewerbeaufsichtsbeamten – etwa einer gelegentlich behaupteten „Industriefreundlichkeit“ –, und hier wird diese Arbeit seiner These widersprechen, sondern im Vollzugsmodus: Da die Kernaufgabe der Gewerbeaufsicht im Bereich des Arbeitsschutzes lag, kümmerten sie sich eigentlich nur auf Impuls von außen. So präsentiert sich das deutsche System der Luftreinhaltung vor dem ökologischen Zeitalter als ein Geflecht von Halbheiten und Inkonsequenzen, in dem das grundsätzlich anerkannte Recht der Zeitgenossen auf saubere Luft
3.1 Legitime Kontinuität des Risikohandelns
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Immer wieder kam es freilich zu Auseinandersetzungen über die Konzessionierung von Anlagen, die sich Mitte der 1960er Jahre zu regelrechten Kraftproben aufgeschaukelt hatten. Im Falle der Konzessionierung einer Kraftwerksanlage bei den Farbenfabriken Bayer Leverkusen beschloss der Vorstand, „gegen einen Teil der Auflagen für die Konzessionserteilung für das Kraftwerk Flittard Einspruch zu erheben, um durch ein Musterverfahren u.a. feststellen zu lassen, ob die von der VDI-Kommission erarbeiteten Grundlagen für die Entscheidungen der Behörden verbindlich sind oder ob diese nach eigenem Ermessen beliebige Auflagen erteilen können.“35 Insbesondere die Gewerbefreiheit wurde von der chemischen Industrie seit den Aufschwungjahren nach dem zweiten Weltkrieg und der damit einhergehenden liberalen Wirtschaftsordnung als Selbstverwaltung der Wirtschaft interpretiert, die sie ermutigte, auch für eine Selbstkontrolle chemisch-technischer Risiken zu plädieren. Diese Sichtweise blieb trotz der Verschärfung der gesetzlichen Regelungen im hier betrachteten Zeitraum bis zum Ende der 1960er Jahre weitgehend bestehen, denn: „Grundsätzlich gilt die Gewerbefreiheit beim Betreiben unserer Anlagen.“36 Auch im Sinne des Risikoverhaltens und der Verwaltung chemisch-technischen Wissens handelte es sich bei der Selbstverwaltung der Wirtschaft um eine „zentrale Institution […], wie sie für die deutsche Wirtschaft auch künftig lebenswichtig war.“37 Überdeutlich wird vorgegeben, was die chemische Industrie nach 1945 vom Gesetzgeber und ihrer Nachbarschaft erwartete: Erstens die Hinnahme der bestehenden Verhältnisse und zweitens die Anerkennung der Selbstverantwortung im Umgang mit produktionsinduzierten Risiken. Ebenso wurde drittens eine Mitwirkung bei gesetzlichen Regelungen des Immissionsschutzes gefordert, und damit verbunden eine dynamische Lösung für die chemische Industrie, die wirtschaftlich vertretbar und auf die Ansprüche des Industriezweigs angepasst sein sollten. Diese Sichtweise galt auch noch im Jahre 1960: „[…] bei allem Respekt vor den Belangen der Öffentlichkeit und der Reinhaltung der Luft und der Vorfluter, die Bedingungen, die man den einzelnen Industriezweigen auferlegen will, müssen den technischen
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zwischen den sich sämtlich nicht wirklich zuständig fühlenden Behörden immer wieder verloren ging. Im Jahre 1967 schilderten zwei Mitarbeiter des Gewerbeaufsichtsamtes Düsseldorf vor einer Meisterkonferenz bei Henkel ihre Aufgabengebiete und Zuständigkeiten, dabei wird der Fokus auf den Arbeitsschutz ebenso wie geringe Mittel zum Nachbarschafts- und Öffentlichkeitsschutz deutlich. Vgl. Niederschrift über die Meisterkonferenz Nr. 3 vom 21. März 1967, in: Konzernarchiv Henkel, J 106 Meisterkonferenzen 1949–1967. Vgl. Vorstandsitzung in Leverkusen am 17. Juli 1963, in: BAL 387/1 Vol. 6 Vorstandsprotokolle 18.06.1963–17.03.1965. „Rechtliche Fragen zur Reinhaltung von Wasser und Luft und zur Haftung von betrieblichen Vorgesetzten“, Referat des Chef-Juristen Dr. Erben auf der Betriebskonferenz von Henkel am 4. April 1967, in: Konzernarchiv Henkel E 20 Juristische Abteilung. Werner Abelshauser, 2005, S. 59. Dies wird ersichtlich durch die Protokolle des Technischen Ausschusses des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), die sich immer wieder auf dieses „Grundrecht unseres Industriezweiges“ berufen. Vgl. exemplarisch Sitzung des Technischen Ausschusses des VCI am 08. April 1955 in Frankfurt am Main, in: Konzernarchiv Henkel Zug.Nr. 451 Akten Opderbecke, Verband der chemischen Industrie Technischer Ausschuss bis 1969. Vgl. auch Christian Kleinschmidt: Technik und Wirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert, München 2007, S. 54.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
Möglichkeiten entsprechen. […] Eine Selbstverwaltung der Industrie […] wäre das Sinnvollste.“38 Sehr zutreffend werden die Rechtslage und die vorherrschenden Erwartungen an den Gesetzgeber durch die chemischen Industrie in den 1950er Jahren von einem Rechtsexperten wiedergegeben, wenn er stellvertretend für die Branche die rhetorische Frage aufwarf: „Brauchen wir ein Luftreinhaltegesetz?“39 „Ein ‚Gesetz zur Reinhaltung der Luft in Industriegebieten‘ soll dem ohnehin schon überlasteten Gesetzgeber eine rechtlich wie technisch unangenehme Aufgabe stellen. […] Ein Luftreinhaltungsgesetz will gegenüber dem schon allumfassenden nachbarrechtlichen Schutz des Bürgerlichen Gesetzbuches und der Gewerbeordnung problematisch erscheinen. Bürgerlich-rechtlich liegt kein Anlass vor, für den Schutz gegen Industrie-Immissionen ein Höchstmaß zulässiger Einwirkungen von Industriewerken gesetzlich festzulegen, insbesondere durch Einführung starrer Normen zu bestimmen; […]. Die Rechtssprechung zum industriellen Immissionsrecht, rechtlich genauer: zur Zulässigkeit der Einwirkung von Industriewerken auf benachbarte Grundstücke, darf seit der grundlegenden Rechtsentscheidung vom 10.3.1937 als gefestigt bezeichnet werden. In diesem Urteil hatte das Reichsgericht (RG) die Verpflichtung der Grundeigentümer zur entschädigungslosen Duldung ortsüblicher Immissionen erneut bestätigt. […] Hiernach müssen unwesentliche, das Empfinden eines ‚Durchschnittsmenschen‘ nicht berührende Beeinträchtigungen stets hingenommen werden. […] Diese Grundsätze gelten schlechthin für jeden Raum, in dem die Industrie vorherrscht. […] Gleichwohl lässt sich genau verfolgen, wie das hohe Gericht bemüht blieb, den Inhalt des § 906 nicht starr zu handhaben, sondern unter Mitwirkung der Sachverständigen der Staubtechnologie lebensnahe Entscheidungen zu fällen, die dem Nachbarn von Industriebetrieben helfen wollen, andererseits die Entwicklung der Werke nicht hemmen sollten. […] Es wird übersehen, daß sich der durch Immissionen gestörte Nachbar eines Industriewerkes der besonderen Ortslage anpassen muß, indem er rauch- und gasunempfindliche Gewächse anbaut und eine in Industriegegenden unvermeidbare Verunreinigung oder Belästigung hinnimmt.“40
Hier wird besonders deutlich, wie sehr das Selbstverständnis der Unternehmen und damit ihre Handlungslogiken seit Jahrzehnten vom institutionellen Kontext geprägt und legitimiert waren. Mensch und Natur hatten sich den Verhältnissen anzupassen und keine Handhabe gegen diese Form eines, wenn man so will, „IndustrieDarwinismuses“. Diese Anpassungspflicht wurde auch durch die operativen Stellen bei Bayer vertreten, die etwaige Beschwerden gegen die Immissionsverhältnisse und -schäden prüften: „Es darf aber wohl gerade von der Bevölkerung Leverkusens soviel Einsicht erwartet werden, daß sie die Arbeit der beauftragten Stellen nicht durch unnötige und oft belanglose Klagen erschwert.“41 Dabei waren diese Klagen oft nicht belanglos, wie ich dies an expliziten Stör- und Unfällen sowie den Ver38 39
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141. Kommissionssitzung der Abwasser- und Abluftkommission der Farbenfabriken Bayer Leverkusen vom 24. November 1960, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1959–1960. Vgl. „Brauchen wir ein Luftreinhaltegesetz? Gedanken zur Rechtslage“, Positionspapier von Rechtsanwalt Dr. Schulte aus dem Jahr 1954 für die AWALU-Kommission der Farbenfabriken Bayer Leverkusen, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1954– 1956. Ebd. S. 372. Dr. Zimmermann / Anorganische Abteilung an Ingenieurverwaltung betreffend Immissions-
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hältnissen in Leverkusen im Allgemeinen zu einem späteren Zeitpunkt in diesem Kapitel exemplifizieren werde. Ein weiteres Beispiel soll die vom Unternehmen für sich beanspruchte Gebietshoheit noch am Ende der 1950er Jahre verdeutlichen. Gegenüber dem rheinischen Landwirtschaftverband wurde ein Immissionsschaden des ortsansässigen Bauers Düster ausschließlich mit der Vormachtsstellung des Werkes begründet und damit das Kräfteverhältnis klargestellt. Der harsche Kommentar ließ keinen Zweifel an der Richtigkeit der unternehmerischen Handlungslogik und zeigte, wie sehr die Menschen in der Werksumgebung bevormundet wurden: „Grundsätzlich möchten wir darauf verweisen, daß die Emissionen unseres Werkes ortsüblich sind und deshalb von den Anwohnern in Kauf genommen werden müssen. Herr Düster muß sich daher bei der Auswahl der Pflanzen, die er anbauen will, nach den örtlichen Gegebenheiten richten. Es kann nicht unbekannt gewesen sein, daß Endiviensalat-Pflanzen außergewöhnlich empfindlich gegen chemische Einflüsse sind. […] Mithin hätte sich Herr Düster bei der Bestellung seines Ackers darauf einstellen müssen. Lediglich weil in diesem Jahr die Mitverursachung durch eine Betriebsstörung nicht völlig von der Hand zu weisen ist, und um die Sache auf gütlichem Wege zu bereinigen, sind wir ohne Anerkennung einer Haftpflicht bereit, uns mit 50 % an dem Schaden zu beteiligen. […] Eine vorbereitete Abfindungserklärung fügen wir bei.“42
Diese Überzeugungen des Unternehmens entstammen einer Jahrzehnte langen Protegierung der chemischen Industrie durch den institutionellen Kontext, der seit dem Kaiserreich für eine freiheitliche Wettbewerbsordnung geschaffen wurde und angesichts ihrer Bedeutung für die Rüstungsproduktion auch in der Zeit des Nationalsozialismus nicht gestört wurde. Nach 1945 wurde es schlicht versäumt, die formalen Institutionen den Produktionsverhältnissen anzupassen. Zudem bekräftigten zeitgenössische, rechtwissenschaftliche Argumente das Unverständnis der Unternehmen gegenüber staatlichen Eingriffen, was dem Selbstverständnis und der Argumentationsstringenz in den Folgejahren Auftrieb verschaffte: „Heute ruft man nach der starren Norm und dem Gesetzgeber. Die Industrie erklärt demgegenüber, jederzeit bereit zu sein sich mit jedem ihrer Nachbarn zu verständigen. Allerdings wird hierbei auch über die diesen Nachbarn obliegende Anpassungspflicht an die industrielle Ortslage zu sprechen sein. […] Die Unerträglichkeit oder die Lästigkeit ist ein von nur subjektiven Empfindungen abhängiger und deshalb unbrauchbarer Maßstab für die Grenze der Zulässigkeit der beanstandeten Einwirkung. […] Die Industrie kann trotz großer Rücksichtnahme auf ihre Nachbarschaft den Zustand völliger Unberührtheit ihrer Umgebung nun einmal nicht herstellen. […] Auch ein Gesetz zur Reinhaltung der Luft hätte deshalb dynamisch zu sein. […] Jede echte Selbstverwaltung – die Selbstverantwortung der Beteiligten – sollte sicherlich Anordnung vorgezogen werden, und die staatliche Mitwirkung sollte auf die Aufsicht beschränkt bleiben. […]
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schäden vom 20. August 1954, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und AbluftLabor 1954–1956. Schreiben der Farbenfabriken Bayer an den Rheinischen Landwirtschaftsverband e.V. betreffend Emissionsschaden des Herrn Michael Düster, Köln-Merkenich vom 24. November 1958, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1957–1958.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel Schließlich geriete ein Luftreinhaltegesetz mit den unentbehrlichen Vorschriften der Gewerbeordnung ständig in Widerstreit und sonach mit den hervorragenden Verdiensten der Gewerbeaufsichtsbehörden an einer erfolgreichen Konzessionspraxis; denn die Gewerbeordnung ermöglicht jede Abhilfe.“43
Im Einzelfall wird dies an strategischen Überlegungen der Farbenfabriken Bayer Leverkusen aus dem Jahre 1955 ersichtlich. Energisch stellte sich der Vorstand gegen gesetzliche Bestrebungen der Luftreinhaltung, da es unerlässlich sei, die Regelungen der Abluftproblematik innerhalb der beteiligten Industrien zu vollziehen.44 Mit einem solchen Vorgehen sicherte die chemische Industrie ihre Wissensbestände über das von ihnen selbst erzeugte Risiko, und vor allem sicherte sich Bayer damit die autonome Selbstverantwortung für die eigenen Emissionsverhältnisse. Diese Einstellung wurde auch in den kommenden Jahren beibehalten, wobei zwar immer wieder auf kleinere Erfolge in der Beseitigung der problematischen Verhältnisse hingewiesen wurde, diese jedoch von der stetigen Zunahme der Produktion zunichte gemacht wurden. Expertisen über das Gefahrenpotenzial des Werkes für seine Umwelt wurden zwischen Bayer und der Stadt Leverkusen kontrovers diskutiert, doch sah sich das Unternehmen in einer privilegierten Situation, so dass Warnungen über zu hohe Immissionswerte und die damit einhergehende Belastung der Werksumwelt verharmlost wurden bzw. die zuständigen Ingenieure auf den technischen Standard der Zeit verwiesen, wie aus einem Emissionsgutachten hervorgeht.45 Zudem wird aus diesem Gutachten ersichtlich, dass die Öffentlichkeit seit Jahren einer ständigen Belastung ausgesetzt war und sie damit lebten. Die Sensibilitätsschwelle der Nachbarn des Werkes war groß und die Formierung gesellschaftlicher Erwartungshaltungen gering. Dieses Selbstverständnis war ein direktes Resultat der Ansprüche auf Selbstverwaltung des Unternehmens: Angesichts ihrer Legitimierung durch den institutionellen Kontext waren die innerbetrieblichen Zuständigkeiten durch solche gutachterlichen Untersuchungen nicht erschüttert. Die Ingenieurverwaltung konterte, einem gesunden Menschen könne die „Abluftbelastung nicht schaden“, und die „Bronchien des Menschen seien stark genug, die Abluftsituation unbeschadet zu überstehen.“46 Davon abgesehen biete das Werk viele Vorteile für sein Umfeld, so 43
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Ebd. S. 373–377. Unterstützung hierfür kam auch von der Industrie- und Handelskammer zu Solingen: „Die Lösung der noch offenen Abluftproblem müssten auf genossenschaftlicher Basis scheitern. […] Um eine Reinhaltung der Luft in Industriegebieten zu gewährleisten, sollte nach Ansicht der Industrie neben den bestehenden freiwilligen Maßnahmen […] der bestehende Katalog überprüft werden.“ Industrie- und Handelskammer zu Solingen zur Kenntnis der AWALU-Kommission der Farbenfabriken Bayer Leverkusen betreffend Reinhaltung der Luft in Industriegebieten vom 25. März 1955, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasserund Abluft-Labor 1954–1956. Vgl. Vorstandsitzung in Leverkusen am 05. Juli 1955, in: BAL 387/1 Vol. 1, Vorstandsprotokolle 20.05.1952–06.12.1955. Vgl. das Gutachten über Emissionsverhältnisse des Regierungspräsidiums Düsseldorf vom 18.09.61, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1961–62. Vgl. auch Vorstandsitzung in Leverkusen am 02. Februar 1960, in: BAL 387/1 Vol. 3 Vorstandsprotokolle 24.04.1958–27.07.1960. Vgl. ebd. Eine solche Argumentation der privatwirtschaftlichen Verantwortung der jeweiligen Technik wurde auch mitgetragen vom VCI, der hierzu klar Stellung bezog: „Die Anerkennung
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dass Geruchsbelästigungen ganz und gar legitim seien.47 Diese Binnensicht und die zugehörige Argumentation folgten der gezeigten und begünstigten pfadabhängigen Handlungslogik der Verwalter chemisch-technischen Wissens innerhalb der Unternehmen: „Anlieger müssen sich im Rahmen der Ortsüblichkeit Schäden gefallen lassen“.48 Auch bei der Firma Henkel wurde bei einer Besprechung der Geschäftsleitung im Jahre 1953 richtungsweisend argumentiert. Erörtert wurden „Maßnahmen zur Beseitigung von Immissionen“ und dabei konstatiert: „Die Geruchsbelästigungen werden sich nicht weiter reduzieren lassen und müssen von der Nachbarschaft in Kauf genommen werden.“49 Auch in der chemischen Konsumgüterindustrie wurden staatliche Eingriffe und der damit einhergehende Verlust der Selbstverwaltung chemisch-technischer Risiken kontrovers diskutiert. Diese Argumentationen und das zugehörige Selbstverständnis hielten sich bis zum Ende der 1960er Jahre. Unterstützt vom VCI wurde auf einer Viererbesprechung50 bei Henkel noch im Jahre 1968 darauf hingewiesen, dass man auf angedachte gesetzliche Regelungen schnellstens Einfluss nehmen müsse, da wir sonst „unsere Selbstverwaltung gänzlich aufgeben“.51 Dieser Aspekt der Selbstverwaltung oder Selbstverantwortung zeigte sich auch darin, dass den Forderungen nach der Reinhaltung der Luft zwar Gehör geschenkt wurde, es aber gleichzeitig aufgrund der wenigen gesetzlichen Regelungen möglich war, dass die (chemische) Industrie sich selbst ihre Richtlinien auferlegte. Ende der 1950er Jahre geschah dies beispielsweise über eine „Kommission Reinhaltung der Luft“ beim Verein Deutscher Ingenieure (VDI). Ihre Eigenbeschreibung lautete:
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normnativer Festlegung der Technik hat das Ziel […], die von dem ‚organisierten und repräsentativen Sachverstand‘ in freiwilliger Selbstverantwortung erarbeiteten Maßstäbe auch der Rechtsordnung dienstbar zu machen. Hiermit ist nicht verbunden: die privatrechtliche Organisation als Rechtssetzungsorganisation zu institutionalisieren, den normativen Festlegungen der Technik den Charakter von Rechtsnormen zu verleihen, den normativen Festlegungen der Technik eine Verbindlichkeit im Sinne eines Anwendungszwanges zuzubilligen.“ Die Anerkennung normativer Festlegungen der Technik. Modellstudie im Auftrag des Technischen Ausschusses des VCI durchgeführt 1965, in Konzernarchiv Henkel, Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, VCI Technischer Ausschuss bis 1969, undatiert Vgl. ebd. Aktennotiz des AWALU-Labors an Rechts- und Steuerabteilung der Farbenfabriken Bayer Leverkusen vom 17. August 1954 betreffend Immissionsschäden, in: BAL 59/384; Ingenieurverwaltung, Abwasser und Abluft-Labor 1954–1956. Seitens von Henkel schien man sich jedoch bereits 1960 dessen bewusst zu sein, dass den Nachbarn „nicht mehr wie früher Immissionen im ortsüblichen Umfang zugemutet“ werden konnten. Vgl. Niederschrift über die Betriebskonferenz Nr. 10 vom 10 Oktober 1960, in: Konzernarchiv Henkel J 105, Betriebskonferenzen 1943–1976. Doch werden die weiteren Ergebnisse dieses Kapitels zeigen, dass das Unternehmen auch hier einem Irrglauben anheim fiel, da sich die Verhältnisse nicht rasch änderten. Protokoll über die Postbesprechung vom 09. Juni 1953, in Konzernarchivhenkel, 153/9 Postprotokolle. Bei den Viererbesprechungen handelt es sich um Konferenzen der vier Firmen Henke, Proctor&Gamble, Colgate und Sunlicht. Vgl. Protokoll der Viererbesprechung am 06. November 1968, in: Konzernarchiv Henkel Zug.Nr. 314, Akten Opderbecke, Viererbesprechungen 1961–1968.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel „Die Kommission hat die Aufgabe übernommen, die Quellen der Luftverunreinigungen aufzuzeigen, für jede dieser Quellen technische Unterlagen zur möglichen Verringerung der Luftverunreinigungen zu sammeln und Vorschläge zur Begrenzung des Auswurfes in Merkblättern auszuarbeiten. […] Die Kommission wird die Merkblätter entsprechend dem fortschreitenden Stand der Technik und der wissenschaftlichen Erkenntnisse laufend ergänzen. Diese Merkblätter […] bilden den Inhalt des ‚VDI-Handbuches Reinhaltung der Luft‘ […].“52
Auf Behördenseite konnten die Gewerbeaufsichtsämter der Länder mit diesen Angaben wenig anfangen. Obwohl sich die Bundesregierung im Dezember 1959 durch eine Modifikation des § 16 der Gewerbeordnung verpflichtet sah, entsprechende „technische Anleitungen“ für die Gewerbeaufseher zu erlassen, hat sie das „von einigen Ausnahmen abgesehen, bislang unterlassen […].“53 So freuten sich die Zuständigen bei Henkel und Bayer darüber, „daß Bonn immer noch auf einen großen Teil der Richtlinien der VDI-Kommission ‚Reinhaltung der Luft‘“ wartete.54 Diese Haltung wies gewiss – von wenigen Scharmützeln abgesehen – auf einen ‚Nichtangriffspakt‘ zwischen chemischer Industrie und zuständigen Aufsichtsorganen hin, der noch in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre bestand. Bei einer Aussprache zwischen Bayer und dem Arbeits- und Sozialministerium sowie dem Gewerbeaufsichtsamt zu „grundsätzlichen Fragen der Luftreinhaltung und Gesetzesauslegungen“ rückte vor allem der aus Sicht der Industrie als schützenswerte und zu ihren Gunsten auszulegende Stand der Technik in den Mittelpunkt.55 Die TA-Luft (Technische Anleitung Luft, T.J) wurde von beiden Seiten als die geeignete formale Institutione angesehen, um zweckmäßig gegen das Problem der Emissionen vorgehen zu können. Sie berief sich auf den Grundsatz, „daß die Luft nicht so rein wie nötig zu sein habe, sondern so rein wie möglich.“56 Durch die TA-Luft war aber auch eine formale Institution unter Mitwirkung der Industrie geschaffen worden, die einen Stand der Technik determinierte, der zuvor „in dem gebrauchten Sinne aber rechtlich noch unbestimmt“ gewesen war und „in diesem Zusammenhang im Gesetz (Gewerbeordnung)“ nicht vorkam.57 Mit der verbindlichen Schaffung der TA-Luft und der Einführung und Aufnahme des Passus zum Stand der Technik hatte sich die Industrie einen selbst erzeugten Hebel geschaffen, der die (Nicht-)Bekämpfung der Emissionsverhältnisse nach eigenen Maßstäben und ihre Definitionen des Mögli52 53 54
55
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Geleitwort zur Merkblattreihe „Auswurf Chemische Industrie“ des VDI, in: BAL 59/384; Ingenieurverwaltung, Abwasser und Abluft-Labor 1956–1958. Vgl. ebd. S. 2. Vgl. Jahresbericht 1960 der Ingenieurabteilung vom 21.11.1960, S. 6, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 314, Akten Opderbecke, Abt. 651 Ingenieurwesen / Jahres- und Quartalberichte 1958–1965. Im Fall Bayer vgl. ein Schreiben von Chefingenieur Prof. Rieß an den Vorstandsvorsitzenden der Farbenfabriken Bayer Leverkusen, Prof. Haberland, betreffend Vorankommen der AWALU-Kommission vom 21. Oktober 1960, in: BAL 59/384; Ingenieurverwaltung, Abwasser und Abluft-Labor 1960–1961. Vermerk von Dir. Dr. Heimsothe über eine Besprechung mit Ministerialdirigent Dr. Boisserée vom Arbeits- und Sozialministerium NW, Regierungsdirektor Dreihaupt und Oberregierungsgewerberat Keinhorst am 11. November 1966 in Düsseldorf, in: BAL 59/384; Ingenieurverwaltung, Abwasser und Abluft-Labor 1964–1967. Ebd. Vgl. ebd.
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chen und Nötigen sicherstellte. Auch diese Maßstäbe und Definitionen hielten sich hartnäckig in dem hier betrachteten Zeitraum. In einer lebhaften Diskussion wurde noch 1966 im Düsseldorfer Ministerium debattiert, was unter dem ‚Stand der Technik‘ zu verstehen sei und damit als verbindlich gelte. Bayer-Vertreter Heimsoeth vermerkte in einer Notiz für die AWALU-Kommission in Leverkusen, dass der Ministerialdirigent des Arbeits- und Sozialministeriums „ohne weiteres einräumte, daß hierunter nicht nur das technisch Ausführbare zu verstehen, sondern daß auch eine Adäquanz des Aufwandes in diesen Begriff eingeschlossen sei. Während er jedoch die Adäquanz in dem Verhältnis zu den Kosten der jeweiligen Anlagen sah, wollte ich sie verstanden wissen als Adäquanz zum erzielten Effekt und damit zur Notwendigkeit bzw. Nützlichkeit […]. Ich habe erklärt, daß der SO2-Spiegel im Kölner Raum beispielsweise die Forderung nach Rauchgasentschwefelung nicht rechtfertige, und daß anderseits ein Aufwand von 10–20 % der Energieerzeugungskosten für die exportorientierte deutsche Industrie generell nicht diskutabel sei […].“58
Durch intensive technische Belehrungsarbeit des Bayer-Chemikers, in der dieser die Möglichkeiten zur Emissionsminimierung durch höhere Schornsteine und durch gegebene meteorologische Bedingungen heraus strich, die eine „Selbstreinigung der Atmosphäre“ zur Folge hätten, konnten die Behördenvertreter von der Meinung der chemischen Industrie überzeugt werden. Heimsoeth vermerkte über die von ihm angenommene Unwissenheit der Gegenseite: „Diese Selbstreinigung der Atmosphäre […] ist von den Behördenvertretern bisher offenbar kaum in Betracht gezogen worden.“59 Entsprechend erschien es dann auch einleuchtend, dass die Emissionsverhältnisse gar nicht mehr so widrig waren, wie sie auf den ersten Blick erschienen. Aus Sicht der chemischen Industrie war die Notwendigkeit, Immissionsschutz zu betreiben zweitrangig. Damit wurde ein schärferes Vorgehens gegen die Umweltprobleme von vornherein negiert und durch diesen einfach zu gewinnenden Aushandlungsprozess bestätigt. So konnte Dir. Heimsoeth stolz protokollieren: „Ich habe betont, daß gar keine Veranlassung bestehe, irgendetwas gegen das SO2 zu unternehmen […], da Einzelquellen nur lokal bekämpft werden können.“60 Eben diese Lokalität unterlag aber – unter anderem aufgrund der zugebilligten Selbstverwaltung der chemischen Industrie hinsichtlich ihrer Emissionsverhältnisse – wieder dem Wissen der verursachenden Unternehmen, ihren selbst auferlegten Spielregeln zu Emissionsbekämpfung und zur Preisgabe von Emissionskonzentrationswerten, die demnach als Betriebsgeheimnisse betrachtet werden durften.61 Mit dem Argument, es handle sich bei der Frage der Luftreinhaltung „um ein ökonomisches Optimierungsproblem, das immer einer Abwägung unterliegt“ konnte die emittierende 58 59 60 61
Vgl. ebd. S. 2. Vgl. ebd. S. 3. Vgl. ebd. S. 3. Zu der Diskussion um Emissionswerte als Betriebsgeheimnisse vgl. retrospektiv Protokoll Nr. 2/73 zur Produktionsleiterkonferenz am 19. Dezember 1973 bei Henkel, in: Konzernarchiv Henkel: Zug.-Nr. 451, Akten Opderbecke, Produktionsleiterkonferenz/Bereichsleiterbesprechung.
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Industrie sich in einer Art inszenieren, als seien auch der institutionelle Kontext und dessen Durchsetzungsorgane auf den industriellen Gutwillen angewiesen: „In diesem Zusammenhang habe ich den Herrn Ministerialdirigenten darauf aufmerksam gemacht, daß auch die Aufsichtsbehörden in Fragen der Luftreinhaltung auf eine positive Haltung der Industrie angewiesen seien. So wären z.B. die Behörden im Falle der von der Chemie ausgehenden Geruchsbelästigungen ohne den guten Willen der Beteiligten machtlos. Auch diese Betrachtungsweise des Gebens und Nehmens hat dem Ministerium offenbar ferngelegen […]. Die […] Diskussion offenbarte, daß zwischen der Vorstellung der Behörden von NW und den von mir aus wirtschaftlicher und technischer Sicht vorgetragenen Auffassungen tiefgreifende Gegensätze bestehen. Dies beruht sicher z.T. darauf, daß die öffentliche Behandlung der Luftverunreinigung verhältnismäßig jungen Datums ist […]. In dieser Situation sollte der Dialog zwischen den Beteiligten nicht abreißen und die Expertise unserer Industrie stets Anklang finden.“62
Wir haben es also Mitte der 1960er Jahre mit einer zweifelhaften bzw. nur augenscheinlichen Pattsituation zwischen den zuständigen Behörden und der emittierenden chemischen Industrie zu tun. Tiefgreifende Aushandlungsprozesses über chemisch-technische Spielregeln zur Emissionslimitierung waren nur in geringem Maße notwendig. Die beschriebene Situation eines Dialogs zwischen dem institutionellen Kontext und der chemischen Industrie erscheint allerdings in einem anderen Licht, wenn man die bis hierher unverändert spärlichen und auslegbaren gesetzlichen Regelungen betrachtet. Im hier betrachteten Zeitraum finden wir veraltete Institutionen vor – formal wie informell, mitsamt der zugehörigen Sinnmuster in der Industrie wie im institutionellen Kontext und der kulturellen Rahmung –, die mit den zunehmend problematischen Emissionsverhältnissen kaum Schritt halten konnten. An den Stellen jedoch, wo eine Eindämmung der produktionsinduzierten Risiken für die natürliche und lebensweltliche Umwelt mehr oder weniger deutlich gefordert wurde, hatte die Stimme der (chemischen) Industrie nach alter Tradition einen wieder erstarkten und gewichtigen Einfluss. Durch die Mitwirkung der chemischen Industrie bei der Entscheidungsfindung gelang es unter anderem, die so genannten MIK-Werte (maximale ImmissionsKonzentration) auszuhandeln. Es sei bei dem Stand der Technik im Jahre 1960 keine Schwierigkeit mehr, etwa das Chlor restlos aus den Abgasen der chemischen Industrie zu entfernen, führte ein Düsseldorfer Oberregierungsrat in einem Gespräch mit den Zuständigen bei den Farbenfabriken Bayer Leverkusen an, und es sei daher auch „keine unbillige Forderung der Behörden die maximale Auswurfbegrenzung“ vorzuschreiben.63 Nach Konsultation von Sachverständigen des VCI und des VDI konnte der Behördenvertreter jedoch durch „erneute Verhandlungen“ davon überzeugt werden, dass die geforderten Werte zu niedrig seien. In der Folge 62
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Vermerk von Dir. Dr. Heimsothe über eine Besprechung mit Ministerialdirigent Dr. Boisserée vom Arbeits- und Sozialministerium NW, Regierungsdirektor Dreihaupt und Oberregierungsgewerberat Keinhorst am 11. November 1966 in Düsseldorf, S. 5, in: BAL 59/384; Ingenieurverwaltung, Abwasser und Abluft-Labor 1964–1967. Vgl. Schreiben von Dr. Prior an Chefingenieur Rieß betreffend VDI-Richtlinie „Gasauswurfbegrenzung Chlor“ frühere Bezeichnung „Chlor-Merkblatt“ vom 17. August 1960, in: BAL 59/384; Ingenieurverwaltung, Abwasser und Abluft-Labor 1960–1961.
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wies die designierte Chlorrichtlinie für die betreffenden Betriebe der chemischen Industrie höhere Auswurfwerte aus, wobei man sich „zur Beruhigung der Gemüter“ auf eine entsprechende Reinigung der Abgase verständigte.64 Obwohl auch bei diesem Aushandlungsprozess die Ansichten der chemischen Industrie mehr zählten als jene des Immissionsschutzes, wurde von Seiten der Industrie die neue Chlorrichtlinie nicht gänzlich als Erfolg betrachtet: „Ich wollte Sie davon unterrichten, und ich glaube kaum, daß wir an der Einhaltung der nunmehr festgelegten Werte, die von anderen Chlorverbrauchern anerkannt sind, vorbeikommen.“65 Über den hier gewählten Betrachtungszeitraum schälte sich im innerbetrieblichen Kontext ein ambivalentes Bild heraus. Zum einen stimmten die Unternehmen grundsätzlich den Bestrebungen nach der Reinhaltung der Luft zu, dies aber nicht um jeden Preis und vor allem nach ihren Vorgaben. Zum anderen deutet jedoch einiges darauf hin, dass insbesondere die frühen Umweltabteilungen gebetsmühlenartig versuchten, solche selbst mitbestimmten institutionellen Vorgaben intern zu vermitteln, dies aber keinen großen Erfolg brachte bzw. immer wieder auf Ablehnung stieß. So erging im Falle von Bayer Ende der 1960er Jahre bezüglich der Vorstellungen der VDI-Kommission abermals ein Hinweis an die Mitarbeiter des Unternehmens, der die hier dargestellten institutionellen Verhältnisse, aber auch das daraus erwachsene Selbstverständnis der Unternehmen sehr plakativ zusammenfasste: „Neben dem Wasser ist die Luft der Stoff, ohne den das Leben auf der Erde unmöglich ist. Ebenso, wie frisches, sauberes Quellwasser einen Genuß für den Menschen darstellt, wird sein Wohlbefinden durch das Einatmen frischer und sauberer Luft erhöht. […] Wenn daher die Gefahr besteht, daß die Luft ihren natürlichen Reinheitsgrad einbüßt, muß alles daran gesetzt werden, um dieser Gefahr durch geeignete Maßnahmen vorzubeugen. Diesem Bestreben gilt die Begrenzung der Emissionen. […] Die starke Zunahme von Industrie und Bevölkerung seit Kriegsende hat ein erhebliches Anwachsen der Luftverschmutzung mit sich gebracht, der der einzelne nicht mehr gleichgültig gegenüber stehen kann. Es ist bekannt, daß gewisse luftverunreinigende Stoffe […] eine Gefährdung der Gesundheit, insbesondere anfälliger oder älterer Menschen bedeuten können oder mindestens das Wohlbefinden der Menschen darunter leidet. Darüber hinaus kann die Verschmutzung der Luft eine Beeinträchtigung des Pflanzenwachstums mit sich bringen. […] Schon vor Jahren hat der VDI die Notwendigkeit erkannt, durch entsprechende Forschung und durch das Aufstellen von Richtlinien den Behörden und den Emittenten wissenschaftlich fundierte Unterlagen zu geben, um eine Einschränkung der Luftverschmutzung praktisch zu ermöglichen. Auch der Staat hat es sich zur Aufgabe gestellt, den durch die wachsende Verunreinigung der Luft entstandenen Gefahren entgegenzutreten. […] Es muß daher Aufgabe eines jeden einzelnen sein, der irgendwie die Abgabe von Emissionen veranlaßt, diesen Bestrebungen des Staates zuvorzukommen und durch geeignete Maßnahmen dafür Sorge zu tragen, dass behördliche Beanstandungen erst gar nicht eintreten können. Hierbei wird es in vielen Fällen notwendig sein, den althergebrachten Begriffen wie ‚wenig‘ oder ‚Spuren‘ eine andere Bedeutung zu geben und sie nicht mehr zur Produktion bzw. zur 64 65
Vgl. ebd. Schreiben von Chefingenieur Rieß an die betroffenen Betriebsleiter und Direktoren der übrigen Bayerwerke in Dormagen, Elberfeld und Uerdingen betreffend Gasauswurfbegrenzung Chlor, frühere Bezeichnung „Chlor-Merkblatt“ vom 23. August 1960, in: BAL 59/384; Ingenieurverwaltung, Abwasser und Abluft-Labor 1960–1961.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel Ausbeutung in Beziehung zu setzten. Es genügt indes nicht, Filter, Absorptionsanlagen o.ä. einzubauen, wenn nicht Hand in Hand hiermit eine erzieherische Tätigkeit einsetzt, die jeden einzelnen Betriebsangehörigen von der Notwendigkeit zu überzeugen hat, diese Anlagen immer funktionsfähig zu erhalten […]. Um die durch die Luftreinhalte-Gesetzgebungen66 erstrebten Ziele zu verwirklichen, werden von den Behörden Auswurfbegrenzungen für luftverschmutzende Stoffe festgesetzt […]. Hand in Hand werden an die emittierenden Betrieb bestimmte Anforderungen gestellt, durch die die größtmögliche Herabsetzung von Emissionen gewährleistet werden soll. Die Forderung Nr. 1, die als Mindestforderung zu betrachten ist, besagt, daß die Maßnahmen, die die Betriebe zur Herabsetzung ihrer Emissionen und damit zur Einhaltung der Auswurfbegrenzungen ergreifen, stets dem jeweiligen Stand der Technik entsprechen müssen. Die Forderung Nr. 2 wird erhoben, wenn der derzeitige Stand der Technik nicht ausreicht, um die Einhaltung des jeweiligen Immissionsgrenzwertes – etwa bei bereits vorhandener größerer Vorbelastung – sicherzustellen. Sie verlangt Maßnahmen, die über den Stand der Technik hinausgehen, d.h. es wird die Entwicklung besserer Apparate oder Methoden gefordert […]. Diesem Zweck dien auch die Einflussnahme auf die Höhe der Schornsteine, durch die eine genügenden Verdünnung der emittierten Gase erreicht werden soll.“67
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Hier wird nach wie vor auf die §§ 16 und 24 der GewO und die Mitte der 1960er Jahre in Kraft getreten Folge-Anleitung, die so genannte Technische Anleitung (TA) Luft angespielt. Bei der TA Luft handelt es sich um allgemeine Verwaltungsvorschriften über genehmigungsbedürftige Anlagen nach § 16 der Gewerbeordnung. Sie trat im September 1964 in Kraft und darf als eine der Grundlagen für das spätere Bundesimmissionsschutzgesetz aus dem Jahre 1974 angesehen werde. Sie enthält stoffbezogene Emissions- und Immissionswerte, des Weiteren werden entsprechende Messverfahren und Berechnungsverfahren vorgeschrieben. Auch auf die TA Luft hatte sich die chemische Industrie gut vorbereitet: „Auf Veranlassung des Innenministeriums Nordrhein Westfalens ist eine Arbeitsgemeinschaft ins Leben gerufen worden, die sich mit der Luftverschmutzung beschäftigen soll. Es ist zu erwarten, dass diese Organisation Grenzwerte für die Industrie erarbeitet, die später auch eine Rolle in der Rechtspraxis eine Rolle spielen werden. Es wäre zweckmäßig, wenn auch vom Chemieverband entsprechende Untersuchungen und Veröffentlichungen angeregt würden.“ Auszug aus der Niederschrift über die TDC in Leverkusen am 19. März 1964, in BAL 329/377 Direktionsabteilung, AWALU. Die für die hier betrachteten Unternehmen betrachteten Grenzwerte beziehen sich auf verschiedenste Stoffe und Stoffgruppen. Aufgrund der veränderten Messverfahren über die Jahre ist es schwierig, eine Abschätzung der Verunreinigungen vor Inkrafttreten der TA Luft vorzunehmen. Am Beispiel von Schwefeldioxid wurde in den Jahren zuvor Mittelwertdaten über Monate hinweg an den Kaminauslässen genommen und der prozentuale Anteil von Schwefeldioxid ausgewiesen (etwa 0,8 v.H. des gesamten Kamingases waren Schwefeldioxid). Mit der TA Luft werden aber absolute Grenzwerte bestimmt in zulässigen Auswurfmengen (mg SO2 pro m3). Wie dies aber schon mehrfach angedeutet wurde, liegt die Vermutung nahe, dass die Grenzwerte der TA Luft in den Jahren zuvor ständig überschritten waren. Zu den Messverfahren etwa Bericht über die Fabrikluftmessung 1952/54, in: in BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und AbluftLabor 1954–1956. Ähnlich im Falle von Henkel. Vgl. hierzu die Jahres- und Quartalsberichte der Ingenieruabteilung von 1958 bis 1965, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 314 Akten Opderbecke, Abt. 651 Ingenieurwesen Jahres und Quartalsberichte 1958–1965. Auch hier zeigen sich immer wieder erhöhte Werte am Beispiel von Schwefeldioxid in der Umgebungsluft. Zweiter Nachtrag zu den Merkblättern zur Reinhaltung der Luft der Abteilung Wasserreinhaltung und Immissionsschutz vom 22. Juli 1968, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1967–1971. Ähnliche Anstrengungen der betrieblichen Sozialisation finden sich während der gesamten 1950er Jahre in den Werkzeitschriften. Im Falle von Bayer etwa „‚AWALUKO‘…?“, in Unser Werk, 42. Jg. H.2, März/April 1956, S. 36. An gleicher
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Insbesondere der an letzter Stelle angedeuteten „Politik der hohen Schornsteine“ wurde in den 1950er und 1960er Jahren eine zentrale Rolle zur Reinhaltung der Luft beigemessen. Die Idee bestand darin, die stark belasteten Abgase weit nach oben in die Atmosphäre zu transportieren, um so eine entsprechende Entgiftung oder Verdünnung zu erreichen. Die Natur wurde also als Hilfsmittel zur Entgiftung instrumentalisiert, die industrielle Risikoproduktion in den Griff zu bekommen. Der fortschrittsorientierte Mensch der 1950er und 1960er Jahre unterwarf damit die Natur seinen Bedürfnissen nach Wohlstand und Prosperität. Dabei nahmen die Emittenten die Tatsache in Kauf, dass die verunreinigten Luftpartikel in entfernteren Gegenden außerhalb der Industriezentren niedergingen.68 Die VDI-Kommission und in ihrem Gefolge die TA-Luft wird in neuesten Forschungen zur Umweltgeschichte als das schnelle Resultat einer in den 1950er Jahren begonnen Strategiedebatte gesehen.69 Diese formal-institutionellen Einrichtungen werden dort auch unter Modernisierungsgesichtspunkten weitgehend positiv und als Basis für die Verbesserung der Verhältnisse angesehen. Demgegenüber ist meiner Ansicht nach bisher deutlich geworden – und dies werde ich an späterer Stelle weiter vertiefen – dass sich die Verhältnisse nur sehr zögerlich verbesserten. Die Gründe hierfür sind sicherlich in den Mitbestimmungsrechten der Industrie bei den Immissionsschutzgesetzgebungen zu suchen. Damit ging vordefiniertes Wissen der chemischen Industrie zu ihren Gunsten in die TA-Luft ein. Die legitime Mitbestimmung und das geschilderte Naturverständnis ließen die emittierende Industrie nicht von alten Risikostrategien abrücken. In jedem Fall ist vor dem Hintergrund der hier durchgeführten unternehmenshistorischen Analyse Frank Uekötter zu widersprechen, wenn er von grundlegenden Reformen des deutschen Immissionsschutzes schon in den 1960er Jahren ausgeht.70 Dies werde ich im Folgenden unter dem Gesichtspunkt der Abwasserproblematik weiter vertiefen.
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Stelle wird die Verantwortung der Allgemeinheit gegenüber thematisiert. Hier zeigt sich deutlich das patriarchalische Verständnis des Unternehmens, da nicht das Umfeld Einfluss auf die Unternehmenspolitik habe. Vielmehr sei die Unternehmenspolitik aufgrund ihres Erfahrungsschatzes und ihrem Sinne für das Gemeinwohl selbst in der Lage, das Richtige zu tun. Vgl. ebd. S. 36–37. Zu planerischen Maßnahmen und Auseinandersetzungen im Falle von Bayer vgl. etwa Vorstandsitzung in Leverkusen am 18. April 1966, in: BAL 387/1 Vol. 8 Vorstandsprotokolle 20.10.1966–06.02.1968. Ebenso Vorstandsitzung in Leverkusen am 15. August 1967, in: BAL 387/1 Vol. 8 Vorstandsprotokolle 20.10.1966–06.02.1968. Vgl. Frank Uekötter, 2003, S. 404. Eine Gegendarstellung unter dem Gesichtspunkt von allmählicher Wahrnehmung und Politisierung bei Kai F. Hünemörder: Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise und die Formierung der deutschen Umweltpolitik (1950–1973), Stuttgart 2004, S. 154ff. Vgl. ebd. An anderer Stelle gibt Uekötter zu, dass es sich bei den geringen Erfolgen gegen Eingriffe in die natürliche Umwelt nur um regional begrenzte Phänomene in den 1950er und 1960er Jahren handelte. Für die hier betrachteten Regionen und Unternehmen gibt es dafür wenig valide Ergebnisse. Vgl. Frank Uekötter: Erfolglosigkeit als Dogma? Revisionistische Bemerkungen zum Umweltschutz zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der „ökologischen Wende“, in: Franz-Josef Brüggemeier / Jens Ivo Engels (Hg.): Natur- und Umweltschutz nach 1945. Konzepte, Konflikte, Kompetenzen, Frankfurt am Main 2005, S. 105–124, hier S. 106f.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
Hierzu muss an dieser Stelle auf die formale Situation des Wasserrechts hingewiesen werden, die aufgrund der Abwasserproblematik im hier zu analysierenden Zeitraum immer wieder eine Rolle für die betrachteten Unternehmen spielte.71 Auch hier gehe ich davon aus, dass die spärlichen gesetzlichen Regelungen leicht von der chemischen Industrie zu umgehen waren und die zuständigen Kontrollorgane nur halbherzig bei etwaigen Verstößen einschritten. Die pfadabhängige Handlungslogik der Unternehmen speiste sich auch hier aus der behaupteten Normalität verunreinigter Gewässer in Industriezentren sowie einer Selbstkontrolle und Selbstverwaltung der einleitenden Industriebetriebe. Ein zeitgenössischer Fachartikel unterstrich dies eindrücklich: „Mit der Forderung, dass ein Forellenbach keine Abwasserkloake oder ein hochbelasteter Vorfluter eines Industriezentrums ein Kinderplanschbecken werden soll, löst man keine Abwasserprobleme.“72 Stattdessen sah der Verfasser die Lösung einzig in den Anstrengungen der Privatwirtschaft, da „der Ruf nach dem Gesetzgeber, ein Ruf nach der falschen Seite“ sei.73 „Kein verantwortungsbewusster Industriebetrieb kann sich der Verpflichtung entziehen, in technisch möglicher und wirtschaftlich vertretbarer Weise zu reinigen. […] Die Bereitschaft und die rechtlichen Grundlagen für eine entscheidende Verbesserung der Abwasserverhältnisse sind vorhanden. Dazu bedarf es keiner neuen Gesetze. […] Die vordringliche Beseitigung der erkennbar gewordenen Schwerpunkte des Abwasserproblems hat nicht nur eine bessere Reinheit der Gewässer im Verhältnis der reineren Abwässer zur Folge, sondern wird durch die wieder wirksamer werdende Selbstreinigungskraft der Gewässer wesentlich erhöht.“74
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„Es ist nachvollziehbar, dass im Strom dieser – je nach Standpunkt – gefährlichen oder ungefährlichen, wertvollen oder wertlosen Ableitungen die industriellen Emissionen lange Zeit wenig beachtet mitschwammen. Und wenn sie Beachtung fanden, dann wurden in ihnen nur selten die Quelle neuer Gesundheitsgefahren gesehen, sondern man schreibt ihnen angesichts des stinkenden organischen Schmutzes – im Gegenteil – häufig und damit positive Wirkungen zu. […] Sollte es also gänzlich unnötig und geradezu kontraproduktiv sein, die Abwässer der chemischen Industrie aufwendigen Reinigungsprozessen zu unterziehen?“ Jürgen Büschenfeld: Das Abwasserproblem im Widerstreit der Interessen. Akteure, Konflikte und Lösungsmuster in der Phase der Hochindustrialisierung, in: Wiebke Bebermeier / Anna-Sarah Henning / Mathias Mutz (Hg.): Vom Wasser. Umweltgeschichtliche Perspektiven auf Konflikte, Risiken und Nutzungsformen, Deutsche Wasserhistorische Gesellschaft e.V. Graduiertenkolleg Interdisziplinäre Umweltgeschichte Göttingen, 2008, S. 17–49, hier S. 23–24. Beispielhaft für die Verschmutzung der Flüsse in industriellen Zentren vgl. Johann Paul: Die Abwassergeschichte der Sieg im Industriezeitalter. Bilanz eines Siegeszuges, Siegburg 1992. In Bezug auf kulturelle Einflüsse eines nachhaltigen „Gewässermanagements“ vgl. Erik Pasche / Katharina Jeorgakopulos: Wertewandel im Wasserbau: Kanalbau, Gewässerschutz und Kulturhaltung — die Hinwendung zu einem holistischen Gewässermanagement, in: Wiebke Bebermeier / Anna-Sarah Henning / Mathias Mutz (Hg.): Vom Wasser, 2008, S. 83–117. „Wasser – Woher, Wozu, Wohin?“, S. 363. In welchem Fachmagazin diese Studie erschien, ist nicht mehr rekonstruierbar. Es findet sich darauf jedoch ein handschriftlicher Vermerk des Sekretariat der Ingenieurabteilung vom 16. August 1954, wonach der Artikel an die AWALUKommission verteilt wurde, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1954–1956. Ebd. S. 365. Ebd. S. 366.
3.1 Legitime Kontinuität des Risikohandelns
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Bezüglich der Abwasserproblematik der großen Chemiewerke und des korrespondierenden gesetzlichen Gewässerschutzes verharrten die Unternehmen in alten Argumentationsschemata und Handlungsstrategien, die noch Mitte der 1960er Jahre rekonstruierbar sind und die Möglichkeit eines Ausgleichs zwischen Wirtschaftlichkeit und Risiken für die Gewässer negierten. Zwar registrierten die Chemiker und Ingenieure von Bayer und Henkel auch hier durchaus, dass das „Thema Reinhaltung von Wasser in unseren Tagen in den Vordergrund gerückt ist“ jedoch hob man gleichzeitig den drohenden Zeigefinger: „Der Rhein hat die großen Chemiewerke angezogen, weil sehr viele Chemiebetriebe wasserintensiv und deshalb auf einen leistungsfähigen Vorfluter angewiesen sind. Nachdem durch Wirtschaftswachstum, Bevölkerungsanstieg und höheren Lebensstandard die Belastung der Gewässer ein Übermaß erreicht hat und die Möglichkeit zur Einleitung von Abwässern beschnitten wird, ist dieser Standortvorteil der Chemieunternehmen am Rhein infrage gestellt.“75
Auch diese Ansichten sind in Pfadabhängigkeiten verwurzelt. Eine kurze rechtsgeschichtliche Betrachtung des Gewässerschutzes macht die Legitimität dieser Verhaltensstrategien deutlich: Das preußische Wassergesetz von 1914 war zwar den Bedingungen der jungen Industriegesellschaft angepasst, jedoch beinhaltete es ebenso einen Interpretationsspielraum, der zugunsten der „jeweiligen tatsächlichen Verhältnisse“, d.h. stets zugunsten der chemischen Industrie ausfiel76 und das Risikoverhalten auch in der Zeit nach 1945 unterstützte. Dieser Effekt wurde noch dadurch verstärkt, dass „die strafrechtliche Seite der Abwassereinleitung […] sehr wenig oder gar keinen Schutz bietet. […] Es ist keine Bestrafung durch den Gesetzgeber vorgesehen.“77 Innerhalb der gesamten 1950er Jahre kreiste die Diskussion um die Wasserwirtschaft und damit auch um die Reinhaltung der Gewässer – ähnlich wie im Falle der Luftverunreinigungen – um eine Selbstverwaltung der Wirtschaft. Erneut über die Interessensvertretungen des VCI und des BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie) plädierten die betrachteten Unternehmen für interne Lösungen und eine Mitbestimmung über zukünftige gesetzliche Eingriffe. Auf einer Sitzung des „Arbeitskreises Wasserwirtschaft der Chemischen Industrie Nordrheinwestfalen“ im Jahre 1953 notierte ein Abgesandter der Firma Henkel über ein Referat eines Bayer-Chemikers: „Er behandelte in der Hauptsache die Belange der Chemischen Industrie in Bezug auf das Abwasser in Verbindung mit den in Vorbereitung befindlichen neuen Wassergesetzen […]. Die sehr interessanten Ausführungen hatten insbesondere den Zweck, darauf hinzuweisen, daß die Industrie mit allen Mitteln versuchen müßte, die Auflagen abzuwenden, zu deren Tragung 75 76 77
Ausführungen von Direktor Dr. Heimsoeth zum Thema „Rheinhaltung von Wasser und Luft“ auf der Pressekonferenz am 24. Oktober 1965 in Dormagen, in: BAL 329/377 Direktionsabteilung, AWALU. Ebd. S. 49. Vgl. „Zivil- und strafrechtliche Seiten der Abwassereinleitung“, Vortrag von Dr. Dornheim, gehalten auf dem Wasserrechtskursus der Technischen Akademie Bergisches Land am 26. Januar 1955 in Wuppertal, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1954–1956. Hier wird ebenfalls deutlich, dass noch immer nach dem Preußischen Wassergesetz gewirtschaftet wurde, das erlaubte, Abwässer in die Vorfluter einzuleiten, jedoch nicht in der Lage war, die Gefährdung der Einleitegewässer eindeutig zu regeln.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel die Industrie alleine nicht in der Lage ist. Die Bestrebungen der Industrie müßten nach seiner Ansicht dahingehen, daß wirtschaftlich unmögliche Forderungen zurückgewiesen werden, und daß bei der Verteilung öffentlicher Mittel die Industrie auch unter dem Gesichtspunkt des Gemeinwohls entsprechend berücksichtigt würde.“78
Vorausgegangen waren Diskussionen auf Landesebene über die Frage, wie man dem Abwasserproblem beikommen könnte. Sowohl die Ansichten des Bayer-Chemikers Teller als auch das nachfolgende Zitat verdeutlichen jedoch, dass die Sorge der chemischen Industrie relativ unbegründet war und der institutionelle Kontext die Branche sehr wohl als Aufschwungsmotor ernst nahm. Dafür räumte der Ministerpräsident der Industrie im Allgemeinen ein legitimes Mitspracherecht in zukünftigen gesetzlichen Entscheidungsprozessen ein, wie das nachfolgende Protokoll der Arbeitsgemeinschaft Wasserwirtschaft zeigt. „Nachdem durch Beschluß des Kabinetts des Landes Nordrhein-Westfalen vom 18. März 1953 die Federführung auf dem Gebiet der Wasserwirtschaft dem Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten übertragen worden ist soll, wie Herr Ministerpräsident Arnold bei einer Besprechung mit Herren der Industrie am 6 Mai 1953 bestätigt hat, diesem als beratendes Gremium in wasserwirtschaftlichen Fragen ein Beirat zur Seite gestellt werden. […] Die Arbeitsgemeinschaft vertritt jedoch die Ansicht, daß bei der Bedeutung des Beirates für die Entscheidungen des Ministers […] in wasserwirtschaftlichen Fragen der Kreis seiner Mitglieder nicht unter 18 Personen betragen, wobei der Industrie wenigstens 6 Sitze einzuräumen sind. Um eine praktische, mit den Erfordernissen des Wirtschaflebens eng verbundene Arbeit des Beirates zu gewährleisten, wird es als nicht zweckmäßig angesehen […], nur reine Wissenschaftler (Hochschullehrer) in ihn aufzunehmen.“79
Sicherlich hatten die Gremien das Problem der Gewässerverunreinigung erkannt. Sie standen aber sogar den institutionell harmlosen Forderungen nach einer Verbesserung des Gewässerschutzes mit dem Argument einer nicht zu leistenden finanziellen Belastung gegenüber. Dies führte zu einem Übergewicht der Verbände und der chemischen Industrie mit dem Ergebnis, dass auf antizipierte gesetzliche Regelungen Einfluss genommen werden konnte und den von ihnen als notwendig erachteten Produktionsausdehnungen größtenteils nachgegeben wurde.80 So kamen sowohl die außerunternehmerischen institutionellen Stellen als auch die chemische Industrie ihren Pflichten nach, was die Unternehmen dazu brachte, ein Loblied auf die eigenen Leistungen auf dem Gebiet der Wasserreinhaltung zu sin78
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Schreiben des Henkel-Abgesandten Valentin an Dir. Schilbock betreffend Niederschrift über die Sitzung des „Arbeitskreises Wasserwirtschaft der Chemischen Industrie Nordrheinwestfalen“ am 26.5.1953 in Essen vom 28. Mai 1953, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 314, Akten Opderbecke, Abt. 501, Abwasserkontrolle. Niederschrift über die 2. Sitzung der Arbeitsgemeinschaft Wasserwirtschaft Nordrhein-Westfalen im Bundesverband der Deutschen Industrie am 23. Juni 1953 in Leverkusen, in: Konzernarchiv Henkel Einzelakte Umweltschutz, unverzeichnet. Allgemein dazu die im Konzernarchiv Henkel hervorragend dokumentierten Protokolle des Arbeitskreises Wasserwirtschaft des BDI in Zusammenarbeit mit dem VCI zwischen 1953 und 1960. Exemplarisch: Sitzung des Arbeitskreises Wasserwirtschaft NRW im Verband der Chemischen Industrie am 18. September 1958 in Essen sowie BDI-Sitzung des Arbeitskreises Wasserwirtschaft am 20. Mai 1957 in Essen, in: Konzernarchiv Henkel Einzelakte Umweltschutz, unverzeichnet.
3.1 Legitime Kontinuität des Risikohandelns
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gen. Auch scheint es, als habe die Industrie eine Erwartungshaltung entwickelt, wonach ihren Maßnahmen grundsätzlich Anerkennung gebühre, da sie „mit großen Mitteln Forschung zu treiben gedenkt. Im Arbeitskreis Wasser und Abwasser beim Bundesverband der Deutschen Industrie hat man […] sich mit der Organisation der verschiedenen Vereinigungen befasst, damit die von der Industrie zur Verfügung gestellten Mittel mit möglichst hohem Wirkungsgrad eingesetzt werden.“81 Ab der Mitte der 1950er Jahre aber wurde dann ein Wasserhaushaltsgesetz immer wahrscheinlicher: Die Vorarbeiten für eine wenig rigide gesetzgeberische Leistung waren geleistet; nichtsdestotrotz richtete sich die Wahrnehmung der Unternehmen weiterhin mit scharfem Blick in Richtung Bundeshauptstadt: „Die Möglichkeit für eine Verbesserung der Abwasserreinigung werden z.Zt. von den zuständigen Regierungsstellen in Bonn erörtert. Sie wollen dadurch eine Sicherung des Wasservorrates erreichen, der an sich sowohl für die Bevölkerung als auch für die Wirtschaft ausreicht, aber schon in wenigen Jahren ernsthaft gefährdet sein kann, wenn es nicht geling der zunehmenden Verschmutzung der Gewässer Einhalt zu gebieten.“82
Hausinterne Kritik an den Plänen zur Reinigung der Abwässer ließ etwa auf BayerSeite Ende der 1950er Jahre nicht lange auf sich warten: „Das Thema Abwässer wächst in Bonn langsam zu einer wirtschaftspolitischen Diskussion aus. Die Auffassungen sind recht unterschiedlich […] aber es wird in manchen wirtschaftspolitischen Kreisen der Bundeshauptstadt die Ansicht vertreten, daß […] der Industrie zugemutet werden könne, die Finanzierung der notwendigen Investitionen aus eigener Kraft bzw. über den Kapitalmarkt vorzunehmen. […] Während früher die Seuchenhygiene im Vordergrund aller Überlegungen gestanden hat, geht es heute um ein ökonomisches Problem.“83
Neben der fehlenden Bereitschaft für Neuinvestitionen sah man auch auf dem Gebiet der Abwässer ein Eingreifen des Staates als ganz und gar unbrauchbar an. Den Erlass des Wasserhaushaltsgesetztes konnte dies allerdings nicht verhindern. Mit dem Wasserhaushaltsgesetz (WHG) aus dem Jahre 1957 fand der Gewässerschutz mehr Beachtung in der bundesdeutschen Gesetzgebung. Sicherlich war das Gesetz fortschrittlich und ein weiterer Schritt, den Gewässerschutz und die industrielle Entwicklung aufeinander abzustimmen. Gleichzeitig darf vermutet werden, dass sich auch die Anstrengungen für eine industriefreundliche Legislative gelohnt hatten. Das WHG trat am 1. März 1960 in Kraft und wurde in Nordrhein-Westfalen 81 82
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Niederschrift über die 2. Sitzung der Arbeitsgemeinschaft Wasserwirtschaft Nordrhein-Westfalen im Bundesverband der Deutschen Industrie am 23. Juni 1953 in Leverkusen, in: Konzernarchiv Henkel Einzelakte Umweltschutz, unverzeichnet. Abschrift aus VWD Chemie Nr. 190 vom 02. Oktober 1959, verteilt an die Abwasser- und Abluftkommission des Werkes Leverkusen der Farbenfabriken Bayer Leverkusen AG, Schreiben von Dr. Teller an die AWALU-Kommission betreffend Abwässerproblem wird Thema wirtschaftspolitischer Diskussion vom 26. Oktober 1959, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1960–1961. Siehe hierzu auch den Hinweis des Chefingenieurs Rieß dass „wir im Vorstand einmal über diese Dinge sprechen müssen […].“ Vgl. Schreiben von Chefingenieur Rieß an den Vorstand der Farbenfabriken Bayer Leverkusen vom 14. Juli 1959, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1959–1960. Ähnlich bei Henkel in einer Auseinadersetzung mit der Stadt Düsseldorf. Vgl. Protokoll über die Postbesprechung vom 21. Januaer 1959, in Konzernarchivhenkel, 153/15 Postprotokolle. Ebd.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
durch das Landeswassergesetz vom 1. Juli 1962 ergänzt. Nutzung und Schutz der Gewässer sind in beiden Gesetzen aufeinander bezogen.84 Zudem wurde damit korrespondierend erstmals über eine Reinhalteverordnung nachgedacht; im hier betrachteten Zeitraum nimmt diese jedoch keine zentrale Stellung ein. In Bezug auf den Gewässerschutz wurde der Grundstein für eine dezentrale Ordnung gelegt, deren Einhaltung auf die Regierungspräsidenten delegiert wurde und sich damit von der Vorstellung entfernte, die Industrie sei die erste Ansprechpartnerin in Fragen des Gewässerschutzes. Entsprechend besorgt äußerte sich ein Vertreter der HenkelRechtsabteilung: „Diese für die Industrie außerordentlich gefährliche Delegation war keinem der Gesprächspartner bisher aufgefallen. Wir haben dafür votiert, dass nicht jeder Regierungspräsident einseitig die Industrie belastende Vorschriften treffen kann.“85 Im Kontext des WHG ist Wasser in seiner Funktion als Trink- und Brauchwasser ebenso wie als Lebensraum für Flora und Faune schützenswert. Weitere wichtige Regelungen zielen auf die Duldung der Überwachung von Werksabwässern durch die Behörden, die Haftung von Gewerbetreibenden für entstehende Schäden durch Abwassereinleitung in Gewässer sowie die Möglichkeit des Gesetzgebers, Reinhaltungsanordnungen zu erlassen.86 Von den strategisch arbeitenden Abteilungen in den Unternehmen wurde auch die Verabschiedung des WHG vorausgesehen. Natürlich ist auch hier eine kritische Haltung gegenüber dem gesetzlichen Eingreifen in althergebrachte Handlungsmuster festzustellen, wie bereits bei einer Postbesprechung der Firma Henkel im dem Jahre 1954 deutlich hervorgehoben wurde.87 Das WHG und die ihm vorausgehenden Überlegungen konnten zwar nicht verhindert werden, es bedurfte aber keiner großen Anstrengungen für die Unternehmen, auch hier den institutionellen Kontext auszuhebeln und Anlagen „auch ohne Konzession“ zu betreiben. Teilweise wurden die bundesgesetzlichen Regelungen unterlaufen, indem man sich auf die entsprechenden Landesgesetze berief.88 Ein solches 84
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Vgl. Gesetz zur Ordnung des Wasserhaushalts (Wasserhaushaltsgesetz) vom 27. Juli 1957, § 1a. Die genannten Gesetze wurden am 01. Oktober 1964 durch das Detergentiengesetz ergänzt. Darin wurde geregelt, dass Wasch- und Reinigungsmittel (waschaktive Substanzen) zu 80 % biologisch abbaubar sein müssen. Vgl. Gesetz über Detrgentien in Wasch- und Reinigungsmittel vom 05. September 1961, in: Bundesgesetzblatt 1653/Nr. 72, ausgegeben zu Bonn 12. September 1961. Dr. Erben / Juristische Abteilung an Dir. Schilbock betreffend Abwassergesetz NordrheinWestfalen vom 08. April 1959, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 314, Akten Opderbecke, Abt. 501, Abwasserkontrolle. Ebd. §§ 21,22,27. Vgl. das Protokoll über die Postbesprechung vom 05. Oktober 1954, in Konzernarchiv Henkel, 153/10 Postprotokolle. Auch finanzielle Anreize zur Verbesserungen der Wasserhaushaltssituation wurden skeptisch gesehen. Vgl. Protokoll über die Postbesprechung vom 18. November 1954, in Konzernarchiv Henkel, 153/11 Postprotokolle. Die Berufung auf das weniger rigide Landeswassergesetz des Landes NRW vom 01. Juli 1962 geht konform mit dem § 15 WHG – Alte Rechte und alte Befugnisse. „Eine Erlaubnis oder Bewilligung ist, so weit die Länder nichts anderes bestimmen, nicht erforderlich für Benutzung 1. auf Grund von Rechten, die nach den Landeswassergesetzen erteilt oder durch sie aufrecht erhalten wurde […] 3. auf Grund einer nach der Gewerbeordnung erteilten Anlagengenehmigung..“ WHG § 15 (1), (3). Schreiben von Chefingenieur Rieß an den Vorstand der Farbenfabriken Bayer Leverkusen vom
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Vorgehen lässt sich bereits im Vorfeld des WHG nachvollziehen, womit gleichzeitig ein Bild der Verhältnisse vor dem Gewässerschutzgesetz entsteht. Eine Auseinandersetzung der Firma Henkel mit der Stadt Düsseldorf etwa gibt Aufschluss erstens über die Abwasserverhältnisse des Werkes seit den späten 1940er Jahren, zweitens über das Verhältnis zu den Überwachungsbehörden: Das Kanal- und Wasserbauamt der Landeshauptstadt monierte im Hinblick auf das bevorstehende Inkrafttreten des WHG, dass es die „Firma in den Jahren 1949–1952 wiederholt schriftlich und mündlich auf die unzulässige Ableitung schädlicher Stoffe in das öffentliche Abwassernetz hingewiesen“ habe.89 Die Antwort von Henkel verweist auf die seit längerer Zeit bestehenden ernsthaften Bemühungen, die das Werk bis dato hinsichtlich der schlechten Abwassersituation unternommen habe. Sie betont aber auch „die Ertragskraft unseres Werkes für eine ganze Region“.90 Insgesamt haben wir es im Zusammenhang mit dem WHG als institutionellem Kontext der betrachteten Unternehmen mit einer ähnlichen Akzentuierung zu tun, wie dies auch bei der Immissionsschutzgesetzgebung der Fall gewesen ist: Die Verschmutzungen wurden sowohl vom institutionellen Kontext als auch von der chemischen Industrie erkannt, jedoch konnten die spärlichen gesetzlichen Regelungen die weitere Verschlechterung der Gewässerzustände nicht abfedern. Oder, anders formuliert: Die Unternehmen mussten nicht mit einer rigiden Umsetzung rechnen bzw. waren sich angesichts ihrer Erfahrungen der vorherigen Dekaden über den geringen formal-gesetzlichen Druck im Klaren. Wie auch bei den korrespondierenden Immissionsschutzgesetzgebungen wurden die bevorstehenden Reinhalteverordnungen im Kontext des WHG antizipiert. Die zuständigen Chemiker und Ingenieure bei den Farbenfabriken Bayer Leverkusen verfielen auch in Anbetracht des anstehenden Inkrafttretens des WHG nicht in Eile: „Bedingt durch die niedrigen Wasserstände im Rhein sind die Abwässer des Werkes an ihren Einleitungsstellen in den Strom deutlich sichtbar und die Schmutzstoffe im Rheinwasser ganz allgemein erhöht. In den letzten Wochen sind mehrmals von der Wasserschutzpolizei direkt in dem aufquellenden Abwasser des Auslasses […] Proben gezogen werden. Diese Proben wurden uns von der Aufsichtsbehörde […] zugesandt.“91 Noch 1959
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14. Juli 1959, S. 3, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1959– 1960. Genau genommen handelte es sich bei der Einleitung von Abwässern in die Flüsse um ein Gewohnheitsrecht, das durch das WHG bestätigt und unter Aufsicht gestellt wurde. Auf Grund der fehlenden Alternativen änderte sich jedoch nichts an den Abwasserverhältnissen. „Zurzeit hat das Werk Leverkusen keinerlei Rechte, das Abwasser einzuleiten. Ein Antrag zur Genehmigung ist zwar gestellt, ruht aber im Augenblick, da die Behörde erst einwandfrei neue Rechtsgrundlagen für die Erteilung einer derartigen Genehmigung abwarten will.“ 119. Kommissionssitzung der Abwasser- und Abluftkommission vom 02. November 1959, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1959–1960. Vgl. Schreiben der Landeshauptstadt Düsseldorf / Kanal- und Wasserbauamt betreffend Entwässerung des Werkgeländes an der Henkelstraße an die Firma Henkel & Cie., Düsseldorf vom 24. September 1958, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 314, Akten Opderbecke, Abt. 501, 510 ab 1950. Henkel & Cie. an Chemisch-biologisches Laboratorium, Amt 67 der Stadt Düsseldorf vom 22. Oktober 1958, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 314, Akten Opderbecke, Abt. 501, 510 ab 1950. 119. Kommissionssitzung der Abwasser- und Abluftkommission der Farbenfabriken Bayer Le-
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wurde also von Seiten des institutionellen Kontextes der Expertise des AbwasserEinleiters großes Gehör geschenkt. Nicht allein jedoch durch seine Teilnahme und Einbeziehung in solchen Analyse- und Entscheidungsverfahren sah sich das Unternehmen in einer exponierten Stellung. Die Verhältnisse waren aus seiner Sicht schlicht normal, weshalb sich die Verwalter des Wissens über Abwasserverhältnisse im Recht sahen und selbst Minimalforderungen als übertrieben zurückwiesen. Nicht zuletzt rekurrierte diese zugeschriebene Normalität auf die Vorstellung der Verantwortlichen, die natürlichen Wasserstandsverhältnisse, gegen die kein wie auch immer geartetes Gesetz Abhilfe schaffen könne, seien für das angerichtete Farbenspiel im Fluss verantwortlich. „Aufgrund des durch den Rheinwasserstand so auffälligen aber nicht ungewöhnlichen Zustandes der Abwassereinleitung durch das Werk verlangt die Aufsichtsbehörde in einem Schreiben die Benennung eines Verantwortlichen für die Abwasserverhältnisse des Werkes. Teller (Ein Chemiker der Abwasser- und Abluftkommission, T.J.) weist darauf hin, daß nach dem zurzeit geltenden Preußischen Wasserrecht kein derartiger Verantwortlicher vorgesehen ist; in dem neuen Wasserhaushaltgesetz […] ist ein solcher nur insofern vorgesehen, als ein Verantwortlicher nur im Rahmen eines Genehmigungsverfahrens mit benannt werden muß. Zurzeit hat das Werk Leverkusen keinerlei Rechte das Abwasser abzuleiten.“92
Das Unternehmen verwies – erneut Bezug nehmend auf die Eigenverantwortlichkeit der technischen Möglichkeiten und damit auch auf die Selbstverwaltung des Wissens über die Abwasserproblematik – auf eine unsachliche Einstellung des institutionellen Kontextes. Dies zeigte sich ebenfalls auf kommunaler Ebene im Kontext des WHG und der darüber entstanden Diskussion mit der Stadt Leverkusen.93 Einige verantwortliche Chemiker und Ingenieure von Bayer waren der Meinung, der Gesetzgeber werde nach dem Inkrafttreten des WHG Musterprozesse gegen Einleiter von Abwässern anstreben. Diese Befürchtungen wurden jedoch von der Mehrheit ihrer Kollegen nicht geteilt, „da der Gesetzgeber eine angemessene Übergangszeit zur Errichtung von Reinigungsanlagen geben muß, da sonst schlagartig hunderte von Betrieben und Gemeinden straffällig werden“ und damit freilich auch produktionsunfähig.94 Allgemein gesprochen regelte das WHG die Benutzung von Gewässern, die einer behördlichen Erlaubnis unterlag.95 Relevant für die chemische Industrie und ihre produktionsinduzierten Risiken ist dies insbesondere hinsichtlich des Einlei-
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verkusen vom 02. November 1959, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1959–1960. Ebd. Vgl. das Protokoll der Vorstandsitzung in Leverkusen am 02. Februar 1960, in: BAL 387/1 Vol. 5 Vorstandsprotokolle 19.04.1962–05.06.1963. Vgl. 119. Kommissionssitzung der Abwasser- und Abluftkommission der Farbenfabriken Bayer Leverkusen vom 02. November 1959, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasserund Abluft-Labor 1959–1960. Zudem müsse vom Gesetzgeber im „neuen Wasserhaushaltgesetz die Giftigkeit von Abwässern […] eindeutig definiert werden.“ Hierzu würden die Behörden ebenfalls die Expertisen der chemischen Industrie benötigen, weshalb eine „Zusammenstellung der bisher erfolgten biologischen Bestimmungen der Werksabwässer“ anzufertigen sei, ebd. Vgl. WHG § 2.
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tens von Abwässern in die Flüsse, die sich in den Anrainergebieten der Werke befinden. Moniert wurde von Seiten der Branche, dass diese Form der Benutzung nun gesetzlich geregelt wurde, was eine Beschneidung ihrer angestammten Rechte bedeutete: „Dieser Punkt beeinträchtigt in unzumutbarer Weise die private Wasserwirtschaft. Es erhebt sich die Frage, ob dieses Vorgehen […] rechtsstaatlich ist […]. Die zuständigen Wirtschaftsverbände sind also während der langjährigen Verhandlungen über die neuen Wassergesetzentwürfe zu diesem wirtschaftlich und rechtlich so bedeutsamen Punkt offenbar bewusst nicht angehört worden.“96 So gehe ich auch im Kontext der Gewässerverunreinigung durch produktionsinduzierte Risiken von pfadabhängigen Verhaltensweisen und einem tradierten Selbstverständnis im hier betrachteten Zeitraum aus, was sich in der Analyse und Darstellung der Risiken und des Umgangs mit ihnen im weiteren Verlauf des Kapitels bis Ende der 1960er Jahre zeigen wird. Sicherlich darf die Relevanz der privatwirtschaftlichen Haftungspflicht im Zuge des WHG nicht vernachlässigt werden. Jedoch finden sich in den betrachteten Unternehmen keine Hinweise auf ernsthafte Schadenersatzzahlungen, die durch die Einleitung von Abwässern entstanden sind.97 Im Gegenteil lassen sich vermehrt Verlautbarungen finden, die sich gegen legitime Reinhalteordnungen im Kontext des WHG richten. So wurde etwa zu Beginn der 1960er Jahre auch beim Gewässerschutz damit begonnen, sich dezidiert mit Grenz- und Richtwerten für die eingeleiteten Abwässer zu befassen. Auch hier lassen sich Aushandlungsprozesse herausarbeiten, die allerdings eher den Charakter von Mitbestimmungsprozessen zwischen Unternehmen und institutionellem Kontext hatten und die für den betrachteten Zeitraum bis zum Ende der 1960er Jahre ihre Gültigkeit behielten. Eine vertrauliche Gesprächsnotiz über eine Gutachterbesprechung bei den Farbenfabriken Bayer Leverkusen gibt hierüber weitere Aufschlüsse. „Bei dieser Besprechung sollte eine weitmögliche Übereinstimmung der von den Gutachtern bei den einzelnen Werken gegebenen Grenzwerte herbeigeführt und insbesondere geklärt werden, welche allgemeingültigen Grenzwerte für alle Einleiter am Rhein gefordert werden können. […] Von den Herren Gutachtern wurde einstimmig gesagt, daß Grenzwerte, die allgemeine Gültigkeit haben, nur in ganz beschränktem Umfang gegeben werden können. Ähnlich verhält es sich auch mit ‚Richtwerten‘, die ohne starr zu sein wenigstens größenordnungsmäßig aussagen sollen, welche Grenzen für den Gehalt an schädlichen Bestandteilen in Betracht kommen können. Bei der Festsetzung sowohl von Grenz- als auch von Richtwerten sind Toleranzen einkalkuliert. Die Grenzwerte ebenso wie die Richtwerte sind auf den Strom abzustimmen (z.B. säurehaltige Abwasser im alkalischen Vorfluter). Es ist auch nicht möglich, Grenzwerte für bestimmte Industriegruppen zu geben, da innerhalb dieser Industriegruppen auch wieder grundsätzlich 96
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Schreiben Dr. Strickstrock der Farbwerke Höchst AG an die AWALU-Kommission der Farbenfabriken Bayer Leverkusen betreffend Uko (Untersuchungskommission, T.J.) Wasser – Abwasser vom 19. Mai 1960, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1959–1960. Der einzige Hinweis, der sich finden ließ, war eine angestrebte, aber abgewiesene Klage der Landesanstalt für Fischerei gegen die Farbenfabriken Bayer Leverkusen aus dem Jahre 1962. Vgl. Auszug aus der Niederschrift über die TDC in Leverkusen am 22. Januar 1963, in BAL 329/377 Direktionsabteilung, AWALU.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel durch die verschiedenen Produktionsverfahren jeweils andere Abwasserzusammensetzungen zu erwarten sind. Es herrscht unter den Anwesenden Klarheit, daß man bei der Festsetzung von Grenzwerten und Richtwerten dem neuesten Stand der Klärtechnik, soweit dies wirtschaftlich vertretbar ist, Rechnung tragen muß. […] Die Richtwerte sind abhängig von […] der Menge des im Vorfluter vorhandene Wassers (Verdünnung). […] Das Vorgesagte gilt besonders auch für die Belastung mit radioaktiven Abwässern.“98
Dieses Besprechungsprotokoll lässt den Schluss zu, dass auch hier die formalen Institutionen für die Vertreter der chemischen Industrie verhandelbar waren. Hinsichtlich des Gewässerschutzes habe ich versucht, die formalen Institutionen aufzuzeigen, die das Verhalten der betrachteten Unternehmen zu steuern versuchten. Wie auch bei der Immissionsschutzgesetzgebung partizipierten die Unternehmen in ihrem eigenen Interesse bei Verhandlungen über den Gewässerschutz, was durch die Ausführungsorgane ebenfalls aus einer tradierten Handlungslogik heraus in Kauf genommen wurde. Folglich mussten die Unternehmen ihr Verhalten bezüglich der von ihnen produzierten Risiken für die Umgebung auf Basis geringer Einschränkungen nur sehr graduell modifizieren. Die konservative Haltung auch auf Seiten des Gesetzgebers lässt sich am so genannten ‚Gesetz zur Reinhaltung der Bundeswasserstraßen‘ aus dem Jahre 1960 abermals verdeutlichen.99 Die ersten Überlegungen hierzu stammen aus dem Jahre 1956 und gingen Hand in Hand mit einem Sanierungsplan für den Rheinstrom. Erste Ergebnisse dieses Sanierungsplanes wurden von der zuständigen Wasserund Schifffahrtsdirektion Duisburg gegenüber den Farbenfabriken Bayer Leverkusen kommuniziert und zeigten, „daß damit ein erster Schritt für die Reinhaltung des Stromes getan wurde, daß aber die Zunahme der Produktionen […] die 98
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Auszugsweise Niederschrift (vertraulich) über eine bei der Wasser- und Schiffahrtsdirektion Duisburg am 05. Juli 1960 stattgefundenen Gutachterbesprechung über Reinhalteordnungen für die AWALU-Kommission, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und AbluftLabor 1959–1960. Auch die Vergleiche der Schadstofffrachten der Abwässer mit den flexiblen Grenzwerten sind aufgrund unterschiedlicher Berechnungsverfahren schwer nachzuvollziehen. Wo dies möglich ist, wird gleichwohl deutlich, dass ein Jahr zuvor die Grenzwerte insbesondere bei dem ph-Wert, bei den gelösten Stoffen im Werksabwasser sowie bei Sulfaten und bei Cyanid oft mehrmals monatlich überschritten wurden. Vgl. exemplarisch den Jahresbericht des Abwasserlabors 1959 der Farbenfabriken Bayer Leverkusen für das Werk Dormagen, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1959–1960. Hintergrund dieser Diskussion ist die seit 1950 bestehende „Kommission für den Schutz des Rheins gegen Verunreinigung“, die von den Rheinanliegerstatten ins Leben gerufen wurde. Vgl. Paul-Martin Schulz: Reinhaltung des Rheins durch den Rechtsschutz Betroffener, Bonn 1990, S. 13. Es ging der Kommission in erster Linie zunächst darum, den Verschmutzungsgrad überhaupt festzustellen. Direkte Maßnahmen erfolgten hiergegen zunächst nicht, da die Kommission keine Entscheidungsbefugnis und nur institutionellen Charakter besaß, da sich die beteiligten Regierungen nicht auf materielle Verpflichtungen einigen konnten. Vgl. ebd. S. 15. Eine Rechtsgrundlage zur Sauberhaltung des Rheins wurde von den Beteiligten erst 1963 unterzeichnet und trat 1965 in Kraft. Aber auch diese kam erst in den 1970er Jahren zur Geltung. Vgl. ebd. S. 15f. Aufgrund ihrer wenig einflussreichen Rolle gehörten die Kommission und ihre Ziele nicht zu dem wahrnehmungsrelevanten institutionellen Kontext der Unternehmen. Vgl. Gesetz zur Reinhaltung der Bundeswasserstraßen vom 17. August 1960, in: Bundesgesetzblatt II, S. 2125
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Bemühungen wieder wettmachen, so daß von einer Verbesserung der Verhältnisse nicht gesprochen werden kann.“100 Aus diesen Gründen wurde ein zweiter Anlauf unternommen und ein neuer Sanierungsplan für die Zeit von 1961 bis 1965 ins Auge gefasst, um geordnete Wasserverhältnisse wiederherzustellen. Unter anderem Bayer wurde als „einer der Verschmutzer des Rheinstroms“ darum gebeten, einen Fünfjahresplan zu entwickeln, aus dem ersichtlich werden sollte, auf welche Weise das Unternehmen gedenke, seine Abwasserverhältnisse unter Berücksichtigung des technisch Möglichen und des wirtschaftlich Tragbaren in Ordnung zu bringen.101 In der Folge musste es hierzu jedoch gar nicht mehr kommen, da das junge Gesetz aufgrund einer Verfassungsklage unter anderem des Landes Nordrhein Westfalen als verfassungswidrig galt und damit 1962 zu Gunsten der chemischen Industrie von der Bühne des Gewässerschutzes verschwand.102 Dieser kurze, aber für die betrachteten Unternehmen erfolgreiche Aushandlungsprozess zeigt abermals, dass die Zunahme der Produktion auch im Interesse der Akteure des institutionellen Kontextes lag. Ebenfalls wird hier sehr deutlich, dass sich die Verhältnisse in den Flüssen und damit in einem Teil der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt der Menschen gar nicht verbessern konnten: Jede Anstrengung des Gewässerschutzes wurde von der stetig ausgeweiteten Produktion weggespült; selbst die technischen Anstrengungen auf dem Gebiet der Klärtechnik konnten die ansteigenden Abwassermengen und ihre unterschiedlichsten Zusammensetzungen nicht kompensieren. Wie bei der formalen Immissionsschutzgesetzgebung änderte sich während der 1960er Jahre auch in der Abwassergesetzgebung wenig aus der Perspektive der Unternehmen und bezüglich der daraus resultierenden Beeinflussung im innerunternehmerischen institutionellen Arrangement. Ich habe einige Verschärfungen des formalen Gewässerschutzes aufgezeigt, die mögliche zivil- und strafrechtliche Folgen für den Gewerbetreibenden oder den verantwortlichen Mitarbeiter haben konnten.103 Die Argumentation der Unternehmen ist jedoch nach außen wie nach Innen (d.h. etwa auf Informationsveranstaltungen für verantwortliche Angestellte) ebenfalls weitgehend als pfadabhängiges, handlungsbezogenes Selbstverständnis zu bewerten. Nach wie vor wurde die „immer größere Bedeutung der Reinhaltung des Wassers“ betont und die völlig ausreichenden, wenn nicht schon zu sehr ausgedehnten gesetzlichen Regelungen herausgestellt.104 So empfahl der Chef-Jurist der Firma Henkel auf einer Betriebskonferenz im Jahre 1967 zuversichtlich, es genüge nicht, sich „allein auf die freundschaftliche Erörterung mit den Herren des Gewerbeaufsichtsamtes zu verlassen, sondern zunächst alle betriebsinternen Quellen 100 Vgl. Wasser- und Schifffahrtsdirektion Duisburg an Farbenfabriken Bayer Leverkusen AG betreffend Sanierungsplan Rhein / Gesetz zur Reinhaltung der Bundeswasserstraßen vom 28. März 1961, in: BAL 329/377 Direktionsabteilung, AWALU. 101 Vgl. ebd. 102 Zum Urteil vgl. URL. http://www.bgbl.de/Xaver/text.xav?bk=Bundesanzeiger_BGBl&start =%2F%2F*[%40attr_id%3D%27bgbl262s2172.pdf%27]&wc=1&skin=WC (07.07.2012). 103 Vgl. beispielhaft „Rechtliche Fragen zur Reinhaltung von Wasser und Luft und zur Haftung von betrieblichen Vorgesetzten“, Referat von Dr. Erben auf der Betriebskonferenz am 4. April 1967, in: Konzernarchiv Henkel E 20 Juristische Abteilung. 104 Vgl. ebd.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
auszuschöpfen.“105 Aus juristischer Sachkenntnis heraus wird damit noch einmal die freundschaftliche Bande zwischen dem mittleren und gehobenen Management und den zuständigen Behörden aufgezeigt. Die eigene, innere Problemlösungsfähigkeit wurde demnach durch das gute Verhältnis des Unternehmens zum zuständigen Gewerbeaufsichtsamt unterstützt und dies auch gegenüber den Anwesenden artikuliert sowie abermals als tradierte Handlungsstrategie hinsichtlich der Verbindung der eigenen Risikoproduktion und der Verbindung zu den Aufsichtsbehörden ins Gedächtnis gerufen. In Richtung des Unternehmensinnern – insbesondere an die Produktionsbetriebe bei Henkel – erging sodann der offenbar immer noch notwendige Appell: „[…] in Gewässer darf man feste Stoffe überhaupt nicht einbringen, Flüssigkeiten dürfen in Gewässer nur mit Genehmigung eingeleitet werden […]. Die Einhaltung von Bedingungen und Auflagen in den wasserrechtlichen Bescheiden kann durch Verwaltungszwang erreicht werden. […] Wird trotzdem die Auflage nicht erfüllt, gibt es die Möglichkeit der Verhängung von Bußen nach dem Gesetz. In schwerwiegenden Fällen ist aber auch eine strafrechtliche Verfolgung möglich. […] Es wird angeregt, den Betriebsleitern eine Zusammenstellung aller diesbezüglichen Gesetze und Verordnungen an die Hand zu geben. […] Es wird daher bei auftretenden Fragen immer ein enger Kontakt mit dem jeweiligen Vorgesetzten notwendig sein. Der Betriebsleiter trägt grundsätzlich die Verantwortung dafür, daß genehmigungsbedürftige Anlagen seines Bereichs genehmigt sind, es sei denn, dies liegt nicht in seiner Kompetenz, sondern wie in unserem Fall bei der Ingenieur-Abteilung.“106
Diese juristische Expertise über das Verhältnis des Unternehmens zu seinem institutionellen Kontext spiegelt das Selbstverständnis des Unternehmens am Ende der 1960er Jahre wider. Auf der einen Seite war man sich der Problematik des produktionsinduzierten Abwasserrisikos durchaus bewusst. Der institutionelle Kontext war jedoch von einem unternehmensfreundlichen Milieu geprägt, das sich von Seiten der Industrie ständig dem Vorwurf ausgesetzt sah, wirklichkeitsfremd zu sein.107 Zwei Jahrzehnte nach der erneuten Produktionsausweitung infolge des Zweiten Weltkrieges mussten immer noch Hinweise ergehen, sich auf die Abwasserproblematik zu besinnen. Dies bestätigt die These pfadabhängiger Verhaltensmuster sowohl beim mittleren und gehobenen Management wie auch auf der Ebene des operativen Tagesgeschäftes. Selbst wenn kontrolliert oder unkontrolliert Schäden an der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt durch Abwasser entstanden, so schwang immer noch die Annahme einer gewissen Normalität solcher Un- und Störfälle oder allgemeiner produktionsinduzierter Risiken einer Gewässerverschmutzung mit. Ich habe bis zu diesem Punkt den wahrnehmungsrelevanten formal institutionellen Kontext aus der Perspektive der betrachteten Unternehmen aufgezeigt, wobei auch wiederholt die normativen und kulturellen Dimensionen dieser formalen 105 Vgl. ebd. 106 Ebd. 107 Exemplarisch 147. Kommissionssitzung der Abwasser- und Abluftkommission der Farbenfabriken Bayer Leverkusen vom 21. Februar 1961, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1961–1962.
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Immissions- und Gewässerschutzgesetzgebung ersichtlich wurden. Die Unternehmen folgten alten und ebenfalls legitimen Handlungslogiken, indem sie nicht die Prämisse von Aushandlungen sondern vielmehr jene von Mitbestimmung bei der Veränderung des formalen institutionellen Kontextes zugrunde legten. Der institutionelle Kontext unterstützte diese Vorgehensweise, da auch er alten Handlungslogiken zugunsten der chemischen Industrie folgte und es an jenen Stellen, wo ein Einschreiten als wünschenswert gesehen wurde, aufgrund der unzureichenden oder fehlenden Gesetzgebungen schlicht an Durchsetzungsmacht mangelte. Dies evozierte eine Macht- und Deutungshoheit der chemischen Industrie über produktionsinduzierte Risiken; damit verband sich zugleich die Einsicht von Normalität chemischer Risikoproduktion durch das organisationale Feld. In den Werksumgebungen war die Gefahrenzuschreibung gegenüber der chemischen Industrie nicht ausgeprägt, da das kollektive Gedächtnis der Menschen um die Werke herum diese Normalität von jeher kannte. Demzufolge waren sie wenig protest- und partizipationsbereit, und dies scheint aus kulturhistorischer Perspektive für den hier betrachteten Zeitraum auch auf der Ebene der gesamten bundesdeutschen Gesellschaft zu gelten. Ganz allgemein kann festgestellt werden, dass das Entfliehen aus der NachkriegsMangelgesellschaft und der Aufstieg in eine eher unpolitische Konsumgesellschaft gegenüber anderen Strömungen die eindeutige Priorität besaßen.108 3.1.2 Macht- und Deutungshoheit der Unternehmen in einem nicht partizipationsbereiten organisationalen Feld: Das Beispiel der Nachbarschaft von Bayer und Henkel sowie der Gewerbeaufsichtsämter Im Jahre 1964 kam der VCI empört zu der folgenden Einschätzung: „Tageszeitungen, Funk und Fernsehen befassen sich in zunehmendem Maße mit Fragen der Luft- und Gewässerverunreinigung, wobei fast ausnahmslos die Industrie als alleiniger Verursacher des Übels hingestellt wird. Diese einseitige Darstellung ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß es die Industrie in der zurückliegenden Zeit meist unterlassen hat, verzerrt wiedergegebene Sachverhalte richtigzustellen bzw. die Öffentlichkeit über die nach dem gegenwärtigen Stand der Technik oft noch unüberbrückbaren Schwierigkeiten bei der Lösung von Immissionsschutz-Problemen zu unterrichten. […] Es wurde deshalb beschlossen, über Presse und gegebenenfalls auch über Funk und Fernsehen für die notwendige Aufklärung zu sorgen.“109
Es wird in diesem Teilkapitel um die Frage gehen, ob Bayer und Henkel wirklich dermaßen unter Druck der Öffentlichkeit gerieten, wie dies vom VCI stellvertretend vermutet wurde, oder ob der Verband einem Irrglauben anheimfiel und der tradierte 108 Vgl. Axel Schildt / Detlef Siegfried, S. 181ff. Ebenfalls zur Epochenschwelle der 1950er Jahr vgl. Christian Pfister (Hg.), Das 1950er Syndrom. Der Weg in die Konsumgesellschaft, Bern 1995. 109 Rundschreiben Nr. 2/64 des VCI vom 16. Februar 1964, in: Konzernarchiv Henkel unverzeichnete Akte, Verband der chemischen Industrie Ersatzteillager Chemie- und Braunkohleindustrie Beseitigung von Abfallstoffen Reinhaltung der Luft.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
Industriezweig keineswegs auf voller Front angefeindet wurde, sondern vielmehr pfadabhängige Verhaltensmuster immer wieder aufs neue aktivieren konnte, um einer Anfeindung zu entgehen bzw. sie gar nicht aufkommen zu lassen. Sah also der Verband etwa in diesem zaghaften Hinweis und dem bloßen Erkennen der Verhältnisse bereits die Autorität der chemischen Industrie untergraben? Mit anderen Worten: Ich werde der Frage auf den Grund gehen, ob im Zeitraum vom Beginn der 1950er bis in die ausgehenden 1960er Jahre dem Gewicht des organisationalen Feldes und damit dem Druck der kulturellen Rahmung der Unternehmen wirklich eine verhaltensverändernde Rolle zugesprochen werden darf. Organisationale Felder – oder allgemeiner: die kulturelle Rahmung von Unternehmen – bringen in einem Wechselspiel mit dem institutionellen Kontext Sinnmuster hervor, die von den Unternehmen ebenso wie von ihrem institutionellen Kontext wahrgenommen und reflektiert werden. Themenbezogene Aushandlungsprozesse über ein wünschenswertes und angemessenes Wirtschaften oder das allgemeine Verhalten von Unternehmen sind die Folge. Dabei sind die Feldakteure stets kontextabhängig, und ihre Zusammensetzung ändert sich dynamisch, womit auch die Rolle bzw. die Rollenzuschreibung an das Unternehmen durch das Feld in der Zeit differiert. In diesem Zusammenhang wird das Feld vor allem auf seine Technikfolgenabschätzungen wie auch nach den Aspekten seiner sozialen Konstruktion von Technik befragt werden müssen.110 Noch wichtiger erscheint mir aber das Wechselspiel zwischen diesen Zuschreibungen an die Technik und dem damit verknüpften Fortschritts- und Modernisierungsglauben in den 1950er und 1960er Jahren111 gemeinsam mit den Deutungen des Mensch-Umwelt-Verhältnisses und der chemischen Industrie. Dies lässt sich exemplarisch anhand einer Firmenbildstudie im Auftrag der Firma Henkel Ende 1965 zeigen, welche auf Bundesebene die Einstellung der Befragten zur chemischen Industrie im Vergleich zur Elektro- und Waschmittelindustrie wiedergibt. Spitzenwerte erhielt die chemische Industrie bei den Fragen „betreibt die meiste wissenschaftliche Forschung“, „stellt Produkte her, denen man vertrauen kann“, „erprobt erst gründlich ihre Produkte, bevor sie auf den Markt kommen“, „ist am Modernsten ausgestattet“; Fragen nach Gefahrenzuschreibungen wurden indes nicht gestellt.112 Damit erhielt die chemische Industrie hinsichtlich der ihr zuteil gewordenen Sinnzuschreibungen in dieser Epoche eine gewisse Exklusivität. So entwirft etwa Michael Kloepfer eine Phaseneinteilung der gesellschaftlichen Sinnzuschreibungen gegenüber Umweltfragen und -risiken nach dem Zweiten Weltkrieg:113 Die erste Phase markiert er zwischen 1945 und der Gründung der Bundesrepublik 1949. Die sozialen und politischen Folgen hätten den Schutz der Natur oder anderer natürlicher Lebensgrundlagen in dieser Zeit in Vergessen110 Vgl. Wolfgang König, S. 76–84. 111 Vgl. ebd. S. 101f. 112 Vgl. Firmenbildstudie im Auftrag der Firma Henkel & Cie, durchgeführt von infratest im Oktober 1965 bei der Bevölkerung ab 14 Jahren im Bundesgebiet und in West-Berlin, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnet, ohne Bestandsangabe, Einzeldokument. 113 Vgl. Michael Kloepfer: Umweltrechtsentwicklungen in Deutschland nach 1945, in: Ders. (Hg.): Schübe des Umweltbewußtseins und der Umweltrechtsentwicklung, Bonn 1995, S. 91– 131.
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heit geraten lassen; eine Fortentwicklung bestehender Regelungen zum Schutz der Natur und das damit einhergehende gesellschaftliche Verständnis seien ausgeblieben. Es habe hierfür an politischen Ressourcen gefehlt, da ihre Kapazitäten zum Wiederaufbau benötigt wurden.114 In die zweite Phase teilt Kloepfer die Jahre von 1949 bis 1960 ein und konstatiert eine Manifestierung des Wiederaufbaus, was gleichzeitig in wenig bedeutsamen Sinnzuschreibungen einer schützenswerten Natur gemündet habe.115 Auch in der dritten Zeitperiode von 1960 bis 1969 kann er nur einen spärlichen Nährboden für ein allgemeines Umweltbewusstsein erkennen.116 Ich möchte wegen ihres kulturtheoretischen Herangehens der Studie neueren Datums von Jens Ivo Engels in der Beschreibung der kulturellen Rahmung der betrachteten Unternehmen folgen: Engels fasst die drei von Koepfer beschriebenen Phasen pragmatisch zusammen und spricht von einem Erbe der Jahrhundertwende, wenn er die diesbezüglichen Sinnorientierungen der westdeutschen Gesellschaft der 1950er und 1960er Jahre an eine „vorökologische Zeit“ angeknüpft sieht.117 Personale Natur- und Umweltschutz-Netzwerke etwa blieben ihren angestammten Aufgabengebieten wie der Denkmalpflege oder der Pflege des Landschaftsbildes treu.118 Eine verinnerlichte Staatstreue und eine gleich bleibende Akteursgeneration scheinen denn auch dafür verantwortlich gewesen zu sein, dass es aufgrund alter Sinnstrukturen nicht auf breiter Front zu Anfeindungen gegen die chemische Industrie kam. Anders gedeutet: Die Naturschutzorganisationen wussten um ihre geringen Erfolgschancen gegenüber dem mächtigen Industriezweig. Zwar konstatiert Engels, die Naturschützer der alten Garde seien sich über das, was die ab114 115 116 117
Vgl. ebd. S. 91–92. Vgl. ebd. S. 97. Vgl. ebd. S. 98. Vgl. Jens Ivo Engels: Naturpolitik in der Bundesrepublik. Ideenwelt und politische Verhaltensstile in Naturschutz und Umweltbewegung 1950–1980, Paderborn 2006, S. 35. „An dieser Konstellation hat sich nach 1945 kaum etwas geändert.“ Willi Oberkrome: Kontinuität und Wandel im deutschen Naturschutz 1930–1979: Bemerkungen und These, in Franz-Josef Brüggemeier / Jens Ivo Engels (Hg.): Natur- und Umweltschutz nach 1945. Konzepte, Konflikte, Kompetenzen, Frankfurt am Main / New York 2005, S. 23–38, hier S. 35. Ebenso Gerhard de Haan / Udo Kuckartz: Umweltbewusstsein. Denken und Handeln in Umweltkrisen, Opladen 1996, S. 20ff. Kritisch hierzu die Dissertation von Frank Uekötter. Er sieht in den 1950er Jahren durchaus eine veränderte Mentalität zu Umweltfragen und konstatiert, wäre man wie im Kaiserreich weiter verfahren, dann wäre es noch zu viel schlimmeren Verunreinigungen der Luft gekommen. Uekötter sieht in seiner sehr umfangreichen Studie jedoch keine Veranlassung, die einzelnen Akteursgruppen und ihre Sinnzuschreibungen wie auch Machtpotenziale gegenüberzustellen. Sicherlich gab es seit den frühen 1950er Jahren in der Öffentlichkeit Proteste gegen die Industrie, doch verhallten diese an undurchlässigen und auf Selbstverwaltung getrimmten Werksmauern und einer allgemeinen Uneinsichtigkeit und Überforderung sowie der Industrie. So kann er auch nur feststellen, dass sich die Verhältnisse sicher hätten schlechter entwickeln können, von einer radikalen Wende in Umweltfragen blieben die Akteure jedoch weit entfernt. Vgl. Frank Uekötter, 2003, S. 403ff. 118 Vgl. Jens Ivo Engels: Von der Heimat-Connection zur Fraktion der Ökopolemiker. Personale Netzwerke und politische Verhaltensstile im westdeutschen Naturschutz, in: Arne Karsten (Hg.): Nützliche Netzwerke und korrupte Seilschaften, Göttingen 2006, S. 18–45, hier S. 23ff. (im Folgenden: Jens Ivo Engels, 2006a)
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lehnten, einig gewesen – nämlich die technische und industrielle Moderne119 –; er kommt aber gleichzeitig zu dem Schluss, dass zeitgenössische Modernisierungsströmungen stärker gewesen seien als der Wunsch nach unbeschadeten Industriezentren. Dem technischen Umweltschutz sei daher in den 1950er und den 1960er Jahren eine politische und gesellschaftliche Karriere verwehrt geblieben.120 Diese konservative Haltung gegenüber Unternehmen veränderte sich erst mit einem Gemeinplatz der Umweltpolitik und der „ökologischen Wende“ zu Beginn der 1970er Jahre, wobei Rufe nach dem Verursacherprinzip, Emissionslimitierungen und sorgfältigen Grenzwertkontrollen laut wurden.121 Baut man nun von diesen kurz skizzierten Forschungsergebnissen der Technik-, Kultur- und Umweltgeschichte eine Brücke zur Unternehmensgeschichte im kulturellen Paradigma, so lässt sich gleichfalls nachvollziehen, warum der von Bundeskanzler Willy Brandt verkündete Slogan aus dem Jahre 1961, es müsse wieder einen „blauen Himmel über der Ruhr“ geben, nur auf geringe Akzeptanz stieß.122 Wie mehrfach angedeutet wurde, hatte die Industrie im Allgemeinen ihre Vorkriegs-Produktionszahlen übertroffen. Investitionen in fortschrittliche Filtertechnik o.ä. galten als ortsunüblicher Luxus, oder ihre Wirkungen konnten die Folgen der Produktionszuwächse nicht kompensieren: „Darüber hinaus besteht aber der Eindruck, daß die Steigerung der Produktion auch zu einem höheren Abgasanfall – und damit Abgasausstoß – führt, der keineswegs immer durch Reinigungsanlagen in den Betrieben kompensiert wird.“123 Die rauchenden Schornsteine waren auch in den Sinnzuschreibungen des organisationalen Feldes gegenüber den Unternehmen ein Prosperitäts-Indikator gewesen.124 Dieses tradierte Gefüge eines Mensch-Umwelt-Unternehmensverhältnisses scheint mitverantwortlich für die schlechten Bedingungen der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt in der Werksperipherie gewesen zu sein, da alle Dimensionen des institutionellen Kontextes sowie die Sinn- oder Gefahrenzuschreibungen der kulturellen Rahmung mit dem innerbetrieblichen Alltag weitgehend in Einklang standen. Ingesamt hatte sich eine nahezu unreflektierte „Technisierung des Alltags“ herausgebildet, die den widrigen Immissions- und Abwasserbedingungen 119 Vgl. Jens Ivo Engels, 2006, S. 37. Dass diesen Kreisen nur wenig Aufmerksam zuteil wurde, dürfte auch damit zusammenhängen, dass ihnen eine Nähe zur NS-Ideologie unterstellt wurde. Vgl. ebd. S. 48f. 120 Vgl. ebd. S. 36. Ähnlich Frank Uekötter: Naturschutz im Aufbruch. Eine Geschichte des Naturschutzes in Nordrhein-Westfalen 1945–1980, Frankfurt am Main / New York 2008. 121 Vgl. Willi Oberkrome, S. 37. 122 Vgl. Michael Kloepfer, S. 98. 123 Schreiben des AWALU-Laboratoriums an Chefingenieur Rieß vom 12. Juli 1960, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1961–1962. Und noch im Jahr 1965 hieß es aufgrund wiederholter Chlorausbrüche: „Leider sind auch nach dem Einbau der neuen Absorptionsanlage […] die Beschwerden über Belästigungen […] nicht verstummt. Die Angelegenheit ist […] bedenklich.“ Schreiben der Ingenieurabteilung an das Abwasser- und Abluftlabor betreffend Chlorausbrüche und Chlorbeseitigung vom 28. April 1965, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1964–1967. 124 Vgl. Konferenz der Henkel-Umweltschutzbeauftragten am 04. Juni 1971, „Umweltschutz – eine internationale Aufgabe“, Referat von Dr. P. Behrt, S 5, in: Konzernarchiv Henkel: Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Umweltschutz-Kommission/Konferenzen.
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Vorschub leistete. Mit Christian Kleinschmidt gehe ich davon aus, dass der Begriff der ‚Technisierung‘ die traditionelle Vorstellung einer Trennung zwischen Technik und Gesellschaft überwunden hatte und es in der jungen Bundesrepublik eine Verzahnung zwischen Technik, Alltag und konsumgesellschaftlicher Entwicklung gab.125 Dies habe ich bereits anhand der Verhandlungen mit dem institutionellen Kontext bezüglich dem Verweis auf den Stand der Technik aufgezeigt: Der Stand der Technik wurde von der emittierenden Industrie vorgegeben und vom formalinstitutionellen Kontext als ausreichend deklariert. Die Verzahnung und die abgeleiteten Sinnzuschreibungen aus dem Verhältnis zwischen Mensch, (natürlicher) Umwelt und Unternehmen sehe ich noch aus einem weiteren Grund als maßgebliche kulturelle Rahmung im hier betrachteten Zeitraum: Das von Jens Ivo Engels beschriebene Fortbestehen eines „vorökologischen Zeitalters der 1950er und 1960er Jahre“, in dem die Ideenwelten der äußeren Anspruchsgruppen der Industrie – wenn überhaupt – an jene eines aus dem Kaiserreich tradierten Naturschutzes anknüpften, macht ebenfalls deutlich, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg einzig um den Wiederaufbau und neuerlichen Wohlstand ging. Eben dieser Wohlstand wurde in nicht unerheblichem Umfang von der chemischen Industrie generiert, die weiterhin dem nie erloschenen paternalistischen Modell des Unternehmenshandelns respektive jenem des Unternehmens als Patriarch folgte. Dieses Modell erfuhr eine gesellschaftliche Renaissance und fand seine ordnungs- und gesellschaftliche Einbettung im Konzept der „Sozialen Marktwirtschaft“.126 Im Hinblick auf die Frage nach den Handlungslogiken eines Unternehmens im erweiterten kulturellen Paradigma verweist dieses Modell auf den Habitus oder das Selbstverständnis des Unternehmens und auf die Frage nach der Art und Weise, wie Gesellschaft bzw. das Verhältnis von Unternehmen und Gesellschaft zu organisieren sei. Bezogen auf das Verhalten der betrachteten Unternehmen in ihrem Umgang mit produktionsinduzierten Risiken impliziert dies, dass externe Anspruchsgruppen gegenüber dem ‚Herr im Feld‘ keine Forderungen zu stellen hatten und das Handeln des Unternehmens nicht anzuzweifeln war. Die Verwaltung chemisch-technischen Wissens unterlag Experten der chemischen Industrie ebenso wie die Deutung über Gefahrenpotenziale, die sich aus der Risikoproduktion ergaben. Das alles war für das organisationale Feld als gegeben hinzunehmen bzw. das organisationale Feld hatte auf interne Lösung der Unternehmen zu vertrauen. Die Legitimation und die normativ wünschenswerten Verhaltensweisen des Unternehmens ergaben sich aus seiner reinen Existenz und seiner Funktion als Behüter und Schöpfer des wirtschaftlichen Wohlstandes. Damit konnten die Unternehmen mit einem hohen Grad an Akzeptanz rechnen, und die unverhofften Reichtümer des wirtschaftlichen Booms, der sich seit den 1950er Jahren einstellte, brachten vor allem eins: Integration.127 Diese Integration im Sinne eines Aufbaus 125 Vgl. Christian Kleinschmidt, 2007, S. 60. 126 Zur These des weitergeführten paternalistischen Modells vgl. Clemens Wischermann, 2003, S 28. 127 Zur These der Integration und damit der fehlenden Notwendigkeit, einen Ausgleich zwischen Ökonomie und Ökologie auszuhandeln vgl. Jens Ivo Engels, 2006, S. 43. In der vorliegenden Arbeit ist Integration beobachterabhängig und meint ganz allgemein den Aufbau sozialer Ord-
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und einer Weiterführung sozialer Ordnung durch die betrachteten Unternehmen als gesellschaftliche Akteure ging gleichsam mit der Deutungshoheit über unvermeidbare Risiken und hinzunehmende bzw. selbstverständliche Un- und Störfälle einher. Dies wurde von Seiten der Unternehmen, wie bereits im vorangegangenen Abschnitt erörtert, wiederholt mit dem Begriff der ‚Ortsüblichkeit‘ artikuliert. So resümierte der Vorstandvorsitzende der Bayer AG Prof. Kurt Hansen an seinem 70. Geburtstag aus der Perspektive des Jahres 1980 in der Rückschau: Es werde auch in Zeiten eines völlig verschobenen Feldes sowie „wirklicher und vorgeblicher Umweltskandale“ immer ein Restrisiko geben. Es sei aber beeindruckend gewesen, wie leichtfertig der Industriezweig in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg mit diesem Restrisiko habe umgehen können.128 Um den von mir aufgestellten Hypothesen Nachdruck zu verleihen, werde ich im Folgenden auf Ordnungsverhältnisse zwischen Bayer und Henkel mit ihrem organisationalen Akteuren in Gestalt der Nachbarschaft eingehen und die betrachteten Unternehmen hinsichtlich ihrer Handlungsstrategien befragen. An neuralgischen Punkten werde ich dieses Ordnungsverhältnis zusätzlich durch das Hinzuziehen von Korrespondenzen mit den zuständigen Behörden untermauern und damit das vorangegangene Teilkapitel zum (formal) institutionellen Kontext erweitern. Beschwerden von nachbarschaftlicher Seite an die Unternehmen finden sich bereits wenige Jahre nach Kriegsende in großer Zahl: Formal blieben sie gegenüber dem jeweils größten Brötchengeber am Ort, „in ihrer Form sehr höflich“129, und dies änderte sich über den gesamten Betrachtungszeitraum bis in die ausgehenden 1960er Jahre nicht wesentlich: „Sehr geehrte Firma Henkel! Möchte doch mal höflichst fragen wie es kommt das des Nachts so viel Ruß aus dem Kamin kommt. [sic!]“130 Tatsächlich waren, wie aus einer Postbesprechung bei der Firma Henkel aus dem Jahr 1951 hervorgeht, ganze Werkssiedlungen von den Immissionsverhältnissen seit der erneuten Ausweitung der Produktionen betroffen. Das Protokoll berichtet von einer „Beschwerde der Siedlungsbewohner hinter der Spiegelglasfabrik über Gasgeruch und Flugasche“.131 In diesem Falle sei zu prüfen, „ob
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nungsmuster jeglicher Qualität, die eine bindende Wirkung entfalten. Dass dies gelingt, ist keineswegs selbstverständlich. Man darf Integration nicht als Regelfall ansehen, von dem Desintegration dann die Abweichung wäre. Vielmehr stellen Integration und Desintegration gleichursprüngliche und für die Einsicht in soziale Prozesse gleichrangige Möglichkeiten dar. Vgl. hierzu Excellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“, Wissenschaftliches Konzept, http://www.exc16.de/cms/wiss-konzept.html. So verstanden spiegelt Integration immer die Erwartungen der jeweiligen Akteure wieder, damit es möglicherweise zum Aufbau der benannten sozialen Ordnungsmuster kommen kann. Vgl. „Die Chemie hat Zukunft“, in Henkel Blick Februar 1980, S. 2, Konzernarchiv Henkel. Vgl. Schreiben der juristischen Abteilung an Direktor Schilbock betreffend Immissionssache Krüll vom 16.10.1959, in Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Emissionen/ Immissionen alt. Brief der Anwohnerin Krämer an die Firma Henkel & Cie vom 28. September 1966, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Emissionen/Immissionen alt. Teilweise wurde am Ende der 1960er Jahre auch von „chemischen Giftgasen“ gesprochen. Vgl. Brief des Anwohners Wensing an die Firma Henkel & Cie vom 10. Oktober 1966, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Emissionen/Immissionen alt. Vgl. Protokoll über die Postbesprechung vom 20. März 1951, in Konzernarchivhenkel, 153/7
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Möglichkeiten vorhanden sind, die Dinge abzustellen bezw. zu mildern“ und ein entsprechend nachdrückliches Antwortschreiben zu verfassen.132 Betrachtet man weiterhin die höchste Strategieebene von Henkel, so lässt sich jedoch nachweisen, dass es bei den guten Absichten blieb. Zwar war das Unternehmen stets gesprächsbereit, sein Verhalten aber hatte sich auch Mitte der 1960er Jahre nur graduell geändert. Erneut wurde auf einer Postbesprechung im Jahre 1963 über eine Beschwerde eines Anwohners – diesmal wegen „einer erheblichen Menge weißen Staubes“, die sein Anwesen „verschmutzt und geätzt“ hatte – berichtet.133 Obwohl das Gremium in diesem Falle eine angestrebte Unterschriftenaktion gegen das Werk vermutete und von einer Weiterleitung des Beschwerdeschreibens an den Regierungspräsidenten und das zuständige Gewerbeaufsichtsamt ausgehen musste, blieben alte Stellschrauben und Argumentationen zur Beseitigung der Angelegenheit das Erfolg versprechende Mittel: „Es ist gelungen, einen Aufschub der […] geplanten Aktion zu erreichen, wenn ihm [dem Anwohner, T.J.] unsererseits zugesagt wird, daß die Geschäftsleitung umgehend durchgreifende Maßnahmen zur Beseitigung der Missstände ergreift.“134 Ich möchte im Weiteren eine Reihe solcher an die Unternehmen gerichteten Beschwerdeschreiben chronologisch anführen, um darzustellen, welch geringe Deeskalationsbemühungen gegenüber den Nachbarn in dieser Zeit erforderlich waren. Aus dem Jahr 1957 stammt ein über drei Monate andauernder Beschwerdevorgang gegen die Firma Henkel, der gegen eine Deponiestelle in der Nähe des Werkes gerichtet war. Bereits vor dem Treffen der Anwohner mit den Unternehmensvertretern an der Deponie hatten sich die zuständigen Chemiker von Henkel ein Bild verschafft und mussten nüchtern zugeben: „Wenn auch heute bei den herrschenden klaren Wetterverhältnissen die Geruchsbelästigungen relativ gering waren, so lässt sich doch nicht leugnen, daß sie unerträglich werden können.“135 Beim folgenden ersten Ortstermin an der Deponie mit den wortführenden Anwohnern Hoffmann und Haulbeil sowie Chemikern und einem Vertreter der Rechtsabteilung der Firma Henkel wurde protokolliert: „Sowohl Hoffmann als auch Haulbeil machten einen vernünftigen Eindruck.“136 Dieser „vernünftige Eindruck“ der beiden HenkelNachbarn verwundert, beachtet man die zu Protokoll gegebenen Schilderungen über die Zustände, unter denen sie in der Nähe der Deponie zu leben hatten: „Die Geruchsbelästigungen sind besonders stark bei schlechtem Wetter […]. Sie nehmen dann ein solches Ausmaß an, daß sie für die Anlieger grauenhaft sind. Seit längerer Zeit sei festzustellen, daß in allen Wohnungen Rückstände übrig bleiben, die auch bei verschlossenen Fenstern zu bemerken seien. […] Hierzu führt er an, daß zahlreiche Personen seit einiger Zeit an Postprotokolle. 132 Vgl. ebd. 133 Vgl. Protokoll über die Postbesprechung vom 17. April 1963, in: Konzernarchiv Henkel, 153/21 Postprotokolle. 134 Ebd. 135 Schreiben der juristischen Abteilung an Dir. Schilbock, Dr. Brand, Dr. Heinz, Dr. Wulff betreffend Geruchsbelästigungen durch unsere Kippstelle an der Nosthoffenstraße vom 25. September 1957, S. 4, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Emissionen/Immissionen alt. 136 Ebd. S. 1.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel starken Kopfschmerzen leiden und daß an den Tagen, an denen die Geruchsbelästigung besonders stark ist, Brechreize und ähnliche Erscheinungen unvermeidlich seien. […] Manchmal sei die Luft so verpestet, daß die Atmung erheblich beschwert werde. Dies wirke sich wiederum auf die Herztätigkeit aus, was auf längere Sicht zu organischen Schäden führen müsse. […] Herr Haulbeil brachte zum Ausdruck, daß die übelste Quelle der Gerüche eine schlickartige Masse sei, die von uns abgelagert werde. Sie wird in tonnenähnlichen Lastwagen herangebracht und in den Teich geschüttet.“137
Nach dieser allgemeinen Schilderung zeigte der Anwohner weitere konkrete Gefährdungen auf, die von der Kippstelle ausgingen. Insbesondere wurde die fehlende Absicherung des Geländes angemahnt, da die Kippe auch für spielende Kinder aus der Siedlung potenziell unfallträchtig sei: „Vor etwa 4 bis 5 Wochen hätten Kinder in dem dortigen Gelände gespielt. Dabei hätten sie auch Feuer angezündet. Das Feuer hätte auf die Wasserfläche übergriffen und hätte dort eine Stichflamme ausgelöst mit anschließendem Brand der umliegenden trockenen Fläche.“138 Im weiteren Verlauf des Gesprächprotokolls wird dann ersichtlich, warum die beiden Anwohner von den Unternehmensvertretern durchaus zu Recht als „vernünftig“ dargestellt wurden: „Wir haben Herrn Haulbeil und Herrn Hoffmann erklärt, daß von uns aus alles getan wird, um nicht nur die Gefahr gesundheitlicher Störungen sondern auch die Geruchsbelästigungen zu beseitigen bzw. soweit wie möglich einzudämmen. Allerdings sei es der Firma Henkel nicht möglich, dies von heute auf morgen oder in einem Zeitraum von wenigen Tagen, Wochen oder Monaten durchzuführen. […] Herr Haulbeil zeigte großes Verständnis für die Problematiken unseres Werks und war mit dieser Zusicherung sehr zufrieden. […] Er bedankte sich, daß die Firma Henkel ihm überhaupt die Möglichkeit gegeben habe, sein Anliegen in dieser Weise vorzubringen.“139
Im Nachgang zu dieser Zusammenkunft wurden von der zuständigen Abwasserkontrolle Proben gezogen. Wie zu erwarten gab das Ergebnis den Anwohnern Recht, da „derartige stillstehende Gewässer schnell der Fäulnis unterworfen sind“ und der Geruch des Wassers daher als „stark nach Schwefelwasserstoff riechend“ beschrieben werden musste.140 Doch wurden in den Folgemonaten offensichtlich nicht die notwendigen und versprochenen Maßnahmen ergriffen, um die starken Belästigungen zu beseitigen. Wieder gab es einen Lokaltermin, und wieder berichtete der Anwohner Haulbeil über Kopfschmerzen mehrer Anwohner und brachte vor, „daß Kinder, die in die Nähe der Kippstelle gerieten, sich übergeben müssten. Dieser Zustand müsse unter allen Umständen beseitigt werden.“141 Auch nach dieser erneuten Anklage änderte sich die Strategie von Henkel nicht. Die Belästigungen seien nicht abzustellen, da es sich hierbei um komplizierte chemische Vor137 138 139 140
Ebd. S. 2 Ebd. S. 3 Ebd. S. 4. Vgl. Abwasserkontrolle an Dr. Heinz betreffend Besichtigung unserer Kippstelle an der Nosthoffenstraße vom 14. Oktober 1957, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Emissionen/Immissionen alt. 141 Vgl. Schreiben der juristischen Abteilung an Dir. Schilbock betreffend Kippstelle Nosthoffenstraße vom 2. Dezember 1957, S. 2, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Emissionen/Immissionen alt.
3.1 Legitime Kontinuität des Risikohandelns
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gänge handle. Zudem wurde der Anwohner Haulbeil von den Henkel-Mitarbeitern „mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß nach unserer Auffassung ein erheblicher Grund für die Geruchsbildung darin zu suchen ist, daß immer wieder Küchenabfälle […] in das Baggerloch geschüttet werden.“142 Die Angelegenheit wurde im Nachgang nur noch von der Werksabwasserkontrolle des Unternehmens untersucht und ein abschließendes Gutachten erstellt: „Die Intensität des H2S-Geruchs ist derartig groß, daß man Schwefelwasserstoff noch in 100.000 facher Verdünnung wahrnehmen kann.“143 Mit Hilfe chemischer Zusetzung sollten die Gerüche neutralisiert werden, wobei man „nicht zwingend mit Erfolg und hohen Kosten“ rechnen müsse.144 Eine habitualisierte Form der Auseinandersetzung mit den zugehörigen Argumentationsmustern und Strategien in Bezug auf Nachbarschaftsbeschwerden lässt sich weiter im Jahre 1959 nachverfolgen. Auch hier handelte es sich um Geruchsimmissionen, hervorgerufen durch Stäube und Gase, die in diesem Fall aber vom Werk selbst stammten. Auch hier klagte eine Anwohnerin über gesundheitliche Beeinträchtigungen bei ihr selbst und ihren Kindern, wobei sie aus Henkel-Sicht „ehrlich genug ist, zuzugeben, daß sie selbst ziemlich anfällig ist für solche Einwirkungen, da sie an Blutarmut und Erschöpfungszuständen leidet.“145 Das Vertrauen gegenüber dem angestammten Nachbarn Henkel und das Wissen um die Normalität solcher Immissionen als Anrainer eines Chemiewerkes waren es dann, die den Henkel-Juristen Canaris zur Feststellung brachten: „Ich habe Frau Krüll in dieser Hinsicht beruhigt und ihr dargelegt, daß bisher irgendwelche Gesundheitsschäden noch nicht festgestellt worden seien. Im übrigen unterstünden wir dem Gewerbeaufsichtsamt, das unsere Anlagen laufend kontrolliert und sicherlich eingeschritten wäre, wenn von dem Werk aus irgendwelche gesundheitsschädlichen Einflüsse ausgingen. Frau Krüll sah dies auch ein. […] Ich habe den Eindruck gewonnen, daß Frau Krüll weitgehend beruhigt ist. Für den Fall, daß sich plötzlich wieder einmal Beeinträchtigungen stärkeren Umfanges ergeben sollten, wird sie mich von unserem Pförtnerhaus anrufen […]. Diese Zusage war offensichtlich für Frau Krüll ein weiteres Moment, die ganze Angelegenheit ohne Schärfe zu behandeln.“146
Eine weitere Immissionsbeschwerde über vorwiegend nachts ausgetretenen Waschmittelstaub, die sich gar von 1961 bis Mitte 1964 hinzog – ich werde diesen Vorgang nicht vollständig darstellen – lässt keine Änderungen in der Logik von Henkel erkennen.147 Das Muster der Beschwerde blieb hinsichtlich Sach- und befürchteten 142 Vgl. ebd. S. 3. 143 Schreiben der Werksabwasserkontrolle an Dir. Schilbock betreffend Kippstelle Nosthoffenstraße vom 19. Dezember 1957, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Emissionen/Immissionen alt. 144 Vgl. ebd. 145 Vgl. das Schreiben der juristischen Abteilung an Dir. Schilbock betreffend Immissionssache Krüll vom 16. Oktober 1959, S. 1, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Emissionen/Immissionen alt. 146 Ebd. S. 2–3. 147 Vgl. Schreiben der Versicherungsabteilung an Dir. Schilbock betreffend Immissionen durch Waschmittelstaub / Beschwerde des Herrn Rolf Arendt, Düsseldorf-Holthausen Kamperstraße 73 vom 16. April 1963, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Emissio-
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
Gesundheitsschäden konstant. Gleiches galt für die Reaktionen von Henkel, die auf die Unbedenklichkeit und die nicht zu vermeidenden Immissionen hinwiesen sowie auf die Beruhigung des Beschwerdeführers setzten, auch wenn die Überzeugungsarbeit in diesem Falle drei Jahre dauerte: „Heute führte u.a. der uns aus früheren Reklamationen bekannte Herr Arendt […] seinen schwarzen Mercedes vor, welcher durch schwarz-weiße Partikel in erheblichem Umfang bestaubt war. Herr Arend erklärte, daß er nunmehr nicht mehr gewillt sei, sich diese Belästigungen gefallen zu lassen und an das Gesundheitsamt Düsseldorf herantreten würde, um bei einem Ortstermin diesem die Staubbelästigungen durch unser Werk vorzuführen. […] Während es in den vorhergegangenen Verhandlungen […] immer möglich war, Herrn Arendt zu beruhigen und ihm durch Übernahme der Kosten für Waschen des Fahrzeugs zu demonstrieren, daß wir zu Entgegenkommen bereit sind, gelang diesmal eine Einigung nicht.“148
Genauere Erkundigungen des Unternehmens über die Vermögens- und Eigentumsverhältnisse sowie über das geplagte Grundstück des Nachbarn Arendt ließen dann aber doch einen Schwenk von dessen Seite zu, so dass eine gemeinsame Werksführung und eine Besichtigung der Werksumgebung angedacht werden konnte.149 Energisch wiesen die Unternehmensverantwortlichen in paternalistischer Manier darauf hin, dass die Firma Henkel seit „Jahr und Tag“ die Immissionen sogar über den gesetzlichen Anspruch hinaus bekämpft, was folgerichtig zum Wohle der Allgemeinheit und ebenso zu einem hohen Kostenblock für das Unternehmen führt.150 Der Geschädigte Arendt selbst machte nach einem längeren Gespräch und gemeinsamen Mittagessen den Vorschlag, dass man die „Bevölkerung über die von Henkel ergriffenen Maßnahmen unterrichten könne“ und „auch einmal in aller Öffentlichkeit […] nicht nur über die Schwierigkeiten, sondern auch über den Kostenaufwand“ des Werkes reden sollte.151 So endete auch 1964 diese Immissionsbeschwerde mit einem Dankesschreiben des Unternehmens an den Nachbarn und seine von Henkel geteilte Einsicht, das sich „mit dem Betrieb eines Industrieunternehmens notwendigerweise verbundenen Immissionen“ ergeben.152 Im Beschwerdefall Arendt finden
148
149
150 151 152
nen/Immissionen alt. Gleichfalls: Schreiben der Abteilung Meß- und Regeltechnik an Dir. Schilbock betreffend Immissionen auf Grundstück Kamperstraße 73, Holthausen, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Emissionen/Immissionen alt. Hier werden erneut die „ungünstigen Windverhältnisse“ für den Schaden verantwortlich gemacht. Schreiben der Versicherungsabteilung an Dir. Schilbock betreffend Staubniederschläge vom 23./24.7.1962 vom 24. Juli 1962, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Emissionen/Immissionen alt. Die erste Reklamation des Anwohner Arendt stammt aus dem Jahr 1961. Vgl. Schreiben der Versicherungsabteilung an Dir. Schilbock betreffend Staubniederschläge vom 12./13.10.1961 vom 13. Oktober 1961, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Emissionen/Immissionen alt. Vgl. Schreiben der Eigentümer von Kamperstraße 37 / Firma Kleinwohnungsbau – Gemeinnützige Baugesellschaft mbH, Hamburg an Dir. Schilbock betreffend Beschwerde des Herrn Rolf Arendt, Düsseldorf-Holthausen wegen Immissionen vom 02. Oktober 1962, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Emissionen/Immissionen alt. Schreiben der juristischen Abteilung an Dr. Brandt betreffend Immissionsbeschwerde des Herrn Arendt vom 09. Juli 1964, S. 1, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Emissionen/Immissionen alt. Vgl. ebd. S. 4. Schreiben Dir. Schilbocks an den Anwohner Rolf Arendt betreffend Immissionen vom 31. Juli
3.1 Legitime Kontinuität des Risikohandelns
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wir weiterhin eine direkte Bezugnahme, wie sich das zuständige Gewerbeaufsichtsamt zu solchen Beschwerden positionierte und damit Henkel unterstützte: „Regierungsdirektor Heisig unterrichtete mich telefonisch davon, daß bei ihm heute ein Herr Arendt aus Holthausen vorgesprochen habe, der sich über Staubimmissionen der Firma Henkel beschwerte […] und drohte auch mit einem Herantreten an den Herrn Minister. […] Herrn Heisig liegt sehr viel daran, daß in dieser Angelegenheit eine Beschwerde an den Minister vermieden wird, die ihm natürlich ebenfalls unangenehm wäre. Er bittet darum, mit dem Beschwerdeführer im Rahmen des Möglichen eine großzügige Regelung zu treffen.“153
Mitte der 1960er Jahre sind hier auch die Sinnzuschreibungen und Verhaltensweisen des zuständigen Gewerbeaufsichtsamtes zu erkennen. Partnerschaftliche Verbundenheit mit dem Unternehmen wurde durch die Tatsache ausgedrückt, dass eine Ausweitung der Beschwerde auch dem zuständigen Beamten unangenehm war. Man darf hier ein gewisses Maß an Toleranz gegenüber Henkel in der Vergangenheit vermuten. Dies wurde bekräftigt, indem der Regierungsdirektor als Bittsteller gegenüber dem Unternehmen auftrat und eine großzügige und eigenverantwortliche Regelung durch Henkel selbst als adäquates Mittel zur Beseitigung der Angelegenheit ansah. Alle angeführten Beschwerden folgten dem gleichen Muster: Eine ernst zu nehmende Anfeindung gegenüber dem Unternehmen war nicht zu erkennen. Ebenfalls wurde die Möglichkeit, an die zuständigen Behörden heranzutreten, aufgrund des Wissens über die Teilnahmslosigkeit der Gewerbeaufsichtsämter nicht wahrgenommen. Folglich bedurfte es nur weniger Anstrengungen von Seiten des Unternehmens, in Eigenregie die Nachbarschaft von der Normalität dieser Belästigungen zu überzeugen. Geringer Aufwand war nötig, um den Geschädigten ein paternalistisches Selbstbild des Unternehmens hinsichtlich der vom Werk ausgehenden Risiken und ihrer (Un-)Beherrschbarkeit zu vermitteln. Pfadabhängige Handlungslogiken durchzogen seit vielen Jahren das Verhältnis zwischen dem Werk und seiner Umwelt. Jedoch war es für die Anwohner eines großen Chemieunternehmens auch normaler Alltag, sich mit den Verhältnissen zu arrangieren oder auf eine baldige Besserung und die diesbezüglichen Zusagen der Unternehmen zu vertrauen. Diese Sichtweise kulminierte in einer gewissen Lethargie oder Protestmüdigkeit des organisationalen Akteurs in Gestalt der Nachbarn. Der Grund hierfür lag im Wissen um den geringen Erfolg von Beschwerden und die damit korrespondierende Sinnhaltung, nur niedrige Erwartungen gegenüber den Immissionsverhältnissen haben zu können. Ebenfalls damit verbunden war eine unzureichende und sozialisierte Gefahrenzuschreibung, die sich über Jahrzehnte auf Seiten des organisationalen Feldes entwickelte. Der Düsseldorfer Süden wurde aus Sicht der Anwohner nun einmal durch Störungen im Betriebsablauf bei Henkel geprägt, und hierdurch die lebensweltliche Umwelt beeinträchtigt: 1964, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Emissionen/Immissionen alt. 153 Schreiben der Ingenieurabteilung über Dr. Canaris an Dir. Schilbock betreffend Anruf Regierungsdirektor Heisig, Gewerbeaufsichtsamt vom 26. Juni 1964, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Emissionen/Immissionen alt.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel „Das [sic!] Störungen anfallen ist uns, die in diesem Bezirk wohnen, bekannt. Leider müssen die Betroffenen feststellen, daß trotz fortschrittlicher Entwicklungen auf dem Gebiet der Luftreinigung [Hervorhebung im Original, T.J.] in Ihrem Betrieb die Verunreinigungen der Luft sich derart häufen, und Ausmaße annehmen, wie sie in den vergangenen 20 Jahren nicht vorgekommen sind. Auffallend hierbei scheint mir noch, daß diese Verunreinigungen zu 90 % in der Nacht geschehen. […] Ich möchte Sie daher bitten, die Störungen in ihrem Betrieb genauer zu untersuchen.“154
Die hier angesprochenen 20 Jahre sind exakt jene zwei Dekaden, in denen die Verhältnisse bei Henkel sich nicht zum Besseren wandten, sondern sich im Gegenteil zu Gunsten ökonomischer Wohlfahrt verschlechterten. Die von mir hervorgehobene Lethargie und der damit verbundene Willen zur Nichtanfeindung von Seiten der Nachbarschaft gegenüber Henkel möchte ich abschließend anhand einer Beschwerde aus dem Jahr 1966 darstellen, die explizit in die angestrebte Sozialpartnerschaft zum Unternehmen und in einen Ausdruck der Friedfertigkeit mündete: „Die Filteranlagen Ihrer Schornsteine scheinen wohl nicht in Ordnung zu sein, denn jeden Tag ist mein PKW von fettigen Rußflocken beschmutzt. Auch bin ich nicht in der Lage in meiner Wohnung ein Fenster zu öffnen, weil die Fensterbänke (innen) sowie die Gardinen und der Fußboden an der Fensterfront von diesen Absonderungen beschmutzt werden. Ich bin bestimmt ein friedlicher Bürger aber der dadurch entstehende Schaden sowie Unkosten machen mich sehr ärgerlich. Ich würde es begrüßen, wenn mein Brief nicht in den Papierkorb wandert, sondern von Ihnen eine Regelung getroffen wird. Herzlichen Dank im Voraus.“155
Anhand dieses kurzen – und ebenso skurrilen – Briefes wurde Ärger über die ortsüblichen Verhältnisse, den Schaden am Eigentum und die eingeschränkte Lebensqualität zum Ausdruck gebracht. Gleichwohl wurde die friedvolle und nicht auf Kollisionskurs mit Henkel gerichtete Attitüde mit dem Ziel einer verträglichen nachbarschaftlichen Beziehung unterstrichen. Die gewünschten, aber nicht mit Nachdruck geforderten Regelungen, die zu treffen sein könnten, wurden nur vorsichtig angedeutet. Die Bitte des Anwohners, die Unternehmensverantwortlichen mögen den Brief nicht sofort in den Papierkorb wandern lassen, enthält eine gewisse Spitze. So vermittelt dieser Brief aus den ausgehenden 1960er Jahren erstens ein ehrfurchtvolles Verhältnis der Nachbarschaft zum Unternehmen und zweitens eine gewisse Resignation, gegen die zur Werksumgebung gehörenden üblichen Immissionen vorgehen zu wollen. Drittens spricht aus ihm ein angestauter Frust des Anwohners, dem dieser mit seiner Anspielung auf den Papierkorb ein Ventil ver154 Brief des Anwohners Meißner an die Firma Henkel & Cie betreffend Luftverschmutzung vom 08. September 1966, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Emissionen/ Immissionen alt. 155 Brief des Anwohners Lutz Kimm an die Firma Henkel & Cie. vom 21. August 1966, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Emissionen/Immissionen alt. Das Wissen der Anwohner um die Nichtbeachtung von Beschwerden lässt sich anhand eines ähnlichen Schreibens an Bayer zu Beginn der 1960er Jahre zeigen: „Ich habe seit Jahren, durch Abgase ihres Betriebes, […] erhebliche Ernteausfälle zu verzeichnen. Ich habe Sie bereits vor 2 Jahren in gleicher Sache um eine Überprüfung gebeten; bis heute wurde meiner Bitte nicht entsprochen. Nun bitte ich Sie erneut, dieses Schreiben nicht auch zu ignorieren […] Schreiben des Anwohners Mahlbur an die Farbenfabriken Bayer AG/Rechtsabteilung vom 21. September 1960, in: 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1959–1960.
3.1 Legitime Kontinuität des Risikohandelns
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leiht. Diese Anspielung deutet darauf hin, dass der Anwohner wusste, dass solche Beschwerden im Unternehmen für gewöhnlich als zweitrangig galten. Ebenfalls gelang es Henkel über Jahre hinweg, die Nachbarn von der Unbedenklichkeit und Normalität dieser Immissionen zu überzeugen, da die Verantwortlichen des Unternehmens trotz guter Absichten immer noch in Ortsüblichkeiten dachten und durch solche Argumentationen ein Vertrauensverhältnis zwischen Werk und Nachbarschaft aufrechterhalten konnten. Dies spiegelt sich in einer nach innen gerichteten Werksmitteilung der Versicherungsabteilung wider. Das Dokument stellt explizit das Außen- und Innenverhältnis her, indem es die innerbetrieblichen Spielregeln nach einer Flut von Beschwerden – „Sie lauten im Grunde alle auf den gleichen Tenor“ – im Jahre 1966 noch einmal zum Ausdruck bringt:156 Jeder Mitarbeiter habe auf die Minderung von Emissionen aller Art zu achten, wobei das Unternehmen demnach auch „regelmäßig einwenden“ konnte, „daß wir nicht alleine als Verursacherquelle in Betracht kommen.“157 Gleichzeitig kann aus der Mitteilung eine Strategie von Henkel ersehen werden, die dem Appell an die Mitarbeiter entgegensteht und diesen in gewisser Hinsicht unterminiert: „Im Großen und Ganzen ist es uns gelungen, die Beschwerdeführer zu beruhigen […]. Jedem Beschwerdeführer, der sich schriftlich an uns wendet, wird auch geantwortet. In unserem Antwortschreiben weisen wir darauf hin, daß wir seit Jahr und Tag mit allen Mitteln bemüht sind, [….] die Beeinträchtigungen unserer Nachbarschaft herabzudrücken.“158
Es handelt sich also um einen standardisierten Beschwichtigungsprozess der Nachbarschaft, wie er nur aus jahrelanger Erfahrung erwachsen sein konnte. Dieses Standardverfahren konnte jedoch nur funktionieren, da die Gegenseite des Unternehmens bislang nicht zu größeren Protesten bereit gewesen war. Als zu normal für das Einzugsgebiet eines Chemiewerkes wurden die Emissionen und die folgenden Immissionsschäden angesehen, und zu wünschenswert war die normative Zuschrei156 Vgl. die Werksmitteilung der Versicherungsabteilung betreffend Klagen unserer Nachbarschaft wegen Belästigungen durch Staub, Ruß, Gerüche und Lärm vom 11. Oktober 1966, S. 1, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Emissionen/Immissionen alt. Es muss an dieser Stelle auch darauf hingewiesen werden, dass in der Vorbereitung zur strategischen und organisatorischen Neuausrichtung des Henkelkonzerns am Ende der 1960er Jahre bereits durch das Stanford Research Institute (SRI) darauf verwiesen wurde, dass ein weiterer Ausgleich – nicht nur hinsichtlich der Immissionen, sondern als traditionell Marketing abhängiges Unternehmen – mit dem „Umfeld des Unternehmens erzielt werden müsse. Die langfristige Unternehmensplanung und der Unternehmenszweck seien auch gesellschaftlich und politischen Verantwortungen unterworfen und hätten technische Gesichtspunkte innerhalb der EWG zu beachten, wobei allem Anschein nach der Schutz der natürlichen und lebensweltlichen Werksumwelt noch nicht in dieser strategischen Vorgabe angekommen war. Vgl. Schreiben von Dr. Stapf als Verantwortlicher des Düsseldorfer Head Quarters und in Zusammenarbeit mit dem SRI an die GL (Geschäftsleitungen) Persil, Henkel, Henkel International betreffend Unternehmensstrategie vom 09. September 1966, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Langfristige Unternehmensplanung. Ebenso Planung für Persil/Henkel – PhaseIII Organisationsstruktur der Unternehmensspitze und des leitenden Management vom Dezember 1968, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 314 Akten Opderbecke, Langfristige Unternehmensplanung, SRI 1966–1969. 157 Vgl. ebd. S. 1. 158 Ebd. S. 2.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
bung, in diesem Fall an das Henkel-Werk im Düsseldorfer Süden, die Stadt und die Region mit Wohlstand zu versorgen. Letzteres muss auch vor dem Hintergrund des ersten ernst zu nehmenden Wirtschaftseinbruchs Mitte der 1960er Jahre gesehen werden. Des Weiteren hatte Henkel ein strategisches Vorgehen etabliert, das auf der Beruhigung der Nachbarschaft und leichtgemachter Deeskalation beruhte. Diese Strategie war in der Unternehmenskultur verankert und wurde durch interne Kommunikationsmittel wie die zitierte Werksmitteilung dergestalt unterstützt, dass ein gewisses Risikohandeln durchaus legitim erschien und eine nach außen gerichtete Sicherheitskultur im hier betrachteten Untersuchungszeitraum vorerst nicht erwachsen konnte. Auch die Leverkusener Nachbarschaft der Farbenfabriken Bayer muss im Folgenden auf ihre Sinnzuschreibungen gegenüber dem seit Beginn des 20. Jahrhunderts in der Stadt angestammten Unternehmens befragt werden. Sicherlich ist dabei im Vergleich zu Henkel auf den Unterschied des Produktportfolios eines Chemieund Pharmaunternehmens hinzuweisen, das durch klassische chemische Produkte, wie beispielsweise Farben und ihre Grundstoffen sowie Synthese- bzw. Rohchemikalien stärker mit Risiken behaftet ist. Zudem stand Bayer bereits in der jungen Bundesrepublik aufgrund der Größe und Ertragskraft des Konzerns vermehrt im Lichte öffentlicher Diskussionen. Ein Leserbrief aus dem Jahre 1960 vermittelt einen deutlichen Eindruck der Verhältnisse in und um Leverkusen etwa in der Mitte des hier betrachteten Zeitraumes, wenn er mit einem ironisierenden Tonfall titelt: „‚Klammheimlich lässt man manches Dämpflein abstreichen!‘“159 Zunächst erhält der Leser sicherlich den Eindruck, der Verfasser aus einer Leverkusener Teilgemeinde wollte gegen den Konzern ernsthaft böswillige Argumente ins Feld führen, denn sein Beitrag beginnt zynisch: „Über der Farbenstadt ‚vorzügliche Atmosphäre‘, über schmutzige und stinkige Luft, ist schon viel gesagt, geschrieben und geflucht worden!“160 Doch dann wendet sich das Blatt schnell in Richtung Zuspruch für das Unternehmen und die Immissionsverhältnisse, mit denen die Leverkusener Bürgerschaft im Jahre 1960 umzugehen hatten. „Die Ansammlung von Industriebetrieben in dicht besiedelten Gebieten bringt Probleme mit sich […]. Besonders auffallend machen sie sich im Bereich großer Chemiewerke, die ein vielseitiges Produktionsprogramm aufweisen. Wohl jeder Bürger Leverkusens wird – öfter als ihm lieb ist – dieser Tatsache gegenübergestellt. Man kann hier leicht durch Nasentest die Windrichtung feststellen. […] Wer mit den Verhältnissen etwas vertraut ist weiß, daß gerade dem ‚Mann vor Ort‘ der Sinn für geruchsloseres Arbeiten häufig fehlt. Beinahe nach Art sattsam bekannter Zeitgenossen, denen kein Moped ist, was nicht Krach macht, ist den Leuten am Kessel oft nicht Chemie, was nicht stinkt. Nicht selten findet man da eine Haltung, die nicht einmal so sehr bewusster Rücksichtslosigkeit als vielmehr missverstan159 „Der Leser hat das Wort“, aus: Neue Rheinische Zeitung Nr. 40 vom 16. Februar 1960, ohne Seitenangabe, Abschrift der volkswirtschaftlichen Abteilung / Pressereferat, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1959–1960. 160 Ebd. Es ist zu vermuten, konnte aber nicht mehr nachvollzogen werden, dass der Anwohner auch gleichzeitig Mitarbeiter des Unternehmens war. Seine Einschätzungen und Kenntnisse über interne Verhaltensweisen deuten darauf hin und unterstützen bereits an diesem Punkt meine Einschätzungen der Verhältnisse bei Bayer.
3.1 Legitime Kontinuität des Risikohandelns
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denem Diensteifer, Angeberei oder Dummheit entspringt. Wie gerne läßt man doch vorzugsweise nachts […] klammheimlich und bequemlichkeitshalber so manches Dämpflein auf dem allernächsten Weg abstreichen! Da sind natürlich auch Kamine von 120m Höhe nutzlos.“161
Wir finden also auch hier eine ähnliche Ausgangssituation in der Gefahrenzuschreibung und dem damit einhergehenden Verständnis, wie jene bei Henkel. Hinsichtlich der Immissionsverhältnisse wird Verständnis für das Unternehmen geäußert, ja sogar Partei für den Konzern und seine Führung ergriffen. Der Verfasser des Leserbriefes war sich sicher und vertraute darauf, dass nur eine unternehmensinterne Lösung Abhilfe gegen die Verunreinigung schaffen würde. Gleichwohl trug er seinen Gedanken einer nicht-existenten Kultur der Sicherheit für die Werksumgebung in die Öffentlichkeit. Damit prangerte er nicht etwa die Führungsebenen des Werkes an, sondern verdeutlichte vielmehr dem Leser eine Normalität im betrieblichen Alltag, die seiner Meinung nach nicht einfach abzustellen war. Sicherlich forderte er implizit auch annehmbare Verhältnisse für die Werksumgebung des Bayerwerkes. Doch war auch ihm bewusst, dass diese nicht durch Proteste und Angriffe auf das Unternehmen herbeizuführen waren, sondern einzig durch eine veränderte Sinnzuschreibung seitens des Unternehmens, was als erträglich, angemessen und nicht gefährdend zu deklarieren sei. Diese Zuschreibung unterlag jedoch der Patronage des Unternehmens. Es handelte sich bei dieser externen Zuschreibungen und Argumentationen um eine Kontinuität, was ein weiterer Artikel aus dem Jahre 1955 nachzeichnen kann: „Um endlich eine Änderung zu treffen, ist es notwendig, daß Betriebsrat, Belegschaft und Stadtverwaltung mit dem Bayerwerk Rücksprache nehmen, damit für alle Teile erträgliche Zustände herbeigeführt werden.“162 Thema der Rücksprache sollte die Giftigkeit bzw. die ätzende Wirkung der Abgase sein, die in diesem Falle den Frauen und Mädchen im Raum Leverkusen zu schaffen machte, da ihnen „die Strümpfe an den Beinen verderben – besonders Nylonstrümpfe sind in dieser Hinsicht anfällig.“163 Obwohl das Unternehmen zumeist Schadenersatz leistete, gab es auch zu Protokoll, dass es sich bei den „Strümpfen um mindere Qualität“ handeln müsse.164 Der organisationale Akteur in Gestalt der Stadtverwaltung 161 Ebd. Bestätigt wird diese fehlende Sicherheitskultur im Werk noch gegen Ende der 1950er Jahre. Nachweislich beschwerte sich ein in der Werksumgebung wohnender Betriebsleiter beim Chefingenieur über starke Immissionen. Die ernüchternde aber auch zornige Antwort des Chefingenieurs und Vorsitzenden der so genannten AWALU-Kommission (ich werde weiter unten dezidiert auf diese Kommission eingehen) lautete: „Sie bedauern, dass trotz der Bemühungen der AWALU das Auftreten solcher Schäden nicht verhindert werden kann. Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass die AWALU Schäden ja nicht abstellen [Hervorhebung im Original, T.J.] kann, wenn sie von den Betrieben ohne Rücksicht auf die Anweisungen, Empfehlungen usw. verursacht werde. […] Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie bei Ihren Kollegen gelegentlich Propaganda machen würden. […] Gerade die Betriebsleiter haben es in der Hand, sich selbst in der Nähe wohnend zu schützen.“ Chefingenieur Rieß an Betriebsleiter Dr. Kollmann vom 16. Juli 1959, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1959–1960. 162 „Bei Bayer stinkt es nach wie vor“, aus: Freies Volk Nr. 287 vom 09. Dezember 1955, Abschrift des Zeitungsdienstes / Handelspolitisches Büro, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1954–1956 163 Vgl. ebd. 164 Vgl. ebd.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
als Stellvertreter der Leverkusener Bürgerschaft trat als Bittsteller an das Unternehmen heran, wobei stets Bayer definierte, was erträgliche Zustände und Gefahren seien, indem auf die billigen Strümpfe verwiesen wurde. Die Verhältnisse für die Nachbarn des Werkes wurden seit Beginn der 1950er Jahre immer problematischer und führten mitunter zu gesundheitlichen Schäden. So beschrieb ein Leverkusener Bürger den Zustand seiner Ehefrau den Bayerwerken gegenüber: „Meine Frau ist gerade erst von einem Erholungsaufenthalt zurückgekommen und liegt nun schon wieder da, der Arzt sagt, sie brauche schon wieder Luftveränderung […]. Wir haben uns schon an Asche und Farbe gewöhnt, aber dieser Gestank und die schlechte Luft nehmen einem den Atem. […] Wir haben nur einen kleinen Garten und einige Blumen, auch zwei Bäume stehen darin. Ihr Laub ist völlig verbrannt! […] Dagegen vorzugehen hat ohnehin keinen Sinn.“165
Die Gewohnheit und – noch schwerwiegender – das Wissen um die Sinnlosigkeit einer Beschwerde, von denen der Anwohner spricht, führten in den frühen 1950er Jahren zunächst zur Beibehaltung organisatorischer Strukturen bei den Farbenfabriken. Ebenso war die Einsicht in die Notwendigkeit präventiver Maßnahmen entweder nicht vorhanden, oder sie wurde ignoriert. Eine Besprechung der Rechtsabteilung mit dem zuständigen Abwasser- und Abluftlabor hinsichtlich solcher Geschehnisse endete mit dem alt bekannten Fazit: „Anlieger müssen sich Rahmen der Ortsüblichkeit Schäden gefallen lassen.“166 Bei Bayer scheint es in den 1950er Jahren so gewesen zu sein, dass sich das Interesse der Anwohner nicht unbedingt auf die Beseitigung der Probleme als vielmehr auf deren Herkunft konzentrierten. So klagte der Stadtdirektor von Leverkusen stellvertretend gegenüber dem Chefingenieur Rieß von Bayer über das Wohlbekannte: Über Gas-Immissionen, die sein Anwesen hauptsächlich nachts so stark beeinträchtigten, dass Fenster und Türen geschlossen werden mussten, die Familie aber trotz dieser Maßnahmen keinen Schlaf finden konnte.167 Der Grund war für den Immissionserfahrenen schnell gefunden: „Ganz offenbar haben irgendwelche Filteranlagen versagt oder Teilbetriebe […] haben Rauch und Gase abgelassen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn sie mich darüber unterrichten könnten, worauf diesmal die starke Belästigung zurückzuführen ist.“168 Das Antwortschreiben des Chefingenieurs lässt zwar keinen Zweifel an der Verursachung der Abgasbelästigung durch das Unternehmen, betont jedoch, sie sei nicht durch Fahrlässigkeit oder das Versagen von technischen Einrichtungen hervorgerufen worden.169 Vielmehr könne „nur der plötzliche Wettersturz sehr stark die Abgänge der Schornsteine in unmittelbarer Nähe niedergedrückt“ haben, was 165 Aktennotiz der Rechts- und Steuerabteilung an AWALU-Kommission betreffend Abgase vom 04. August 1954, in: BAL 59/384; Ingenieurverwaltung, Abwasser und Abluft-Labor 1954– 1956. 166 Aktennotiz des AWALU-Labor an Rechts- und Steuerabteilung vom 17. August 1954, in: BAL 59/384; Ingenieurverwaltung, Abwasser und Abluft-Labor 1954–1956. 167 Vgl. Stadtdirektor Grimm an Prof. Rieß vom 28. März 1955, in: BAL 59/384; Ingenieurverwaltung, Abwasser und Abluft-Labor 1954–1956. 168 Ebd. 169 Brief von Chefingenieur Rieß an Oberstadtdirektor Dr. Grimm vom 04. April 1955, in: BAL 59/384; Ingenieurverwaltung, Abwasser und Abluft-Labor 1954–1956.
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ihn folgern ließ: „Solche Vorfälle werden sich häufig nicht vermeiden lassen, da die nötigen Einrichtungen erst erprobt werden müssen.“170 Der Verweis auf die Suche nach einer technischen Lösung beruhigte den Beschwerdeführer. In einem weiteren Brief an Chefingenieur Rieß drückte der Oberstadtdirektor seinen Dank für die „schnelle Erledigung der Angelegenheit“ aus und fügte an: „Mein Vertrauen in die Ingenieurskunst der Farbenfabriken geben mir Gewissheit einer baldigen Lösung, wohl wissend um die Schwierigkeiten ihres Werkes.“171 Zumindest für die nächsten fünf Jahre blieb das Vertrauen jedoch enttäuscht, denn die Prophezeiung des Chefingenieurs, dass solche Vorfälle unvermeidbar seien, bestätigte sich zu Beginn der 1960er Jahre sogar in verstärktem Maße. Immer nachdrücklicher wurden auch werksintern die Wetterverhältnisse verantwortlich gemacht: „Die Klagen über Abluftbelästigung und Abluftschäden in den umliegenden Wohngebieten häufen sich in letzter Zeit in erschreckendem Maße. Vor allem handelt es sich um die Einwirkung von Abgasen auf Anpflanzungen in den Siedlungen in der näheren Umgebung des Werkes. […] Seinerzeit im April wurden vor allem Birken und Rotdorn stark geschädigt. Ähnliche, nur noch umfangreichere Schäden in weiterer räumlicher Ausdehnung traten in der letzten Juniwoche und z.T. in den Wochen davor auf. Von mir aus ist dazu zu bemerken, daß als Ursache in der Regel eine Dauerbegasung aufgrund der schlechten Wetterlage anzunehmen ist. […] Der subjektive Eindruck einer plötzlichen Verschlechterung der Abluftverhältnisse, wie er immer wieder in Gesprächen eindringlich vorgebracht wird, ist also letzten Endes zum großen Teil auf die jeweilige Wetterlage zurückzuführen.“172
Ein ähnlicher Vorfall, der auf die Beibehaltung alter Beschwichtigungsstrategien von Seiten des Werkes, aber auch auf alte Minimalforderungen der Anwohnerschaft hindeutet, findet sich noch im Jahre 1964. Anlass war die Ausdehnung des Werkes von Leverkusener Gemarkung in Richtung des Kölner Stadtteils Flittard. In einem Brief an den Vorstandvorsitzenden Kurt Hansen äußerte der Kölner Stadtverordnete Frantzen seine Bedenken über Belästigungen durch Emissionen: „Ich erlaube mir, Ihre Aufmerksamkeit auf die Tatsache zu lenken, daß die Flittarder Bürgerschaft in zunehmendem Maße über das Vordringen der Farbenfabriken Bayer beunruhigt ist.“173 Keineswegs war die Bürgerschaft aber wegen der Existenz der Emissio170 Vgl. ebd. Die Schuldzuweisung an die Wetterverhältnisse sind gleichfalls Ausdruck einer eingeprägten Denkweise und drückten ebenso eine gewisse Hilflosigkeit aus. Es war schon seit langer Zeit nun einmal betriebliche Wirklichkeit gewesen, dass etwa die Windrichtung und -stärke für Schäden und Belästigungen verantwortlich war. So berichtete schon ein Direktor der Farbenfabriken Bayer Leverkusen im Jahre 1955 an Chefingenieur Rieß: „Beim augenblicklichen Westwind qualmt der Schwefel-Natrium-Kamin stark. Gestern hat mein Wagen 20 Minuten in diesen Schwaden gestanden und dabei sehr stark gelitten.“ Doch war sich der Geschädigte auch darüber bewusst, dass seine Bitte „die Sache ganz abzustellen“ mit den Worten des Betriebsleiters kommentiert würde: „‚Es war ja nicht so schlimm!‘“ Vgl. Aktennotiz des Sekretariat der Ingenieurverwaltung betreffend telefonischer Anruf von Herrn Direktor Dr. Böhme vom 06. Juli 1955, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1954– 1956. 171 Vgl. Brief von Oberstadtdirektor Dr. Grimm an Chefingenieur Rieß vom 15. April 1955, in: BAL 59/384; Ingenieurverwaltung, Abwasser und Abluft-Labor 1954–1956. 172 Schreiben des AWALU-Laboratoriums an Chefingenieur Rieß vom 12. Juli 1960, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1961–1962. 173 Brief des Stadtverordneten Eduard Frantzen an Prof. Dr. Kurt Hansen / Farbenfabriken Bayer
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nen beunruhigt. Vielmehr richtete sich die Bitte an Hansen, einen entsprechenden Schutz durch einen 100 Meter breiten Grüngürtel anzulegen, der „seit Jahren gefordert und von den FFB (Farbenfabriken Bayer, T.J) auch zugesagt war“.174 Auch in diesem Falle wird ersichtlich, mit welch einfachsten Mitteln es erstens dem Konzern gelang, eine Eskalation und schwere Protest zu vermeiden. Es wird zweitens deutlich, mit welch geringen Maßnahmen sich die Menschen in der Werksumgebung zufrieden gaben. Nicht die Abstellung der Emissionen war das Ziel der Nachbarschaft, sondern ein einfacher Schutz in Gestalt eines Grüngürtels genügte ihnen und vermittelte die Patronage des Werkes.175 Wie sehr das Unternehmen im Mark erschüttert war, als diese Patronage und seine Macht- und Deutungshoheit Mitte der 1960er Jahre infrage gestellt wurde, kann ebenfalls an der oben erwähnten Auseinandersetzung um den zu errichtenden Schutz durch den Grüngürtel gezeigt werden. Ein Anwohner des Stadtteils Flittard schlug einen nicht üblichen Weg ein. Er versuchte nicht, die Angelegenheit mit Bayer selbst zu klären sondern wandte sich an die Stadt Köln und die Lokalpresse. Dies führte zu einer heftigen Reaktion des Vorstandmitgliedes und Chemikers der Abwasser- und Abluftkommission Heimsoeth in der Korrespondenz mit dem Beschwerdeführer. Beinahe aufwieglerisch und zugleich spöttisch reagierte der besagte Anwohner wiederum auf die Empörung des Werksbevollmächtigten: „Wie ich aus Ihrem Schreiben entnehme, sind Sie ungehalten darüber, daß ich mich im Zusammenhang der Frage der Ausdehnung der Farbenfabriken Bayer A.G. zuerst an den Rat der Stadt Köln und die Kölner Lokalpresse gewandt habe, anstatt zuvor mit den Bayerwerken Verbindung aufzunehmen, wie dies nach ihrer Ansicht richtig gewesen wäre.“176 Der Unmut des Nachbarn wird aus seinem Brief weiter ersichtlich. Es hatte im Vorfeld eine Erklärung von Seiten des Werkes gegeben, um die Grenzausdehnung in Richtung Köln zu rechtfertigen. Diese „äußerst unkonstruktive Darstellung“ zeigt die Perzeption der Kräfteverhältnisse aus nachbarschaftlicher Sicht, wobei sich der Anwohner gleichwohl als „allein auf weiter Flur“ wahrnahm.177 Für ihn besonders empörend war die bekundete Ansicht von Bayer, dass ein Großteil der Flittarder Bevölkerung bei den Farbenfabriken beschäftigt sei, womit sinngemäß der Bürgerschaft ihre Existenzgrundlage vor Augen geführt wurde. „Ich habe diese Bemerkung so verstanden, daß die Flittarder Bevökerung in besonderem Maße auf die Interessen der Bayerwerke Rücksicht zu nehmen habe, und ich kann mein Befremden über diese Einstellung nicht verhehlen. Ich habe aus diesem Gespräch gefolgert, daß ein Gedankenaustausch der Farbenfabriken Bayer mit der betroffenen Bevölkerung nur den Zweck hat, einmal gefasste Beschlüsse der Firma zur Kenntnis zu geben, und keinen Zweifel darüber
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AG vom 30. Juni 1964, in: BAL 59/384; Ingenieurverwaltung, Abwasser und Abluft-Labor 1964–1967. Vgl. ebd. Ob die „herzliche Bitte“ an Hansen diesen Vorgang „besonders zu prüfen und eine Abschirmung herzustellen“ direkt erfüllt wurde, konnte wegen diverser baulicher Maßnahmen des Werkes zu dieser Zeit nicht mehr nachvollzogen werden. Vgl. ebd. Brief des Anwohners Wolfram Michael Brück an Dr. Heimsoeth vom 11. August 1964, in: BAL 59/384; Ingenieurverwaltung, Abwasser und Abluft-Labor 1964–1967. Vgl. ebd.
3.1 Legitime Kontinuität des Risikohandelns
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aufkommen zu lassen, daß die getroffenen Entscheidungen betriebsnotwendig und daher unumstößlich sind.“178
Es handelt sich bei dieser Form der Beschwerdeführung um die einzige dieser Art, die sich in den Überlieferungen finden ließ, und sie konnte die geplante Ausdehnung nicht stoppen. Jedoch finden sich auch in einer solchen, gegen das Werk gerichteten Tirade, Hinweise auf eine gewisse Einsichtigkeit und der Wunsch nach friedvollen Verhältnissen. Sie wurden ebenfalls durch das Wissen der Anwohnerschaft um ihre Chancenlosigkeit geschürt und ließen eine Auseinandersetzung allein auf höheren gesellschaftlichen Ebenen möglich erscheinen. Die Meinung des Anwohners, „daß sich die Stadt Köln mit den Farbenfabriken ins Benehmen setzen sollte“179 zeigt sogar bei einer solch unpopulären Art der Beschwerdeführung eine gewisse Ehrfurcht vor dem Leverkusener Werk; die Stadt und nicht Bayer hatte den ersten Schritt zu machen. In dieser historischen Konstellation wurde der Anwohnerschaft ihr Recht auf Protest gewissermaßen durch die beim Unternehmen liegende Macht- und Deutungshoheit über die Risiken der Produktion und das darauf bezogene unternehmerische Handeln entzogen. Nicht die präventiven Maßnahmen zur Eindämmung der produktionsinduzierten Risiken verliehen dem Unternehmen Legitimität, sondern die wirtschaftliche Prosperität und in diesem Gefolge das tradierte Verständnisses eines paternalistischen Ordnungsgefüges zwischen Werk und organisationalem Feld. Diese Ordnungsvorstellungen zogen sich auch durch die kommenden Jahre. Mitte der 1960er Jahre hatte der Bayer-Konzern gleich mit zwei Geschehnissen zu tun, die die Aufmerksamkeit der Menschen im Leverkusener und Kölner Raum erregte. Erstens handelte es sich um schwere Lackschäden an Kraftfahrzeugen, die durch Emissionen verursacht und im Volksmund als „Auto-Pocken“ pathologisiert wurden. Der Schaden durch die mysteriöse Erscheinung unbekannten Ursprungs ging in die Millionen (DM), und auch das Gewerbeaufsichtsamt kapitulierte vor der Aufgabe, den Verursacher zu finden.180 In einer streng vertraulichen Notiz für den Vorstandsvorsitzenden Hansen wird von 7.000 beschädigten Fahrzeugen berichtet, „die sog. Autopocken haben die Farbenfabriken Bayer somit fast 1 Mio. DM gekostet.“181 Schließlich konnten sechs Substanzen in „kriminalistischer Fleißarbeit“ als verantwortlich identifiziert werden, wobei fünf davon zweifelsfrei vom Bayerwerk stammten.182 Mit einer zwischen Mutlosigkeit und Zuversicht schwankenden Haltung des AWALU-Labors wurde gegenüber dem Chef des Konzerns dann das Fazit gezogen: „[…] Eine vollständige Ausmerzung der Vorkommnisse wird nicht gegeben sein. Dieser Tatbestand darf aber nicht dazu führen, daß die Verantwortlichen sich hinter ihm verstecken. Es kann noch sehr vieles getan werden, 178 Ebd. S. 2. 179 Vgl. ebd. 180 Vgl. „Auto-Pocken gehen in die Millionen“, aus: Kölner Stadtanzeiger, ohne lfd. Nummer, 1964, ohne Seitenangaben, Abschrift der volkswirtschaftlichen Abteilung / Pressereferat, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1964–1967. 181 Persönliche und streng vertrauliche Notiz des AWALU-Labors für Herrn Prof. Dr. Kurt Hansen betreffend Auto-Lackschäden vom 14. Dezember 1966, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1964–1967. 182 Vgl. ebd. S. 4.
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um die Gefahr zu mildern und das dafür Nötige sollten wir tun.“183 Sicherlich aufgrund des Ausmaßes der Schäden lässt sich hier in der öffentlichen Meinung eine breitere Front gegen Bayer finden. Angeführt wurden die Geschädigten vom Oberbürgermeister Leverkusens, der gleichfalls zu den Leidensgenossen zählte. Insbesondere der Obmann der Stadt machte gleichzeitig gegen das Gewerbeaufsichtsamt Stimmung, da dieses nicht über solche Experten wie Bayer selbst verfüge, um den Vorfall aufzuklären.184 So musste der zuständige Regierungsdirektor eingestehen: „Wir haben keine Möglichkeit zu messen oder zu analysieren. […] Das steckt bei uns nicht drin“.185 Bayer hingegen entsandte „ein Heer von Chemikern, Luftanalysten, Abgasexperten und Werksschützern“, um dann zu dem Ergebnis zu kommen, dass „die Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist, daß wir es waren“ und das Phänomen ausschließlich „von der Windrichtung abhängt“.186 Gleichzeitig sei aber auch ein vom Gewerbeaufsichtsamt, der Landesregierung und des Bundesgesundheitsministeriums verlangter Bericht „mit äußerster Vorsicht und unter Einschaltung des zuständigen Juristen“ abzufassen.187 Letztlich blieb es auch in diesem Falle bei einer teilweisen Erstattung der Schäden und der vagen Erkenntnis, dass die Emissionsquellen sich vermutlich innerhalb eines Bereiches von sechs Werksblöcken befanden.188 Das Muster des reaktiven Risikomanagements hatte sich sicherlich weiterentwickelt, da die Ursachensuche akribischer wurde. Jedoch lassen sich auch hier altgediente Handlungs- und Verhaltensstrategieelemente finden, zu denen das Vonsichweisen von Schuld sowie halbherzige Gegenmaßnahmen und damit habitualisierte Normalität der Verhältnisse gehörten. Dies galt wiederum sowohl auf Seiten des Unternehmens als auch auf der Seite der Anrainer. Auch hier finden sich Anweisungen aus dem Werk, die sich auf die Ereignisse selbst beziehen. Die Verantwortlichen von Bayer wollten die Umstände auf breiter Front – von den Betriebsleitern bis zu den Abteilungsvorständen und Direktoren – geklärt wissen. Der Tenor war aber auch diesmal lediglich jener eines halbherzig erhobenen Zeigefingers, wie dies seit Jahren betriebliche Praxis war: „Kurz vor einer Pressekonferenz, die der Bevölkerung die Anstrengungen und Fortschritte der FFB (Farben Fabriken Bayer, T.J) auf dem Gebiet der Luftreinhaltung vor Augen führen sollte, sind in der Umgebung des Werkes Lackschäden an PKWs in einem Ausmaß aufgetreten wie nie zuvor. Außerdem war die Geruchsbelästigung am Tag vor und nach der Pressekonferenz besonders stark. […] Die von uns […] durchgeführten Verbesserungen erscheinen weiten Bevölkerungskreisen unter diesen Umständen unglaubwürdig. Es muß daher alles daran gesetzt werden, daß sich ähnliche Vorkommnisse nicht wiederholen. […] 183 184 185 186 187 188
Ebd. S. 5. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. Rundschreiben Nr. 2 der Abteilung Wasserreinhaltung und Immissionsschutz an die Herren Betriebsleiter des Werkes Leverkusen / Zur Kenntnis den Herren Direktoren, Prokuristen und Abteilungsvorständen vom 11. September 1964, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1964–1967.
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Wir bitten alle Betriebsleiter dringend um ihre Mitarbeit zur Feststellung dieser Emissionen und ersuchen sie, ihre Betriebe umgehend und sorgfältig auf Emissionsquellen, auch versteckter Art, zu überprüfen und gegebenenfalls Maßnahmen zu ergreifen, um künftighin derartige Schäden zu vermeiden.“189
Die zweite prekäre Situation entstand dem Unternehmen in den Jahren 1964 und 1965. Anlass war ein von der Stadt Köln in Auftrag gegebenes Luftgutachten, das die Emissionsverhältnisse hauptsächlich in Bezug auf die Schwefeldioxyd-Ausstöße erfassen sollte. Bereits in den Jahren 1958 bis 1961 hatte das Regierungspräsidium Düsseldorf ein ähnliches Gutachten erstellen lassen, in dem Bayer zu hohe Staub- und Schwefeldioxyd-Emissionen aus den Hauptfabrikationsstätten sowie eine unzulässig niedrige Höhe mancher Kamine nachgewiesen worden waren.190 Zur Erregung der Gemüter führte nun, dass das 1964er-Gutachten nicht wie vorgesehen vom Auftraggeber selbst anerkannt wurde, da die Stadt Köln seine Anwendbarkeit auf den nördlichen Teil der Stadt, an den das Leverkusener Werk angrenzt, in Frage stellte.191 In Bezug auf die vom VDI entworfene Richtlinie zur Reinhaltung der Luft und der TA-Luft sowie der darin vorgeschriebenen Messmethoden wurde hier von einer breiten Öffentlichkeit erstmals die Frage aufgeworfen, ob es sich um eine „‚industriefreundliche‘ Richtlinie“ handele.192 Zu einem klaren Urteil konnte sich die öffentliche Meinung allerdings nicht durchringen: Man hatte es, so die Schlussfolgerung, hier durchaus mit technischem Neuland193 zu tun und erteilte damit der emittierenden Industrie abermals einen Freifahrtschein. Nichtsdestotrotz darf dieses angedachte Luftgutachten als Warnschuss angesehen werden, bevor sich Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre ein Emissionskataster herauskristallisierte. Die Wirren um das zunächst in Auftrag gegebene und dann nicht verwertete Gutachten beförderten erstmals einen Zusammenschluss von Kölner Bürgern, der vom Unternehmen wahrgenommen wurde. Auch wurde den Mitgliedern bei einem „gut vorbereiteten Werksbesuch“ Gehör geschenkt.194 Sie wurden von BayerVertretern aufgefordert, sich explizit zu den ihrer Meinung nach von Bayer ausgehenden Belästigungen zu äußern. Es stellte sich aber schnell heraus, dass die Gruppe keine direkten Vorwürfe gegen Bayer selbst erhob, sondern „gegen alle ihrer Meinung nach unzumutbaren Immissionen verursachender Industrien. Sie 189 Ebd. 190 Vgl. Schreiben des Regierungspräsidiums Düsseldorf / Regierungspräsident an die Farbenfabriken Bayer AG betreffend Bericht über die innerbetrieblichen Erhebungen bei den als Abgasquellen wesentlichsten Werksanlagen der Farbenfabriken Bayer AG in Leverkusen, hier Gutachten über Emissionsverhältnisse vom 18. September 1961, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1961–1962. 191 Vgl. „Vermögen in die Luft gejagt?“, aus: Kölner Stadtanzeiger Nr. 82 vom 07. April 1965, ohne Seitenangabe, Abschrift der volkswirtschaftlichen Abteilung / Pressereferat, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1964–1967. 192 Vgl. Ebd. 193 Vgl. Ebd. 194 Vgl. Aktennotiz von Dr. Winkle an Dr. Böker / Ingenieurverwaltung betreffend Besuch von Kölner Bürgern am 28. Mai 1964, S. 1, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1964–1967.
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sind der Meinung, daß die Gewerbeaufsicht den Betreibern von Anlagen nicht die notwendigen Bedingungen auferlegt.“195 Im Fortgang der Unterredung trat der bekannte Effekt der Beruhigung ein; nach einigen Fachsimpeleien, einem offenen Ohr der Bayer-Vertreter und ihrer Zustimmung gegenüber der Fünfergruppe, dass es besonders bei bestimmten Wetterverhältnissen zu starken Belästigungen komme, konnte protokolliert werden: „[d]aß die Bevölkerung für Belästigungen, die durch Betriebsstörungen hervorgerufen werden, durchaus Verständnis hat und in solchen Fällen, wo die Tatsache der Betriebsstörung, Ort und Herkunft der Immissionen bekannt sind, nicht beunruhigt ist.“196 Die seltsam anmutende Einstellung, wonach gerade eine Beruhigung eintritt, wenn es sich nachweislich um eine Betriebsstörung handelt, deutet darauf hin, dass Betriebsstörungen als Normalfall angesehen wurden und ihnen damit von der kulturellen Rahmung Bayers keine Gefahr zugeschrieben wurde. Sie deutet außerdem auf ein hohes Maß an Vertrauen und auf die Zuschreibung von Richtigkeit gegenüber dem unternehmerischen Risikohandeln der Farbenfabriken hin, da weitere Kontrollinstanzen aus Sicht der kulturellen Rahmung offensichtlich nicht nötig wurden. Dies kann noch weiter untermauert werden: Nach einer „gemütlichen Rundfahrt durch das Werk […]“ konnten die Bayer-Ingenieure ihre „Ansichten zu dem Luftgutachten Dr. Berge (hierbei handelte es sich um den Sachverständigen des 1964er-Gutachtens im Auftrag der Stadt Köln, T.J) und die Luftverhältnisse in Köln“ darlegen.197 „Hierbei stellte sich heraus, daß die Herren einseitig unterrichtet waren. Es dürfte bei diesem Gespräch gelungen sein, ihr bisheriges blindes Vertrauen zu den Angaben des Herrn Dr. Berge sehr zu erschüttern. Durch Vergleich der Meßwerte des Herrn Dr. Berge und unserer eigenen SO2 -Messungen mit den Meßergebnissen aus anderen Großstädten der Bundesrepublik und des Auslandes führten wir den Herren die guten Kölner Verhältnisse deutlich vor Augen. […] Nach ihren eigenen Angaben besitzen die Herren in Fragen der Luftreinhaltung bei der Bevölkerung mehr Einfluß als die Stadtratsmitglieder. […] In der Unterhaltung konnten alle Mißverständnisse ausgeräumt werden. Gleichzeitig ist es gelungen, die Herren mit den bei Bayer zur Luftreinhaltung getroffenen Maßnahmen zu beeindrucken und ihre bisherige einseitige Informierung durch unsere Stellungnahme erfolgreich zu ergänzen.“198 195 196 197 198
Vgl. ebd. S. 1. Ebd. S. 1. Vgl. ebd. S. 2. Ebd. S. 2. Bei den angesprochenen Maßnahmen zur Luftreinhaltung handelte es sich um das so genannte „Doppelkontaktverfahren“ zur Milderung der Schwefeldioxyd-Emissionen. Dieses Verfahren wurde nach zehnjähriger Erprobungsphase 1964 erstmals angewendet. In der Tat konnte das Unternehmen lange vor weiteren Luftreinhaltegesetzen eine technische Innovation präsentieren. Wie sich im weiteren Verlauf der Arbeit aber zeigen wird, konnte diese technische Lösung die Emissionen zwar eingrenzen, aber nicht abstellen. Das Doppelkontaktverfahren gilt zudem als erste vermarktungsfähige „Umwelttechnologie“ des Unternehmens. Vgl. hierzu auch Erik Verg / Gottfried Plumpe / Heinz Schultheis, S. 402–403. Es konnte eine Senkung der Schwefeldioxidkonzentration um 80–90 % erreicht werden. Zur Größenordnung: Im Jahre 1955 wurden etwa 20 Tonnen Schwefeldioxid täglich in die Atmosphäre abgegeben. Vgl. Rieß an Direktor Kleber vom 18. Juli 1955, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1959–1960.
3.1 Legitime Kontinuität des Risikohandelns
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Dieses Zitat markiert das Ende einer Episode, in der das Werk Leverkusen und der Konzern einem aufkeimenden Protest ausgesetzt wurde. Selbst Mitte der 1960er Jahre zeigt sich noch die Macht- und Deutungshoheit des Unternehmens über produktionsinduzierte Risiken gegenüber der Nachbarschaft und allgemein der Bevölkerung in seiner Werksumgebung; sie scheint gar auf ihrem Höhepunkt angekommen zu sein.199 Eine einzige Werksführung – die für diese Zeit durchaus als Seltenheit bezeichnet werden darf – reichte aus, um den aufflammenden Protest der Bürgervertreter im Keim zu ersticken. Ein offizielles Gutachten, das wenige Tage zuvor noch für Furore gesorgt hatte und von einem unabhängigen Sachverständigen erstellt worden war, konnte innerhalb weniger Stunden in einer Art und Weise Lügen gestraft werden, zu der nur eine Machtautorität im Stande war. Die Deutung dessen, was ein Risiko für die natürliche und lebensweltliche Umwelt beinhaltet, lag allein in den strukturellen Bedingungen des paternalistischen Unternehmens. Diese Kohärenz war über einen langen Zeitraum aus einem Vertrauensverhältnis zwischen Werk und Werksumgebung erwachsen – oder besser: durch das Ehrfurchtsverhältnis in den historisch-kulturellen Sinnzuschreibungen gegenüber Bayer. Die Unternehmensvertreter hatten leichtes Spiel, den Redeführern ihre eigenen Deutungen der produktionsinduzierten Risiken und ihrer Bewältigung vor Augen zu führen. Entscheidend für den Umgang mit produktionsinduzierten Risiken waren und sind seit dem Bestehen chemischer Fabrikationen das Verhalten und die Handlungsmöglichkeiten von Behörden, Öffentlichkeit und Verursachern.200 Hier beobachten wir bis in die ausgehenden 1960er Jahre zweierlei Ausprägungen: Zum Einen existierte dieses Thema zwar beim organisationalen Anrainer-Akteur, es führte jedoch nicht zu weitgreifenden Protesten gegenüber der chemischen Industrie, da der Problematik im Wissen um die Übermächtigkeit der Werke eine gewisse Normalität zugesprochen wurde. Gestützt wurde dies durch die kaum vorhandene Durchsetzungsmacht der zuständigen Behörden und ihre oftmals feststellbare Kapitulation vor den strukturellen Bedingungen. Diese Tatsache scheint mir mitverantwortlich für das beschriebene industriefreundliche Milieu, das in Bezug auf produktionsinduzierte Risiken nur den Konsens im Sinne einer Nichtanfeindung kannte. Zwar rumorte es sicherlich mancherorts gegen Ende der 1960er Jahre häufiger, als dies noch in den 1950er Jahren der Fall gewesen war, wenn es zu zaghaften Protesten gegen die Bedingungen in der Werksumwelt kam. Bei diesen Vorläufern eines „technikkritischen Umweltschutzes“ handelte es sich aber um lokale Phänomene, was insbesondere im Leverkusener und Kölner Raum zu beobachten war. Sie konnten ohne große Anstrengungen von Seiten der Unternehmen bezwungen bzw. nicht ernst genommen werden.201 Zum Zweiten hatten die Unternehmen über die Jahrzehnte ihre Übermacht dazu genutzt, die Sinndeutungen der Bevölkerung 199 Diese Machthoheit rekurrierte sicherlich auch auf dem Einfluss der (Industrie-)Verbände in dieser Zeit. Vgl. beispielhaft Siegfried Mann: Macht und Ohnmacht der Verbände. Das Beispiel des Bundesverbandes der Deutschen Industrie e.V. (BDI) aus empirisch-analytischer Sicht, 1. Auflage, Baden-Baden 1994. 200 Vgl. Franz-Josef Brüggemeier / Michael Toyka-Seid, S. 151. 201 Zur These der lokalen Vorläufer vgl. Jens Ivo Engels, 2006, S. 49.
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zu okkupieren oder extrem einfach zu verändern und zu beeinflussen, indem dem altgedienten Topos der Ortsüblichkeit oder der Normalität gefolgt wurde. Diese Zuschreibung von Normalität bewegte sich also zwischen zwei Polen: Erstens war es für die kulturelle Rahmung normal, dass es in den großen Chemiewerken teilweise gefährliche Emissionen und Betriebstörungen gab, und zweitens war es normal, dass es sinnlos war, dagegen vorzugehen. All diese Aspekte sehe ich gekoppelt mit einer allgemeinen Protestmüdigkeit und einer gering ausgeprägten Partizipationsbereitschaft der bundesdeutschen Gesellschaft nach 1945. Im hier betrachteten Zeitraum konnte kein beschleunigter institutioneller außer- und innerunternehmerischer Wandel stattfinden. Dies gilt sowohl für den formalen als auch für den informellen institutionellen Kontext der betrachteten Unternehmen. Die Folge war ein Weiterbestehen der Spielregeln des legitimen Risikohandelns und die stetige Verschlechterung hauptsächlich der Luft- und Wasserverhältnisse in der betrachteten Region der Rheinschiene. Der institutionelle Kontext und die kulturelle Rahmung akzeptierten diese Verhältnisse zu großen Teilen, was alten Gefahrenzuschreibungen und Gewohnheiten geschuldet war. Dort, wo es zu punktuellen Protesten gegen die chemische Industrie kam, herrschten ungleiche Machtverhältnisse zwischen den Akteuren zu Gunsten der Unternehmen. Ich werde im Weiteren aufzeigen, dass dies die Gründe für eine nur geringe Berücksichtigung organisatorischer Maßnahmen im Innern der Unternehmen gewesen sind, die auf den Schutz der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt ausgerichtet waren. 3.1.3 Nur das Nötigste: Spärliche Organisation und wenige innerbetriebliche Maßnahmen gegen Umweltrisiken Die rapide Verschlechterung der Wasserqualität des Rheins und die stark zugenommenen Emissionen veranlassten die Farbenfabriken Bayer Leverkusen im Jahre 1954 ein Abwasser- und Abluft-Laboratorium einzurichten. „Der durch die steigende Produktion unseres Werkes bedingte größere Anfall an Abwasser und Abluft macht es erforderlich, im Interesse der Sauberhaltung des Rheines und der Atmosphäre des Wohnraumes von Leverkusen, der Reinigung dieser Abgänge eine wesentlich grössere Aufmerksamkeit zu schenken, als es bisher der Fall war.“202 Diese institutionelle Einrichtung wurde mit Chemikern und Ingenieuren besetzt, war der 202 Direktionsrundschreiben Nr. 1652 vom 23. Juli 1954 betreffend Abwasser- und Abluft-Laboratorium (AWALU-Labor), in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1954–1956. Der Schutz der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt hatte zuvor im Unternehmen rudimentären Charakter. Im Jahre 1901 kam es zur Gründung einer Abwasser-Commission, die monatlich tagte. Die Messungen der Schadstofffrachten der Abwässer und der Luft-Emissionen fand bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs ebenfalls in einem monatlichen Turnus statt. Im Jahre 1948 erfolgte die Bestellung eines Abluft-Beauftragten für das Werk Leverkusen. Vgl. Bayer Umweltschutz-Informationen Nr. 22, Stand Juli 1977, in BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1977–1979. All diese Maßnahmen weisen auf einen Fokus des Unternehmens hin, seine produktionsinduzierten Risiken durch eine Eigenüberwachung handhaben zu wollen. Es zeigt ebenfalls, dass man um die Risiken wusste, die von den eigenen Produktionsstädten ausgingen.
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Anorganischen Abteilung angegliedert und genoss Weisungsbefugnis gegenüber den Betrieben. Die Forderung des Direktionsrundschreibens lässt Rückschlüsse auf die bis dahin bestehenden Verhältnisse im Werk Leverkusen zu, da „es als selbstverständlich vorausgesetzt wird, daß alle Betriebe ihre Abwässer und Immissionen selbst genau überprüfen und nur solche Abwässer in das Kanalsystem einleiten, die entweder unschädlich für den Rhein sind oder durch betriebliche Reinigungsmaßnahmen weitgehend unschädlich gemacht wurden, bezw. die Abgase […] derart vorreinigen, daß Gas- oder Rauchschäden in der Umgebung des Werkes in Zukunft ausgeschlossen sind.“203
Die Vermutung liegt nahe, dass mit dem neu errichteten Laboratorium ebenfalls die werksinterne Dokumentation der Abwasser- und Abluftverhältnisse angestrebt wurde, um eigene Vorschläge zur Lösung des Problems zu erarbeiten, „die wir auch gegenüber den Behörden vorweisen können.“204 Hauptsächlich erfolgte diese Dokumentation jedoch für den internen Gebrauch. Von Optimismus, die Emissionsverhältnisse schnell und gründlich durch das neu geschaffene Gremium verbessern zu können, konnte jedoch keine Rede sein: „Damit werden die Grundlagen für eine weitere Betriebsüberwachung geschaffen, so daß in Zukunft, in dem Maße wie hier Verbesserungen erarbeitet werden können, auch Art und Menge der Immissionen sich ändern werden. […] Selbstverständlich erfordern diese Maßnahmen Zeit und es läßt sich heute noch nicht übersehen, wie und wie schnell sie wirksam werden.“205 So erhielt das Laboratorium den Auftrag „durch laufende Kontrolle die Abwasser und Immissionen erzeugenden Betriebe ständig zu überwachen und Erfahrungen zu sammeln über die anfallenden Werte und über die Möglichkeiten für die Reinigung dieser Abgänge.“206 Den Betrieben und einzelnen Produktionsstätten wurde ein Ermessungsspielraum beim Umgang mit den von ihnen erzeugten Risiken zugestanden. Es wurde „als selbstverständlich vorausgesetzt, daß das Laboratorium und seine Arbeitskräfte ständig Verbindung mit den Betrieben halten und die Ergebnisse ihrer Untersuchungen vor anderweitiger Verwertung mit den betreffenden Abteilungen besprechen.“207 Administrative Rahmung des Laboratoriums wurde eine neu gegründete Abwasser- und Abluft-Kommission, deren Aufgabe es war, „Richtlinien für die Art der Überprüfung herauszugeben, die Schwerpunkte der Überprüfungen zu bestimmen […] und die Ergebnisse der Untersuchungen zu verwerten.“208 Der vorläufige Höhepunkt an organisatorischen Maßnahmen zum Schutz der Werksumwelt im hier zu analysierenden Zeitraum bis zum Ende der 1960er Jahre war
203 Direktionsrundschreiben Nr. 1652 vom 23. Juli 1954 betreffend Abwasser- und Abluft-Laboratorium (AWALU-Labor), in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1954–1956. 204 Vgl. ebd. 205 Dr. Zimmermann/Anorganische Abteilung an Ingenieurverwaltung betreffend Immissionsschäden vom 20. August 1954, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und AbluftLabor 1954–1956. 206 Vgl. ebd. 207 Vgl. ebd. 208 Vgl. ebd.
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schließlich die Bildung einer selbstständigen Abteilung Wasserreinhaltung und Immissionsschutz im Jahre 1964.209 Mit dieser institutionellen Stelle hatte sich das Bayerwerk ein Instrumentarium geschaffen, das erstens jenes Wissen über die produktionsinduzierten Risiken im Unternehmen bündelte und dieses damit auch für die zuständigen Funktionsbereiche zugänglich machte. Zweites hatte man damit aber auch ein Signal gesetzt, das auf die Eigenverantwortung und die innerbetriebliche Suche nach zukünftigen Lösungen verwies. Über die Schwierigkeiten, diesen Forderungen gerecht zu werden und die zukünftigen Probleme in den Griff zu bekommen, war man sich im Klaren, wobei in dieser frühen Phase organisatorischer Gegenmaßnahmen eine gewisse Rat- und Mutlosigkeit zu erkennen ist: Es erfolgte noch der bittende Hinweis an die Stellen des mittleren und gehobenen Managements, dass die Arbeit des Laboratoriums von „allen Herren Abteilungsvorständen und Betriebsleitern […] nach besten Kräften“ zu unterstützen sei.210 Das Henkel-Werk in Düsseldorf-Holthausen hatte produktionsbedingt vermehrt mit Abwasserproblemen zu kämpfen:211 Bereits 1959 war sich eine Betriebskonferenz des Unternehmens einig: „Während sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts kaum jemand um Abwasserfragen kümmerte, wird der Frage der Reinhaltung der Gewässer, insbesondere mit der Entwicklung der chemischen Industrie, immer größere Bedeutung beigemessen. […] Wenn man die Verschmutzung des Rheines vom Quellgebiet an bis zur holländischen Grenze und die Abnahme des Sauerstoffgehaltes auf diesem Wege betrachtet, so ergibt sich daraus auch für unser Werk die Notwendigkeit, eine Verbesserung des eigenen Abwassers mit allen geeigneten Mitteln anzustreben.“212
Aus diesem Grunde hatte sich auch bei der Waschmittelfabrik Henkel 1958 ein ähnliches Abwasser-Laboratorium wie bei Bayer in Leverkusen konstituiert, und die 209 Vgl. Bayer Umweltschutz-Informationen Nr. 22, Stand Juni 1973, in: BAL 59/384; Ingenieurverwaltung, Abwasser und Abluft-Labor 1971–1973. Hierauf wird weiter unten noch einmal eingegangen. 210 Vgl. ebd. Im Jahre 1962 wurde per Vorstandsbeschluss die Leitung der Kommission von einem Ingenieur an den Chemiker Dr. Heimsoeth übertragen, da „der Vorstand auf dem Standpunkt steht, dass die Leitung der AWALU-Kommission wegen der zahlreichen fabrikationsabhängigen Fragen besser in den Händen eines Chemikers liegen sollte […].“Vorstandsitzung in Leverkusen am 10. Mai 1962, in: BAL 387/1 Vol. 5 Vorstandsprotokolle 19.04.1962–05.06.1963. Damit war die organisatorische Verantwortung der produktionsinduzierten Risiken auch fachlich einem altgedienten Chemiker übertragen. 211 Sicherlich war man sich auch im Düsseldorfer Traditionsunternehmen über die eigenen Emissionspotenziale und die daraus entstehenden Immissionen bewusst: „Diese Immissionen stellen ein ebenso ernstes Problem wie das Abwasser dar, da sie nicht nur unser Verhältnis zur Aufsichtsbehörde, sondern auch unser Verhältnis zur Nachbarschaft stark belasten. Die Nachbarn können bei sehr erheblichen Belästigungen den Antrag auf Verbote stellen. Sie können in jedem Fall Schadenersatzansprüche stellen.“ Niederschrift über die Betriebskonferenz Nr. 10 vom 10. Oktober 1960, in: Konzernarchiv Henkel J 105, Betriebskonferenzen 1943–1976. Doch schienen den neu geschaffenen Überwachungsorganen hier nur eine kommissarische Rolle zuzufallen. 212 Niederschrift über die Betriebskonferenz Nr. 2 vom 03. Februar 1959, in: Konzernarchiv Henkel J 105, Betriebskonferenzen 1943–1976.
3.1 Legitime Kontinuität des Risikohandelns
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bereits bestehende Abteilung Abwasserkontrolle wurde hieran angegliedert. Der unternehmensinternen Inspektionsinstanz wurde die Aufgabe übertragen, „stündlich in den Werksabläufen und täglich in den Abteilungen Abwasserproben“ zu nehmen. Außerdem „werden die Betriebe begangen, um Verbesserungsvorschläge auszuarbeiten. Auch bei der Planung von Neuanlagen arbeitet die Abwasserkontrolle mit, um von vorn herein günstige Abwasser-Verhältnisse zu schaffen. Zur Zeit wird geprüft, ob eine Vereinigung der beiden Werksausläufe, von denen der eine meist saures, der andere alkalisches Wasser führt, von Vorteil ist.“213 Henkel nutzte diese interne Stelle ebenfalls, um sich einen Eindruck über die Zusammensetzung der Abwässer nach den Produktionsausdehnungen in den 1950er Jahren zu verschaffen. Ziel war auch hier, die Legitimierung des Anspruchs auf Eigenüberwachung gegenüber den zuständigen Behörden und der innerbetrieblichen Dokumentation, um den Alleinvertretungsanspruch zu festigen: „Aus Gründen der Eigenverantwortung und der Zuständigkeit unseres Werkes tritt jedenfalls die Notwendigkeit auf, sich schon heute mehr denn je mit der Frage der Reinhaltung der Abwässer zu beschäftigen. Dabei wird der Standpunkt vertreten, daß es am zweckmäßigsten ist, wenn jeder Betrieb seine Verhältnisse überprüft und das Abwasser vor dem Einlassen in die Hauptkanäle laufend beobachtet. Zur Beratung ist im Werk ein besonderes Abwasserlabor eingerichtet worden.“214
Damit wird auch bei Henkel die Forderung nach einer Selbstverantwortung durch eine Eigenkontrolle ersichtlich. Die guten Absichten, die Abwässer durch die einzelnen Betriebe beobachten zu lassen, zeigen jedoch, dass sich in der Vergangenheit auch bei der Firma Henkel Probleme angesammelt hatten, denen die zuständigen Stellen nur noch schwer beikommen konnten. Deshalb erging auch hier noch einmal explizit der Appell: „Alle Anwesenden wurden gebeten, sich mit diesem Problem zu beschäftigen, wobei auch auf das Beseitigen von Leckagen, den sorgfältigen Umgang mit allen Stoffen, die Betriebsreinigungsarbeiten, die Reinigung von Emballagen usw. hingewiesen wurde.“ Zusammenfassend lässt sich am Beispiel der Farbenfabriken Bayer Leverkusen für das Ende der hier betrachteten zwei Dekaden eine technisch- und organisatorische Aufstellung konstatieren, die der voranschreitenden Luftverschmutzung Einhalt gebieten sollte.215 Im Jahre 1967 hatten die zuständigen Stellen des Unternehmens einen Aufgabenkatalog für die Luftüberwachung zusammengestellt. Hierunter fielen das „schnelle Erkennen von Störungsfällen und Veranlassung von Gegenmaßnahmen“ sowie die „ständige Kontrolle der Luftverunreinigungen, die Beurteilungen der Bedeutungen einzelner Emissionsquellen, Projektierung von Verbesserungsmaßnahmen und Feststellung der Wirkung durchgeführter
213 Ebd. 214 Niederschrift über die Betriebskonferenz Nr. 9 vom 20. Mai 1958, in: Konzernarchiv Henkel J 105, Betriebskonferenzen 1943–1976. 215 Solche Aspekte werden von mir im weiteren Verlauf des Kapitels immer wieder aufgegriffen, insbesondere, wenn es um die eigentliche Darstellung der produktionsinduzierten Risiken und das daraus erwachsene Verhalten zur Prävention und Beseitigung im Innern der Unternehmen gehen wird.
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Verbesserungsmaßnahmen.“216 Die vorgesehenen Einrichtungen zur organisatorischen Risikoaufspürung und -prävention waren denkbar simpel, wie die nachfolgende Auflistung verdeutlicht: Schwenkbare Fernsehkameras sollten von der Werksmitte aus routinemäßig das Werksgelände nach sichtbaren Emissionen durchforsten. „Luftspürer“ – drei Chemielaboranten auf Fahrrädern – kontrollierten innerhalb des Werkes Emissionen und nahmen gegebenenfalls mit Hilfe einfacher Gerätschaften erste Analysen vor. Ein Messwagen registrierte die außerhalb des Werkes niedergehenden Immissionen und meldete erhöhte Konzentrationen an das AWALU-Laboratorium. Emissionsmessungen wurden an den Kanal-Auslässen und den Kaminen vorgenommen und „nach Möglichkeit kontinuierlich registrierend überwacht.“ Insgesamt 14 Schwefeldioxid-Messgeräte sollten genaue „Kenntnis über die Belastungen des Leverkusener-Dormagener-Raumes“ liefern; diese Messergebnisse wurden in Verbindung mit den Wetterverhältnissen ausgewertet und sollten damit Aufschluss über die „Verteilung und Verdünnung der Abluft in der Atmosphäre unter den verschiedenen Verhältnissen“ liefern.217 Welch geringe Bedeutung aber dem Schutz der Werksumwelt infolge von Störund Unfällen wirklich zukam, lässt sich am Alarmierungsplan der Farbenfabriken Bayer Leverkusen zeigen, indem höchstens implizit eine Warnung der Bevölkerung vorgesehen war. Eine Ausrichtung auf den Bestandsschutz und die Schadensinformation, die die klassischen Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital betreffen, ist Benachrichtigung bei schweren und tödlichen Unfällen unverkennbar. Unfallstelle (über Ruf-Nr. 110)
Betriebsleiter
Ärztliche Abteilung (Ruf-Nr. 6711)
Abteilungsleiter Abteilungsingenieur
Krankenhaus
Direktion
Werksleitung
Angehörige
Feuerwehr (Ruf-Nr. 6100)
Werksunfallschutz (Ruf-Nr. 6059)
Werkschutz
Techn. Direktion (Ruf-Nr. 6344)
Pressestelle
Kriminalpolizei
Direktionsabteilung
Gewerbeaufsichtsamt
Sozialabteilung
Betriebsrat
Berufsgenossenschaft
Abb. 4: Benachrichtigung bei schweren und tödlichen Unfällen (Bayer)218
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5
216 Vgl. Notiz des AWALU-Laboratoriums Luftüberwachung bei den Farbenfabriken Bayer Leverkusen vom November 1967, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und AbluftLabor 1967–1971. 217 Vgl. ebd. 218 Alarmierungsplan bei schweren und tödlichen Unfällen, herausgegeben von der Ingenieurverwaltung der Farbenfabriken Bayer Leverkusen, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1967–1971. Ein ähnliches Bild findet sich bei Henkel, hier wird das Organigramm der nach der erfolgten Spartenorganisation im Jahre 1969 ins Leben gerufenen
3.1 Legitime Kontinuität des Risikohandelns
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Durch das Fehlen der im Unternehmen bereits vorhandenen Abteilung Wasserreinhaltung und Immissonsschutz in der Graphik wird ersichtlich, dass eine explizite Benachrichtigung der Abteilung allenfalls über die Ingenieurabteilung vorgesehen war, was im Grunde der Daseinsberechtigung der Wasser- und Luftschützer widerspricht. Auch wird die lange Benachrichtigungskette bis zum Gewerbeaufsichtsamt deutlich, die auf die alleinige Vorherrschaft des Unternehmens über die produktionsinduzierten Risiken hindeutete und eine unternehmensexterne Sicht außen vorließ. Gleichfalls wird hierdurch die jederzeitige Kontrolle über die Situation suggeriert. Explizite Abwehrmaßnahmen zu ergreifen oder eventuelle Schäden in der Werksumwelt publik zu machen ist ebenso wenig vorgesehen wie ein reaktives Störfall- oder Katastrophenmanagement. Ich habe bis zu diesem Punkt versucht, sowohl den institutionellen Kontext in seinen für die Unternehmen wahrnehmungsrelevanten Facetten als auch die kulturelle Rahmung samt der (nicht notwendigen) Aushandlungsprozesse im Hinblick auf produktionsinduzierte Risiken und der zugehörigen Gefahrenzuschreibung darzustellen. Mehrfach bin ich dabei an neuralgischen Punkten bereits auf die direkten Rückschlüsse im innerbetrieblichen Alltag auf den unterschiedlichsten Hierarchie- und Funktionsebenen bei Bayer und Henkel eingegangen. Dies möchte ich im nächsten Gliederungspunkt noch vertiefen. Ich werde tatsächliche Risiken – z.B. in der Gestalt von Stör- und Unfällen – in den hier betrachteten zwei Dekaden darstellen. Dabei wird es mir explizit um die innerbetriebliche Behandlung und den allgemeinen Umgang mit diesen Vorfällen gehen. 3.1.4 Strategisches Umdenken? Institutionen und Kultur begünstigen ein Primat der legitimen Risikoproduktion der Unternehmen Eine Reihe von Mottos in den „Blättern vom Hause“, der Werkszeitschrift der Firma Henkel, verdeutlicht die Aufbruchstimmung des Unternehmens und stellvertretend der ganzen chemischen Industrie. „Wir setzen wieder Segel“ hieß es 1947, und 1948 wurde festgestellt „Alle Mann an Deck“, so dass 1949 endgültig die Parole ausgegeben werden konnte: „Mit Volldampf voraus“.219 Diese durch die interne Unternehmenskommunikation vorgegebenen Losungen und das mit ihnen verknüpfte Bild des Schiffes, das mit gesetzten Segeln besseren Zeiten entgegensteuert sind sehr treffende Symbole für die zukünftigen Vorhaben der chemischen Industrie nach der Überwindung der Wirren der NS-Zeit, der folgenden Demontage und – hauptsächlich im Fall Bayer – der Entflechtung der IG Farben. Sie verdeutlichen das Selbstverständnis der Unternehmen, das von der Wiederaufnahme und einer stetigen AusFunktion „Produktion- und Ingenieurwesen“ betrachtet. Vgl. Organisation der Funktion Produktion/Ingenieurwesen seit 1969, in: Konzernarchiv Henkel E10/ 83, Organisationshandbuch Teil I&II. 219 Konferenz des Wiederaufstiegs-Bericht über die Weihnachtskonferenz zum Abschluss des Geschäftsjahres 1948, in: „Blätter vom Hause“, Monatsschrift für die Werksgemeinschaft Henkel, 27. Jg. 1949, Heft 1, S. 3. Vgl. auch 25. Jg. 1947, Heft 1, S. 3 und 26. Jg. 1948, Heft 1, S. 11. „Alle Mann an Deck“. Vgl. „Blätter vom Hause“, 26. Jg. 1948, Heft 6, S. 105ff.
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weitung der Produktion geprägt war; wie in anderen Industriezweigen auch waren dies die primären Ziele der großen Chemiewerke, in denen der unternehmerische Sinn gesehen wurde. Die damit verbundenen Risiken waren den Unternehmen durchaus bekannt. Dies spiegelt beispielsweise ein Artikel der Werkszeitschrift „Unser Werk“ der Farbenfabriken Bayer Leverkusen wider, in dem auf die schon seit langer Zeit im Unternehmen existierende Eigenüberwachungsabteilung hingewiesen wird, auf die man innerhalb der Betriebe „stolz war“, da sie der „technischen Überwachung teils gefährlicher Produktionen“ diente.220 Die Emission von Stoffen über die Werksgrenzen hinaus wurde allerdings nur zögerlich zu verhindern versucht; hier waren Bayer und Henkel um ein vielfaches risikobereiter. Zu groß waren die eigenen Ansprüche, selbst einen großen Teil zum Wiederaufstieg der Bundesrepublik Deutschland zu einer Industrienation beizutragen; dieses Argument führte zur Vernachlässigung der Risiken für die natürliche und lebensweltliche Umwelt. Damit standen die großen Unternehmen der chemischen Industrie für Fortschritt und Wohlstand in Westdeutschland und teilten die gesamtgesellschaftliche „Wiederaufbau-Mentalität“.221 Die daraus resultierenden Probleme wurden auf allen Hierarchieebenen sowie fakultativ wahrgenommen und ausgehandelt. Die inner-unternehmerische Deutung lag dabei zumeist bei den Verwaltern chemischtechnischen Wissens in der Gestalt der Ingenieure und der Chemiker, die zugleich in den führenden Positionen der Unternehmen anzutreffen waren. Wie ich oben dargestellt habe, wurden Störungen bzw. Stör- und Unfällen eine gewisse Normalität zugeschrieben. Oberste Ziele bei der nur spärlichen Analyse und Darstellung solcher Geschehnisse nach innen und außen waren stets der Schutz der Werke, ihrer Produktionsanlagen und der Mitarbeiter. Die Selbstsicht der Unternehmen lautete noch 1965: „[…] daß die Brand- und Explosionsgefahr in der chemischen Industrie größer ist als in fast allen anderen Industriegruppen, es daher immer ein Restrisiko zu beachten gilt, welches zum Wohle der Sachbestände durch angemessene Schutzmaßnahmen aber herabgemildert“ werden könne.222 Im Kontext der Verhandlungen über die Folgen für die Werksumwelt finden wir seit Beginn der 1950er Jahre wenig Evidenz. Die Manager der Firma Henkel stellten 1950 erleichtert fest, dass eine „kleine Störung von 1–2 Tagen“ keine größeren Schäden im Werk angerichtet hatte: „Man habe befürchtet, daß infolge Selbstentzündung ein Brand ausbrechen könne, die Gefahr dürfte jedoch vorbei sein.“223 Die Eindrücke einer ausschließlich nach innen gerichteten Sorge bei Unund Störfällen werden auch von den fortlaufenden Jahres- und Brandberichte der Werksfeuerwehr bestätigt. Der Fokus bei der Brand- und Unfallbekämpfung lag innerhalb der Werksgrenze und auf den Produktionsanlagen; eine Untersuchung von möglichen Emissionen durch solche Brände blieb aus. So konnte ebenfalls im Jahre 1950 stolz berichtet werden: „Danach wurde die Feuerwehr insgesamt 220 Vgl. 50 Jahre Eigenüberwachung, in: Unser Werk, 36. Jg. H.2, März/April 1950, S. 17. 221 Vgl. Axel Schildt / Detlef Siegfried, S. 98. 222 Vgl. Niederschrift über die Betriebskonferenz Nr. 8 vom 3. August 1965, in: Konzernarchiv Henkel J 357, Werkfeuerwehr. 223 Vgl. Protokoll über die Postbesprechung am 25. August 1950, in: Konzernarchiv Henkel, 153/6 Postprotokolle.
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31 mal zur Feuerbekämpfung […] in Anspruch genommen. Es handelte sich dabei in 24 Fällen nur um Brände mit geringen Schäden innerhalb unseres Werkes […].“224 Im Jahr 1955 hatte sich die Zahl der Einsätze der Wehr bereits mehr als verdoppelt. Der Leiter der Werksfeuerwehr wies auf einer Betriebskonferenz auf das Eigeninteresse der Betriebe hin, entleerte Feuerlöscher zu melden, damit sie nachgefüllt werden können, „um größere Schäden zu vermeiden.“225 Insbesondere die Brand- und Explosionsrisiken steigerten sich parallel zur zunehmenden Produktion und stellten für die Betriebe die höchsten Ausfallrisiken dar. Brände waren keine üblichen Emissionen, stellten zugleich aber für die Werksumgebungen durch das Austreten von Substanzen ein Gefahrenpotenzial von beträchtlichem Umfang dar. Infolge eines schweren Brandes im Stammwerk der Firma Henkel kam es im Februar 1962 zu einem solchen Austreten von Substanzen, da Filteranlagen und andere Schutzeinrichtungen in der Produktionsstätte durch die Hitze zerstört wurden. Auch hier hatte die Wiederaufnahme der Produktion gegenüber vorbeugenden Brandschutzmaßnahmen und detaillierten Analysen Vorrang. Es war eine Selbstverständlichkeit dass „allen Meistern, Handwerkern und Betriebsleuten herzlicher Dank“ ausgesprochen wurde, da sie „unter Einsatz ihres Lebens“ dafür sorgten, „daß die Produktion schnell wieder aufgenommen werden konnte.“226 Vor allem die Branderfahrungen der ersten anderthalb Jahrzehnte nach Kriegsende ließen die Ingenieure und Meister in Zusammenarbeit mit der Werkfeuerwehr bei Henkel im Jahre 1964 dann erstmals über einen möglichen Katastrophenfall nachdenken. Zur Diskussion stand vor allem „wem die Leitung der Brandbekämpfung zufalle.“227 Einhellig war die Meinung, dass bei der Bekämpfung aller „durch die Produktion auftretenden Gefahren“ auch beim „Hinzuziehen fremder Wehren nur der Leiter der Werkfeuerwehr“ einen solchen Katastrophenfall befehligen könne.228 Es erging zudem der Beschluss, wonach „in allen Betrieben Sofortmaßnahmen für den Katastrophenfall ausgearbeitet“ werden sollten; erstaunlich ist jedoch auch, dass hier, Mitte der 1960er Jahre, das Gefahrenpotenzial des Werkes für alle direkt angrenzenden Düsseldorfer Stadtteile nicht einkalkuliert wurde.229 Vielmehr fand die 224 Jahresbericht 1950 der Feuerwehr, in Konzernarchiv Henkel, J 357 Werkfeuerwehr. 225 Vgl. Niederschrift über die Betriebskonferenz Nr. 2 vom 25. Januar 1955, in: Konzernarchiv Henkel J 357, Werkfeuerwehr. Zu den Einsatzzahlen vgl. Feuerwehr-Jahresbericht 1955, in: Konzernarchiv Henkel J 357, Werkfeuerwehr. 226 Auszug aus der Meisterbesprechung Nr. 2 vom 20. Februar 1962, in: Konzernarchiv Henkel J 357, Werkfeuerwehr. 227 Vgl. Niederschrift über die Betriebskonferenz Nr. 6 vom 02. Juni 1964, in: Konzernarchiv Henkel J 105, Betriebskonferenzen 1943–1976. 228 Vgl. ebd. 229 Vgl. ebd. Hierzu auch das Schreiben der Ingenieurabteilung an die Betriebsleiter und Betriebsingenieure betreffend Einsatzplan der Feuerwehr im Alarmfall vom 25. September 1964, in: Konzernarchiv Henkel J 357, Werkfeuerwehr. Dieser Einsatzplan kategorisiert fünf Stufen von Bränden. Auch in der schwersten Kategorie „Großbrand mit erweiterter Hilfe“ findet sich nur eine Anweisung, die den Schutz der Werksumwelt umschließt: „Ist eine Beeinträchtigung des Grund- oder Abwassers zu befürchten, so ist das Abwasserlabor (Herr Dr. Spanke) zu verständigen.“ Ebd. S. 2. Damit oblag auch diese Prüfung zu allererst der internen Stelle. Dieses Dokument findet sich in identischer Form im Jahre 1968, womit der Einsatzplan von 1964 unverändert blieb. Vgl. Ing.-Abt. an Betriebsleiter und Betriebsingenieure betreffend Einsatzplan der
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Diskussion abermals im inneren Kreise des Werkes statt. In letzter Konsequenz bedeutete also eine mögliche Katastrophe – durch Brand oder Explosion verursacht – dieser Lesart nach eine Katastrophe für die Werksinnenwelt, nicht jedoch für die natürliche und lebensweltliche Umwelt im Düsseldorfer Süden. Die gut gemeinten Anstrengungen für die Werksinnenwelt standen diametral der Tatsache entgegen, dass in den ersten Nachkriegsdekaden Brände, Explosionen, Stör- und Unfälle als unausweichlich betrachtet wurden. Nicht immer liefen solche Geschehnisse so glimpflich ab, wie im Falle von Henkel dargestellt, d.h. ohne dass Menschen in- und außerhalb der Werke zu Schaden kamen. Bei Wartungsarbeiten in der anorganischen Abteilung der Farbenfabriken Bayer Leverkusen kam es an einem Sonntag im Juni 1955 zu einem Gasausbruch, was aber erst einen Tag später dem zuständigen AWALU-Labor mitgeteilt wurde. Die Untersuchung des Vorfalls ergab „aber nur, daß mit Bestimmtheit festgestellt werden konnte, daß der anfängliche Verdacht, es sei Phosgengas gewesen, nicht zutraf, sondern es irgendein, bisher nicht einwandfrei identifiziertes Gas war. (Es wurde der Verdacht auf Säurechlorid geäußert).“230 Über diesen Vorfall des angeblich ausgetretenen und hoch toxischen Phosgens entbrannte eine hitzige Debatte im Unternehmen – nicht um zukünftige Präventivmaßnahmen, sondern um die Eigeninteressen der Betriebe hinsichtlich ihrer Verantwortungen über die üblichen Emissionen und um die Frage, ob solche Wartungsarbeiten in Zukunft nicht wochentags erledigt werden sollten. Letzteres stieß aber auf wenig Zustimmung, da hier zu bedenken sei, dass die betreffenden Anlagen dann für diesen Zeitraum still liegen würden.231 Der Bericht der Werksfeuerwehr führte allerdings aus, dass „durch eine Phosgen-Welle Leute […] in Mitleidenschaft gezogen“ wurden und „insgesamt 5 Werksangehörige in die Poliklinik gebracht“ wurden.232 Diese „völlig unverständliche und widersprechende Darstellung des Vorfalls durch die Feuerwehr“ lieferte der anorganischen Abteilung erneut Zündstoff, ihren Standpunkt zu vertreten, dass solche „unvorhersehbaren Unregelmäßigkeiten“ zum Tagesgeschäft gehörten und der inneren Überwachung unterlägen.233 Innerbetrieblich wurden die Unregelmäßigkeiten offenbar als lapidar angesehen; dafür spricht, dass die Beteiligten am Unfallort nach werksinterner Darstellung „noch nicht einmal eine Gasmaske“ be-
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Feuerwehr im Alarmfall vom 02. Januar 1968, in: Konzernarchiv Henkel J 357, Werkfeuerwehr. Schreiben von Dr. Wolff / Leiter des AWALU-Laboratoriums an Prof. Rieß betreffend Gasausbruch vom Sonntag, den 19.6.1955 11 Uhr 15 vormittags vom 29. Juni 1955, in: BAL : 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1954–1956. Ebd. Phosgen kann in geringsten Dosen bei Menschen Verletzungen der Atmungsorgane und den Tod herbeiführen. Es wird auch als chemischer Kampfstoff verwendet. Vgl. URL: http:// www.seilnacht.com/Chemie/ch_phosg.htm (10.07.2012). Vgl. Bericht der Werksfeuerwehr der Farbenfabriken Bayer Leverkusen zu einem gemeldeten Alarm am 19. Juni 1955 um 11.45 Uhr, in: BAL : 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1954–1956. Vgl. Schreiben der Anorganischen Abteilung II an Direktionsabteilung betreffend Stellungnahme zum Bericht Nr. F282 vom 21. Juni 1955, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1959–1960.
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nötigten.234 Ähnlich wie bei den an anderer Stelle dargestellten, standardisierten Erklärungsversuchen gegenüber geschädigten Nachbarn sah das mittlere Management des Unternehmens auch in diesem Fall die Windverhältnisse als ursächlich für die teils schweren Atemwegsverletzungen der verletzten Betriebsangehörigen an, da „die Luftbewegung in den sonnenwarmen Ost-West-Straßen und den Höfen nur gering war.“235 Bei einer abschließenden Besprechung wurden zwar noch einmal die Aussagen aller Beteiligten erörtert, eine endgültige Klärung des Vorfalls wurde aber nicht erreicht und offenbar auch nicht angestrebt.236 Gegenseitige Schuldzuweisungen und die Furcht um einen Ausfall der Anlagen bei entsprechender Prüfung dominierten die inneren Sinnstrukturen des Unternehmens. Eine nachhaltige Vermeidung solcher Vorfälle konnte folglich erst gar nicht in Gang kommen: Zu wenige Informationen zirkulierten im Werk, und zu viele Mitarbeiter fühlten sich entweder keiner Schuld bewusst, schrieben solchen Unfällen Normalität zu oder waren schlichtweg überfordert. Es konnte jedoch für Betriebsangehörige und Werksumwelt noch deutlich schlimmer kommen als bisher beschrieben. Mit welcher Wirkungskraft das Versagen technischer Anlagen zuschlagen konnte, und wie ein solch katastrophenähnliches Ereignis dargestellt und verhandelt wurde, zeige ich im Folgenden anhand eines heftigen Explosionsunglückes bei den Farbenfabriken Bayer Leverkusen am zweiten Weihnachtstag des Jahres 1960 auf. Auf der Nachtschicht kam es nach einem Bedienungsfehler in der Alizarin-Fabrik durch Überdruck zu einer Kessel-Zerknallung, die zwei Tote und 31 Schwer- oder Schwerstverletzte forderte und ganze Gebäudekomplexe auf und um das Werksgelände herum schwer beschädigte.237 Die Explosion sei bis in das 30 km entfernte Düsseldorf zu hören gewesen, titelte die Neue Rheinische Zeitung.238 „Gleißender Feuerschein blendete über Wiesdorf auf. Eine ungeheure Druckwelle riß in den umliegenden Stadtteilen an Türen und Fenstern, ließ eine Unzahl Scheiben zerspringen. […] Das in dichte Rauchschwaden gehüllte Gebäude der Alizarin-Fabrik […] oder das, was davon noch übrig war, war in so dichte Rauchschwaden gehüllt, daß jede Übersicht unmöglich war. 234 Ebd. S. 2. Auch die Nachbarn des Bayerwerkes wurden von dem ominösen Gasausbruch in ihrer Sonntagsruhe gestört: „[…] gegen 11 Uhr wurde die Niederfelder Straße mit einem unerträglichen weißen Dunst, der nach Schwefel roch, überzogen. Diese Geruchsbelästigung dauerte mit kurzen Unterbrechungen bis nahezu 14.00 Uhr. Es herrschte starker Südwind und wir mußten trotz der herrschenden Hitze während der vergangenen Zeit die Fenster geschlossen halten.“ Brief des Anwohners Peter Meisgen an die Farbenfabriken Bayer Leverkusen vom 23. Juni 1955, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1959–1960. 235 Vgl. Aktennotiz der Anorganischen Abeilung / SO3-Betrieb vom 22. Juni 1955, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1959–1960. 236 Vgl. Besprechung am Donnerstag, 23.6.1955, 9.00 Uhr in der Bibliothek, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1959–1960. 237 Vgl. Schadensbericht der Eigenüberwachung vom 16. Februar 1961, in: BAL: 59/337 Ingenieurverwaltung, Meldungen über Unfälle, Explosionen u.ä. 1955–1963. 238 „Die Explosion war bis Düsseldorf zu hören“, aus: Neue Rheinische Zeitung Nr. 305 vom 30. Dezember 1960, ohne Seitenangabe, Abschrift der volkswirtschaftlichen Abteilung / Pressereferat, in: BAL 59/337 Ingenieurverwaltung, Meldungen über Unfälle, Explosionen u.ä. 1955– 1963.
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Und zwischen dem Rauch zogen Gasschwaden.“239 Insbesondere die in- und externe Unternehmenskommunikation vermittelte nach diesem schwersten Unglück der Bayer-Werke in den 1960er Jahren ein stereotypes Bild; hier zeigte sich der legitime Vorrang der Risikoproduktion am Deutlichsten. Die Unvermeidbarkeit selbst einer für Menschen tödlichen Risikoproduktion wurde nach innen und außen gebetsmühlenartig wiederholt. Folgerichtig war die Darstellung nüchtern, wissenschaftlich fundiert und ließ nicht den geringsten Zweifel an der Legitimität der Risikoproduktion, auch wenn Menschen dabei zu Tode kommen. Zudem – und in diesem Falle noch abstruser – wurden den Auswirkungen der Risikoproduktion für menschliches Leben Sinnmuster abgerungen, die das Leiden der Betroffenen beinahe als Märtyrertum zum Wohle der Prosperität erscheinen ließen. Dies möchte ich zunächst anhand eines Artikels aus der Werkzeitschrift aufzeigen: „Diese Nacht ist noch nicht vergessen, und sie wird vielen im Gedächtnis bleiben. Es wird auch nimmer vergessen, daß unsere Werksangehörigen […] ihr Leben gaben […]. Fast jede chemische Produktion bringt gewisse Gefahren mit sich. Wir sehen nicht alles technische Versagen voraus. […] Wir sind aber bemüht, diese Gefahren richtig einzuschätzen. Alle Betriebs- und Arbeitsanweisungen leiten sich hieraus ab und haben ihren Sinn in dem Bestreben, Menschen und ihre Arbeitsplätze zu schützen. […] Das zu wissen ist eine Beruhigung, wenn man erwarten darf, daß sich im Einzelfalle jedermann einordnet und sein Pflicht tut. […] Von einem Feuerwehr- oder Werkschutzmann muß man erwarten können, daß er der Gefahr nicht ausweicht […] zuerst die Menschen retten, […] den Brand bekämpfen und Anlagen sichern. […] Chemiker, Meister, Ingenieure, Arbeiter, Feuerwehr- und Werkschutzmann mißachteten die Gefahren, krochen über Betonschutt […] unterhalb abgestürzter Decken, suchten und schufteten […]. Was in dieser Nacht an Kameradschaft und Betriebstreue […] aller Helfer erkennbar wurde, ist so erfreulich, daß wir es nicht verschweigen wollen. […] Auch diejenigen seien erwähnt, die ihre Nachtschicht in den verschiedenen Betrieben des Werkes hatten und den klaren Kopf behielten. Sie hatten begriffen, daß in solchen Stunden jeder an seinem Platz wichtig ist, ganz gleich, wo er steht. Sie blieben an ihren Apparaturen und wachten dort über den störungsfreien Ablauf der Produktionsvorgänge wie zu jeder anderen Zeit. […] Es war das schwerste Unglück seit Jahrzehnten. […] Und dennoch gab es keine Beunruhigung im Werk. Die Arbeit ging weiter. Wir wissen alle, daß in unseren Betrieben Gefahren lauern; […] Mit dieser nüchternen Haltung gegenüber den Umständen, die ein Chemiebetrieb nun einmal mit sich bringt, muß sich allergrößte Wachsamkeit verbinden. […] Apparaturen werden wieder installiert. Die Produktionen laufen weiter. Die Wunden der Verletzten heilen. Aber das schwere Erlebnis dieser Nacht möge uns immer im Gedächtnis bleiben als ständige Mahnung zur gewissenhaften Arbeit bei Tag und in der Nacht.“240
239 „Riesenexplosion schreckt tausende Menschen auf“, aus: Neue Rheinische Zeitung Nr. 304 vom 29. Dezember 1960, ohne Seitenangabe, Abschrift der volkswirtschaftlichen Abteilung / Pressereferat, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1959–1960. Ähnlich „Plötzlich stand eine Wolke über Bayer“ aus: Leverkusener Anzeiger Nr. 304 vom 30. Dezember 1960, ohne Seitenangabe, Abschrift der volkswirtschaftlichen Abteilung / Pressereferat, in: BAL 59/337 Ingenieurverwaltung, Meldungen über Unfälle, Explosionen u.ä. 1955– 1963. 240 „Die Nacht vom 28. zum 29. Dezember“, in: Unser Werk 1961, Heft 1, S. 37.
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Diese pathetische Darstellung nach Innen zeigt, dass eine Sicherheitskultur nur auf das Werk als Gemeinschaft und damit auf die ureigensten Ziele in Gestalt der Produktion ausgerichtet war. Die narrative Konstruktion der Präsenz des Möglichen in diesem Artikel zeigt aber auch eine klare Anlehnung an das Motiv Krieg: Der Mensch und Mitarbeiter wird zum Helden gemacht, der aufopferungsvoll in die Schlacht zog. Die Explosion wird als verlorenes Gefecht gedeutet und damit ein Sinnmuster erzeugt, das gleichermaßen Normalität und Gefahr beinhaltet. Das bedeutet, dass der Mitarbeiter die Schlacht für gewöhnlich im reibungslosen Betriebsablauf gewinnt, doch gibt es – wie in jedem anderen Gefecht auch – todbringende Restrisiken. Beim Unglück von 1960 verloren demnach einige Menschen ein Gefecht gegen die Maschine, andere hielten ihren Posten gegen die als düster dargestellte Macht. Diese Macht ist Leidens-, Risiko- und Wohlstandsproduzent zugleich. Sie ist nur zu bändigen, wenn alle geschlossen hinter dem Werk und seinen Anweisungen stehen. Für jene Momente, in denen das Undenkbare passiert, die Maschine zum Feind des Mitarbeiters und Werkes wird, ist die Unbeherrschbarkeit als Erklärung vorgesehen; es gibt dann im Krieg nun einmal Kollateralschäden. Das Werk als Gemeinschaft kann keine Strategien entwickeln, um dieses Risiko einzudämmen, da es der chemischen Produktionen inhärent ist. Insgesamt sehe ich diesen Artikel in der Werkzeitschrift als sinnbildlich für die Handlungslogiken und das Selbstverständnis der Unternehmen, wie sie bis hierher dargestellt wurden. Es ergibt sich ein ambivalentes Bild einer Technik, die auf der einen Seite unter allen Umständen funktionieren muss. Die Gefahren sind auf der anderen Seite wohl bekannt, werden jedoch, um Lebensqualität – in Gestalt von Prosperität und Wohlstand – zu sichern, als notwendige Bedingung hingenommen. Dieser Extremfall spiegelt das bis zu diesem Punkt herausgearbeitete Selbstbild und die Handlungslogiken wider, die auch im Umgang mit den nicht (notwendigerweise) todbringenden Emissions- und Abwasserverhältnissen wirkten: Die hiervon ausgehenden Risiken wurden erkannt und im Unternehmen auch verhandelt. Sie waren jedoch notwendige Bedingungen für die eigene Existenz; beinahe naturgesetzlich gehörten sie dazu. Die Verlautbarungen gegenüber der Presse anlässlich des Explosionsunglücks zu Weihnachten 1960 waren im Tonfall wissenschaftlich und sachlich, gingen zunächst auf die Hilfe durch die Einsatzkräfte, die Verletztenstatistik und die Art der Produktion am Schadensort ein.241 Da es sich um ein lokales Ereignis handelte, konnte der beruhigende Hinweis an die Presse im näheren Einzugsgebietes des Werkes ergehen: „In dem von der Explosion betroffenen Betrieb wird nur ein geringer Bruchteil der gesamten Produktion des Bayerwerkes Leverkusen hergestellt. […] Auch dieser Betrieb wird voraussichtlich im Laufe der nächsten Woche, abgesehen von den unmittelbar von der Explosion zerstörten Apparaturen, wieder die Produktion aufnehmen. Alle übrigen Betrieb setzten ihre Produktion ungestört fort.“242 241 Vgl. Pressemitteilung der volkswirtschaftlichen Abteilung / Pressereferat vom 29. Dezember 1960, in: BAL 330/332 Direktionsabteilung, Volkswirtschaftliche Abteilung. 242 Ebd.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
Betrachtet man die bis Mitte des Jahres 1961 anhaltende mediale Verarbeitung des Unglücks, so finden sich keine Hinweise auf Anfeindungen der Farbenfabriken oder negative Darstellungen. Einhellig wurde die Meinung des Unternehmens anerkannt, es habe sich um einen Bedienungsfehler gehandelt, der die „nicht vorherzusehenden Explosionen“ nach sich gezogen hatte; vertrauensvoll konnte dann gleichsam berichtet werden, dass es zu „weiteren wissenschaftlichen Untersuchungen“ kommen werde, womit das Werk in seiner Effizienz bestätigt wurde.243 Während in der Überlieferung von Seiten der Abwasser- und Abluftkommission sowie auf Vorstandsebene keine Hinweise auf eine nachhaltige Analyse oder andere Stimmen zum Unglück zu finden waren, befasste sich das Baukonstruktionsbüro in Zusammenarbeit mit der Ingenieurabteilung mit der Frage, wie der Neubau des zerstörten Gebäudes zu errichten sei. Hauptinhalte waren dabei die zukünftige Verglasung des Neubaus, da erstens viele Verletzungen durch umherfliegende Glassplitter entstanden waren und zweitens die Schäden an der Verglasung den höchsten Anteil an der Schadenssumme hatten. Auch diese hitzige Debatte wurde ausschließlich unter Effizienzgesichtspunkten geführt: „Die Auswirkungen der Explosion […] zwingen uns, Maßnahmen zu ergreifen, welche die Sicherheit unserer Mitarbeiter weitgehend [Hervorhebung im Original, T.J.] gewährleistet. […] Schon gestern haben wir darüber gesprochen, daß wir entgegen den geforderten Sicherheitsbestimmungen, die sich bei Explosionen als unsinnig erwiesen haben, mindestens ein Treppenhaus ohne jegliche Außenfenster errichten müssen. Ich schließe mich ganz der Meinung von Herrn Remy (Architekt des Baukostruktionsbüros, T.J.) an, dieses Problem unter keinen Umständen in Düsseldorf zu erwähnen, weil sonst endlose Diskussionen und Gesetzesänderungen den ganzen Neubau in Frage stellen.“244
Trotz der „nicht notwendigen“ und „wie wir bereits wussten, erfolglosen“ Ermittlungen des Gewerbeaufsichtsamtes und der Kriminalpolizei darf hier sicherlich der Schluss gezogen werden, dass mit dem Unglück recht lapidar umgegangen wurde.245 Die Unvorhersehbarkeit und damit das legitime Restrisiko, das selbst ein solches Unglück einschloss, dienten als Begründung, weitere Sicherheitsmaßnahmen kategorisch abzulehnen und auch nicht mit den zuständigen Behörden darüber verhandeln zu wollen. Das Unternehmen definierte selbst in einem so krassen Fall die Spielregeln, wie schnellstmöglich und ohne große Anstrengungen die Produktionskapazitäten wieder hergestellt werden konnten. Damit vermochte es Bayer, auch den öffentlichen Stellen eine defensive Haltung gegenüber dem Unternehmen aufzuzwingen. Diese Konstellation unterstützte eine legitime, da normale, Risikopro243 Vgl. „Vermutlich ein Bedienungsfehler“, aus: Neue Rheinische Zeitung Nr. 5 vom 05. Mai 1961, ohne Seitenangabe, Abschrift der volkswirtschaftlichen Abteilung / Pressereferat, in: BAL 59/337 Ingenieurverwaltung, Meldungen über Unfälle, Explosionen u.ä. 1955–1963. Ebenso „Falsche Behandlung des Kessels gilt als Ursache der Explosion“, aus: Kölner Rundschau Nr. 4 vom 04. Mai 1961, ohne Seitenangabe, Abschrift der volkswirtschaftlichen Abteilung / Pressereferat, in: BAL 59/337 Ingenieurverwaltung, Meldungen über Unfälle, Explosionen u.ä. 1955–1963. Hier kam auch die Vermutung zu Tage, es könne sich um einen sowjetischen Sabotageakt gehandelt haben, was sich aber nicht bestätigt hatte. 244 Dr. Wegler/Elberfeld an Baukonstruktionsbüro, Ing.-Abt. vom 30. Dezember 1960, in: BAL 59/337 Ingenieurverwaltung, Meldungen über Unfälle, Explosionen u.ä. 1955–1963. 245 Vgl. Ebd.
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duktion. Ein produktions- und fortschrittsorientiertes Selbstverständnis, gepaart mit dem Glauben, einer der ökonomischen Heilsbringer in der Zeit des „Wirtschaftswunders“ zu sein, führte zu einer ignoranten und verharmlosenden Attitüde auf Seiten des Unternehmens, selbst im Falle tödlicher Un- und Störfälle. Das Gleiche gilt in vielen Fällen im hier zu betrachtenden Forschungszeitraum auch für die öffentlichen Stellen. Noch 1968 sah ein Sachverständiger des Gewerbeaufsichtsamtes nach einer Explosion mit zwei Toten in der Gerichtsverhandlung, welche die Schuldfrage zu klären hatte, keinen Handlungsbedarf: „Von meiner Möglichkeit, als Sachverständiger insoweit den Ablauf der Verhandlung zu beeinflussen, habe ich aufgrund der bisher guten Zusammenarbeit mit ihrem Werk ausnahmsweise keinen Gebrauch gemacht.“246 Die Sicht auf die durch Abwässer hervorgerufenen Risiken soll im Folgenden nachgezeichnet werden. Abstöße von Werksabwässern in den Vorfluter waren im hier betrachteten Zeitraum gebilligte betriebliche Praxis, dies galt auch nach Inkrafttreten des Wasserhaushaltsgesetzes in Verbindung mit der Gewerbeordnung.247 Im Falle der Abwasserproblematik kann daher nicht von ‚echten‘ Stör- und Unfällen gesprochen werden. Die herrschende Meinung macht die AWALU-Kommission der Farbenfabriken Bayer deutlich: „Gewässerverunreinigungen und Grundwasserbeeinflussungen lassen sich nicht vermeiden.“248 Ich werde im Folgenden lediglich kurz einige Beispiele aufzeigen, die außerhalb normaler Parameter zu Debatten innerhalb der Unternehmen führten. So berichtet etwa ein Direktionsrundschreiben der Farbenfabriken Bayer Leverkusen vom Dezember 1955 über ein „Fischsterben unterhalb unseres Werkes. Die Untersuchung des Rheinwassers in diesem Zeitraum ergab einen erheblich höheren Phenolgehalt als sonst. Die Betriebe tragen dafür Sorge, daß auch keine stoßweise Abgabe solcher Produkte, insbesondere Phenol, in das Abwasser erfolgen kann“.249 Doch wie im Falle der Luft-Emissionen trugen solche Appelle wenig zur Verbesserung der Verhältnisse bei. Fast monatlich kam es zu ähnlichen Zwischenfällen im Einzugsgebiet der Werke am Rhein, der zugleich die Trinkwasserquelle für die Menschen der Rheinschiene war. Die Qualität des Trinkwassers war durch solche Vorfälle teilweise stark beeinträchtigt, wie die Abwasserkontrolle von Henkel bestätigte: „Die gezogene Trinkwasserprobe hat unseres Erachtens einen typischen Geschmack nach Phenol bzw. nach chlorierten phenolhaltigen Stoffen 246 Schreiben des Staatlichen Gewerbeaufsichtsamts Solingen an den Vorstand der Farbenfabriken Bayer AG vom 24. März 1968, in: BAL 59/337, Ingenieurverwaltung, Meldungen über Unfälle, Explosionen u.ä. 1964–1985. Bei diesem Unfall kam es nicht zu einer Außenwirkung. Ich habe das Beispiel herangezogen, um den von mir herausgestellten Gutwillen der Aufsichtsbehörde zu unterstreichen. 247 Noch 1967 meldete die Abteilung Wasserreinhaltung und Immissionsschutz (AWALU): „Die Erlaubnis zur Einleitung der Abwässer wurde vom Regierungspräsidenten um 5 Jahre (bis 1972) verlängert.“ Jahresbericht 1967 der Abteilung Wasserreinhaltung und Immissionsschutz (AWALU), in: BAL 59/384; Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1966–1967. 248 Aktennotiz der Ingenieurabteilung betreffend 6. AWALU-Sitzung am 01.09.1959 vom 08. September 1959, in: BAL 59/384; Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1959–1960. 249 Vgl. Direktions-Rundschreiben 1681 vom 01. Dezember 1955 in: BAL 59/384; Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1954–1956.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
[…]“250 In diesem Fall rechnete Henkel mit verschärften Kontrollen der eigenen Werksabwässer, doch wurden seine Vertreter aufgrund ihres spezifischen Wissens darin einbezogen. Zudem betrachtete man solche Vorfälle eben auch als unumgänglich und sah den möglichen Kontrollen daher gelassen entgegen.251 Bei Bayer kam es Ende des Jahres 1959 zu erheblichen Farbstoffabgaben mit den Werksabwässern in den Rheinstrom. Dass der Rhein in den 1950er und 1960er Jahren in allen Farben schillerte, war an der Tagesordnung: „Bedingt durch die niedrigen Wasserstände im Rhein sind die Abwässer des Werkes an ihren Einleitestellen in den Strom deutlich sichtbar und die Schmutzstoffe ganz allgemein erhöht.“252 Da es sich hier um einen „auffälligen aber nicht ungewöhnlichen“ Zustand handelte, hatte die zuständige Wasserschutzpolizei Proben aus dem Fluss gezogen, die Bayer zu weiteren Analysen zugesandt wurden, da man auf „unsere analytischen Fähigkeiten großen Wert legt“.253 Insbesondere zum Ende der 1950er Jahre und in den beginnenden 1960er Jahren lassen sich vermehrt Diskussionen in beiden Unternehmen zum Abwasserrisiko finden. Der Grund lag in der für jedermann sichtbaren Verschmutzung der Flüsse durch Waschmittelrückstände, die mit den Abwässern dorthin gelangten. Deutlich sichtbar wurde sie im besonders heißen und regenarmen Sommer des Jahres 1959, in dem es zu starken Schaumbildungen an Wehren und Schleusen kam. Erst Mitte der 1960er Jahre konnte dieses Problem durch erweiterte Forschungen auf dem Gebiet der Wasch- und Reinigungsmittel gelöst werden.254 Recht gelassen kommentierte der oberste AWALU-Vertreter von Bayer den so genannten Waschmittelsommer, es müsse von „Fall zu Fall“ und unter Berücksichtigung von „Ursache und Wirkung“ geurteilt werden.255 Da diese Schaumbildungen durch Detergentien verursacht wurden, hatte die Firma Henkel einen erhöhten Erklärungsbedarf, da „in den letzten Wochen in den Tageszeitungen eine ganze Reihe unfreundlicher Aufsätze erschienen, in denen die aufgetretenen Abwasser-Schwierigkeiten beschrieben und im wesentlichen auf die neuen synthetischen Waschmittel zurückgeführt wurde.“256 So beschwichtigte Henkel auf 250 Schreiben der Abwasserkontrolle an Dir. Schilbock betreffend Untersuchung einer Wasserprobe aus dem Trinkwassersystem der Wohnsiedlung im Heye-Park vom 31. Dezember 1959, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 314 Akten Opderbecke, Abt. 501, 510 ab 1950. 251 Ebd. 252 119. Kommissionssitzung der Abwasser- und Abluftkommission vom 02. November 1959, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1959–1960. 253 Vgl. ebd. 254 Exemplarisch Henkel Informationen. Von „Persil“ zum Großunternehmen der chemischen Industrie, hg. von Henkel & Cie. GmbH Düsseldorf, Abteilung „Presse und Public Relations“, Dezember 1966, S. 18f. 255 Vgl. 141. Kommissionssitzung der Abwasser- und Abluftkommission der Farbenfabriken Bayer Leverkusen vom 24. November 1960, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasserund Abluft-Labor 1959–1960. Die so genannte Waschmittelsommer-Diskussion werde ich nur kurz umreißen, da es sich hier im Grunde nicht um produktionsinduzierte Risiken handelte. Vielmehr waren die damaligen waschaktiven Substanzen in den Waschmitteln nicht biologisch abbaubar, was ebenfalls durch fehlende Kläranlagen zu den geschilderten Schaum-Effekten führte. 256 Vgl. Schreiben von Kobold an Dir. Schilbock betreffend Abwasser-Schwierigkeiten vom 06. Oktober 1959, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 314 Akten Opderbecke, Abt. 501. Bei einer
3.1 Legitime Kontinuität des Risikohandelns
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Nachfrage eines Mitarbeiters des chemisch-biologischen Laboratoriums der Stadt Düsseldorf, ob die Spitzenwerte der Detergenienabgabe nicht „beängstigend zunehmen“ würden: „Wir geben zu, daß mit unseren Abwässern noch kleine Mengen von Detergentien in den Rhein gelangen.“257 Da bis Mitte der 1960er Jahre feste Grenzwerte faktisch nicht existierten bzw. die verbindlichen Höchstwerte für die Einleitung sehr hoch waren, effektive Klärsysteme fehlten258 und der Verunreinigungsgrad der Flüsse vom Wasserstand abhing, lassen sich nur an wenigen Stellen innerbetriebliche Aushandlungen und Ansichten erkennen. Auf einer Vorstandssitzung stellte der Chefingenieur Prof. Rieß der Farbenfabriken Bayer Leverkusen für die Jahre nach dem zweiten Weltkrieg nüchtern fest: „Wie alle großen Chemie-Werke in Deutschland […] hat man es in der Vergangenheit mit Rücksicht auf möglichst billige Einstandspreise unterlassen, jeweils als letzte Verfahrensstufe die Reinigung der verunreinigten Abwässer vorzunehmen. Dies hätte natürlich eine Verteuerung des Produktes zur Folge gehabt durch die einmalige Investition und durch die ständigen Ausgaben für die Inbetriebhaltung dieser Reinigungsanlagen.“259
Da es solche Reinigungsanlagen gab, galt ganz offenbar der Grundsatz der ökonomischen Effizienz vor dem Schutz der Umwelt durch die verunreinigten und teilweise toxischen Werksabwässer. Einer ähnlichen Argumentation folgte Konrad Henkel bei einer Familienbesprechung im Jahre 1963. Er strich in einem Vortrag das notwendige Primat der Produktion und den zugehörigen Ausbau des technologischen Standards heraus. Die Ergebnisse insbesondere im Waschmittelgeschäft seien 1962 äußerst gut gewesen; das Unternehmen müsse sich in der Zukunft auf gemeinsamen Besprechung zwischen Gesandten der Firmen Henkel, Bayer und Höchst wurde schnell die einhellige Meinung gefällt, dass alle Veröffentlichungen „vollkommen unsachlich und entstellt“ seien und die einzige Lösung des allgemeinen Abwasserproblems nur durch „innerbetriebliche Verantwortlichkeiten“ herbeigeführt werden könnten. Vgl. Schreiben der Abwasserkontrolle an Dir. Schilbock betreffend aktuelle Fragen über Abwasserprobleme – Besprechung am 21. Oktober 1959 im Hause, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 314 Akten Opderbecke, Abt. 501 257 Vgl. Schreiben der Abwasserkontrolle an Dir. Schilbock betreffend telefonischer Anruf von Herrn Dr. Kaeß vom chem.-biol. Laboratorium der Stadt Düsseldorf vom 16. Juni 1959, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 314 Akten Opderbecke, Abt. 501. 258 Bei Bayer kam es im Jahre 1966 zum Bau einer ersten vollbiologischen Kläranlage im Leverkusener Werk und zur Grundsteinlegung des Gemeinschaftswerkes Leverkusen Bürrig. Bayer Umweltschutz-Informationen Nr. 22, Stand Juni 1973, in: BAL 59/384; Ingenieurverwaltung, Abwasser und Abluft-Labor 1971–1973. Bei Henkel nahm eine mechanisch-biologische Kläranlage nach sechsjähriger Bauzeit in vollem Umfang den Betrieb im Jahre 1974 auf. Beispielhaft Protokoll Nr 7 /74 der Betriebsausschusß-Sitzung am 12. November 1974, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Betriebsausschuß und Meisterkonferenzen 1973–1978. Das Problem bei der Klärung bestand in den Abweichungen der Zusammensetzungen der Werksabwässer, die somit den ohnehin wenig leistungsfähigen vorhandenen Kläranlagen kaum zugeführt werden konnten. Vgl. Abwasserkontrolle ab Dir. Schilbock betreffend Aktuelle Fragen über Abwasserprobleme – Besprechung am 21. Oktober 1959 im Hause, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 314 Akten Opderbecke, Abt. 501. 259 Schreiben von Chefingenieur Rieß an den Vorstand der Farbenfabriken Bayer Leverkusen vom 14. Juli 1959, S. 2, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1959– 1960.
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„schwere Konkurrenzkämpfe“ einstellen, doch äußerte er „zuversichtliche Hoffnung für trotzdem zufriedenstellende Ergebnisse“.260 Auch durch diese Ansicht Konrad Henkels ersehen wir, dass die Hoffnung der Zukunft alleine durch technischen Fortschritt begründet war, der jedoch im Jahre 1963 auch eine weitere Verschmutzung der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt bedeutete: Wenn man die Produktionen weiter in dem gekannten Maße vorantreiben wolle, müsse dieses Ziel oberste Priorität haben.261 Sicherlich wandten die Unternehmen regelmäßig technische Analyse- und Messverfahren hinsichtlich der Wassergüte an,262 wobei das Primärziel war, die für die Produktion notwendigen Betriebsmittel zu schützen. Rieß als Chefingenieur wies daher auch darauf hin, „daß in den betreffenden Betrieben die einzelnen Anlagen in gutem, arbeitsfähigen Zustand sind.“263 Ein weiteres Problem, das die unverminderte Risikoproduktion bzw. die Vernachlässigung der Risiken für die natürliche und lebensweltliche Umwelt begünstigte, stellte die hohe Fluktuationsrate der Mitarbeiter in der Boomphase nach dem Zweiten Weltkrieg dar. Sie erschwerte die „Erziehung der Neuen“ hinsichtlich der Abwasser- und Abluftproblematik.264 Die Sozialisation der Mitarbeiter richtete sich auf die Belange des Werkes und der Produktion, nicht aber auf jene der angrenzenden Gewässer. Sparsamer und gewissenhafter Umgang mit den natürlichen Ressourcen wurde zumeist über die interne Unternehmenskommunikation vermittelt; er diente der Erhaltung der Produktivkräfte als legitimer Unternehmenszweck: „Für unser Werk ist Wasser ein wichtiges Hilfsmittel. Es muß in besonderen Qualitäten 260 Vgl. Aktennotiz für Dr. Brandt vom 21. Mai 1963, hier Stichwortartige Zusammenstellung für den Vortrag Dr. K. Henkel in der Familienbesprechung in Hösel am 23. Mai 1963, in Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. Zug. Nr. 442 I u. II, Familienbesprechungen Henkel 1954–1974. 261 Vgl. ebd. 262 Exemplarisch sei hier der „Bericht über die Fabrikluftmessung“ genannt, der die Emissionen des Bayerwerkes „zum internen Gebrauch“ ausweist. Vgl. Bericht über die Fabrikluftmessung 1952/54, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1954–1956. Für die Belastung der Abwässer exemplarisch der Besprechungsbericht zum „Stand der Wasserwirtschaft bei den Farbenfabriken Bayer Leverkusen“ vom 13. Januar 1956, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1954–1956. 263 Schreiben von Rieß an Oberingenieur Ritter betreffend Kontrolle aller Abwasserreinigungsanlagen vom 10. August 1955, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1954–1956. 264 Ebd. Auf der Hierarchieebene der Meister war man sich bewusst, dass es eine Abwägung zwischen den Forderungen der Reinhaltung der Flüsse, den damit verbundenen eigenen Problemen der Abwässer und dem Beitrag zum wirtschaftlichen Aufschwung geben musste. Vgl. Protokoll über die Meisterbesprechung am 02. Oktober 1951, in: Konzernarchiv Henkel J 106, Meisterkonferenz 1949–1967. Siehe hierzu auch Merkblatt K I/1 der Firma Henkel & Cie. / Arbeitsverwaltung „Allgemeine Grundsätze für die Einführung neuer Mitarbeiter in den Betrieb“, undatiert, in: Konzernarchiv Henkel J 106, Meisterkonferenz 1949–1967. Jedoch waren die Meister in allererster Linie für die Produktivität des Werkes verantwortlich. Vgl. Protokoll über die Meisterbesprechung am 20. September 1955, in: Konzernarchiv Henkel J 106, Meisterkonferenz 1949–1967. Zur Diskussionen über die hohen Fluktuationsraten vgl. Protokoll über die Meisterbesprechung am 15. Mai 1956, in: Konzernarchiv Henkel J 106, Meisterkonferenz 1949–1967. Zu Auseinandersetzungen mit der Nachbarschaft vgl. Protokoll über die Meisterbesprechung am 17. Februar 1959, in: Konzernarchiv Henkel J 106, Meisterkonferenz 1949– 1967.
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[…] und vor allem in ausreichender Menge zur Verfügung stehen. Denn ohne sauberes Wasser ist eine Produktion undenkbar“.265 Bezüglich der Sozialisation der Chemiewerker wurden die Meister an anderer Stelle angewiesen „ihre Mitarbeiter eindringlich auf die Gefahren für das in der Nähe der Flüsse gepumpte Frischwasser durch Verunreinigung des Abwassers hinzuweisen und ihnen bei jedem Arbeitsauftrag auch klare Anweisungen […] zu geben. Um diese Gedanken […] allen Mitarbeitern möglichst nahe zu bringen, ist beabsichtigt, eine Anzahl von Plakaten zum Aushang zu bringen, auf denen in scherzhafter Weise gezeigt wird, wie man eine Arbeit nicht ausführen soll, um derartige Verunreinigungen zu vermeiden.“266 Für den gesamten Zeitraum der 1950er bis 1960er Jahre lässt sich zeigen, dass die Notwendigkeit, sauberes Wasser für seine Bestimmung als Betriebsmittel zu erhalten, in den Vordergrund rückte.267 Betrachten wir dabei die Verhältnisse und Risiken für die natürliche und lebensweltliche Umwelt der Werke, so ergibt sich jedoch ein janusköpfiges Bild: Trotz des Ziels, eine Sicherheitskultur in den Unternehmen bezogen auf den schonende Umgang mit Wasser zu erzeugen, ließ insbesondere das fehlende Verständnis der Mitarbeiter in den Produktionsbetrieben eine solche Sicherheitskultur gar nicht zu. Die zuständigen Meister bei Henkel beklagten in dieser Hinsicht bereits 1950, dass sich „die Abwasserverhältnisse in keiner Weise geändert haben“.268 Auf der Ebene der Meister drang die Einsicht in die Notwendigkeit eines Wasserschutzes aufgrund der Wasserknappheit durch: „Die Abwasserbeseitigung ist ein sehr wichtiges Problem jedes Industriebetriebes. Es ist das Bestreben des Kanal- und Wasserbauamtes, die Vorfluter sauber zu halten und schädliche Wässer fern zu halten. […] Darüber hinaus müssen alle Abteilungen bemüht sein, das Ablaufen von Laugen oder Säuren in den Kanal zu verhindern und unvorhergesehene Vorkommnisse dieser Art zu vermeiden. Etwa trotzdem eintretende Vorfälle sollen so rechtzeitig gemeldet werden, daß durch sofort eingeleitete Gegenmaßnahmen größerer Schaden verhütet werden kann.“269
Die Protokolle der Meisterkonferenzen bei Henkel vermitteln über die gesamten 1950er und weit in die 1960er Jahre hinein ein Bild der Risikoverhältnisse durch Abwässer im operativen Tagesgeschäft, das zwischen Unverständnis, Ablehnung, Unwissen und dem Wunsch nach Verbesserung schwankte. Immer wieder wurde das fehlende Problembewusstsein der Mitarbeiter angeprangert, das zu den widrigen Abwasserverhältnissen im Werk und durch die fehlende Klärung auch in sei265 „Der Ruf nach Wasser“, in: „Blätter vom Hause“, Monatsschrift für die Werksgemeinschaft Henkel, H. 1 1960, S. 1. 266 Vgl. Protokoll über die Meisterbesprechung am 15. Mai 1956, S. 3, in: Konzernarchiv Henkel J 106, Meisterkonferenz 1949–1967. 267 Vgl. exemplarisch Stand der Wasserwirtschaft in der Chlorfabrik Anfang 1956, Besprechungsbericht der zuständigen Ingenieure der Farbenfabriken Bayer Leverkusen vom 24. Januar 1956, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1959–1960. 268 Vgl. Protokoll über die Meisterbesprechung am 01. August 1950, in: Konzernarchiv Henkel J 106, Meisterkonferenz 1949–1967. Bei Bayer sprach Chefingenieur Rieß bei einer Besprechung der AWALU-Kommission im Jahre 1960 weiterhin von „katastrophalen Verhältnissen der Werksabwässer“. Vgl. 129. Kommissionssitzung der AWALU-Kommission vom 02. Mai 1960, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1959–1960. 269 Protokoll über die Meisterbesprechung am 12. Dezember 1951, in: Konzernarchiv Henkel J 106, Meisterkonferenz 1949–1967.
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ner natürlichen und lebensweltlichen Umwelt zu Missständen führte. Es gab zwar innerbetriebliche Sozialisationsbestrebungen bezüglich des schonenden und sparsamen Umgangs mit Wasser, sie richteten sich allerdings nicht auf eine schützenswerte Umwelt und blieben weitgehend erfolglos. So scheiterte bei Henkel im Sommer 1959 eine Plakat-Aktion, welche die Mitarbeiter in den Betrieben zum „sparsamen Umgang mit Wasser“ sowie zur „verträglichen“ Abgabe toxischer Stoffe in die Abwässer ermutigen sollte am „widerwilligen und sturköpfigen Benehmen der Belegschaft“.270 Ein ähnliches Bild zeichnet der Leiter der Abwasserkontrolle der Firma Henkel im Jahre 1963 in einem Referat auf einer Meisterkonferenz: Wegen der Einleitung der Henkel-Abwässer über zwei Kanalsysteme in das Abwassernetz der Stadt Düsseldorf müssten alle alkalischen und basischen Abwässer ebenso wie die anderweitig toxischen Abwässer noch stärker überwacht werden. Die Meister müssten erneut aufgefordert werden, noch mehr Verständnis für die Notwendigkeit der Abwasserreinhaltung aufzubringen und bewusst auf ihre Mitarbeiter einzuwirken, um so die Verhältnisse zu verbessern. „Sollte eine Betriebsstörung zu einer erhöhten Verschmutzung des Abwassers führen, so ist dringend geboten, […] die Abwasserkontrolle zu benachrichtigen […].271 Solche Probleme hinsichtlich der unvermeidbaren Risikoproduktion auf operativer Ebene wurden Ende des Jahres 1961 auch von einem Betriebsleiter der Farbenfabriken Bayer Leverkusen beklagt: „Bisher wurde die Ansicht vertreten, daß schädigende Abwassserquellen nur von den Betrieben selbst abgestellt werden können. Wer aber im Betrieb arbeitet, weiß, daß diese Forderungen in den meisten Fällen utopisch sind. Die für die Aufrechterhaltung der Produktion notwendigen Reparaturen können vielfach nicht […] durchgeführt werden. Daß zusätzliche Planungen und Arbeiten zur Verbesserung der Abwässer und der Abluft zu Ungunsten der Produktion zurückgestellt werden, ist zwar nicht entschuldbar, aber verständlich.“272
Doch nicht nur auf der operativen Ebene kämpften die Unternehmen mit dem Problem der Uneinsichtigkeit. Gewiss hatten die damaligen Methoden der Mitarbeiterführung und die damit verbunden Einstellungen der Vorgesetzten ebenfalls Einfluss auf eine wenig vorhandene und nach außen gerichtete Sicherheitskultur. So klagte der Vorsitzende der AWALU-Kommission der Farbenfabriken Bayer 1955 gegenüber Chefingenieur Rieß, dass alle beschlossenen Maßnahmen der Kommission am Widerstand der alt gedienten Abteilungsleiter und an deren Uneinsichtigkeiten verpufften.273 Insgesamt 15 Maßnahmen und Verbesserungsvorschläge der AWALUKommission waren auf ihre Umsetzung in den Betrieben überprüft worden. Doch 270 Vgl. Niederschrift über die Meisterbesprechung Nr. 7 vom 21. Juli 1959, in: Konzernarchiv Henkel J106, Meisterkonferenz 1949–1967. 271 Vgl. Niederschrift über die Meisterbesprechung Nr. 11 vom 17. Dezember 1953, in: Konzernarchiv Henkel J106, Meisterkonferenz 1949–1967. 272 Referat des Betriebsleiters Dr. Schmitz auf der 1. Besprechung der kleinen AWALU über Abluftfragen am 25. September 1961, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1960–1961. 273 Vgl. Vorsitzender der AWALU-Kommission Henkel an Rieß betreffend AWALU-Kommission vom 1. Juli 1955, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1954– 1956. Darauf folgte ein Rundschreiben von Rieß an die zuständigen Direktoren der verursachenden Betriebe, das noch einmal auf die Vorschläge zur Beseitigung von Abwasser- und Abluftproblemen hinwies, da dies nur mit „mehr oder weniger großen Auswirkungen“ erfolgt
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übrig blieben allein Fragen, etwa ob es immer noch sein müsse, dass „hochgiftiger Schlamm mit Wasser verrührt und in den Rhein gedrückt wird.“274 Die AWALUKommission resümierte ob der fehlenden (Umwelt-)Sicherheitskultur der leitenden Angestellten in den Betrieben: „Dabei kommen wir zu dem Ergebnis, daß wenn alle Maßnahem, die bisher in der Kommission beschlossen wurden, […] durchgeführt wären, doch bereits einiges Nützliche und Zweckdienliche geschehen wäre.“275 Die wenigen bestehenden innerbetrieblichen Richtlinien konnten daher nur schwer durchgesetzt werden, weswegen die Betriebe andere Lösungen finden mussten. Die Vertreter der mittleren und unteren Verantwortungshierarchien der Unternehmen waren der Ansicht, die Verhältnisse könnten sich nur bessern, indem eine Verteilung der verunreinigten Abwässer in den Vorfluter über den gesamten Tag und hauptsächlich auch in der Nacht erfolge, da so eine entsprechende Verdünnung erreicht werden könne.276 Wie man sich eine solche Verdünnung vorstellte, kann anhand des folgenden Diagramms gezeigt werden, das die Chlorabgabe des Bayerwerkes Dormagen im Tagesverlauf in einen Abwasserkanal darstellt. Bei einer durchschnittlichen täglichen Fracht von 21.000 m3 Abwasser und einem gleichzeitigen Durchfluss des Rheins von ca. drei Millionen Litern Flusswasser zeigt die Abszisse die Uhrzeit und die Ordinate den Chlorgehalt des Abwassers in mg/L. Unschwer ist die stoßweise Abgabe in den Abend- und Nachtstunden zu erkennen – man ging von weniger verunreinigtem Rheinwasser in diesen Stunden aus und erhoffte sich eine stärkere Neutralisation der Werksabwässer.
sei. Vgl. Schreiben von Rieß an Klebert, Tietz, Loehr, Holzrichter vom 18. Juli 1955, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1954–1956. 274 Ebd. Anlage zum Schreiben an Rieß, hier Zusammenstellung bisher geplanter Maßnahmen – wie weit sind sie durchgeführt? vom 1. Juli 1955, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1959–1960. 275 Ebd. 276 Protokoll über die Meisterbesprechung am 01. August 1950, in: Konzernarchiv Henkel J 106, Meisterkonferenz 1949–1967. Die Argumentation, das Abwasserproblem müsse hauptsächlich durch die Selbstreinigungskraft der Flüsse und durch Niederschläge erfolgen, war aus einer gewissen Hilflosigkeit entwachsen und daher bei den Ingenieuren weit verbreitet. Vgl. hierzu Vortrag Dr. Rehbein bei der AWALU-Kommission am 18. Januar 1960, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1959–1960.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
Überschrift Chlorgehalt des Abwassers in mg/L
Trend
Tagesverlauf [in h]
277 Abb. 5: Chlorfracht des Abwassers des Bayer-Werkes Dormagen im TagesverlaufJJMMTT_Berichtstitel_Kürzel
Die Bayer-Ingenieure zogen aufgrund von Toxizitätsversuchen mit Hilfe von Kleinfischen und Mikroorganismen den Schluss: „Die neutralisierten Abwässer […] wurden auf ihre toxische Wirkung an Coli-Bakterien, Grünalgen und Guppis [sic!] geprüft. Um die Giftwirkung auszuschalten ist bei Coli und Grünalgen eine Verdünnung des Abwassers von 1:4, bei Guppis von 1:50 erforderlich. […] Trotzdem hat das Abwasser an der Einmündung des Kanals in den Rhein auch, nachdem es neutralisiert ist, seine Giftigkeit noch nicht ganz verloren.“278 Generell waren die 277 Übernommene Darstellung aus dem Jahresbericht des Abwasserlabors 1959 der Farbenfabriken Bayer Leverkusen, hier das Beispiel des Werkes Dormagen, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1959–1960. Der Jahresbericht weist ebenso heftige Spitzen zwischen stark alkalischen oder basischen Abwässern über das Jahr hinweg aus. Zudem wurden Chloride, Sulfate, lösliche Phenole, Kupfer, Cyanid und andere Stoffe in hohen Dosen in den Rhein eingeleitet, was die zuständigen Chemiker durch Unterstreichen der Spitzenwerte zum Ausdruck brachten. Vgl. ebd. Im Falle des Werkes Leverkusen lassen sich durch ähnliche Werte und damit die Vermutung kontaminierter Abwässer bestätigen, wobei die Abwasserfrachten im Werk Leverkusen produktionsbedingt höher waren und diese sich noch „1964 in den Rheineinläufen bei konstanter Konzentration erhöhten und damit die Fracht um 10 % angestiegen ist“. Vgl. Niederschrift über die TDC am 16. Februar 1965 in Leverkusen, in: BAL 329/377 Direktionsabteilung, AWALU. Diese Erhöhung war auch den zuständigen Behörden durchaus bekannt. Vgl. hierzu Henkel und Weber (Farbenfabriken Bayer Leverkusen, AWALUKommission) an Regierungspräsidenten betreffend Sanierungsmaßnahmen am Rhein vom 20. Oktober 1966, in: BAL 329/377 Direktionsabteilung, AWALU. Hier werden ebenfalls die hohen Schadstofffrachten und deren kontinuierliche Steigerungen ersichtlich. 278 Vgl. Jahresbericht des Abwasserlabors 1959 der Farbenfabriken Bayer Leverkusen, hier das Beispiel des Werkes Dormagen, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und AbluftLabor 1959–1960.
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1960er Jahre geprägt von einer weiteren Verschärfung der Verschmutzungsgrade von Flüssen in der Bundesrepublik. Ab den 1970er Jahren konnten insbesondere durch Tierexperimente toxische Wirkungen nachgewiesen und Obergrenzen für die Einleitung vieler Substanzen entwickelt sowie hierdurch ein endgültiges Erkennen ihrer schädlichen Wirkungen und eine langsame Bewegung in Richtung besserer Verhältnisse erreicht werden. Dies wird Gegenstand der folgenden Kapitel sein. Wie auf dem Gebiet der Luft-Emissionen und damit verbundener Immissionsschäden waren die Unternehmen auch im Hinblick auf Abwässer nur wenig zur Revision ihrer gewohnten Handlungsmuster bereit, oder anders formuliert: Das Verständnis für eine nach außen wirkende Sicherheitskultur fehlte, da das Bild einer schützenswerten Umwelt nur ganz beschränkt vorhanden war. Oft waren sie dazu auch nicht im Stande, da althergebrachte Technologien nicht im Geringsten auf die Vermeidung von produktionsinduzierten Risiken ausgerichtet waren oder mit den rasant steigenden Produktionszahlen nicht Schritt halten konnten. Die „Abwasserverhältnisse sind immer noch katastrophal“ bilanzierte der Chefingenieur der Farbenfabriken Bayer Leverkusen noch im Jahre 1965.279 Trotz der Einsicht in die Verhältnisse waren die betrachteten Unternehmen bis zum Ende der 1960er Jahre zu einer nachhaltigen Veränderung nicht in der Lage oder nicht bereit. Sauberes Wasser wurde zumeist für die eigenen Interessen der Produktion gefordert, und dieses Ziel konnte nur teilweise erreicht werden. Die Einleitung toxischer Substanzen in die Ströme wurde als Gewohnheitsrecht angesehen und damit als ebenso legitim, wie die Tatsache, dass es um ein großes Werk der chemischen Industrie zu ‚ortsüblichen‘ problematischen Verhältnisse für Menschen, Tiere und Vegetation kommen konnte. Insbesondere trockene Sommermonate ließen den Rheinpegel absinken, so dass die natürliche Verdünnungskraft insbesondere am Ende der hier betrachteten Periode nicht mehr gegeben war. Und so musste dann Ende des Jahres 1967 in der Rückschau über den stark verunreinigten Rhein bei Leverkusen berichtet werden: „Bereits das ankommende, stark belastete Wasser, musste dann noch die Abwässer des Werks aufnehmen. Starke Einfärbungen und Schaumbildungen waren die Folge.“280 Ich möchte nun die Ergebnisse meiner Untersuchung der Verhältnisse bei Bayer und Henkel vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die ausgehenden 1960er 279 Vgl. 4. Sitzung der AWALU-Kommission am 23. Juli 1965, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1964–1967. 280 Bericht des AWALU-Laboratoriums für die Zeit vom 01.01. bis 31.12.1967 vom 29. Januar 1968, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1967–1971. Es bot sich also über den betrachteten Zeitraum immer das gleiche Bild dieser katastrophalen Abwasserverhältnisse. Da bereits im Dezember 1961 die AWALU-Kommisson infolge von toxikologischen Tests über die „Giftigkeit der Abwässer in den Endauslässen des Werkes Leverkusen“ unterrichtet wurde. Vgl. 152. Kommissionssitzung der Abwasser- und Abluftkommission der Farbenfabriken Bayer Leverkusen vom 11. Dezember 1961, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1961–1962. Ähnlich für ein flächendeckendes Gutachten am gesamten Niederrhein, indem vor allem eine sehr geringe Sauerstoffsättigung insbesondere im Einzugsgebiet des Bayerwerkes festgestellt wurde. Bericht von Dr. Teller für die AWALUKommission betreffend Kontrolluntersuchung am Niederrhein vom 16. Januar 1961, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1961–1962.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
Jahre auf Basis des von mir entworfenen Modells kulturrationaler Sinnhandlungen von Unternehmen zusammenfassen. Im Mittelpunkt steht dabei die Analyse der unternehmerischen Handlungslogiken, wie ich sie bis hierher unter dem Einfluss ihres institutionellen Kontextes und ihrer kulturellen Rahmung beschrieben habe und wie sie in einer unternehmensgeschichtlichen Arbeit im erweiterten kulturellen Paradigma zu verorten sind. 3.1.5 Zusammenfassung: Umwelt-Risiko macht Sinn – Stör- und Unfälle als Kollateralschäden Ziel dieses Kapitels war es, die Strategien, Glaubenssysteme und Praktiken der betrachteten Unternehmen für die Zeit zwischen den beginnenden 1950er Jahren und den ausgehenden 1960er Jahren hinsichtlich ihres Umgangs mit produktionsinduzierten Risiken darzustellen. Dabei stellte sich eine Kontinuität des unternehmerischen Risikoverhaltens ebenso heraus wie ein nicht zu erschütterndes Selbstverständnis der Unternehmen, was die Überzeugung von der Richtigkeit und Legitimation ihres Handelns anbelangte. Dies werde ich im Folgenden auf der Basis des Modells eines kontextabhängigen Unternehmenshandelns abschließend interpretieren. Wichtig sind mir dabei vor allem die (gerade nicht) vorhandenen, von außen angeleiteten Institutionalisierungs- und Deinstitutionalisierungsprozesse in den Unternehmen. Ich möchte an dieser Stelle die Exklusivität des Betrachtungszeitraums herausstreichen, welche die reine neoinstitutionalistische Organisationstheorie nur schwer erfassen kann. Der formal-institutionelle Kontext des Immissions- und Gewässerschutzes entstammte aus dem deutschen Kaiserreich und hatte in der Weimarer Republik ebenso wie im Nationalsozialismus nur wenige Modifikationen erfahren. Wir haben es also mit einem nur sehr zögerlich stattgefundenen institutionellen Wandel auf dem Gebiet des Immissions- und Gewässerschutzes zu tun. Dieser Umstand änderte sich nach dem Zweiten Weltkrieg aus Perspektive der Unternehmen nur in geringem Maße. In seinem Wechselspiel mit normativen und kulturellen Dimensionen von Institutionen bedeutete dies auch ein Verharren in alten Handlungsmustern und Sinnzuschreibungen des institutionellen Kontextes von Unternehmen, wie dies etwa durch das Analyseschema der Dimensionen von Institutionen nach Scott verdeutlicht werden kann. Die Institutionen, ihre normativen und kulturellen Dimensionen wie auch ihre Durchsetzungsinstrumentarien folgten pfadabhängigen Verhaltensstrategien und Handlungslogiken, was die Regelsetzung, Überwachung und angesehene Notwendigkeit der Eindämmung produktionsinduzierter Risiken der betrachteten Unternehmen anbelangte. Auf der außerunternehmerischen Analyseebene habe ich den Bestand von tradierten Institutionen in ihrem Wechselspiel mit alten Akteuren, Strategien und Sinnzuschreibungen der institutionellen Durchsetzungsorgane gezeigt. Daraus resultieren bis zum Ende der 1960er Jahre entsprechend dem Handlungsmodell des Unternehmens als offenes System im gesellschaftlichen Wertewandel im Umgang mit produktionsinduzierten Risiken stabile
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und nur graduell veränderte Erwartungshaltungen gegenüber der Risikoproduktion der chemischen Industrie. Die bestehenden formalen Institutionen des Immissions- und Gewässerschutzes waren den Unternehmen leicht zugänglich; die wenigen neu hinzugekommenen Institutionen wurden unter anderem von einer starken Industrie-Lobby antizipiert oder in Mitgestaltungsprozessen ausgehandelt. Damit konnten die Unternehmen die wenigen bevorstehenden Gesetze in ihr Kalkül einbeziehen, gleichzeitig aber angesichts der geringen Durchsetzungskraft dieser Regelungen in alten Handlungsstrategien, (Management-)Praktiken und Glaubenssystemen verharren. Der Grund hierfür liegt in der gewichtigen Stimme eines starken Industriezweiges und seinen Möglichkeiten, die gesetzlichen Regelungen nicht starr zu befolgen, sondern sie mit einem selbst definierten Handlungsspielraum auszustatten. Eine Folge im Inneren war, dass Veränderungen nur graduell vonstatten gingen. Die altgedienten formalen Institutionen im Innern und Äußern konnten nicht verdrängt werden. Das WHG und die Veränderung des § 16 der GewO sowie die daraus hervorgehende TA-Luft dienten als eindrückliche Beispiele: Trotz dieser Maßnahmen scheinen die formalen Institutionen nicht zu deutlichen Revisionen der Handlungslogiken innerhalb der Unternehmen geführt zu haben, was ich an der Beibehaltung alter Risikostrategien und dem pfadabhängigen Selbstverständnis der Unternehmen im Betrachtungszeitraum zeigen konnte. Nach der Änderung des § 16 GewO hatten die unternehmerischen Anspruchsgruppen eine verstärkte Handhabe, gegen die Immissionsschäden und die Verunreinigung von Flüssen vorzugehen. Sie machten von diesen Möglichkeiten jedoch nur in sehr wenigen Fällen Gebrauch, da sie die Verhältnisse erstens aus Gewohnheit akzeptierten und zweitens aufgrund ihres Wissens um das drohende Scheitern von Protesten absahen. Tief greifenden Protesten gegen den zwar unangenehm riechenden, aber Wohlstand bringenden Nachbarn konnte schlicht kein Sinn abgerungen werden. Durch die Vorgaben des institutionellen Kontextes wurden die Unternehmen zwar zugänglicher, was den Schutz der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt betraf. Viele Quellen deuteten auf die zunehmende Wahrnehmung des Problem hin und teils auch auf Bestrebungen, die Verhältnisse zu ändern. Jedoch konnte der außerunternehmerische institutionelle Rahmen nicht genügend Druck ausüben, um die jahrzehntealten Strategien und Handlungslogiken radikal zu verändern. Im hier zu betrachtenden Zeitraum ergab sich ein ambivalentes Bild, das sich zwischen Einsicht der Unternehmen und einer massiven Abwehr gegen gesetzliches Eingreifen bewegte. Eine Mischung aus Arroganz, Naivität und dem Streben nach wirtschaftlicher Prosperität durch stark erhöhte Produktionszahlen ließen sowohl bei Bayer als auch Henkel nur geringe Veränderungen zu. Für die hier zu analysierende Periode beobachten wir nur wenige formale innerunternehmerische Spielregeln, die dem Schutz der Umwelt und einer Vermeidung von produktionsinduzierten Risiken Vorschub geleistet haben. Im Gegensatz dazu beobachten wir aber informelle Institutionen, die schwerer wiegen. Alte Handlungsmuster und Strategien blieben für die Unternehmen richtungsweisend, was unter anderem am fehlenden Verständnis der Mitarbeiter und der innerbetrieblichen Sozialisation bezüglich dieser Fragen lag.
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Am Beispiel des direkten Umfeldes der Unternehmen in Gestalt der Nachbarschaft und an einigen Stellen in Gestalt der Gewerbeaufsichtsämter, habe ich die Auseinadersetzungen bezüglich des Themas produktionsinduzierte Risiken befragt. Auch hier darf nach dem Analyseschema von Scott eine relative Stagnation der normativen und kulturellen Dimensionen von Institutionen konstatiert werden. Die Vorstellung einer schützenswerten Mensch-Umwelt-Beziehung war nicht stark genug ausgeprägt, um energischen Protest gegenüber der industriellen Risikoproduktion zu rechtfertigen. Zu normal waren die rauchenden Schornsteine und die verschmutzen Flüsse. Dies korrespondierte mit einem Mensch-Umwelt-Unternehmensverhältnis, in dem bezüglich der Risikoproduktion wünschenswerte ökonomische Effekte den ökologischen Verbesserungen vorangestellt waren. Dieses tradierte Mensch-Umwelt-Unternehmensverhältnis scheint mitverantwortlich für die problematischen Bedingungen der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt in der Werksperipherie gewesen zu sein, da alle Dimensionen des institutionellen Kontextes sowie die Sinn- oder Gefahrenzuschreibungen der kulturellen Rahmung mit dem innerbetrieblichen Alltag weitgehend in Einklang standen. Unterstützt wurden die gesellschaftlichen Sinnmuster durch eine Technisierung des Alltags verbunden mit einem ausgeprägten Fortschrittsoptimismus nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Legitimität der Unternehmen speiste sich aus ihrer Funktion als wirtschaftlicher Heilsbringer. Diese Funktion wurde ihnen durch das organisationale Feld innerhalb eines historischen Kontextes zugeschrieben, der sich aus der Überwindung der Mangelgesellschaft nach der NS-Zeit und eine sich konstituierenden Konsumgesellschaft ergab. Ein tief verwurzeltes Vertrauensverhältnis und die damit verbundene Loyalität gegenüber der Annahme der Richtigkeit des unternehmerischen Risikohandelns unterstützten die stabile und zumeist friedvolle Atmosphäre zwischen den Feldakteuren. Die Nachbarn der Unternehmen waren bereit, für Fortschritt und Wohlstand den Preis ihrer eigenen Gefährdung sowie der widrigen Umweltverhältnisse zu bezahlen und teilten damit eine WiederaufbauMentalität, welche die Unternehmen stellvertretend für die bundesdeutsche Gesellschaft ab den 1950er Jahren vorlebten. Die Beschwerden, die bei den Unternehmen eingingen, verpufften aufgrund der Ehrfurcht vor dem größten Brötchengeber am Ort und blieben in ihrer Form höflich und respektvoll. Dieser Umstand reihte sich ein in eine allgemeine Protestmüdigkeit gepaart mit dem gesamtgesellschaftlichen vorherrschenden Blick nach vorne. Es gab in dieser von Optimismus und Integration geprägten Perspektive keine Zuschreibungen von Gefahren für die natürliche und lebensweltliche Umwelt, die der tradierten Risikoproduktion Einhalt geboten hätten. Das führte auf Seiten der Unternehmen zu einer Stagnation von Anreizen, Risiken außerhalb des reinen Produktionszwecks zu minimieren und weit reichende technische Verbesserungen zu erzielen. Die Rollenzuschreibung des Feldes gegenüber Bayer und Henkel blieb wie lange Jahre zuvor, die Ertragskraft zu steigern. Durch unveränderte oder nach 1945 wieder aktivierte Sinnzuschreibungen des Feldes sowie den zaghaften institutionellen Wandel hinsichtlich des Immissions- und Gewässerschutzes konnte sich keine Dynamik in den Handlungsmustern der Unternehmen formieren; ihre Rolle blieb statisch. Ein Angleichungsprozess des gesellschaftlichen Akteurs Unternehmen
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musste gar nicht stattfinden. Die Unternehmen verharrten innerhalb des Feldes in alten Akteurskonstellationen. Weder eine Strategie des Erduldens, des Kompromisses, des Vermeidens noch des Trotzens samt der zugehörigen Taktiken wurden nötig, wenn man die eingeschlagenen Strategien von Bayer und Henkel aus der Sicht der Analyse Christine Olivers abstrahiert, wie ich sie in den konzeptionellen Grundlagen der Arbeit eingeführt habe. Durch ihr altes und weiterhin zugestandenes Selbstverständnis als Unternehmen konnten Bayer und Henkel das Thema des organisationalen Feldes, wie auch dessen außerunternehmerischen Akteure steuern und beeinflussen. Nicht einmal eine strategische Entkopplung musste stattfinden, denn eine solche würde auf eine vorhandene Diskrepanz gesellschaftlicher Erwartungsstrukturen und inner-unternehmerischer Praktiken hinweisen. Entsprechende gesellschaftliche Sinnstrukturen waren jedoch in den 1950er und 1960er Jahren nicht kräftig genug, um aus technikkritischer Perspektive für einen Schutz der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt gegen die angestammte Risikoproduktion der chemischen Industrie zu argumentieren. Vielmehr handelte es sich bei alten natur- und heimatschützerischen Bestrebungen um randgesellschaftliche Sinnstrukturen, die zwar eine Gefährdung der Umwelt erkannten, aber nicht stark genug waren, um Druck auf inner-unternehmerische Institutionen und Glaubenssysteme auszuüben. Diese Interdependenzen führten zu einer skurrilen Situation: Die betrachteten Unternehmen nahmen die schädlichen Auswirkungen ihrer Risikoproduktion wahr; sie handelten aber nicht dagegen. Ich habe das Fehlen eines öffentlichen, technikkritischen UmweltschutzDiskurses aufgedeckt. Dies führte dazu, dass Risiken und Gefahren der eigenen Produktion durch die Unternehmen nicht dergestalt thematisiert wurden, dass sich an diesen widrigen, von ihnen herbeigeführten Verhältnissen etwas ändern müsse. Diese fehlenden Diskurse im Äußern der Unternehmen führten zu Renitenz im Innern. Die Probleme wurden fast ausschließlich im Kontext innerer Belange thematisiert bzw. man sah es als legitim an, die Umwelt für die Eigeninteressen zu unterwerfen und notwendigerweise zu schädigen. Wie ich verdeutlicht habe, wurden Institutionen in ihren formalen, normativen und kulturellen Dimensionen durch Expertisen und Mitgestaltungsansprüche gesteuert. Wir dürfen also sowohl aus neoinstitutionalistischer, wie auch aus wirtschaftskultureller Sicht von mächtigen Unternehmen ausgehen. Aus neoinstitutionalistischer Sicht beobachten wir sozusagen einen umgekehrten Effekt, d.h. Unternehmen, die ihren institutionellen Kontext und ihre kulturelle Rahmung beeinflussten. Aus einer um kulturwissenschaftliche Ansätze erweiterten Sicht der Neuen Institutionenökonomik haben wir es mit einem effizienten Wirtschaften zu tun, das einzig und alleine aufgrund der Passung des historischen Settings zwischen Gesellschaft, gesellschaftlichen Institutionen, Sinnzuschreibungen und Unternehmen bestand. Auch die Nichtnotwendigkeit eines Anpassungsprozesses verdeutlicht die Ausgangsthese der Arbeit, dass Unternehmen in geschichts- und kulturgeprägten Kontexten wirtschaften; ihr Handeln ist kontextabhängig, und damit ist, wie im Falle des hier verwendeten Beispiels, Risikohandeln auch kulturrational. Da Unternehmen offene Systeme sind, wird dieser Kontext stets reflektiert und musste in dem hier betrachteten Zeitraum nicht zu Veränderungen in der Handlungslogik von
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Bayer und Henkel führen, was die Beibehaltung alter Argumentationen und der Außendarstellungen deutlich gezeigt hat. Dies werde ich in dem vorgeschlagenen Modell des kulturellen Paradigmas der Unternehmensgeschichte noch kurz vertiefen. Staatliche Eingriffe in das Risikoverhalten und die Risikoabwehr waren nicht im Kalkül der Unternehmen vorgesehen. Ihre Auslegung der liberalen Wettbewerbsordnung seit den beginnenden 1950er Jahren diente den Unternehmen dazu, Eigentumsrechte als nicht angreifbar zu deklarieren. Dies gilt auch für Eigentumsrechte im Sinne von Wissen über produktionsinduzierte Risiken. Kontrolle hierüber abzugeben, war seit dem Bestehen der Unternehmen nur in sehr geringem Maße angedacht, und auf der strategischen Hierarchieebene wurde daran festgehalten. Die Unternehmen definierten Emissionen als Betriebsgeheimnisse, und sie chiffrierten damit das Verhältnis zu ihrem institutionellem Kontext und ihrer kulturellen Rahmung im Sinne eines Expertenwissens. Nur Bayer und Henkel verfügten über exklusive Eigentumsrechte am Wissen über produktionsinduzierte Risiken. Dies zeigte sich unter anderem an ihrer Vorherrschaft in der Schadensbegutachtung. Die Unternehmen selbst traten als Experten auf, sie definierten die Rechtmäßigkeit des Schadens. Die außerunternehmerischen Kontrollinstanzen hielten sich indes bedeckt bzw. kapitulierten noch Ende der 1960er Jahre aufgrund fehlender Gerätschaften und daraus resultierend im Vertrauen auf die Richtigkeit des Unternehmenshandeln. Die seit langer Zeit existente Ordnung zwischen Unternehmen, institutionellem Kontext und kultureller Rahmung folgte einem paternalistischen Verständnis und daraus folgend der Deutung eines Unternehmens als Patriarch, der als ‚Herr im Feld‘ über Recht und Ordnung entschied. Auch dies führte zur Beibehaltung alter Praktiken, Strategien und Glaubenssysteme, da es gar nicht zu Aushandlungsprozessen über die Art und Weise der Produktion kommen musste. Die kulturelle Rahmung der Unternehmen, der fehlende Protest sowie ein Ehrfurchts- und Vertrauensverhältnis wogen stärker als der langsame Prozess des institutionellen Wandels im Immissions- und Gewässerschutz. Durch dieses historische Setting wurde alles Wünschenswerte ausschließlich in Gestalt ökonomischer Prosperität und Wohlstandsschaffung gegenüber den Unternehmen ausgedrückt, was seit der Hochindustrialisierung zumeist der Fall gewesen war, und nun in der erneuten Boomphase der 1950er und 1960er Jahre reaktiviert bzw. beibehalten wurde. Die Erwartungshaltungen von außen waren weitgehend kompatibel mit den (Management-) Praktiken und Glaubenssystemen im Innern von Bayer und Henkel: Als wünschenswert galt der Zuwachs an Prosperität, auch um den Preis der Zerstörung oder der negativen Beeinflussung der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt. Beide, sowohl der ‚Chemieriese‘ aus Leverkusen wie auch der Konsumgüterhersteller aus Düsseldorf hatten vom institutionellen Kontext und der kulturellen Rahmung einen Freifahrtschein erhalten, der ihnen die Beibehaltung von Risikostrategien und Gestaltungsprozessen der Produktion zugestand. Dies lag zum einen an einem nicht nachhaltigen Verständnis einer schützenswerten Umwelt, was sich in der Vorstellung einer Anpassungspflicht an die emittierende Industrie gezeigt hat. Dieser Umstand dauerte trotz verschärfter gesetzlicher Regelungen an, auch wenn die betrachteten Unternehmen diese Anpassungspflicht nicht mehr so offenkundig einforderten. Die
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Verhältnisse für die natürliche und lebensweltliche Umwelt blieben ebenso wie die Argumentationsschemata und damit die Selbstverständnisse der Unternehmen konstant. Man könnte sogar noch einen Schritt weiter gehen: Die Natur war aus Sicht der Unternehmen mit für die widrigen Verhältnisse verantwortlich; dies zeigte sich immer wieder, wenn etwa bis zum Ende der 1960er Jahre auf herrschende Windverhältnisse, Wasserstände und Wetterlagen als Ursachen von Umweltbeeinträchtigungen verwiesen wurde. Es herrschte ein Verständnis einer Natur vor, in die der Mensch durch Technik nicht nur eingreifen durfte, die er sich vielmehr mit seiner geschaffenen Technik zugunsten ökonomischer Wohlfahrt zu Nutze machen sollte. Die Jahrzehnte alten Institutionen sowie die Gefahrenzuschreibungen der kulturellen Rahmung der Unternehmen wurden aus unterschiedlichsten Gründen nicht an die Erweiterung der Produktionen angepasst. Schäden an der Natur waren daher nicht zu vermeiden und galten in den 1950er und den 1960er Jahren als Kollateralschäden. Dies war die sinnhaft erschlossene Wirklichkeit sowohl der Unternehmen wie auch des institutionellen Kontextes und der kulturellen Rahmung in den 1950er und den 1960er Jahren. Produktionsinduzierte Risiken machten Sinn, und ebenso gehörten Stör- und Unfälle zu diesen Risiken. Sie wurden vom institutionellen Kontext nicht sanktioniert und von der kulturellen Rahmung als normal hingenommen. Dies führte innerhalb der Unternehmen zu Glaubenssystemen und Praktiken, die eine Sicherheitskultur gegenüber der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt nicht zustande kommen ließ. Die bislang beschriebenen Umstände bewirkten die Beibehaltung der Strukturen, Verhältnisse und Sinndeutungen eines wenig partizipationsbereiten organisationalen Feldes. Für Bayer und Henkel wahrnehmungsrelevant waren die Gewerbeaufsichtsämter, die Regierungspräsidien und Technischen Überwachungsvereine – hier verstanden als organisatorischer und nicht als institutionensanktionierender Akteur –, sowie die Nachbarschaft der Unternehmen als weitere Anspruchsgruppe. Bayer und Henkel konnten die alten Strukturen, Verhältnisse und Sinndeutungen zwischen ihnen und dem Feld aufrechterhalten; sie wurden nicht angefeindet oder hätten dies aufgrund ihrer Machtstellung nicht zugelassen. Aus dieser Warte betrachtet konnte das vorangegangene Kapitel zeigen, dass die Akteursgruppen nur in sehr geringem Maße dazu bereit waren, die Unternehmen hinsichtlich ihres Verhaltens im Umgang mit produktionsinduzierten Risiken unter Druck zu setzen. Zu groß waren dabei die eigenen Erwartungen an Bayer und Henkel sowie die Neigung, die prosperierende Wirkung der Unternehmen nicht aufs Spiel zu setzen. Aber auch die Erwartungen bezüglich des Wünschenswerten und Normalen an ein Unternehmen der chemischen Industrie waren zu eingefahren. Ein Fortschrittsparadigma innerhalb des Feldes ging Hand in Hand mit einem erwünschten ökonomischen Wachstumseffekt, ebenso die nur wenig veränderten Gefahrenzuschreibungen gegenüber den betrachteten Unternehmen. Das Feld deklarierte die Zustände schlicht als normal und wollte aus diesem Grunde auch keine starken Veränderungswünsche oder Proteste gegen die größten Brötchengeber am Ort. Die Macht- und Deutungshoheit über Risiken und den Umgang mit produktionsinduzierten Risiken im gesellschaftlichen Transformationsprozess lag bei den betrachteten Unternehmen, was explizite und organisatorische Maßnahmen gegen
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die schlechten Verhältnisse nur zum eigenen Wohl erforderte. Selbst diese Maßnahmen waren aber nicht im Stande, die Risikotechnologie im Zaum zu halten. In Bezug auf die natürliche und lebensweltliche Umwelt war es für die Unternehmen auch nicht nötig, dem Umstand der Gefährdung einen Sinn abzuringen, denn sie allein definierten die Richtigkeit ihres Handelns. Dieses Handeln galt als grundlegend richtig, was ich anhand immer gleich bleibender und selten nötiger Aushandlungsprozesse gezeigt habe. Die Unternehmen mussten nur in geringem Maße eine neue innerbetriebliche Wirklichkeit konstruieren, da sich die Sinnzuschreibungen ihnen gegenüber nur wenig veränderten. Die Sinndeutungsgemeinschaft Unternehmen wankte aufgrund der wenigen zu reflektierenden Informationen von außen nicht, was an gleich bleibenden, habitualisierten Argumentationen, Handlungsstrategien und Glaubenssystemen vom Vorstandsvorsitzenden bis zum Chemiewerker nachvollzogen wurde. Eine solche Informationsverarbeitung oder ein Lerneffekt wären auch nicht im Kalkül vorgesehen gewesen und hätte nicht sinnhaft erschlossen werden können. Wo versucht wurde, die schlechten Emissions- und Wasserverhältnisse zu verändern, war das Primärziel der Schutz und Bestand klassischer Produktionsfaktoren, oder es scheiterte an der fehlenden Sozialisation der Mitarbeiter. Dies konnte ich damit untermauern, dass trotz der Suche nach technischen Lösungen seit Ende der 1950er Jahre keine Verbesserungen eintraten und die Ausweitung der Produktionen nicht kompensiert werden konnte. Damit hatten die Unternehmen aus ihrer Sicht das von ihnen als nötig und möglich Definierte getan. Und auch an jenen wenigen Expertenstellen der verantwortlichen Ingenieure und Chemiker wurden in den selten nötigen Aushandlungsprozessen immer das Eigeninteresse der stetigen Ausweitung der Produktion sowie ökonomische vor ökologischen Argumentationen vorgebracht. Die Spielregeln im Innern blieben bestehen, sie waren im Äußern anerkannt und damit effizient. Deinstitutionalisierungsprozesse der Außenwelt zuliebe wären als ortsunüblicher Luxus hingegen in hohem Maße ineffizient gewesen. Hohe Schadensträchtigkeit der Produktion im Allgemeinen und damit der ‚proper way of behave‘ bzw. die Präsenz des möglichen Störfalles hingegen waren im Kalkül enthalten und damit effizient. Chemische Produktionen beinhalteten sinnhaft ein hohes Restrisiko einer Gefährdung der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt. Oder anders gedeutet: Risiko machte Sinn, Stör- und Unfälle waren unvermeidbar und damit anerkannter Teil der chemischen Industrie im hier betrachteten Zeitraum. Ein Verlust an Legitimität war aufgrund der Verschmutzung und Gefährdung der Umwelt aus Sicht der Unternehmen nicht zu befürchten. Eine kulturrationale Strategie ließ eine nachhaltige Veränderung der eigenen Risikoproduktion der Werksumwelt zuliebe nicht zu. Sie wäre in höchstem Maße ineffizient gewesen. Dies sollte sich samt dem dazugehörigen inner-unternehmerischem Arrangement jedoch in den Folgejahren einmal im Kreise drehen.
3.2 Verkehrte Verhältnisse
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3.2 VERKEHRTE VERHÄLTNISSE – AUSHANDLUNGEN UNTERNEHMERISCHEN RISIKOVERHALTENS VOM ENDE DER 1960ER JAHRE BIS ZUM DIOXINUNGLÜCK VON SEVESO IM JULI 1976 Im Anschluss an die Darstellung der Zeitperiode bis zum Ende der 1960er Jahre werde ich im folgenden Kapitel den Wandel des institutionellen Kontextes und der zeitgenössischen Gefahrenzuschreibungen außerhalb der Unternehmen in den Fokus nehmen und die Veränderungen der unternehmerischen Praktiken im Gegensatz zum vorigen Betrachtungszeitraum herausarbeiten. Auch in diesem Kapitel werde ich direkte Reaktionen und Maßnahmen der Unternehmen an jenen Stellen aufzeigen, wo die Verhandlungen mit dem institutionellen Kontext oder der kulturellen Rahmung stattfanden. Im letzten Teil dieses Kapitels werden dann dezidiert innerbetriebliche Maßnahmen zur zeitgenössischen Risikominimierung dargestellt und einige Beispiele für weiterhin vorhandene Risiken sowie der veränderte Umgang mit ihnen betrachtet. Ziel dieses Kapitels ist es, die Zunahme des außerunternehmerischen Drucks darzustellen und dessen weit reichende Auswirkungen auf das formale wie informelle institutionelle Arrangement der Unternehmen zusammen mit ihren neuen Risikostrategien ebenso wie das allmähliche Aufkommen von nachhaltigen Konzepten einer Verantwortung der Unternehmen gegenüber ihrer natürlichen und lebensweltlichen Umwelt zu eruieren. All dies war Ausdruck einer völlig neuen, aber notwendig gewordenen Sinnorientierung der Unternehmen: Sie wurden mit einer neu konstruierten, externen Wirklichkeit konfrontiert, die einen Schutz der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt forderte und als angemessen und wünschenswert betrachtete. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, mussten sich Bayer und Henkel in einer Jahre lang andauernden und schmerzlichen Sinnsuche neu definieren. Zwischen den 1950er und den ausgehenden 1960er Jahren hatte sich institutioneller Wandel im Allgemeinen nur sehr zögerlich vollzogen. Die zeitgeschichtliche Forschung hat jedoch gezeigt, dass es in der Bundesrepublik Deutschland spätestens seit den frühen 1970er Jahren möglich war, einem bis dahin nur latent vorhandenen Reformwillen so viel Raum zu geben, dass dieser nun in eine Lebensstilrevolution mündete.281 Damit verbunden waren auch neue gesellschaftliche Deutungen vergangener Erfahrungen mit produktionsinduzierten Risiken sowie neue Gefahrenzuschreibungen. Damit einher ging eine Ablösung der Technikeuphorie und des Vertrauens in die Unbedenklichkeit chemisch-technischer Prozesse auf der einen Seite, die das gleichzeitige Bewusstwerden der unbeherrschbaren Risiken einer zunehmenden Technisierung auf der anderen Seite nach sich zog: „Die Industrialisierung prägte die Gesellschaft nicht mehr in gleichem Umfang wie früher. […] In einer frühen Phase wurde die Modernisierungsdiskussion mehr vom Fortschritts281 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, S. 28: In Bezug auf den Umweltschutz wurde demnach eine neue Idee generiert, die eine reine Wachstumsorientierung ablöste. Hierzu auch Karl Ditt: Die Anfänge der Umweltpolitik in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und der frühen 1970er Jahre, in: Matthias Frese / Julia Paulus / Karl Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn 2005, S. 305–347, hier S. 305f.
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glauben bestimmt, in einer späten Phase mehr von Fortschrittskritik.“282 Dieses Bewusstsein hatte sich aufgrund struktureller Brüche und der Möglichkeit einer institutionellen Neuformierung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts verstärkt manifestiert und brachte einen technikkritischen Umweltschutzgedanken hervor, der den vorherigen Basiskonsens zwischen Unternehmen der chemischen Industrie, ihrem institutionellen Kontext und ihrer kulturellen Rahmung ins Wanken geraten ließ: „Die politische Einbettung einer bestimmten Produktionsweise wird von solchen Basiskompromissen beeinflusst, und das wiederum prägt das politisch-ökonomische Profil einer Epoche.“283 Damit wurde der Risikoproduktion der chemischen Industrie im Allgemeinen ebenso wie industriellen Un- und Störfällen im Besonderen nun innerhalb von wenigen Jahren ein ambivalenter Charakter zugeschrieben, in dem der Zwiespalt zwischen Fortschrittsglaube und technischen Gefahren radikal augenfällig wurde. Aus der Perspektive der chemischen Industrie veränderten sich so im Vergleich zu den 1950er und 1960er Jahren in unvorhersehbarem Tempo mehrere wahrnehmungsrelevante Parameter284 außerhalb der Unternehmen, in ihrem institutionellen Kontext und in der kulturellen Rahmung. Hierdurch wurden die angestammten Handlungsmuster im Hinblick auf die Risikoproduktion umgekrempelt. Sehr deutlich macht dies die Niederschrift zu einer Postbesprechung der Geschäftsleitung der Firma Henkel im Jahre 1972, bei der gegenüber dem Topmanagement eine Stellungnahme zum Thema Umweltschutz abgegeben wurde: „Der Umweltschutz darf nicht mehr als Modeerscheinung betrachtet werden. Er ist aus der Phase des Planens und Diskutierens in ein Stadium der Zwanghandlungen gelangt, so daß unsere Unternehmenspolitik in zunehmendem Maße durch die öffentliche Diskussion und Behörden-Aktivitäten beeinflußt wird. In den USA hat sich die Szenerie in den letzten Jahren gewaltig verändert. Die Stellung der Großindustrie wird z. Zt. – ausgelöst durch Initiativen der Verbraucher-Organisationen […] und Verordnungen […] erschüttert. […] In der BRD konstituiert sich – in Analogie zum Bundesgesundheitsamt – z.Z. ein Bundesamt für Umweltschutz. […] Es erscheint zweckmäßig, folgende Projekte in Angriff zu nehmen: Rückzugsstrategie, besonders Reduzierung des Phosphatanteils in Waschmitteln auf den einzelnen nationalen Märkten in Europa. […] [u]mweltfreundliche Technologien, Recycling von industriellem Brauchwasser, Brauch- und Abwasser-Behandlungsmittel, Dienstleistungen in Kombination mit Umwelt-Behandlungsmitteln.“285
282 Wolfgang König, S. 101–102. 283 Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, S. 102. Ähnlich Ralph Jessen: Bewältigte Vergangenheit – blockierte Zukunft? Ein prospektiver Blick auf die bundesrepublikanische Gesellschaft am Ende der Nachkriegszeit, in: Konrad H. Jarausch (Hg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 177–196. 284 Zu spezifisch herauskristallisierten Gefahrenwahrnehmungen im Laufe der 1970er Jahre im chemisch-technischen Bereich vgl. die Studie von Stefan Böschen: Risikogenese. Prozesse gesellschaftlicher Gefahrenwahrnehmung: FCKW, DDT, Dioxin und Ökologische Chemie, Opladen 2000. 285 Niederschrift über die gemeinsame Postbesprechung vom 07. November 1972, in: Konzernarchiv Henkel, 153/46 Postprotokolle. Ähnlich bereits auf einer gemeinsamen Postbesprechung von Persil, Henkel, Böhme und Henkel International (HI); hier wurde auf die Aufgabe einer Prosperitätssteigerung des Unternehmens bei gleichzeitiger Berücksichtung der Bedürfnisse
3.2 Verkehrte Verhältnisse
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In diesem Kapitel werden die veränderten Parameter – also die durch Henkel beschriebene Entwicklung des Umweltschutzgedankens von einer Modeerscheinung hin zu einer Zwangshandlung – außerhalb der Unternehmen operationalisiert und ihr Einfluss auf den Umgang mit produktionsinduzierten Risiken der chemischen Industrie herausgearbeitet. Es wird sich zeigen, dass es zu gewaltigen Umwälzungen gekommen war, die für die Handlungslogiken bei Bayer und Henkel eine Zäsur bedeuteten. Wichtig sind mir dabei die notwendig gewordenen Aushandlungen mit dem institutionellen Kontext und der kulturellen Rahmung. Ich möchte nun diese außerunternehmerischen (De-)Institutionalisierungsprozesse für den betrachteten Zeitraum kurz umreißen. Mit dem politischen Machtwechsel hin zur sozial-liberalen Koalition im Jahre 1969 gingen weitgreifende innere Reformen einher.286 Für das Thema dieser Arbeit steht das im September 1971 vorgelegte, jedoch schon länger geplante Umwelt- bzw. Umweltschutzprogramm der Bundesregierung unter der Federführung des Bundesinnenministeriums im Vordergrund.287 Auch wenn jüngere umweltgeschichtliche Studien frühere, lokale Umweltschutzbestrebungen oder Formierungen einer Umweltpolitik288 nachweisen konnten, so handelte es sich bei dem neuen Programm doch erstmals um eine bundesdeutsche Initiative, die den Umweltschutz zu einem eigenständigen Politikbereich aufsteigen ließ. Es enthielt erstmals eine umfassende Definition des Begriffes Umweltpolitik: „Umweltpolitik ist die Gesamtheit aller Maßnahmen, die notwendig sind, um den Menschen eine Umwelt zu sichern, wie er sie für seine Gesundheit und für ein menschenwürdiges Dasein braucht, um Boden, Luft und Wasser, Pflanzen- und Tierwelt von nachteiligen Wirkungen menschlicher Eingriffe zu schützen und um Schäden oder Nachteile aus menschlichen Eingriffen zu beseitigen.“289 Die Ziele des Umweltprogramms lassen sich in fünf Hauptanliegen untergliedern:290 Erstens sollte eine Umweltplanung auf lange Sicht installiert werden; diese Nachhaltigkeit sollte vor allem durch eine Verschärfung der Legislative und eine organisatorische Straffung herbeigeführt werden. Zweitens wurde das Verursacherprinzip durchgesetzt, d.h.: „Jeder der die Umwelt belastet oder sie schädigt, soll für die Kosten dieser Belastungen oder Schädigungen aufkommen.“
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der Menschen in der Umwelt hingewiesen. Vgl. Niederschrift vom 12. März 1968, in: Konzernarchiv Henkel, 153/43 Niederschrift über die gemeinsame Post Persil/Henkel/Böhme/HI. Vgl. Peter Borowsky: Sozialliberale Koalition und innere Reformen. Informationen zur politischen Bildung 258 (1998), S. 31–40. Vgl. Bundesministerium des Innern: Umweltpolitik. Das Umweltprogramm der Bundesregierung. Mit einem Vorwort von Werner Maihofer, 5. ergänzte Auflage, Stuttgart 1976, S. 5. Die Zuständigkeiten der einzelnen Behörden sind hier sekundär, da sich nach der Gründung des Umweltbundesamtes (UBA) 1974 aus Sicht der Unternehmen herausstellte, dass nach der Umgliederung des BMI einige Referate zum Umweltbundesamt gingen, „sich das Thema aber nicht ändert.“ Vgl. Aktennotiz der AWALU-Abteilung bei Bayer betreffend UBA vom 25. Juli 1975, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1974–1977. Hierzu vgl. Frank Üekötter, 2003 und Kai F. Hünemörder, 2004. Vgl. Jochen Hucke: Umweltpolitik: Die Entwicklung eines neuen Politikfeldes, in: Klaus von Beyme / Manfred G. Schmidt (Hg.): Politik in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1990, S. 383–398, hier S. 384. Vgl. Bundesministerium des Innern, S. 26–27. Zu den Kompetenzen auf Bundes- und Landesebene vgl. Jens Ivo Engels, 2006, S. 286ff.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
Drittens wurde die Etablierung umweltfreundlicher Techniken angestrebt, d.h. die Beachtung der Umwelteinwirkungen neuer Techniken. Auch sollten staatliche Eingriffe weiter legitimiert werden, bzw. waren von nun an bei Entscheidungen der öffentlichen Hand und der Wirtschaft „Umweltkriterien zu achten.“ Das vierte Ziel bestand darin, in allen Teilen der Bevölkerung das „Umweltbewusstsein zu wecken oder zu stärken.“ Zu diesem Zweck wurden vor allem Bürgerinitiativen unterstützt. Als fünftes und letztes Ziel wurde die Internationalisierung der Zusammenarbeit in Fragen des Umweltschutzes genannt, wie sie etwa durch ein Reinhalteabkommen der europäischen Gewässer und insbesondere des Rheins von einer EWG-Ministerkonferenz 1972 in Den Haag beschlossen wurde. Im europäischen Kontext standen die „Angleichung von Meßmethoden, Warnsystemen und Registrierverfahren“ ebenso im Vordergrund wie die „Ausarbeitung gemeinsamer Bewertungsmaßstäbe und Bestimmungen für Belastungsgrenzen“. Überwachungssysteme sollten nicht allein bundeseinheitlich sein, sondern auch die europäische Vereinheitlichung des Umweltschutzes wurde seit den 1970er Jahren forciert.291 In Bezug auf den außerunternehmerischen Bereich werde ich, den Forderungen des Umweltprogramms folgend, hauptsächlich die verschärfte Umweltgesetzgebung und das daraus hervorgegangene Verursacher- und Vorsorgeprinzip bis zum Jahre 1976 darstellen. Die rigidere Gesetzgebung sowie die beiden neuartigen Ordnungsmuster des Verursacher- und Vorsorgeprinzips bedeuteten eine radikale Abkehr vom bis dahin geltenden institutionellen Kontext der chemischen Industrie und drängten die Unternehmen in eine defensive Position. Dabei darf eine Hochphase des umweltrechtlichen institutionellen Drucks vom Ende der 1960er Jahre bis zur Verabschiedung des Bundesimmissionsschutzgesetzes (BIschG) im Jahr 1974 angenommen werden; dem BIschG ging eine flächendeckende Emissionskatastrierung voraus. Eine verschärfte Gewässerschutzgesetzgebung folgte bis zur zweiten Hälfte der 1970er Jahre.292 In den Jahren 1974 bis 1976 nahm dieser 291 Für den Umweltschutz allgemein begann 1973 ein Aktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaft. Vgl. Bundesverband der Deutschen Industrie / Rundschreiben U 6/73 an die Mitglieder des Ausschusses für Umweltfragen et.al. betreffend Aktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaften für den Umweltschutz vom 17. Mai 1973, in: BAL 388/132 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Allgemein 1973. Demnach sollte insbesondere die chemische Verunreinigung des Rheins reguliert werden, womit ein Einleiteverbot von hochtoxischen Stoffen (so genannte Schwarze Liste) einherging, was von der chemischen Industrie nicht verhindert werden konnte. Vgl. Protokoll der 12. Sitzung der AWALU-Kommission vom 24. November 1974, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1973–1974. Ebenso Paul-Martin Schulz, S. 21. Ein Umweltprogramm der UNO (Stockholmer Abkommen) und ein Programm der Europäischen Gemeinschaft folgten. Im Rahmen dieser Arbeit erscheint mir die deutsche Perspektive zentraler, da sie für die betrachteten Unternehmen gegenwärtiger war. Zudem strebe ich keine umweltrechtsgeschichtliche Arbeit an, so dass der Verweis auf die Existenz der europäischen Ebene und einer gesamteuropäischen Stimmung ausreicht. Vertiefend hierzu Kai F. Hünemörder, 2004, S. 242ff. Weitere Forschungen müssen die europäische Umweltschutzgesetzgebung sicherlich bei der Überprüfung der Handlungslogiken von Unternehmen ab dem Ende der 1980er Jahre dezidiert in den Blick nehmen. 292 Es geht mir in dieser Arbeit und speziell in diesem Kapitel um die Frage der Auswirkungen des formal-institutionellen Kontextes auf die Handlungslogiken der betrachteten Unternehmen.
3.2 Verkehrte Verhältnisse
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Druck vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise infolge des ersten Ölpreisschocks ab.293 Diesen kurzen Einschnitt und die auf Unternehmensseiten damit verbundenen Hoffnungen auf ein Nachlassen des institutionellen Drucks werde ich anhand eines Spitzengesprächs zwischen Vertretern der (chemischen) Industrie und Bundeskanzler Helmut Schmidt auf Schloss Gymnich darstellen. Insgesamt wird im hier zu betrachtenden Zeitraum die zögerliche Anpassung der Unternehmen an den veränderten institutionellen Druck herausgearbeitet: Bayer und Henkel konnten ihn nicht mehr durch Mitgestaltung umgehen, und sie waren damit aufgefordert, ihre Strategien zum Zweck der gesellschaftlichen (Re-)Integration anzupassen.294
Dies lässt sich am besten durch den aufkommenden Immissionsschutzgedanken zeigen, da dieser den formal-institutionellen Kontext wie auch die kulturelle Rahmung direkt betraf. Deshalb sind mir die Abwassergesetze an dieser Stelle weniger wichtig. An neuralgischen Punkten werde ich jedoch auch anhand von Umweltproblematiken durch Abwässer auf die resultierenden Aushandlungsprozesse und Konsequenzen für die Unternehmen eingehen. Das wichtigste Abwassergesetz stellt das Abwasserabgabengesetz aus dem Jahre 1976 dar, das aber bereits seit 1973 in Vorbereitung war und dessen Konsequenzen für die Unternehmen daher als bekannt angenommen werden können. Die Hauptimpulse des Gesetzes für die chemische Industrie waren eine abwasserrelevante Abgabe, die sich nach Toxizität und Menge des eingeleiteten Abwassers berechnete. Vgl. Gesetz über Abgaben für das Einleiten von Abwasser in Gewässer (Abwasserabgabengesetz – AbwAG), in: Bundesgesetzblatt Teil I, Nr. 118 (1976), Z 1997A, ausgegeben zu Bonn am 15. September 1976. Allgemein wurde der Schutz von Gewässern in der Neufassung des Wasserhaushaltsgesetzes geregelt. Vgl. Bekanntmachung der Neufassung des Gesetzes zur Ordnung des Wasserhaushalts (Wasserhaushaltsgesetz – WHG), in: Bundesgesetzblatt Teil I, Nr. 128 (1976), Z 1997A, ausgegeben zu Bonn am 26. Oktober 1976. Die Unternehmensverantwortlichen waren sich darüber im Klaren, dass durch das neue Gesetz hohe Kosten auf sie zukommen werden und sie erkannten ihre Chancenlosigkeit, Einfluss auf das Gesetz zu nehmen. Vgl. Dr. Broja an die Mitglieder des Vorstandes, technische Spartenleiter, Zentralbereichsleiter, Werksleiter betreffend Abwasserabgabengesetz vom 12. Februar 1974, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1973–1974. Ebenso Aktennotiz von Dir. Weber (AWALU) betreffend Stand der Überlegungen zum Abwasserabgabengesetz vom 29. Oktober 1973, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und AbluftLabor 1973–1974. Im Falle von Henkel vgl. Dr. Funk an VCI betreffend Abwasserabgabengesetzt vom 11. September 1973, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 453 Akten Opderbecke Nr. 40a-40b, hier 40a, Tageskopien Dr. Funk. Ebenso muss bei der Betrachtung der Gewässerverunreinigungen im Falle von Bayer sicherlich die Verbringung von Abfallschwefelsäure auf die hohe See (so genannten Dünnsäureverklappung) thematisiert werden. Nach der ständigen Einleitung der Dünnsäure in den Rhein wurde die Verbringung auf See 1965 beschlossen; auch dieses Verfahren aus der Mitte der 1960er Jahre wurde als technische Innovation gefeiert, bevor die Dünnsäureverklappung seit Mitte der 1970er Jahre heftige Proteste provozierte. Zum Beschluss der Verklappung vgl. Vorstandsitzung in Leverkusen am 12. Januar 1965, in: BAL 387/1 Vol. 6 Vorstandsprotokolle 18.06.1963– 17.03.1965. Ich werde an wenigen Punkten die massiven Proteste gegen die Dünnsäureverklappung umreißen. Weitere Forschungen zur Geschichte der Dünnsäureverklappung würden sicherlich hinsichtlich der Reaktion des Konzerns auf nationale und internationale Proteste fruchtbar sein. 293 Zur Innenpolitik Schmidts etwa Hartmut Soell: Helmut Schmidt: Zwischen reaktivem und konzeptionellem Handeln, in: Konrad H. Jarausch (Hg.): Das Ende der Zuversicht?, 2008, S. 279– 296, hier besonders S. 274f. 294 Hierzu Thilo Jungkind, 2012, S. 12f. Ebenfalss Hartmut Soell, 2008, S. 285ff.
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Viel wichtiger und wirkungsmächtiger erscheint mir aber in der von mir anvisierten Konstituierungs- und frühen Hochphase des Umweltschutzes, dass sich zeitgleich im organisationalen Feld – oder allgemeiner: in der kulturellen Rahmung – von Bayer und Henkel eine Sinnverschiebung in Richtung eines Insistierens auf produktionsinduzierten Risiken und verbundener Gefahrenzuschreibungen gegenüber der chemischen Risikoproduktion einstellte. Trotz der kurzfristigen Stagnation der politischen und legislativen Umweltschutzbestrebungen in der Mitte der 1970er Jahre fielen die Unternehmen nicht wieder in alte Handlungsmuster der Boomphase zurück. Dies wird die These der Arbeit bestätigen, dass eben nicht nur formale, außerunternehmerische Institutionen einen Einfluss auf unternehmerisches Handeln haben:295 Kontextgebundene, kulturelle Verschiebungen der gesellschaftlichen Sinnmuster leiteten einen Wandel in unternehmerischen Handlungslogiken an und kulminierten in kulturrationalem Handeln von Bayer und Henkel. Ich werde eine allmähliche Machtumkehr zugunsten des organisationalen Feldes im hier betrachteten Zeitraum herausarbeiten, die in der Möglichkeit des Entzugs von Legitimität der Risikoproduktion mündete. Es kam innerhalb der kulturellen Rahmung der Unternehmen zu einem (veränderten) „paradigmatischen Wahrnehmen von Natur/Umwelt und menschlicher Lebenswelt als hochkomplexes, aus der Evolution hervorgegangenes Ökosystem.“296 Diese Veränderung der Sinnmuster beinhaltete einen Perspektivenwechsel hin zu einem Gedanken einer schützenswerten Natur/ Umwelt und erlaubte die Ausdehnung des Umweltschutzgedankens als angemessen zu integrierendes Prinzip, was sich in den zeitgenössischen, vehement geführten Diskussionen bis hin zu „umweltapokalyptischen Mahnrufen“ niederschlug.297 Der damit diskursiv angeleitete Prozess lässt eine Neubildung von normativem Bewusstsein erkennen, das nicht mehr den Wohlstandsproduzenten legitimierte, sondern denjenigen, der sich dem Schutz der Umwelt verschrieb. Mit anderen Worten: Es formierte sich ein „Umweltbewusstsein“.298 Während bis dahin Umwelt- und 295 Aus einer politikwissenschaftlichen und ideengeschichtlichen Perspektive zur Mächtigkeit der Umweltbewegung vgl. Sabine Weiland: Politik der Ideen: Nachhaltige Entwicklung in Deutschland, Großbritannien und den USA, München 2007, S. 99–303. 296 Vgl. Kurt Egger, S. 147. 297 Vgl. Kai F. Hünemörder: Kassandra im modernen Gewand. Die Umweltapokalyptischen Mahnrufe der frühen 1970er Jahre, in: Frank Uekötter / Jens Hohensee (Hg.): Wird Kassandra heiser? Die Geschichte falscher Ökoalarme, Historische Mitteilungen / Beiheft 57, Stuttgart 2004, (2004a), S. 78–98, hier S. 78. Ebenso Bernhard Gill: Streitfall Natur. Weltbilder in Technik- und Umweltkonflikten, Wiesbaden 2003, S. 46. 298 Die Gründe für das schnelle Aufkeimen dieses neuen Bewusstseins innerhalb von wenigen Jahren und seine stetige Erweiterung werden durch drei Faktoren erklärt. Sicherlich spielte erstens das erwähnte Umweltprogramm und der damit einhergehende veränderte institutionelle Kontext in der Bundesrepublik der 1970er Jahre eine Rolle. Zweitens fand ein globaler Wissenstransfer von umweltrelevanten Themen statt, der vor allem amerikanischen Ursprungs war. Hieraus folgte auch die vermeintliche Erkenntnis der Grenzen des Wachstums in einer industrialisierten Moderne, welche durch prognostische Studien seit der Mitte der 1960er Jahren die Menschen nachhaltig verunsicherte. Vgl. Gerhard de Haan / Udo Kuckartz. Umweltbewusstsein. Denken und Handeln in Umweltkrisen, Opladen 1996, S. 13–24. Die Grenzen des Wachstums wurden der bundesdeutschen Gesellschaft erstmals eindrücklich durch die schwere Rezession infolge der ersten Ölkrise 1973 vor Augen geführt. Die erste Wirtschaftskrise der Jahre
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Naturschutzinteressen in spezifisch lokalen Problem- und Interessenskonstellationen eingebunden, wenig erfolgversprechend und nicht nachhaltig gewesen waren, transzendierte erst das neu entwickelte Umweltbewusstsein zu einer existenziellen Notwendigkeit der modernen Gesellschaft. Das unterscheidet die Umweltbewegungen des späten 20. Jahrhunderts grundlegend von ihren Vorläuferbewegungen,299 und dies geschah in rasantem Tempo: „Durch eine kürzlich abgeschlossene Umfrage des Instituts für angewandte Sozialwissenschaften […] wird bestätigt, daß das Umweltbewusstsein in der Bevölkerung in den letzten Jahren stark gestiegen ist. Während im November 70 lediglich 44 % der Bevölkerung bereit waren, für Maßnahmen des Umweltschutzes persönliche Opfer zu bringen, erklärten sich im Dezember 73 / Januar 74 70 % hierzu bereit.“300
Der Perspektivenwechsel der Sinnzuschreibungen hin zum Schutz der Umwelt und daraus folgende Proteste gegen Umweltgefahren gingen einher mit einer neuen Dimension von Wissen und Handeln: Die bundesdeutsche Gesellschaft und insbesondere die Menschen in den Werksperipherien großer Chemieunternehmen hatten nun einen neuen Kenntnis- und Informationsstand über umweltrelevante Fragen sowie über Methoden der Schadensvermeidung, und sie erhielten die Möglichkeit, diese Fragen in ihren Alltag zu integrieren.301 Als Folge konnte zeitgleich mit der Herausbildung einer allgemeinen Protestkultur seit Ende der 1960er Jahre in der Bundesrepublik auch eine Protestkultur gegen Umweltgefährdungen entstehen. Diese Proteste hatten ihren Ursprung in den veränderten Gefahrenzuschreibungen an Umweltrisiken, und sie wurden gespeist und legitimiert durch Ängste, Zorn und veränderte normative Orientierungen der kulturellen Rahmung von Chemieunternehmen, aus denen nun der „mündige Bürger“ hervorgehen konnte.302 Das ver-
299 300 301
302
1966/67 hatte sich weniger im kollektiven Bewusstsein niedergeschlagen, obwohl wir seit dieser Zeit einen festen Sockel an Arbeitslosigkeit beobachten. Entscheidend für das Ende des Booms war dann aber, „dass die Menschen an das Ende einer Epoche glaubten, und zweitens dass der Arbeitsmarkts sich nicht wie 1968 erholte“. Vgl. Patrick Kupper: „WeltuntergangsVision aus dem Computer“. Zur Geschichte der Studie „Die Grenzen des Wachstums“ von 1972, in: Frank Uekötter / Jens Hohensee (Hg.): Wird Kassandra heiser? Die Geschichte falscher Ökoalarme, Historische Mitteilungen / Beiheft 57, Stuttgart 2004, (2004a), S. 99–111, hier S. 110. Drittens ist seit Mitte der 1970er Jahre der Nettorealverdienst pro Kopf der Beschäftigten nur noch wenig gestiegen. Vgl. Harm G. Schröter, 2005, S. 388. Gleichsam André Steiner: Die siebziger Jahre als Kristallisationspunkt des wirtschaftlichen Strukturwandels in West und Ost, in: Konrad H. Jarausch (Hg.): Das Ende der Zuversicht?, 2008, S. 29–49. Eine allgemeine Darstellung der 1970er Jahre als Zäsur und als „Krisenjahrzehnt“ auch hinsichtlich der beginnenden Verschiebung hin zu einer „Risikogesellschaft“ findet sich bei Konrad H. Jarausch: Verkannter Strukturwandel. Die siebziger Jahre als Vorgeschichte der Probleme der Gegenwart, in: Ders. (Hg.): Das Ende der Zuversicht?, 2008, S. 9–29, hier vor allem S. 11f. Vgl. ebd. S. 147. Dr. Nösler / Leitstelle Umweltschutz an Zentrale Geschäftsführung, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke Umweltschutz bis 1978. Vgl. ebd. S. 37. Dies wurde durch eine massenmediale Verarbeitung des Themenfeldes unterstützt. Zugleich veränderte sich auch die Berichterstattung der Medien zu Ungunsten der Unternehmen, was der aufkommenden Industriekritik geschuldet war. Vgl. etwa Simone Dietz, 1995, S. 115–133. Ebenso Axel Schild / Detlef Siegfried, S. 330ff. Vgl. ebd. S. 37. Zum Trend einer allgemeinen Protestkultur in der Bundesrepublik am Scheitelpunkt der Konsumgesellschaft und zur neuen Mündigkeit der bundesdeutschen Gesellschaft
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wandelte Mensch-Natur/Umwelt-Verhältnis führte zusammen mit zunehmenden unternehmenskritischen Strömungen im Betrachtungszeitraum zu einem veränderten Mensch-Natur/Umwelt-Unternehmens-Verhältnis. Dieses neue Geflecht band Unternehmen als gesellschaftliche Akteure nicht mehr durch das Ordnungsprinzip des paternalistischen Modells in die Gesellschaft ein; es war für die großen Konzerne nicht mehr legitim, als Patriarch und damit als ‚Herr im Feld‘ aufzutreten und auf der Richtigkeit ihres Risikohandelns zu beharren, dieses mit allen Mitteln zu verteidigen.303 Neueste Forschungen bestätigen, dass seit den 1970er Jahren die Bande zwischen den Akteursgruppen (und spezifisch zwischen Unternehmen und Gesellschaft) stattdessen hauptsächlich auf politisch-kulturellen und ethischen Orientierungen basierten.304 Diese schnellen Institutionalisierungsprozesse außerhalb der Unternehmen werden mich im Folgenden fragen lassen, welche organisatorischen Praktiken und welche allgemeinen Handlungslogiken und (Verteidigungs-)Strategien hinsichtlich ihrer Risikoproduktion die Unternehmen anwandten. Dabei geht es mir wie im vorangegangenen Kapitel nicht in erster Linie um die Untersuchung von formal-organisatorischen Maßnahmen. Es geht mir vielmehr um die Frage nach Sinnverschiebungen innerhalb der Unternehmen sowie nach Veränderungen von (Management)Praktiken und Glaubenssystemen, die sich in Schriftwechseln, Konferenzen und Protokollen auf unterschiedlichen Funktions- und Hierarchieebenen ausdrückten. Es wird zu untersuchen sein, wie die Unternehmen mit dem drohenden Legitimitätsverlust umgingen, wie sie ihn abzuwenden versuchten und welche Argumente nach Innen und Außen vorgebracht wurden. Generell wird also gefragt, wie die Unternehmen weiterhin als gesellschaftlicher Akteur aufzutreten im Stande vgl. Axel Schildt / Detlef Siegrfried, S. 277ff sowie Sven Reichardt / Detlef Siegfried (Hg.): Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983, Göttingen 2010. 303 Zur negativen Wahrnehmung von Führungskräften und Managementmethoden vgl. Christian Kleinschmidt: Das „1968“ der Manager: Fremdwahrnehmung und Selbstreflexion einer sozialen Elite in den 1960er Jahren, in: Jan Ottmar Hesse / ders. / Karl Lauschke (Hg.): Kulturalismus, 2003, S. 19–31, hier S. 23f. 304 Vgl. Morten Reitmayer / Ruth Rosenberger: Unternehmen am Ende des „goldenen Zeitalters“. Die 1970er Jahre in unternehmens- und wirtschaftshistorischer Perspektive, in: Dies.: (Hg.): Unternehmen am Ende des „goldenen Zeitalters“. Die 1970er Jahre in unternehmens- und wirtschaftshistorischer Perspektive, Essen 2008, S. 9–31, hier S. 13. Das Ende des Paternalismus zwischen Werk und Umwelt – also der Trennung von Arbeits- und Lebenswelt – fand sicherlich zumeist bei Großkonzernen statt. In mittelständischen Betrieben finden wir dieses Modell noch heute in der Unternehmensführung wie z.T. auch im Verhältnis zu der Werksumwelt vgl. hierzu Clemens Wischermann, 2003, S. 28. Ebenso Hartmut Berghoff, 2004, S. 232f. Zur Verweigerung gesellschaftlicher Akzeptanz des paternalistischen Ordnungsprinzips vgl. Anselm Doering-Manteuffel: Langfristige Ursprünge und dauerhafte Auswirkungen. Zur historischen Einordnung der siebziger Jahre, in: Konrad H. Jarausch (Hg.): Das Ende der Zuversicht?, 2008, S. 315–329, hier S. 326f. Zur These der aufkommenden Unternehmenskritik ebenfalls Thilo Jungkind, 2009, S. 50f. All diese Aspekte müssen auch unter dem Gesichtspunkt zeitgenössischer Flexibilisierungsbestrebungen in Organisationen gesehen werden. So wurde bei Bayer am 01. Januar 1971 von der funktionalen zur divisionalen Organisation umgestellt. Vgl. Erik Verg / Gottfried Plumpe / Heinz Schultheis, S. 460. Bei Henkel erfolgte die Umstellung bereits 1969. Vgl. Wilfried Feldenkirchen / Susanne Hilger / Wolfgang Zengerling, S. 200.
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waren, wie sie ihre neue Rolle sahen und annahmen und ob es zu einer Reintegration kommen musste. 3.2.1 Zunehmender institutioneller Druck – Wahrnehmung und Reaktion der Unternehmen Die Direktionsabteilung von Bayer meldete 1970 an den Vorstandsvorsitzenden Hansen: „Dem Verband der Chemischen Industrie ist es gelungen, das Sofortprogramm [Hervorhebung im Original, T.J.] der Bundesregierung in vollem Wortlaut zu erhalten.“305 Es handelte sich um einen Entwurf des Sofortprogramms der Bundesregierung zum Thema Umweltschutz; die Führungskräfte bei Henkel kannten ihn ebenfalls und stellten fest: „Wir haben die Möglichkeit, über die gesetzgeberischen Tätigkeiten […] in einem relativ frühen Zeitraum informiert zu werden. Zu diesem Zweck müssen wir diejenigen Sachgebiete, die uns besonders interessieren, angeben.“306 Im Jahr 1970 war diese Selbsteinschätzung im Hause Henkel sicher richtig. Inwieweit sie auch für die Umweltgesetzgebung der folgenden Jahre stimmte und ob den Unternehmen ihre guten Kontakte weiterhin hilfreich sein konnten, wird sich in diesem Unterkapitel zeigen. Ich werde hier den zunehmenden institutionellen Druck seit dem Ende der 1960er Jahre bzw. den beginnenden 1970er Jahren hauptsächlich an den Beispielen der Emissionskatastrierung und des Bundesimmissionsschutzgesetzes aufzeigen. Die Begründung für diese Auswahl liegt wie im vorigen Kapitel in der auffällig hohen Aufmerksamkeit und Wahrnehmungsrelevanz der Unternehmen.307 Das Beispiel der beginnenden Emissionskatastrierung ist gerade im Fall Bayer aufschlussreich, da hier in höherem Maße schädliche Emissionen zu befürchten waren als bei Henkel in Düsseldorf. Bereits im November 1968 kam durch eine Kleine Anfrage des CDU-Politikers Lenz an den nordrhein-westfälischen Landtag eine Diskussion über die Erhebung von Emissionswerten ins Rollen.308 Dabei ging es explizit um das im vorigen Kapitel angesprochene Gutachten des Luftreinhalteexperten Berge, das zwar erstellt, aber von der Stadt Köln nicht genutzt worden war. Abermals schilderte der Abgeordnete Lenz die „erheblichen Geruchsbelästigungen“ sowie die „Sach- und Gesundheitsschäden“, die durch die Emissionen im Kölner Norden hervorgerufen wurden.309 Daher lautete seine Kleine Anfrage: 305 Dr. Marquart / Direktionsabteilung an Prof. Hansen et.al. betreffend Umweltschutz vom 26.10.1970, in: BAL 388/144 Werksverwaltung Leverkusen, Gesetze und Verordnungen 1971. 306 ZGF-Sekretariat Mitteilung für Führungskräfte Nr. 5/70 vom 11. Mai 1970, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Blaue Mitteilungen/Intern. 307 Der Zeitraum von 1969 bis 1976 markiert die Hauptphase von Reformen im Umweltrecht. Die daraus resultierende Rechtsgebung stellt bis heute die Grundlagen des deutschen Umweltrechts dar. Vgl. Samuel Rapaport, S. 6. 308 Vgl. Landtag Nordrhein-Westfalen – Sechste Wahlperiode – Band 6 (Abschrift), Drucksache Nr. 1007. Kleine Anfrage Nr. 322 des Abgeordneten Dr. Lenz (CDU) betreffend Luftverunreinigung im Wohngebiet Köln / Neue Stadt vom 25. November 1968, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1967–1971. 309 Vgl. ebd. S. 1.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel „1. Ist der Landesregierung der oben dargestellte Sachverhalt bekannt? 2.
Welche Maßnahmen gedenkt die Landesregierung zu ergreifen, um sich ein objektives Bild vom Grad der Luftverunreinigung und ihrer Gefährlichkeit zu verschaffen?
3.
Welche Konsequenzen gedenkt die Landesregierung ggf. daraus zu ziehen […], da die Emissionen bereits als gesundheitsgefährdend und allgemein schädlich beurteilt werden?
4.
Wie will die Landesregierung kurzfristig zu einer Beruhigung der in dieser Frage stark beunruhigten Bevölkerung des Kölner Nordens beitragen?“310
Die Antwort des Arbeits- und Sozialministeriums bildete den Grundstein für den Beschluss, eine Emissionskatastrierung für den Großraum Köln und im Nachgang für Nordrhein-Westfalen durchführen zu lassen. Die bestehenden Verhältnisse waren für den institutionellen Kontext nicht mehr hinnehmbar, wenn sie schon bis zur parlamentarischen Anprangerung gelangten. Detailliert antwortete der Arbeits- und Sozialminister Werner Figgen auf die Kleine Anfrage. Seine Antwort ist gekennzeichnet durch großes Verständnis für die Menschen im Kölner und Leverkusener Immissionsgebiet und enthält zudem die Zusage der Landesregierung, nun verstärkt die Emittenten in die Pflicht zu nehmen: „Der Landesregierung ist bekannt, daß die Bevölkerung im Raum Köln […] erheblichen Belästigungen durch Luftverunreinigungen ausgesetzt ist, wobei von der Bevölkerung auf die chemische Industrie in Köln und Umgebung als Verursacher hingewiesen wird. Die Landesregierung ist der Auffassung, daß den Beschwerden der Bevölkerung besondere Bedeutung nicht nur wegen der augenblicklichen Situation, sondern auch im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung der Wirtschafts- und Stadtplanung zukommt. Die Landesregierung sieht im Raum Köln die Gefahr einer Verflechtung von Industrieballungen und Bevölkerung, die zu erheblichen Belästigungen und Nachteilen für die Bevölkerung führen kann. […] Der Arbeits- und Sozialminister wird eine umfassende Untersuchung der Emissions- und Immissionsverhältnisse im Raum Köln und der Möglichkeit der Abstellung der industriellen Emissionen vornehmen lassen. […] Die Konsequenzen der Landesregierung aus dieser Untersuchung werden sich nicht nur auf die Verbesserung des bestehenden Zustandes, sondern auch auf die zukünftigen industriellen und städtebaulichen Planungen erstrecken. Der Arbeits- und Sozialminister hat mit dem Bürgerverein Köln / Neue Stadt Kontakt aufgenommen und den Verein […] über geplante Maßnahmen informiert. […] gleichzeitig sollen jeweils die Stadtverwaltung und die Presse unterrichtet werden. Im Übrigen werden auch die örtlich zuständigen staatlichen Behörden, Regierungspräsidenten und Gewerbeaufsichtsämter zur Information der Bevölkerung beitragen.“311
Noch ein Jahr vor dieser Stellungnahme war es dem Bayerwerk in Leverkusen möglich gewesen, die ohne Zweifel erkannten Nachteile für die umliegende Bevölkerung und mögliche gesundheitsschädliche Wirkungen durch die unter anderem durch das Werk verursachten Immissionen in Eigenregie zu einer gütlichen Lösung zu bringen. Nun nahmen die Probleme jedoch andere Dimensionen an, 310 Ebd. S. 1–2. 311 Der Arbeits- und Sozialminister des Landes Nordrhein-Westfalen an den Präsidenten des Landtags Nordrhein-Westfalen (Abschrift) vom 20. Dezember 1968 betreffend Luftverunreinigung im Wohngebiet Köln / Neue Stadt, Bezug Kleine Anfrage Nr. 322 des Abgeordneten Dr. Lenz (CDU) – Drucksache Nr. 1007, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und AbluftLabor 1967–1971.
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wie in einem Schreiben an den Bayer-Vorstand deutlich wird: „Der Raum Köln ist wegen der immer stärker werdenden Belästigungen durch Luftverunreinigungen – namentlich Geruchsimmissionen – in den Blickpunkt der Öffentlichkeit und des Parlaments geraten […].“312 Das Parlament des Landes Nordrhein-Westfalen und damit auch die zuständigen Ministerien und Regierungspräsidien pochten auf eine institutionelle Lösung des Problems und gestanden der emittierenden Industrie nicht mehr die gewohnten Mitspracherechte zu. Entscheidungen von Fall zu Fall und der Hinweis auf die Ortsüblichkeit von Immissionen wurden von den zuständigen Stellen nicht mehr toleriert. Der Beschwerde führenden Bürgerschaft wurde mehr Gehör geschenkt als dies noch eineineinhalb Jahre zuvor der Fall gewesen war. Und noch einschneidender war die Tatsache, dass der institutionelle Kontext nun die chemische Industrie direkt als Verursacher ansprach. Der eigentliche Umstand, die Beeinträchtigungen durch Emissionen, war natürlich seit vielen Jahren bekannt, doch nun wurde er von den zuständigen Stellen offen ausgesprochen. Dies zeigt eine veränderte Sinnorientierung des institutionellen Kontextes. Die Emissionsdaten der Katastrierung sollten nach Ansicht des zuständigen Regierungspräsidenten für jedermann zugänglich in der Presse veröffentlicht werden, um die betroffenen Bevölkerung über die Verhältnisse zu unterrichten. Dabei wurde auf die Meinung des Bayerwerks nicht mehr das Gewicht gelegt, wie dies noch kurz vorher der Fall gewesen war. Dies vermittelte der zuständige Regierungspräsident auch unmissverständlich gegenüber der Direktion von Bayer: „Da ich der Meinung bin, […] daß die Belästigungen der Bevölkerung durch Schwefeldioxid und durch Gerüche hervorgerufen werden […] beabsichtige ich nach wie vor […] die Öffentlichkeit über die Immissionssituation im Kölner Norden […] über die Presse zu unterrichten.“313 Angesichts mehrerer Schriftwechsel zwischen dem zuständigen Regierungspräsidenten, dem Arbeits- und Sozialministerium und dem Bayerwerk war das Unternehmen gezwungen, die Ernsthaftigkeit dieser Pläne und die neue Marschrichtung des institutionellen Kontextes zu erkennen. Mit einer solch rapiden Wende scheinen die Verantwortlichen AWALU-Mitarbeiter ebenso wenig gerechnet zu haben wie die übrigen strategischen Stellen des Konzerns. Hastig erfragte die AWALU-Abteilung mögliche Handlungs- und Verhaltensstrategien bei der Rechts312 Vgl. Arbeits- und Sozialministerium des Landes Nordrhein-Westfalen an den Vorstand der Farbenfabriken Bayer AG vom 30. Dezember 1968 betreffend Emissionserhebung, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1967–1971. 313 Regierungspräsident Heidecke an die Direktion der Firma Farbenfabriken Bayer AG vom 23. September 1969, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1967– 1971. Diese Maßnahmen wurden von den Behörden auch in die Tat umgesetzt, und in der Öffentlichkeit wurde der Ton der Behörden gegenüber der Industrie rauer. Im April 1971waren die zuständigen Gewerbeaufsichtsämter „Tag und Nacht“ verfügbar, um zu kontrollieren. Dies ließ einen Gewerbedirektor folgern: „Seit die Industrie weiß, dass die Behörden auch nachts nicht schlafen, passen die Firmen auf dem Werksgelände besser auf. Es sind im Grunde reine Erziehungsmaßnahmen.“, Zitiert aus: „So kämpft eine Stadt gegen Luftverpester, Neue Revue Hamburg Nr. 15 vom 11. April 1971, ohne Seitenangabe, Abschrift der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit der Bayer AG, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1967–1971.
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abteilung. Auch die Juristen des Unternehmens waren offenbar überrascht, so dass zunächst versucht wurde, eine innere Überzeugung herzustellen, die sich auf alte Handlungslogiken berief: „Es ist nichts dagegen einzuwenden, daß verwaltungsintern ein Emissionskataster erstellt wird, um Erkenntnisse für zukünftige Planungsund Verwaltungsarbeiten zu gewinnen. Es gibt jedoch keine rechtliche Grundlage dafür, von den Unternehmen speziell zur Erstellung eines Katasters, also zu statistischen Zwecken, Auskünfte zu verlangen. Ein solches Auskunftsersuchen kann abgelehnt werden [Hervorhebung im Original, T.J.].“314 Hektisch suchte man nach einer Argumentation, die die Veröffentlichung der Werte verhindern sollte, da die rechtliche Anordnung hierfür nicht vorläge. Doch musste die juristische Abteilung schnell feststellen, dass die entsprechende Rechtsgrundlage durch § 16 der Gewerbeordnung durchaus vorhanden war. Die Generalklausel, auf die sich die chemische Industrie Jahrzehnte lang hatte berufen können, erschien nun auf einmal in einem ganz anderen Licht: Nach § 16 GewO setzte die Genehmigung von gewerblichen Anlagen, die Belästigungen und Gefahren für die Nachbarschaft des Betreibers hervorrufen konnten, voraus, dass der Unternehmer Angaben über die Funktion der Anlagen machen konnte.315 Noch weiter schränkte § 25 Abs. 2 der Gewerbeordnung den Handlungsspielraum Bayers ein; die juristische Abteilung musste gegenüber der zuständigen AWALU-Abteilung einräumen: „Nach § 25 Abs. 2 GewO kann die Behörde nach der Errichtung oder Änderung der Anlage und sodann nach Ablauf von jeweils fünf Jahren anordnen, Art und Ausmaß von Rauch, Ruß, Gasen, Dämpfen, Gerüchen […], die von der Anlage ausgehen, durch eine von der obersten Landesbehörde bestimmten Stelle feststellen zu lassen. Die zuständige Behörde kann solche Feststellungen auch vor Ablauf von fünf Jahren anordnen, wenn erhebliche Nachteile, Gefahren oder Belästigungen […] für das Publikum überhaupt zu befürchten sind. Die Ergebnisse der Feststellung sind der zuständigen Behörde auf Verlangen mitzuteilen. Aber: Diese gewerberechtliche Auskunftspflicht darf u.E. nicht dazu ‚mißbraucht‘ werden, Auskünfte zu statistischen Zwecken zu erlangen. Schon gar nicht können die aufgrund gewerberechtlicher Auskunftspflicht erteilten Angaben in beliebiger Weise publiziert werden. Damit handelt es sich bei den Fragen der Immissionen nicht mehr um Betriebsgeheimnisse. Die Behörde kann nicht gewährleisten, daß die Veröffentlichung solcher Zusammenhänge nicht zu wirtschaftlichen Beeinträchtigungen der betroffenen Unternehmen führt. Pauschale statistische Angaben können zu falschen Rückschlüssen interessierter Kreise bezüglich einzelner Unternehmen führen, zumal dann, wenn – wie im Falle Bayer – ein Unternehmen gebietsbeherrschend und doch nicht allein verantwortlich für die Immissionen des erfassten Gebiets ist. Mit Rücksicht darauf, daß die Veröffentlichung für den einzelnen Unternehmer belastend sein kann, bedarf sie u.E. gesetzlicher Grundlagen. […] Insbesondere ist die GewO keine geeignete Grundlage für die Veröffentlichung des Immissionskatasters. Es wird empfohlen, die Bedenken gegen die Veröffentlichungsabsicht beim Arbeits- und Sozialminister geltend zu machen.“316
314 Rechtsabteilung an AWALU betreffend Veröffentlichung von Immissionswerten durch das Arbeits- und Sozialministerium vom 18. Mai 1969, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1967–1971. 315 Vgl. ebd. S. 2. 316 Ebd. S. 2–3.
3.2 Verkehrte Verhältnisse
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Nicht von juristischer Seite, sondern von der Seite des gehobenen Management stammt das folgende Zitat einer Produktionsleiterkonferenz bei Henkel aus dem Jahre 1973; hier wird deutlich, dass sich das Unternehmen zwei Jahre nach der oben zitierten Widerspruchs-Empfehlung seines Juristen mit der notwendigen Öffnung abgefunden hatte: „Das neue Genehmigungsverfahren zur Erstellung und Änderung einer genehmigungsbedürftigen Fabrikationsanlage sieht eine weitgehende Offenlegung nicht nur aller entstehenden oder möglichen Emissionen nach Art und Umfang vor, sondern fordert in der Antragsstellung auch eine produktionstechnische Offenbarung. Die Gefahr einer möglichen Preisgabe von Betriebsgeheimnissen kann somit gegeben sein.“317
Aus den Zitaten ist klar zu erkennen, dass es eine neue Sinnorientierung im institutionellen Kontext gab und vor allem, dass dieser Schwenk von den Unternehmen ernsthaft reflektiert werden musste. Die zuständigen Juristen von Bayer und Henkel hatten 1971 erkannt, dass der Immissionsschutz in Gestalt der Gewerbeordnung auf einmal gegen das Unternehmen ausgelegt werden könnte. Gleichzeitig hatten die zuständigen Stellen der Behörden eine lange Zeit nicht beachtete Handhabe erkannt, gegen die widrigen Verhältnisse vorzugehen, bzw. ihre Zweifel darüber abgelegt, ob es legitim sei, gegen Emittenten wie Bayer und Henkel einzuschreiten. Die Formulierungen der juristischen Abteilung weisen ebenfalls darauf hin, dass die Frage der „erheblichen Nachteile“ nun anders gedeutet wurde als in den Jahren zuvor: Innerhalb des Unternehmens mussten die Verantwortlichen nun damit rechnen, dass die Verhältnisse vom institutionellen Kontext tatsächlich als „erhebliche Nachteile“ angesehen wurden und dass die zuständigen Akteure auch bereit waren, dagegen vorzugehen. Dies wird wiederum durch die zitierte Produktionsleiterkonferenz bei Henkel sehr deutlich: Große Gegenwehr ist hier nicht mehr zu erkennen; die Preisgabe des Wissens über die eigenen Emissionsdaten und damit die Möglichkeit, eigenständige Maßnahmen zu ihrer Vermeidung zu legitimieren, war nun zähneknirschend als Handlungsoption anerkannt. Auch die implizite ökonomische Argumentation dieser Quellen entstammt zwar noch den alten Verhaltensstrategien und Handlungslogiken der Unternehmen, doch mussten diese nun an die neuen Verhältnisse angepasst werden. Dass dies den Verantwortlichen klar gewesen sein muss, zeigt schon die eher zaghafte Empfehlung der Bayer-Juristen im Jahr 1971, gegen die Veröffentlichung vorzugehen. Die Strategie des Schutzes der Emissionsdaten als Betriebsgeheimnis zielte in letzter Konsequenz auf die Erhaltung von Wissen und Informationen innerhalb des Unternehmens; Transparenz gegenüber den Behörden war im Kalkül und den Praktiken des Konzerns zuvor nicht vorgesehen gewesen. Gleichzeitig richtete die Argumentation sich jedoch auch gegen einen möglichen Wettbewerbsnachteil eines gebietsbeherrschenden Unternehmens. Bayer musste also Ende der 1960er Jahre in Betracht ziehen, dass der institutionelle Kontext nicht länger gewillt war, das ökonomische Argument des Wohlstandsproduzenten in den Vordergrund zu stellen und 317 Protokoll der Produktionsleiterkonferenz Nr. 2/1973 am 19. Februar 1973 S. 3, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 453 Akten Opderbecke, Produktionsleiterkonferenzen und Bereichsleiterbesprechungen 1972–1974.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
daher die Risikoproduktion des Unternehmens als Gefahrenherd für die natürliche und lebensweltliche Umwelt hinzunehmen. In einem Schriftwechsel zwischen dem Regierungspräsidenten, dem TÜV und Bayer, der sich über das gesamte Jahr 1972 hinzog, wurde diese Sorge des Unternehmens ebenso deutlich wie der verringerte Stellenwert des Leverkusener Konzerns und seiner Ansichten. Bayer ging es dabei um die Frage der Geheimhaltung von Wissen über die Produktionsverfahren, das die TÜV-Mitarbeiter bei der Erhebung von Katasterdaten im Unternehmen erwarben. Zwischen den beteiligten Akteuren hatte sich ein Misstrauensverhältnis konstituiert. So klagte das Unternehmen gegenüber dem TÜV Rheinland: „Ihre Mitarbeiter, die seit ca. 2 ½ Jahren in unserer Firma mit den Erhebungen zu einem Emissionskatasters beschäftigt sind haben in diesem Zeitraum nicht nur einen ausgezeichneten Überblick über unsere Fabrikationen, sondern darüber hinaus sehr viele Detailinformationen erhalten. […] Eine Möglichkeit zum Schutz unseres ‚know-how‘ besteht im Falle ihrer Herren nicht. Bevor wir hier eine grundsätzliche Absicherung erzielen können bitten wir Sie, die Herren, die unsere Betriebe kennengelernt haben, nicht in anderen Chemiewerken einzusetzen. Selbst bei gutem Willen läßt es sich erfahrungsgemäß bei solchen Dingen nicht vermeiden, daß in persönlichen Gesprächen ungewollt Dinge zur Sprache kommen, die unsere geistiges Eigentum berühren.“318
Doch auch dieser Gefallen blieb Bayer verwehrt. Zwar konnte rein mündlich ausgehandelt werden, dass die entsprechenden TÜV-Mitarbeiter nicht bei der BASF eingesetzt wurden, obwohl in Sachen Umweltschutz ohnehin eine enge Kooperation der beiden Unternehmen bestand.319 Der Arbeits- und Sozialminister kam nach mehreren Aussprachen mit dem TÜV aber zu der Überzeugung, Bayer sei in dieser Sache nicht zu unterstützen: „Ich habe die Vor- und Nachteile […] erwogen und bin hierbei zu dem Ergebnis gelangt, daß es nicht ratsam ist, dem Ansinnen der Firma Bayer AG zu folgen.“320 Von Seiten des Unternehmens folgten auch keine weiteren Widersprüche oder Initiativen in diese Richtung. Sowohl der Wunsch nach einer Beherrschung der Kontrollinstanz, dem TÜV, als auch die Argumentation einer Gebietsbeherrschung zielten auf jene Vormachtstellung der Industrie ab, die ich im vorangegangenen Kapitel unter dem Stichwort der ‚Anpassungspflicht der Menschen um das Werk‘ bzw. dem Verweis auf ‚Ortsüblichkeiten‘ aufgezeigt habe. Diese älteren Selbstverständlichkeiten sollten nach Willen der Unternehmen weiterhin Bestand haben und damit die Autonomie der Werke gegenüber dem institutionellen Kontext und seinen neuen Strategien sichern. Entsprechend wurde auf einer Vorstandssitzung in Leverkusen geäußert: „Der Bayer-Vorstand schloss sich diesen Widersprüchen an. Hauptsächlich mit fol318 Dr. Winkler / AWALU-Abteilung an Technischen Überwachungsverein Rheinland e.V. betreffend Erhebung zur Erstellung eines Emissionskatasters vom 20. November 1972, in: BAL 388/130 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU bis 1972. 319 Vgl. Dr. Henkel an Technischen Überwachungsverein Rheinland e.V. betreffend Geheimhaltungsvorbehalt für Katasterexperten des TÜV vom 15. Juni 1972, in: BAL 388/130 Werkverwaltung Leverkusen, AWALU bis 1972. 320 Der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen an den Technischen Überwachungsverein Rheinland e.V. betreffend Reinhaltung der Luft, hier Erstellung eines Emissionskatasters für den Großraum Köln vom 21. Dezember 1972, in: BAL 388/130 Werkverwaltung Leverkusen, AWALU bis 1972.
3.2 Verkehrte Verhältnisse
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genden Argumenten: In dem erfassten Teilgebiet ist die Zahl der Einwohner geringer als die der in Chemie und Petro- Chemie Beschäftigten.“321 Doch mittlerweile versagten diese alten Praktiken im Umgang mit dem institutionellen Kontext. Zu Beginn der 1970er Jahre verlor die zuvor gut aufgestellte Lobby des Unternehmens an Macht und Einfluss. Nach einer erneuten Kleinen Anfrage an den Landtag Nordrhein-Westfalen bezüglich der Immissionsproblematik stellte die Landesregierung unmissverständlich fest, dass es nicht weiter die Aufgabe der Unternehmen sein könne, in Eigenregie gegen die Verhältnisse vorzugehen. Stattdessen sollten die zuständigen Gewerbeaufsichtsämter mehr Einfluss erhalten und sowohl unabhängige als auch unangekündigte Kontrollen der Betrieb durchführen können; auch sollten ständige Überwachungsmaßnahmen eingerichtet werden. Damit hatten die Unternehmen ihre Autonomie in der Selbstverwaltung der Risikoproduktion weitgehend verloren.322 Für das Jahr 1972 resümierte der VCI deshalb ernüchtert: „Besonders intensiv haben wir uns in diesem Jahr mit dem Gebiet der Selbstverwaltung der Wirtschaft beschäftigt. Dazu gehört auch die technische Überwachung […]. Hier steht die Industrie vor schwierigen Problemen, da der Staat immer mehr Funktionen an sich zieht und einen immer größeren Einwirkungsbereich anstrebt.“323 In der neuen Haltung des institutionellen Kontextes erkannte Bayer zugleich zwei weitere Probleme, die dem Unternehmen wirtschaftlich schaden konnten und die es nötig machten, alte Verhaltensstrategien und Handlungslogiken zu überdenken. Bei Gesprächen mit hohen Vertretern des Arbeits- und Sozialministeriums wurde dies im August 1970 offenkundig: Der neu eingesetzte Ministerialrat des Arbeits- und Sozialministeriums namens Dreyhaupt324 forderte mit Nachdruck weitere, über die eigentlichen Emissionsdaten der Erhebung hinausgehende „Nebenergebnisse wie die Zahl der Anlagen ohne gewerberechtliche Genehmigung, mit 321 Vorstandsitzung in Leverkusen am 04. August 1970, in: BAL 387/1 Vol. 10 Vorstandsprotokolle 06.01.1970–03.08.1971. 322 Vgl. Landtag Nordrhein-Westfalen – Siebte Wahlperiode – (Abschrift), Drucksache 7/1157 Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage Nr. 430 der Abgeordneten Sinnecker und Professor Dr. Lauber (SPD) – Drucksache 7/1073 Einrichtung von Umweltalarmstellen bei den Gewerbeaufsichtsämtern in Nordrhein-Westfalen zur Meldung von Emissionen, in: BAL 388/130 Werkverwaltung Leverkusen, AWALU bis 1972 (Eingang bei der Werksleitung am 12. Oktober 1971). 323 Opderbecke an ZGF betreffend Tätigkeitsbericht des VCI-Ausschuss für „Technik und Umwelt“ vom 02. Januar 1973, S. 7, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke Berichte (Duplikate) 1972. 324 Obwohl die biographischen Daten dieses Mitarbeiters des Arbeits- und Sozialministeriums nicht nachvollzogen werden konnten, so scheint es sich bei ihm um einen weniger industriefreundlichen und engagierten „Umweltschützer“ der ersten Stunde zu handeln. An anderer Stelle findet sich ein Referat von Dreyhaupt auf einem Kursus der Landesanstalt für Emissionsund Bodenschutz. Er konstatierte dort, dass es ein unhaltbarer Zustand sei, dass die Bürger über keinerlei Handhabe und Organe verfügten, die ihre Interessen für saubere Luft gegen den massiven Widerstand der Industrie wahrnehmen. Solange dies weiterhin der Fall sei, müsse diese Aufgabe der Staat übernehmen. Ebenso müssten die bestehenden Emissionsgrenzwerte gesenkt werden. Vgl. Referat von Ministerialdirektor Dr. Dreyhaupt bei der Landesanstalt für Emissions- und Bodenschutz am 19. November 1970, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Akte Verband der chemischen Industrie Ersatzteillager Chemie- und Braunkohleindustrie / Beseitigung von Abfallstoffen / Reinhaltung der Luft.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
Kapazitätsüberscheitung, ohne verlangte Reinigungseinrichtungen, mit Überscheitung der genehmigten Emissionen.“325 Der empörte Widerspruch Bayers richtete sich vor allem gegen zwei Aspekte, erstens: „Das Teilgebiet ist so klein, daß die garantierte Anonymität bei den industriellen Emissionen nicht gewährleistet ist. Selbst bei einer objektiven, korrekten Darstellung der Katasterergebnisse wird es zu sensationellen und einseitigen Berichten in den Publikationsorganen kommen mit unausbleiblichen Nachteilen alleine für Bayer […], insbesondere bei der Genehmigung von Anlagen (Einsprüche usw.).“326 Daneben wurde ein zweiter Grund ins Feld geführt, der sich auf die entfachte Grenzwertdiskussion und ein bevorstehendes Bundesimmissionsschutzgesetz bezog, das zudem die Genehmigung von (Neu-)Anlagen erschweren könnte: „Es existiert nach wie vor kein Maßstab zur Beurteilung der Emissionsdaten. ([…] Während Dreyhaupt die Leverkusener Zahlen […] für gravierend hält, sind die Industrievertreter überrascht von den niedrigen Emissionsdaten.) […] Bei dem Gespräch stellte sich auch heraus, daß – im Gegensatz zu der von Min. Dir. Boisserée gegebenen Zusage – in Zukunft das Emissionskataster Genehmigungskriterien liefern wird: Überschreiten die aus den Emissionsdaten mit Hilfe einer Ausbreitungsrechnung ermittelten Immissionskonzentrationen die ad hoc aus der Literatur abgeleiteten Immissionsgrenzwerte, wird eine Genehmigung versagt.“327
Das Bild hatte sich gedreht: Bayer nahm nun wahr, dass es zu Imageschäden durch einseitige Berichterstattungen kommen konnte. Zudem hielten die neuen Behörden-Experte nicht mehr aus gutem Willen alte Zusagen ein. Daraus konnten erhebliche (betriebs-)wirtschaftliche Nachteile entstehen, die besonders in den Genehmigungsverfahren und damit als Reibungsverluste oder zusätzliche Transaktionskosten zu Buche schlagen konnten. Alle Einwände gegen die Veröffentlichung von Emissionsdaten kulminierten in einer Hauptsorge der Zuständigen, die das bevorstehende Bundesimmissionsschutzgesetz betraf. Ihm diente das Kataster als Grundlage und Informationsgewinnung im Sinne der Emissionserfassung. Angesichts der staatlichen Eingriffe hatten die Unternehmen damit zu rechnen, in Zukunft gut gehütete Betriebsgeheimnisse bekannt geben zu müssen, wodurch erstmals in der Bundesrepublik ein formal-institutioneller Druck zur Verbesserung der Emissionsverhältnisse bzw. der Immissionslasten erzeugt wurde: „Mit dem Abschluss der Arbeiten zum E-Kataster in Leverkusen ist Mitte 1972 zu rechnen. Im vorliegenden Entwurf eines Bundesimmissionsschutzgesetz werden sowohl das Emissionskataster als auch eine jährliche vom Betreiber abzugebende Emissions325 Vgl. Aktennotiz der AWALU-Abteilung betreffend Veröffentlichung der Ergebnisse des Emissionskatasters für das Teilgebiet Mohnheim – Dormagen – Worringen vom 4. August 1970, S. 1, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1967–1971. 326 Ebd. S. 1. 327 Ebd. S. 2. Noch im Oktober 1974 mussten Bayer-Ingenieure zu hohe Grenzwertkonzentrationen eingestehen, was ein eindeutiger Beweis für sehr hohen Konzentrationen in den Jahren zuvor sein dürfte: „Bis auf Fluorwasserstoff werden die neuen Immissionswerte in der Nachbarschaft des Leverkusener Werkes eingehalten. Bei SO2 und H2S liegen die Immissionen allerdings sehr nahe an den Grenzwerten, so dass in den Jahren mit ungünstiger Meteorologie mit einer Überschreitung gerechnet werden muss.“ Aktennotiz der AWALU-Abteilung betreffend Bundesimmissionsschutzgesetz und Technische Anleitung Luft vom Oktober 1974, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1973–1974.
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erklärung verankert.“328 Damit war dem Topmanagement der Verlust an Integration und Einfluss gegenüber dem institutionellen Kontext sehr deutlich vor Augen geführt worden. Auf einer der letzen Technischen Direktionskonferenzen im Jahr 1971 musste der Leiter der AWALU-Kommission bezüglich des Emissionskatasters seinen Kollegen gestehen: „Es bleibt uns hier nichts anderes übrig, als positiv mitzuarbeiten.“329 Im designierten Bundesimmissionsschutzgesetz sahen die Verantwortlichen nun auch die rechtliche Grundlage für die Erhebung des Katasters: „Das […] Immissionsschutzgesetz schafft in seiner derzeitigen Fassung eine Rechtsgrundlage für das Emissionskataster und für eine jährlich vom Betreiber abzugebende Emissionserklärung. Das Kataster wird in Zukunft für Genehmigungsverfahren herangezogen werden. Eine in NW im Aufbau befindliche Abteilung der Gewerbeaufsicht soll die […] vorhandenen und die bei geplanten Neuanlagen zu erwartenden Immissionsbelastungen ermitteln und den entsprechenden Grenzwerten gegenübergestellt werden.“330 Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass es Bayer nicht gelang, den Prozess der Datenerhebung zu stoppen. In Leverkusen rechneten die zuständigen Chemiker und Ingeniere der AWALU mit einem Ende der Erhebung im Jahre 1973.331 Auch die Befürchtungen einer negativen Berichterstattung waren nicht unbegründet. Bereits Ende des Jahres 1970 wurden, so die AWALU, vom Leiter des Gewerbeaufsichtsamtes Köln „entgegen der Absprachen“ erste Ergebnisse der Katastrierung veröffentlicht, wobei die bei der „Katastererhebung […] festgestellten Emissionen […] unserer Beurteilung nach als niedrig einzuschätzen sind, das Ministerium hält sie für riesig.“332 Das Ergebnis sei eine „verzerrte, gegen Bayer gerichtete Darstellung in verschiedenen Zeitungen“ gewesen; Bayer habe beim Minister protestiert, „der den Vorfall aber abtat.“333 Ebenso waren die antizipierten Schwierigkeiten bei neuen Konzessionsanträgen keine Hirngespinste des Topmanagements von Bayer sowie der zuständigen Chemiker und Ingenieure: „Die Bevölkerung macht in immer stärkerem Maße Gebrauch, um gewerberechtliche Genehmigungen zu verhindern oder scharfe Auflagen durchzusetzen. […] Seit einem Jahr werden von den Behörden immer umfangreichere Antragsunterlagen verlangt. Seit Mitte November liegt ein Entwurf des Ministeriums vor […], der Antragsunterlagen in einem Umfang verlangt, wie sie von uns erst nach Fertigstellung der Anlagen erbracht werden können und die weit über den zur Beurteilung des ‚Umweltschutzes‘ notwendigen Informationsumfang hinausgehen. […]
328 Anlage zu einer Aktennotiz der AWALU-Abteilung betreffend Emissionskataster vom 15. Januar 1971, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1967–1971. 329 Auszug aus der Niederschrift über die TDC in Leverkusen am 11. Februar 1971, in BAL 329/377 Direktionsabteilung, AWALU. 330 Aktennotiz der AWALU Kommission an den Vorstandsvorsitzenden Hansen vom 03. Oktober 1972, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1971–1973. 331 Vgl. Protokoll über die 8. Sitzung der Abwasser- und Abluft Kommission am 24. November 1970, S. 2, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1967–1971. 332 Vgl. ebd. S. 2. 333 Vgl. ebd. S. 3.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel Durch korrektes persönliches Verhalten haben die Herren des TÜV über sachlich-fachliche Auseinandersetzungen hinausgehende Differenzen vermieden, sodaß der Ablauf der Erhebung bei uns bisher reibungslos verlief. Wir befürchten aber nach ersten Anzeichen eine ganze Reihe nicht ausreichend gewerberechtlich abgesicherter Anlagen, obwohl seit Jahren immer wieder die Notwendigkeit einer Überprüfung der Konzessionierung betont worden ist.“334
Diese Äußerungen untermauern die Chancenlosigkeit Bayers gegenüber den zuständigen Behörden. Auf die Meinung der Unternehmensvertreter wurde nicht mehr in der Weise Rücksicht genommen, wie diese das noch wenige Jahre zuvor gewohnt gewesen waren. Der zugeschriebene Wert des Werkes und das Selbstbewusstsein seiner Vertreter sanken zugunsten des Werts einer als schützenswert angesehenen natürlichen und lebensweltlichen Umwelt der Region. Um diesen Schutz möglich zu machen wurde das Emissionskataster geschaffen. Erstmals erhielten damit die zuständigen Behörden und die Öffentlichkeit unabhängig ermittelte Daten über die Emissionsverhältnisse, die zwar seit langem sicht-, riech- und spürbar waren, nun aber eindeutig den Verursachern zugeordnet werden konnten.335 Die Zuordnung war natürlich auch zuvor allein durch Alltagswahrnehmung möglich gewesen; dagegen vorzugehen oder diesen Umstand in scharfer Weise zu kritisieren hatte gegenüber dem gebietsbeherrschenden Unternehmen jedoch keine Auswirkungen gehabt. Nun aber wurde der institutionelle Druck dermaßen groß, dass Bayer Einblicke in seine Risikoproduktion gewähren musste und die Veröffentlichung der Emissionsdaten nicht verhindern konnte: „Im Großraum Köln werden die Erhebungen des TÜV Köln Ende 1973 beendet. Teilergebnisse sind, unter Einbeziehung des Werkes Dormagen, Anfang 1973 veröffentlicht worden.“336 Im August 1973 führte dann kein Weg mehr an der Veröffentlichung vorbei, an deren Richtigkeit der Arbeits- und Sozialminister keinen Zweifel hegte. Aus der abschließend zitierten Quelle wird zudem die Angst des Konzerns vor dem drohenden Legitimitätsentzugs überdeutlich, die auch dem Arbeits- und Sozialminister nicht entgangen war. An eine Umkehr dachte er jedoch nicht im Geringsten, wie aus einem Schreiben an Bayer hervorgeht: „Ihre Bedenken gegen das Emissionskataster […] sind mir aus zahlreichen Gesprächen bekannt. Ich bin nicht der Ansicht, daß die Darstellung des Berichts […], das Zusammenleben mit ihrer Nachbarschaft erschwert. Die ablehnende Haltung der Bevölkerung gegen ihr Unternehmen ist ohnehin und ohne mein Zutun gegeben.“337 Die Katastrierung bildete die Grundlage für das Bundesimmissionsschutzgesetz, das im Jahre 1974 erlassen wurde. Zusammen mit einem geplanten Abwasser334 Ebd. S. 3–4. 335 Dies wurde oft als Willkür angesehen, „die die Behörden zu ihrer eigenen Absicherung uns auferlegen.“ Exemplarisch bei Henkel: Aktennotiz der Ingenieurverwaltung Dr. Funk an Opderbecke betreffend Besuch beim TÜV, Köln: Gespräch mit H. Dr. Lindenackers über das Emissionskataster vom 08. Dezember 1971, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 453 Akten Opderbecke Nr. 40a-40b, hier 40a, Tageskopien Dr. Funk. 336 Monatsbericht der AWALU-Kommission November 1973, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1971–1973. 337 Der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales an Firma Bayer AG betreffend Veröffentlichung Emissionskataster Köln vom 07. August 1973, in: BAL 388/133 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Allgemein 1973.
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abgabengesetz schaffte der institutionelle Kontext der 1970er Jahre Regelungen, die das Verursacherprinzip im Umweltschutz in den Vordergrund stellten.338 Die Folgen trafen die Unternehmen mit voller Härte, wurde ihnen doch nun vorgeworfen, mit ihrer Risikoproduktion die natürliche und lebensweltliche Umwelt als Verursacher und damit kausal zu schädigen. Die Hauptkritik der (chemischen) Industrie am Verursacherprinzip richtete sich hauptsächlich gegen die Störung des „bisherigen Ordnungsrechts“ und sah es so als „systemfremden Opportunitätsgrundsatz“ an.339 Sowohl das geplante Abwasserabgabengesetz als auch das Bundesimmissionsschutzgesetz wurden von den Unternehmen bereits antizipiert, sobald im institutionellen Kontext erste Überlegungen angestellt wurden, diese Gesetze auf den Weg zu bringen. Sie konnten jedoch nicht mit dem gewohnten Erfolg beeinflusst oder abgewendet werden. Werksleiter Opderbecke von Henkel meldete im Hinblick auf das Bundesimmissionsschutzgesetz und die vermeidungsstrategischen Anstrengungen des VCI zu Beginn des Jahren 1973 ernüchtert an die Geschäftsleitung: „Hiergegen haben wir uns mit allem Nachdruck aus rein sachlichen Gründen zu wehren versucht, sind aber bisher an der politischen Konstellation gescheitert.“340 Auch dem Vorstandsvorsitzenden von Bayer musste von der AWALU diesbezüglich eine schlechte Nachricht überbracht werden: „Der VCI versucht, einen eigenen Gegenentwurf über Abgeordnete der Opposition im Bundestag einzubringen. Dieser Gegenentwurf hat allerdings nur dann Aussichten im Bundestag eingebracht zu werden, wenn er in seinen materiellen Forderungen nicht wesentlich hinter dem Regierungsentwurf zurückbleibt.“341 Wenngleich der VCI sich nun seit den beginnenden 338 Der Staatssekretär im Bundesinnenministerium Günter Hartkopf machte im November 1973 vor dem VCI deutlich, dass es der Bundesregierung mit dem Verursacherprinzip ernst sei und welche einschneidenden Folgen sich daraus für die chemische Industrie ergeben werden. Insbesondere strich Hartkopf hierbei das neue Verständnis der Bundesregierung heraus, die neue Umweltpolitik als Gesellschaftspolitik zu begreifen und dass die Bundesregierung zwar die Widerstände der Industrie einsehe, jedoch nicht anerkennen kann. Vgl. Das Verursacherprinzip im Umweltschutz, in: Chemische Industrie. Zeitschrift für die deutsche Chemiewirtschaft, Sonderdruck aus Heft 2/1974 (Anlage zu dem Jahresbericht der AWALU 1974), in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1974–1977. 339 Vgl. Aktuelle Informationen Nr. 23/73 des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Umweltschutz und Verursacherprinzip vom 16. August 1973, hier Anlage zu einer Verlautbarung des VCI an die Mitglieder des Ausschusses Technik und Umwelt, in: Konzernarchiv Henkel Zug.Nr. 451 Akten Opderbecke, Verband der chemischen Industrie Technischer Ausschuss 1969– 1973. 340 Werksleiter Opderbecke an ZGF betreffend VCI-Ausschuss für „Technik und Umwelt“ vom 02. Januar 1973, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Berichte (Duplikate) 1972. Ebenso hierzu im Falle Bayer die nun von den einzelnen Werken und Sparten unternommenen Maßnahmen zum Immissionsschutz, etwa: Bericht der Werke und Sparten über Maßnahmen zur Luftreinhaltung vom November 1973, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1973–1974. Ähnlich bei Henkel durch die Rechenschaftsberichte an den Werksleiter durch die Ingenieurverwaltung: „Das BIschG wird wesentliche Auswirkungen auf die industrielle Betätigung haben. Die zu dem Gesetz vorgesehenen Verordnungen sind teils erlassen, teils in Vorbereitung.“ Dr. Funk an Opderbecke betreffend Immissionsschutzgesetz vom 06. Dezember 1974, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 453 Akten Opderbecke Nr. 41a-41b, hier 41a, Tageskopien Dr. Funk. 341 Dr. Henkel / Werksverwaltung AWALU an Professor Dr. Hansen betreffend Emissionskataster
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
1970er Jahre mit dem neuen Thema Umweltschutz auseinandersetzen musste – was bereits an der Umbenennung des „Technischen Ausschusses“ in den „Ausschuss Technik und Umwelt“ ersichtlich ist – wurde die dort angesiedelte Kommission zur Reinhaltung der Luft vom Bundesinnenministerium in ihren Kompetenzen beschnitten: „Auf Veranlassung des Bundesministeriums des Innern hat die Kommission ‚Reinhaltung der Luft‘ die Erstellung von maximalen Immissionskonzentrationen übernommen. Der vorliegende Entwurf […] orientiert sich nur an der toxischen Wirkung auf den Menschen. Unter den Gesichtpunkten: Belästigung des Menschen, schädliche Wirkungen auf Tiere, Pflanzen und Sachgüter, sind weitere Tabellen zu erwarten. […] Unter Berücksichtigung aller Aspekte wird dann die Bundesregierung Immissionsgrenzwerte erlassen, die bei allen Verfahren zur Genehmigung unsere Anlagen angewendet werden. Einwände gegen die jetzt vorliegende Liste können wir nicht wie früher bei der Kommission einbringen. Wir bitten die Betriebe dennoch um wissenschaftlich untermauerte Mitteilungen.“342
Obwohl nach der Ausgabe dieser Stofflisten toxische Wirkungen von Produkten ersichtlich waren, die seit jeher in den Unternehmen verarbeitet und hergestellt wurden, sahen der Verband und die Unternehmen in der angedachten Abgabe für Abwässer und vor allem im Bundesimmissionsschutzgesetz keinen Lösungsansatz für das Problem. Aus ihrer Sicht handelte es sich allenfalls um puren Aktionismus der Bundesregierung, der volkswirtschaftlich unvertretbare Kosten für die chemische Industrie generierte: „Umweltschutz soll der Allgemeinheit dienen. […] Wir sind aber der Auffassung, daß […] die Problematik einer Abwasserabgabe und das Bundesimmissionsschutzgesetzt als dem nach Ansicht der Bundesregierung wohl wichtigsten Instrumente zur Durchführung des Verursacherprinzips der Öffentlichkeit gegenüber zum Ausdruck zu bringen am wichtigsten erscheint.“343 Ich werde nun anhand des Bundesimmissionsschutzgesetzes die Einschnitte des formal-institutionellen Kontext herausarbeiten und die hieraus resultierenden Problem für Bayer und Henkel ebenso aufzeigen wie die notwendig gewordenen Aushandlungsprozesse zwischen den Unternehmen und dem institutionellen Konund Bundesimmissionsschutzgesetz vom 9. November 1971, in: BAL 388/130 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU bis 1972. 342 Dr. Winkler / Werksverwaltung AWALU an die Herren Mitglieder der Abwasser- und Abluftkommission betreffend Maximale Immissionswerte vom 30. August 1972, in: BAL 388/130 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU bis 1972. Diese Listen des VDI mit detailliert aufgeführten Stoffen wurden an die Betriebe weitergeleitet. Die Spielregeln im Umgang mit Stoffen hatten sich geändert und basierten mit der Herausgabe dieser Listen auf Vorbeugung. Das Credo hatte sich zu „Vorsicht ist besser als Nachsicht“ gewandelt, denn: „Für Stoffe, deren kokarzinogene, teratogene oder mutagene Wirkung gesichert oder wahrscheinlich ist, können, solange wissenschaftlich begründete Werte fehlen, keine Maximalen Immissionswerte festgesetzt werden. Es müssen deshalb alle Möglichkeiten zur völligen [Hervorhebung im Original, T.J] Vermeidung dieser Emissionen ausgenutzt werden.“ Dr. Winkler / Werksverwaltung Abteilung AWALU an die Herren Mitglieder der Abwasseer- und Abluftkommission betreffend Maximale Immissionswerte vom 30. August 1972, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1971–1973. 343 VCI an die Mitglieder des Ausschusses Technik und Umwelt betreffend Verursacherprinzip im Umweltschutz vom 13. September 1973, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Verband der chemischen Industrie Technischer Ausschuss 1969–1973.
3.2 Verkehrte Verhältnisse
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text.344 Dabei wird sich zeigen, dass die widerspenstige Haltung gegenüber dem Immissionsschutz allmählich überdacht werden musste. Das neue Bundesimmissionsschutzgesetz hatte explizit das Ziel, die natürliche und lebensweltliche Umwelt zu schützen. Hierzu wurden Immissionen erstmals als potenziell schädlich anerkannt, und in der weiteren Fortschreibung des Gesetzes wurden zusammen mit vielen Durchführungsverordnungen auch Grenzwerte für bestimmte Stoffe festgesetzt. So wurde etwa der in der Novellierung der TA-Luft der Emissionsgrenzwert für Schwefeldioxid von 0,4 mg/m3 Luft auf 0,14 mg/m3 Luft festgesetzt, was bei Henkel als „krasse Herabsetzung“ kommentiert wurde.345 Ein weiterer wichtiger Punkt für diese Arbeit ist die Verschärfung von Genehmigungsverfahren bzw. die allgemeine Problematik der Genehmigung von immissionsträchtigen Anlagen. Wie der folgende Auszug aus dem BIschG zeigt, entstanden daraus weitere Schwierigkeiten für die Unternehmen, indem völlig neue Anforderungen an sie gestellt wurden: „Zweck dieses Gesetzes ist es, den Menschen sowie Tiere, Pflanzen und andere Sachen vor schädlichen Umwelteinwirkungen und, soweit es sich um genehmigungsbedürftige Anlagen handelt, auch vor Gefahren, erheblichen Nachteilen und erheblichen Belästigungen, die auf andere Weise herbeigeführt werden, zu schützen und dem Entstehen schädlicher Umwelteinwirkungen vorzubeugen.“346 344 Einen kurzen rechtsgeschichtlichen Überblick zur Entstehung des Bundesimmissionsschutzgesetz bietet Erich Hansmann: „Durch das Gesetz zur Änderung der Gewerbeordnung und Ergänzung des BGB vom 22. Dezember 1959 (BGBl. I S. 781) waren zu Beginn der 1960er Jahre die Grundlagen gelegt worden. Der Plan, ein umfassendes einheitliches Bundesimmissionsschutzgesetz zu erlassen, ist bereits 1965 ins Auge gefasst worden. Er ließ sich jedoch nur verwirklichen, nachdem dem Bund eine umfassendere Gesetzgebungskompetenz zuerkannt war. Entsprechende Versuche für eine Grundgesetzänderung im Rahmen der Finanzreform 1969 scheiterten. Nach der Wahl des 6. Deutschen Bundestages ließ sich aber absehen, dass dem Bund eine Vollkompetenz für die Gebiete der Luftreinhaltung und der Lärmbekämpfung zuerkannt werden würde. Im Hinblick darauf legte die Bundesregierung im Jahre 1971 den Entwurf eines Bundes-Immissionsschutzgesetz vor, den sie – nachdem das Grundgesetz durch Gesetz vom 12.04.1972 geändert wurde – im 7. Deutschen Bundestag unverändert wieder einbrachte. Nach intensiven Beratungen im Innenausschuß hat der Bundestag beachtliche Änderungen des Regierungsentwurfs beschlossen, die eine Verschärfung der immissionsschutzrechtlichen Anforderungen zum Gegenstand haben.“ Erich Hansmann: Natur und Recht, Lüneburg 1997, S. 14. Das Bundesimmissionsschutzgesetz entwickelte sich bis zum Beginn der 1980er Jahre durch mehrere Durchführungsverordnungen weiter. Vgl. ebd. S. 28ff. 345 Protokoll Nr. 4/74 der Betriebsausschuß-Sitzung am 11. Juni 1974, S. 8, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Betriebsausschuß/Meisterkonferenzen 1973–1978. Zum Vergleich: Im Jahr 2005 galt: „Für Schwefeldioxid wurde eine Alarmschwelle von 500 μg/m3 festgelegt. Wird dieser Wert in drei aufeinander folgenden Stunden an Orten gemessen, die für die Luftqualität in Bereichen von mindestens 100 Quadratkilometer oder im gesamten Gebiet/Ballungsraum repräsentativ sind (ausschlaggebend ist das jeweils kleinere Gebiet), muss der betroffene Mitgliedsstaat umgehend geeignete Maßnahmen ergreifen. Für die betroffenen Gebiete müssen Aktionspläne mit kurzfristigen Maßnahmen festgelegt werden.“ Umweltbundesamt – Fachgebiet II 5.2 Immissionssituation, Informationsblatt Schwefeldioxid – Stand: November 2005. Die Alarmschwelle aus dem Jahre 2005 lag also um das Dreifache niedriger als die Grenzwerte der neuen TA-Luft des Jahres 1974. 346 Gesetz zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen, Geräu-
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
Damit waren Bayer und Henkel als Produzent dieser „schädlichen Umwelteinwirkungen“ in die Pflicht genommen, diese Beeinträchtigungen herabzusetzten. Sie wurden gleichzeitig nach einem geltenden Immissionsschutzgesetz als Schädiger der Umwelt angeprangert und hatten diesen Umstand durch einen vom Gesetz definierten „Stand der Technik“ abzustellen, wobei alt gediente Produktionsweisen und hieraus resultierende Emmissionen nicht mehr erwünscht waren: „Stand der Technik im Sinne dieses Gesetzes ist der Entwicklungsstand fortschrittlicher Verfahren, Einrichtungen oder Betriebsweisen, der die praktische Eignung einer Maßnahme zur Begrenzung von Emissionen gesichert erscheinen lässt. Bei der Bestimmung des Standes sind insbesondere vergleichbare Verfahren, Einrichtungen oder Betriebe heranzuziehen, die mit Erfolg im Betrieb erprobt worden sind. […]“347 Zudem wurden Bayer und Henkel mittels staatlichen Eingriffs gleichsam dazu verpflichtet, ihre Betriebe und die angestammte Art und Weise des Produzierens rigideren Kontrollen zu unterziehen bzw. genehmigen zu lassen. Dies bedeutete auch einen Eingriff in die alten Handlungslogiken der Unternehmen: „Die Errichtung und der Betrieb von Anlagen, die auf Grund ihrer Beschaffenheit oder ihres Betriebes in besonderem Maße dafür geeignet sind, schädliche Umwelteinwirkungen hervorzurufen oder in anderer Weise die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft zu gefährden, erheblich zu benachteiligen oder zu belästigen, bedürfen einer Genehmigung.348 […] Genehmigungsbedürftige Anlagen sind so zu errichten und zu betreiben, daß 1. 2.
schädliche Umwelteinwirkungen und sonstige Gefahren, erhebliche Nachteile und erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit und die Nachbarschaft nicht hervorgerufen werden können, Vorsorge gegen schädliche Umwelteinwirkungen getroffen wird, insbesondere durch die dem Stand der Technik entsprechenden Maßnahmen zur Emissionsbegrenzung […].349 Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn 1. sichergestellt ist, daß […] die sich ergebenden Pflichten erfüllt werden […].350
347
348 349 350
sche, Erschütterungen und ähnliche Vorgänge (Bundes-Immissionsschutzgesetz – BischG) § 1, in Bundesgesetzblatt Teil I, Nr. 27 (1974), Z 1997A, ausgegeben zu Bonn am 21. März 1974. Ebd. § 3 (1), (2), (5), (6). Hierzu monierte die AWALU-Kommission bei Bayer: „Bisher war die Forderung nach dem Stande der Technik nicht gesetzlich geregelt. Die TA-Luft orientierte sich an vergleichbaren Anlagen, die sich im Betrieb bewährt haben. Jetzt können pilot plants […] zum Stand der Technik erklärt werden. Genehmigungsbedürftige Anlagen sind neuerdings nicht nur nach dem Stand der Technik zu errichten, sondern auch zu betreiben, d.h. die Behörde kann durch nachträgliche Anordnungen eine ständige Anpassung der Anlage an den jeweiligen Stand der Technik zur Emissionsbegrenzung verlangen.“ Aktennotiz der AWALU-Abteilung Betreff Bundesimmissionsschutzgesetz und Technische Anleitung Luft vom Oktober 1974, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1973–1974. Die neue TA-Luft im Zusammenhang mit dem Bundesimmissionsschutzgesetz beinhaltete die Begrenzung des Staubgehalts, eine Grenzwertsetzung für toxische Stäube, die Neuaufnahme von Stoffen und deren Immissionsbegrenzung sowie allgemeine Vorschriften zur Emissionsmessung und -kontrolle. Vgl. 11. Sitzung der Abwasser- und Abluft-Kommission am 28. November 1973 in Leverkusen, S. 2, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1973–1974. BIschG § 4 (1). Ebd. § 5. Ebd. § 6.
3.2 Verkehrte Verhältnisse
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2. die von Anlagen ausgehenden Emissionen bestimmte Grenzwerte nicht überscheiten dürfen und 3. die Betreiber von Anlagen Messungen von Emissionen und Immissionen nach in der Rechtsverordnung näher zu bestimmenden Verfahren vorzunehmen haben oder vornehmen lassen müssen.“351
Das Bundesimmissionsschutzgesetz stellte einen sehr tiefen Einschnitt in die Handlungsalternativen der Unternehmen dar: War es doch durch die geschaffene Rechtslage der Gewerbeordnung wenige Jahre zuvor noch möglich gewesen, Konzessionen chemisch-technischer Anlagen relativ einfach zu erhalten bzw. waren entsprechende Gesetzeslücken zugunsten der emittierenden Industrie ausgelegt worden, so konfrontierte der formale Immissionsschutz die Unternehmen nun mit erschwerten und teuren Konzessionierungsverfahren und damit verbundenen Pflichten. Bei Henkel wurde dies kommentiert; Enttäuschung und Unverständnis schwingen hier ebenso mit, wie die Erkenntnis, dass die chemische Industrie allem Anschein nach ihre Lobby verloren hatte: „Das von der Regierung in den Bundestag eingebrachte Immissionsschutzgesetz sieht vor, daß vermeidbare schädliche Umwelteinflüsse, gleich von welcher Art Anlage […] sie ausgehen, vermieden werden. Obwohl sich das Gesetz an alle [Hervorhebung im Original, gemeint sind hier auch andere Emittenten wie der Hausbrand und der Verkehr, T.J.] richtet, werden gewerbliche Anlagen dadurch hervorgehoben, daß für diese das bestehende Verfahren nach § 16 der GewO aus dieser herausgerissen und in das Immissionsschutzgesetz übernommen wird. […] Die in diesem Gesetz vorgesehenen Regelungen sind geeignet für die Industrie weitere Erschwernisse zu bringen […].“352
Die unternehmensseitige Haltung gegenüber den staatlichen Eingriffen in den zuvor weitgehend autonom geregelten Immissionsschutz bzw. die Emissionsvermeidung schwankte seit Beginn der 1970er Jahre zwischen Trotz, Unverständnis aber auch realistischen Einschätzungen der neuen Lage. Zwar erregte man sich etwa bei Bayer darüber, dass die „Industrie zum Prügelknaben der Nation wird. Die Vorschriften zur Überwachung der Emissionsgrenzwerte und der Immissionswerte setzten die Behörden in die Lage, die Überwachungsmaßnahmen erheblich zu verschärfen.“353 Aber die Unternehmen begannen sich eben auch allmählich mit den neuen Vorgaben abzufinden, da „die Fremdbestimmung der Unternehmensentscheidung auf dem Gebiet der technischen Einrichtungen“ nach Ansicht des Oberingenieurs Funk von Henkel auch in die strategischen Überlegungen einbezogen
351 Ebd. § 7 (1), 1, 2, 3. 352 Dr. Funk an Dr. Heinz und Opderbecke betreffend behördliche Genehmigung zur Errichtung von Anlagen vom 29. November 1971, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 453 Akten Opderbecke, Tageskopien Dr. Funk Nr. 40a-40b, hier 40a. Im Fall Bayer vgl. auch das Protokoll der Vorstandsitzung in Leverkusen am 4. Juli 1972, in: BAL 387/1 Vol. 11 Vorstandsprotokolle 17.08.1971– 15.08.1972: Hier ging der Bayer-Vorstand noch davon aus, dass der Vorstandsvorsitzende Hansen sowie der VCI den Innenminister Genscher noch zu einer abgeänderten Fassung des Gesetzes überreden könnten, was jedoch nicht gelingen sollte. 353 Aktennotiz der AWALU-Abteilung betreffend Bundesimmissionsschutzgesetz und Technische Anleitung Luft vom Oktober 1974, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1973–1974.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
werden müssten.354 Schließlich blieb den Unternehmen bereits bei Bekanntwerden der Immissionsschutzpläne der Bundesregierung zu Beginn der 1970er Jahre keine andere Wahl, als ihre Konzessionsstrategien der neuen Rechtslage zu unterwerfen, um nicht entscheidende Wettbewerbsnachteile zu erleiden oder sich sogar Strafoder Ordnungswidrigkeitsverfahren ausgesetzt zu sehen. Der zuständige Oberingenieur der Technischen Dienste bei Henkel unterrichtete die Werks- und Teile der Geschäftsleitung über die bevorstehenden Probleme: Das kürzlich in Kraft getretene Bundesimmissionsschutzgesetz bringt das Problem der Konzessionierung in eine neue Phase. Im Land Nordrhein-Westfalen müssen wir zusätzlich noch mit Erschwerungen rechnen, indem das zuständige Ressort des Ministers für Arbeit, Gesundheit und Soziales (Dr. Dreyhaupt) auf dem Gebiet des Umweltschutzes besonders engagiert ist. Bei der Landesanstalt für Immissions- und Bodenschutz (LIB) entstand die zentrale Informationsstelle für das Genehmigungsverfahren und das Emissionskataster (ZIGE), die die Datenbank für die genehmigungspflichtigen Anlagen hält und im Genehmigungsverfahren eine wesentliche gutachterliche Stellung einnehmen soll. Neben den von uns selbst wahrgenommenen Folgen für unsere Antragsstellungen müßten insbesondere die zeitlichen Konsequenzen in unsere Langfristplanung bezüglich Investitionsentscheidungen einbezogen werden.355
Auch hinsichtlich der drohenden Strafverfolgung bei etwaigen Verstößen mahnte die AWALU-Kommission gegenüber den Betrieben die vom institutionellen Kontext veränderten Spielregeln an, indem sie mögliche negative Folgen für den Konzern oder verantwortliche Mitarbeiter aufzeigte: „§ 62: Ordnungswidrigkeiten werden mit Geldbußen bis 100 000 DM (z.B. wesentliche Änderung ohne Genehmigung) bzw. bis 5 000 DM (z.B. verspätete Abgabe der Emissionserklärung) belegt. § 63: Freiheitsstrafe bis zu 2 Jahren oder Geldstrafe (z.B. Betreiben einer wesentlich geänderten Anlage ohne Genehmigung der Änderung). § 64: Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder Geldsstrafe (Tatbestand wie in § 63 bei gleichzeitiger Gefährdung der Gesundheit eines anderen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert) in schweren Fällen bis zu 10 Jahren (z.B. Gefährdung der Gesundheit einer großen Zahl von Menschen).“356
Doch brachte das neue Gesetz innerhalb der Unternehmen nicht nur neue Sanktionen für Emissionssünder und damit Immissionsverursacher sowie organisatorische Kosten und Maßnahmen wie etwa die erforderliche Bestellung eines Immissionsschutzbeauftragten357 mit sich. Neben der Möglichkeit einer verschärften Kontrolle 354 Vgl. Dr. Funk an ZGF betreffend Fremdbestimmung unseres Unternehmens vom 28. November 1974, Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 453 Akten Opderbecke, Nr. 40a-40b, hier 40a, Tageskopien Dr. Funk. 355 Dr. Funk / Technische Dienste an Opderbecke u.a. betreffend behördliche Genehmigung zur Errichtung und zum Betrieb von Chemie-Anlagen vom 10. Juli 1974, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 453 Akten Opderbecke, Nr. 40a-40b, hier 40a, Tageskopien Dr. Funk. 356 Ebd. S. 4–6. 357 Bekanntmachung bei Bayer vgl. Bericht für die AWALU-Kommission betreffend Immissionsschutzbeauftragter der Bayer-Werke vom 30. September 1975, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1974–1977. Über die Medien der internen Unternehmenskommunikation wurden alle Mitarbeiter angehalten, „die Arbeit der Immissionsschutzbeauftragten zu unterstützen, insbesondere bezüglich der Einhaltung der Umweltschutzvorschriften. Die Unternehmensleitung hat ihrerseits den Immissionsschutzbeauftragten die volle Unter-
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der Betriebe und damit eines staatlichen Eingriffs in Produktions- und Verfahrensweisen schaffte das Gesetz auch die Möglichkeit für die Nachbarn der Unternehmen, leichter als dies aufgrund der Gewerbeordnung der Fall gewesen war, gegen die Errichtung oder den Betrieb von Anlagen einzusprechen: „Es soll ein Verfahren zur Behandlung von Masseneinsprüchen (>500 Einsprüche) eingeführt werden.“358 Noch deutlicher führte Oberingenieur Funk dem gehobenen Management im produzierenden Bereich bei Henkel diese neuerliche Bedrohung vor Augen: „Dagegen wird § 26 der GewO, nachdem niemand auf Beseitigung einer bestehenden industriellen Anlage klagen kann (Bestandsschutz), im BIschG nicht enthalten sein.“359 Der formal-institutionelle Kontext gestand den Menschen in der Werksperipherie nun offiziell zu, durch Immissionen gefährdet zu sein und sich dagegen zur Wehr setzen zu können. Selbst der Angriff auf Eigentums- und Verfügungsrechte der Unternehmen war nicht mehr ausgeschlossen, was im Einklang mit dem Umweltprogramm der Bundesregierung stand und ebenfalls durch das Bundesimmissionsschutzgesetz und die neue TA-Luft geregelt wurde.360 Der neue Topos des Belastungsgebietes, der durch die Daten des Emissionskatasters bestätigt wurde, vermittelte den Unternehmen zusätzlich den Eindruck, dass sie ihre alten Handlungslogiken bezüglich ihrer Risikoproduktion nicht mehr länger aufrechthalten konnten. Sie galten nicht mehr im ökonomischen Sinne als Wohlstandproduzenten für eine ganze Region, sondern im ökologischen Sinne als potenzieller Schädiger der menschlichen Gesundheit und der natürlichen Umwelt. Der formal-institutionelle Kontext des Immissionsschutzes verlangte ihnen nun ab, dass sie die Öffentlichkeit in Belastungsgebieten über die von ihnen ausgehende Gefährdung informierten: „Betreiber von in Belastungsgebieten gelegenen genehmigungspflichtigen Anlagen müssen jährlich eine Emissionserklärung abgeben, die veröffentlicht werden darf. […] Als weitere Konsequenz hat die Behörde vor, in Belastungsgebieten Luftreinhaltepläne aufzustellen. In diesem Zusammenhang werden von uns Prognosen bezüglich zukünftiger Emis-
stützung bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zugesagt.“ Vgl. Rechtsabteilung an Prof. Dr. Beckerath betreffend Bestellung der Immissionsschutzbeauftragten vom 25. August 1975, in: 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1974–1977. Bei Henkel wurde die notwendige Bestellung des Immissionsschutzbeauftragten dem höheren Management über die Informationsbroschüre „Intern“ für Führungskräfte vermittelt, wobei großer Wert auf die Feststellung gelegt wurde, dass das Bundesimmissionsschutzgesetz über den Gedanken des Schutzes hinausgehe und den Gedanken der Vorsorge gegen Umweltgefahren in den betrieblichen Alltag trage. Vgl. Intern – vertrauliche Führungsinformation der Henkel-Gruppe 7/1974, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Blaue Mitteilungen/Intern. 358 11. Sitzung der Abwasser- und Abluft-Kommission am 28. November 1973 in Leverkusen, S. 2, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1973–1974. 359 Protokoll der Produktionsleiterkonferenz Nr. 2/1973 am 19. Februar 1973, S. 2, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 453 Akten Opderbecke, Produktionsleiterkonferenzen und Bereichsleiterbesprechungen 1972–1974. 360 Vgl. Anlage zur Begründung von Ballungsgebieten durch das BIschG durch die Landesregierung des Landes Nordrhein-Westfalen an den Vorstand der Bayer AG vom 18. September 1975, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1974–1977.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel sionen verlangt und auf diejenigen unsere Anlagen, die wesentlich zu Immissionen beitragen, nachträgliche Anordnungen zukommen.“361
Diese „nachträglichen Anordnungen“ waren von der AWALU-Abteilung und dem Konzern erkannt worden, was zur Entwicklung von Nachhaltigkeitsstrategien führen musste. Anders als die Gewerbeordnung gestand das Bundesimmissionsschutzgesetz den Unternehmen keine ökonomisch-betriebswirtschaftliche Begründung für ihre Immissionsträchtigkeit mehr zu und schränkte dadurch ihren Handlungsspielraum im Umgang mit Risiken in einer nicht gekannten Weise ein. Die zuständige AWALU-Kommission bei Bayer machte den Vorstand in aller Deutlichkeit darauf aufmerksam, dass im Gegensatz zur Gewerbeordnung „nachträgliche Anordnungen auch dann getroffen werden, wenn sie für Anlagen dieser Art wirtschaftlich nicht vertretbar sind, solange sie für den Betreiber selbst wirtschaftlich vertretbar sind. Sollte als Betreiber in unserem Falle die AG gemeint sein, dann wäre die wirtschaftliche Vertretbarkeit nachträglicher Anordnungen solange gegeben, wie die AG als Ganzes nicht in den roten Zahlen ist.“362 Wir beobachten also ab 1973/74 – d.h. mit einer Verzögerung von etwa zwei Jahren nach Beginn des Umweltprogramms der Bundesregierung –, dass die Unternehmen die Institutionalisierung des Umweltschutzes weitgehend hinnahmen. Um betriebswirtschaftlich und organisatorisch weiterhin handlungsfähig zu bleiben, mussten für „Produktionsanlagen in kurzer Zeit geeignete Behandlungsverfahren entwickelt werden“ bzw. „sofern bei der Anwendung der Behandlungsverfahren hohe Kosten entstehen, […] die Produktionsverfahren überprüft, gegebenenfalls verändert werden damit weniger problematische Nebenprodukte auftreten“, und für die chemischen Produkte der Zukunft galt: „Neue Produkte müssen den Anforderungen des Umweltschutzes gerecht werden.“363 Das gleiche Bild kann bei Henkel hinsichtlich der Produktionsentwicklung und der Abwasserpolitik gezeichnet werden: „Möglichkeiten einer Reduzierung der Schmutzstofffrachten des Werksabwassers sieht […] in folgenden innerbetrieblichen Maßnahmen Folgendes vor: Umstellung in den Produktionsverfahren auf weniger abwasserintensive Methoden, Behandlung und Reinigung von konzentriert anfallenden Betriebsabwässern, Rückgewinnung und Wiederverwendung von Abwasserinhaltsstoffen.“364 361 Bericht für die AWALU-Kommission betreffend Gesetzliche Forderungen vom 30. September 1975, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1974–1977. 362 Aktennotiz der AWALU-Abteilung an die Herren Mitglieder des Vorstandes betreffend Bundesimmissionsschutzgesetz und Technische Anleitung Luft vom Oktober 1974, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1973–1974. 363 Memorandum der AWALU-Kommission betreffend zu erwartende Forderungen aus Umweltschutzgesetzen, hier Folgen für Chemiebetrieb vom 23. September 1974 S. 4, in: BAL 388/140 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Allgemein ab 01.07.74. Daher wurde zu dieser Zeit auch damit begonnen, sich dezidiert der Fragen von Forschung und Entwicklung für Umweltschutzmaßnahmen zuzuwenden. Ähnlich auch ein Gedankenaustausch zwischen Broja und dem Werksleiter Leverkusen Prof. Weise. Vgl. exemplarisch Broja an Produktionsleiter und Sparten der Bayer AG betreffend Forschung und Entwicklung für Umweltschutzmaßnahmen in den Betrieben vom 20. August 1974, in: BAL 388/140 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Allgemein ab 01.07.74 364 Protokoll der Produktionsleiterkonferenz Nr. 2/1973 am 19. Februar 1973 S. 5, in: Konzernar-
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Allmählich wurde auch die Chance gesehen, aus dem Umweltschutz Kapital zu schlagen. Die Mitte der 1970er Jahre markiert aus unternehmenshistorischer Sichtweise einen ersten, zaghaften Beginn nachhaltigen und gleichzeitig effizienten Wirtschaftens, worauf später die Entdeckung eines Marktes für Umwelttechnologien und Konzepte unternehmerischer Verantwortung für die natürliche und lebensweltliche Umwelt folgten.365 Sicherlich hatte die Argumentation mit einer wirtschaftlichen Belastung durch Umweltschutzmaßnahmen noch lange Bestand, doch wurde sie vom institutionellen Kontext seit Beginn der 1970er Jahre schlicht nicht mehr akzeptiert. Die betrachten Unternehmen waren gezwungen, den Blick über die Werksgrenzen hinaus zu richten, um weitere kostspielige Imageschäden abzuwenden bzw. zu erkennen, dass ihre tradierte Risikopolitik in ernsthafte Bemühungen zum Schutz der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt umgewandelt werden musste. Noch ein letzter Aspekt ist mir in diesem Unterkapitel wichtig, der die veränderte Zuschreibung des institutionellen Kontextes transportiert und die Unternehmen auf Sinnsuche schicken musste: Ich hatte oben die Rolle der Unternehmen als potenzielle Schädiger angedeutet. Diese neue Zuschreibung wurde Ende 1975 noch einmal verstärkt, als das Land Nordrhein-Westfalen unter dem Arbeitstitel „Katastrophenabwehrgesetz Nordrhein-Westfalen“ erstmals chemisch-technische Anlagen als potenzielle Katastrophenauslöser auswies. In einem ersten Entwurf hieß es: „Katastrophe ist eine durch […] Unglücksfall, Explosion oder ähnliches Ereignis verursachte so erhebliche Störung oder unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung […].“366 Diese neue Dimension der Anklage führte zu heftigen Debatten bei den Unternehmen. Über den Werksfeuerwehrverband wurde versucht, mit durchaus nachvollziehbaren Argumenten klarzustellen, dass eine Katastrophenabwehr sinnvoll sei, im Einsatzfall jedoch – anders als in den Einsatzleiterplänen vorgesehen – das technische und ortskundige Wissen der Werksfeuerwehren in den Unternehmen berücksichtigt werden müsse. Diese Einwände münchiv Henkel Zug.-Nr. 453 Akten Opderbecke, Produktionsleiterkonferenzen und Bereichsleiterbesprechungen 1972–1974. Zu früheren strategischen Überlegungen hinsichtlich der Produktionsentwicklung im Kontext des Umweltschutzes auch: Protokoll über die Sitzung des Verwaltungsrates Henkel GmbH vom 24. Februar 1971, in: Konzernarchiv Henkel 153/45 Postprotokolle. 365 So berichtete etwa der Leiter der AWALU-Abteilung Henkel 1972 an Broja: „Die Frage des ‚recycling‘ hat mich […] beschäftigt. Dabei kam ich auf die Idee, ob man nicht Bayer intern ein Preisausschreiben starten sollte, dass die Aufgabe stellt: Wiederverwertung von Abfallstoffen aus der Produktion als Rohstoff für andere Produktionen […]. Begründung: Der Chemiker im Betrieb sieht seine vornehmste Aufgabe in der Erhöhung seiner Produktion wie der Ausbeutung und Senkung seiner Kosten etc. – Abfälle aus der Produktion gehen ihren gewohnten Weg, mindern seinen Erfolg in anscheinend unvermeidbarer Weise. […] Die Veröffentlichung eines solchen Vorhabens im Rahmen unsere Firma wäre ein Beitrag zur Hebung des Bayer-Images, da m.W. bei anderen Firmen etwas Vergleichbares noch nicht existiert.“ Dr. Henkel an Dir. Broja vom 25. April 1972, in: BAL 388/131 AWALU II bis Ende 1972. 366 Katastrophenabwehrgesetz Nordrhein-Westfalen (KatAG NW), Arbeitstitel, Stand 08. Dezember 1975, § 1 (2) ohne weitere Angaben, in: BAL 388/241 Werksverwaltung Leverkusen, 388/241 Entwurf Katastrophenschutzgesetz / Entwurf Katastrophenabwehrplan / Gefahrenpunkte/Katastrophenabwehrplan 1972–1987.
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deten schließlich bei einem Hearing im Innenministerium in eine Forderung nach Sonderschutzplänen.367 Die Weiterentwicklung des Katastrophenabwehrgesetzes folgte dann in den späten 1970er und den 1980er Jahren, was zu weitreichenden Sicherheitsmaßnahmen in den Betrieben führte und mich dieses Thema zu einem späteren Zeitpunkt erneut aufgreifen lässt. Anhand dieses gesetzlichen Vorhabens des institutionellen Kontextes wird aber über den Aspekt der Zuschreibung als potenziellem Katastrophenauslöser hinaus noch einmal deutlich, dass innerhalb der Unternehmen nun zumindest das Bewusstsein ernst genommen wurde, dass die eigenen Produktionen zu schweren Unfällen und zur Gefährdung von Menschen und der Umwelt führen konnten. Dies kann etwa an einem Brief noch einmal verdeutlicht werden, den der Leiter der Werksverwaltung in Leverkusen Anfang 1976 von einem Meister erhielt, also aus der Perspektive des Tagesgeschäfts und des Bindeglieds zwischen Werk und Umwelt in Gestalt des Leiters der Werksverwaltung: „M.E. gibt es – auch in der Großchemie – im industriellen Bereich kein Vorkommen, das als ‚Katastrophe‘ ausarten kann, da – besonders in der Chemie – den Entwicklungen ‚thermodynamische‘ Schranken auferlegt sind. […] Das zeigt auch die Vergangenheit: Weder die Explosion Ammonnitratberges in der BASF noch die Äthylenexplosion368 an der gleichen Stelle hat wesentlich die Werksgrenzen überschritten. Es ist höchstens an eine Art Initialzündung zu denken, die dann zu einer Katastrophe führt, dann liegt aber die Katastrophenursache woanders. Ich halte den Gesetzentwurf für gefährlich, da er – die Definition der Katastrophe ist nicht brauchbar […] und gibt der Behörde ein sehr großen Ermessenspielraum – selbst bei kleinen Vorkommnissen […] sei es aus Unkenntnis heraus, sei es aus Absicht, sehr schnell die Möglichkeit einräumt, eine Situation zur Katastrophe zu erklären und sich dann in Innere Angelegenheiten der Betriebe einzumischen.“369
Der Leiter der Werksverwaltung hielt es offenbar nicht mehr für tragbar, dass diese alten Argumentationsmuster des Einmischens in Innere Angelegenheiten immer noch im Unternehmen kursierten, denn er vermerkte: „Sollte so nicht geteilt und verbreitet werden!“370 Weitere Evidenzen, dass das Topmanagement der Unternehmen es sich nicht mehr leisten konnte, diese Risikopotenziale in der Öffentlichkeit abzustreiten, sind auch bei Henkel erkennbar: Infolge eines vom Deutschen Indust367 Vgl. Werkfeuerwehrverband an den Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen betreffend Entwurf Katastrophenabwehrgesetz NW vom 23. Dezember 1975, in: BAL 388/241 Werksverwaltung Leverkusen, 388/241 Entwurf Katastrophenschutzgesetz / Entwurf Katastrophenabwehrplan / Gefahrenpunkte / Katastrophenabwehrplan 1972–1987. Zu den Forderungen beim Hearing-Gespräch vgl. Aktennotiz des Werkfeuerwehrverbandes betreffend Hearing im Landtag zum KatAG NW vom 14. Februar 1977, in: BAL 388/241 Werksverwaltung Leverkusen, 388/241 Entwurf Katastrophenschutzgesetz / Entwurf Katastrophenabwehrplan / Gefahrenpunkte / Katastrophenabwehrplan 1972–1987. 368 Hier sind zwei schwere Explosionsunglücke bei der BASF in den Jahren 1921 (in Oppau) und 1948 (in Ludwigshafen) angesprochen, die, wie neueste Forschungen zeigen, jeweils zahlreiche Tote in den und um die entsprechenden Fabrikationsstätten herum forderten.Vgl. die für Herbst/Winter 2012 geplanten Veröffentlichungen von Katja Patzel-Mattern. 369 Brief des Meisters Hahn an Kaebe betreffend Katastrophengesetz vom 03. März 1976, in: BAL 388/241 Werksverwaltung Leverkusen, Entwurf Katastrophenschutzgesetz / Entwurf Katastrophenabwehrplan / Gefahrenpunkte / Katastrophenabwehrplan 1972–1987. 370 Ebd. Handschriftlicher Vermerk.
3.2 Verkehrte Verhältnisse
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rie- und Handelstag ausgegebenen Merkblatts zum Katastrophenschutz erging dort per Werksmitteilung die Nachricht, dass entsprechende Handbücher zum Katastrophenschutz erworben werden sollten und dass sich „Henkel diesen Überlegungen gegenüber offen zeigen sollte“ woraufhin „alte Alarmpläne überarbeitet werden“ müssten.371 Der formal-institutionelle Kontext des Immissions- und Gewässerschutzes ebenso wie Anfänge eines gesetzlichen Katastrophenschutzes in Bezug auf chemische Produktionen hatten sich innerhalb eines halben Jahrzehnts gegen die tradierte Risikoproduktion der chemischen Industrie gewandt. Die betroffenen Unternehmen wurden von diesen gesetzlichen Regelungen regelrecht überrollt. Nach einem kurzen Versuch zu Beginn der 1970er Jahre, durch alte Argumentationen und Machtansprüche gegen diese Überlegungen des formal-institutionellen Kontexts vorzugehen, mussten sie den Verlust ihrer Reputation schnell erkennen. Die Verhältnisse hatten sich zu Gunsten des Immissions- und Gewässerschutzes bzw. hin zu einer rigiden Durchsetzung der neuen Umweltgesetzgebung gedreht. Eine Reintegration konnte nur gelingen, indem sich Bayer und Henkel dem institutionellen Druck beugten und begannen, sich organisatorisch, strategisch und strukturell allmählich den veränderten Bedingungen anzupassen. Einsicht in den Sinn dieser Anpassung sucht man in den Unternehmen bis in die Mitte der 1970er Jahre jedoch oft vergebens. Zwar hatten sich (Management-)Praktiken, Strategien und Strukturen verändert, und die geforderten Maßnahmen wurden adaptiert. Es wird sich aber im weiteren Verlauf zeigen, dass sich die allgemeinen Glaubenssysteme innerhalb der Unternehmen aufgrund des Einflusses des verschärften Immissionsund Gewässerschutzes nur sehr zäh verändern ließen. Die Art der Risikoproduktion konnte selbst von flexiblen Großkonzernen nur schwer in der vom Immissions- und Gewässerschutz geforderten Geschwindigkeit angepasst werden. Für den betrachteten Zeitraum ist noch ein letztes politisches Ereignis zentral, das die chemische Industrie Morgenluft wittern und hoffen ließ, sie könne zu ihrer Argumentation zurückkehren, wonach ökonomische vor ökologischen Bedürfnissen stünden. Die Rede ist von einem Spitzengespräch zwischen dem neuen Bundeskanzler Helmut Schmidt und Industrievertretern im Sommer 1975 auf Schloss Gymnich, bei dem es um die weitere Entwicklung des industriellen Umweltschutzes vor dem Hintergrund erhöhter Kosten372 bei den Unternehmen und der Rezession in der Folge der Weltwirtschaftskrise 1973/74 gehen sollte. Die Kontakte zwischen Bayer und Bundeskanzler Schmidt waren bereits seit Anfang 1975 recht intensiv; Schmidt besuchte im Februar das Werk Leverkusen. Hier sollte ihm ein „Handzettel“ übergeben werden, der die Sorgen des Werkes vor allem bezüglich der neuen Richtlinien zu den Genehmigungsverfahren beinhaltete.373 Wie aus einem Brief an 371 Werksmitteilung der Rechtsabteilung / RA Erben an Opderbecke u.a. betreffend Empfehlung für den betrieblichen Katastrophenschutz vom 28. Mai 1975, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Akte Katastrophenschutz. 372 Ich werde die gestiegenen Kostenblöcke für den Umweltschutz an späterer Stelle darstellen. Bis hier ist aber eine Zunahme von Transaktionskosten (Stichwort Genehmigungsverfahren) und Betriebs- sowie Sanierungskosten sicherlich einleuchtend. 373 Vgl. Weber an Broja betreffend Besuch Bundeskanzler Schmidt / Handzettel, der ggf. dem
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
Schmidt im Anschluss seines Besuches zu ersehen ist, waren die Fronten wohl immer noch verhärtet. Bayer strebte ein entspannteres Verhältnis zur Schmidt-Administration an, weshalb vorab diplomatischer Weise noch einmal beide Positionen berücksichtigt wurden: „Ihre [Schmidts, T.J] Ausführungen weckten reges Interesse. Wir stimmen mit Ihnen überein, daß die jetzige schwierige Situation nur in einer vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Regierung, Wirtschaft und ihren Mitarbeitern gemeistert werden kann. Insbesondere vertrauen wir darauf, daß die zukünftigen Gespräche zu einer pragmatischen Auslegung und Handhabung der inzwischen erlassenen und zu einer vernünftigen Gestaltung der zu erwartenden Umweltschutzgesetzgebung führen werden.“374
Dem Brief an den Bundeskanzler wurde eine hochwertige „Agfa“-Fotokamera beigelegt; das Spitzengespräch war also vorbereitet.375 Anhand vertraulicher Korrespondenzen zwischen dem Bayer-Bevollmächtigten für dieses Gespräch, Direktor Broja376, dem zuständigen Staatssekretär im Bundesministerium des Innern (BMI) Günter Hartkopf und dem VCI lassen sich die Positionen der Akteure und der dahinter stehende Aushandlungsprozess verdeutlichen. Diese einzigartigen Quellen dürfen als zaghafte Annäherung zwischen der chemischen Industrie und ihrem institutionellen Kontext gelten. Herbert Grünewald, der neue Vorstandsvorsitzende von Bayer, sollte bei diesem Gespräch eine führende Rolle spielen und stellvertretend für die chemische Industrie sprechen, weshalb der Zuständige des VCI an Broja schrieb: „Zur Vorbereitung des Kanzler-Gesprächs am 03. Juli 1975 über Umweltfragen habe ich […] die einführenden Worte für Prof. Grünewald entworfen.“377 Gleichzeitig stellte der VCI-Beauftragte klar, mit welchen Motivationen der Bundeskanzler aus seiner Sicht in das Gespräch gehen würde, und er entwarf eine Art Argumentationsstrategie für die chemische Industrie: „Tenor: Ökonomie vor Ökologie. Der Bundeskanzler hat Sorge, daß durch politisch-ideologisch motivierte Umweltschutzgesetze und sonstige Maßnahmen vermeidbare zusätzliche Unruhe in der deutschen Wirtschaft besteht oder entsteht. Er wünscht keine Umweltschutzaktivitäten, die zu weiteren wirtschaftlichen Belastungen der Wirtschaft und damit der Volkswirtschaft führen. Es wird darauf ankommen, nachzuweisen, welche konkreten wirtschaftlichen Auswirkungen sich aus: bestehenden Umweltschutzgesetzen, geplanten Umweltschutzgesetzen, einzelnen Umweltschutzmaßnahmen für einzelne Unternehmen (Betriebe), eine Branche (Chemie), die Volkswirtschaft ergeben.
374 375 376 377
Herrn Bundeskanzler übergeben werden kann, vom 13. Februar 1975, in: BAL 388/149 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Umweltschutz-Unterlagen für den Bundeskanzler. Bayer AG / Grünewald und Broja an Bundeskanzler Helmut Schmidt vom 20. Februar 1975, in: BAL 388/149 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Umweltschutz-Unterlagen für den Bundeskanzler. Vgl. ebd. Der Chemiker Dir. Dr. Gemran Broja war seit 1973 Vorstandssprecher für den Umwelt- und Personalbereich, vgl. Personenregister, Auszug German Broja, in: BAL 271/2. VCI an German Broja betreffend Kanzler-Gespräch vom 11. Juni 1975, in: BAL 388/246 Werksverwaltung Leverkusen, Gespräche mit Politikern: Hansmeyer, Bundeskanzler, Maihofer ab 1975.
3.2 Verkehrte Verhältnisse
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Es wird daher vorgeschlagen, die anstehenden Umweltprobleme […] eindeutig an den ökonomischen Konsequenzen für die Chemie und die Volkswirtschaft an Modellvorstellungen aufzuhängen. In dieser Richtung müßten auch die Vorbereitungen gehen, indem behauptet (und möglichst nachgewiesen) wird, daß die Umweltschutzmaßnahmen auf andere Sektoren der politischen Zielbereiche (Arbeitsplätze, Qualität des Lebens etc.) größere Negativwirkungen verursachen als Positivwirkungen im Umweltschutz, und zwar über eine Überbelastung des einzelnen Unternehmens, aber auch dann, wenn das Unternehmen (als theoretischer Fall) die Umweltschutzkosten in den Preisen weitergeben kann. Volkswirtschaftlich bleibt der Negativeffekt derselbe.“378
Dieser Aufforderung des VCI folgend, waren die einleitenden Worte für Grünewald geprägt von Stereotypen bezüglich des Kostenaufwandes von Umweltschutzmaßnahmen, einem zaghaft vorgebrachten aber nun wieder legitim erscheinenden Unverständnis gegen die Umweltgesetzgebungen. Sie waren ein Klagelied379 gegenüber dem institutionellen Kontext, und verbunden mit Mahnungen und Forderungen an den Bundeskanzler, den Umweltschutz nicht als Bremse des konjunkturellen Motors zuzulassen, sowie mit der Hoffnung auf eine neuerlich legitimierte und an die Verhältnisse angepassten Rückkehr in alte Handlungslogiken: „Wir haben alle ein Interesse daran, in der gegenwärtigen konjunkturell und strukturell schwierigen wirtschaftlichen Situation weitere Belastungen unserer Wirtschaft und damit der Volkswirtschaft zu vermeiden. Auch Unruhe und Unsicherheit auf dem Umweltsektor bringen neben den finanziellen Aufwendungen weitere Belastungen, die sich in immer neuen Forderungen [..] und neuen Konzepten der Umweltschutzpolitik manifestieren. Dieser Umwelt-Streß war schon bisher kaum durchzuhalten – heute könnte er zu einer weiteren bedrohlichen Zuspitzung der wirtschaftlichen Situation führen […]. Der Leistungskraft der Industrie sind hier Grenzen gesetzt [gemeint ist die Kostenbelastung für die Sanierung von Altanlagen ebenso wie für Neuanlagen, T.L.] und ich meine, diese Grenze ist inzwischen erreicht, wenn nicht überschritten worden. Hier setzt nun jene ökonomische Betrachtung ein, die leider bisher im Bereich des Umweltschutzes gefehlt hat. In Zeiten der Hochkonjunktur, des Wachstums und der ersten Ansätze einer eigenständigen Umweltschutzpolitik, die ganz auf die Beseitigung eines UmweltschutzDefizits ausgerichtet war, fanden Überlegungen über das Verhältnis Ökologie und Ökonomie nur wenig Resonanz. Heute müssen wir dieses Manko auffüllen, den bisher politisch und ideologisch überbetonten und wohl auch überbewerteten Umweltschutz in die übrigen politischen Zielvorstellungen einordnen und mit ihnen abwägen. Das heißt konkret: jede umweltpolitische Maßnahme muß über ihre technischen und rechtlichen Aspekte hinaus auch auf ihre ökonomischen Auswirkungen und Rückkoppelungseffekte hin überprüft werden. Jede Umweltschutzmaßnahme verursacht Kosten, die […] einzelwirtschaftliche und gesamtwirtschaftliche Effekte haben, über die bisher noch keine genügenden Untersuchungen vorliegen. Ein typisches Beispiel für die ökonomische Negativwirkung von Umweltschutzmaßnahmen ist die schleppende Abwicklung von Genehmigungsverfahren, die im vergangenen Jahr zu einem 378 Ebd., hier Anlage: Notwendige Argumentationen. Und an andere Stelle heißt es: „Seit dem Kanzlergespräch […] sind die Kontakte mit dem Bundesministerium des Innern besser geworden“ Aktennotiz der AWALU-Abteilung betreffend Bericht für die AWALU-Kommission vom 24. September 1975, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1974– 1977. 379 Hierzu auch Werner Kurzlechner, 2008, 302f.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel Investitionsstau von 3,3 Mrd. DM allein in der chemischen Industrie geführt hat, nachdem es im Jahre 1973 erst 1,8 Mrd. waren. Durch immer schärfere Umweltschutzvorschriften (Beispiel: neue TA Luft) und eine allgemeine Verunsicherung der Genehmigungsbehörden wegen des vermehrten Auftretens von Bürgerinitiativen und von Masseneinsprüchen konnten viele Projekte nicht rechtzeitig oder wegen veränderter Marktlage gar nicht mehr durchgeführt werden. […] Wir halten jede weitere Belastung […] in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation für unzumutbar und auch volkswirtschaftlich unvertretbar. Unsere Bitte geht nachdrücklich dahin, diese noch nicht entscheidungsreifen weiteren Umweltschutzvorhaben zurückzustellen.“380
Doch nicht nur der VCI wollte Grünewald als Stellvertreter des Industriezweiges gut auf das Kanzlergespräch vorbereitet wissen. Auch Staatssekretär Hartkopf aus dem Innenministerium schickte „zur vertraulichen Kenntnisnahme die Unterlagen, die der Bundesminister des Innern dem Herrn Bundeskanzler für das Klausurgespräch […] übersandt hat“ nach Leverkusen und fügte an: „Ich hoffe, daß Ihnen diese Unterlagen die Vorbereitung für das Gespräch erleichtern. Ich wäre dankbar, wenn wir diese Unterlagen zum Gegenstand unseres Gesprächs im Vorfeld des Treffens auf Schloss Gymnich machen können und wenn sie Ihrerseits mir die vorgesehenen Positionspapiere der Wirtschaft übersenden könnten.“381 Nach mehreren Jahren eines von der chemischen Industrie wahrgenommenen Diktats des Umweltschutzes sah es aufgrund der ersten ernsthaften wirtschaftlichen Misere nach dem Zweiten Weltkrieg wieder nach einer Annäherung und Auffrischung der kooperativen Beziehungen zwischen dem institutionellen Kontext und der chemischen Industrie aus. Die Positionen, mit denen der Bundeskanzler in das Klausurgespräch trat, können an folgenden Thesen verdeutlicht werden: Schmidt betonte zunächst die Wichtigkeit des Umweltprogramms. Sicherlich ging es ihm hiermit darum, der chemischen Industrie Grenzen aufzuzeigen, womit ihre Hoffnungen auf weit reichende Reformen oder eine Revision der Umweltpolitik unbegründet waren: „1. Die Umweltpolitik der Bundesregierung wurde aus einer umfassenden und sorgfältigen Bestandsaufnahme der Situation heraus im Umweltprogramm von 1971 entwickelt. Die finanziellen Auswirkungen der geplanten Umweltmaßnahmen wurden mit einer Maximalbelastung von 1,8 v.H. des Bruttosozialprodukts von 1971 prognostiziert“, wobei die Gesetzgebungen hierzu weitgehend abgeschlossen seien.382 Langfristig sei es das Ziel der Bundesregierung „nicht nur auf Umweltschäden im Nachhinein zu reagieren, sondern durch vorausplanende Maßnahmen gesundheit380 VCI an German Broja betreffend Kanzler-Gespräch vom 11. Juni 1975, hier Anlage für Prof. Grünewald zum Kanzlergespräch am 03. Juli 1975 in Gymnich, in: BAL 388/246 Werksverwaltung Leverkusen, Gespräche mit Politikern: Hansmeyer, Bundeskanzler, Maihofer ab 1975. 381 Vgl. Dr. Günter Hartkopf / Staatssekretär im Bundesministerium des Innern an das Mitglied des Vorstandes der Bayer AG Herrn Direktor Dr. German Broja vom 18. Juni 1975, in: BAL 388/246 Werksverwaltung Leverkusen, Gespräche mit Politikern: Hansmeyer, Bundeskanzler, Maihofer ab 1975. 382 Dr. Günter Hartkopf / Staatssekretär im Bundesministerium des Innern an das Mitglied des Vorstandes der Bayer AG Herrn Direktor Dr. German Broja vom 18. Juni 1975, hier Anlagen Thesen zu Umweltpolitik und Wirtschaft, in: BAL 388/246 Werksverwaltung Leverkusen, Gespräche mit Politikern: Hansmeyer, Bundeskanzler, Maihofer ab 1975.
3.2 Verkehrte Verhältnisse
181
liche Beeinträchtigungen zu vermeiden und das Wachstum unserer Volkswirtschaft zu sichern. Dabei ist die Kooperation mit der Wirtschaft unerlässlich.“ Hier deutete Schmidt abermals an, dass am Verursacher- und Vorsorgeprinzip nicht mehr zu rütteln war. Er verwies gleichermaßen auf das ökonomische Potenzial des Programms, wobei er Grünewald gleichzeitig das Interesse der Bundesregierung an der Mitarbeit der chemischen Industrie signalisierte. In diesem Tenor fuhr Schmidt auch fort: „Die gegenwärtige konjunkturelle und finanzielle Situation gibt Anlaß, die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen umweltpolitischer Maßnahmen deutlicher als bisher zu kennzeichnen. Dabei sind Kosten und Erträge auch im Hinblick auf längerfristige Auswirkungen abzuwägen. Unzumutbare kurzfristige oder sektorale Belastungen können durch angemessene Stufen- und Übergangsregelungen aufgefangen werden. Insgesamt gesehen sollten die Belastungen der Wirtschaft diejenigen in anderen hochindustrialisierten Staaten (Japan/USA) nicht überschreiten.“383
Diese Stelle dürfte bei den Industrie-Vertretern eine gewisse Euphorie hervorgerufen haben, die jedoch sofort wieder gedämpft wurde. Der Bundeskanzler war nicht willens, die seit einigen Jahren existente Verbindung zwischen freiheitlicher Gesellschaftsordnung und den damit transportierten Werten und Normen und dem Umweltschutz aufzugeben. Damit demonstrierte er gegenüber der chemischen Industrie jene Nachhaltigkeit auch des politischen Feldes in Bezug auf den Umweltschutz, die durch das Umweltprogramm entstanden war: „In unserer freiheitlichen Gesellschaftsordnung ist jeder für die durch ihn verursachte Beeinträchtigung der Umwelt verantwortlich. Die konsequente Anwendung des Verursacherprinzips im Umweltschutz ist eine zwingende Folge der Selbstverantwortung auch in der Wirtschaft. […] Die Bundesregierung strebt kontinuierlich an, das Regelwerk im Umweltschutz weiter zu vervollständigen, zu vereinheitlichen und das Verfahren zu beschleunigen. Dadurch erhält die Wirtschaft gesicherte Grundlagen für ihre Investitionsplanungen.“384
Aus Sicht Schmidts hatte sich die chemische Industrie mit dieser neuen gesellschaftlichen Ordnung auch trotz der konjunkturell schwierigen Situation zu arrangieren. Nach dieser Leseart könne sich der Industriezweig nur hierdurch als gesellschaftlicher Akteur rehabilitieren bzw. weiterhin legitimiert sein. Unter dem Stichwort „Public-acceptance“ verfolgte der Bundeskanzler diesen Gedanken weiter und hob insbesondere das von ihm zugedachte neue Verhältnis zwischen der Öffentlichkeit, der Politik und der chemischen Industrie hervor. Hier wird sehr deutlich, dass Schmidt die Gefahren der chemischen Risikoproduktion erkannte und sie der bundesdeutschen Öffentlichkeit nicht mehr um jeden Preis zumuten würde; es müsse von beiden Seiten ein Geben und Nehmen sein, ohne eine Vormachtstellung irgendeines gesellschaftlichen Akteurs: Durch rationale und wahrhaftige Aufklärung der Bevölkerung sowie durch einen ständigen Dialog mit Umweltverbänden und Initiativen sollen Emotionen abgebaut und Brücken zwischen Wirtschaft und Bürgern geschlagen werden. Die Öffentlichkeit muß durch sachliche und umfassende Informationen in die Lage versetzt werden, Chancen und Risiken einer expansiven 383 Ebd. 384 Ebd.
182
3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel Volkswirtschaft vernünftig abzuwägen und das zumutbare Restrisiko einer hochindustrialisierten Volkswirtschaft auch örtlich oder regional zu tragen. […] Umweltpolitik ist kein Selbstzweck. Eine Gefährdung der Gesundheit der Bürger oder irreparabler Schäden bei den knappen Ressourcen sind zu verhindern. Ordnungs- und Lenkungsmaßnahmen haben sich auf dieses Ziel auszurichten.“ Kein Stillstand in der Umweltpolitik: Ein Stillstand im Umweltschutz aus kurzfristigen konjunkturellen Erwägungen brächte einschneidende Konsequenzen mit sich. Außer mit gesundheitsbezogenen (Zunahme von Herz- und Kreislaufversagen, Krebs, Erbschäden) und ökonomischen Folgewirkungen müßte mit einer Radikalisierung der öffentlichen Meinung gerechnet werden. Dies zwingt dazu, über die Gegenwart hinauszusehen und den Umweltschutz ohne isolierte substantielle Abstriche ebenso fortzuführen wie Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz und soziale Sicherung.“385
Die Positionen der chemischen Industrie können in einer Kurzfassung des Referats vom Vorstandvorsitzenden der Bayer AG Grünewald exemplifiziert werden; sie gingen dem Innenministerium wie erbeten zu. Erstaunlich ist dabei ein gemäßigterer Tonfall sowie eine gemäßigtere Haltung der chemischen Industrie, als dies in der Korrespondenz direkt zwischen Bayer und dem VCI zu Tage getreten war. Wir dürfen also daraus schließen, dass es Grünewald dann doch vorzog, eine defensive Haltung einzunehmen und auf weitere Diplomatie zu setzen. Alle Forderungen und Diskussionspunkte waren jene, mit denen die chemische Industrie ökonomische Nachteile verband bzw. es ging um jene politischen Forderungen, die der Industriezweig seit Jahren monierte: Die Wirtschaft bejaht den Umweltschutz. Ihre Vorstellungen gehen aber von einem ausgewogenen Verhältnis von Ökonomie zu Ökologie aus. Um dies bei den gesetzgeberischen Maßnahmen zu gewährleisten, schlägt sie ein Koordinierungsgremium […] vor, das die Grundlagen für neue Umweltschutzmaßnahmen gemeinsam erarbeitet. Ein solches Vorgehen würde auch in wirtschaftlich schwierigen Situationen gewährleisten, daß es zu keinen gesamtwirtschaftlichen Negativwirkungen durch den Umweltschutz kommt. […] Die Industrie plädiert dafür, daß man den Geltungsbereich von Gewässerschutzabkommen nicht auf einen Fluss begrenzen, sondern auf ganz Europa ausdehnen sollte, um Wettbewerbsnachteile […] zu vermeiden. Im nationalen Bereich will man durch eine Abwasserabgabe […] die Wassergüte der Gewässer verbessern. Die Industrie glaubt, daß die gegenwärtigen Entwürfe noch nicht verabschiedungsreif sind und die Diskussion über technische Grundlagen fortgesetzt werden sollte. […] In den letzten Jahren führten die Neuerungen [bei Genehmigungsverfahren, T.J.] zu einem Investitionsstau. Die verzögerte Abwicklung, die zum Teil durch die vermehrte Einschaltung der Öffentlichkeit hervorgerufen wurde, führt zu Wettbewerbsnachteilen […]. Die Neufestsetzung der Immissionswerte auf dem Luftsektor erzwingt bei einer Reihe von Produktionen einschneidende Maßnahmen. Hier sollte eine Gleichbehandlung von Verkehr und Industrie erfolgen. Bei all diesen Einzelpunkten glaubt die Wirtschaft, daß durch Institutionalisierung der Zusammenarbeit aller beteiligten Kreise sinnvolle Lösungen gefunden werden können und auch das ökonomische Prinzip im Umweltschutz Berücksichtigung findet.386 385 Ebd. 386 Ebd.
3.2 Verkehrte Verhältnisse
183
Außerdem wurde eine Darstellung der zentralen Probleme im alltäglichen Geschäft aus Sicht der AWALU-Abteilung an das Innenministerium weitergeleitet, damit, so Broja, „das Verständnis für die Standpunkte des anderen gefördert wird.“387 Diese Schilderungen der werksinternen Umweltschützer bei Bayer geben uns abermals Hinweise auf die Probleme, mit denen das Werk zu kämpfen hatte. Durch die Erzeugung von Verständnis – so könnte man mutmaßen – wollte Broja auch eine Politik der Milde und Nachsicht gegenüber Bayer erzeugen. Zweifellos war damit aber die Hoffnung auf eine Abnahme des institutionellen Drucks verbunden. Mit einer solchen Aktion in der Folge eines Gesprächs mit dem Bundeskanzler zeigt sich gleichzeitig auch eine allmählich veränderte Sinnorientierung gegenüber dem Immissionsund Gewässerschutz innerhalb des Unternehmens seit der Mitte der 1970er Jahre. Gegenüber dem Bundesinnenministerium wurde aus Sicht des operativen Tagesgeschäfts einerseits Verständnis für den Umweltschutz demonstriert und gleichzeitig eine betriebswirtschaftliche Argumentation hervorgehoben. Eine gewisse Annäherung von beiden Seiten ist hier sicherlich nicht zu leugnen, wobei nach meiner Einschätzung das Gymnicher Gespräch eher zugunsten der Bundesregierung bewertet werden sollte. Eine vollends geöffnete Unternehmenspolitik und ein vollständig geändertes Verständnis von Bayer für die Belange der Menschen in der Werksumwelt sind jedoch auch im Jahr 1975 noch nicht zu erkennen. Wir finden also 1975 eine Situation, in der staatliche Eingriffe (oft immer noch) zähneknirschend anerkannt waren, die Mitbestimmung der Menschen um die Werke herum jedoch immer noch als ungelegen und fremd angesehen wurde. Bayer wollte seine alte Macht- und Deutungshoheit gegenüber der betroffenen Nachbarschaft noch nicht ganz aufgeben. Auch dies wurde abschließend dem Bundesinnenministerium mitgeteilt: „Sozialbindung des Nachbarschutzes: Investitionsentscheidung der Industrie erschwert durch: minimalen Rechtsschutz für Unternehmen, z.B. bei Werksneugründungen, aber Übermaß für die Nachbarschaft (6-stufiges Genehmigungs- und Einspruchsverfahren). Mitbestimmung der Nachbarschaft neben der Sachentscheidung der Behörde. […] Kleine Änderungsvorhaben an existierenden Anlagen werden den gleichen umständlichen Genehmigungsverfahren wie Neuanlagen unterworfen. Besser wäre: Ermessensspielraum für die Behörde ohne Intervention der Nachbarschaft.“388
Mit gemischten Gefühlen, aber dennoch mit optimistischem Blick in die Zukunft meldete der Zuständige des VCI an die Mitglieder: „Über die Konsequenzen aus dem Kanzlergespräch lässt sich im Augenblick noch nichts Endgültiges sagen, jedoch besteht der Eindruck, dass entgegen mancher Presseveröffentlichung und den Ausführungen des Bundesministers doch eine gewisse Neuorientierung der Umweltschutzpolitik insofern erfolgen wird, als die ökonomischen Konsequenzen mehr als bisher berücksichtigt und auch in der Zusammenarbeit mit der Industrie verbessert werden sollen.“389 387 Ebd. 388 Ebd. 389 VCI an die Mitglieder des Ausschusses Technik und Umwelt betreffend Kanzler-Umweltgespräch am 03. Juli 1975 vom 23. Juli 1975, in: BAL 388/246 Werksverwaltung Leverkusen, Gespräche mit Politikern: Hansmeyer, Bundeskanzler, Maihofer ab 1975.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
Die Einschätzung des VCI wies für die Branche positiv in die Zukunft. Sicherlich kann zu diesem Zeitpunkt in der Mitte des Jahres 1975 festgehalten werden, dass sich nach nahezu fünf Jahren eine Abmilderung des institutionellen Drucks auf die chemische Industrie abzeichnete oder durch die Branche wenigstens vermutet werden konnte. Es wird sich jedoch zeigen, dass die ohne Zweifel wieder angestrebte Vormachtstellung der chemischen Industrie nicht realisiert werden konnte. Zwar war das Verhältnis seit dem Gymnicher Gespräch nicht mehr von Misstrauen und einseitiger Machtverschiebung zugunsten von Umweltschutzgesetzgebungen geprägt; wir beobachten eine Wiederannäherung und kooperative Beziehungen. Doch war an den bestehenden gesetzlichen Regelungen nicht mehr zu rütteln, und nur auf dieser Basis sollte ein Ausgleich von Ökonomie und Ökologie erreicht werden. Es wurde der chemischen Industrie in aller Deutlichkeit aufgezeigt, dass der Umweltschutz Bestand haben werde. Und so dürfte die Einschätzung des VCI aus dem Jahr 1973 bezüglich der formalen Umweltschutzgesetzgebung immer noch gelten: „Hieraus haben wir uns mit allem Nachdruck aus rein sachlichen Gründen zu wehren versucht, sind aber an der politischen Konstellation gescheitert.“390 Die hohe Kostenbelastung wurde von nun an vom institutionellen Kontext anerkannt; darin bestand sein Entgegenkommen. Jedoch wurde den Unternehmen suggeriert, dass sie sich von nun an strategisch, organisatorisch und operativ besser auf diese kostspieligen Maßnahmen für den Umweltschutz einzustellen hatten, wofür sie einen gewissen Zeitraum erhielten. Hierzu wurde ihnen in Aussicht gestellt, es werde vorerst keine neuen Gesetze geben, ebenso sollten beispielsweise die Genehmigungsverfahren vereinfacht werden. Der Umweltschutz musste Einzug halten in unternehmenspolitische und organisatorische Prozesse. Das Gymnicher Gespräch darf als weiterer Anreiz hierfür gesehen werden, der effizient in den Unternehmen gestaltet werden musste, um keine Wettbewerbsverluste zu erleiden. Eine Abkehr vom Prinzip der schützenswerten natürlichen und lebensweltlichen Umwelt war nicht mehr zu erwarten, was sich unter anderem am strikten Festhalten am Verursacherprinzips zeigte. Im Hinblick auf die Selbstverantwortung der chemischen Industrie hatte sich die Perspektive verändert: Selbstverantwortung hieß nun, unter Risiko für die natürliche und lebensweltliche Umwelt zu produzieren und dabei den Umweltschutzgedanken effizient zu implementieren; Schäden waren möglichst zu vermeiden bzw. mit entsprechenden Konsequenzen belegt. Dies alles wurde auch von der AWALU-Kommission in Leverkusen antizipiert: Unter Berücksichtigung der Gymnicher Gespräche reklamierten die Fachleute gegenüber dem Werksleiter Weise, es müsse in der Zukunft darum gehen, Ökologie und Ökonomie nicht mehr als diametral entgegenstehende Aspekte unternehmerischer Aktivität zu sehen. Die Kommission plädierte für eine langfristige Anpassung von Produktionen und Strukturen der chemischen Industrie in allen Umwelt(schutz)fragen.391 Der Umweltschutz wurde zu einem zentralen Baustein der deutschen Innenpolitik und des Sozialstaates, was der chemischen Industrie nicht verborgen blieb, 390 Opderbecke an ZGF betreffend VCI-Ausschuss für „Technik und Umwelt“ vom 02. Januar 1973, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke Berichte (Duplikate) 1972. 391 Vgl. AWALU-Kommission an Weise betreffend Ökologie und Ökonomie vom 09. Dezember 1975, in: 388/140 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU allgemein ab 01.07.1974.
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3.2 Verkehrte Verhältnisse
und was sie zu akzeptieren hatte. Dies galt auch vor dem Hintergrund des Teilerfolges, dass die weiteren ökonomischen Belastungen in Grenzen gehalten werden sollten. Aufgrund der Institutionalisierungsprozesse im Äußern der Unternehmen waren neue Kosten-Nutzenkalküle in strategische, organisationale und operative Überlegungen einzubeziehen. Exemplarisch zeigen dies die Aufwendungen für Umweltschutzanlagen bei Bayer bis 1981: Wir beobachten zunächst relativ gleich bleibende Anteile für Umweltschutzinvestitionen in Bezug auf die Gesamtsumme der Investitionen, doch ab 1973 springen sie auf ein höheres Niveau. Die absoluten Werte der Umweltschutzausgaben steigen ebenfalls seit dem Jahr 1970 an, um dann Action Title kurzzeitig wieder abzufallen. Ab 1974 sind sie jedoch ungleich höher als in den Jahren zuvor und steigen auch gegen Ende der 1970er Jahre noch einmal an. Abb. 6: Umweltschutz….. Jahr
Gesamtinvestitionen in Sachanlagen in Mio. DM
davon Investitionen in Umweltschutzanlagen (Neuinvestitionen, Altanlageninvestitionen, Betriebs- und Forschungskosten) in Mio. DM
Anteil Umweltschutzinvestitionen zu Sachanlagen in %
1963
571
23
4,0
1964
635
36
5,6
1965
780
50
6,4
1966
1059
44
4,1
1967
739
36
4,8
1968
664
42
6,3
1969
1340
65
4,8
1970
1872
91
4,8
1971
1501
65
4,3
1972
1135
54
4,7
1973
1213
74
6,1
1974
1797
111
6,3
1975
1903
99
5,2
1976
1653
109
6,7
1977
1889
120
6,3
1978
1727
133
7,8
1979
2240
170
7,6
1980
2659
165
6,3
1981
2539
130
5,1
JJMMTT_Berichtstitel_Kürzel
Abb. 6: Umweltschutzausgaben von Bayer seit ihrer Erhebung392
392 Umweltschutzausgaben der Farbenfabriken Bayer bzw. der Bayer AG seit ihrer Erhebung. Eigene Zusammenstellung aus den entsprechenden Geschäftsberichten sowie der Kalkulationen aus den Jahresberichten der AWALU- Abteilungen bzw. -kommission. Aus dem Bestand der Ingenieurverwaltung, BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor, verschiedene Jahrgänge. Die Investitionswerte sind in Mio. DM ausgewiesen.
186
3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
Das Gymnicher Gespräch signalisierte der chemischen Industrie auch die neuen Einstellungen, die die Bundesregierung mit ihrer Umweltschutzpolitik verband, und die in einem wechselseitigen Verhältnis zu den neuen Sinndeutungen einer schützenswerten natürlichen und lebensweltlichen Umwelt standen. Von einer protestbereiten Öffentlichkeit konnte keine Anpassung mehr an die Umweltgefahren erwartet werden, und dies wurde der chemischen Industrie ebenfalls in aller Deutlichkeit vor Augen geführt. Im Sinne der neuen Vorstellung vom mündigen Bürger hatten die Menschen in der Bundesrepublik – und auch hier lag ein Novum, da es sich nicht mehr um regional begrenzte Aktionen gegen die Risikoproduktion der chemischen Industrie handelte – nun selbst zu entscheiden, ob eine gesunde Volkswirtschaft oder der Schutz der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt in ihrem Verständnis wichtiger waren. Außerhalb der Unternehmen herrschte nun eine kulturelle Sinndeutung vor, in denen der Umweltschutz mit Sicherheitsaspekten gleichgesetzt wurde. Was wenige Jahre zuvor noch als Kollateralschaden im Störoder Unfall bzw. als notwendiges Übel im alltäglichen Produktionsbetrieb von außen zugeschrieben wurde, galt nun als schadensträchtig, eventuell sogar Tod bringend und gefährdend, womit die alte chemisch-technische Risikoproduktion nicht mehr länger legitim und wünschenswert war. Durch das neu erwachsene Kräfteverhältnis zu Gunsten des formalen Immissionsschutzes, der zuständigen Aufsichtsbehörden und der Menschen in der Bundesrepublik sowie ihren veränderten Gefahrenzuschreibungen, drehten sich die Machtverhältnisse zugunsten des kulturellen Umfelds der Unternehmen. Wie dies im Einzelnen aussah, werde ich im Folgenden anhand der nun anfallenden Aushandlungsprozesse zwischen Unternehmen, Protestbewegungen und teilweise den zuständigen Überwachungsbehörden aufzeigen. Anfeindungen und Unverständnis schlugen den Unternehmen entgegen, daran hatte auch das Gymnicher Gespräch im Juli 1975 nichts geändert. Zudem verfielen die Unternehmen trotz zwischenzeitlicher Hoffnungen auf eine Restauration der alten Verhältnisse nicht wieder in alte Handlungs- und Einmischungsstrategien zurück. Der These dieser Arbeit folgend bedeutet das, dass kulturelle Einflüsse in der Folge von gesellschaftlichem Wertewandel gleichfalls eine mächtige, wenn nicht sogar stärkere Wirkung auf Unternehmenshandeln besitzen, als dies bei formalen Institutionen der Fall ist. Eine entsprechende Vorahnung war auf Unternehmensseite bereits vor dem Gymnicher Gespräch formuliert worden: Auf einer Produktionsleiter-Konferenz bei Henkel unterstrich Friedrich Bohmert, dass die neuen gesellschaftlichen Sinndeutungsmuster sich trotz der Wirtschaftskrise hartnäckig halten würden: „Noch vor einigen Wochen hätte ich leichter die Feststellung treffen können, daß Umweltschutz als Thema der Öffentlichkeit doch sehr in den Hintergrund geraten ist und von den wirtschaftlichen Ereignisse unsere Tage überlagert wird. […] Was den Umweltschutz unseres Werkes […] angeht, so scheint das öffentliche Interesse daran […] im Augenblick doch wieder größer zu sein.“393 Die Richtigkeit dieser Feststellung Bohmerts werde ich durch die von mir zu Beginn dieses Unterkapitels eingeführten Prämissen eines entstandenen Umweltbewusst393 Stabsstelle Public Relations betreffend Vortrag für Dr. Bohmert auf der Produktionsleiterkonferenz am 29.03.1974 im Hause vom 19. März 1974, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Einzelakte 36 Umweltschutz 1973–75.
3.2 Verkehrte Verhältnisse
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seins, einer neuen Sinnorientierung der bundesdeutschen Gesellschaft und eines damit verbundenen Perspektivenwechsels hin zu einer schützenswerten natürlichen und lebensweltlichen Umwelt sowie einer damit korrespondierenden „apokalyptischen Kosmologie“394 der westdeutschen Umweltbewegung exemplifizieren. 3.2.2 Machtumkehr – Sinnverschiebung des organisationalen Feldes und zunehmender Protest gegen die Unternehmen Ich habe bei der Darstellung der Veränderungen im Immissions- und Gewässerschutz gezeigt, welche heftigen formal-institutionellen Forderungen von außen auf die chemische Industrie hereinstürzten. Dieser Druck beruhte auf einem gewandelten organisationalen Feld und veränderter Gefahrenzuschreibung. Es muss daher gefragt werden, wie die Unternehmen diese veränderten Sinnmuster außerhalb der formalen Gesetzgebung wahrnahmen, welche Tragweite sie ihnen zumaßen und welche Konsequenzen für die eigene Wahrnehmung ihrer Risikoproduktion und des allgemeinen Umgangs mit ihren produktionsinduzierten Risken sich hieraus ergaben. Beginnen möchte ich im Jahr 1972: Ein neu gegründetes Netzwerk von Umweltschutzbeauftragten der Henkel-Werke – und hier ist bereits eine organisatorische Maßnahme zu erkennen – diskutierte die aktuellen Probleme bei einer Vortragsreihe in Düsseldorf. Zunächst erläuterte der Ingenieur Funck seine Perspektive, wie sie auch im operativen, chemisch-technische Bereich wahrgenommen wurde: Die Öffentlichkeit, wie sie einem Unternehmen, das chemisch-technische Verfahren zur Herstellung seiner Produkte einsetzt, entgegentritt, sei durch drei Säulen repräsentiert: die Bürgerschaft, die Publizistik und die Organe des Staates und der Behörden. Zwischen diesen Gruppen besteht eine Interdependenz. […] Zum heutigen Zeitpunkt ist das industrielle Unternehmen in seinem Bestand und in den Auswirkungen seines Handelns einer vielfältigen und teils sehr gezielten Kritik der Öffentlichkeit ausgesetzt. Das beginnt bei den Emissionen und erstreckt sich auf das Ausfließen chemischer Flüssigkeiten […]. Auch die Gefahr von Explosionen […] ortsfester Anlagen werden ausführlich publiziert und besprochen.“395
Noch deutlicher wird der Chef der Öffentlichkeitsarbeit von Henkel, Friedrich Bohmert. Er darf zusammen mit dem Firmenchef Konrad Henkel sicherlich als ein Pionier des Umweltschutzes im Düsseldorfer Stammwerk gelten. Friedrich Bohmert und Konrad Henkel zielten auf Konsens und nicht auf Konflikt. Bohmert erkannte ebenso wie Konrad Henkel die Bedeutung des Themas für einen Konsumgüterher394 Vgl. Andreas Pettenkofer: Erwartung der Katastrophe, Erinnerung der Katastrophe. Die apokalyptische Kosmologie der westdeutschen Umweltbewegung und die Besonderheit des deutschen Risikodiskurses, in: Lars Clausen / Elke M. Geenen / Elísio Macamo (Hg.): Entsetzliche soziale Prozesse. Theorie und Empirie der Katastrophen, Münster 2003, S. 185–204. 395 „Das Industrielle Unternehmen in der Öffentlichkeit – Dargestellt am Beispiel des Immissionsschutzgesetzes“, Referat von Dr. Paul Funck auf der Konferenz der Umweltschutzbeauftragten der Henkel-Werke am 04. Juni 1972, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Umweltschutz-Kommission / Konferenzen 1971–1973.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
steller mit direktem Kundenkontakt, womit die Wahrnehmung zweier Strategen bei Henkel zum Thema Umweltschutz und der möglichen Folgen für das Unternehmen bei seiner Nichtbeachtung ebenso deutlich wird, wie die hieraus abgeleiteten Maßnahmen. Bereits im April 1971 stellte Konrad Henkel vor einer Betriebsversammlung seine Ansichten zum Umweltschutz dar. Zwar hielt er weiterhin nicht allein die Industrie für „den Bösewicht“, der Umweltgefahren heraufbeschwor. Aber er erkannte bereits in dieser frühen Phase, wie sich die Sinndeutungen gegenüber der chemischen Industrie gewandelt hatten und wie dringend notwendig eine Reaktion hierauf war: „Gewiss, von der Industrie wurden und werden leider noch immer in dieser Hinsicht böse Fehler gemacht. Sie ließen sich von Anfang an vermeiden, wäre man umweltbewusster und von Anfang an bereit, […] entsprechende zugegebenermaßen oft teurere Vorkehrungen zu treffen, um die nähere Umgebung und die dort wohnende Bevölkerung […] zu schützen. Durch ihre stark emotional, oftmals rein polemische Kritik wird ein Klima der Hysterie geschaffen, in dem sachliche Diskussionen und nüchterne Betrachtungsweisen nicht mehr möglich sind.“396 Unter der Prämisse dieser sich anbahnenden „Hysterie“ erarbeitete Friedrich Bohmert ein Papier für die PR-Strategie des Unternehmens im kommenden Jahrzehnt. Er erkannte: „[E]ine stetige Linksorientierung der Öffentlichkeit und des sozialen Unbehagens gegenüber Industrieunternehmen (z.B. Demokratisierungsdiskussion […]). Diese Entwicklungen zwingen uns, um den goodwill vor allem der qualifizierten Öffentlichkeit zu werben […].“397 Bereits 1971 war er der Ansicht, dass eine Öffnung des Unternehmens unbedingt notwendig werde, was in eine minutiös vorbereitete strategische PR-Aktion mündete, die den Namen „Gespräch mit den Nachbarn“ trug. Bohmert sah in einer solchen Aktion sowohl Chancen als auch Gefahren. Er erkannte, dass das „Gespräch mit den Nachbarn“ stattfinden musste, um der starken Unterstützung durch die Medien entgegenzuwirken und damit den Anschluss als gesellschaftlicher Akteur nicht zu verlieren. Sehr deutlich machte er jedoch bereits zum Beginn der 1970er Jahre, dass die chemische Industrie nicht mehr umhin kam, Fehler der Vergangenheit einzugestehen. Sicherlich finden wir in seinem Vorhaben immer noch alte Gedanken, die von der Möglichkeit einer Steuerung der Bürgerschaft ausgehen und damit belegen, dass auch Bohmert die vergangene Macht der chemischen Industrie immer noch vor Augen hatte. Erstaunlich in diesem Zusammenhang ist aber auf der anderen Seite, dass der Chef der Öffentlichkeitsarbeit von Henkel bereits zu diesem frühen Zeitpunkt erkannte, dass gesellschaftspolitische, sozio-ökonomische Verhältnisse und gesellschaftliche Erwartungshaltungen erfasst und ausgewertet werden mussten. Dies geschah jenseits einer einfachen Marktanalyse, die einzig auf den Verkauf bzw. die zielgerichtete Anpreisung der Henkel-Produkte hinarbeitete. Die Überlegungen Bohmerts zur Vorbereitung und Zielsetzung des „Gesprächs mit den Nachbarn“ deuten klar dar396 Vgl. „Bemerkungen zur Umweltdiskussion“, Rede von Dr. Konrad Henkel vom 29. April 1971, S. 1–3, in: Konzernarchiv Henkel Stabsstelle Öffentlichkeitsarbeit, Firmenbildstudien 1969– 1983, ohne Signatur. 397 Stabstelle PR / Dr. Bohmert Das PR-Konzept des Unternehmens Henkel in den 1970er Jahren vom 28. April 1970, in: Konzernarchiv Henkel H50/I, Abteilungsbesprechungen PR und Presse 1969–1974.
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auf hin, wobei sich seine angedachte Offensiv-Strategie nicht als möglich erweisen wird, worauf ich später zurückkomme: „Das wachsende ‚Umweltbewußtsein‘ der Öffentlichkeit wird zunehmend sichtbar in Umweltschutzaktionen der Bevölkerung [….]. Die für die Industrie direkt spürbaren Ausflüsse sind die Gründung von örtlichen Umweltschutzverbänden und Protesten vor den Fabriktoren. Umweltschutzaktionen der Bürgerschaft sind ein bestimmter Faktor in der allgemeinen Umweltdiskussion geworden, weil sie – unterstützt durch Presse, Funk und Fernsehen – die politischen Kräfte mobilisieren. […] In zunehmendem Maße geraten die großen umweltschädigenden Industrieunternehmen besonders im Süden Düsseldorfs ins Schussfeld umwelt-engagierter Bürger. Das Unternehmen Henkel war bereits sichtbares Angriffsziel, als die ‚Aktion‘ […] vor den Toren des Werkes Holthausen zum Protest aufmarschierte […]. Besser organisierte Protestaktionen sind in der Zukunft zu erwarten. […] Angesichts dieser Erscheinung dürfte außer Frage stehen, daß eine langfristige Ignorierung der örtlichen ‚Umweltschützer‘ durch das stadtgrößte Unternehme Henkel den Standpunkt der Kritiker verhärtet, ihre Resonanz in der Presse steigert und damit das Image Henkels verschlechtern würde. Aus diesem Grund hat die ST-PR Überlegungen angestellt, wie der kaum zu umgehende Umwelt-Dialog mit der Bevölkerung bzw. den umwelt-engagierten Gruppen richtig zu beginnen und vor allem: rechtzeitig zu steuern ist. Der Offensiv-Strategie der örtlichen ‚Umweltschützer‘ Antwort gebend könnte eine ebenfalls offensiv angelegte PR-Aktion ‚Gespräch mit den Nachbarn‘ dieses Ziel erreichen. Als vorläufige Aktionsmaßnahmen werden vorgeschlagen: Pressegespräch, Tag der Offenen Tür, Vereinskontakte, Umweltschutzbeilage […]. Das Risiko: […] Informationen über Henkels bisherige Umweltschutzmaßnahmen liefern den Kritikern den ‚Beweis‘ für unzureichende Investitionen. Trotz des zweifellos vorhandenen Risikos muß dieses ‚Gespräch mit den Nachbarn‘ nach Ansicht der ST-PR gesucht werden, weil ein Nichthandeln langfristig das Risiko schwerer Schäden für das Ansehen des Hauses vergrößert – insbesondere durch den Zugzwang, in dem die Verwaltung und die politischen Gremien der Stadt Düsseldorf gegenüber Henkel durch öffentliche Bürgerinitiativen geraten könnten.“398
In Bezug auf das Thema Umweltschutz bezog Bohmert hier die von seinem technischen Kollegen Funck angesprochenen drei Säulen aufeinander, und er reflektierte sie, indem er die neu transportierten Sinnmuster der kulturellen Rahmung von Henkel dechiffrierte. Damit nahm Bohmert dem Management wohl die letzte Hoffnung, an alten Argumentationen und unternehmensinternen Handlungsmustern und Gewohnheiten festhalten zu können: „Es ist überraschend, wie die Umweltproblematik erst in den letzten Jahren in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gedrungen ist und heute, das wissen wir aus Untersuchungen, einen Angst-Faktor für weite Kreise der Bevölkerung darstellt. Die Öffentlichkeitsarbeit […] sollte einen Beitrag leisten, die eigene Firmenpolitik so weit wie möglich in ein gesellschaftspolitisches Konzept einzubauen.“399 398 Vorschlag der Stabstelle PR / Dr. Bohmert PR-Aktion „Gespräch mit den Nachbarn“, in: Konzernarchiv Henkel H50/I, Abteilungsbesprechungen PR und Presse 1969–1974. 399 „Problematik des Umweltschutzes in der Öffentlichkeitsarbeit“, Referat von Dr. Friedrich Bohmert am 04. Juni 1972, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Umweltschutz-Kommission / Konferenzen 1971–1973.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
Beinahe beschwörend forderte Bohmert die Anwesenden auf, sie müssten sich auf diese neue Situation einstellen. Die Unternehmenspolitik eines modernen Unternehmens müsse sich äußeren Erwartungshaltungen stellen. Hierzu sei es unerlässlich, das innere institutionelle Arrangement und die Unternehmenskultur darauf hinführend anzupassen: In der Politik eines Unternehmens besteht die Neigung […], die Welt jenseits der ohnehin in Kauf zu nehmenden Marktveränderungen und der dauernden Einstellungen auf neue Schwierigkeiten möglichst unverändert zu lassen und sich von den Einflüssen, die von Politik, Wirtschafts-Politik, Gesellschafts-Politik ausgehen, abzuschirmen. Das war jedenfalls die Haltung vieler Unternehmer in der Vergangenheit und die Spielregeln, nach denen sie vorzugehen sich gewöhnt hatten. Das Argument, aktive Informationspolitik auf vielen Gebieten würde erst die ‚berühmten schlafenden Hunde‘ wecken, trifft im allgemeinen so wenig zu wie die Furcht, die Diagnose des Arztes ließe erst die Krankheit entstehen. Freilich setzt das voraus, daß man ständig und immer informiert und die Politik der Geheimhaltung und des Totschweigens von Problemen, die durch den eigenen Industriezweig und das eigene Unternehmen verursacht werden, endgültig aufgibt.“400
Diese Worte Bohmerts erscheinen vor dem Hintergrund der Haltung der chemischen Industrie noch drei bis vier Jahre zuvor revolutionär: Er darf als ausgewiesener Experte der gesamten Branche gelten, und er ging dezidiert auf das Thema Umweltschutz ein. In seinem Konzept verband er den Umweltschutz wie auch die transformierten kulturellen Sinndeutungen im Äußeren von Henkel zu Beginn der 1970er Jahre mit einem Sicherheitsaspekt. Als Inhaber einer der höchsten strategischen Stellen des Unternehmens forderte er eine Verschmelzung von Unternehmens- und Gesellschaftspolitik, um weitere (Image-)Schäden zu vermeiden. Alte Spielregeln hatten seiner Ansicht nach ausgedient: „Wir haben uns auf eine Situation einzustellen, in der sich Öffentlichkeit teilweise durch so neue Erscheinungen wie Bürgerinitiativen u.a. Aktionen, sehr konkret mit Unternehmen beschäftigen. […] Es genügt heute nicht, in der öffentlichen Auseinandersetzung um die Umweltproblematik sich allein auf eine technisch-chemisch, wissenschaftliche Argumentation zurückzuziehen.“401 Ebenso müsse eine Revision der Unternehmens- bzw. Chemiepolitik des Todschweigens erfolgen. Fehler im Umgang mit produktionsinduzierten Risiken für die natürliche und lebensweltliche Umwelt müssten eingestanden werden; dies war gleichbedeutend mit dem Eingeständnis der widrigen Umwelt-Zustände in den vorangegangenen Jahren, und es war die Einsicht, dass der von Bohmert angesprochenen Angst-Faktor berechtigt sei. Abhilfe könne nur die Öffnung des Unternehmens bringen, alte Verhaltens- und Kommunikationsmuster müssten überdacht werden. Die Menschen im Äußern verfügten durch einen massenmedialen Resonanzboden402 nun über mehr Informationen, was die schädlichen Auswirkungen der chemischen Risikoproduktion betreffe. Deshalb ließen sie sich nicht mehr wie wenige 400 Ebd. 401 Ebd. 402 Exemplarisch Simone Dietz, 1995, S. 121f.
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Jahre zuvor durch fortschrittsoptimistische, wissenschaftliche und damit hoch gestochene und bevormundende Verlautbarungen täuschen. Unterstrichen werden die Mahnungen Bohmerts durch seine akribische Analyse von Firmenbildstudien aus dieser Zeit, in denen die chemische Industrie im Allgemeinen und Henkel im Speziellen in der Öffentlichkeit als Hauptverursacher von Umweltschäden angesehen wurde. An erster Stelle heißt es beispielsweise in einer Studie von 1972 unter dem Punkt „Hauptergebnisse“: „Dem Problemkreis ‚Umweltschutz‘ wird eine außerordentlich hohe Bedeutung zugemessen (74 % der Befragten), da man ihn als Problem von großer persönlicher Relevanz sieht. Die Verantwortung für ein derartig umfassendes Problem wird primär dem Staat angelastet. Es wird ihm die Rolle des Initiators, bzw. Kontrollors [sic!] zugeschrieben, während man ansonsten das ‚Verursacherprinzip‘ gelten läßt. D.h., daß die Industrie – als Verursacher – durch gesetzliche Maßnahmen zur Reinhaltung der Umwelt herangezogen werden muß.“403
Ergebnis der Studie war also die Erkenntnis, dass das Umweltbewusstsein bzw. die Gefährdung durch die chemische Produktion von den Menschen außerhalb nun persönlich genommen wurde. Des Weiteren hatten die Menschen ihr Recht erkannt, hiergegen vorzugehen, was sich auch auf der politischen Bühne widerspiegelte. Diese Firmenbildstudien zeigten eindeutig die veränderten Gefahrenzuschreibungen gegenüber der chemischen Industrie und das Verlangen der Menschen, diese Gefährdungen abzustellen. Bei Nichteinhaltung dieser Forderungen drohten den Unternehmen Imageverluste und der Verlust ihres Stellenwertes als anerkannter gesellschaftlicher Akteur. Dies hatte eine moderne Unternehmenspolitik – auch jenseits von Public Relations – zu beachten. Wenige Kilometer weiter in Leverkusen setzte man sich ebenfalls mit den veränderten Sinnmustern der Menschen jenseits der formalen Gesetzgebungen auseinander und beriet zukünftige Strategien, die auf Konsens und Dialog abzielten. Auch wenn sich hier trotzigere Töne als bei Henkel finden, war man doch auf der strategischen Ebene der Werksverwaltung bei Bayer bereit, schnellstens innerbetriebliche Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Als erster Schritt sollte die externe Unternehmenskommunikation eingesetzt werden, um die Wogen zu glätten. Also räumte nun auch Bayer Versäumnisse seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein, und es wurden erste Schritte in Richtung einer öffnenden Unternehmenspolitik gewagt, was die chemische Risikoproduktion und den Umweltschutz betraf: 403 Image-Studie für Persil durchgeführt von Dr. Fessel & Co., Institut für Marktforschung, Teil C vom Jänner/Februar 1972, S. 1, in: Konzernarchiv Henkel, ohne Bestandsbezeichnung, ohne Signatur. Allgemein lässt sich nach der Durchsicht der in der Regel alle zwei Jahre durchgeführten Imagestudien sagen, dass sich erstens das Image von Henkel in der Wahrnehmung der Befragten von der Waschmittelfabrik hin zu einem Unternehmen der chemischen Industrie änderte. Zweitens wie sehr die Aspekte Umweltschutz und Sicherheit miteinander verschmolzen waren. Und hiermit verbunden drittens, dass zwar immer noch auf Fortschritt bzw. Forschung und Entwicklung von Seiten der Befragten Wert gelegt wurde, jedoch auch diese Tragsäulen eines Unternehmens der chemischen Industrie auf den Umweltschutz ausgerichtet werden sollten. Vgl. hierzu exemplarisch die im Juni 1977 durchgeführte Studie „Das HenkelImage bei Meinungsbildnern“ Nr. 5721141 6/77 von Contest, Institut für Angewandte Psychologie und Soziologie, Frankfurt am Main, in: Konzernarchiv Henkel, ohne Bestandsbezeichnung, ohne Signatur.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel „Die Entwicklung der letzten Jahre hat die Industrie zum Prügelknaben der Umweltschützer werden lassen. Der zunehmende Lebensstandard […], die Ballung von Industrie und Bevölkerung und das Sensationsstreben der Publikationsmedien haben das Thema Umweltschutz in jedes Haus getragen. Diese Entwicklung ist durch Versäumnisse der Industrie begünstigt worden: Mangelnde Information der Öffentlichkeit über techn. Prozesse, unzureichende Berücksichtigung des Umweltschutzes bei der Standortwahl und den Produktionsverfahren, Nachlässigkeit bei der Handhabung der Kontrolle und Beseitigung von Emissionen […]. Die durch diese Gegebenheiten heraufbeschworene Entwicklung erschwert die Ansiedlung neuer Werke, bringt Auseinandersetzungen mit der anwohnenden Bevölkerung, verzögert durch Einsprüche und immer härtere, mitunter willkürliche Auflagen, die zum Widerspruch zwingen, den Bau neuer Anlagen. Die zunehmende Industriefeindlichkeit der Bevölkerung und die übertriebenen Pressemeldungen wirken zurück auf Gerichtsentscheidungen, die Einstellung der Abgeordneten in Bund und Ländern und die Bearbeitung von Konzessionsauflagen durch die Gewerbeaufsicht. Sachargumente der Industrie und Mitarbeit in neutralen Institutionen […] verlieren stetig an Wirksamkeit und Bedeutung. Von der Gegenseite werden nur noch Arbeiten und Gutachten von Bundesinstituten, der Landesanstalt für Immissions- und Bodennutzungsschutz […] und des TÜV anerkannt […]. Mit einer Verlangsamung dieses Prozesses ist nicht zu rechnen. In dieser Situation erscheint dringend erforderlich: 1. Eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben. 2. Eine Industrieforschung über Immissions- und Emissionsgrenzwerte und Verfahren zu ihrer Erreichung in Gang zu bringen. […] Im eigenen Haus ist die Besetzung der Pressestelle verbessert worden und daher eine größere Aktivität möglich. […] Dabei ist zu bedenken, daß die Leistungsfähigkeit der Bundes- und Landesinstitute laufend zunimmt, da dort immer mehr Gelder zur Verfügung stehen werden.“404
Auch bei Bayer hatten die Zuständigen allmählich die Nutzlosigkeit eines Beharrens auf alten Handlungsstrategien, Verhaltens- und Kommunikationsmustern verstanden. Was hier sicherlich deutlich wird, ist die Einsicht in einen voranschreitenden Vertrauensverlust zwischen dem Werk und den Menschen in der Peripherie. An jenen Stellen, an denen immer noch wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse gefordert wurden, hatten die Bayer-Umweltschützer jedoch – anders als Bohmert bei Henkel – nicht erkannt, dass die außer-unternehmerischen Akteure nicht mehr durch eine Verbreitung von Fortschrittsoptimismus zu überzeugen waren. Doch ist an diesem Beispiel explizit zu zeigen, wie schnell sich auch bei Bayer die Argumente und Überzeugungen umkehren konnten: Ein halbes Jahr später, im Juni 1972, erging nämlich an den Vorstandvorsitzenden Hansen eine Notiz der AWALU über eine Image-Studie, die die gesamte Chemiebranche betraf. Die Untersuchung wurde vom VCI eingeleitet, um ein Profil der öffentlichen Meinung über die chemische Industrie im Vergleich zum Jahr 1965 zu erarbeiten. Die Studie befand, dass sich in der öffentlichen Meinung das Bild der chemischen Industrie gewandelt hatte: Obwohl sie nach wie vor in ihrer wirtschaftlichen Bedeutung hoch eingeschätzt wurde, rangierte sie an der Spitze, wenn es um Fragen 404 Werksverwaltung AWALU / Dr. Weber an Dir. Broja betreffend Chemische Industrie und Umwelt / Was ist am dringendsten zu tun? vom 04. Januar 1972, in: BAL 388/214 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU II bis Ende 1972. Ähnlich eine Vorstandsitzung bei Bayer, auf der die Einführung eines „Umweltsymbols“ beschlossen wurde. Vgl. Vorstandssitzung in Leverkusen am 05. September 1972, in: BAL 387/1 Vol. 12 Vorstandsprotokolle 05.09.1972–05.06.1973.
3.2 Verkehrte Verhältnisse
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der Umweltgefährdungen ging.405 Die zentrale Aussage der Studie wurde Hansen gegenüber unmissverständlich wie folgt übermittelt: „Das Image der chemischen Industrie lässt sich mit dem Symbol des Januskopfs beschreiben – Fortschritt/Lebenserleichterung ist das eine, Umweltgefährdung ist das andere Gesicht.“406 Dann wurden in einer gesellschaftsanalytischen Art und Weise die befragten Zielgruppen vorgestellt. Herausgestrichen wurde eine „Allgemeinheit […] als Durchschnitt, dem differenzierte Denkabläufe und ‚Güterabwägungen‘ wie z.B. gedrosselter Produktionszuwachs gegen intensivere Umwelterhaltung fremd sind und deren Verhaltensmuster durch die Pole ‚Sicherheit‘ und ‚Unsicherheit‘ geprägt sind.“ Dieser Allgemeinheit stand nach Meinung der AWALU-Mitarbeiter, die den Bericht der Studie für Hansen verfassten, eine zweite „spezifische Zielgruppe“ entgegen, die „durch Bildungsstand und Umweltbewußtsein gekennzeichnet“ war und die „ein intensives Erleben von Umweltaspekten und Umweltgefährdungen aufzuweisen“ hatte.407 Spätestens nach dieser gesellschaftlichen Analyse und teilweise despektierlichen Einschätzungen wie etwa dem Vorwurf an die „Allgemeinheit“ nicht differenziert denken zu können, war dem Vorstandsvorsitzenden von Bayer klar, dass es im Interesse des eigenen Unternehmens darum gehen musste, beide „Zielgruppen“ anzusprechen. Einerseits musste das neue Bedürfnis nach Sicherheit erfüllt, anderseits aber auch das neue Umweltbewusstsein eines intellektuellen gesellschaftlichen Akteurs im Auge behalten werden. Es deutete sich bereits hier an, dass sich diese beiden Pole in den kommenden Jahren jedoch vermischen würden. Aus diesem Grund erging dann ein Verbesserungsvorschlag, wie eine externe Unternehmenskommunikation bzw. die Bekanntmachung des Verhältnisses von Bayer und Umweltschutz bezogen auf die Umweltgefährdung durch die eigene Produktion in der Zukunft auszusehen habe: Unter dem Motto „Bayer forscht für den Umweltschutz“408 sollte es neben der Einführung eines Umweltsignets einen Begabtenwettbewerb an höheren Schulen und Hochschulen geben, der „ganz allgemein der Bewusstmachung von Umweltschutzfragen“ diente. Des Weiteren wurde beschlossen, IllustriertenBeilagen einzuführen sowie Tage der Offenen Tür für Interessierte in Umweltfragen zu gestalten.409 Die mehrteiligen Hochglanz-Broschüren der externen Unter405 Vgl. Werksverwaltung / AWALU Dr. Weber an Prof. Hansen und Dir. Broja betreffend Untersuchungsbericht „Chemie und Umwelt“ vom 30. Juni 1972, in: BAL 388/130 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU bis 1972. 406 Ebd. 407 Vgl. ebd. 408 Aktennotiz Werksverwaltung / AWALU betreffend Öffentlichkeitsarbeit und Werbung in Fragen Umweltschutz vom 14. November 1972, in: BAL 388/130 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU II bis Ende 1972. Ähnliche Aktionen wie Seminare zu „Umwelt- und Verbraucherschutz für Lehrer und Schüler“ wurden auch von Bohmert bei Henkel geplant, vgl. Protokoll der Bereichsbesprechung der Stabsstelle-PR vom 16. April 1974, in: Konzernarchiv Henkel H50/I, Abteilungsbesprechungen PR und Presse 1969–1974. 409 Vgl. Werksverwaltung / AWALU Dr. Weber an Prof. Hansen und Dir. Broja betreffend Untersuchungsbericht „Chemie und Umwelt“ vom 30. Juni 1972, in: BAL 388/130 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU bis 1972. Bereits 1971 wurde erstmals das Thema Umweltschutz in einem Geschäftsbericht erwähnt, wobei die Farbenfabriken Bayer hier auf die „Errungenschaf-
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
nehmenskommunikation hatten den Titel: „Bayer tut mehr“.410 Inhaltlich wurden Fragen zum Umweltschutz mit dem Focus auf Luft- und Gewässerreinhaltung beantwortet und einzelne Maßnahmen aufgezeigt. Auch wurde auf eine neue „analytische Präzision“, „neue Entwicklungen“ im Bereich Forschung und Entwicklung sowie auf die „Computer gestützte Luftüberwachung“ hingewiesen.411 Noch offensiver gestaltete Henkel ab dem Jahr 1974 die ersten Schritte der externen Unternehmenskommunikation in Richtung eines Dialogs und eines Konsens mit der Werksumgebung über Umweltschutzfragen. Mit einer direkt an die Nachbarschaft adressierten Zeitung versuchte der Düsseldorfer Konzern die Wogen zu glätten und damit ein neues Ordnungsverhältnis zwischen Anrainern und Werk herzustellen: „‚Umwelt-Blick‘ heißt eine neue Henkel-Zeitung. Sie befasst sich ausschließlich mit Umweltschutzproblemen und der Umwelt-Situation im Werk Holthausen. Henkel unternimmt mit der Zeitung den Versuch, die Umweltschutzprobleme offen und auch einer dem interessierten Laien verständlichen Weise darzustellen. […] Der ‚Umwelt-Blick‘ hat eine Auflage von 65.000 Exemplaren. Er ist in erster Linie für die Bürgerschaft der Stadt Düsseldorf bestimmt, vor allem in den Nachbargebieten des Werkes Holthausen. Außerdem erhalten den ‚Umwelt-Blick‘ u.a. die politischen Gremien und die Verwaltungsstellen der Stadt Düsseldorf, die Umweltschutzbehörden und -verbände, sowie natürlich auch die Mitarbeiter des Werkes Holthausen.“412
Mit dem „Umwelt-Blick“ erschien erstmals 1974 eine „Umweltschutz-Zeitung für die Henkel-Nachbarn“ mit dem strategisch ausgearbeiteten Ziel: „Die Nachbarschaftspflege bzw. -information in Bezug auf die Umweltbelästigungen durch das Werk Holthausen soll intensiviert werden.“413 Diese Informationen waren vollkommen andere als jene, die das Unternehmen noch wenige Jahre zuvor an die Nachbarschaft weitergegeben hatte; damals hatte man noch auf Beruhigung durch Bevormundung gesetzt. Mit der neu ausgerichteten externen Unternehmenskommunikation wurde dagegen nun das Ziel verfolgt, durch Dialog und Konsens eine Beruhigung zu erreichen und das verlorene Vertrauen zurückzugewinnen. Der erste „Umwelt-Blick“ war das Ergebnis der seit 1971 geplanten strategischen Informationspolitik und der Einbindung der Nachbarschaft; der Leitartikel der ersten Ausgabe titelte: „‚Bei Henkel stinkt’s mal wieder!‘“ Die Ursache dieses als Ärgernis für die Nachbarschaft anerkannten Phänomens wurde denn auch nicht mehr als Betriebsgeheimnis gehütet; stattdessen wurde die Nachbarschaft aufgeklärt, die Gerüche kämen aus der Ölfabrik, und es wurden Gegenmaßnahmen dargestellt.414 Auch
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ten“ der letzten Jahre verwiesen und sich allgemein zum Umweltschutz bekannten. Vgl. Geschäftsbericht 1971 der Farbenfabriken Bayer AG, S. 16. Vgl. Broschüre „Bayer tut mehr“ aus dem Jahr 1972, in: BAL 388/130 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU II bis Ende 1972. Vgl. ebd. S. 2f. Presseinformation aus der Henkel-Gruppe betreffend „Ein ‚Umwelt-Blick‘ für die Nachbarn“ vom 27. September 1974, in: Konzernarchiv Henkel L 523 Umwelt-Blick 1974/75. Protokoll der Bereichsbesprechung der ST-PR vom 11. März 1974, in: Konzernarchiv Henkel H50/I, Abteilungsbesprechungen PR und Presse 1969–1974. Vgl. Umwelt-Blick, Umweltschutzinformationen 1/74, S. 1, in: Konzernarchiv Henkel L523 Umwelt-Blick 1974/75.
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Bohmert als Verantwortlicher trat an zentraler Stelle im „Umwelt-Blick“ mit seiner Kolumne „Gespräch mit den Nachbarn“ auf, die als weitere vertrauensbildende Maßnahme in Bezug auf die guten nachbarschaftlichen Verhältnisse dienen sollte und den letzte Schritt des 1971 begonnenen Dialogs bildete. Um Vertrauen auch im Bezug auf das heikle Thema Umweltschutz herzustellen, resümierte er etwa: „Mit der Mobilisierung von Gefühlen und der moralischen Empörung gegenüber den anderen Gruppen der Gesellschaft ist es jedenfalls nicht getan. Der Umweltschutz ist eben eine zu wichtige Sache, als daß man ihn den ‚Systemüberwindern‘ überlassen dürfte. Nur zu gern möchten sie ihr ungenießbares Süppchen auf diesem Feuer am Kochen halten. Darum: Umweltschutz geht uns alle an!“415
Die Beweisführung, dass auf sichere Art und Weise produzierten wurde, war nun das Hauptanliegen der Unternehmen. Eine Rückkehr zum paternalistischen Ordnungssystem zwischen Werk und Umwelt wurde nicht für möglich gehalten. Vielmehr galt es, neues Vertrauen aufzubauen und die eigenen Werkstore nicht mehr versperrt zu lassen, auch wenn den vorwurfsvollen Worten Bohmerts klar zu entnehmen ist, dass der Umweltschutz seiner Ansicht nach nicht für die allgemeine antikapitalistische Systemkritik instrumentalisiert werden durfte. Auf genau eine solche radikale Anfeindung richteten sich die schlimmsten Befürchtungen der Unternehmen in der Mitte der 1970er Jahre. Dass dies keine Hirngespinste von Managern und Mitarbeitern der alten Garde waren, möchte ich nun anhand von Protesten zeigen, die sich in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß gegen die Unternehmen richteten.416 Dabei werde ich zum einen auf neu gegründete Bürgerbewegungen innerhalb des organisationalen Feldes eingehen, zum anderen auch in wenigen Strichen auf die rauere Gangart der zuständigen Behörden und ihr neu definiertes Verhältnis gegenüber den Unternehmen und deren produktionsinduzierten Risiken. Beginnen werde ich wieder bei Henkel. Das Unternehmen hatte in einer jahrelangen Auseinandersetzung seit der Mitte der 1970er Jahre mit Anfeindungen der Bürgerbewegung „Schutz der Umwelt vor Henkel!“ aus dem Düsseldorfer Stadtteil Wersten zu tun. „Wie wir erfuhren, ist ein Werstener Bürger namens Liedke [hier war Henkel jedoch falsch informiert; es handelte sich bei der Gründerin der Initiative um Frau Emilie Liedke, T.J] im Begriff, eine Bürgerinitiative zu gründen, die sich schwerpunktmäßig gegen unser Haus richtet. Geplant sind u.a. eine Unterschriftensammlung und die Verteilung von Flugzetteln. Der
415 Ebd. S. 2. 416 Was die Führungsriegen und damit auch das Selbstverständnis der Unternehmen hinsichtlich der Themen Umweltschutz und einer entsprechenden Sicherheitskultur nach außen sowie die Öffnung der Unternehmen betrifft, so darf man davon ausgehen, dass dieser Prozess Anfang der 1970er Jahre in Gang kam: „[U]m 1970 waren noch 85 % der Topmanager vor 1918 geboren. Die meisten Vorstands- und Aufsichtsratmitglieder z.B. der Jahre 1945 bis 1970 waren schon während der Weimarer Republik in Spitzenpositionen oder auf dem Weg nach oben. Erst Anfang der 70er Jahre folgte ein fast kompletter Wechsel.“ Hans-Ulrich Wehler: Deutsches Bürgertum nach 1945. Exitus oder Phönix aus der Asche?, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 617–634, hier S. 622. Für Bayer und Henkel treffen diese prozentualen Angaben nach der Durchsicht der personenbezogenen Angaben der beteiligten Akteure ebenfalls meistens zu.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel Initiator hat sich an die ‚Rheinische Post‘ mit der Bitte um unterstützende Berichterstattung gewandt.“417
Die Verantwortlichen bei Henkel erkannten nach detektivischer Arbeit schnell, dass es sich hier um eine Bürgerbewegung handelte, die die neuen Sinnorientierungen der Nachbarschaft transportierte und schnell Zuspruch erhalten würde. Die angekündigten Aktionen mussten ernst genommen werden, denn: „Nach bisher angestellten Recherchen handelt es sich […] um eine parteipolitisch unbeeinflusste Protesthaltung von belästigten Anrainern des Henkel-Werks. Es gibt bislang keinen Hinweis auf eine von ‚links‘ gesteuert Aktion.“418 Die befürchteten und aus Henkel-Sicht unheilvollen Aktionen ließen nicht lange auf sich warten: Mit massiven Protesten, Vorwürfen und Forderungen organisierte sich innerhalb von wenigen Wochen eine zornige Bürgerschaft gegen das Traditionsunternehmen. Vorausgegangen war eine Flugblatt-Aktion der Redeführerin Liedke, die sich direkt auf das BIschG und die erwarteten Verbesserungen der Holthausener Bürgerschaft bezog. Charakteristisch ist der Aufruf, eine Solidargemeinschaft gegen das Werk zu gründen und die Aufbruchstimmung, mit der man gegen die problematischen Verhältnisse vorgehen wollte: Wir wohnen in einem Stadtbezirk, vielleicht sogar in derselben Straße. Gemeinsam müssen wir die gleiche schlechte Luft ertragen, die hässlichen und gesundheitsschädlichen Gerüche, die sogar nachts unsere Ruhe stören. Auch an Sonn- und Feiertagen werden wir nicht von Belästigungen verschont, wenn dicke Rauchschwaden aus den Schornsteinen der Firma Henkel dringen. Wir fragen: Wie hält es die Firma Henkel mit dem Umweltschutz?
Liedke verwies direkt auf das erlassene Bundesimmissionsschutzgesetz, womit sie die neuen Rechte der Bürgerschaft herausstrich. Fest entschlossen forderte sie die Solidargemeinschaft auf, von diesen neuen Rechten auch Gebrauch zu machen und ermutigte sie, die Initiative zu ergreifen, um gegen die Missstände vorzugehen: Es [das BIschG, T.J.] ordnet an, […] daß der Nachbar oder auch die entfernter wohnende Allgemeinheit nicht belästigt wird. Wir werden durch die Dunstwolken […] der Firma Henkel aber eindeutig […] belästigt. Gilt das Gesetz nicht für die Firma Henkel […]? Wir haben ein Recht darauf, daß die Belästigungen durch Gestank […] endlich aufhören. 417 Vgl. Dr. Bohmert an Herrn Kobold betreffend Bürgerinitiative gegen Umweltbelästigungen bei Henkel vom 18. Februar 1974, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Einzelakte 36 Umweltschutz 1973–75. Ähnlich im Jahresbericht der Ingenieurabteilung durch Dr. Funck; hier werden die Anstrengungen auf der technischen Seite sowie die notwendig gewordene Kooperation mit der Stabsstelle PR deutlich. Vgl. Jahresbericht der Ingenieurabteilung 1974 vom 06. Dezember 1974, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 453 Akten Opderbecke Nr. 41a-41b, hier 41a, Tageskopien Dr. Funk. Der Bürgerinitiative vorausgegangen war eine Umfrage des Hygiene-Instituts Düsseldorf über den Geruch im Süden der Stadt Düsseldorf. Hierbei wurde Henkel als Hauptverursacher von Geruchsemissionen identifiziert und von einer breiten Öffentlichkeit dafür angeklagt. Exemplarisch Leitstelle Umweltschutz / Dr. Nösler an Werksleiter Opderbecke et.al betreffend Umfrage des Hygiene-Instituts, Düsseldorf, nach dem Geruch im Süden der Stadt Düsseldorf vom 13. September, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Umweltschutz bis 1978. 418 Juristische Abteilung an Dr. Bohmert betreffend „Umweltschutz-Bürgerinitiative“ in Wersten – Bürgerversammlung gegen Henkel am 15.03.1974 vom 18. März 1974, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Einzelakte 36 Umweltschutz 1973–75.
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Wie wäre es, wenn wir uns gemeinsam der Sache annehmen würden? Wie wäre es, wenn wir einmal darangingen, eine Bürgerversammlung vorzubereiten, zu der wir einen Vertreter der Stadt, des Gewerbeaufsichtsamtes und der Parteien einladen, damit wir erfahren, was sie in dieser Frage für uns tun oder mit uns tun können. Wir bitten Sie, liebe Nachbarn und Mitbürger, mitzuhelfen, daß die Misstände abgestellt werden. Bitte, nehmen Sie mit uns Verbindung auf, teilen Sie uns Ihre Meinung, Ihre Vorschläge und vielleicht auch Ihre Bereitschaft zur Mitarbeit mit.“419
Flankierend zum Flugblatt trat die Anwohnerin an das Gewerbeaufsichtsamt, um ihre Forderungen zu untermauern und ihren Unmut kundzutun. Gegenüber der Behörde deutete sie die seit langem problematischen Verhältnisse in der Umgebung des Werkes an. Im Vergleich zu Beschwerden älterer Prägung420 – deren Zahl nun insgesamt abnahm – beobachten wir nun großen Widerstand gegen das Unternehmen und eine optimistische Haltung der Bürgerschaft, den Kampf gegen Henkel diesmal nicht einfach aufgeben zu wollen: „[W]ir, die in der Umgebung von Henkel wohnenden Bürger, fühlen uns durch den gesundheitsschädlichen Geruch […] von der Firma Henkel bedroht. […] Wir haben zur Bürgerinitiative aufgerufen und sind nicht länger gewillt, uns mit leeren Worten abspeisen zu lassen. […] Wir bitten um Ihre Hilfe und Unterstützung.“421 Bereits im März 1974 wurden die Wünsche nach Unterstützung durch das Gewerbeaufsichtsamt und die Forderungen aus dem Flugblatt erfüllt. Es kam zu einer Bürgerversammlung, an der Henkel lediglich durch zwei Mitarbeiter als ‚stille Beobachter‘ vertreten war, was bereits die defensive Haltung des Unternehmens verdeutlicht. Abgesehen von der Bürgerinitiative waren Vertreter des Gewerbeaufsichtsamtes sowie Kommunalpolitiker unterschiedlichster Parteien zugegen.422 Die ‚stillen Beobachter‘ des Unternehmens hatten jedoch gegenüber Bohmert nichts Gutes zu berichten: Die Bürgerinitiative erntete breite Zustimmung; zudem bestätigte ein anwesender Arzt die Gesundheitsbeeinträchtigungen durch die HenkelImmissionen.423 Ergebnisse der Bürgerversammlung waren Beschlüsse, einen „Protest-Informationsstand […] an einer markanten Stelle des Stadtgebiets“ zu errichten, weitere „Flugzettel und Transparente an Passanten zu verteilen“ sowie „um Geldspenden für weitere Aktionen gegen Henkel“ zu bitten.424 Mit diesen Maßnah419 Flugblatt von Emilie Liedke aus Düsseldorf-Wersten, undatiert, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Einzelakte 36 Umweltschutz 1973–75. 420 Insgesamt zeichnete sich bei den Immissionsbeschwerden der Trend zu einem energischen Vorgehen gegen die Unternehmen ab. Die Antworten der Unternehmen waren nun geprägt von Entschuldigungen und leicht verständlichen Erklärungen über die Immissionen und ihre Entstehung. Exemplarisch Henkel & Cie. an Margot Waller betreffend Ihre Beschwerde über Immissionen vom 25. Oktober 1972, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 453 Akten Opderbecke Nr. 40a-40b, hier 40a, Tageskopien Dr. Funk. 421 Emilie Liedke an das Staatliche Gewerbeaufsichtsamt, Düsseldorf betreffend Geräusch-, Schmutz- und Geruchsbelästigungen durch die Firma Henkel in Holthausen vom 03. Januar 1974, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Einzelakte 36 Umweltschutz 1973–75. 422 Vgl. Juristische Abteilung an Dr. Bohmert betreffend „Umweltschutz-Bürgerinitiative“ in Wersten – Bürgerversammlung gegen Henkel am 15.03.1974 vom 18. März 1974, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Einzelakte 36 Umweltschutz 1973–75. 423 Vgl. ebd. S. 2. 424 Vgl. ebd.
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men wollte die Bürgerinitiative erstens „die Forderungen nach Reduzierung bzw. Beseitigung der Umweltbelästigungen durch Henkel unterstreichen“ und zweitens sich „offiziell an den Oberbürgermeister [..] wenden, um ein öffentliches ‚Hearing‘ im Umweltausschuss der Stadt zu erreichen.“425 Bohmert folgerte daraus nach Absprache mit der Geschäftsleitung für Henkel: „Es muß damit gerechnet werden, daß die ‚Bürgerinitiative Wersten‘ mit Unterstützung der im Stadtrat vertretenen Parteien das Augenmerk der Öffentlichkeit auf die Umweltsituation in Wersten/HoIthausen weiter verstärken kann. Ein öffentliches „Hearing“ im Umweltausschuss der Stadt dürfte in naher Zukunft zustande kommen. Eine direkte Ansprache der Bürgerinitiative durch Henkel (z.B. Einladung zur Diskussion usw.) erscheint jetzt ohne Aussicht auf Erfolg, da die Bürgerinitiative zunächst ihre Protestaktion […] durchführen will und – wie sie erklärte – erst dann in Kontakt mit dem Stadtrat treten will. Die von ST-PR geplanten offensiven Schritte zur Nachbarschaftspflege und Nachbarschaftsinformation (Umweltschutz-Zeitung und innerbetriebliche Umweltschutzaktion) sollte aber angesichts der Bürgerinitiative nicht mehr allzu lange hinausgezögert werden.426
Wir erkennen Mitte der 1970er Jahre also strategische Überlegungen von Seiten des Unternehmens, direkt auf die Proteste zu reagieren und seine angestammten Handlungsmuster bezüglich des Umgangs mit produktionsinduzierten Risiken zu entkoppeln, d.h. sie wenigstens dem Anschein nach auf den Prüfstand zu stellen. Jedoch zeichnete sich in den Folgemonaten ab, dass es damit nicht getan war und der Betriebsausschuss über die Aktivitäten der Bürgerinitiative wie auch die avisierten Maßnahmen von Henkel unterrichtet werden musste, um durch die Umsetzung der Maßnahmen im Unternehmensinnern nach außen glaubwürdig zu erscheinen: „Von Seiten der Firma sind, abgesehen von technischen Maßnahmen, verschiedene Aktionen geplant, mit denen – wenigstens in der seriösen Presse – eine Objektivierung der Diskussion erreicht werden soll: z.B. Förderung des Umweltbewusstseins der Belegschaft, Beteiligung von Fachleuten […]“.427 Begründet wurden diese Maßnahmen damit, dass die Initiative in der Öffentlichkeit „ein nicht unerhebliches Echo“ fand und das „Umweltschutz-Image von Henkel großen Gefahren ausgesetzt“ sei.428 Im Einzelnen wurde geplant, Veröffentlichungen im „Umwelt-Blick“ zu platzieren, die Redeführer entgegen erster Überlegungen doch ins Werk einzuladen sowie die Presse von Umweltschutzmaßnahmen zu unterrichten; bei dem offiziellen Hearing war das Ziel, sich zu rechtfertigen, die Maßnahmen zur Förderung des Umweltbewusstseins der Henkel-Mitarbeiter weiter voranzutreiben sowie ständige Messungen durchzuführen, um Gefahrenquellen sofort lokalisieren und ausschalten zu können.429 425 Vgl. ebd. 426 Ebd. S. 3. 427 Protokoll Nr. 3/74 der Betriebsausschuß-Sitzung am 14. Mai 1974, S. 3, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Betriebssuchuß/Meisterkonferenzen 1973–1978. 428 Vgl. Juristische Abteilung an Dr. Bohmert betreffend „Umweltschutz-Bürgerinitiative“ gegen Henkel – Aspekte für Information des Betriebsausschußes vom 10. Mai 1974, S. 1–2, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Einzelakte 36 Umweltschutz 1973–75. 429 Vgl. ebd. S. 3.
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Im Vorfeld des Hearings vor dem Umweltausschuss der Stadt Düsseldorf kam es zu einem Schriftwechsel zwischen Henkel und der Beschwerdeführerin Liedke. Aus diesem Schriftwechsel zeigt sich abermals, wie sich die Verhältnisse zwischen Werk und Nachbarschaft innerhalb weniger Jahre ins Gegenteil verkehrt hatten. Die Zuschreibungen – oder besser, die informellen Spielregeln der Ordnung – zwischen Henkel und seinen Anrainern waren nun gekennzeichnet durch demonstrativen Gutwillen des Werkes und eine gewisse Unterwürfigkeit von Henkel. Bei Liedke hingegen ist die Zuversicht zu erkennen, das Unternehmen in diesem Aushandlungsprozess in die Knie zwingen und damit die Oberhand behalten zu können. Ende März 1974 schrieb Bohmert an die Nachbarin: „[A]uf der Gründerversammlung Ihrer Aktion […] ist wohl dem Sinn nach erklärt worden, Henkel wäre nicht bereit, mit Beschwerdeführern ernsthaft zu sprechen und nähme die vorhandenen Probleme auf die leichte Schulter. Wir bedauern es sehr, daß dieser Eindruck – aus welchen Gründen auch immer – überhaupt entstehen konnte. Das Gegenteil trifft zu: wir halten die Begegnung und das intensive Gespräch über Umweltschutz auch in diesem Fall für beide Seiten für nützlich und notwendig […]. Deshalb würden wir uns freuen, wenn Sie uns schon bald mit Ihrem Vorstand und einigen weiteren Interessenten besuchen würden. Natürlich können wir uns über den Ablauf des Besuchs und die besonderen Schwerpunkte des Interesses noch vorab verständigen.“430
Den offensichtlich gut gemeinten Versuchen Bohmerts, Konsens und Dialog zwischen der bedrohlichen Protestgruppe und dem Henkel-Werk auf diese rücksichtsvolle Weise herzustellen, konterte die Beschwerdeführerin jedoch trotzig und selbstbewusst: „Wir stimmen Ihrem Vorschlag zu, ein Gespräch stattfinden zu lassen, sind aber der Meinung, daß dieses Gespräch keine Abhilfe für die Ihnen sicherlich bekannten Mängel ist. Wir würden uns freuen, von Ihnen zu hören, was sie zu tun gedenken, um die umliegenden Anwohner […] vor den bekannten Belästigungen […] zu schützen. Unsere Bürgerinitiative erhält von allen Seiten sehr viel Zuspruch. Dies ist eine Bestätigung dafür, daß sehr viele Bürger unter den genannten Belästigungen zu leiden haben. In der nächsten Zeit werden einige Vertreter der Bürgerinitiative zusammenkommen, und wir lassen dann wieder von uns hören.“431
Zunächst kam es nicht zu einem Besuch der Bürgerinitiative. Im weiteren Verlauf der Auseinandersetzungen fanden dann Mitte April auch die angekündigten Protestaktionen vor den Werkstoren in Holthausen statt, bei denen die Forderungen der Initiative gegenüber Henkel unverändert wiederholt wurden. Die herbeigeeilten Henkel-Verantwortlichen wollten die Situation entschärfen, indem sie „unter Hinweis auf die ständig gestiegenen Aufwendungen […] für Umweltschutzmaßnah-
430 Henkel & Cie. GmbH / Dr. Bohmert an Emilie Liedke vom 28. März 1974, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Einzelakte 36 Umweltschutz 1973–75. 431 Emilie Liedke an Henkel & Cie. GmbH betreffend Ihr Schreiben am 28.03.1974 vom 10. April 1974, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Einzelakte 36 Umweltschutz 1973–75.
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men an die Teilnehmer appellierten, bei allen Überlegungen vom guten Willen der Firma Henkel zur Abhilfe der Belästigungen auszugehen.“432 Mit dem Appell, vom guten Willen des Unternehmens auszugehen, finden wir hier sicherlich noch einige rudimentäre Überreste alter Beschwichtigungsstrategien. Aber angesichts der neuen Auslegungen des Emissionsschutzes wurde Henkel spätestens bei dem anberaumten Hearing vor dem Düsseldorfer Umweltausschuss deutlich, dass die Erfolgschancen solcher Argumentationen gegenüber seiner kulturellen Rahmung nur noch gering waren. Dies wird schon daran deutlich, dass ein solches Zusammentreffen vor einer Schlichtungsinstanz nötig wurde bzw. nun überhaupt stattfinden konnte, dass also die Legitimität alter Handlungslogiken und Argumentationen des Unternehmens erörtert werden mussten. Neben den Bevollmächtigten der Streitparteien waren bei diesem Hearing im Dezember 1974 auch Vertreter des Gewerbeaufsichtsamtes, der Stadtverwaltung, des Ordnungsamtes sowie der Lokal- und Regionalpresse anwesend, wie der Werksleitung und dem Topmanagement von der juristischen Abteilung mitgeteilt wurde.433 Die Veranstaltung war nicht, wie von manchen Henkel-Verantwortlichen befürchtet, ein Tribunal gegen das Unternehmen.434 Keinesfalls wurde ein Exempel statuiert; doch wurde offen über die Missstände im Düsseldorfer Süden geredet. Henkel hatte erkannt, dass das Unternehmen sich kooperativ und einsichtig verhalten musste. Es galt, die bisherigen Errungenschaften auf dem Umweltschutzgebiet glaubhaft darzustellen. Ziel war es natürlich, der Bürgerinitiative den Wind aus den Segeln zu nehmen, um die verloren gegangene Legitimität des Traditionsunternehmens zurückzuerobern: Der Ablauf orientierte sich im wesentlichen an den von der Bürgerinitiative eingereichten Fragen zur Umwelt-Situation um das Henkel-Werk bzw. zum Umweltschutz bei Henkel. […] Zu den Fragen der Bürgerinitiative nahmen in dem Hearing in erster Linie die neutralen Vertreter des Staatlichen Gewerbeaufsichtsamtes und des Gesundheitsamtes Stellung, also die verantwortlichen und fachkompetenten Behörden. […] Durch fachmännische Beantwortung der in dem Hearing gestellten Sachfragen wurde das von der Bürgerinitiative entworfene negative Umweltschutz-Bild von Henkel korrigiert. Das Gewerbeaufsichtsamt sprach der Firma Henkel Bemühen, Gutwilligkeit und auch Erfolge bei der Verbesserung des Umweltschutzes im Werk Holthausen zu. […] Zur Frage der – nicht in Zweifel gezogenen – starken Geruchsbelästigung konnten die Vertreter von Henkel auf die im Bau befindliche Geruchsbeseitigungs-Anlage verweisen. Im Zusammenhang mit dem Problem Staub gab Henkel zu, daß es im März d.J. zu einer Panne im werkseigenen Kesselhaus mit anschließendem Rußausstoß gekommen war. […] 432 Bericht an Dr. Bohmert betreffend Versammlung der Bürgerinitiative „Schutz der Umwelt vor Henkel“ vom 11. April 1974, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Einzelakte 36 Umweltschutz 1973–75. 433 Vgl. Juristische Abteilung an Werksleiter Opderbecke, ZGF und Dr. Bohmert betreffend Bericht über das öffentliche Hearing am 05.12.1974 im Umweltausschuß der Stadt Düsseldorf vom 10. Dezember 1974, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Einzelakte 36 Umweltschutz 1973–75. 434 Bericht an Dr. Bohmert betreffend Versammlung der Bürgerinitiative „Schutz der Umwelt vor Henkel“ vom 11. April 1974, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Einzelakte 36 Umweltschutz 1973–75.
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Während des Hearings wurde deutlich, daß der Ausschuß sich nicht als Interessenvertretung der Bürgerinitiative Wersten versteht, sondern als neutrale Instanz für die Behandlung und Lösung von Umweltproblemen in der ganzen Stadt. Nach inoffiziellen Aussagen einiger Mitglieder des Umweltausschusses hat Henkel in dem Hearing – auf die dort behandelten Sachfragen bezogen – gut abgeschnitten. Unabhängig davon wird sich der Umweltausschuss aber politisch veranlasst sehen, sein Augenmerk verstärkt auf die Umweltsituation im Düsseldorfer Süden (und bei Henkel) zu richten. Ausschussmitglied Ratsherr Herzog im Hearing: ‚Wir müssen uns die Betriebe im Süden immer wieder genau ansehen.‘ […] Die Bürgerinitiative ‚Schutz der Umwelt vor Henkel‘ hat nach dem von ihr selbst geforderten Hearing viel an Aufwind verloren.“435
Obwohl aus Sicht der Henkel-Juristen die Bürgerinitiative an Gewicht verloren hatte, so zeigt alleine die Tatsache, dass ein solches Hearing stattfinden konnte, dass Henkel nun in einem hohen Maße verpflichtet war, sich vor der Öffentlichkeit für seinen Umgang hinsichtlich der produktionsinduzierten Risiken zu rechtfertigen. Seit der Einführung einer verschärften Umweltschutzgesetzgebung gingen solche Kontakte mit den Behörden nicht immer so glimpflich ab, was sich im Fortgang des Kapitels zeigen wird. Im hier beschriebenen Fall der Initiative gegen Henkel hatte es diese kleine Bürger-Gruppe geschafft, die Machthoheit des Konzerns und seine Deutungshoheit über Umweltrisiken in Frage zu stellen. Des Weiteren darf man sicherlich unterstellen, dass die innerhalb eines Jahres angegangenen Planungen und Einrichtungen moderner Umweltschutztechnologien im Holthausener Stammwerk durch die Aktionen Liedkes und ihrer Mitstreitenden vorangetrieben wurden. Sicherlich hatte die Initiative durch das Hearing an Gewicht verloren. Jedoch zeigte sich in den Folgemonaten bis weit in das Jahr 1975 hinein, dass ein Dialog zustande kommen konnte und musste. Im März 1975 kam es schließlich zu einem Gespräch im Hause Henkel. Es brauchte einen beinahe eineinhalb Jahre andauernden Aushandlungsprozess zwischen Henkel und seiner Nachbarschaft, bis der Versuch unternommen werden konnte, verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. Neben den Mitgliedern der Initiative wurden von Bohmert zu einer Art Tag der Offenen Tür weitere Nachbarn eingeladen, da Henkel „diese Diskussion mit den Nachbarn intensivieren“ wollte.436 Doch trotz der augenscheinlichen Niederlage der Bürgerinitiative gab es weitere Protestaktionen vor den Werkstoren von Henkel, die erst zu Beginn des Jahre 1976 vorerst abklangen, was mich abermals auf einen neuen Durchhaltewillen der Bürgerschaft schließen lässt. Ob eine gewisse Radikalisierung der Bürgerinitiative durch die Mitarbeit der Deutschen Kommunistischen Partei (DKB) seit 1975 zu diesen neuerlichen Protesten führte, kann nur 435 Ebd. S. 4. 436 Henkel & Cie. GmbH / Dr. Bohmert an Emilie Liedke vom 11. März 1975, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Einzelakte 36 Umweltschutz 1973–75. Tage der Offenen Tür wurden Mitte der 1970er Jahre beliebte Veranstaltungen für die Bürgerschaft in der Werksumgebung, um dort Produktionsanlagen und neuartige Umwelttechnologie vorzustellen. So verband Bayer etwa seinen Tag der Offenen Tür mit einem „Tag der Umwelt“. Vgl. LE-AWALU / Öffentlichkeitsarbeit an Broja et.al. sowie mehrere Adressaten in Pressestellen der Anrainerstädte und die zuständigen Gewerbeaufsichtsämter betreffend Tag der Offenen Tür im Gemeinschaftswerk Leverkusen / „Tag der Umwelt“ vom 28. Mai 1974, in: BAL 388/209 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU I 1974.
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vermutet werden. Ein von der DKB veröffentlichtes Gutachten warf Henkel immer noch bis zu 500 Prozent überschrittene Grenzwerte und gesundheitsschädliche Immissionen vor. Dies ließ Bohmert abermals zu dem Schluss kommen: „Die Bewegung ist immer noch durchaus ernst zu nehmen […].“437 Henkel nahm die neue kulturelle Rahmung sowie die transformierten Sinndeutungen unzweifelhaft wahr und reagierte darauf mit strategischen Maßnahmen im kommunikativen aber auch im operativen und organisatorischen Bereich; ich werde weiter unten noch vertiefend darauf eingehen. Henkel erkannte allmählich, dass seine Unternehmens-Legitimität vom institutionellen Kontext und vor allem von der kulturellen Rahmung nicht mehr allein aufgrund seines Status als Wohlfahrtsproduzent verliehen wurde. Vielmehr war nun besonders der Umgang mit produktionsinduzierten Risiken legitimitätsstiftend geworden. Das erstarkte Umweltbewusstsein der Menschen um die Werke und im gesamten Bundesgebiet ließ Henkel in diesem Fall keine andere Wahl, als technologische Neuerungen438 beschleunigt vorzunehmen sowie innerbetriebliche Umweltschutzmaßnahmen zu forcieren. Nur so ließen sich wirtschaftliche Schäden durch hohe Reibungsverluste, etwa beim Kontakt mit seinen Endkunden, vermeiden. Des Weiteren mussten Fehler eingestanden werden und durch die Öffnung des Unternehmens eine neue Basis für Konsens und Dialog geschaffen werden. Das vormalige Ordnungsverhältnis zwischen Werk und Umwelt war verloren gegangen, womit ein beschleunigter Vertrauensverlust einher ging. Es stellt sich im Folgenden die Frage, wie Bayer mit solchen Protesten umging. Das Unternehmen stand weniger in direktem Endkundenkontakt; es setzte die natürliche und lebensweltliche Umwelt durch seine Zugehörigkeit zur klassischen Chemieindustrie aber größeren Gefahren aus. Ich werde nun die eingeschlagenen Strategien und die nötig gewordenen Aushandlungsprozesse zwischen Bayer und dem organisationalen Feld ebenfalls an wenigen Beispielen zeigen, bevor ich dann 437 Umweltschutzkommission der DKP Rheinland-Westfalen vom 22. März 1975, hier Anlage zur Berichterstattung an Dr. Bohmert betreffend Versammlung der Bürgerinitiative „Schutz der Umwelt vor Henkel“ vom 11. April 1975, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Einzelakte 36 Umweltschutz 1973–75. Vgl. ebenfalls den Bericht an Dr. Bohmert betreffend Versammlung der Bürgerinitiative „Schutz der Umwelt vor Henkel“ vom 11. April 1974, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Einzelakte 36 Umweltschutz 1973–75. Ebenfalls Henkel & Cie. GmbH / Dr. Bohmert an Emilie Liedke vom 11. März 1975, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Einzelakte 36 Umweltschutz 1973–75. 438 Im Falle Henkel kann dies sehr eindrücklich anhand der Inbetriebnahme der Großkläranlage Düsseldorf-Süd im Jahr 1974/75 gezeigt werden: Die Kläranlage war mit modernster Technik ausgestattet und reinigte die Abwässer nicht mehr nur mechanisch, sondern nun auch biologisch im so genannten Belebtschlammverfahren. Eine höhere „Egalisierung von SchadstoffKonzentrationen“ war ebenso die Folge, wie die Verbesserung des Sauerstoffbedarfs und somit der Wasserqualität für den Rhein. Um die ordnungsgemäße Sauberkeit der Werksabwässer zu gewährleisten galt es nun als „selbstverständlich […], dass die Abteilung Abwasserkontrolle bei einer Betriebsstörung unverzüglich unterrichtet wird. Es ist unsere Verpflichtung die in der Verantwortung für die Einleitung in den Rhein stehende Stadt voll und ganz zu unterstützen.“ Vgl. Protokoll Nr. 7/74 der Betriebsausschuß-Sitzung am 12. November 1974, S. 6, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Betriebsausschuß/Meisterkonferenzen 1973– 1978.
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im Folgeabschnitt dieses Kapitels auf die innerbetrieblichen Risikoverhältnisse und die entsprechenden Gegenmaßnahmen eingehen werde. Wie auch Henkel hatte Bayer auf lokaler Ebene mit Protestgruppen zu tun. Hier sind ähnliche Strategien und Argumentationen wie im Falle Henkel zu finden. Das Beispiel Bayer eignet sich jedoch auch für eine abstraktere Betrachtung einer bundesdeutschen Protestwelle gegen die chemische Industrie; als ‚Chemieriese‘ stand Bayer stärker im öffentlichen Rampenlicht als Henkel. Ich werde deshalb meinen Fokus auf die Darstellung einer breiteren öffentlichen Protestwelle legen. Des Weiteren eignet sich das Beispiel Bayer, um die Aushandlungen mit den Gewerbeaufsichtsämtern oder allgemein mit der verschärften Behördenkontrolle darzustellen. Bereits Ende des Jahres 1970 hatten sich im Kölner Raum mehrere Bürgerinitiativen gegen die dort ansässige chemische Industrie gegründet. In einer ersten Einschätzung der Situation bei Bayer gegenüber dem Vorstandsvorsitzenden Hansen kam der Leiter der AWALU-Abteilung Henkel noch zu der Einschätzung: „[I] m Augenblick ist die Lage noch relativ ruhig. Die Nachbarschaft ist an die Verhältnisse gewöhnt […]. Die Konsequenz aus den Kölner Vorgängen kann für die Zukunft nur sein, daß die Industrie in Zukunft einen genügenden Abstand (mindestens 1 km) zwischen Industrie- und Wohngebieten sicherstellt.“439 Zu diesem Zeitpunkt hatte Bayer offenbar die Eskalation der Lage in seiner unmittelbaren Nähe und damit den Macht-Zugewinn des organisationalen Feldes in Gestalt der Nachbarschaft nur vage erkannt. Ich führe die falsche Einschätzung der ernsten Lage zunächst auf das alte Selbstverständnis des Unternehmens zurück. Dies verwundert allerdings: Zur gleichen Zeit hatte der „Spiegel“440 nämlich mit einer Titelgeschichte „Gesellschaft und Umwelt“ zum Großangriff gegen Bayer geblasen. Unter anderem war dort zu lesen: „1,7 Millionen Kubikmeter Abwässer, 20 Prozent davon organisch oder anorganisch verschmutzt, schütten die Bayerwerke in Leverkusen, Dormagen und Krefeld täglich in den Rhein – das entspricht den Abwässern einer Großstadt 439 Dr. Henkel an Prof. Hansen betreffend Bürgerinitiative gegen weitere Industrialisierung vom 26. Oktober 1970, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1967– 1971. Bereits diese Einschätzung war falsch. Das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales beschloss 1972 eine Sicherheitszone von 2.000 Metern. „Die von der Behörde entwickelte Abstandstabelle ist rein theoretisch erstellt und basiert auf Geruchsschwellenkonzentrationen bzw. Immissionsrichtwerten […] für Gase und Dämpfe. […] Unsere Meinung dazu wurde kaum berücksichtigt.“ Werksverwaltung AWALU / Dr. Winkler an Dir. Broja et.al. betreffend Abstände zwischen Industrie und Wohngebieten vom 01. September 1972, in: BAL 388/130 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU bis 1972. Diese Debatte wurde hier angestoßen und zog sich bis in die 1980er Jahre. Da sich nicht alle Aspekte um den Schutzgedanken der Werksperipherie drehen, soll dieses Thema hier nicht weiter ausgebreitet werden. Es ist hier aber erstaunlich, zu sehen, dass nun das Werk und nicht mehr seine Nachbarschaft sich anpassen musste. Beispielhaft: AWALU-Kommission an Broja betreffend Nordseite des Werkes Leverkusen vom 17. September 1973, in: BAL 388/22 Werksverwaltung Leverkusen, Ingenieurverwaltung 1973–1983; ebenso: AWALU-Kommission an Broja betreffend Werksplanung Leverkusen / Flittard vom 10. Januar 1974, in: BAL 388/22 Werksverwaltung Leverkusen, Ingenieurverwaltung 1973–1983. Für einen späteren Zeitraum und den Beleg der Dauer und Hartnäckigkeit der Diskussion vgl. Protokoll über die Werksplanungsbesprechung vom 12. Mai 1980, in: BAL 388/22 Werksverwaltung Leverkusen, Ingenieurverwaltung 1973–1983. 440 Vgl. Der Spiegel Nr. 41 vom 05. Oktober 1970.
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mit 2,5 Millionen Einwohnern.“441 Die öffentliche Anklage ließ Bayer in zornigen Aktionismus verfallen: „Die unrichtigen und entstellten Passagen des Spiegel-Artikels haben wir mit unserem Kommentar versehen. […] Die inzwischen eingeleitete Verteilung der 500.000 Exemplare […], werden wir allerdings nicht verhindern können. Unsere Gegenargumente sollten aber bei jeder Gelegenheit verwendet werden.“442 Im Wunsch nach Verhinderung und Zensur sind noch Spuren des alten Selbstverständnisses und angenommener Machtfülle zu erkennen. Doch wurde der Konzern wirklich so sehr angegriffen? Vor dem Hintergrund der spärlichen Proteste in den vorangegangenen Jahren ist diese Frage eindeutig zu bejahen. Der Artikel wurde von AWALU-Mitarbeitern akribisch durchgegangen und mit eigenen Kommentaren versehen, die zur Gegenoffensive gebraucht werden konnten. Direkt ging Bayer jedoch nie dagegen vor; zu stark war der Zuspruch auf die Recherchen des Blatts, wie der Bayer-Rezensent feststellen musste.443 Die markantesten Anschuldigungen sowie die jeweiligen Gegenargumentation von Bayer möchte ich im Folgenden darstellen: Das bereits von mir erwähnte Zitat bezüglich der Abwässer wurde wie folgt kommentiert: „Von den täglich anfallenden 1,7 Mio. m3 Abwasser sind etwa 87 % Kühlwasser […]. Etwa 10 % sind nur mit anorganischen Stoffen in Berührung gekommen. Sie gehen als stark verdünnte Salzlösung in den Rhein. Was von 1,7 Mio. m3 Abwasser bleibt, sind noch ganze 0,1 Mio. m3, die organisch belastet bleiben. Technische Verfahren zur biologischen Abwasserklärung von Chemieabwässern galten noch vor 15 Jahren als Utopie […]. Bayer hat an der Entwicklung geeigneter Verfahren maßgeblichen Anteil. […] ‚400.000 t 20 % ige schweflige Säure (‚Dünnsäure‘) werden aus Bayer-Rohren jährlich in den Rhein entlassen oder in der Nordsee verquirlt.‘ Kommentar: Bei der sog. Dünnsäure handelt es sich nicht um schweflige Säure, sondern um verdünnte Schwefelsäure. […] Um die Salzlast des Rheins möglichst gering zu halten, wird die Dünnsäure nicht in den Rhein gegeben, sondern mit Schubschiffen nach Rotterdam transportiert, dort auf hochseetüchtige Schiffe umgeschlagen und in der Nordsee mindestens im Verhältnis 1:5000 verdünnt. Dieses Verfahren wurde von den niederländischen Aufsichtsbehörden überprüft und genehmigt. Befürchtungen über eine schädliche Beeinflussung der Meeres-Fauna sind unbegründet. […] Zitat S. 93: ‚Chmiedirektor Dr. Hans-Erich Klotter: ‚In den zwei Jahrzehnten nach Kriegsende haben unsere Konzerne nichts getan, um Luft und Wasser vor der Vergiftung zu bewahren.‘ Kommentar: Wir haben uns bei Herrn Dr. Klotter erkundigt, ob er diese Aussage gemacht hat. Seine Antwort: ‚In Gegenwart von Herrn Ministerialrat Meinen habe ich dem Spiegelredakteur gesagt: ‚Die Leistungen der Industrie verdienen alle Bewunderung und übersteigen die der Kommunen.‘ […] Den vom ‚Spiegel‘ mir in den Mund gelegten Satz habe ich niemals ausgesprochen.‘ Kommentar: Wir betrachten diese Verleumdung als eine gröbliche Verletzung der journalistischen Sorgfaltspflicht. […] Zusammenfassend muß festgestellt werden, daß der ‚Spiegel‘ bei der Behandlung des UmweltThemas, dessen Wichtigkeit die Industrie in allen Teilen anerkennt, die notwendige Sorgfalt der Recherche und Genauigkeit der Darstellung hat vermissen lassen. Das sind Fakten, die von 441 Ebd. S. 74. 442 Dr. Henkel an Dir. Dr. Bachem betreffend „Spiegel“ Nr. 4 vom 05.10.1970 Artikel „Umwelt und Gesellschaft“ vom 25. Februar 1971, in: BAL 388/144 Werksverwaltung Leverkusen, Gesetze und Verordnungen 1971. 443 Vgl. ebd.
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der Industrie nicht unwidersprochen hingenommen werden dürfen. Wir müssen uns daher […] in der Zukunft gegen jede unwahre Behauptung mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln zur Wehr setzen.“444
Nun hatte Bayer also erkannt, dass man sich gegen die wenige Zeit vorher noch höflichen und friedfertigen Menschen in der Werksumwelt wehren musste. Die Nachbarschaft bzw. die öffentliche Meinung war erkennbar in der Lage, das damals zweitgrößte Unternehmen der chemischen Industrie in arge Bedrängnis zu bringen. Bayer hatte aber noch nicht erkannt, dass eine einfache technische Argumentation gerade nicht mehr ausreichte, um den Protesten zu entgehen. Genau dies warf Bayer dem Spiegel aber vor: Investigativen Journalismus zu betreiben, der jeglicher technischen Fundierung entbehrte. Dem Unternehmen war noch nicht klar, dass es nicht mehr um die genaue Darstellung ging, also ob es sich beispielsweise bei Dünnsäure nun schweflige Säure oder um verdünnte Schwefelsäure handelte. Vielmehr ging es dem öffentlichen Protest um die einfache Tatsache, dass ein organisches Gemisch ins Meer geschüttet wurde, welches das Leben dort aus der Sicht der Öffentlichkeit gefährden konnte. Seit Ende des Jahres 1970 wurde dann mit einer vom VCI verstärkt angeregten Öffentlichkeitsarbeit ins Feld gezogen. Bereits ein halbes Jahr später dürfte durch das enorme Medienecho und die damit verbundene Unterstützung der belästigten Bürger klar gewesen sein, dass neue Maßnahmen erforderlich geworden waren. Abermals wurde überregional gegen Bayer getitelt: „Wer in Köln Gestank oder Dreck aufspürt, braucht nur zu telefonieren. Dann schlägt die Behörde zu – so kämpft eine Stadt gegen Luftverpester.“445 In diesem Artikel wurde die Hauptschuld an den problematischen Luftverhältnissen erneut der Industrie und nicht etwa dem Hausbrand oder dem Verkehr zugeschrieben. Der interviewte Leiter des Gewerbeaufsichtsamtes berichtete von einer allmählichen Verbesserung der Verhältnisse, nachdem die Behörde „hellwach“ sei. Es müsse jedoch darum gehen, „weitere Erziehungsmaßnahmen“ gegenüber der chemischen Industrie zu ergreifen.446 Mit der Forderung nach Erziehungsmaßnahmen ging ein deutliches Signal an Bayer, die kulturelle Rahmung äußerst sorgfältig zu beachten und sie nicht mehr als potenziell unbedrohlich zu vernachlässigen oder ganz zu ignorieren. Kurze Zeit später wurde dann die Illusion, die vorherige ruhige Lage ließe sich wieder herstellen, endgültig und für den gesamten Industriezweig zerstört: Durch die bereits 444 Dr. Henkel an Dir. Dr. Bachem betreffend „Spiegel“ Nr. 4 vom 05.10.1970 Artikel „Umwelt und Gesellschaft“ vom 25. Februar 1971, hier Anlage Zusammenstellung und Kommentierung des Artikels von Dr. Meyer vom 15. Februar 1971, in: BAL 388/144 Werksverwaltung Leverkusen, Gesetze und Verordnungen 1971. 445 „So kämpft eine Stadt gegen Luftverpester“, Neue Revue Hamburg Nr. 15 vom 11. April 1971, ohne Seitenangabe, Abschrift der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit der Bayer AG, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1967–1971. Ebenfalls im Jahr 1971 finden sich erstmals strategische Überlegungen von Bayer hinsichtlich der Standortwahl. Es dürfte jedoch so gewesen sein, dass es aufgrund der Anfeindungen nie zu ernsthaften Überlegungen gekommen war, den Standort Leverkusen aufzugeben. Beispielhaft: Vortrag des Vorstandvorsitzenden Hansen in Düsseldorf am 14. Mai 1971, in: BAL 388/144 Werksverwaltung Leverkusen, Gesetze und Verordnungen 1971. 446 Vgl. ebd.
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zitierte Studie des VCI447 war Bayer spätestens seit 1972 klar, dass sich durch die veränderten Sinndeutungen seiner kulturellen Rahmung eine potenzielle Gefahr für das Image, die Glaubwürdigkeit und die Anerkennung des Unternehmens ergeben konnte. Diese repräsentative Studie zum Image der chemischen Industrie ließ das Topmanagement des Leverkusener Konzerns abseits der Streitigkeiten mit den Behörden aufschrecken, da in der öffentlichen Meinung das Bild eines janusköpfigen Industriezweigs entstanden war; das Selbstverständnis als Heilsbringers ökonomischer Wohlfahrt musste jenem eines Gefahrenherds weichen, was sich nur sehr zögerlich in die Sinnmuster des Unternehmens integrierte. Dennoch hatte auch Bayer keine andere Wahl, als sich öffentlich zu Fehlern der Vergangenheit zu bekennen und, um Vertrauen wieder zu erlangen, Besserung zu geloben. In einer Pressemitteilung wurde versucht, auf die Proteste zu reagieren. Bayer stellte dabei 1972 zunächst klar, dass es sich bei der Wahrnehmung der Umweltverschmutzung um ein junges Phänomen handelte. Hiermit sollte offensichtlich der Eindruck entstehen, dass auch das Unternehmen von den neuen Forderungen überrascht worden sei. Die Devise hieß also zunächst: Zeit gewinnen: „Das Ausmaß der Umweltverschmutzung lässt sich nicht genau in Zahlen erfassen. […] Ein besonderes Problem bieten die organischen Geruchsstoffe, die sich auch millionenfach verdünnt noch unangenehm bemerkbar machen. […] Obwohl sie mengenmäßig keine Rolle spielen, bedeuten sie das eigentliche Problem der chemischen Industrie. Von Bayer werden große Anstrengungen unternommen, diesen typischen ‚Chemiegeruch‘ […] in Zukunft auszuschalten. […] Bayer unternimmt große Anstrengungen, um seinem Ruf als Wegbereiter der Zukunft auch im Bereich des Umweltschutzes gerecht zu werden. […] Die Luftverunreinigung durch die Bayerwerke ist trotz steigender Produktionen gesunken. Maßgebenden Anteil an dieser Entwicklung hat die zunehmende Einführung ‚umweltfreundlicher‘ Produktionsverfahren. Es bleibt zu hoffen, daß die in Gang gekommene Diskussion zu einem allgemeinen Umweltbewusstsein führt […].“448
Das rhetorische Mittel, sich als ein „Wegbereiter der Zukunft“ auch in Bezug auf den Umweltschutz zu sehen, deutet für mich darauf hin, dass dem Konzern erstmals seine gesellschaftliche Verantwortung außerhalb seiner Wohlfahrtswirkung bewusst wurde. Wir finden hier also erste zaghafte Versuche, sich strategisch als verantwortungsvoll handelnder Akteur auf diese Aufgabe einzustellen. Diese neue Rhetorik und die damit verbundenen strategischen und operativen Ankündigungen Bayers – inwieweit auch ein neues Glaubenssystem dahinter stand, wird noch zu zeigen sein – waren natürlich ebenso wie im Falle von Henkel den schweren Anfeindungen geschuldet. Wir beobachten also zunächst die Wahrnehmung der in Bezug auf die Umweltproblematik protest- und partizipationsbereiten Öffentlichkeit jenseits der Auseinandersetzung mit den Behörden. Darauf folgte der Versuch, alte Handlungslogiken und Argumentationen gegenüber dem organisationalen Feld – und besonders im Falle Bayers auch im Innern des Unternehmens – anzuwenden. 447 Vgl. Anm. 111. 448 Presseinformation „Umweltschutz“ der Bayer AG vom 05. Mai 1972, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1973–1974.
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Diese Versuche scheiterten schnell. Die öffentliche Meinung wurde gründlich analysiert, wobei sicherlich zwischen den Jahren 1969 und 1970 zunächst die tatsächliche Wirkungsmacht der gesellschaftlichen Transformation unterschätzt wurde. Als dies aber Ende 1970 immer offensichtlicher wurde und die Bürgerbewegungen massiven Zulauf erhielten, aktivierten die Unternehmen zunächst externe Kommunikationsstrategien bzw. verfolgten eine offenere Politik, was ihren Umgang mit produktionsinduzierten Risiken betraf, oder sie ließen ihre Führungskräfte sich dezidiert mit den Vorwürfen gegenüber der Industrie auseinandersetzen. Diese Aktionen wurden vom VCI gezielt gesteuert. Im Dezember 1970 erschien ein Artikel der IG Chemie Papier, Keramik, der die Wahrnehmung der Umweltverschmutzungen durch das Kollektiv chemische Industrie heraushob. Das Kollektiv trat in diesem Artikel gleichfalls als mobiler Akteur auf, der den Gefährdungen Einhalt gebieten wolle und sich seiner neuen Rolle als Mitschädiger einerseits wie auch als verantwortungsvoll handelnder Akteur andererseits bewusst zu werden schien. Die Rolle als alleiniger Schädiger der Umwelt wollte man sich jedoch nicht zuschreiben lassen. Nachdrücklich wurde nun aber die Initiative durch die Gemeinschaft beschworen: „Der chemischen Industrie sind die alarmierenden Berichte über die zunehmende gemeingefährliche Verseuchung unserer Umwelt durch Abgase, Abwässer […] an die Nieren gegangen. Jetzt macht sie mobil, jetzt will sie endgültig gemeinsam handeln. […] In einem Rundschreiben des Spitzen-Verbandes der Chemischen Industrie e.V. wird zur Mobilmachung aufgerufen. Unterschrieben vom Verbandspräsidenten Professor Kurt Hansen, zugleich Vorstandsvorsitzender der Farbenfabriken Bayer AG in Leverkusen am total verseuchten deutschen Rhein, werden die Geschäftsleitungen aller Mitgliedfirmen für eine gemeinsame Aktion eingeschworen. In diesem vertraulichen Papier wird zunächst beklagt, daß in der ‚Öffentlichkeit, in Massenmedien und in Veranstaltungen gerade gegen die Chemische Industrie der Vorwurf erheblicher Umweltverschmutzungen in manigfacher Form erhoben‘ wird. […] Deswegen […] habe sich das Präsidium […] mit der Frage des Umweltschutzes befasst, und ist zu der Auffassung gelangt, daß die Öffentlichkeitsarbeit des Verbandes sich mit diesen Fragen und mit den Angriffen auf die Chemische Industrie nicht nur abwehrend, sondern aktiv auseinandersetzen muß.“449
Im Falle Bayer erging exemplarisch Ende 1973 an das gesamte obere wie mittlere Management der Hinweis auf eine neue industriekritische Veröffentlichung von Günter Wallraff mit dem Titel: „Was wollt ihr denn, ihr lebt ja noch. Chronik einer Industrieansiedlung“: „Der Inhalt des Buches findet sich im Titelbild komprimiert wieder: Arbeiter mit Plakat: ‚Die Luft gehört uns allen.‘ Industrieller: ‚Aber wir
449 „Chemie macht mobil“, aus: IG Chemie, Papier, Keramik Nr. 12 vom Dezember 1970, ohne Seitenangabe, Abschrift der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit, Pressestelle / Ausschnittsdienst der Bayer AG, in: BAL 388/144 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Gesetze und Verordnungen 1971. In dem vertraulichen Papier des VCI hieß es wörtlich: Sie [die chemische Industrie, T.J.] muss darauf abzielen, nicht nur die erweisbaren Leistungen […] ins Bewußstsein der Öffentlichkeit zu rücken, sondern sich aktiv – das heißt nicht aus einer Abwehrstellung heraus – mit den vielfältigen gegen sie erhobenen Vorwürfen auseinanderzusetzen.“ Beschluss des Präsidiums des Verbandes der Chemischen Industrie vom 22. Juli 1970 betreffend Chemie und Umwelt, in: BAL 388/144 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Gesetze und Verordnungen 1971.
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bestimmen den Giftgehalt‘. Interessenten stehen leihweise oder zum Verbleib Exemplare des Buches zur Verfügung.“450 Es kann also keinen Zweifel mehr darüber geben, dass sich die Proteste ausdehnten und dies auch von der chemischen Industrie wahrgenommen wurde. Damit dürfte auch klar gewesen sein, dass die oben beschriebenen Maßnahmen wenig Erfolg gebracht hatten. Alte Argumente und eingefahrene interne wie externe Strategien zur Verleugnung von Umweltrisiken hatten ausgedient. Äußerungen wie die folgende eines Bayer-Juristen gegenüber dem Vorstand, ebenfalls aus dem Jahre 1973, wären wenige Jahre zuvor sicherlich noch als ganz und gar unangebracht abgetan worden. Doch viel wichtiger erscheint mir die Feststellung, dass sie wenige Jahre zuvor schlicht unnötig gewesen wäre, da die kulturelle Rahmung das Unternehmen damals nicht angefeindet hatte. Wieder am Beispiel der Genehmigung von Neuanlagen wurde hier die neue Macht der Öffentlichkeit dargestellt. Diese neue Macht wurde als emotional aufgeladen bezeichnet; es wurde nun oberstes Gebot diese Machtverschiebung ernst zu nehmen und ihr auch in der Unternehmenspolitik Raum zu gewähren: „Die Erfahrung zeigt, daß gewerberechtliche Genehmigungsverfahren nicht nur durch sachliche Diskussionen sondern besonders durch erhebliche Emotionen und Misstrauen der Öffentlichkeit beherrscht werden, die schließlich in völlig willkürlichen Aktionen münden. […] Daß die Nachbarprobleme Industrie/Bevölkerung heute vielerorts in ein ausgesprochen kritisches Stadium getreten sind, ist nicht zuletzt auf eigene Fehler zurückzuführen, sondern auch eine Folge fehlerhafter Bauleitplanungen der öffentlichen Hand, begünstigt durch die Nachkriegsbemühungen, die Industrie wieder schnell aufzubauen. Das entbindet die Industrie nicht davon, den Nachbarschutz zu berücksichtigen und entsprechende gewerberechtliche Auflagen zu erfüllen.“451
Die Proteste gegen den ‚Chemieriesen‘ Bayer waren vielschichtiger als diejenigen gegen Henkel. Die Argumentationsweise in der hier zitierten Quelle zeigt, dass der Nachbar nun ernst genommen werden musste, und sie macht weiterhin deutlich, dass Proteste gegen die Gefährdung durch das Werk durchaus in strategische Überlegungen einbezogen wurden. Sicherlich sah man Protest gegen das eigene Unternehmen nicht als legitim und als überzogen an. Eine aktive Gegenwehr fand jedoch nicht statt, da diese neue gesellschaftliche Strömung als mächtig wahrgenommen wurde. Eine vollkommene Übernahme der Richtigkeit des Umweltschutzes in die Glaubenssysteme von Bayer begann sich aber erst allmählich zu konstituieren, was die mürrischen Stimmen und ein nach wie vorhandenes – wenn auch vermindertes
450 Dr. Winkler / Werksverwaltung AWALU an die Herren Vorstandmitglieder et.al. betreffend „Was wollt ihr denn, ihr lebt ja noch – Chronik einer Industrieansiedlung“ vom 28. September 1973, in: BAL 388/132 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Allgemein 1973. Ähnlich im Falle Henkel in Bezug auf die Wichtigkeit der Information für Führungskräfte in Sachen Umweltschutz. Vgl. Mitteilung für Führungskräfte / Intern Nr. 6/74, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Blaue Mitteilungen/Intern. 451 Dr. Charbonnier / Bayer Rechtsabteilung an Dir. Broja et.al. betreffend Nachbarrechtliche Intervention gegen gewerberechtliche Genehmigungen vom 24. April 1973, in: BAL 388/132 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Allgemein 1973.
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– Unverständnis über die Anfeindungen im Kontext des neuen öffentlichen Umweltbewusstseins im Innern des Unternehmens belegen. Ein von den Protestgruppen aufgegriffener Aspekt war die Dünnsäureverklappung. Die Proteste gegen die Einleitung der Abfallschwefelsäure ins Meer werden hier lediglich in ihren Umrissen beschrieben, denn sie begannen zwar im hier zu betrachtenden Zeitraum, intensivierten sich aber erst am Ende der 1970er Jahre, nachdem die neuartige Technik nicht mehr als Innovation, sondern als Gefährdung des Lebens der Meeresbewohner angesehen wurde. Bereits Mitte 1971 erging in einer Notiz an den Vorstandsvorsitzenden Hansen ein Bericht über das Vorankommen der Dünnsäureverklappung. Einigen Journalisten war das Verfahren bei einem Ortstermin vor der holländischen Küste vorgeführt worden. Bereits hier musste Hansen aber zur Kenntnis nehmen, dass einige der anwesenden Journalisten zwar „beeindruckt waren“, aber Anlass zur Vermutung bestand, das ZDF wolle eventuell „eine Schauerstory produzieren.“452 Im weiteren Verlauf der 1970er Jahre gab es immer wieder Aktionen von Umweltaktivisten vor der Leverkusener Konzernzentrale. Hierbei wurden des Öfteren eimerweise angeblich verseuchte Seefische vor den Haupteingang geschüttet, um so öffentliche Aufmerksamkeit auf das Einleiten der Säure zu erzielen und dem Konzern sein „untragbares Umweltverhalten“ vor Augen zu führen.453 Die Folgen der allgemeinen Proteste gegen Bayer lassen sich auch in anderem Zusammenhang zeigen: Das Verhältnis zwischen der Stadt Köln und dem Leverkusener Werk kühlte zunehmend ab. Grund hierfür war die angedachte Eingemeindung Leverkusens nach Köln. Natürlich hätte sich die geographische Lage des Bayerwerkes nicht verändert, jedoch evozierten diese Pläne heftigen Widerstand von Seiten der Kölner Bürgerschaft. Man wollte das Werk und seine schädigende Wirkung nicht auf Kölner Gemarkung wissen. Der Protest formierte sich demnach erstens wegen der geplanten Integration eines Werkes der Großchemie in der Nachbarschaft. Er begründete sich zweitens darin, dass die Kölner vermuteten, Bayer wolle nicht nur Leverkusen, sondern auch Köln „beherrschen“.454 Die Menschen in Köln wollten das Unternehmen nicht in ihrer Stadt haben, was zu einem anhaltenden Zwist zwischen dem Oberbürgermeister und der Leverkusener Konzernspitze 452 Vgl. Dr. Weber an Prof. Hansen betreffend Versenkung von Stoffen ins Meer, Pressestimmen, Fernsehkommentare vom 30. Juli 1971, in: BAL 388/129 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Allgemein 1971. 453 Vgl. Interview mit Dr. Hans-Georg Meyer, ehemals Umweltschutzabteilung der Bayer AG, vom 18.12.2009. 454 Exemplarisch: Presse-Information der Bayer AG betreffend Bayer zur Korrespondenz mit dem Oberbürgermeister der Stadt Köln, Herrn John van Nes Ziegler, in Sachen „Gebietsreform“ vom 16. August 1974, in: BAL 388/86 Werksverwaltung Leverkusen, Vorstandsstab 1974– 1983. Aus der Retrospektive ist dieses Argument im Bezug auf die Gefährdung und ihre Hinnahme durch die Stadt Leverkusen nicht zu halten, da sich bereits 1974 ein „Beirat für Umweltschutz“ im Stadtrat von Leverkusen konstituiert hatte. Der Beirat wollte über „Techniken, Entwicklungen und Veröffentlichungen informiert werden, die den Umweltschutz betreffen. Ein Hauptgewicht des Beirats lag in der Betrachtung umweltrelevanter Maßnahmen (z.B. […] Flächennutzungsplan, Bebauungsabsichten) […].“ Vgl. Niederschrift über die 1. Sitzung des „Beirates für Umweltschutz“ am 30. Oktober 1974 im FORUM-Restaurant, in: BAL 388/214 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Allgemein ab 01.07.1974.
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führte. Exemplarisch lässt sich dies an einer Anfrage der Jungen Union an den Vorstandsvorsitzenden Grünewald 1974 rekonstruieren, die auf das angespannte Verhältnis sowie die vorauszusehenden Auswirkungen für Bayer und die Städte Leverkusen und Köln zielte.455 Grünewalds Antwort auf die Frage nach der Gefährdung, die von Bayer ausgehe, ist sinnbildlich für das Selbstverständnis Bayers in der Mitte der 1970er Jahre: Auf keinen Fall wollte der Vorstandsvorsitzende noch Öl ins Feuer gießen. Seine Stellungnahme zeigte sehr deutlich die Enttäuschung des Konzerns über die Sichtweise des organisationalen Feldes und die damit einhergehende Frage nach der verbliebenen eigenen Daseinsberechtigung: „Sie werden wissen, daß die Diskussion über die kommunale Zukunft Leverkusens teilweise sehr unsachliche Formen angenommen hat. So ist mehrfach davon geredet und geschrieben worden, unser Unternehmen beherrsche und gefährde diese Stadt, ein Behauptung, die sich natürlich in keiner Weise stützen lässt. Ich möchte jedoch auf keinen Fall diesen Leuten Nahrung für ihre unsachliche Argumentation geben, und das würde ich tun, wenn ich ehrlich auf ihre Frage antworten würde.“456
Die Resignation und die Weigerung Grünewalds, auf die Anfrage der Jungen Union zu antworten, belegen einerseits, wie sehr sich das Verhältnis zwischen Bayer und seinem Umfeld verschlechtert hatte. Es wird deutlich, dass ein Topmanager eines angefeindeten Chemiekonzerns nicht mehr über genügend Legitimität verfügte, öffentlich seine Stimme zu erheben und Forderungen zu stellen. Die letzte Passage zeigt andererseits auch, dass der Konzernchef sein Unternehmen nicht in derselben Weise als Gefahrenherd wahrnahm, wie ihm das organisationale Feld dies vorwarf. Ein gewisser Zorn über diese Zuschreibung von außen ist hier sicherlich genauso vorhanden wie das Unverständnis über die Anfeindung der kommunalen Nachbarschaft. Dieser Umstand musste nun jedoch resigniert akzeptiert werden. Nichtsdestotrotz beobachten wir am Ende des hier betrachteten Zeitraums eine offene, auf die öffentlichen Interessen und Ängste zugeschnittene Kommunikationsstrategie bzw. teilweise auch eine veränderte innere Überzeugung der Unternehmensvertreter. Im Juli 1976 sah der Vorstandsstab keine andere Möglichkeit mehr, auf die anhaltenden Proteste zu reagieren, als die Öffentlichkeit über alle umweltrelevanten Themen und Ereignisse im Werk zu unterrichten. Auch wenn weiterhin Misstrauen auf beiden Seiten herrschte, so erkennt man aus der nachfolgenden Quelle die Einsicht des Konzerns, dass der organisationale Akteur immer ernster genommen werden musste. Nicht mehr nur die direkte Nachbarschaft wurde nun als äußere Anspruchsgruppe des Unternehmens angesehen; man richtete sich genau genommen an die gesamte bundesdeutsche Öffentlichkeit: „Es wurde aufgrund eines gegebenen Anlasses festgelegt, daß Formulierungen über Ereignisse im Werk Leverkusen vor der endgültigen Abgabe an die Presse vom Werksleiterbüro freigegeben werden müssen. Das Werksleiterbüro ist dafür verantwortlich, daß die 455 Vgl. Brief der Junge Union Deutschlands / Kreisverband Leverkusen an Prof. Dr. Grünewald vom 07. August 1974, in: BAL 388/86 Werksverwaltung Leverkusen, Vorstandsstab 1974– 1983. 456 Briefentwurf für Prof. Grünewald an Junge Union vom 09. August 1974, in: BAL 388/86 Werksverwaltung Leverkusen, Vorstandsstab 1974–1983.
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erreichbaren zuständigen Stellen […] über den Text informiert sind. Bei Anfragen aus der Öffentlichkeit […] sollten die Antworten ebenfalls […] abgesichert sein.“457 Ich möchte im Folgenden noch eine weitere Begründung für die allmählich veränderten institutionellen Arrangements innerhalb der Unternehmen aufzeigen: Gerade im Fall Bayer wird sehr deutlich, wie die Umweltschutzgesetzgebung von den zuständigen Behörden durchgesetzt und gegenüber den Unternehmen ein rauerer Ton angeschlagen wurde. Es hatte sich auf Behördenseite eine Einstellung manifestiert, wonach Bayer nicht wie wenige Jahre zuvor stets respektvoll und nachlässig zu behandeln war. Die durch das Umweltprogramm der Bundesregierung geforderte strengere Überwachung der Unternehmen wurde nun auch in Taten umgesetzt.458 Nachdem ich oben die Reaktionen und gescheiterten Abwehrversuche Bayers gegen den entstandenen institutionellen Druck zeigen konnte, geht es mir an dieser Stelle um die veränderte Haltung der außer-unternehmerischen Durchsetzungsorgane. Auch hier ist eine neue, auf eine Entmachtung der chemischen Industrie zielende Haltung zu erkennen, die den Unternehmen die Zeichen der Zeit im Hinblick auf Umweltschutz und ihre Selbstverantwortung über Risikofragen deutlich vor Augen führte. In den meisten Fällen gab es nun keine Verhandlungen mehr; der Industriezweig hatte sich vermehrt einer neuen Garde durchsetzungsstarker Beamter zu beugen. Ich möchte dies an wenigen, aber eindrücklichen Beispielen zeigen, bevor ich dann dezidiert auf die innerbetrieblichen Maßnahmen und außerhalb der externen Unternehmenskommunikation liegenden Strategien eingehen werde. Bei der Darstellung des angespannten Verhältnisses und der damit einhergehenden Korrosion des alten Gutwillens zugunsten der chemischen Industrie geht es mir um allgemeine Aspekte der Gefährdung der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt und die folgende Reaktion der Behörden. Im Frühsommer 1971 schrieb das Regierungspräsidium Düsseldorf an das Bayerwerk in Leverkusen: „[D]urch starkes Absinken des Sauerstoffgehalts des Rheins […] besteht eine akute Gefahr für das biologische Leben und das Selbst457 Kaebe / Werksleiterbüro an Werksleiter Weise et.al betreffend Information der Öffentlichkeit vom 07. Juli 1976, in: BAL 388/214 Werksverwaltung Leverkusen, Vorstandsstab 1974–1983. Hierzu auch der aktualisierte „Informationsplan Presse“ der Abteilung VS-Öffentlichkeitsarbeit (Vorstandsstab, T.J.): „Dieser Plan soll Ihnen helfen, die Pressestelle bei allen Unfällen, Bränden, Explosionen […] zu jeder Zeit [Hervorhebung im Original, T.J.] benachrichtigen zu können“. VS-Öffentlichkeitsarbeit / Pressestelle an Betriebsleiter vom 11. April 1976, in: BAL 388/86 Werksverwaltung Leverkusen, Vorstandsstab 1974–1983. 458 In diesem Betrachtungszeitraum ließ sich nur noch ein einziges Beispiel finden, das auf ein gutes Verhältnis zwischen den Behörden und Bayer hinwies: Das Landwirtschaftsministerium hatte 1971 eine größere Menge giftiges Arsenoxid zu entsorgen und fragte an, ob dieses Material von Bayer deponiert werden könne. Bayer sagte aufgrund der Umweltproteste nur „im äußersten Notfall“ zu. Auch das Landwirtschaftsministerium wusste um die Gefahr, seine Reputation zu verlieren, und bat Bayer daher um strenge Vertraulichkeit: „Verhandlungen in dieser Richtung sollen bald zwischen Regierungspräsident Düsseldorf und Bayer stattfinden. Sie sollen streng geheim bleiben. Auf keinen Fall darf die Öffentlichkeit davon erfahren.“ Vgl. Vertrauliche Aktennotiz von Dr. Weber an Dir. Broja vom 15. September 1971, in: BAL 388/130 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU I bis Ende 1972. Der Vorgang konnte nicht mehr weiter verfolgt werden.
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reinigungsvermögen des Rheins. Es ergeht die dringende Aufforderung an alle Abwassereinleiter, alle Maßnahmen, die zu erhöhter Abwasserlast beitragen sind zurückzustellen.“459 Gestützt auf das Umweltprogramm der Bundesregierung konnte der Regierungspräsident dann im Herbst 1971 aufgrund der weiterhin lebensfeindlichen Wasserqualität des Rheins folgende Aufforderung an das Unternehmen richten: „In Abstimmung mit dem Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten […] habe ich eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die die für die Abwasserbelastung des Rheins bedeutsame Kläranlagen und Einleitungen überprüfen […]. Die Arbeitsgruppe wird unverzüglich tätig werden und die Überprüfungstermine für die nächsten Tage mit Ihnen festlegen. Ich bitte Sie, zu dieser Überprüfung Vertreter mit Entscheidungsbefugnis, Betriebsunterlagen, Abwasseranalysen sowie alle sonstigen für die Überprüfung der Anlage notwendigen Unterlagen bereitzustellen.“460
Die Behörden konnten Anfang der 1970er Jahre also damit beginnen, eine verschärfte Kontrolle der chemischen Industrie mit neuartigen Mitteln durchzuführen; Ziel war die Um- und Durchsetzung des Umweltprogramms. Entscheidend waren zwei Aspekte, die den Unternehmen in ihrer Erfahrungswelt bis dahin so nicht bekannt waren: Erstens zeigten die Behörden Präsenz, und zweitens schlugen sie einen verschärften Ton an, der ihren Willen zur Umsetzung der Ziele unmissverständlich deutlich machte. Insbesondere das gezielte Aufspüren von Umweltgefahren war ein Anliegen der Behörden, an dessen Umsetzung die Exekutive beteiligt war. So war im Raum Leverkusen/Köln seit Beginn der 1970er immer wieder von HelikopterÜberwachungsflügen über dem Bayerwerk und dem Rhein zu berichten, wie in der folgenden Aktennotiz durch die AWALU: „Am 9.6.1972 wurden seitens der Wasserschutzpolizei (Hubschrauber-Einsatz) Wasserproben in Höhe unsere Auslässe gezogen. Wir haben daher Einzelproben aus den […] Endauslässen entnommen und untersucht. […] Auswertung: Alle Werte liegen innerhalb der seit Jahren bekannten Schwankungsbereiche […]. Beobachtbar für die Wasserschutzpolizei war allerdings die starke Anfärbung […] (dunkelrot bis tiefblau), eventuell eine gelblich-leicht rötliche Anfärbung aus Auslaß S. Lt. Aussage der Wasserkontrollgruppe war zwischen 8.15 – 8.45 Uhr kein Schaum auf dem Rhein. (Anschließend wurden Entschäumer zugesetzt und weiter beobachtet). Alle anderen, für die Polizei nicht sichtbaren Inhaltsstoffe, halten sich im normalen Rahmen. Eine Toxicität [sic!] gegen Bakterien in den Proben […] lag nicht vor.“461
Die hier angesprochenen Anfärbungen waren nicht mehr – wie noch wenige Jahre zuvor – an der Tagesordnung. Die Auflagen an die Unternehmen, wie etwa der 459 Fernschreiben des Regierungspräsidiums Düsseldorf an die Farbenfabriken Bayer AG vom 10. Juni 1971, in: BAL 388/130 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Allgemein 1971. 460 Regierungspräsidium Düsseldorf an die Firma Farbenfabriken Bayer – AWALU – betreffend Entlastung des Rheins bei Niedrigwasserführung vom 15. Oktober 1971, in: BAL 388/130 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Allgemein 1971. 461 Aktennotiz der Werksverwaltung AWALU betreffend Abwasserproben der Endauslässe vom 09.06.1972 (8–9.00 Uhr) / Kontrolle der Wasserschutzpolizei im Rhein vom 22. Juni 1972, in: BAL 388/130 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU bis 1972.
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Pflicht, gutachterliche Expertisen über die Abwasserbeseitigung abzugeben, trugen zu der verbesserten Situation bei.462 Da die Unternehmen von der Umweltthematik überrascht worden waren, konnten sie oft technologisch nicht mit den Forderungen Schritt halten. Neu war jedoch, dass die zuständigen Behörden sich nicht mehr mit dieser Argumentation zufrieden gaben und die Unternehmen als Feldakteur weiter unter Druck setzten. So wurde bei jedweder Art von Immissionen strikt nachgehakt und auf Besserung gepocht. Selbst kleine Betriebsstörungen wurden nun beanstandet und die Unternehmen kriminalisiert, wie das folgende Beispiel zeigt: Im Jahr 1972 kam es in Leverkusen wieder zu Einfärbungen des Rheins, die ebenfalls starke Gerüche freisetzten. Erneut rückte die Wasserschutzpolizei mit Hubschraubern zur Dokumentation der Vorgänge an. Die AWALU-Abteilung musste nun aber in einer Art Verhör heikle Fragen beantworten und erklären, wie es abermals zu solchen Ereignissen hatte kommen können.463 Die Mitarbeiter versuchten noch, die Beamten der „Kriminalgruppe Rhein“ zu belehren – etwa mit dem Hinweis, es handle sich bei den Werten aus den Einleitevorschriften nicht um „Grenz- sondern um Richtwerte“ und das Werk habe „nicht gegen Auflagen verstoßen“.464 Der Tenor des Antwortschreibens ist jedoch derselbe, wie ich ihn oben anhand der Kommunikation mit der allgemeinen Öffentlichkeit herausgestellt habe: Er ist geradezu unterwürfig und betont die Anstrengungen des Bayerwerks: „[Ü]ber den Werkschutz wurde mitgeteilt, daß die Wasserschutzpolizei eine Geruchsbelästigung am Rhein und eine Verfärbung des Rheinwassers beanstandet. Der Angelegenheit wurde unmittelbar nach dieser Nachricht nachgegangen. Mittels eines Motorschiffes wurde der betreffende Abschnitt des Rheins befahren und Wasserproben gezogen. […] Diese visuellen ersten Befunde waren unmittelbar danach Gegenstand von Gesprächen unseres Mitarbeiters Dr. Wolff mit Herrn Dipl-Chem. Koller (Wasserwirtschaftsamt Düsseldorf) und Regierungschemiedirektor Dr. Lüssem (Landesanstalt für Gewässerkunde und Gewässerschütz NRW).“465
Das Ereignis zeigte den Bayer-Verantwortlichen, dass nun ihre eigenen Wasserproben und Expertisen nicht mehr erwünscht waren. Bayer wurde die Deutungshoheit über das Gefahrenpotenzial seiner Abwässer entzogen; die Exklusivität des Wissens über die produktionsinduzierten Risken hatte das Unternehmen bereits zu Beginn der 1970er Jahre weitgehend abgeben müssen. Schwankungen in den Anteilen toxischer Stoffe wurden nicht mehr geduldet, und damit zu argumentieren, brachte keine Entspannung des Verhältnisses zwischen dem Unternehmen und den Behördenvertretern. Stattdessen mussten nun aufgrund des von Taten untermauerten Drucks der Behörden bei Verfehlungen Sofortmaßnahmen in Gang gesetzt werden: „Die vom Fernsehen bei Hubschrauberüberflügen im Rahmen der internationalen Rheinschutzwoche registrierte starke Verfärbung des Rheins in Höhe des 462 Exemplarisch: Gutachterlicher Bericht über die Abwasserbeseitigung des Werkes Leverkusen der Farbenfabriken Bayer A.G. (Stand Februar 1972) / Erstattet auf Veranlassung des Herrn Regierungspräsidenten in Düsseldorf, in: BAL 388/130 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Allgemein 1971. 463 Vgl. Dr. Weber an Wasserschutzpolizeidirektion Nordrhein-Westfalen / Kriminalgruppe Rhein vom 17. April 1972, in: BAL 388/130 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU I bis Ende 1972. 464 Vgl. ebd. 465 Ebd.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
Werkes Leverkusen hat uns veranlasst, die Tage im Monat September zu ermitteln, an denen das Abwasser des Werkes ähnlich stark gefärbt war.“466 Bayer musste nun umwelttoxische Stoffe identifizieren und seine Umwelt davor schützen, wie dies gleichfalls auf der ersten Konferenz der Umweltschutzbeauftragten bei Henkel im Jahr 1971 postuliert wurde, damit den „Forderungen der Behörden nachgekommen“ werde.467 Mitte der 1970er Jahre kulminierte dies in einer von der Ministerkonferenz der Rheinanliegerstatten in Zusammenarbeit mit der OECD verabschiedeten „Schwarzen Liste“, die 1976 vollends ausgearbeitet war und in Kraft trat. Sie beinhaltete viele, teilweise hoch toxische Stoffe und Stoffgruppen, wie etwa Arsen oder Quecksilber, die fortan nicht mehr in die Flüsse eingeleitet werden durften bzw. deren Einleitung stark begrenzt wurde. Auch hier ist zu erkennen, dass nach erster Gegenwehr sogar eine Zusammenarbeit der chemischen Industrie mit den internationalen Gremien zugesagt wurde. 1972 war dies für den höchsten AWALU-Mitarbeiter bei Bayer noch verwunderlich: „Bemerkenswert sind die zu erwartenden Verbote und Beschränkungen für spezielle Stoffe und für Salzeinleitungen.“468 Nach einem regen Briefwechsel zwischen Bayer, dem VCI und den Durchsetzungsorganen wurde dann jedoch 1974 vom zuständigen Mitarbeiter für Produktsicherheit gemeldet, dass man sich bei Bayer allumfassend auf die Einleiteverbote vorbereitet habe und „diese Aktion in partnerschaftlicher Zusammenarbeit“ unterstütze.469 Dies geschah allerdings vor dem internen Hintergrund, dass man die Schwarze Liste noch 1975 „aus Sicht der chemischen Industrie als fachlich völlig unzulänglich“ betrachtete und weiterhin die „Verhinderung des Totaleinleiteverbots“ anstrebte.470 Hier zeigte sich die Bereitschaft, auch gegen den eigenen Widerwillen dem Druck der Forderungen nachzugeben, wohl wissend um die Aussichtslosigkeit von Widerstand. So musste Broja Ende 1974 angesichts der Schwarzen Liste und der Kosten, die bei der Einleitung verunreinigter Abwässer im Sinne des Abwasserabgabengesetzes fällig werden würden, dem Vorstand sowie den Spartenleitern und dem Werksleiter vorschlagen: „Das Abwasserkonzept von Bayer basiert auf den bisherigen behördlichen Vorstellungen […]. Da die Behörden, bundesdeutsche wie europäische, neue, weitergehende Forderungen stellen werden, die insbesondere auch die toxikologische Seite herausstellen […], müssen wir unser
466 Dr. Weber an Dir. Dittmar betreffend Färbung des Rheins vom 03. Oktober 1972, in: BAL 388/130 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU I bis Ende 1972. 467 Vgl. „Erkennung umwelttoxischer Stoffe“, Vortrag von Dr. Gloxhuber auf der Konferenz der Umweltschutzbeauftragten der Henkel-Werke vom 4. Juni 1971, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Umweltschutz-Kommission / Konferenzen 1971–1973. 468 Dr. Weber / Werksverwaltung AWALU an die Mitglieder der AWALU-Kommission und den Arbeitskreis „AWALU-Werke“ betreffend Verunreinigung des Rheines / Ministerkonferenz vom 18. Dezember 1972, in: BAL 388/130 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU bis 1972. 469 Vgl. Dr. Marquart an Dir. Broja und VCI betreffend „Schwarze Liste“ von Stoffen vom 27. September 1974, in: BAL 388/140 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Allgemein ab 01.07.74. 470 Vgl. Protokoll der Sitzung der Kleinen Abwasser- und Abluft-Kommission (AWALUKO) in Leverkusen am 11. Febrauer 1975, S. 6–7, in: BAL 388/130 Werksverwaltung Leverkusen, AWALUKO bis 1972–1974.
3.2 Verkehrte Verhältnisse
215
Konzept überdenken. […] Die Forschung und Methodenentwicklung auf dem Gebiet der nicht biologischen Abwassereinigung werden vorrangig […] bearbeitet werden müssen.“471
Bayer war nun an die akribische Einhaltung der vorgeschriebenen Höchsteinleitemengen sowie an bestimmte Grenzwerte gebunden. Das neue Kräfteverhältnis zu den Behörden wurde sehr ernst genommen, oder besser: Die Machtumkehr zugunsten der Behörden wurde akzeptiert und musste als legitim angesehen werden. Nicht nur das Stammwerk wurde zur Einhaltung der Regelungen angehalten. Auch gegenüber verbundenen Unternehmen drohte die weisungsbefugte AWALUAbteilung mit Sanktionen und pochte auf sofortige Abstellung von Fehlverhalten. Eine betriebliche Praxis von Grenzwertüberschreitungen war nicht mehr tragbar. So wurde 1975 die verbundene Kronos Titan GmbH harsch auf Verstöße bei der Einleitung von Schwermetallen in den Rhein mit dem Blick auf die abzusehenden Schwierigkeiten mit den Behörden hingewiesen, da die Abwässer dieses Unternehmens zusammen mit denen von Bayer in den Rhein gelangten. Den gutachterlichen Druck, der von Leverkusener Behördenseite aufgebaut wurde, gab man unmissverständlich an die „Titan“ weiter: „Angeregt durch das in Aussicht stehende Abkommen der Rheinanliegerstaaten über ‚Verschmutzung des Rheins durch chemische Stoffe‘ hat der Gutachter […] sich auch über die Konzentration der Schwermetalle im Wasser der Auslässe geäußert. […] Einige Metalle erreichen Werte, die von der Behörde auf keinen Fall geduldet werden können, z.B. am Y-Auslass 317 mg Fe/l [Eisen pro Liter, T.J.]. […] Dies bedeutet einen mittleren Abstoß von 101 t/Tag. Im Vergleich zu 1968 […] ist der Rückgang der Menge noch zu gering. Wir möchten in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß wir lt. Abwassereinleiteerlaubnis nach Abtrennen der organisch belasteten Abwässer an den Auslässen des Werkes (d.h. ab 1977) 20 mg Fe (gesamt)/l und 5 mg Schwermetalle (gesamt ohne Fe/l) einhalten müssen. Aber auch schon heute muß sich der Abstoß an Eisen in einem vernünftigen Rahmen halten. Wir erwarten Vorschläge, mit welchen Maßnahmen Sie die Eisenabgabe in den Rhein weiter senken können.“472
An dieser Belehrung gegenüber dem verbundenen Unternehmen ist klar ersichtlich, unter welchem Druck Bayer stand. Hier wird keine Vermutung angestellt, ob die Werte für die Behörde zu hoch sein könnten; vielmehr wird sogar aus der Perspektive der Behörde argumentiert und beigepflichtet, dass diese Zustände nicht tragbar seien. Noch ein anderes Merkmal hinsichtlich einer neu erwachsenen strategischen Behandlung des Umweltschutzthemas ist zu erkennen, das gleichfalls durch die veränderten Sinnmuster der außerunternehmerischen Akteure ausgelöst wurde und auf die Entscheidungsträger bei Bayer einwirkte: Die Rede ist von präventiven Maßnahmen. Bereits 1975 wurde die „Titan“ angehalten, effizient und vorausschauend auf zukünftige Bestimmungen hinzuarbeiten und die betriebliche Praxis dahinge-
471 Dir. Broja an die Herren Mitglieder des Vorstandes, Spartenleiter, Werksleiter betreffend Abwassereinigung vom 13. Dezember 1974, in: BAL 388/209 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU I 1974. 472 Werksverwaltung AWALU an Kronos Titan GmbH betreffend Neue Forderungen zum Umweltschutz in Leverkusen“ vom 18. März 1975 in: BAL 388/141 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Allgemein ab 01.07.74 / Fortsetzung von 388/140.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
hend zu modifizieren.473 Diese Einsichten auf Unternehmensseite entstammten nicht nur Kontrollen, sondern gleichfalls der Erkenntnis, dass die freundschaftliche Bande mit den Behörden Geschichte geworden war. Ein ‚Katz-und-Maus-Spiel‘, das stets zugunsten der Unternehmenslobby entschieden wurde, spielten die zuständigen außerunternehmerischen Durchsetzungsorgane nicht mehr mit. Dies möchte ich abschließend anhand des Berichts über eine Begehung der Rückstandsverbrennungsanlage des Bayerkonzerns durch das staatlichen Gewerbeaufsichtsamtes Solingen Ende 1972 beschreiben. Bei dieser Begehung stellte der Leiter des Gewerbeaufsichtsamts Mängel fest, und er zögerte nicht, diese dem Vorstandvorsitzenden Hansen in einem bis dahin von ihm nicht gekannten Ton direkt mitzuteilen: Er betonte, ein fahrlässiger Umgang hinsichtlich einer Umweltgefährdung werde nicht mehr toleriert. Bei seiner Begehung habe er Lagerplätze ausfindig gemacht, die nicht gewerberechtlich genehmigt waren. Zudem habe er durch eine Rauchgasanalyse feststellen können, dass behördliche Grenzwerte hinsichtlich der Chlorrückstände im Rauch „erheblich“ überschritten wurden.474 Auf seine Anweisung, die Missstände abzustellen, hatte der verantwortliche AWALU-Mitarbeiter offenbar versucht, ihn mit Argumentationen älterer Prägung zu beschwichtigen. Die Empörung über eine solche „Belehrung“ brachte der Gewerbeaufseher gegenüber Hansen zum Ausdruck: Die Auslassungen Ihres zuständigen Abteilungsvorstandes […], daß es sich hierbei um einen einmaligen Ausreißer handele, muß ich gelinde ausgedrückt als Unverschämtheit zurückweisen. Aufgrund meiner über 10jährigen Erfahrung […] vermag ich wohl abzuschätzen, wie sich die zusätzliche Verbrennung von Flüssigkeiten […] auf den CL-Gehalt [Chlor-Gehalt, T.J.] des Rauchgases auswirkt. […] Ich darf Sie bitten, die Verbrennungsanlage umgehend entsprechend dem genehmigten Umfang zu betreiben und die festgelegten Emissionen […] einzuhalten. Für die Herstellung des genehmigten Zustandes setze ich Ihnen eine Frist bis 5.1.73. Ihre Mitteilung über das Veranlasste und über die Maßnahmen zur Einhaltung der festgelegten Emissionswerte […] verlange ich bis 8.1.73. Bezüglich der Emissionen müssen Sie ab 8.1.73 mit unvermuteten Messkontrollen während der Tages- und Nachtzeit rechnen. Wegen der näheren Einzelheiten stehe ich bereits mit der Landesanstalt für Immissions- und Bodenschutz […] in Verbindung. Ich weise Sie vorsorglich darauf hin, daß ich bei weiteren Verstößen über den 8.1.73 hinaus Strafantrag […] stellen werde.“475
Wenige Jahre zuvor hätte ein Bayer-Vorstandsvorsitzender ein solch harsches Schreiben sehr wahrscheinlich noch belächelt. Er hätte ein standardisiertes Ant473 Hier darf sicherlich eine umfassende strategische Komponente gesehen werden, da auch auf einer Vorstandsitzung Ende 1974 in diese Richtung argumentiert wurde: Man müsse Vorkehrungen treffen, um den Rhein nicht weiter zu verschmutzen, da man damit weiter in Ungnade bei den Behörden fallen würde. Vgl. Vorstandsitzung in Leverkusen am 06. August 1974, in: BAL 387/1 Vol. 15 Vorstandsprotokolle 16.04.74–02.09.75. Das gleiche galt, unter Berücksichtigung immenser Kosten, bei Henkel. Vgl. Niederschrift über die gemeinsame Postbesprechung GL HC vom 01. April 1975, in Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 153/47 Postprotokolle. 474 Vgl. Leiter des Staatlichen Gewerbeaufsichtsamtes Solingen an den Vorsitzenden des Vorstandes der Bayer AG Prof. Dr. K. Hansen Betreff betreffend Überprüfung der Rückstandsverbrennungsanlage Bürrig am 11.12.1972 vom 12. Dezember 1972, in: BAL 388/131 AWALU II bis Ende 1972 475 Ebd.
3.2 Verkehrte Verhältnisse
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wortschreiben verfasst, in dem auf die Probleme des Werkes hingewiesen worden wäre. Stattdessen folgte Hansen hier den Aufforderungen des Gewerbeaufsehers ohne weitere Argumentationen, Ausreden und Rechtfertigungen für die Missstände. Er wies die AWALU-Abteilung unverzüglich an, einen Bericht über die angesprochenen Emissionen bei der Rückstandsverbrennung anzufertigen. Besagter Bericht offenbarte mehrerlei: Erstens zeigte er, dass bei der Verbrennung chlorhaltiger Verbindungen Umwelt- und Gesundheitsschäden nicht ausgeschlossen sind.476 Aus diesem Bericht wird zweitens abermals deutlich, mit welchem Überraschungseffekt die Forderungen der Behörden auf den Konzern einstürzten: Durch die fortlaufend angestiegenen Produktionsmengen hatte Bayer erhebliche Schwierigkeiten, solche Probleme der Verbrennung zu lösen. Das Unternehmen feilte seit 1970 daran und hatte gehofft, die zuständigen Behörden würden wie wenige Jahre zuvor abwarten, bis eine technologische Lösung gefunden wäre.477 Viel wichtiger ist jedoch noch eine dritte Erkenntnis: Die Machtumkehr zugunsten des Gewerbeaufsichtsamtes wurde direkt in Maßnahmen umgesetzt, da gerade diese erhoffte Frist bis zu einer praktikablen Lösung nicht mehr gewährt wurde: „Die Hoffnung, daß die Gewerbeaufsicht eine solche Lösung abwarten würde, ist durch den Brief vom 12.12.72 überraschend und ohne Vorwarnung zerstört worden.“478 Ohne jede Art der Vorwarnung ist hier das Stichwort: Die Bayer-Verantwortlichen konnten keine Gegenwehr mehr leisten, das alte Selbstbewusstein gegenüber den Behörden war verloren, und das Unternehmen hatte sich zu fügen. Eine neue Wirklichkeit im Innen-Außenverhältnis hatte sich konstituiert, und dieser Wirklichkeit musste Sinn abgerungen werden, was sich nicht zuletzt in Sofortmaßnahmen widerspiegelte: „Eine sofortige Überprüfung aller eingehenden chlorhaltigen Stoffe und Nachfragen bei den Betrieben“ ergab ein Bild, nachdem viele Stoffe zunächst zwischengelagert werden mussten, um weitere „Kenntnisse in den Schwankungen der Rauchgase“ erlangen zu können.479 Zusammenfassend wurde an den Konzernchef berichtet: „Die Menge sowie der Cl-Gehalt der zur Verbrennung angelieferten Stoffe sind in den letzten Jahren stetig gestiegen. Zur Entlastung der Verbrennungsanlage […] wurde die Verbrennung von Flüssigkeiten auf See in Gang gebracht. Für die an Land zu verbrennenden Stoffe der chlorhaltigen Stoffe wird eine Spezialverbrennungsanlage geplant, deren Grundkonzept allerdings noch Schwierigkeiten bereitet. Um die von der Gewerbeaufsicht geforderte Einhaltung des Grenzwertes […] zu erreichen, muß die Nebenanlage zur Verbrennung chlorhaltiger Flüssigkeiten schnellstens wieder in Betrieb genommen werden.“480 476 Dr. Henkel / Dr. Weber an Prof. Hansen et.al. betreffend Verbrennung chlorhaltiger Verbindungen / Brief von Gewerbedirektor Weber, GAA Solingen, vom 12.12.1972 vom 19. Dezember 1972, in: BAL 388/131 AWALU II bis Ende 1972. 477 Vgl. ebd. S. 4. 478 Ebd. S. 4. 479 Vgl. ebd. S. 4–5. 480 Ebd. S. 5–6. Durch einen weniger drastischen Vorfall kann angesichts einer Ordnungsverfügung des gleichen Gewerbeaufsichtsamtes nach dem Inkrafttreten des BIschG meine These weiter untermauert werden, dass Bayer dort in Ungnade gefallen war: Eine Produktionsanlage war nicht ordnungsgemäß an Luftverbrennungseinrichtungen angeschlossen; aufgrund „schädlicher Umwelteinwirkungen“ bzw. da „die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft nicht ausreichend vor schädlichen Umwelteinwirkungen oder sonstigen Gefahren, erheblichen Nachteilen oder erheblichen Belästigungen geschützt ist“ wurde Bayer eine unverzügliche Beseitigung der
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
Damit waren in dieser Angelegenheit die Kräfteverhältnisse klar. Ein einziger Brief setzte Bayer gegenüber starke Anreize für sofortige Maßnahmen, für die Suche nach neuen Technologien, und er brachte das Unternehmen ganz allgemein in die Bredouille, was sein Verhältnis zum Gewerbeaufsichtsamt anbelangte. Diese Auseinandersetzung diente hier als eindrückliches Beispiel für die rauere Gangart, mit der die Unternehmen konfrontiert waren.481 Ein offener Konflikt mit der Behörde bezüglich der Auflagen bzw. deren Verweigerung wäre mit Strafanzeigen, hohen Geldstrafen und dem Entzug von Genehmigungen – also im weitesten Sinne der Existenzgrundlage – geahndet worden. Vor allem aber hätte Bayer beim Bekanntwerden einer auf Konflikt angelegten Unternehmenspolitik gegenüber der Öffentlichkeit an Legitimität verloren. Ein Unternehmen der chemischen Industrie war Gefahrenherd und Umweltverschmutzer geworden, was nicht mehr zu rechtfertigen war. Flankierend zu den angeordneten Maßnahmen bei Bayer blieb Hansen daher nichts anders übrig, als dem Leiter des Gewerbeaufsichtsamtes eine fast unterwürfige Antwort zukommen zu lassen, in der er um Unterstützung und Nachsicht warb. Sein Ziel war sicherlich, die Wogen zu glätten und eine Lanze für die in Ungnade gefallenen AWALU-Mitarbeiter zu brechen. Der Umweltschutz und die damit vom organisationalen Feld gestellten Forderungen hatten endgültig die Chefetagen erreicht und zwangen einen Vorstandvorsitzenden zu demütigem Verhalten: „Dankend bestätige ich den Eingang Ihres an mich gerichteten Schreibens vom 12.12.1972, worin Sie verschiedene Verhältnisse unserer Verbrennungsanlage […] beanstanden. Ich habe im Hause alles Nötige veranlaßt, um sicherzustellen, daß die aufgeworfenen Fragen unverzüglich befriedigend geregelt werden. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie den Herren unserer Abteilung „Awalu“ Gelegenheit geben würden, die Sache mit Ihnen durchzusprechen. […] Sollte es nötig sein, so bin ich gern bereit, mich im Januar noch einmal in die Gespräche einzuschalten.“482 Missstände unter Androhung einer 100.000 DM-Strafe auferlegt. Vgl. Staatliches Gewerbeaufsichtsamt Solingen an den Vorstand der Bayer AG betreffend Ordnungsverfügung vom 6. Dezember 1974, in: BAL 388/209 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU I 1974. 481 Solche Auseinandersetzungen spiegeln sich im hier betrachteten Zeitraum bis Juli 1976 immer wieder in den Protokollen der AWALU-Kommission. Exemplarisch: Protokoll der Sitzung der Kleinen Abwasser- und Abluft-Kommission (AWALUKO) in Leverkusen am 13. Mai 1975, S. 5, in: BAL 388/130 Werksverwaltung Leverkusen, AWALUKO bis 1972–1974. Hier wird auf einen anstehendes Gespräch mit Bundesinnenminister Maihofer verwiesen, in dem es um die Auseinadersetzungen mit Behörden und Bürgerinitiativen gleichermaßen gehen sollte. 482 Prof. Dr. Kurt Hansen an den Leiter des Staatlichen Gewerbeaufsichtsamtes Solingen Reg.Gew. Dir. Weber vom 18. Dezember 1972, in: BAL 388/131 AWALU II bis Ende 1972. Ähnlich leise Töne gegenüber dem Ordnungsamt der Stadt Leverkusen verifizieren hier meine Darstellungen: Das Ordnungsamt war an Bayer herangetreten, da es zu Geruchsemissionen gekommen war. Die Antwort, diesmal von der AWALU-Abteilung, weist in die gleiche unterwürfige Richtung wie die im Fall des Gewerbeaufsichtsamtes: „[E]s wird sicherlich immer noch hin und wieder vorkommen, dass sich Mitbürger […] wegen […] unangenehmer Gerüche aus unserem Werk Leverkusen an das Ordnungsamt wenden. In solchen Fällen möchten wir sie höflich bitten zu veranlassen, dass umgehend […] unsere Abteilung Umweltschutz […] benachrichtigt wird. Die rechtzeitige Einschaltung unsere Abteilung Umweltschutz […] ermöglicht eine […] schnelle Verfolgung solcher Hinweise aus der Bevölkerung […]. Gemeinsames Ziel ist, das Leben in dieser Stadt so angenehm wie möglich zu gestalten.“ Dr. Weber / Werksverwaltung AWALU an Stadtverwaltung Leverkusen / Ordnungsamt vom 3. September 1975, in: BAL 388/141 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Allgemein ab 01.07.74 / Fortsetzung von 388/140.
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Meine Darstellung der erfolgten Sinnverschiebung des organisationalen Feldes und des zunehmenden Protests gegenüber den Unternehmen hinsichtlich ihrer Risikoproduktion und damit auch hinsichtlich der neu zu verhandelnden Gretchenfrage nach dem Verhältnis zwischen Ökonomie und Ökologie bringen mich zu folgender Einschätzung: In nicht einmal zehn Jahren, vom Ende der 1960er Jahre bis zur zweiten Hälfte der 1970er Jahre, war es den formalen Institutionen des Gewässerund Immissionsschutzes und vor allem der kulturellen Rahmung der Unternehmen möglich, die Unternehmen in eine derart defensive Rolle zu zwängen, wie dies von den Strategen der Unternehmen selbst nicht für möglich gehalten worden war. Die vorher zentrale Rolle der Unternehmen als ökonomische Heilsbringer wurde nun zweitrangig; als wünschenswert galt nun der Schutz ihrer natürlichen und lebensweltlichen Umwelt. Alte Argumentationen und ein altes Selbstverständnis bzw. die traditionelle Selbstdarstellung und Selbstherrlichkeit trugen nicht mehr zu einem erfolgreichen Wirtschaften bei. Vertrauen war verloren, die Unternehmen saßen auf der Anklagebank. Innerhalb der Unternehmen wurde sicherlich an vielen Stellen über die durch den Umweltschutz gestiegenen Kosten geklagt. Doch kamen Bayer und Henkel spätestens seit der zweiten Hälft der 1970er Jahre nicht mehr umhin, den Paradigmenwechsel bezüglich des Verhältnisses zwischen Ökologie und Ökonomie anzuerkennen und ihre strategisch-ökonomische Handlungslogik an ökologisch Wünschenswertem auszurichten. Der hier betrachtete Zeitraum stellte damit eine Konstituierungsphase des betrieblichen Umweltschutzes bei den Großunternehmen dar. Dies zeigt auch ein Entschluss über die Errichtung einer Anlage mit hohem Gefahrenpotenzial, der vom Aufsichtsrat bei Henkel besprochen wurde: Zwar sei, so der Bericht, „das Unternehmen bisher in Bezug auf die neue Willkür der Behörden sehr glimpflich davongekommen“, jedoch „erwarten wir hier weitere Maßnahmen, so daß wir darüber nachdenken, die Methylzellulose-Anlage in Antwerpen zu errichten.“483 Der Umweltschutz wurde also zu einem strategischen Thema. Ein visionärer Lagebericht über das Verhältnis zwischen chemischer Industrie und Umweltschutz – mit anderen Worten: zum Verhältnis von Ökologie und Ökonomie –, der Ende 1975 an den Werksleiter Leverkusen Weise ging, bestätigt diese Einschätzung. Die chemische Industrie hatte begonnen, sich in das Schicksal ihres historischen Settings zu fügen. Eine kulturrationale Verbindung von effizientem Wirtschaften und den Ansprüchen des Umweltschutzes war dann das Ergebnis: „Steigende Forderungen aus der Gesetzgebung und die Haltung aktiver Bevölkerungsgruppen haben auf allen Gebieten des Umweltschutzes den Umfang der Maßnahmen und Aufwendungen stark anwachsen lassen. Von Bedeutung sind dafür im Augenblick: Bundesimmissionsschutzgesetz, TA Luft und deren Neufassung, […], Handhabung des Genehmigungsverfahrens, Bürgerinitiativen, Gerichtsentscheidungen zu Fragen der Genehmigung und des Umweltschutzes. […] Die Summe der Aufwendungen ist innerhalb weiter Grenzen von der Entwicklung des Umsatzes unabhängig. Die Forderungen des Umweltschutzes werden je nach Behördenforderung in der nahen Zukunft zu kaum noch tragbaren Kostenbelastungen für die chemische Industrie füh483 Vgl. Protokoll der Aufsichtsratsitzung vom 19. Februar 1975, in: Konzernarchiv Henkel, ohne Signatur, Gesellschafterprotokolle, Aufsichtsrat etc. / Auszüge 1975.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel ren. Es muß daher angestrebt werden, den Umweltschutz nicht um seiner selbst willen sondern soweit zum Schutze der Bevölkerung notwendig unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Folgen zu betreiben. […] Für das einzelne Produktionsverfahren wird zunächst eine Behandlungsmethode für das Abwasser und die Abluft entwickelt werden, die den gesetzlichen Forderungen gerecht wird. Wenn diese hohe Kosten verursacht, wird nach einer Änderung des Produktionsverfahrens gesucht werden, die diese Kosten vermindert. Ist eine solche Suche erfolglos, wird man sich sicher früher oder später entschließen, das Produktionsverfahren aufzugeben. Der Entschluß wird umso leichter fallen, je unrentabler das Produktionsverfahren an sich arbeitet. Die für die Verfahrensänderungen notwendigen Entwicklungsarbeiten fördern den technischen Fortschritt. Sie können in vielen Fällen über Know-how-Verträge wieder Geld einbringen. Insgesamt gesehen wird der Umweltschutz im Laufe der nächsten Jahre auf die weitere Entwicklung sowohl der Produktionsverfahren als auch der Herstellungskosten für Produkte immer stärkeren Einfluss erlangen. […] Eine langfristige Konzeption der chemischen Industrie für alle Fragen des Umweltschutzes wird immer notwendiger.“484
Hinsichtlich der betriebswirtschaftlich-ökonomischen Argumentation von Bayer lassen sich Ende 1975 hier einige sehr bemerkenswerte Schlüsse ziehen: Erstens erachtete man den Umweltschutz als so relevant, dass die für ihn anfallenden Kosten unabhängig vom Umsatz Bayers wurden. Wie sich diese langfristigen Konzeptionen in den Betrieben selbst niederschlugen, werde ich im Folgenden darstellen. Die allumfassenden gestellten Forderungen von außen würden zu hohen Kosten führen; an dieser Tatsache konnte Bayer jedoch nichts ändern, da Umweltschutz genau wegen der von außen kommenden Forderungen betrieben werden musste. Bemerkenswert ist in diesem Kontext auch die Erkenntnis, man müsse die Bevölkerung schützen. Sie weist abermals auf ein neues Verantwortungsbewusstsein hin. Natürlich war es immer noch das Interesse Bayers, effizient zu wirtschaften, dies wird überdeutlich. Jedoch sehen wir hier ganz klar, dass sich effizientes Wirtschaften nun am Umweltschutzgedanken messen lassen musste. Dahinter steckt eine kulturelle Rationalität, die Bayer entwickeln musste, um den Umweltschutz in Effizienz-Überlegungen einzubeziehen: Ein Verfahren, das nicht umweltfreundlich gestaltet war, konnte folglich von nun an nicht mehr effizient sein. Strategische Überlegungen bezüglich eines sich konstituierenden Umweltschutzmanagements konnte ich bereits an mehreren Stellen in diesem Kapitel herausarbeiten. Im Folgenden steht die Darstellung der innerbetrieblichen Maßnahmen, der Organisation und der allmählichen Herausbildung von Glaubenssystemen im Vordergrund. Es wird sich aber auch zeigen, dass viele dieser Maßnahmen anfänglich nur schwer durchsetzbar bzw. den Mitarbeitern nicht zu vermitteln waren; diese innerbetrieblichen Aushandlungen einer Sicherheitskultur für die Werksumwelt werde ich ebenfalls in den Blick nehmen. Wie im vorigen Betrachtungszeitraum werde ich an dieser Stelle auf explizite Un- und Störfälle sowie den allgemeinen Umgang und die Argumentationen im betrieblichen Alltag eingehen. Allgemein 484 Dr. Weber an Prof. Weise betreffend Ökologie – Ökonomie vom 09. Dezember 1975, in: BAL 388/141 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Allgemein ab 01.07.74 / Fortsetzung von 388/140.
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3.2 Verkehrte Verhältnisse
darf man aber sicherlich davon ausgehen, dass diese Risiken im Betrachtungszeitraum abnahmen, wenn auch nicht ganz verschwanden. Un- und Störfälle wurden nun akribischer untersucht und durften nicht mehr als Kollateralschaden gelten. 3.2.3 Allmähliche Abnahme von Umweltrisiken durch veränderte Maßnahmen in den Unternehmen
Action Title 7a
Die Organisation des innerbetrieblichen Umweltschutzes lässt sich leicht an Organigrammen von Bayer und Henkel darstellen. Seit Beginn der 1970er Jahre hatte eine Professionalisierung innerhalb der Unternehmen eingesetzt, welche die Erwartungshaltungen gegenüber den Unternehmen in der Fokalorganisation abbildete. Sowohl bei Bayer als auch bei Henkel kam es zu zeittypischen Umstrukturierungen: Bei Bayer wurde eine divisionale, bei Henkel eine Spartenorganisation mit dem Ziel gesteigerter Flexibilität implementiert.485 Verschiedene Organigramme geben einen ersten Hinweis auf die Einbeziehung und den Stellenwert des Umweltschutzes innerhalb dieser neuen, innerunternehmerischen Gebilde. Sie drücken gleichzeitig den Versuch aus, allmählich im innerbetrieblichen Alltag eine Kultur der Sicherheit für die Werksumgebung zu schaffen. Inwieweit dies tatsächlich geschah, werde ich weiter unten darstellen, da ein Organigramm allein ein noch zu schwacher Hinweis auf die tatsächlichen Verhältnisse darstellt. Eines ist jedoch offenkundig: Der institutionelle und kulturelle Druck, der auf den Unternehmen lastete, wurde in der Organisation mitgedacht. Die Berücksichtigung gesellschaftlicher Erwartungen spielte darin nun eine zentrale Rolle: Action Title, 7b Überschrift
Überschrift
Umweltschutz
Zentrale Geschäftsführung Verbundene Unternehmen
Leitsparten
Funktionen
U1
Sparte 1
Funktion 1
U2
Sparte 2
Funktion 2
U3
Sparte 3
Funktion 3
U4
Sparte 4
Funktion 4
U5
Sparte 5
Funktion 5
Kommission Umweltschutz
Aktivitäten extern
Behörden, Verbände, Industrie, Wissenschaft
Leitstelle Umweltschutz
JJMMTT_Berichtstitel_Kürzel
Aktivitäten intern
Wasser
Luft
Abfall
offensiv
defensiv
Neue Rohstoffe, Produkte und Verfahren zur Verbesserung des Umweltschutzes
Anpassung an die Forderungen des Umweltschutzes
8
Abb. 7: Fokale Umweltschutzorganisation und -gremien bei Henkel 1971486 485 Vgl. für Bayer Erik Verg / Gottfried Plumpe / Heinz Schultheis, S. 460f. Für Henkel: Wilfries Feldenkirchen / Susanne Hilger / Wolfgang Zengerling, S. 200f. 486 Umweltschutzorganisation bei Henkel 1971, entnommen aus „Umweltschutz – eine internationale Aufgabe“, Vortrag von Dr. Berth vom 04. Juni 1971, S. 15, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Umweltschutz-Kommission/Konferenzen.
JJMMTT_Berichtstitel_
222
3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
Deutlich ist die hohe Relevanz der Umweltschutzorganisation – hier am Beispiel des Hauses Henkel dargestellt – in der linken Darstellung ersichtlich: Eine eigens hierfür gebildete interdisziplinäre Kommission war direkt der Zentralen Geschäftsführung unterstellt. Diese Kommission Umweltschutz stand wiederum einer Leitstelle für den Umweltschutz vor, die den Sparten und Funktionen weisungsbefugt war. Ein Mitarbeiter umschrieb ihre Aufgaben wie folgt: „Eine wichtige Aufgabe sieht die Leitstelle Umweltschutz in der Öffentlichkeitsarbeit im Sinne von ‚Henkel als Schrittmacher auf dem Umweltschutzgebiet‘. Die Zusammenarbeit mit PR wird im wesentlichen mit in der technischen Beratung gesehen, […] um in der Öffentlichkeit ein […] korrektes Bild des Henkel Konzerns erscheinen zu lassen.“487 Besagte Umweltschutzkommission wurde 1975 mit dem Verweis auf gestiegene Anforderungen zu einer „Umwelt- und Verbraucherschutzkommission“ erweitert488 und bildete nun „das oberste Entscheidungsgremium in allen UVS-Angelegenheiten [Umwelt- und Verbraucherschutz, T.J.]. Sie bestimmt verantwortlich die Politik des Unternehmens Henkel auf dem Gebiet des UVS.“489 Hier finden wir den Hinweise auf die Absicht, ein konzernweites Glaubenssystem in Sachen Umweltschutz (und Verbraucherschutz) zu schaffen; im Leitsatz hieß es: „Sämtliche Henkel-Mitarbeiter vertreten zu den wesentlichen UVS-Fragen eine einheitlich harmonisierte Meinung, bei der spezielle nationale Gesichtspunkte berücksichtigt werden.“490 Hierzu wurde eine ad hoc-Arbeitsgruppe gegründet, an der wieder Angehörige verschiedenster Disziplinen teilnahmen; vertreten waren die Bereichsleiter der Sparten, die Rechtsabteilung, die Öffentlichkeitsarbeit, Chemiker und Ingenieure für ökologische und humantoxikologische Fragen. Diese ad hoc-Arbeitsgruppe formulierte „zu jedem aktuellen UVS-Problem eine Henkel-Meinung […].“491 Die Grundlagen dafür wurden ebenfalls bereits 1971 geschaffen, wie aus der rechten Abbildung oben ersichtlich ist: Hier werden die betrieblichen- und außerbetrieblichen (strategischen) Aktivitäten aufgezeigt, deren Notwendigkeit Henkel schon zu einer frühen Phase beim Aufkommen der Umweltproblematik erkannt hatte. Auch zeigt sich, wie die äußeren wünschenswerten Erwartungen sich im betrieblichen Alltag des Unternehmens niederschlagen sollten. Zu den externen Maßnahmen gehörten die Darstellung der internen Maßnahmen und die auf neuerlichen Konsens gerichtete Unternehmenspolitik gegenüber Anspruchsgruppen. Die innerunternehmerischen Maßnahmen wurden nun auf die Problemgebiete Wasser, Luft und Abfall aufgeteilt; ihre technisch-offensive Seite bestand in der Suche nach neuen Produktionsverfahren und dergleichen, um zukünftige Umweltschäden zu vermeiden. Die Anpassung an die Forderungen des Umweltschutzes zielte bereits 1971 unternehmensweit auf eine Sozialisation der Henkel-Mitarbeiter auf allen Hierarchiestufen bzw. ihre Sensibilisierung für Umweltfragen. Ziel war auch hier, 487 Vgl. ebd. S. 16. 488 Vgl. Protokoll der ersten Sitzung der zentralen UVS-Kommission vom 05. Mai 1975, in Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Akte UVS-Kommission 1975–1981. 489 Ebd. 490 Anlage zum Protokoll der 2. Sitzung der UVS-Kommission am 17. November 1975, S. 2, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Akte UVS-Kommission 1975–1981. 491 Ebd. S. 5.
223
3.2 Verkehrte Verhältnisse
durch explizite Maßnahmen einen neuen Basiskonsens „mit der Bürgerschaft und den Behörden zu erreichen“, und dazu musste sich eine Kultur der Sicherheit für die und lebensweltliche Umwelt herausbilden, indem alte Verhaltensmuster Actionnatürliche Title abgelegt wurden.492 Überschrift Eine sehr ähnliche organisatorische Lösung finden wir bei Bayer: AWALU Leverkusen Werksverwaltung/Abt. Wasserreinhaltung und Immissionsschutz
AWALU Uerdingen AWALU Elberfeld
Öffentlichkeitsarbeit
Wasserreinhaltung und Abfallbeseitigung Wasserreinhaltung
Abfallbeseitigung
Kläranlage
Verbrennungsanlage
Abwassertechnik
Abfalltechnik
Säurebeseitigung Kesselspülstation
Abteilungsbüro
AWALU Dormagen
Analytik und Immissionsschutz
Analytik
Imissionsschutz
Luftlabor
Genehmig.verfahren
Deponie
Wasserkontrolle
Luftüberwachung
Verbrennung auf See
Wasserbiologie
Lärmschutz
Abb. 8: Fokale Umweltschutzorganisation und -gremien bei Bayer 1973493
JJMMTT_Berichtstitel_Kürzel
Auch hier erkennen wir sehr deutlich, dass die Umweltschutzabteilung nun der neu gegründeten Werksverwaltung angegliedert war. Diese galt ihrerseits als Bindglied zwischen Werk und gesellschaftlichem Umfeld. Zudem wird hier die Unterteilung des Themenbereichs in interne und externe Aspekte deutlich. Die hohe Position der Werksverwaltung in der Unternehmenshierarchie und damit der Stellenwert ihrer Umweltschutz-Aufgaben wird aus der Stellenbeschreibung des Werksleiters ersichtlich: „Der Werksleiter untersteht […] direkt dem Vorstand […]. Der Werksleiter ist verantwortlich für einen reibungslosen Produktionsablauf […]. Der Werksleiter ist der offizielle Repräsentant der Farbenfabriken Bayer AG für den von ihm verwalteten Werksbereich und er vertritt die örtlichen Bayer-Interessen gegenüber der Öffentlichkeit und
492 Vgl. Umweltschutzorganisation bei Henkel 1971, entnommen aus „Umweltschutz – eine internationale Aufgabe“, Vortrag von Dr. Berth vom 04. Juni 1971, S. 17, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Umweltschutz-Kommission/Konferenzen. 493 Umweltschutzorganisation der Bayer AG, Stand Januar 1973, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1973–1974.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel den Behörden […]. Er hat daher das volle Weisungsrecht gegenüber allen im Werk tätigen Mitarbeitern in speziellen Werksangelegenheiten wie: […] AWALU-Vorschriften.“494
Die Unternehmen hatten es also zu Beginn der 1970er Jahre vorerst vermocht, zumindest den Eindruck zu erwecken, dass sie die ihnen entgegengebrachten gesellschaftlichen Erwartungen erfüllten, indem sie den Umweltschutz in ihrer strukturellen Organisation verankerten. Sicherlich handelte es sich hierbei anfangs um Effekthascherei, doch im hier betrachteten Zeitraum befinden wir uns in der Konstituierungsphase einer Sicherheitskultur. Der Prozess der endgültigen Ausgestaltung und Akzeptanz dieser Kultur einer Sicherheit für die natürliche und lebensweltliche Umwelt fand sein vorläufiges Ende meiner Einschätzung nach jedoch erst Ende der 1980er Jahre.495 Indem sie schnell Aktivitäten vorweisen konnten, hatten sich die Konzerne in den 1970er Jahren im Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik erst einmal eine Atempause verschafft. Es wird mir nun im Folgenden darum gehen, die inneren Überzeugungen, die ja durch die formalen Organigramme transportiert werden sollten, zu überprüfen, kurz: Ich werde den Beginn des Prozesses hin zu einer Sicherheitskultur auf den operativen Ebenen der Unternehmen darstellen. Dabei müssen wir davon ausgehen, dass versucht wurde, diese Sicherheitskultur von oben nach unten anzuleiten. So gibt beispielsweise ein Fortbildungsprogramm für leitende Angestellte bei Bayer Anfang 1975 Aufschluss darüber, dass Umweltschutz und (Arbeits-)Sicherheit nun in dasselbe Schulungsgebiet fielen.496 Mit welchen Schwierigkeiten die Umweltschützer der ersten Stunde innerhalb der Unternehmen anfangs zu kämpfen hatten, kann anhand einer Anekdote gezeigt 494 Information zur Beschreibung der Aufgaben des Werksleiters LE vom 19. April 1974, in: BAL 388/15 Werksverwaltung Leverkusen, Werksverwaltung bis 1983. 495 Der technik- und unternehmenskritische Umweltschutzgedanke in der bundesdeutschen Gesellschaft entwickelte sich in der Folge von tatsächlichen Chemieunfällen immer weiter, und er reichte bis hin zu einer allgemeinen Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem der Bundesrepublik. Dies führte zur Möglichkeit sehr bedrohlicher Unternehmenskrisen infolge von Störfällen. Diese Krisen bestanden im sukzessiven Entzug von Legitimität im Umgang mit produktionsinduzierten Risiken: „Störfallkrisen“ sind damit ein Kulturprodukt, das aus den Sinnorientierungen der bundesdeutschen Gesellschaft seit den frühen 1970er Jahren entsprang. Obwohl die Unternehmen die Notwendigkeit von Präventivmaßnahmen, die auch die Welt jenseits der Werkstore schützten, einsahen, und obwohl die reaktive Veränderung in Routinen und Praktiken infolge von Störfällen zum Großteil funktionierten, wurde den Unternehmen ein destruktives Risikoverhalten unterstellt. Nicht allein die reell existierenden chemisch-technischen Risiken waren es, die Unternehmen in Krisen stürzen konnten. Alleine die Präsenz des Möglichen, das Krisennarrativ als solches reichte aus, um Unternehmen in desparate Zustände zu versetzten, in denen sie (zumeist recht kostspielig) ihr institutionelles Arrangements und ihre tradierten Praktiken über Bord werfen müssen. Vgl. Thilo Jungkind, 2012, S. 19. Dies zeigt sich auch an der allmählichen Bildung von Krisenstäben Mitte der 1980er Jahre in den Unternehmen. Exemplarisch bei Henkel: Werksfeuerwehr an Opderbecke betreffend Arbeit des Krisenstabes vom 30. März 1987, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Akte STI Alarmstufen 1–4/5, Krisenstab. 496 Vgl. Zentrales Bildungswesen an Spartenleiter, Zentralbereiche, Werksverwaltung und Vorstandsstab betreffend Fortbildungsprogramm für Betriebsleiter und Leitende Angestellte vom 5. Februar 1975, in: BAL 388/173 Werksverwaltung Leverkusen, Zentrales Bildungswesen seit 1974.
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werden: Der Werksleiter des Bayerwerkes Leverkusen Eberhard Weise musste in den frühen 1970er Jahre oft schlichtend bei Konflikten zwischen älteren Betriebsleitern und jungen Mitarbeitern der Umweltschutzabteilung eingreifen. Letztere seien, so die Schilderung einer dieser Mitarbeiter, despektierlich als „Umwelt-Advokaten“ bezeichnet worden, wobei sie ihrerseits die Betriebsleiter als alte „Bereichsfürsten“ und „Erbsenzähler“ betiteltet hätten. Ebenso sei es der Werksleiter gewesen, der mit dem Fahrrad die Betriebsstätten in Leverkusen abfuhr, nach Verstößen gegen Behörden- oder werksinterne Auflagen suchte, gegebenenfalls die Verantwortlichen direkt zur Rede stellte und sie zu einem umsichtigeren Verhalten ermahnte.497 Damit wird klar, wie sehr die Implementierung eines Umweltschutzgedanken auch an Personen geknüpft war – mit Konrad Henkel, Friedrich Bohmert und German Broja habe ich bereits solche modernen Manager erwähnt –, welche die Gefahren für das Unternehmen, seine Vulnerabilität bei Nichtbeachtung und die Drohung eines daraus resultierenden weiteren Legitimitätsentzugs, erkannten. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass wir seit ungefähr 1973/74 sowohl bei Henkel als auch bei Bayer Belege für strategisch gesteuerte Überlegungen finden, wie innerbetriebliche Maßnahmen auszusehen hätten, die gleichzeitig vom obersten Management bis zum Chemiewerker angenommen werden sollten. Im Falle von Henkel lässt sich dieses neue, zielinterpretierende Handeln nach einigen Vorüberlegungen zeigen, die 1974 in einem „Arbeitskreis Umweltbewussstein“ aufgingen. Diesem interdisziplinären Arbeitskreis gehörten Vertreter der Stabsstelle PR sowie der Funktionen Produktions-, Ingenieurs-, Personal- und Sozialwesen an; er trat zusammen „um Maßnahmen zur Förderung des Umweltbewusstseins der HenkelBelegschaft einzuleiten“, wie dies die Zentrale Geschäftsführung in Auftrag gegeben hatte.498 Die ersten Schritte, diesen Arbeitskreis ins Leben zu rufen, wurden im Sommer 1973 vorbereitet. Die Aufgabe der Umweltschutzkommission des Unternehmens war es die „Meinungsbildung sowie Förderung des innerbetrieblichen Umweltbewusstseins“ zu stärken und damit „einen inneren und äußeren Nutzen für das Unternehmen Henkel“ herbeiführen.499 Wie die Ziele und der jeweils erhoffte Nutzen für den Düsseldorfer Konsumgüterhersteller formuliert waren, lässt sich im Folgenden in einem Dreischritt darstellen:500 Mit dem ersten Ziel „Verbesserung des Umweltschutzes im Henkel-Werk“ verband man auf der Nutzenseite die „bessere Einhaltung der gesetzlichen Auflagen bzw. Vorbeugung für strengere Auflagen“, eine „bessere Beziehung zur Nachbarschaft“ wie auch eine „bessere Optik gegenüber den örtlichen politischen Gremien und der Düsseldorfer Bürgerschaft“. Die zweite Zielformulierung lautete „Erweiterung des Umweltschutzwissen der Belegschaft“; der erwartete Nutzen für Henkel wurde in einer Verbesserung der 497 Vgl. Interview mit Dr. Hans-Georg Meyer, ehemals Umweltschutzabteilung der Bayer AG vom 18.12.2009. 498 Vgl. Protokoll über die 1. Sitzung des Arbeitskreises Umweltbewußtsein am 02. Mai 1974, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Einzelakte 36 Umweltschutz 1973–1975. 499 Vgl. Aktennotiz von Dr. Bohmert / ST-PR betreffend Förderung des Umweltbewußstseins der Henkel-Belegschaft – Vorschläge für Maßnahmen in einem Aktionsplan vom 17. August 1973, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Einzelakte 36 Umweltschutz 1973–1975. 500 Vgl. ebd. S. 2.
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„Mitarbeiter-Argumente nach außen“, einer neuen „Mitarbeiter-Identifikation mit den Umweltschutzproblemen“ des Unternehmens sowie einem besseren „Mitarbeiter-Verständnis für ‚umweltbewusste‘ Verhaltensregeln (vor allem in der Produktion)“ gesehen. Das dritte und letzte Ziel sahen die Verantwortlichen in der Erbringung des „Nachweise[s] des aktiven Umweltschutzes von Henkel“. Mit diesem Ziel waren zwei Ansprüche verbunden, und so wurden hier auf der Nutzenseite ein verbessertes „Mitverantwortungs- bzw. Umweltschutzimage von Henkel“ sowie „bessere Abwehrmöglichkeiten von Angriffen organisierter Umweltschützer und der Presse“ angeführt. Aus diesen Zielformulierungen erkennen wir meines Erachtens zwei zentrale Anliegen des Unternehmens: Erstens sollte Wissen erzeugt oder verändert werden, um eine Sicherheitskultur zu generieren und gleichsam den Mitarbeitern auf allen Hierarchieebenen Argumente an die Hand zu geben, um für die verloren gegangene Legitimität des Unternehmens zu werben. Hierzu bedurfte es zweitens neuer Spielregeln innerhalb des Unternehmens; das institutionelle Arrangement hatte sich so zu verändern, dass es die von außen als wünschenswert an das Unternehmen herangetragene Idee – jene der schützenswerten Umwelt – adaptierte bzw. widerspiegelte. Der Aktionsplan kam in den folgenden Monaten ins Rollen. Weitere Schritte bestanden in der Motivation und vor allem der Information der Gesamtbelegschaft und der Öffentlichkeit wie in einer Bestandsaufnahme aller umweltrelevanten Problemfelder im Holthausener Stammwerk. Im Innern sollte die Unternehmenskommunikation mittels der Werkszeitschrift für das Vorhaben werben. Ebenso wurden Plakataktionen und ein Lehrfilm über den Umweltschutz bei Henkel auf den Weg gebracht.501 Die Tatsache, dass das Vorhaben konkretisiert wurde, liefert uns den Beweis, dass mit dem Umweltschutz bzw. der Etablierung einer Sicherheitskultur auch betriebswirtschaftlich-effiziente Aspekte verfolgt wurden. Mit der „effektiven Verbesserung des betrieblichen Umweltschutzes“ wurden ökonomische Anliegen verbunden: Erstens die Transaktionskostensenkung im Bezug auf Reibungsverluste, die durch die „schlechten Nachbarschaftsverhältnisse“ und durch die „aufwendigen gesetzlichen Auflagen“ entstanden waren. Dies sollte durch die „positiven Festigung des Firmenimages“ und durch die Emergenz eines „Verant501 Vgl. Ebd. S. 4–5. In der Werkszeitschrift von Henkel finden sich innerhalb der Jahre 1973 bis 1975 einige Darstellungen zum Verhältnis Henkels zum Verbraucherschutz. Bezüglich des Umweltschutzes finden sich aber weiterhin auch Anmerkungen in den Bohmert’schen Kolumnen, in denen dieser die zunehmende Industriekritik kritisch betrachtete. Zum von mir angeführten Buch von Günther Wallraff titelte Bohmert: „Ein Tribunal das keines war“, in: Henkel Blick November 1973, S. 3. Die endgültige Bekanntmachung innerhalb des „Henkel-Blicks“ über die innerbetriebliche Neuorientierung hinsichtlich des Umweltschutzes titelte dann im April 1975 „Ein Problem, das alle angeht“ und verfolgte damit das Ziel, die Belegschaft bis auf die Ebene des Tagesgeschäftes zu sensibilisieren. Vgl. „Ein Problem, das alle angeht“, in: Henkel-Blick April 1975, S. 1. Damit wird klar, wie lange der Prozess zur Implementierung einer angestrebten Sicherheitskultur benötigte. Man darf sicherlich davon ausgehen, dass dieser Prozess innerhalb der Unternehmen im hier betrachten Zeitrahmen ein vorläufiges Ende genommen hatte. Die Unternehmen waren überzeugt, man habe das Nötige getan. Die erneute Welle der Empörung, die auf die chemische Industrie nach dem Dioxinunglück von Seveso einbrach, werde ich im folgenden und letzten Kapitel der Arbeit darstellen.
3.2 Verkehrte Verhältnisse
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wortungsbildes von Henkel in der Öffentlichkeit“ erreicht werden. Des Weiteren zielten die Verantwortlichen aber hauptsächlich auf die „optimale Ausnutzung der in der Produktion eingesetzten Roh- und Abfallstoffe“, wobei der wichtigste Nutzen in der „Kostensenkung bei der Produktion“ lag.502 Nach diesen ausgefeilten Vorbereitungen mussten nun alle Hierarchiestufen von oben nach unten über das Vorhaben informiert werden. Zumindest auf der Ebene des gehobenen Managements gibt es keine Evidenz für Widerstände. Ende März 1974 trat Friedrich Bohmert mit einer flammenden Rede vor die Produktionsleiterkonferenz. In den Formulierungen ist hier sehr deutlich zu sehen, wie Bohmert den Bestrebungen des öffentlichen Drucks und damit den außer-unternehmerischen Forderungen Recht zuspricht. Er appellierte gegenüber den Leitern des operativen Tagesgeschäftes: [U]nser Unternehmen unternimmt Anstrengungen, um seine eigenen Umweltschutzprobleme möglichst bald und möglichst umfassend zu lösen. Denn Tatsache ist, daß die UmweltschutzGesetzgebung verstärkt werden wird, und was die Umweltschutz-Überwachung unseres Werkes durch die Aufsichtsbehörde angeht, muß damit gerechnet werden, daß diese Behörde in Zukunft ihre Kontrollen aufmerksamer durchführt. Man könnte auch sagen, sie wird – und das durchaus im Sinne der Gesetzgebung und der Öffentlichkeit – ‚umweltbewusster‘ handeln. Damit ist das Stichwort gefallen, um das es in meinen Ausführungen geht: Um Umweltbewusstsein – in diesem Fall um das Umweltbewusstsein der Belegschaft unserer Firma. […] Was immer an Maßnahmen zur Förderung des Umweltbewusstseins der Henkel-Belegschaft erfolgen wird – die Mitarbeiter in den Betrieben sind davon in besonderem Maße berührt. […] Ich meine, in Bezug auf die Belegschaft unserer Firma würde ein verstärktes ‚Umweltbewusstsein‘ folgendes bedeuten können: Mehr Nachdenken und Aufpassen bei den Arbeitsvorgängen, die direkt oder indirekt in Zusammenhang mit einer möglichen Umweltbeeinträchtigung stehen […]. Ein so definiertes umweltbewusstes Verhalten unserer Mitarbeiter betrifft den einzelnen Arbeiter in der Produktion ebenso wie seinen Meister und dessen Vorgesetzten. Aber es betrifft auch die Mitarbeiter in ganz anderen Arbeitsbereichen, unsere Wissenschaftler in der Produktentwicklung sind hier nur als ein Beispiel genannt. […] Selbstverständlich […] sollte eine innerbetriebliche Umweltschutzaktion auch ihre positive Resonanz in der Öffentlichkeit, speziell in der Nachbarschaft des Werks finden. Hier ginge es darum aufzuzeigen, daß Henkel neben der Inangriffnahme und der Verbesserung des technischen Umweltschutzes auch einen eigenen Beitrag zur ideellen Umweltschutzerziehung leistet, eben zum verstärkten Umweltbewusstsein seiner Mitarbeiter.503
Bohmert spricht hier explizit vom „Aufzeigen“ der Maßnahmen innerhalb des Unternehmens, was belegt, dass dies eine öffentlichkeitswirksame Kampagne mit dem Ziel der Selbstdarstellung – und dies ist nicht negativ gemeint – war. Angesichts der vorangegangenen Wirren um die externen Forderungen nach einer umweltfreundlichen und sicheren Produktion konnte diese Aktion nicht nur reine Effekthascherei oder eine Darstellung dem Anschein nach sein. Bohmert ging es hier um 502 Vgl. Aktennotiz von Dr. Bohmert / ST-PR betreffend Förderung des Umweltbewußstseins der Henkel-Belegschaft – Vorschläge für eine innerbetriebliche Aktion vom 12. Dezember 1973, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Einzelakte 36 Umweltschutz 1973–1975. 503 „Förderung des Umweltbewusstseins der Henkel-Belegschaft“, Vortrag von Dr. Bohmert auf der Produktionsleiterkonferenz am 29. März 1974, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Einzelakte 36 Umweltschutz 1973–1975.
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die Erzeugung von werksweiten Praktiken und Glaubenssystemen, die dem bereits wenige Jahre zuvor veränderten strategischen Umweltmanagement folgen sollten. Die Aktion wurde wie geplant weitergeführt und fand ihren planerischen Abschluss vorerst im Februar 1975; zu diesem Zeitpunkt hatten ihre Architekten rund um den gebildeten Arbeitskreis bereits einige „Signale“ gesetzt, um die avisierten Verbesserungen zu erreichen.504 Es gilt noch zu überprüfen, inwieweit die geforderte „ideelle Umweltschutzerziehung“ bei Henkel Früchte trug und ob kongruent damit die produktionsinduzierten Risiken bzw. Stör- und Unfälle zurückgingen bzw. wie sich im Folgenden damit auseinandergesetzt wurde. Wie mehrfach angeklungen finden wir in der hier zu analysierenden Zeitperiode auf der Ebene des operativen Tagesgeschäfts eine sich schnell wandelnde und teils ambivalente Argumentation und innerbetriebliche Sinndeutung zum Thema Umweltschutz. So wurde Ende 1971 bei einer gemeinsamen Betriebs- und Meisterkonferenz ein Klagelied über die gesetzlichen Forderungen, die hohen Kosten und die nicht nachvollziehbaren Proteste der Öffentlichkeit angestimmt.505 Nachdem der Arbeitskreis Umweltbewusstsein gebildet und vor allem gewollt war, konnten solche Argumente natürlich nicht mehr vertreten werden, da sie der geforderten ideellen Umweltschutzerziehung widersprochen hätten. Im Rahmen des Aktionsplanes hatte sich die Produktionsleiterkonferenz im März 1974 dazu entschlossen, gezielt die „Motivation der Belegschaft zu einem umweltbewussten Verhalten […] in der ständigen Diskussion der Mitarbeiter mit den entsprechenden Fachleuten“ zu fördern.506 In diesem Kontext konnte gleichzeitig zum ersten Mal seit langem berichtet werden, dass die zulässigen „Toleranzgrenzen der Emissionen“ unterschritten wurden.507 Auf der anderen Seite finden wir jedoch Klagen der Werksfeuerwehr, die 1973 ihre Sorge hinsichtlich der „Sicherheitsfragen für das Werk und seine Umwelt“ äußerte und auf die „erschreckende“ Zunahme der Brände in Holthausen hinwies.508 Zwar hatte es sich dabei vermehrt um kleinere Brände gehandelt, jedoch wird sehr deutlich, dass Sicherheit für das Werk und für die Umwelt nun auf Prävention beruhte: „[W]ir können uns nicht immer darauf verlassen, einen Großbrand zu löschen bezw. einen Entstehungsbrand nicht zum gefährlichen Großbrand aufflammen zu lassen.“509 Die mahnenden Worte der Feuerwehr wurden im Sinne der geforderten Diskussion mit den Fachleuten und der 504 Protokoll über die 5. Sitzung des Arbeitskreises Umweltbewußtsein am 21. Januar 1975, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Einzelakte 36 Umweltschutz 1973–1975. Hierzu auch Niederschrift über die Postbesprechung der Geschäftsleitung HC vom 11. November 1974, in: Konzernarchiv Henkel, 153/47 Postprotokolle. 505 Vgl. Protokoll der gemeinsamen Betriebs- und Meisterkonferenz vom 21. Dezember 1971, S. 9, in: Konzernarchiv Henkel, J 106 J Meisterkonferenzen 1968–1976. 506 Vgl. Protokoll Nr. 2/74 der Produktionsleiter-Konferenz am 29. März 1974, S. 6, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 453 Akten Opderbecke, Produktionsleiterkonferenzen und Bereichsleiterbesprechungen 1972–1974. 507 Vgl. ebd. S. 7. 508 Vgl. Jahresbericht der Werksfeuerwehr Henkel auf der Betriebskonferenz vom 17. Dezember 1973, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Akte Abt. 635 Feuerwehr / Brand- und Hilfeleistungen. 509 Ebd.
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Umweltschutzerziehung dann in einem Referat zum „Brandschutz im UHH [Unternehmen Henkel Holthausen, T.J]“ an die Meister weitergegeben, die ihrerseits die Belegschaft darauf aufmerksam zu machen hatten: Der Brandschutz in der chemischen Industrie hat besondere Bedeutung. Diese ergibt sich aus der überdurchschnittlichen Gefährdung, die mit den brand- und explosionsgefährlichen Eigenschaften […] verbunden sind. […] Unmittelbare Gefahren entstehen immer dann, wenn brennbare Gase und Dämpfe […] aus den Apparaturen entweichen. Sehr häufig entstehen Brände und Explosionen bei Abweichungen vom normalen Produktionsablauf, z.B. bei Produktionsstörungen […]. Um diesen aufgezeigten latenten Gefahren, die naturgemäß auch bei uns im UHH herrschen, im Bedarfsfall wirkungsvoll begegnen zu können, ist es notwendig, Maßnahmen des vorbeugenden Brandschutzes und des abwehrenden Brandschutzes zu treffen. Diese Maßnahmen sollen verhindern, daß Menschenleben gefährdet werden und […] Umweltbeeinträchtigungen entstehen.“510
In diesem Referat des Leiters der Werksfeuerwehr wird ersichtlich, dass Brand- und Explosionsrisiken in der chemischen Industrie weiterhin als unvermeidbar angesehen wurden. Jedoch tritt hier auch ein Aspekt zu Tage, den wir zehn Jahre zuvor in dieser Form der Argumentation noch nicht gefunden hätten: Die bestehenden Restrisiken – in die nun auch das Umweltrisiko mit einbezogen wurde – sind laut dieser Darstellung durch umsichtiges Verhalten minimierbar, im Idealfall sogar vollständig zu beseitigen, was nicht nur den reibungslosen Produktionsablauf sichert. Ein gezieltes Unfallmanagement jenseits des Arbeits- und Anlagenschutzes wird hier von den Meistern eingefordert. Daraus schließe ich, dass Produktionsstörungen bzw. potenzielle Stör- und Unfälle, die das Werk sowie die natürliche und lebensweltliche Umwelt bedrohten, nun nicht mehr als der Normal- sondern als der Ausnahmenzustand galten. Hierfür hatten die Meister ihre Untergebenen zu sensibilisieren. Solchen Umdeutungsprozessen folgten natürlich auch inner-unternehmerische formale Institutionen, wie sich die Mitarbeiter in einem Stör- oder Schadensfall mit Umwelteinwirkung zu verhalten hatten. Wir finden sie etwa in der folgenden Richtlinie, die als Instrument eines inneren Institutionalisierungsprozesses gelten darf, der das Verhalten im Un- oder Störfall regelte: „Diese Richtlinie regelt den Ablauf der Meldung von Schäden. […] Die vorgesehene Meldung hat den Zweck, die dem Unternehmen durch Gesetze auferlegten Pflichten zu gewährleisten […]. Diese Richtlinie betrifft Schäden […] an Henkel-eigenem oder fremdem Gut […]. Sachschäden im Sinne dieser Richtlinie sind Schäden an den Einrichtungen des Werkes und der Umwelt, die durch andere Ereignisse als der bestimmungsmäße Verwendung oder den normalen Betrieb entstanden sind. Solche ‚anderen Ereignisse‘ sind z.B. […] Explosion, Zerknall […].“511
Die Mitte der 1970er Jahre ist damit der Startpunkt eines Sozialisationsprozesses innerhalb des betrieblichen Alltags, der das Handeln des Chemiewerkers zu Umweltschutzmaßnahmen anleitete. Innerhalb weniger Jahre hatte sich bei Henkel eine 510 Referat von Herrn Voss / Feuerwehr auf der Meisterkonferenz 4/74 am 28. Mai 1974, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Betriebsausschuss und Meisterkonferenzen 1973–1978. 511 Dr. Funk an Werksleiter Opderbecke betreffend Richtlinie „Schadensmeldung“ vom Juni 1974, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke Umweltschutz bis 1978.
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neue Sinndeutung etabliert, die auf der strategischen Ebene ein gezieltes Umweltmanagement und auf der operativen Ebene ein Gefahrenmanagement beinhaltete. Kollateralschäden sollte es nicht mehr geben. Man begann, verantwortungsvolles Handeln gegenüber der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt in das Glaubenssystem des Unternehmens einzubeziehen; chemische Produktionen sollten nicht mehr stinken und knallen, „weil dies schon immer so war“. Brände und Explosionen, das unbeschwerte Ablassen von Abwässern, Dämpfen und Gasen waren nicht mehr legitim. Es findet sich im hier zu betrachteten Zeitraum keine Evidenz für Widerstände gegen diese Ansichten, mit denen die Meister zu kämpfen hatten bzw. die hätten sanktioniert werden müssen. Ebenso finden sich keine Klagen der Meister, das geforderte Programm stieße auf Unverständnis oder Ablehnung. Sicherlich drehten sich die Verhältnisse bis zum Ende der 1970er Jahre nicht vollends ins Gegenteil, und der bereits 1961 geforderte „blaue Himmel über der Ruhr“ oder der saubere Rhein waren noch weit entfernte Ziele. Diese guten Absichten wurden von den Unternehmen nun aber als erstrebenswert anerkannt und ernst genommen. Hinsichtlich des Aktionsprogramms zur Verbesserung des Umweltbewusstseins der Henkel-Belegschaft gratulierte der Ingenieur Berth Friedrich Bohmert Ende 1974 zu seinen Plänen, was auch auf die Mitarbeit der technischen Seite hinweist: „Das vorgelegte Programm ist meines Erachtens für das angestrebte Ziel sinnvoll. Die gesamte Aktion sollte sorgfältig beobachtet und kritisch ausgewertet werden, damit die Erfahrungen für Folgeprogramme genutzt werden können.“512 Und so konnte das Unternehmen Ende 1975 in Bezug auf Stör- und Unfälle oder andere Unregelmäßigkeiten stolz berichten: „Die regelmäßigen Besuche des Beamten des Gewerbeaufsichtsamtes dienten […] der Verfolgung von Beschwerden der Nachbarschaft und von Vorfällen in unserem Hause, die hierdurch erheblich (45 % zum Vorjahr) vermindert werden konnten. […] Im Abwasserbereich gaben verschiedenen Störungen in den Betrieben Anlass, auf die erhöhte Verantwortung hinzuweisen, die das Unternehmen nach Anlauf der Kläranlage Süd seit Anfang des Jahres hat. Soweit menschliches Versagen nicht ausgeschlossen werden kann, müssen auf diesem Gebiet verstärkt selbstständige Einrichtungen sowie Warngeräte eingesetzt werden.“513
Nicht nur Stolz auf das Erreichte wird hier ausgedrückt. Ganz klar wird herausgestrichen, dass Henkel nun Verantwortung für die neue Kläranlage trage und alles daran gesetzt werden müsse, diese Verantwortung für den störungsfreien Verlauf zu gewährleisten. Dies drückt sich etwa in der Forderungen nach Warneinrichtungen aus, um schnell reagieren und größere Schäden abwenden zu können. Mir kam es hier darauf an, zu zeigen, dass ein Prozess in Gang gesetzt worden war, Verantwortung für die Umwelt nun als Ziel in die Glaubensysteme von Henkel zu implementieren und entsprechende innerbetriebliche Maßnahmen durchzufüh512 Dr. Berth an Dr. Bohmert betreffend Maßnahmen zur Förderung des Umweltbewusstseins der Henkel-Belegschaft vom 27. November 1974, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke Umweltschutz bis 1978. 513 Jahresbericht der Technischen Dienste 1975, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 453 Akten Opderbecke Nr. 40a-40b, hier 40a, Tageskopien Dr. Funk.
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ren, um dieses von außen eingeforderte Ziel erreichbar zu machen. Es hatte sich ein normatives Bewusstsein entwickelt, dass die latenten Restrisiken nicht nur zum Schutz der klassischen Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital, sondern explizit zugunsten der Werksumwelt gemanagt und minimiert werden mussten. Das vorherige Primat der chemischen Risikoproduktion und das Hinnehmen der damit verbundenen Umwelteinwirkungen waren nicht mehr zeitgemäß. Auch Bayer kam im hier untersuchten Zeitraum nicht mehr umhin, gezielte Maßnahmen für den betrieblichen Umweltschutz durchzuführen und damit neue Handlungsmuster in Richtung einer Sicherheitskultur auf den Weg zu bringen. Auch dies möchte ich im Folgenden noch kurz darstellen. Da es im hier zu betrachtenden Zeitraum nicht zu gravierenden Un- und Störfällen kam, werde ich mich dabei kurz mit einem veränderten Risikomanagement infolge von weniger drastischen Ereignissen auseinandersetzen. Ich habe oben darauf hingewiesen, dass es bei Bayer zunächst tief greifende Konflikte in Bezug auf den innerbetrieblichen Umweltschutz gab: Hartnäckiger als bei Henkel scheinen sich dort alte Verhaltensmuster und Uneinsichtigkeiten im betrieblichen Alltag gehalten zu haben. Doch auch beim Leverkusener Chemiekonzern finden wir bereits in den frühen 1970er Jahren aktive Versuche, alle Mitarbeiter in die Umweltschutzbelange einzubinden und Anreize für ein gesteigertes Umweltbewusstsein zu setzen. Im Spätsommer 1972 wurde beispielsweise erstmals ein Ideenwettbewerb unter dem Motto „Umweltschutz geht alle an“ veranstaltet.514 Gemeinsamkeit sollte im Zuge des betrieblichen Vorschlagwesens wie moderner Führungskonzepte etwa im Bereich der Delegation von Verantwortung nun auch für den Umweltschutz gelten: „Alle Mitarbeiter werden aufgerufen, Vorschläge zur umweltfreundlicheren Gestaltung der chemischen Technik zu machen. […] Für Ideen, die sich in den Betrieben erfolgreich verwerten lassen, hat der Vorstand […] einen jährlichen Wettbewerb mit einem Gesamtpreis von 10.000 DM ausgeschrieben […]. Die Vorschläge werden von der Abteilung AWALU […] beurteilt, deren mehr als 200 Chemiker, Ingenieure und Fachleute die neuesten technischen und wissenschaftlichen Erfahrungen für den Umweltschutz bei Bayer einsetzen.“515
Solche eingeleiteten Schritte vermochten es noch nicht vollends, Konflikte zwischen dem operativen Tagesgeschäft und der AWALU-Abteilung zu vermeiden. Zwar wurden vom Unternehmen durch relativ hohe Geldpreise Anreize gesetzt und damit auch ein hoher Stellenwert des Themas Umweltschutz und Sicherheit signalisiert. Eine gänzliche Kanalisierung des Themas auf die operative Ebene des Tagesgeschäfts konnte aber nur zögerlich vonstatten gehen. Noch immer sahen sich einzelne Sparten teilweise harter Kritik der innerbetrieblichen Umweltschützer gegenüber. Im April 1974 etwa musste die AWALU-Abteilung einzelne Abteilungen heftig ermahnen, da sie mit Arbeiten zur verbesserten Abwassertechnologie in Verzug geraten waren, was Bayer sich mit Blick auf das gefährdete Image und die Legitimation des Unternehmens nicht mehr leisten konnte. So wurden einzelne 514 Vgl. Presseinformation der Farbenfabriken Bayer AG betreffend Ideen-Wettbewerb für Umweltschutz vom 30. August 1972, in: BAL 388/179 Werksverwaltung Leverkusen, Vorstandsstab bis 1973. 515 Ebd.
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Betriebsleiter mit dem Verweis auf den existierenden Druck der Aufsichtsbehörden angewiesen, dass schleunigst „in allen Betrieben die notwendigen technischen Voraussetzungen zur Abgabe der Abwässer in den Biokanal“ geschaffen werden sollten.516 Sehr persönlich und für die Betriebsleiter der alten Garde sicherlich auch ungewohnt wurden sie von den AWALU-Mitarbeitern harsch angegangen, damit die Abwasser-Verhältnisse sich nun schnell verbesserten: In einem Teil Ihrer Betriebe sind die innerbetrieblichen Trennungen der Abwasserströme entweder noch nicht begonnen oder nur zum Teil durchgeführt worden. Wir möchten Sie daher bitten, diesen Arbeiten erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken und zu veranlassen, daß die erwähnten Arbeiten bis 1976 zum Abschluss kommen. Wir möchten darauf hinweisen, daß die Terminierung im Zusammenhang mit den uns von den Aufsichtsbehörden vorgeschriebenen Auflagen zur Sanierung der Abwasserfrage steht und dementsprechend eingehalten werden muß. Wir möchten Sie bitten, uns über das diesbezügliche Vorgehen in Ihrem Betriebsbereich zu unterrichten.“517
Nicht nur diese Angelegenheit wurde nur wenige Wochen später im Sinne der AWALU-Abteilung geregelt, indem eine spezielle Kommission zur Lösung des Problems eingesetzt wurde. Bald konnte in ersten Gesprächen „über die Berücksichtigung des Umweltschutzes bei Produktionsverfahren“ und die bisherige Trägheit der Betriebsleiter sowie die daraus resultierenden Verzögerungen des Projekts protokolliert werden: „Unter allen Anwesenden wurde schnell Einsicht erzielt.“518 Auch hier wird die neue Tragweite der Thematik ersichtlich: Auf der einen Seite versuchte Bayer noch, sich gegen manche Maßnahmen des formalen Gewässerund Immissionsschutzes aufzulehnen, und das Unternehmen hatte die öffentlichen Proteste noch nicht gänzlich in seine Sinnmuster und Glaubenssystem integriert. Auf der anderen Seite hatte der Konzern Mitte der 1970er die Sinnlosigkeit solcher Widerstände erkannt; die an ihn gerichteten Forderungen wurden hingenommen und umzusetzen versucht. Dabei wurde das Zähneknirschen auf der strategischen wie der operativen Seite allmählich leiser. Der Umweltschutz und damit ein verändertes Risikoverhalten mussten – um ein effizientes Wirtschaften sicherzustellen – in das Glaubenssystem des Konzerns Einzug halten. Nur eine Übereinstimmung innerer Glaubenssysteme mit äußeren Erwartungen und einer nachweisbaren Sicherheitskultur für die Werksumwelt konnte Reibungsverluste und Imageschäden noch vermeiden. Hierfür bedurfte es aber der Ablösung alter Überzeugungen, die den 1950er und 1960er Jahren entstammten. Im Falle Bayer standen die Koordinierung von Forschung- und Entwicklung, Verfahrensentwicklungen sowie spezielle Schulungsmaßnahmen in den Betrieben im Mittelpunkt.519 Weit reichende Forschungen wurden angestoßen, die sich vor 516 Vgl. Dr. Weber an Betriebsleiter Kaiser und Müller betreffend Anschlüsse der Betriebe an den Biokanal vom 23. April 1974, in: BAL 388/209 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU I 1974. 517 Ebd. 518 Dr. Weber an Dir. Broja betreffend Vorbereitung eines Inter-Sparten-Gespräches über die Berücksichtigung des Umweltschutzes bei Produktionsverfahren vom 23. Juni 1974, in: BAL 388/209 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU I 1974. 519 Vgl. Aktennotiz von Dr. Weber für Dir. Broja betreffend Aktivierungen von Entwicklungen auf dem Gebiet Umweltschutz vom 05. August 1974, in: BAL 388/209 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU I 1974. Ebenfalls Aktenotiz von Dr. Weber betreffend Besprechung über Umwelt-
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allem mit der Wiederverwendung von Rohstoffen, der weiteren Senkung der Emissionen und der Aufbereitung von Abwässern und damit einem verminderten Verschmutzungspotenzial beschäftigen. Sie wurden spätestens seit dem Sommer 1974 forciert: Zu deutlich war nun, dass die Gesetzesflut sowie der stattgefundene Vertrauens- und Machtverlust die chemische Industrie zwangen, „sich in der nächsten Zeit stärker als bisher sich mit der Reduzierung bzw. der Rückgewinnung der bei Produktionsprozessen abfallenden Stoffe zu beschäftigen.“520 Die neuen Sinnmuster des gehobenen und mittleren Managements auf der operativen Ebene von Bayer werden noch deutlicher in der Stellungnahme des Leiters der AWALU-Abteilung gegenüber der Forschungs- und Entwicklungsabteilung; hier wird eine Überzeugung von der Richtigkeit solcher Maßnahmen transportiert: „Auf lange Zeit haben Verfahrensänderungen große Chancen. Solange solche nur begrenzt zur Verfügung stehen, müssen [Hervorhebung im Original, T.J] Aufarbeitungsverfahren für Abfallprodukte, Abwasser und Abluft aus den gebräuchlichen Verfahren verbessert werden. Für alle diese Fragestellungen ist in der nächsten Zeit der Einsatz erheblicher Forschungsmittel notwendig. In den Sparten OC [Organische Chemie, T.J] und FB [Farben, T.J] wird gemeinsam daran gearbeitet. […] Das gilt insbesondere für chlorhaltige Flüssigkeiten, die in großen Mengen (ca. 20.000 jato, Jahrestonnen, T.J) auf See verbrannt werden, was bald zu mehr oder weniger berechtigten Schwierigkeiten führen wird.“521
An einer solchen Argumentation wird ersichtlich, dass auch Ausweichstrategien – hier der Verbrennung von chlorhaltigen Substanzen auf See, was ja bereits mehrfach am Standort selbst zu Problemen geführt hatte – nun ebenfalls in Zweifel gezogen wurden. Solche Vorgehensweisen führten demnach in der Zukunft ‚zu berechtigten Schwierigkeiten‘, womit gleichsam die Überzeugung transportiert wurde, dass das frühere Vorgehen problematisch war. Einzelmaßnahmen wie diese gingen bei Bayer – wie auch im Fall Henkel – in einer konzernweiten Aktion „Aktivierung von Entwicklungen auf dem Gebiet Umweltschutz“ bzw. in „Umweltschutzmaßnahmen in den Betrieben“ auf, die ebenfalls 1974 in ihre Konstituierungsphase eintraten und sich in der Folge verstetigten.522 Ebenfalls im Sommer 1974 wurde ein erster Lenkungsausschuss bestehend aus Chemikern, Ingenieuren aus den Betrieben sowie AWALU-Verantwortlichen und der Öffentlichkeitsarbeit gegründet: schutzmaßnahmen in den Betrieben vom 04. November 1974, in: BAL 388/209 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU I 1974. 520 Vgl. Dr. Henkel an Dir. Prof. Dr. Ley betreffend Forschungen zu Umweltproblemen vom 03. Juli 1974, in: BAL 388/209 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU I 1974. Zur strategischen Bewilligung dieser Vorhaben steht die Zustimmung des Vorstandes der Bayer AG. Vgl. Vorstandsitzung in Leverkusen am 22. November 1973, in: BAL 387/1 Vol. 13 Vorstandsprotokolle 19.06.73– 09.04.74. 521 Dr. Henkel an Dir. Prof. Dr. Ley betreffend Forschungen zu Umweltproblemen vom 03. Juli 1974, in: BAL 388/209 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU I 1974. 522 Dies wird etwa durch eine Unterredung in einer Vorstandsitzung Anfang Juli 1976 deutlich. Wie schon oft in den Jahren zuvor führte der Rhein wenig Wasser, weswegen hier für eine Herabsetzung der Produktion votiert wurde. Dies wird unter dem Gesichtspunkt „Unternehmenspolitik“ diskutiert, wobei die weitere Planung der Abwassereinleitung durch die getroffen Maßnahmen in den Betrieben das flexible Produktionsprogramm von Bayer nicht in Bedrängnis bringen konnte. Vgl. Vorstandsitzung in Leverkusen am 06. Juli 1976, in: BAL 387/1 Vol. 16 Vorstandsprotokolle 19.06.75–01.03.77.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel „Es wurde über Fragen der Koordinierung und Intensivierung von verfahrenstechnischen Entwicklungen auf dem Gebiet des Umweltschutzes gesprochen. In diesem Zusammenhang sollen die folgenden Schritte unternommen werden: 1. Es wird eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die laufende Entwicklungen auf dem Gebiet der Abwasserverbrennung koordiniert und zukünftige zentrale Aktivitäten steuert. 2. In AP [Anlagenplanung, T.J] wird im Bereich der Verfahrenstechnik eine Gruppe ‚Umweltschutz‘ aufgebaut, deren Aufgabe es ist, kurzfristig und langfristig ausgerichtete Verfahrensentwicklungen auf dem Gebiet des Umweltschutzes zu betreiben. Die Gruppe wird in engem Kontakt mit AWALU, Produktion und Forschung arbeiten. […] Die Besprechungsteilnehmer sind sich darüber einig, daß insbesondere die langfristigen Aufgabenstellungen aus dem Bereich AWALU kommen müssen und daß dort die hierzu nötigen Voraussetzungen geschaffen werden müssen.“523
Damit hatte die AWALU nicht nur innerhalb der fokalen Organisation die Oberhand. Die interdisziplinäre und inter-organisationale Gesprächsrunde war von der Notwendigkeit einer Vorgesetztenfunktion der obersten Umweltschutzabteilung allmählich überzeugt; die Gesprächsteilnehmer hatten ein entsprechendes Glaubenssystem entwickelt und erkannten hierin einen Sinn. An anderer Stelle hieß es nämlich im Herbst 1974 noch viel deutlicher: „Für die Zukunft besteht eine große Dringlichkeit, die vom Gesetzgeber erhobenen Forderungen des Umweltschutzes für bestehende und noch zu entwickelnde Produktionsverfahren und Produkte rechtzeitig zu berücksichtigen und einzusetzen. […] Allen an dem Gespräch Beteiligten erscheint es zweckmäßig, daß Forschung und Verfahrensentwicklung stärker als bisher auf die Forderungen des Umweltschutzes Rücksicht nehmen. Um das zu erreichen, ist eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Ressorts Forschung und Produktion einerseits und AWALU andererseits notwendig.“524
An diesem Gespräch zwischen der AWALU-Abteilung und den Spartenleiter werden die in der nahen Zukunft notwendigen Überzeugungen klar, die es zu erreichen galt: Die Formulierungen weisen auf ein umgekehrtes Ehrfurchtsverhältnis gegenüber den Behörden hin. Nicht mehr die Behörden und die Nachbarschaft mussten Bayer gegenüber kooperativ sein. Die AWALU-Mitarbeiter wussten aus ihrem Tagesgeschäft um die Chancenlosigkeit Bayers, sollte sich das Unternehmen dem Druck nicht beugen. Dies musste den Spartenleitern eingeschärft werden, um die genannte Zweckmäßigkeit der Berücksichtigung des Umweltschutzes und einer verminderten Risikoproduktion im Unternehmen glaubhaft erscheinen zu lassen. Dieses Ziel konnte nur durch Einigkeit erreicht werden, weshalb eine engere Zusammenarbeit beschlossen wurde. Dabei ging es darum, Umweltschutz- und Sicherheitswissen im Unternehmen verstärkt zirkulieren zu lassen. 523 Aktennotiz über eine Besprechung mit den Sparten von LE-AWALU betreffend Aktivierung von Entwicklungen auf dem Gebiet Umweltschutz vom 05. August 1974, in: BAL 388/209 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU I 1974. Ebenfalls Dr. Weber / LE-AWALU an Broja betreffend Konzept für die Koordinierungsarbeiten zur Entwicklung von Umweltschutzmaßnahmen vom 20. August 1974, in: 388/209 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU I 1974. 524 Dr. Henkel / LE-AWALU an Spartenleiter betreffend Berücksichtigung der Umweltbelange bei Forschung und Verfahrenstechnik; Besprechung am 23.07.1974 vom 10. September 1974, in: BAL 388/209 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU I 1974.
3.2 Verkehrte Verhältnisse
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Aus diesen Gründen ist es auch nicht verwunderlich, dass die Beachtung und Implementierung von Umweltschutzmaßnehmen auch jenseits des chemisch-technischen Tagesgeschäfts und der von mir aufgezeigten Steuerungsmaßnahmen durch die externe Unternehmenskommunikation nun in so genannten „gesellschaftspolitischen Argumentationsseminaren“ für Führungskräfte (Sparten, Zentralbereiche, Werksverwaltung und Vorstandsstab) eingeführt wurden.525 Das Ziel solcher Veranstaltungen für die Führungskräfte war es, die neuen Glaubenssysteme, (Management-)Praktiken und Überzeugungen nach außen in einer Face-to-Face -Situation glaubhaft vermitteln zu lernen.526 Kurz: Die Führungskräfte sollten in die Lage versetzt werden, das neue Bekenntnis Bayers zum Umweltschutz sowie die Wahrhaftigkeit dieses Bekenntnisses darzustellen und somit den Vollzug nach innen adaptierter Sinnorientierungen zu belegen. Der Inhalt solcher Veranstaltungen verschmolz die Themenbereiche Umweltschutz und Sicherheit mit allgemeinen Strömungen der Unternehmenskritik und der Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem. So hörten die Führungskräfte Vorträge mit Titeln wie: „‚Angriffe gegen die Führungskräfte der Wirtschaft, die verfaßte Demokratie und gegen die soziale Marktwirtschaft unter Berücksichtigung von Umweltschutzthemen‘“,527 und in Rollenspielen sollten „Grundregeln der Diskussion und Dialektik mit Radikalen“ sowie der „Entgegnung auf die Vorwürfe der Systemüberwinder“ gelernt werden.528 Diese Schulungsmaßnahmen sind sicherlich ein Indiz für die latente Furcht, sich ständig und überall argumentativ gegen die ‚Radikalen‘ zur Wehr setzen zu müssen. Sie zeigen aber wieder deutlich, dass die Unternehmen solche Strömungen ihnen gegenüber nun wahr- und vor allem ernst nahmen; sie reagierten darauf mit gezielten innerbetrieblichen Maßnahmen. Ob es Bayer gelang, den ‚radikalen Umweltschützern‘ so den Wind aus den Segeln zu nehmen und eine Reintegration zu erreichen, wird Teil des letzten Kapitels dieser Arbeit sein. Präventive Maßnahmen zum Schutz der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt finden sich bei Bayer ebenfalls zahlreich. Auch hier wurde Ende 1974 ein Maßnahmenkatalog für „Umweltschutzmaßnahmen in den Betrieb“ verabschiedet und in den kommenden Jahren weiter durch eine gleichnamige Kommission forciert.529 Diese Schritte standen ebenfalls in direktem Bezug zum allgemeinen Umweltbewusstsein, in welchem Broja „erhebliche Rückwirkungen“ auf die „che525 Vgl. Zentrales Bildungswesen an Spartenleiter, Zentralbereiche und Vorstandsstab betreffend Argumentations-Seminar für Führungskräfte vom 29. Juli 1974, in: BAL 388/173 Werksverwaltung Leverkusen, Zentrales Bildungswesen seit 1974. 526 „Ziel dieses Seminars ist es, Führungskräften Informationen und Argumentationen für Diskussionen über gesellschaftspolitische Themen zu vermitteln.“ Ebd. 527 Zentrales Bildungswesen an Spartenleiter, Zentralbereiche und Vorstandsstab betreffend Argumentations-Seminar für Führungskräfte, hier Benennung von Teilnehmern und Programm vom 24. Oktober 1974, S. 1, in: BAL 388/173 Werksverwaltung Leverkusen, Zentrales Bildungswesen seit 1974. 528 Vgl. ebd. S. 4. 529 In der konstituierenden Sitzung des Gremiums ging es vor allem um die sofortige Erfassung der Probleme in den Betrieben und den Stand der Technik und dessen Ausbau zur Behebung dieser Probleme. Vgl. Broja an Vorstand betreffend Kommission Umweltschutzmaßnahmen in den
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
mischen Produktion“ sah und was ihn für die Arbeit der Kommission folgern ließ, dass „[…] die anstehenden Probleme schwerpunktmäßig und in Koordinierung zwischen den Sparten, der Forschung und AWALU zu bearbeiten“ seien.530 Die bis hier von mir dargestellten Umweltprobleme, die von Bayer ausgingen, mussten nach Brojas Ansicht systematisch erfasst und gelöst werden. Darauf hatte der Konzern nun sein Augenmerk zu richten. Über die primären Aufgaben und Ziele der eingerichteten Gremien zur Lösung der Probleme notierte Broja für den Vorstand: „Ein Teil der anstehenden Probleme wird bereits seit langem bearbeitet, aber in einigen Fällen in mehreren Sparten gleichzeitig ohne entsprechende Koordinierung, etwa Schulungen für die Mitarbeiter. Vorgeschlagen wurde von AWALU, einen Ausschuß zu bilden mit folgenden Aufgaben: 1. Bestandsaufnahme der in Betrieben notwendigen Umweltschutzmaßnahmen. 2. Initiieren und Koordinieren der Bearbeitung von dringenden, über den Bereich einer einzelnen Sparte hinausgehenden Verfahren.“531
Direkte Auswirkungen der Forderungen des neuen Gremiums finden sich dann etwa in einem Fortbildungsprogramm für die Meister im Leverkusener Werk aus dem Jahr 1975. Aus der Anwendung zeitgenössisch-innovativer Mitarbeitermotivations- und Führungsinstrumente – wie etwa der Teamarbeit, die langsam entdeckt wurde – oder altbekannter Mittel wie Mitarbeitergesprächen lässt sich eine Weitergabe solcher Schulungsmaßnahmen direkt an den Chemiewerker durch den Meister ableiten. In Bezug auf den innerbetrieblichen Umweltschutz werden in den Unterlagen folgende Themengebiete und Lernziele aufgelistet: „Wasserreinhaltung und Immissionsschutz, Wasserreinhaltung und Rückstandsbeseitigung, Deponie, Kesselspülung, Verbrennungsanlage, Luftreinhaltung, Lärmbelästigung.“532 Ich habe bereits mehrfach zur Sprache gebracht, wie rasch sich im Vergleich zu den vorherigen zwanzig Jahren die Verhältnisse für die natürliche und lebensweltliche Umwelt verbesserten. Dies lag nicht zuletzt an solchen innerbetrieblichen Maßnahmen und der sich innerhalb der Unternehmen allmählich verbreitenden Überzeugung von ihrer Richtigkeit. Die Handhabung der produktionsinduzierten Risiken hatte sich gewandelt: Statt davon auszugehen, dass die problematischen Verhältnisse normal seien oder – wenn überhaupt – lediglich halbherzige, reaktive Handlungen zugunsten der Produktion vorzunehmen seien, wurden nun präventive, dokumentarische und komplexe Verfahren angewendet, um die Verhältnisse sukzessive zu verbessern. Dabei darf eine unternehmensgeschichtliche Fallstudie aber nicht aus den Augen verlieren, vor welch großen Problemen die Unternehmen am Anfang der 1970er Jahre standen: Der institutionelle und kulturelle Druck versetzte Bayer und Henkel in eine prekäre Lage. Zum einen sollte die stetige ProduktionsBetrieben / Besprechung am 8.10.1974 in Leverkusen vom 14. November 1974, in: BAL 388/209 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU I 1974. 530 Vgl. ebd. 531 Ebd. 532 Programm der Meisterfortbildung vom 29. Mai 1975 S. 1, in: BAL 388/173 Werksverwaltung Leverkusen, Zentrales Bildungswesen seit 1974. Zu den angesprochenen Führungs- und Motivationsinstrumenten und der dahinter stehenden Unternehmenskultur vgl. Thilo Jungkind, 2009, S. 60f.
3.2 Verkehrte Verhältnisse
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ausweitung und die Generierung ökonomischer Wohlfahrt weiter vorangetrieben werden. Zum anderen musste das in wenigen Jahren zutage getretene Umweltbewusstsein mit allen daraus abgeleiteten Forderungen in die unternehmerische Aktivität und Strategie implementiert werden. Nicht zuletzt angesichts des anfänglich geringen Verständnisses der Unternehmen gegenüber dem ihnen entgegen gebrachten Druck ist es erstaunlich, wie schnell die Adaption des institutionellen Arrangements vonstatten ging. Ökonomie und Ökologie mussten in Einklang gebracht werden. Eine Nichtbeachtung dieser Vorgaben des institutionellen Kontextes und der kulturellen Rahmung durch Bayer und Henkel hätte zu massiven Konventionalstrafen sowie zu einem Entzug von Legitimität und einem weiteren massiven Imageverlust geführt. Die Belastung der Abwässer wurde eingehender analysiert und verbessert. Immer häufiger stand zur Disposition, dass „Betriebe mit hoher Stofflast im Abwasser zurückgefahren werden können.“533 Neu entwickelte „Fischteste“ gaben den Analytikern Aufschluss über „akute Toxizität“ für die Lebewesen in den Gewässern, wobei auch immer deutlicher wurde, dass „frühere Verdünnungs-Konzentrationen bei weitem nicht ausreichten, aber aufgrund der neuen Teste nun in den Griff zu bekommen sein sollten.“534 Ebenso wurden alte Betriebe und Produktionsanlagen auf ihre Umwelttauglichkeit überprüft, d.h. die Quellen der stärksten Emittenten konnten auch dank des Emissionskatasters nun einfacher aufgespürt werden. Moderne Filter- und Ablufttechnik wurde an den betriebswirtschaftlich vertretbaren Anlagen installiert; andere wurden stillgelegt.535 Die weiterhin nicht vermeidbaren kleineren Un- und Störfalle wurden nun akribischer untersucht, nicht zuletzt, da hierüber Rechenschaft gegenüber den zuständigen Behörden abgelegt werden musste.536 Zuversichtlich konnten die Werke und Sparten von Bayer in ihren Berichten „über Maßnahmen zur Luftreinhaltung“ schon 1973 bezüglich der Immissionsschäden einen Rückgang um 40 Prozent zum Vorjahr vermelden.537 533 Dr. Weber / Werksverwaltung AWALU an Dir. Broja betreffend Belastung des Abwassers mit organischen Stoffen und Salzen vom 28. April 1972, in: BAL 388/130 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU bis 1972. Zudem wurde nun immer wieder aus „Umweltschutzgründen“ der Mengenabstoß der Schadstofffrachten gesenkt. Vgl. Vertrauliche Notiz von Weber / Werksverwaltung AWALU an Dir. Broja betreffend In den Rhein eingeleitete Stoffmengen vom 25. Juli 1973, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1973–1974. 534 Vgl. Dr. Hamburger / LE-AWALU an Dir. Dittmar betreffend Fischteste (Stand 1974) vom 04. April 1974, in: BAL 388/145 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Kommission 1970–1972 / AWALU-Forschung 1971–1974. 535 Vgl. Dr. Winkler / Werksverwaltung AWALU an Dir. Broja betreffend Amineemissionen aus dem M-Block vom 12. Juli 1972, in: BAL 388/130 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU bis 1972. 536 Vgl. Dr. Wolff / LE-AWALU, Wasserkontrolle an Werksleiter Weise betreffend Schaum auf dem Rhein / Gespräche mit der Wasserschutzpolizei vom 18. März 1974, in: BAL 388/130 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Allgemein 01.01.1974–30.06.1974. 537 LE-AWALU Berichte der Werke und Sparten über Maßnahmen zur Luftreinhaltung vom November 1973, S. 13, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1973– 1974. Im Fall Henkel hieß es Ende 1975: „Die regelmäßigen Besuche des Beamten des Gewerbeaufsichtsamtes dienten […] der Verfolgung von Beschwerden der Nachbarschaft und von Vorfällen in unserem Hause, die hierdurch erheblich (45 % zum Vorjahr) vermindert werden
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
Dies wird auch an der folgenden Graphik deutlich: Sie zeigt die Entwicklung der Emissionsverhältnisse in der BRD in ihrem Wechselspiel zur ökonomischen Entwicklung seit 1975. Es wird deutlich, dass bei einer steigenden BruttowertWirtschaftswachstum und Entwicklung der Emissionen schöpfung die Emissionen bis 1978 nur noch unterproportional anstiegen. Die Staubemissionen traten sogar bereits ab 1975 in einen negativ korrelierten Effekt über. Index 75 = 100
1975 Bruttowertschöpfung*
1978
1982
SO2-Emissionen**
1986 NOx-Emissionen**
1988 Staub-Emissionen**
*Produzierendes Gewerbe in Preisen von 1980 **Verarbeitendes Gewerbe, Bergbau, Kraft- und Fernheizwerke, Sonstige Prozesse und Umwandlungsbereiche
Abb. 9 Wirtschaftswachstum und Entwicklung der industriellen Emissionen JJMMTT_Berichtstitel_Kürzel in der BRD 1975–1988538 konnten. […] Im Abwasserbereich gaben verschiedene Störungen in den Betrieben Anlaß, auf die erhöhte Verantwortung hinzuweisen, die das Unternehmen nach Anlauf der Kläranlage Süd seit Anfang des Jahres hat. Soweit menschliches Versagen nicht ausgeschlossen werden kann, müssen auf diesem Gebiet verstärkt selbständige Einrichtungen sowie Warngeräte eingesetzt werden.“ Dr. Funk an Werksleiter Opderbecke vom 12. August 1974 betreffend Emissionen und Abwässer, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 453 Akten Opderbecke Nr. 40a-40b, hier 40a, Tageskopien Dr. Funk. 538 Wirtschaftswachstum (gemessen als Bruttowertschöpfung) und Entwicklung der Emissionen, entnommen aus: Werner Wäßle, S. 64. Die nun sehr akribischen Jahresberichte etwa der Umweltschutz-Abteilung in Leverkusen unterstützen die Beobachtung Wäßles für den Raum Leverkusen und Köln hinsichtlich der hier aufgeführten Staub-, Schwefeldioxid- sowie der Stickoxid-Emissionen. Vgl. Jahresbericht der Abteilung Umweltschutz / LE-AWALU für das Jahr 1974. Ebenfalls Jahresbericht der Abteilung Umweltschutz / LE-AWALU für das Jahr 1976. Hier heißt es zudem unter dem Punkt „Aufklärungsarbeit“: „Die Informationen für die Sparten und Zentralbereiche wurden in dem bekannten Rahmen weitergeführt. In den Sparten bestehen neuerdings Kontaktstellen für Umweltschutz und Produktfragen (Ökologie-Beauftragte). Die Möglichkeiten, Aspekte des Umweltschutzes einem größeren Personenkreis nahe zu bringen, wurde über die Bayer Werkzeitschrift, die Aktionärsberichte, ‚Bayer Intern‘, Veröffentlichungen und die Presseorgane genutzt.“ Ebd. S. 7. Beide Jahresberichte finden sich in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1974–1977. Bereits ein von der Stadt Leverkusen in Auftrag gegebenes unabhängiges Immissionsgutachten des TÜV Reinland bestätigte, dass sich die meisten Verhältnisse gebessert hatten; es kam zu dem Schluss „daß im Stadtmitte-Bereich die geforderten Grenzen der Konzentrationen für Gefährdung und die Zeitgrenze eingehalten sind, daß hier jedoch die Grenzkonzentrationen für
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3.2 Verkehrte Verhältnisse
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Der Vorzug ökologischer Überlegungen und Maßnahmen gegenüber ökonomischen Gesichtspunkten darf daher ebenfalls als eine kulturrationale Handlung unternehmerischer Aktivität gelten, die nur möglich wurde, weil die hier dargestellten innerbetrieblichen Maßnahmen allmählich zu einem neuen ‚proper way of behave‘ wurden. Klagen der Unternehmen blieben natürlich weiterhin nicht gänzlich aus. Doch wussten sie nun einerseits – wie wenige Jahre zuvor noch die Menschen in der Werksumwelt – um die Sinnlosigkeit der Klage. Andererseits war durch flexiblere Organisationsstrukturen eine Anpassung an die Forderungen besser möglich geworden. Die Mitte der 1970er Jahre markiert damit den Beginn eines neuen Pfads unternehmerischen Umweltrisikohandelns und einer neuen unternehmerischen Risikokultur, der bis heute beschritten wird und einzig durch veränderte formale wie informelle Institutionen sowie transformierte Sinndeutungen der bundesdeutschen Gesellschaft gefordert wurde. Dies wird weiterhin anhand der folgenden Graphiken untermauert, die die Verschmutzung des Rheins gemessen an seinem Sauerstoffbedarf (CSB) darstellen bzw. seinen Sauerstoffgehalt im Jahresmittel ausweisen. Die linke Graphik belegt, dass – wie bei den Emissionen – auch hier die von der chemischen Industrie ausgehenden Belastungen stark rückläufig waren. Aus der rechten Abbildung werden die starken Verschmutzungen seit den 1950er Jahren ersichtlich, sie erreichten ihren Höhepunkt 1971; in diesem Jahr war der Rheinstrom sicherlich todgeweiht: Nicht einmal die Hälfte seiner normalen SauerstoffSättigung war mehr vorhanden gewesen, und er war damit mehr eine „Kloake als ein Fluss“.539 Von dort an besserten sich die Verhältnisse langsam, aber stetig. Es ist erstaunlich zu sehen, dass diese Verbesserungen fast kongruent mit der Etablierung der neuen Sinndeutung einer schützenswerten natürlichen und lebensweltlichen Umwelt verliefen. Sie gingen ebenfalls einher mit einer zunehmenden Protest- und Partizipationsbereitschaft der bundesdeutschen Gesellschaft nach 1969 sowie mit einer industriekritischen Grundhaltung. Den zunächst auf strategischer Ebene angesiedelten Maßnahmen in Richtung eines neuartigen Umweltmanagements folgten auf den niedrigeren Hierarchieebenen Steuerungsmaßnahmen zum Schutz der naBelästigungen durch Amine und Merkaptane häufiger überschritten werden, als die für zulässig angesehen werden.“ Vgl. Immissionsgutachten Nr. 936/202 083 im Auftrag der Stadt Leverkusen des Technischen Überwachungsverein Rheinland e.V. vom 29. Juni 1973, S. 39, in: BAL 388/179 Werksverwaltung Leverkusen, Stadt Leverkusen 1973/74. Und über die Konzentration von organischen und anorganischen Gasen und Dämpfen konnte 1973 bereits gemeldet werden: „Somit halten sich die errechneten Konzentrationen und deren Häufigkeit des Auftretens innerhalb der vom Regierungspräsidenten vorgegebenen Grenzen […].“ Vgl. Ebd. S. 33. Bezüglich der Rheinverschmutzung muss auf mehrer (internationale) Erweiterungen im formalen Gewässerschutz seit 1976 hingewiesen werden. Diese bildeten weitere (finanzielle) Anreize für die chemische Industrie, weitere Gewässerverschmutzungen zu vermeiden. Explizit trat die vierte Novelle des Wasserhaushaltsgesetzes, das endgültige Abwasserabgabengesetz, verschiedene EG-Gewässerschutzrichtlinien sowie das Rhein- und Chloridabkommen in Kraft. Vgl. Jahresbericht der Abteilung Umweltschutz / LE-AWALU für das Jahr 1976, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1974–1977. 539 Vgl. Beate Kretteck: Der Rhein – Kloake, Giftkanal oder Ökosystem. Dokumentation zur ökologischen Entwicklung, in: Hans Boldt (Hg.): Der Rhein. Mythos und Realität eines europäischen Stromes, Köln 1988, S. 131–139, hier S. 136.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
türlichen und lebensweltlichen Umwelt durch die chemische Produktion. Mit einer Sauerstoffgehalt Verzögerung von Rhein ungefähr vier Jahren hatten diese Maßnahmen für zeitgenössische Verhältnisse bereits Erfolg. Jahresmittel, deutsch-niederländische Grenze
Chemischer Sauerstoff (CSB) In Tonnen pro Tag
O2 mg/1
optimale Sättigung des Rheins
= Anteil der chemischen Industrie an der Belastung
1970
1975
1980
Sauerstoffgehalt des Rheins
1985 1987
Abb. 10: Belastung des Rheins (CSB)540
1960
1965
1970
1975
1980
Abb. 11: Sauerstoffgehalt des Rheins541
1985
JJMMTT_Berichtstitel_Kürzel
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Ich habe in diesem Kapitel einen rapiden außer-unternehmerischen institutionellen Wandel des formalen Immissions- und Gewässerschutzes gezeigt. Dieser war eine notwendige Begleiterscheinung der neuen Wirklichkeitskonstruktion innerhalb der bundesdeutschen Gesellschaft, die gravierende Umweltverschmutzungen nicht mehr wie früher hinnahm. Die (chemische) Industrie wurde aus diesem Grunde unter Dauerbeschuss genommen; ihre Art und Weise, unter Risiko zu produzieren und zu wirtschaften, war nicht mehr tragbar. Sie hatte an Macht, Ansehen und Legitimation verloren. In der Folge mussten Aushandlungsprozesse zwischen der chemischen Industrie, dem institutionellen Kontext wie der kulturellen Rahmung stattfinden, wobei wir eigentlich ein absolut diametrales Verhältnis erkennen: Wenige Jahre zuvor hatte die chemische Industrie Menschen in der Werksumwelt sowie die Gesetzgebung dirigiert. Ohne einen nennenswerten Übergang verkehrten sich diese Verhältnisse ins Gegenteil. Die chemische Industrie musste innerhalb nicht einmal eines Jahrzehnts versuchen, diese neue Wirklichkeitskonstruktion in ihren betrieblichen Alltag zu integrieren. Dies werde ich abschließend anhand meiner konzeptionellen Überlegungen in das Modell eines Unternehmens als offenes System und seiner Aktivitäten integrieren.
540 Belastung des Rheins mit organischen Substanzen, entnommen aus: Werner Wäßle, S. 56. 541 Sauerstoffgehalt Rhein, Jahresmittel deutsch-niederländische Grenze, entnommen aus: Werner Wäßle, S. 52.
3.2 Verkehrte Verhältnisse
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3.2.4 Zusammenfassung: Die Unternehmen zwischen Sinnsuche und Überzeugung der Richtigkeit ihres veränderten Risikohandelns Betrachtet man die gesellschaftlichen Erwartungen im Sinne der Dimensionenanalyse von Scott, so darf von einem sehr raschen institutionellen Wandel innerhalb der hier betrachteten sechs bis sieben Jahre ausgegangen werden. Die regulativen bzw. formalen Instrumentarien des Gewässer- und Immissionsschutzes erfuhren entweder drastische Erweiterungen mit erheblichen Folgen für die chemische Industrie, oder sie wurden in ein neues Kleid gehüllt, das ebenfalls den Ermessensspielraum der chemischen Industrie hinsichtlich des Umgang mit produktionsinduzierten Risiken stark einschränkte. Durch neue oder rigider angewendete gesetzliche Regelungen – etwa das Bundesimmissionsschutzgesetz in der Folge der Emissionskatastrierung oder verschiedene Abwassergesetze – wurden für die Unternehmen Anreize gesetzt, die kontrollierbar waren und nun auch kontrolliert wurden. Bei Nichtbeachtung drohten Bayer und Henkel empfindliche Sanktionen, die dem Verursacher- bzw. Vorsorgeprinzip des Umweltschutzprogramms der sozial-liberalen Koalition zufolge in einem Kosten-Nutzen-Kalkül der Unternehmen beachtet werden mussten. Mit den regulativen Elementen wurden normative Dimensionen von Institutionen anerkannt und transportiert: Als wünschenswert und angebracht galt nun nicht mehr in erster Linie die Steigerung ökonomischer Wohlfahrt unter Missachtung der Risiken für die natürliche und lebensweltliche Umwelt der Unternehmen. Durch das rasch gestiegene Umweltbewusstsein der bundesdeutschen Gesellschaft in seinem Zusammenspiel mit einem technikkritischen Umweltschutz und unternehmenskritischen Strömungen stand nicht mehr Fortschrittsglaube, sondern eine erhöhte Gefahrenzuschreibung gegenüber den Unternehmen im Mittelpunkt dessen, was für die Menschen wünschenswert und angebracht war. Damit hatten die Unternehmen ihre Ziele und ihr Auftreten zu überdenken und neu zu gestalten. Wir beobachten seit den frühen 1970er Jahren bei Bayer und Henkel einen Prozess, in dem zunächst auf den obersten Hierarchieebenen Normen beachtet und Werte entwickelt werden mussten. Dies geschah nicht aufgrund eines Kosten-Nutzen-Kalküls, das unmittelbar im Interesse der beiden Unternehmen lag oder aufgrund von Verträgen und Gesetzen durchsetzbar gewesen wäre, sondern weil die Befolgung von außen erwartet bzw. als angemessen betrachtet wurde. Die kulturell-kognitive (De-)Institutionalisierung im Gewässer- und Immissionsschutz brachte eine veränderte Wahrnehmung der Wirklichkeit der bundesdeutschen Gesellschaft. Die Unternehmen wussten sehr schnell, dass sie vor diesem Paradigmenwechsel hin zur Vorstellung einer schützenswerten Umwelt nicht die Augen verschließen konnten. Sie mussten allmählich ihr Selbstverständnis und die damit einhergehenden alten Argumentationsmuster, ihre Naivität und auch eine gewisse Arroganz ablegen. Sehr deutlich wurde die Wirkungsmacht der kulturellen Rahmung der Unternehmen in der Folge der Gymnicher Gespräche: Obwohl die Bundesregierung eine weitere Verschärfung der formalen Umweltschutzgesetzgebung ausschloss bzw. den Unternehmen eine Ausgewogenheit ökologischer und ökonomischer Gesichtspunkte in Aussicht stellte, verfielen Bayer und Henkel nicht in alte Handlungsmus-
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ter und Argumentationen zurück. Der Grund dafür kann nur in der Wahrnehmung und Erkenntnis der kulturellen Forderungen der bundesdeutschen Gesellschaft liegen sowie in dem Wissen, bei ihrer Nichtbeachtung herbe Reputations-, Image- und Legitimitätsverluste zu erleiden. Der weitere Ausbau neuer Umwelttechnologien und eines Umweltbewusstseins auf allen Hierarchiestufen der Unternehmen stellte aus dieser Warte betrachtet dann eine kulturrationale Handlung unternehmerischer Aktivität dar. Das organisationale Feld drängte nun auf Verhandlungen darüber, wie die Unternehmen ihre Produktion zu gestalten hatten, um die natürliche und lebensweltliche Umwelt zu schützen. Auch expandierte das Feld innerhalb einer sehr kurzen Zeit zu einem Konglomerat, das völlig neue Logiken hinsichtlich des Umweltschutzes hervorbrachte. Die damit korrespondierenden und hervorgebrachten Erwartungen wurden in einem Tempo verhandelt und verändert, wie es von den Unternehmen nicht vorhergesehen worden war. Aus dieser Perspektive betrachtet operierten Bayer und Henkel seit dem Ende der 1960er Jahre in einem gemeinsamen Sinnsystem, das sie zunächst nicht nachvollziehen konnten, jedoch erstaunlich schnell in ihre Managementpraktiken einbrachten. Dies geschah zu Beginn freilich nur widerwillig, doch gab es letztlich aufgrund des neuen Sinnsystems des Feldes keine Alternativen. Bis ans Ende des ersten Drittels der 1970er Jahre stieß ich in den Quellen auf einigen Widerwillen und nachhaltiges Unverständnis auf Seiten der Unternehmen. Jedoch konnte ich zeigen, dass Bayer und Henkel trotzdem nach den Vorgaben des institutionellen Kontextes und der kulturellen Rahmung handelten. Ich habe die Gründe hierfür an der raueren Gangart der zuständigen Behörden wie die zunehmend starken Proteste der kulturellen Akteure gegenüber den Chemieunternehmen benannt. Die Unternehmen wurden durch eine neue Massenmedialisierung kriminalisiert und angefeindet, sie hatten ihre ökonomische Machtstellung ebenso wie ihre Deutungshoheit über Gefahrenpotenziale ihrer chemischen Produktionen verloren. Ihnen wurde kein Gehör mehr geschenkt. Sie galten aufgrund der veränderten Gefahrenzuschreibungen nun nicht mehr als Heilsbringer aus der Not der Mangelgesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg; sie galten als Unheilsbringer für die natürliche und lebensweltliche Umwelt, sogar als potenzieller Todbringer im Sinne von Katastrophen, die von ihnen ausgehen konnten. Dass das Feld Bayer und Henkel diese Rolle zuwies, löste bei den Unternehmen eine Sinnsuche aus. Dies habe ich anhand der anfänglichen und immer wiederkehrenden Versuche von Widerstand und anhand des Unglaubens der Unternehmensverantwortlichen über die sich rasch gegen sie gewandten, kulturellen Rahmenbedingungen gezeigt. Die Verhältnisse innerhalb des Feldes hatten sich schnell verändert: Sahen sich die Unternehmen noch im letzten Drittel der 1960er Jahre als gebietsbeherrschend und meinungsbildend, mussten sich die Menschen in der Werksumwelt zu dieser Zeit noch an die problematischen Umweltverhältnisse und an eine verminderte Lebensqualität anpassen, so traten nun die Unternehmen als Bittsteller gegenüber Behörden und Gesellschaft auf: Gegenüber der Nachbarschaft galt es, weitere Anfeindungen und Bürgerinitiativen zu vermeiden; gegenüber den Behörden als Vertreter des institutionellen Kontexts mussten Bayer und Henkel sich für ihre eigene Risikoproduktion entschuldigen, um Genehmigungen zu erhalten und nicht ständigen Kontrollen und
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Repressalien ausgesetzt zu sein. In beiden Fällen musste dies so geschehen, um weitere Kosten zu vermeiden; Fehler der Vergangenheit mussten eingestanden werden und es musste damit begonnen werden, diese Fehler allmählich auszumerzen. Die alten Handlungs- und Verhaltensmuster hatten binnen weniger Jahre zu einer Desintegration der Unternehmen als sozialem Feldakteur geführt. Alte, patriarchale oder paternalistische Ordnungsmuster konnten nicht mehr aufrechterhalten werden. Das Vertrauen in die Richtigkeit des unternehmerischen Risikohandelns war erschüttert, und ich habe den Anfang dieses Vertrauensverlustes und die ersten verzweifelten Versuche, das Vertrauen wieder herzustellen, dargestellt. Die Chiffre Vertrauen kann aus den konzeptionellen Grundüberlegungen dieser Arbeit heraus als notwendige Legitimität unternehmerischer Aktivität beschrieben werden. Diese Legitimität der chemischen Risikoproduktion ging Bayer und Henkel spätestens mit dem Umweltschutzprogramm der Bundesregierung Anfang der 1970er Jahre verloren. In der Tat wurde aus meiner Sicht für kurze Zeit – etwa bis 1971 – versucht, lediglich oberflächlich eine Übereinstimmung mit den institutionellen und kulturellen Anforderungen herbeizuführen. Dieses neoinstitutionalistisches Konzept der Entkopplung ließ sich daran zeigen, dass Bayer und Henkel nun auf die seit langer Zeit vorhandenen Maßnahmen zum Schutz von Wasser und Luft hinwiesen und gleichzeitig im Inneren über die neuartigen Umweltschutzströmungen geklagt wurde. Doch erkannten die Unternehmen schnell, dass diese wenigen und nun auch zeitgenössisch unglaubwürdig wirkenden Maßnahmen nicht genügten, um die Gemüter zu besänftigen, zumal sie ja niemals wirklich auf den Umweltschutz ausgerichtet gewesen waren, wie er nun auf einmal gefordert wurde. Um es noch einmal im Sinne des Entkopplungs-Konzeptes auf den Punkt zu bringen: Die neu aufgestellten Feldakteure ließen sich nicht mehr an der Nase herumführen. Bayer und Henkel mussten nun die viele Jahre totgeschwiegenen Gefahren für die natürliche und lebensweltliche Umwelt thematisieren und ihre Lösungsansätze auch nach außen offen kommunizieren. Es kam zu einem Wandel von Managementkonzepten und Strukturelementen zu Beginn der 1970er Jahre, welche nun Risiken der Produktion für die Werksumwelt mitdachten und diese effizient zu gestalten hatten. Am Deutlichsten wurde dies in den neuen Fokalorganisationen und – viel wichtiger – den neuen Befugnissen dieser Umweltschutzstellen gegenüber dem operativen Geschäft. Die Unternehmen begannen ihr institutionelles Gefüge umzustellen und verordneten sich eine Eigenkontrolle. Es wäre jedoch verfehlt, für die Zeit seit Mitte der 1970er Jahre weiterhin von Entkopplung zu sprechen. Auf den obersten Hierarchieebenen hatte sich vielmehr ein Glaubenssystem der Richtigkeit des Umweltschutzes herausgeschält, und es wurde damit begonnen, hieraus Profit zu schlagen. Spätestens hier waren ökologische Aspekte mit einer Sicherheitskultur in Verbindung gebracht, die auch für die Werksumwelt galt. Zudem versuchten Bayer und Henkel ab 1974 ihre Mitarbeiter für den Umweltschutz zu verpflichten und damit den Glauben an dessen Richtigkeit zu verankern. Dies war sicherlich an visionäre Persönlichkeiten gekoppelt; auf Henkel’scher Seite sehe ich diese Pioniere in Konrad Henkel und Friedrich Bohmert, bei Bayer dürfen hier German Broja und der langjährige Werksleiter von Leverkusen, Eberhard Weise, als solche gelten. Das Topmanagement um diese Personen erkannte den drohen-
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
den Legitimitätsverlust. Waren die rauchenden Schornsteine wenige Jahre zuvor noch gut und richtig gewesen, galten sie nun als Gefahrenherd; ein weiterer Aspekt, der die anfängliche Sinnsuche der Unternehmen beschreibt. Jedoch beinhaltete die Einsicht in die Unrichtigkeit der rauchenden Schlote mitsamt den getroffenen Gegenmaßnahmen, ihren langsamen Umsetzungsversuchen und deren Wirkung auch, dass es sich nicht nur um Täuschung des Feldes, sondern um die allmähliche Einsicht in die Richtigkeit eines unternehmerischen Umweltschutzes handelte. Bayer und Henkel hatten erkannt, dass sie ihre neue Rolle des Unheilbringers und Zerstörers der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt schnell wieder ablegen mussten. Umweltschutz musste innerbetrieblich zur Überzeugung werden, um den veränderten Gefahrenzuschreibungen gerecht zu werden und so neue Legitimation für die eigene, veränderte Risikoproduktion zugesprochen zu bekommen. Dabei spielte es in dieser Arbeit nur eine sekundäre Rolle, wie schnell sich die problematischen Umweltverhältnisse tatsächlich verbesserten; für zeitgenössische Verhältnisse verbesserten sie sich aber erheblich. Insgesamt war also die Berücksichtigung des Umweltschutzes durch die Unternehmen nicht allein eine Entscheidung aufgrund von normativem Druck. Die Anfänge nachhaltiger Produktion und von Konzepten der Verantwortung gegenüber der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt stellten eine kulturrationale und strategische Sinnhandlung dar, die dem veränderten Verhältnis Mensch-Umwelt-Unternehmen entsprang. Kontextualisiert und reflektiert könnte man die Entscheidungen der Unternehmen wie folgt beschreiben: Etwa seit Ende 1968 wurden Bayer und Henkel in eine defensive Position gedrängt. Aus der Beschreibung verschiedener, unternehmensseitiger Strategien und Taktiken könnte man vor dem Hintergrund der Überlegungen Christine Olivers dazu verleitet sein, hier von Manipulation zu sprechen: Es wurde weiterhin versucht, Behörden und Nachbarschaft einzubinden und institutionelle Akteure zu beherrschen. Allerdings erwiesen sich die Versuche, alte Stärken gegenüber dem institutionellen Kontext und der kulturellen Rahmung auszuspielen, innerhalb kurzer Zeit als vergeblich. Beeinflussungen und Steuerungen der Meinungsbildung und des Gutwillens der Behörden und der Nachbarschaft waren keine adäquaten Taktiken mehr, um Akzeptanz und Legitimität im Umgang mit produktionsinduzierten Risiken zu erhalten. Aus meiner Sicht müssen wir daher – wieder im Sinne Olivers – von Erduldung sprechen: Die Unternehmen hatten sich an die Machtumkehr, die staatlichen Eingriffe in ihr Wissen und ihr Eigentum sowie an die Proteste ihnen gegenüber zu gewöhnen. Die neuen normativen Vorstellungen des Umweltschutzes mussten – mit kurzer Verzögerung, aber spätestens mit dem Umweltschutzprogramm der Bundesregierung – befolgt werden. Kurz: Die Unternehmen mussten sich Verteidigungsstrategien zurechtlegen. Diese Zeit – Ende 1971, Anfang 1972 – war aber auch noch geprägt von einer flankierenden Strategie des Trotzes: Ich konnte zahlreiche Äußerungen innerhalb der Unternehmen anführen, die in diesen normativen Vorstellungen explizit keinen Sinn sahen und weiterhin gegen Regeln und Anforderungen ankämpften. Dies war bei Bayer stärker der Fall als bei Henkel. Der Grund liegt in der Tradition des Familienunternehmens Henkel und seinen besseren Verhältnissen zur Stadt Düsseldorf sowie dem direkten Kundenkontakt aufgrund seines Produktport-
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folios als Konsumgüterhersteller. Aber auch bei Bayer wurde alsbald die Chancenlosigkeit der alten Chemie-Lobby offenbar. Neue Umweltschützer wurden in den Unternehmen installiert, die auf Kompromiss und Vermeidung setzten. Es wurde versucht, die Erwartungen der Feldakteure zu besänftigen, und es gab neue Verhandlungen. In Verhandlungen mit den Behörden wurde ersichtlich, dass die alte Rückendeckung von Seiten der Gewerbeaufsichtsämter nicht mehr vorhanden war und ein neuer Kompromiss zur legitimen Risikoproduktion nur in der Befolgung der Auflagen und einem Einlenken der Unternehmen gefunden werden konnte. Durch eine Öffnung der Werksgrenzen traten die Unternehmen auch in Verhandlungen mit der Nachbarschaft, oder allgemeiner: mit der öffentlichen Meinung. Dies habe ich anhand der massiv auf den Umweltschutz und seine Probleme eingehenden, externen Unternehmenskommunikation gezeigt. Hier wurde versucht, schrittweise eine Konformität der innerbetrieblichen Überzeugungen mit jenen im Äußern operationalisierten Sinnmustern als glaubhaft darzustellen. Im Innern der Unternehmen finden sich bis zum Ende der hier betrachteten Zeitperiode nur noch wenige Anhaltspunkte für Versuche, Nichtkonformitäten bewusst zu verstecken. Die Unternehmen hatten verstanden, dass Probleme offen angesprochen werden mussten und bis Juli 1976 erste Schritte unternommen, um in ihre Ziele bzw. als ihr neu zu interpretierendes Ziel eine nachhaltige und umweltschonende Produktionen zu implementieren. Dahinter stand die Strategie, das von allen Seiten auf die Unternehmen treffende Kreuzfeuer abzupuffern. Das kontextgebundene Handlungsmodell des Unternehmens kann also für die Einführung eines Umweltmanagements und dessen Durchsetzung nach unten durchaus eine effiziente oder rationale ökonomische Erklärung abgeben, indem es diese als maßgeblich von kulturellen Einflüssen bestimmt begreift. Nicht nur in der allmählichen Entdeckung von rohstoffsparenden Produktionsprozessen oder der Entwicklung und allmählichen Vermarktung von Umwelttechnologien sind diese betriebswirtschaftlich-ökonomischen Aspekte zu erkennen. Sie sind zuallererst dort zu suchen, wo die Opportunitäts- oder Transaktionskosten im Sinne von Image- und Legitimitätsverlusten ebenso wie in Form von drohenden Konventionalstrafen bei Nichteinhaltung erheblichen Schaden verursacht hätten. Die zeitgenössische (gesellschaftliche) Wirklichkeitskonstruktion aus der Mischung von ökologischen und ökonomischen Deutungsmustern trieb die kulturellen Akteure Bayer und Henkel in ein neues Sinnsystem oder eine Subsinnwelt, die die Herausforderung gesellschaftlich zu verhandelnder Lösungen anzunehmen hatte. Die rapide Dynamisierung des formalen und informellen Umweltschutzes bzw. des Umweltbewusstseins brachten die Unternehmen in die Lage, sich in einem spannungsgeladenen Feld neu erfinden bzw. neue Ansichten, Handlungen und Argumentationen finden zu müssen, kurz: ihre unternehmerische Aktivität in Bezug auf das Thema Umweltschutz vorantreiben zu müssen. Bayer und Henkel wurden in eine nie gekannte defensive Haltung gedrängt. Ihre tradierte Produktionsweise war nicht mehr zeitgemäß, und noch viel mehr: sie war nicht mehr erwünscht. Chemische Produktion war nun eine (Hoch-)Risikotechnologie. Sie durfte nicht mehr wie gewohnt schädliche Einwirkungen auf die Umwelt haben. In Lösungsverhandlungen wurde die zuvor noch als führend aner-
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
kannte Expertenmeinung der Unternehmen nicht mehr einbezogen. Sie verloren ihre Deutungshoheit darüber, was risikoreich und gefährlich war, und sie verloren damit auch die exklusiven Eigentumsrechte ihres Wissens über die eigene Risikoproduktion. Ihre ehemalige Planungs-, Steuerungs- und Machbarkeitseuphorie sowie die zugehörige Art des Wirtschaftens musste aufgegeben werden, was einzig auf veränderte außer-unternehmerische Erwartungen zurückzuführen war und die Unternehmen zunächst bis ins Mark erschütterte. Nachdem die Erkenntnis durchgedrungen war, dass es sich bei den Forderungen nach Umweltschutz nicht mehr nur um eine Modeerscheinung handelte, entstand, wie ich zeigten konnte, eine Bereitschaft zur Problemerkennung und -vermeidung. Aus den Risikodiskursen im Äußeren hatten sich die Thematisierung und das Bewusstwerden von Risiken und deren Vermeidung im Inneren herauskristallisiert. Die bundesdeutsche Gesellschaft war bereit, zugunsten des Umweltschutzes Opfer zu bringen; dies konnte ich durch die Analyse von Meinungsumfragen nachzeichnen. Opfer wurden nun jedoch auch von den Unternehmen erwartet, und zwar dergestalt, dass sie ihre alte Bevormundungsattitüde, ihr Drängen auf Anpassung an die Verhältnisse und damit einen Mehraufwand für den Schutz der Umwelt aufgaben. Nicht mehr die Werksumwelt war ökonomisch von den Werken abhängig, sondern die Unternehmen waren abhängig vom Vertrauen der Gesellschaft; damit hatte eine Machtverschiebung stattgefunden. Als Fazit bleibt im Betrachtungszeitraum vom Ende der 1960er Jahre bis zum Dioxinunglück von Seveso, dessen Folgen als erstes großes Chemie-Unglück in Kontinentaleuropa auch für die deutsche chemische Industrie eine Zäsur bedeuten sollte, festzustellen: Aus der Perspektive einer unternehmensgeschichtlichen Arbeit im kulturellen Paradigma, das um die Umwelt im Sinne von Erwartungen und Sinndeutungen erweitert ist, wird deutlich, dass in den untersuchten Unternehmen auf strategischer, organisatorischer und operativer Ebenen Maßnahmen für den Umweltschutz getroffen wurden, die weder von großen Unternehmensführen, noch allgemein vom Innern der Unternehmen her aus irgendwelcher Effizienzgründen angeleitet wurden. Im Gegenteil konnte dieses Kapitel den Beweis führen, dass – einer Mainstreamökonomik zum Trotz – zunächst sehr ineffizient und unfreiwillig gewirtschaftet werden musste, um den Anschluss als gesellschaftlicher Akteur nicht zu verlieren. Erst im Anschluss daran und nach der Annahme der neuen Rolle als Gefahrenherd und Feind der Umweltschutzbewegung sowie des formalen Immissions- und Gewässerschutzes wurden dann auf der technischen Seite neue Verfahren und Technologien implementiert. Um dies jedoch vor der eigenen, neuen Wirklichkeitskonstruktion rechtfertigen zu können, musste auch ein neuer Pfad unternehmerischer Aktivität und nachhaltigem, der Umwelt verantwortlichem Wirtschaften eingeschlagen werden. Aus den vielen dargestellten Aushandlungsprozessen zwischen Innen und Außen sowie im reinen Innenverhältnis konnte ich zeigen, dass Mitte der 1970er Jahre der Weg in eine Transaktionskosten minimierende Sicherheitskultur eingeschlagen wurde, dem die Modifikation des inner-unternehmerischem institutionellen Arrangements notwendigerweise zugrunde liegen musste. Bayer und Henkel mussten sich seit Ende der 1960er Jahre auf eine existenzielle Sinnsuche begeben; ihre Art zu wirtschaften und unter Risiko zu produzieren
3.3 Der Schreck sitzt tief
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und damit ihre Existenz zu sichern, war nicht mehr erwünscht und wurde auch nicht mehr toleriert. Neu implementierte strategische Konzepte und operative Maßnahmen wie etwa moderne Nachhaltigkeitskonzepte, die Erschließung neuer Märkte usw. sind im Rückgriff auf externe Zuschreibungen zu erklären und hielten einer inneren wirtschaftlichen Prüfung stand. Dies werde ich im letzten Kapitel der Arbeit unter veränderten Vorzeichen weiter darstellen. Bis zum 10. Juli 1976 fehlte der öffentlichen Anklage nämlich der Beweis, dass die chemische Risikoproduktion in Zentraleuropa tatsächlich katastrophale Folgen durch Un- und Störfälle haben konnte. Obwohl die Unternehmen bis zu diesem Zeitpunkt damit begonnen hatten, ein Sicherheitsmanagement für die natürliche und lebensweltliche Umwelt zu installieren, gerieten sie nach den Ereignissen von Seveso noch weiter in einen Strudel der Anfeindung und des Generalverdachts. Ich werde nun zunächst die Ereignisse von Seveso und die über ein Jahrzehnt andauernde Krise für den Mutterkonzern Hofmann-La Roche darstellen. Mein Fokus wird jedoch in der Bundesrepublik bleiben, und ich werde nach den Auswirkungen dieses Störfalls für Bayer und Henkel bis in die 1980er Jahre hinein fragen. 3.3 DER SCHRECK SITZT TIEF: RISIKOVERHALTEN AUSGERICHTET AN DER AKZEPTANZ DER UNBEHERRSCHBARKEIT CHEMISCHER PROZESSE NACH DER SEVESO-ZÄSUR: JULI 1976 BIS MITTE DER 1980ER JAHRE 3.3.1 Das Dioxinunglück von Seveso und die Krise bei Roche542 Das Unglück von Seveso bedeutete eine Zäsur in der Geschichte der chemischen Störfälle. Am 10. Juli 1976 ereignete sich im Chemiebetrieb ICMESA, einer Tochtergesellschaft der zum schweizerischen Hoffmann-La Roche-Konzern gehörenden Givaudan, das bis dahin größte und in seinen Nachwirkungen folgenreichste Chemieunglück in Europa. Ursächlich für die Katastrophe war ein defektes Ventil, in dessen Folge eine Aerosol-Wolke543 austrat und ein weites Gebiet mit giftigem Dioxin kontaminierte. Betroffen waren die Gemeinden Seveso, Cesano Maderno, 542 Mir liegen detaillierte Unterlagen zu Ursachen des Störfalls, seinem Verlauf und der nachfolgenden Krise des Unternehmens vor. Eine systematische Analyse der weiteren Unternehmensstruktur und der nachhaltig veränderten Handlungslogiken, die sich infolge des Störfalls bei Hoffmann-La Roche einstellten, müssen weitere Untersuchungen leisten. Solche Forschungen sind aufgrund der guten Quellenlage im Historischen Archiv der Firma Hoffmann-La Roche aus organisationswissenschaftlicher und unternehmenshistorischer Sicht erstrebenswert. Hier habe ich mich auf die deskriptive Darstellung der Ereignisse konzentriert, da mein Focus auf dem Verhalten von Bayer und Henkel liegt. „Seveso“ muss jedoch an dieser Stelle den Platz erhalten, da sonst die im Weiteren eingeschlagenen Strategien von Bayer und Henkel nicht zu verstehen sind. 543 Das ausgetretene Gemisch bestand aus Trichlorphenol, Aethylenglykol, Natriumhydroxid und geringen Mengen von Dioxid.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
Desio und Meda.544 Die Auswirkungen des Unglücks traten wenig später zutage: Hautentzündungen bei Menschen – die so genannten Chlor-Akne – und verendete Tiere waren nur die offensichtlichsten. Bis heute geht man von ca. 3.300 Spätfolgegeschädigten aus.545 Das Werk der ICMESA wurde eine Woche nach dem Unglück geschlossen. Im Jahr 1977 begann die Entseuchung des Gebiets und eine erste Rückführung evakuierter Personen in ihre Heimat.546 Obwohl das Unglück der Unternehmensleitung in Basel unmittelbar nach Bekanntwerden mitgeteilt wurde, erfolgten zunächst nur wenige Reaktionen; die Basler Konzernspitze musste sich zunächst über das Beziehungsgeflecht zur ICMESA im Klaren werden. Erst nachdem die Folgen nicht mehr zu bestreiten und eben die Beziehungen zur ICMESA deutlich geworden waren, informierte das Unternehmen die Öffentlichkeit. Ob es in Seveso zu Toten kam, die kausal mit dem Störfall zusammenhingen, konnte nie eindeutig geklärt werden; fest steht, dass bis 1977 kein solcher Fall dokumentiert war.547 Im Folgenden sollen die Ereignisse in ihrer Abfolge skizziert werden. Gleichzeitig wird dabei auf die Informationspolitik des Mutterkonzerns Hoffmann-La Roche fokussiert, da diese wesentlich dafür verantwortlich war, dass sich Seveso zu einem Störfall mit weitreichenden Auswirkungen entwickeln konnte. Bei der Firma ICMESA war von 1968/70 bis 1976 in großem Umfang Trichlorphenol (TCP) hergestellt worden.548 Seit dem Jahr 1969 war die betreffende Anlage im Besitz der Givaudan-Gruppe und in mehreren Schritten einer Totalerneuerung unterzogen worden. Trichlorphenol diente in seinem Grundzustand als Bakterizid und Fungizid; es fand in verschiedene Wirtschaftsbereiche Eingang.549 Gewonnen wurde es über die Hydrolyse von Tetrachlorbenzol mit Natriumhydroxid550 wobei als unbeabsichtigte Nebenfolge Tetrachlordibenzo-p-Dioxin, kurz TCDD, entstand, das sich als hochgradig toxisch erwies.551 Das heißt: Bei dem chemischen Verfahren entstand auch giftiges Dioxin, was erhöhte Sicherheitsstandards nötig gemacht hätte. 544 Vgl. Seveso. Zehn Jahre danach, Roche Magazin 27 vom Mai 1986, in: HAR Bu.0.2-200869. 545 Exemplarisch aus der teils investigativen Retrospektive: Fakten und Hintergrundmaterialien zu „neuen“ Vorwürfen im Fall Seveso anhand der Analyse WDR-Reportage „Das Geheimnis von Seveso“ vom 15. Oktober 1993, in: HAR TI 8.8.1-102847. 546 Vgl. F. Hoffmann-La Roche AG (Hg.): Seveso – 20 Jahre danach, Basel 1996, S. 13, in: HAR BU.0.2-200874. 547 Vgl. Schreiben von Dr. Reggiani an Dr. Jann et al. betreffend der Ergebnisse der TCDD-Analyse bei der verstorbenen Großmutter Senno vom 09. Juli 1977, in: HAR TI.8.8.1-101570a. Vgl. weiter Schreiben von Dr. Weiss an Dr. Baumgartner et. al. betreffend der neuen epidemiologischen Daten von Prof. Bertazzi zum Seveso-Unglück vom 21. April 1995, in: HAR PO.2.1.1-104150. Vgl. weiter Firma Hoffmann-La Roche AG (Hrsg.), Seveso – 20 Jahre danach, Basel 1996, S. 4, in: HAR BU.0.2-200874. 548 Vgl. Zeitlicher Ablauf des Unfalls von Seveso und der Aufarbeitung der Unfallfolgen vom 29. November 1993, in: HAR TI.8.8.1-103158. 549 Vgl. Seveso. Information und Dokumentation. Zusammengestellt im Auftrag von Givaudan von Hill and Knowlton International April 1983, S. 5 in: HAR TI.8.8.1-100555. 550 Vgl. ebd. 551 Vgl. ebd. S. 6.
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Am Tag vor dem Unglück wurde der TCP-Produktionszyklus wie gewohnt in Gang gesetzt. Sechseinhalb Stunden später, am Morgen des 10. Juli 1976, brach die Scheibe des Sicherheitsventils in der Produktionsanlage, und es kam zu einer Explosion.552 Eine in ihrer Höhe bis heute nicht genau bezifferbare Menge giftigen Dioxins gelangte in die Atmosphäre.553 Zum unmittelbar am stärksten betroffenen Gebiet zählten rund 108 Hektar, weitere 1.600 Hektar waren minder schwer betroffen.554 Vegetationsproben bewiesen, dass giftiges Dioxin ausgetreten war. Obwohl dies dem Unternehmen bereits einen Tag nach dem Geschehen bekannt war, wurden die Öffentlichkeit und die Behörden unmittelbar nach dem Unglück nicht informiert. Die ersten Tage zeigten, dass der Basler Mutterkonzern nicht auf einen solchen Vorgang vorbereitet war, was zu einer chaotischen Informationspolitik führte, die durch wenig Strategie und Berechenbarkeit gekennzeichnet war. Eine erste Krisensitzung der obersten Leitung von Hoffmann-La Roche fand am 15. Juli 1976 statt. Entschieden wurde hier, dass über das Ausmaß und die damit verbundenen Folgen weiterhin Stillschweigen bewahrt werden sollte. In einer Schnellinformation für Mitarbeiter vom 22. April 1983 heißt es dazu rückblickend: „Nach einer schwierigen Anlaufperiode, in welcher insbesondere der Schweregrad und die Ausdehnung der Verseuchung abzuklären waren, etablierte sich eine Zusammenarbeit zwischen Givaudan und den italienischen Behörden.“555 Erst Tage später wurde zugegeben, dass Dioxin ausgetreten sei. Auf diese verspätete Information folgte ein medialer Aufschrei. Von den italienischen Behörden wurde am 24. Juli 1976 die Evakuierung des am stärksten betroffenen Bereichs bekannt gegeben.556 Das Gebiet, das als „potentiell verseucht“ deklariert wurde, umfasste ca. 18 Quadratkilometer und wurde entsprechend des Verseuchungsgrads in drei Zonen eingeteilt.557 736 Personen mussten aus der am stärksten betroffenen Zone evakuiert,558 die Agrarproduktion eingestellt und der gesamte Viehbestand getötet werden.559 Am 04. August 1976 wurde von der italienischen Regierung eine technisch-wissenschaftliche Kommission eingesetzt, die Entseuchungsmaßnahmen und weitere zweckdienliche Schritte ausarbeiten sollte.560 Verschiedene Hilfsmaßnahmen folgten, darunter im Januar 1977 fünf Aktionspläne, die das verseuchte Gebiet wieder in seinen ursprünglich nutzbaren Zustand versetzen sollten.561 552 Vgl. ebd. S. 10. 553 Vgl. Zeitlicher Ablauf des Unfalls von Seveso und der Aufarbeitung der Unfallfolgen vom 29. November 1993, in: HAR TI.8.8.1-103158. 554 Vgl. Seveso. Zehn Jahre danach, Roche Magazin 27 vom Mai 1986, in: HAR BU 0.2-200869. 555 Vgl. Roche Nachrichten / Schnellinformation für Mitarbeiter vom 22. April 1983, in: HAR TI.8.8.1-100555. 556 Vgl. Gemeinde Seveso: Dringende Verordnung zum Schutz der öffentlichen Gesundheit / Verordnung Nr. 48 vom 24. Juli 1976, in: HAR TI.8.8.1-104719. 557 Seveso. Information und Dokumentation. Zusammengestellt im Auftrag von Givaudan von Hill and Knowlton International April 1983, S. 11 in: HAR TI.8.8.1-100555. 558 Vgl. ebd. S. 12. 559 Vgl. ebd. 560 Vgl. ebd. S. 13. 561 Vgl. ebd. S. 14.
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Rund einen Monat nach dem Unglück erklärte sich Hoffmann-La Roche vor der Öffentlichkeit; am 11. August 1976 fand in Basel eine erste Pressekonferenz zum Unglück statt. In diesem Zusammenhang wurde betont, dass das Unglück transparent aufgearbeitet werden sollte und man für Schäden bezahlen werde.562 Auch wurden die Unfallverhütungsmaßnahmen des Konzerns intensiviert, und man bekundete öffentlich, Lehren aus dem Unglück gezogen zu haben.563 Wissenslücken der Konzernspitze über Verfahrenseigenschaften und die Produktpalette der ICMESA, die sich dabei teilweise offenbarten, verschärften im Nachgang des Unglücks die Situation. Noch im Jahr des Unglücks begannen die ersten Dekontaminierungsversuche.564 Ein Mitarbeiter von Hoffmann-La Roche fasste seinen Besuch im kontaminierten Gebiet in einer Aktennotiz vier Monate nach dem Unglück zusammen: „Südlich der Icmesa machen Männer im Schutzanzug Bodenversuche (Bakteriologen o.ä.?). Der Friedhof, der nachträglich aus Zone A ausgeklammert wurde, ist offen. In der Nähe liegen grosse Haufen von Erde, Pflanzen und Bäumen, welche offenbar Leute aus der Zone B von sich aus im Sinne einer radikalen Entgiftung zusammentrugen. Man bemerkt, dass auch Unnützes geschieht. Oestlich der Icmesa sind Bäume und Büsche gefällt. Betrachter werden je nach Standort verschieden reagieren. Man wird das Gefühl nicht los, dass da irgendetwas bei der Lösung des Problems nicht stimmt.“565
Nach dem Unglück wurden der Direktor der ICMESA, Herwig von Zwehl, und zwei seiner Mitarbeiter in Haft genommen und später gegen Kaution wieder auf freien Fuß gesetzt.566 Eine Reihe von Gerichtsverfahren schlossen sich an, die sich bis zum Jahr 1986 hinzogen. Angeklagt wurden die leitenden Personen der Givaudan und ICMESA. In diesem Zusammenhang wurde von externen Experten die Ursache des Unglücks analysiert. Resultat dieser Untersuchung war, dass das Geschehen in diesem Ausmaß nicht vorherzusehen gewesen sei, auch wenn es keinen Zweifel an der erhöhten Gefahr von Spätfolgen für die menschliche Gesundheit geben könne;567 auf diese Erkenntnisse stützte sich die Verteidigung von Hoffmann-La Roche in den Gerichtsverfahren. Das Ziel des Mutterkonzerns war dabei, aus dem Verfahren möglichst herausgehalten zu werden bzw. eine sprachliche Verbindung des Unternehmens mit dem Unglück möglichst zu verhindern. In einem internen Schreiben der Hoffmann-La Roche AG hieß es dazu: „Man muss in den Prozessen wie in den Verhandlungen bedacht sein, strikt die rechtlichen Struk562 Vgl. Seveso. Information und Dokumentation. Zusammengestellt im Auftrag von Givaudan von Hill and Knowlton International, April 1983, S. 10ff. 563 „Basler Konzern intensiviert Unfallverhütungsmaßnahmen. Hoff-Roche zog Lehren aus der Seveso-Katastrophe“, aus: Tages-Anzeiger vom 18. Dezember 1976, in: HAR TI.8.8.1101570a. 564 Vgl. Firma Hoffmann-La Roche AG (Hg.): Seveso – 20 Jahre danach, Basel 1996, S. 13, in: HAR BU.0.2-200874. 565 Aktennotiz Dr. R. von Graffenried an Dr. Jann et al. betreffend Besuch in Mailand vom 11. November 1976, in: HAR TI.8.8.1-101570a. 566 Vgl. Schreiben Dr. G. Waldvogel an Dr. A. Hartmann betreffend Vorschlag für Mitteilung an Belegschaft vom 24. Dezember 1976, in: HAR TI.8.8.1-101570a. 567 Vgl. Institut für Toxikologie betreffend Bericht über Besprechungen in USA vom 12.-15. Juli 1977 / TCDD-Toxikologie, in: HAR TI 8.8.1-100248.
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turen zu beachten, ICMESA vorerst allein auftreten zu lassen, höchstens ev. noch Givaudan, wobei aber Givaudan und sicher Roche wenn irgend möglich nur als Garanten für den gesetzlich zu bestimmenden Schadensersatz auftreten sollen und nicht als Partei.“568 Mehrfache Pannen und interne Unstimmigkeiten bezüglich der Informationspolitik zeigten, dass der Konzern auf dieses Unglück in keiner Weise vorbereitet war. Während der Chef des Informationsdienstes für mehr Informationen votierte, war der Präsident des Verwaltungsrates der Ansicht „[d]ass ich hierzu die Meinung des Verwaltungsrats unseres Konzerns kennen muss, d.h. ob ich eine richtige oder falsche Informationserteilung nach außen betreibe oder nicht. […][E]s ist eben auch noch nie vorgekommen, dass sozusagen bis zu den höchsten Stellen in unserem Konzern und für ein äusserst heikles Problem so entgegengesetzte Meinungen vorhanden sind. Die ganze Sache ist m.E., ohne zu übertreiben, geradezu von lebenswichtiger Bedeutung, denn wo sollen wir aufhören, Informationen herauszugeben, die dem Konzern nur abträglich sind und schaden?“569
Diese widersprüchliche und teils gegenläufige öffentliche Kommunikation wurde flankiert und beobachtet von einer sensibilisierten Öffentlichkeit. Krisenverschärfend war dabei, dass sich das Seveso-Unglück zu einem Medienereignis entwickelte, was sich in einer Publizitätswelle über das Unglück wiederspiegelte.570 Auch innerhalb des Konzerns wurden die interne und externe Kommunikation, die fehlende öffentliche Transparenz und der ungeschickte Umgang mit dem Unglück kritisiert. So schrieb eine „Gruppe besorgter Roche-Mitarbeiter“ an die Geschäftsleitung: „Jede chemische Produktion ist mit gewissen unkalkulierbaren Risiken behaftet. Die Ereignisse in Seveso sind an sich bedauerlich, unverständlich ist uns aber ihre Behandlung durch die Geschäftsleitung hinsichtlich menschlicher Aspekte, unternehmerischer Verantwortung und Publizität.“571 Intern stieß dieses Schreiben auf Unverständnis. Bezüglich der Besorgnis der Mitarbeiter und ihres offenen Loyalitätsbruchs mit der Konzernspitze heißt es in einem Schreiben vom 15. Dezember 1976: „Dabei kann ich Ihnen nicht verhehlen, dass sozusagen alles, was in diesem Briefe enthalten ist, völlig falsch oder zumindest unvollständig dargestellt wird und von einer Unkenntnis der Sachlage und einem erschreckenden Mangel an Uebersicht über die Situation zeugt, was die allergrössten Bedenken hervorrufen muss.“572
568 Vgl. Schreiben Dr. R. von Graffenried an Dr. A. Jann et al. betreffend Stand Seveso am 08. September und Besprechung in Lugano gleichentags vom 09. September 1976, in: HAR TI.8.8.1-101570a. 569 Schreiben von Dr. Jann an Dr. Sacher betreffend Brief der besorgten Roche-Mitarbeiter vom 15.12.1976, in: HAR TI.8.8.1-101570a. 570 Vgl. Schreiben von Dr. Fehr an Dr. Jann et al. betreffend Publizität zum Unfall von Seveso o.D., in: HAR TI.8.8.1-101570a. 571 Schreiben einer Gruppe besorgter Roche-Mitarbeiter an Dr. Sacher betreffend Umgang der Hoffmann-La Roche AG mit dem Seveso Unglück vom 06. September 1976, in: HAR TI.8.8.1101570a. 572 Vgl. Schreiben Dr. Jann an Dr. Sacher vom 15. Dezember 1976, in: HAR TI.8.8.1-101570a.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
Derweil war im betroffenen Gebiet sowie in der Öffentlichkeit auch rund fünf Monate nach dem Unglück der Unmut über die Bearbeitung der Unglücksfolgen und der Informationspolitik nicht abgeklungen. Ein Mitarbeiter fasste die Berichterstattung zusammen: „Die Dioxindecke, welche Strassen, Boden und Häuser bedeckt hat, ist noch da, nicht greifbar und fürchterlich. Die vielen Probleme, welche mit dem Gift auf das Gebiet gefallen sind, wurden nur zum kleinsten Teil gelöst: für die Bevölkerung von Seveso verbindet sich jetzt die Wut mit der Angst, mit der Verzweiflung.“573 Teilweise führte diese Empörung auch zu Gewaltakten gegenüber Angehörigen des Konzerns.574 Gleichzeitig stand dieser weiter in der medialen Kritik, die das Seveso-Unglück zu einem paradigmatischen Beispiel einer verfehlten Kommunikationspolitik stilisierte. Von Seiten Hoffmann-La Roches wurde zu solchen Anschuldigungen Stellung bezogen, wobei hier die Absicht des KonzernChefs zu erkennen ist, Verfehlungen einerseits einzuräumen, andererseits jedoch die Anschuldigungen von sich zu weisen, da externe Einflüsse die Arbeiten vor Ort erschwert hätten: „Es war zweifellos so, dass in den ersten Tagen und Wochen nach dem Unfall Unklarheiten bestanden, die zu einer gewissen Informationslücke führen mussten. Wer die tatsächlichen Verhältnisse kennt und miterlebt hat, weiss auch wo die Gründe liegen. Sie liegen u.a. in der Natur des Unfalls (Ausströmen eines giftigen Luftgemisches); Zeitpunkt des Unfalles; Wochenende und Ferienzeit; gewisser Personen, usw. Dazu kam, dass 11 Tage nach dem Unfall der Leiter des Werkes der Firma Icmesa S.A. bei Seveso sowie sein Stellvertreter verhaftet wurden – später übrigens noch ein dritter Mitarbeiter –, sodass die Firma ohne Führung war, von anderen Hindernissen gar nicht zu reden.“575
Ein weiteres Kapitel des Unglücks begann Anfang der 1980er Jahre mit der Entsorgung und Leerung des havarierten Reaktionsgefäßes, in welchem die Fehlreaktion stattgefunden hatte, sowie die Beseitigung des darin vorhandenen Materials.576 Die Suche nach einer geeigneten Entsorgungsstelle erwies sich dabei als problematisch: Sowohl die Schweizer als auch die deutsche Regierung lehnten die Aufnahme der Dioxinreste ab, und die italienischen Behörden überließen es dem Chemiekonzern, geeignete Vorschläge zu erarbeiten. Schließlich übernahm die Firma Mannesmann Italiana im Auftrag der ICMESA die Entsorgung. Der Plan sah vor, die hochgiftigen Dioxinreste aus Seveso im September 1982 in 41 Fässern in eine Deponie ins Ausland zu bringen. Der Abtransport der Fässer sollte nicht publik gemacht werden, um den vorgesehenen Transport über die italienisch-französische Grenze 573 Kurzfassung eines in der Zeitschrift „EPOCA“ am 01.12.1976 erschienenen Artikels an Dr. A. Jann et al. vom 06.12.1976, in: HAR TI.8.8.1-101570a 574 Vgl. Bekennerschreiben des „Kommando der 10. Juli“ zum Anschlag auf Rudolf Rupp vom 06. Juli 1977, in: HAR PE.1.R-101998. Am 05. Februar 1980 wurde Dr. P. Paoletti, einer der Beschuldigten im Strafuntersuchungsverfahren infolge des Seveso-Unglücks, von der Terroristengruppe Prima Linea in Monza erschossen. Vgl. Seveso. Zehn Jahre danach, Roche Magazin 27 vom Mai 1986, in: HAR BU.0.2-200869. 575 Schreiben von Dr. Jann an Herrn Isler / Verleger und Herausgeber der „FINANZ UND WIRTSCHAFT“ vom 09. November 1976, in: HAR TI.8.8.1-101570a 576 Roche Nachrichten Schnellinformation für Mitarbeiter vom 22. April 1983, in: HAR TI.8.8.1100555.
3.3 Der Schreck sitzt tief
253
nicht zu gefährden.577 Da die Mannesmann Italiana die Entsorgung teilweise an „Unterakkordanten“ weitergab, entstand ein komplexes Auftragsgeflecht, in dem nicht mehr klar war, wo die giftigen Fässer sich eigentlich befanden.578 Die Folge war eine Verunsicherung der Öffentlichkeit, zumal von unterschiedlichen Stellen widersprechende Angaben gemacht wurden. Ab Frühjahr 1983 begann die Suche nach den verlorenen Fässern in mehreren europäischen Ländern.579 Hoffmann-La Roche sah sich einer fragenden Öffentlichkeit gegenüber und konnte im April 1983 keine Angaben zum Verbleib machen.580 Der Konzern ließ dazu intern verlauten: „Heute sehen wir uns in der unerfreulichen Lage, der geheimen oder gar illegalen Beseitigung toxischer Abfälle beschuldigt zu werden und nicht über den Standort des Materials Auskunft geben zu können.“581 Dies nährte Spekulationen in den in- und ausländischen Medien. Vor dem Konzernsitz in Basel kam es zu Protesten und Boykottaufrufen gegen Roche-Produkte.582 Auch einen Monat später blieb der Aufenthaltsort der Fässer unbekannt.583 Der Konzern stellte dazu fest: „Noch immer ist der gegenwärtige Standort der gesuchten 41 Fässer nicht bekannt. Dennoch bildet dieses Thema weiterhin Anlass für Schlagzeilen in den in- und ausländischen Medien.“584 Für das Unternehmen bedeutete dies einen nachhaltigen Imageschaden.585 Erst am 19. Mai 1983 wurden die Fässer in Nordfrankreich gefunden; am 20. Mai 1983 gab die Roche-Konzernleitung den Fund bekannt.586 Im Juni 1983 wurden die Fässer schließlich nach Basel transportiert, im Schutzraum von Roche eingelagert und zwischen 1983 und 1985 im Hochtemperatur-Ofen der Firma CibaGeigy vernichtet.587 Deutlich wird, dass der Konzern sich auch im Nachgang des Unglücks nur in geringem Maße eines Fehlverhaltens bewusst war. So hieß es in der internen Schnellinformation an die Mitarbeiter: „Roche hat in enger Zusammenarbeit mit den Behörden und namhaften Experten sowie unter Einsatz erheblicher Mittel sich 577 Vgl. Zeitlicher Ablauf des Unfalls von Seveso und der Aufarbeitung der Unfallfolgen, S. 7, in: HAR TI.8.8.1-103158. 578 Der Transport- und Entsorgungsauftrag wurde von der Mannesmann Italiana an die Firma WADIR in Genf und Spelidec in Marseille weitergegeben. Vgl. Zeitlicher Ablauf des Unfalls von Seveso und der Aufarbeitung der Unfallfolgen, S. 8, in: HAR TI.8.8.1-103158. 579 Vgl. ebd. 580 Roche Nachrichten Schnellinformation für Mitarbeiter vom 22. April 1983, in: HAR TI.8.8.1100555. 581 Ebd. 582 Vgl. Schreiben Hoffmann-La Roche Roche AG Basel an Hoffmann-La Roche Wien GmbH betreffend Kurzinformation Seveso vom 22. April 1983, in: HAR TI.8.8.1-100555. 583 Roche Nachrichten Schnellinformation für Mitarbeiter vom 22. April 1983, in: HAR TI.8.8.1100555. 584 Ebd. 585 Vgl. auch Notiz von Dr. W.P. von Wartburg an Dr. A. Jann et al. betreffend Preisverfahren gegen „LIBRIUM“ und „VALIUM“/Konnex mit Seveso vom 26. August 1976, in: HAR TI.8.8.1101570b. 586 Vgl. Pressecommuniqué „Seveso Rückstände gefunden“ vom 20. Mai 1983, in: HAR TI.8.8.1100555. 587 Vgl. Schlussbericht der Expertenkommission betreffend Verbrennung dioxinhaltiger Abfälle aus Seveso vom 07. Mai 1986, in: HAR BU.5.1-201649e.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
nach Kräften dafür eingesetzt, die Folgen des Unglücks zu bewältigen.“588 In Bezug auf die Informationspolitik wird das Selbstverständnis des Konzerns in einem Schreiben Adolf Walter Janns, des Direktors der Hoffmann-La Roche AG, an den Verleger und Herausgeber der Zeitschrift „Finanz und Wirtschaft“ aus dem Jahre 1976 explizit: „Der Unternehmer hat zweifellos eine Informations- und Erläuterungspflicht. Er muss seine Sache in der Öffentlichkeit vertreten können. Alle diese Auseinandersetzungen werden aber nutz- und sinnlos, wenn sich Führungskräfte mehr und mehr mit der Oeffentlichkeit, d.h. mit der Oeffentlichkeit, wie sie ihnen in der systematisch organisierten und manipulierten Massenmedien entgegentritt, auseinandersetzen müssen und dadurch ihre Führungsaufgaben vernachlässigen. Der Platz des Unternehmers ist das Unternehmen.“589
Während des Gerichtsverfahrens im Nachgang des Unglücks wurden die leitenden Angestellten – der Direktor der ICMESA, Herwig von Zwehl, und der Technische Direktor der Givaudan, Jörg Anton Sambeth, – zu Haftstrafen verurteilt. Akteure des Mutterkonzerns Hofmann-La Roche erhielten keine Strafen. Das Unglück von Seveso machte die Gefahren sichtbar, die mit der Chemieproduktion zusammenhingen. Durch die mediale Begleitung des Unglücks potenzierte sich seine Wirkung und evozierte nahezu europaweit eine bis dahin nicht gekannte Protestwelle. Bis heute bedeutet das Unglück einen Wendepunkt für den Chemiesektor.590 Seine Aufarbeitung zog sich bis in die 1990er Jahre hin, als durch eine WDR-Dokumentation des Journalisten Ekkehard Sieker die Frage aufgeworfen wurde, ob die dioxinhaltigen Rückstände aus Seveso wirklich in den 1980er Jahren in Basel vernichtet wurden.591 Ein Interview mit dem Vizepräsidenten des Verwaltungsrates der Hoffmann-La Roche AG, Guido Richterich, offenbarte in diesem Zusammenhang erneut die während und im Nachgang der Ereignisse häufig verfehlte Informationspolitik des Konzerns; unpassende oder ungeschickte Antworten des Interviewten führten erneut zu Zweifeln an der Glaubhaftigkeit des Konzerns. „Seveso“ steht somit für zweierlei: erstens für die Beweisführung, wie gefährlich das Versagen des reibungslosen chemisch-technischen Prozesses sein kann, zweitens sinnbildlich für die scheinbar legitime Anklage eines Unternehmens der chemischen Industrie sowie unter dem Generalverdacht, es stehe allein aufgrund
588 Roche Nachrichten Schnellinformation für Mitarbeiter vom 22. April 1983, in: HAR TI.8.8.1100555. 589 Schreiben Dr. A. Jann an A. Isler Verleger und Herausgeber der „FINANZ UND WIRTSCHAFT“ betreffend Äußerung zum Artikel von P. Rothenhäusler „Von den Katastrophen-PR zur PR-Katastrophe, Oeffentlichkeitsarbeit bei Krisensituationen“ vom 09.11.1976, in: HAR TI.8.8.1-101570a. 590 Vgl. „Die Seveso-Richtlinien gehören heute zum europäischen Alltag“, Basler Zeitung vom 08. Juli 2006, in: HAR TI.8.8.1-106877. Vgl. weiter Bericht von Daniel J. Edelmann, International Public Relations Group betreffend „Public Relations Proposal for Hoffmann-La Roche et Cie. vom März 1979, in: HAR T1.8.8.1-105184a. Vgl. weiter Seveso. Zehn Jahre danach, Roche Magazin 27 vom Mai 1986, in: HAR Bu.0.2-200869. 591 Die veranlassten Nachprüfungen ergaben, dass die dioxinhaltigen Rückstände zweifelsfrei im Jahre 1985 vernichtet wurden. Vgl. F. Hoffmann-La Roche AG (Hg.): Seveso – 20 Jahre danach, Basel 1996, S. 17, in: HAR BU.0.2-200874.
3.3 Der Schreck sitzt tief
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seiner Existenz für den Tod vieler Tiere und die Entstellung von Kindern durch so genannte Chlor-Akne. 3.3.2 Verstärkte und radikalisierte Proteste durch „Seveso“ gegenüber Bayer und Henkel und ihr Niederschlag in formalen Sicherheitsinstitutionen „Wir Umwelt-Leute der großen Chemiefirmen waren gerade beim VCI in Frankfurt, als wir von dem Unglück in Seveso erfuhren. Wir waren entsetzt über die ersten Meldungen. Wir wussten aber auch, nun geht es uns an den Kragen.“592 Diese Aussage eines Umweltschutz-Mitarbeiters von Bayer deutet darauf hin, wie äußerst schnell die Unternehmen erkannten, dass es sich bei dem Seveso-Störfall um eine Zäsur hinsichtlich des zukünftigen Umgangs mit produktionsinduzierten Risiken handelte. Offensichtlich erwarteten sie eine weitere Zunahme der gegen sie gerichteten Proteste. Nachdem ich die Ereignisse des Seveso-Störfalls geschildert habe, werde ich im Folgenden nach den formalen und informellen Auswirkungen des ersten schweren Chemieunglücks in Kontinentaleuropa für Bayer und Henkel fragen. Die Bedeutung der Ereignisse werde ich dort darstellen, wo die institutionellen Folgen des Unglücks in den von mir untersuchten Unternehmen sichtbar werden. Eine wichtige Rolle spielte dabei das bis dahin nicht gekannte mediale Echo, auf das etwa bei einer Postbesprechung bei Henkel hinsichtlich neuer Abwehrstrategien verwiesen wurde: „Der ‚Stern‘ veröffentlicht z.Z. eine Serie, in der u.a. die von der Chemie ausgehenden Risiken für Mensch und Umwelt dramatisch herausgestellt werden. Der VCI hat sich angeboten, die Stellungnahmen von Seiten der Chemie-Firmen zu koordinieren. Hiervon soll – falls erforderlich – Gebrauch gemacht werden.“593 Stefan Böschen schreibt aus Sicht einer Katastrophensoziologie über Seveso, dieser Störfall habe zu einer „kollektiven Krisenerfahrung“ beigetragen, und besonders der massenmediale Resonanzboden habe die europäische Großchemie fortan unter Generalverdacht gestellt.594 An anderer Stelle schreibt Karen Königsberger zu den Ereignissen: „‚Seveso‘ wurde zum Inbegriff und Symbol der ‚tödlichen Risiken‘ der Chemie […].“595 In der öffentlichen Meinung hatten sich eine weitere Verschärfung der Umweltschutzforderungen und eine nochmals erweiterte Anfeindungen gegenüber der chemischen Industrie eingestellt. Sicherlich waren diese neuartigen – gegen Risi592 Interview mit Dr. Hans-Georg Meyer, ehemals Umweltschutzabteilung der Bayer AG vom 18.12.2009. Über die Einschätzung der Folgen von „Seveso“ für die chemische Industrie auch ein Besprechungsbericht von Henkel-Ingenieuren vom 22. November 1976, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 453 Akten Opterbecke, Nr.42a-42b Tageskopien Dr. Funk, hier 42a. 593 Niederschrift über die Postbesprechung der Zentralen Geschäftsführung vom 12. September 1978, in Konzernarchiv Henkel, 153/64 Postprotokolle. 594 Vgl. Stefan Böschen, 2003, S. 152. 595 Karen Königsberger: „Vernetzte Systeme“ Die Geschichte des Deutschen Museums 1945– 1980 dargestellt an den Abteilungen Chemie und Kernphysik, München 2008, S. 326.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
kotechnologien gerichteten – Sinnmuster in der Folge von „Seveso“ oft von Aktionismus und Polemik getragene Proteste der kulturellen Rahmung, die allgemein gegen die chemische Industrie gerichtet waren. Man darf wohl generell von einer zweiten Welle des Umwelt-Engagements sprechen, da vor allem in Protesten gegen die Kernkraft nun auch gewalttätige Mittel eingesetzt wurden.596 Aus den Anfängen der Umweltschutzaktivitäten hatte sich eine subweltliche „Bewegungskultur“ konstituiert, die sich in ihrem Auftreten von früheren Protestgruppen abhob.597 Eine gewisse Radikalisierung fand statt, in deren Zuge nun explizit die Abschaltung oder Einstellung hochriskanter Technologien gefordert wurde.598 Die Risiken der chemischen Produktionen wurden diskursiv mit denen eines atomaren GAUSs – in ihrer Wahrscheinlichkeit ebenso wie in ihren Auswirkungen – verbunden, da die öffentliche Debatte über die Kernenergie im letzten Drittel der 1970er Jahre ihren ersten Höhepunkt erreichte.599 Damit gewannen die veränderten Gefahrenzuschreibungen an Glaubwürdigkeit, so dass das Buch mit dem Titel „Seveso ist überall“ die neuen Ängste vor einer chemischen Bedrohung weiter anheizen konnte.600 Die vom VCI herausgegebenen Gegendarstellung „Seveso ist nicht überall“ konnte daran nur wenig ändern, wie eine Besprechung zwischen Vertretern von Bayer, Höchst und der BASF 1978 zeigte.601 Kurz: „Seveso“ als Krisen auslösende Katastrophe führte im außer-unternehmerischen Institutionengefüge wie etwa dem öffentlichen Diskurs über Risikotechnologien und gesellschaftlichen Gefahrenzuschreibungen gegenüber der chemischen Industrie zu beschleunigtem institutionellem Wandel. Dies wird von krisen- und katastrophensoziologischen Untersuchungen bestätigt.602 Umweltproteste – und damit nochmals ausgeweitete Proteste gegen die chemische Industrie – wurden zu einer Alltagspraxis und gehörten innerhalb der Bewegung gleichfalls zur Persönlichkeitsentwicklung, weswegen es den neuen Umweltschützern nicht schwer fiel, ein neues Täter-Opfer-Bild zu konstruieren.603 Dieses Schwarz-weiß- bzw. Gut-böse-Bild speiste sich aus zweierlei Quellen: Zum einen beruhte es auf einer massenmedialen Skandalisierung aller umweltrelevanten Entscheidungen der Unternehmen oder etwaiger Unfälle, zum anderen auf den empörten Mahnrufen der Umweltschützer, wonach Teile der bundesdeutschen Gesellschaft, der Politik und vor allem der Wirtschaft die teilweise hart an der Grenze zur Legalität operierenden Proteste der Aktivisten immer noch verhindern bzw. nicht akzeptieren wollten. Diese Attitüde der neuen Umwelt-Bewegung und die von ihr transportierten Ideologien wurden von den Unternehmen durchaus als Bedrohung und weitere Radikalisierung einer veränderten, von links kommenden Systemkritik 596 597 598 599 600 601
Vgl. Jens Ivo Engels, 2006, S. 344–345. Vgl. ebd. S. 378. Vgl. ebd. S. 377f. Vgl. Jens Ivo Engels, 2006, S. 385. Vgl. Egmont R. Koch / Fritz Varenholt, S. 77. Vgl. Umweltschutzbesprechung am 27.11.1978 in Leverkusen mit Teilnehmern von Bayer, Höchst, BASF, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1978–1979. 602 Vgl. Robert A. Stallings: Soziologische Theorien und Desaster-Studien, in: Lars Clausen et.al. (Hg). Entsetzliche soziale Prozesse: Theorie und Empirie der Katastrophen, Münster 2003, S. 35–49, hier S. 45. 603 Vgl. Jens Ivo Engels, 2006, S. 385.
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gesehen, die sich gegen eine liberale Wettbewerbswirtschaft richte. Sehr deutlich wird dies im Vortrag „Soziopolitische Analyse von industriefeindlichen Gruppen und Meinungen“, der im Dezember 1981 vor leitenden Angestellten in Leverkusen gehalten wurde: Die […] analysierten Abwehrhaltungen gegen u.a. die Wirtschaft werden – mittel- und langfristig gesehen – die Repräsentanten der Wirtschaft stärker herausfordern […] da sie an keine politischen Organisationsformen und keine Gesellschaftsschichten gebunden sind: ihre argumentative Chance besteht darin, daß sie gewisse gesamtgesellschaftliche Widersprüche, institutionelle Deformationen und ökonomische Mißbräuche der Sozialen Marktwirtschaft, die im Einzelfall ohne Schwierigkeiten nachgewiesen werden können, in unredlicher Weise als systemimmanent verallgemeinern und im Namen eines moralischen Rigorismus sowie einer unbedingten Menschlichkeit verurteilen können. […] Weder sozialdemokratisch noch kommunistisch: die dritte Art, links zu sein. Engagierte Parteinahme für Menschlichkeit gegen eine für inhuman gehaltene Gesellschaft, gegen Wirtschaft, Staat und Politik überhaupt. Ausgangspunkt einerseits ist eine moralische Gesellschaftskritik, die sich gegen Wirtschaft […] und Oberflächlichkeit richtet, andererseits Kritik am Staat. […] Daß diese Tendenz bei vielen Deutschen, die nicht ‚links‘ im gewohnten Sinne des Wortes sind, engagierte Zustimmung auslöste, ist charakteristisch für diese Grundströmung. Apo und Neue Linke verdanken ihre Wirkung diesem Bewußtsein in der Bevölkerung. Es handelt sich um Beziehungslosigkeit zu Wirtschaft, Staat und Politik. Die Moralität von Gesellschaftskritik beruht auf der Unterscheidung von Gut und Böse: je unvermittelter diese Unterscheidung in politische Aktivität umgesetzt wird, desto sicherer werden Intoleranz, Radikalität und Unfähigkeit zum Kompromiß in die Politik getragen, denn es wäre unmoralisch, mit dem Bösen einen Kompromiß zu schließen. Aus dem ‚Gegner‘ wird der ‚Feind‘. Kein Ausgleich wie in der rationalen Politik, sondern Sieg oder Niederlage. […] Diese Grundströmung, korrespondiert mit politischen Aufgaben, die man ohne Übertreibung als einmalig neu in der Menschheitsgeschichte bezeichnen kann: Kernenergie, Raumfahrt, Umweltbelastung […]. Deshalb ist ‚die Gesellschaft‘ zum Leitthema geworden, zum Moloch. Dieser unmittelbare Rückgriff auf die Gesellschaft führt zum Abbau staatlicher Strukturen, weil man sich einbildet, gesellschaftliches Interesse wirkungsvoller durch unmittelbare gesellschaftliche Aktivität durchsetzen zu können (Bürgerinitiativen […], Enthüllungsjournalismus á la Walraff […]). Diese Tendenz ist in dem Begriff ‚Demokratisierung‘ zusammengefaßt. ‚Demokratisierung‘ will in rigoroser Kompromißlosigkeit die bestehenden Ordnungsprinzipien von Staat und Wirtschaft abschaffen. […] Der Rechtsstaat muß die Freiheit des einzelnen gegen den Meinungsdruck der Gesellschaft schützen, er muß der Öffentlichen Meinung die Pflicht auferlegen, niemandem zu verwehren, das zu tun, was ihm die Gesetze erlauben.604
Nachdem also klar gemacht wurde, dass es sich im Kontext einer soziokulturellen Bewegung auch hinsichtlich des Umweltschutzes nicht nur um eine industriekritische, sondern auch um eine ausgereifte gesellschaftskritische Strömung handele, die Mitte der 1970er Jahren ihren Anfang genommen habe und das Machtpotenzial besäße, auch die bis dahin gemäßigten Bürgerbewegungen und politischen Akteure in ihren Bann zu ziehen, schloss der Referent noch eine „Soziologie der Bür604 „Soziopolitische Analyse von industriefeindlichen Gruppierungen und Meinungen“ Referat von Herrn Mosen gehalten am 14. Dezember 1981 vor leitenden Mitarbeitern der Bayer AG Leverkusen, hier Zusammenfassung des Referats des Vorstandsstabs Öffentlichkeitsarbeit an Günter Kaebe vom 15. Dezember 1981, S. 5–6, in: BAL 388/86Werksverwaltung Leverkusen, Vorstandsstab 1974–1983.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
gerinitiativen“ an, die weitere Aufschlüsse über die neuen Dogmen des Umweltschutzes und des Protestes gegen Gefahren geben sollte: Das Gut-Böse-Verhältnis resultiere aus einer neuen Form der Wahrnehmung von Betroffenheit im Sinne einer Opferrolle. Diese Betroffenheit, die zu Bürgerinitiativen in ihrer neuen Ausrichtung führte, rühre entweder von einer „tatsächlichen Betroffenheit (industrielle Anlagen und ihren Gefahren wie etwa Seveso)“, einer „vermuteten jedoch realistische zu erwartenden Betroffenheit“ oder einer Betroffenheit durch Neubewertung der ökologischen (Schutz des Lebens vor Chemieunglücken) […] Bedürfnisse und deren Wirkungsweise“ her.605 Der externe Schock von „Seveso“ hatte also für die kulturelle Rahmung von Bayer und Henkel entscheidende Neuerungen gebracht, die sich aus der Sicht der Unternehmen in zweierlei Hinsicht auf ihre Risikoproduktion auswirken konnten: Erstens war der Beweis erbracht, dass durch eine chemisch-technische Anlage ökologische und menschliche Katastrophen ausgelöst werden konnten, wie das bereits seit mehreren Jahren diskutiert worden war. Dies wurde zweitens in die Sinnmuster der ersten Umweltschützer der 1970er Jahre integriert, was zu einer abermaligen Neubewertung und veränderten Bedürfnissen nach Sicherheit der Menschen führte, und sich mit radikalisierten Meinungen leicht vermischen konnte. Ich werde nun die wichtigsten formal-institutionellen Folgen darstellen, die direkt mit „Seveso“ in Verbindung stehen. Es zeigt sich, dass die Sorgen der Umweltschutzbewegung für zeitgenössische Verhältnisse in den meisten Fällen unbegründet war, da in direkter Folge nach „Seveso“ die zu diesem Zeitpunkt bereits etablierte Gangart des institutionellen Kontextes gegenüber Risiken für die natürliche und lebensweltliche Umwelt beibehalten und verschärft wurde. Risikominimierung und Risikoabwehr wurden nicht mehr nur im Kontext des Immissions- und Gewässerschutzes gedacht, sondern nun auf den katastrophalen Ernstfall erweitert. Sowohl von Seiten des formal-institutionellen Kontextes wie auch von der kulturellen Rahmung wurden akute Toxizitäten und daraus resultierende Gefahren im Störfall in den engeren Blick genommen.606 Die formale Grundlage hierfür bot ein Erlass des Ministers für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Friedhelm Farhrtmann, direkt nach den Ereignissen in Seveso. Der so genannte „Fahrtmann-“ oder „Seveso-Erlass“ wurde zum Leidwesen der chemischen Industrie erneut „ohne Kontakt mit Industrie-Vertretern erarbeitet (know-how-Verzicht),“ zudem vermengte er aus Bayer-Sicht „Umweltschutzaspekte mit Mitbestimmungsideologien“ der Aufsichtsbehörden.607 Er hatte den folgenden Wortlaut: „Die Katastrophe von Seveso zeigt, daß der Betrieb bestimmter Anlagen mit einem erheblichen Risiko für die Sicherheit der Arbeitnehmer, der Nachbarschaft und der Allgemeinheit verbunden sein kann. Es muß daher alles getan werden, um Gefahren durch den Betrieb von Anlagen 605 Vgl. ebd. S. 9. 606 Vorstandsitzung in Leverkusen am 07. Juni 1977, in: BAL 387/1 Vol. 17 Vorstandsprotokolle 15.03.77–04.03.78. 607 Aktennotiz von Dr. Weber / LE-AWALU vom 06. Oktober 1976 betreffend Seveso-Erlaß NW vom 20.09.1976, in: BAL 388/247 Werksverwaltung Leverkusen, Gespräche mit Politikern: Hansmeyer, Bundeskanzler, Maihofer ab 1975, Fortsetzung.
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dieser Art auszuschließen. Zu diesem Zweck wird für den Bereich der Gewerbeaufsicht auf folgendes hingewiesen: 1. Bestimmung von Stoffen hoher Toxizität: Eine Überprüfung hat ergeben, daß es eine größere Zahl von Stoffen mit einer ähnlich hohen Toxizität wie TCDD gibt. Um den Staatlichen Gewerbeaufsichtsämtern eine Grundlage für eine gezielte Überwachung von Anlagen zu geben, sind Stoffe von besonders hoher Toxizität unter Auswertung der vorliegenden medizinischtoxikologischen Erkenntnisse […] zu diesem Runderlass zusammengestellt worden. […] 2. Überwachung: Die Überwachung von Anlagen […] erfordert die besondere Aufmerksamkeit der Staatlichen Gewerbeaufsichtsämter als Überwachungsbehörden. Über die […] allgemeinen Bestimmungen über die Überwachung genehmigungsbedürftiger Anlagen hinaus, gelten die besonderen Weisungen im Hinblick auf den Vorfall in Seveso. […] Es wird außerdem eine außerordentliche Überwachungsaktion angeordnet. […] Im übrigen sind die Staatlichen Gewerbeaufsichtsämter nach der Dienstanweisung […] verpflichtet, sich durch regelmäßige Revision der ihrer Aufsicht unterstellten Unternehmen und Arbeitsstätten eingehende Kenntnisse von den Arbeitsweisen und -Stoffen, Arbeitsplätzen sowie Betriebseinrichtungen und Anlagen zu beschaffen. Sie haben hierbei darauf hinzuwirken, daß Gefahren, Schädigungen und erhebliche Belästigungen durch Betriebsanlagen, Arbeitsvorgänge und Betriebsverfahren beseitigt sowie Gesetzwidrigkeiten und Mißstände behoben werden. Bei unmittelbar drohender Gefahr für Leib und Leben oder bedeutende Sachgüter haben die Staatlichen Gewerbeaufsichtsämter unverzüglich die erforderlichen Anordnungen zur Abschaltung zu treffen oder zu veranlassen.“608
Bei den in dieser Form neuen Kontrollen der chemischen Industrie ging es um „die Überprüfung von Betrieben, in denen hochtoxische Stoffe [LD50 Wert < 1 mg/kg, d.h. letale Dosis einer Substanz, die bei einer Versuchspopulation innerhalb eines bestimmten Zeitraums zum Tod der Hälfte dieser Population führt, T.J] gehandhabt werden, durch das GAA [Gewerbeaufsichtsamt, T.J].“609 Es handelte sich auch um eine direkte Präventivmaßnahmen infolge des Dioxinunglücks von Seveso, die man ohne Zweifel als verordnete Störfallsicherheit beschreiben darf. Dies war nochmals eine Steigerung zu den früheren Umweltschutzbestrebungen des Bundes und der Länder, da den Aufsichtsbehörden nun explizit und ohne Kompromisse die Möglichkeit der Stilllegung von Anlagen an die Hand gegeben wurde. Auch hatte das zuständige Ministerium nun darüber entschieden, was als hoch toxisch galt, und einmal mehr war der chemischen Industrie eine Mitbestimmung auch in dieser neuen Dimension des Umweltschutzes und der Anlagensicherheit verwehrt. Nicht nur in Nordrhein-Westfalen gab es solche Erlasse: Flächendeckend in der Bundesrepublik Deutschland wurden Mitarbeiter von Gewerbeaufsichtsämtern ausgesandt, um chemische Betriebe, deren Produktionen und vor allem die eingesetzten Chemikalien auf ihre Sicherheit zu überprüfen. Die AWALU-Mitarbeiter von Bayer 608 Der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen an die Regierungspräsidenten Arnsberg et.al., die Staatlichen Gewerbeaufsichtsämter und die Landesanstalt für Immissions- und Bodenschutz Nordrhein-Westfalen betreffend Genehmigungsbedürftige Anlagen / Vorkehrungen gegen die Emission hochtoxischer Stoffe beim Betrieb chemischer Anlagen vom 20. September 1976, S. 2–4, in: BAL 388/247 Werksverwaltung Leverkusen, Gespräche mit Politikern: Hansmeyer, Bundeskanzler, Maihofer ab 1975, Fortsetzung. 609 Dr. Marquart / LE-AWALU an Dr. Schabacher / Spartenbüro Ökologie und Sicherheit vom 04. Oktober 1976, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1974–1977.
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machten keinen Hehl daraus, dass diese Form staatlicher Eingriffe aus ihrer Sicht in direktem Zusammenspiel mit dem Unglück von Seveso stand, womit dessen Tragweite abermals verdeutlicht wird: „Ausgelöst durch den Vorfall von Seveso haben eine Reihe von Bundesländern Erlasse präsentiert. Diese unterscheiden sich […] hinsichtlich des Umfangs der angeordneten Maßnahmen als auch hinsichtlich […] ihrer ‚Stofflisten‘. Das Umweltbundesamt und die EG beschäftigen sich ebenfalls mit dieser Materie. Der VCI versucht zu verhindern, daß jeweils die schärfsten Forderungen […] in eine Bundesregelung / Empfehlung einmünden.“610
Fast panisch registrierte Bayer den baden-württembergischen „Seveso-Erlass“ vom November 1976: Alle dort in die Stoffliste aufgenommenen Substanzen seien für die Produktionen von Bayer relevant. Aus diesem Grunde müsse man versuchen, den für die Liste Zuständigen in Baden-Württemberg „in den Griff zu bekommen“, weshalb sich das „Bundesministerium der Angelegenheit angenommen hat“; von dieser Mitarbeit des Umweltbundesamtes erhoffte man sich die Festlegung eines um das 100-fache höheren Grenzwertes dessen, was als hoch toxisch angesehen wurde.611 Es ging den Chemiewerken nicht unbedingt um eine völlige Verwerfung des Erlasses, was sich sowohl an entsprechenden Pressekonferenzen als auch im direkten Dialog mit Fahrtmann zeigen lässt. Broja schrieb diesem im Oktober 1976: „[I]m Hinblick auf den Vorgang in Seveso habe ich Verständnis dafür, dass Sie mit Rücksicht auf die Öffentlichkeit eine besondere Überprüfung von Anlagen, in denen hochgiftige Substanzen gehandhabt werden, veranlasst haben.“612 Und in Vorbereitung auf eine Pressekonferenz und ihre anschließende Durchführung hieß es: „Da nach dieser Veranstaltung [der Pressekonferenz, T.J] damit gerechnet werden muß, daß von seiten [sic!] der Presse die Meinung von Bayer zu den vorgesehenen Maßnahmen erkundet wird, wurde […] ein kurzer Text ausgearbeitet, von dem jedoch nur bei konkreten Anfragen Gebrauch gemacht wird: ‚Nach dem Unglück in Seveso, auf das Minister Farthmann in der Begründung seines Erlasses ausdrücklich Bezug nimmt, erscheint eine solche Maßnahme zur Erhöhung der Produktionssicherheit verständlich. Wie der Minister in seinem Brief an den Landesverband des BDI vom 20.09. selbst ausdrücklich erklärt, war wegen der Kürze der Zeit keine Gelegenheit mehr gegeben, Fachleute der betroffenen Industrien zu den hier vorliegenden Vorschlägen zu hören. Bei einer ersten Durchsicht sind Bayer bestimmte Angaben aufgefallen, die korrekturbedürftig erscheinen.
610 Monatsbericht von LE-AWALU für April 1977, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1974–1977. 611 Vgl. Aktennotiz von Dr. Weber / LE-AWALU vom 03. November 1976 betreffend FahrtmannErlaß vom 20. September 1976, in: BAL 388/247 Werksverwaltung Leverkusen, Gespräche mit Politikern: Hansmeyer, Bundeskanzler, Maihofer ab 1975, Fortsetzung. 612 Dir. Broja an Prof. Fahrtmann betreffend Ihr Erlass vom 20. September 1976 vom 08. Oktober 1976, in: BAL 388/247 Werksverwaltung Leverkusen, Gespräche mit Politikern: Hansmeyer, Bundeskanzler, Maihofer ab 1975, Fortsetzung.
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Bayer wird daher die von Minister Farthmann vorgesehene Frist bis zur endgültigen Verabschiedung Anfang nächsten Jahres nutzen, um den Erlass gründlich zu prüfen. Dies wird im Sinne einer positiven Einstellung zu dem angestrebten Zweck dieses Erlasses geschehen.‘“613
Beide Quellen zeigen eine grundsätzliche Bereitschaft des Unternehmens zur Kooperation. Wie aus dem Wortlaut der Pressemitteilung ersichtlich, ging es Bayer hauptsächlich um die Bestimmung der Kriterien, was nun als hochtoxisch galt, wobei die Unternehmensvertreter zunächst gemeinsam mit dem VCI die oben genannten Werte der letalen Dosen hinauf gesetzt wissen wollten.614 Dies teilte Broja auch Fahrtmann sehr deutlich persönlich mit: „Ein gesetzter Grenzwert von 1 mg/kg (oral) ist diskutabel, wenn man berücksichtigt, dass TCDD hundertfach toxischer ist. Allerdings haben unsere Toxikologen gegen die getroffenen Auswahl der Werte […] Bedenken hinsichtlich der Risikoabschätzung für den Menschen.“ Doch wurde den großen deutschen Chemiewerken auch hier innerhalb kürzester Zeit aus eigener Einsicht deutlich, dass diese abgeschwächte Form einer Verhinderungstaktik älteren Datums schon gar nicht nach einem solch spektakulären Ereignis wie jenem von Seveso Erfolg haben konnte. In einem vertraulichen Gespräch zwischen den IG-Farben Nachfolgern – Bayer, Höchst und der BASF – wurde die zuvor nicht gekannte „geringe Aktivität des VCI“ unter dem Tagesordnungspunkt „Sicherheitsfragen“ bemängelt. Die Erklärung für diese Zurückhaltung lieferten die Gesprächsteilnehmer jedoch in ihrem Erfahrungsaustausch zwei Jahre nach dem Unglück selbst: „Politisch ist durch Gespräche […] wenig zu erreichen. […] Auch von Gesprächen mit den Vertretern der IG-Chemie verspricht man sich wenig.“615 Somit blieben auch diese Aushandlungen im Kontext des Fahrtmann-Erlasses erfolglos, wie Broja bereits 1977 dem Bayer-Vorstand mitteilen musste: „Broja unterrichtet den Vorstand, daß nach Nordrhein-Westfalen vier weitere Bundesländer Listen hochtoxischer Stoffe herausgegeben haben, die jetzt auf Bundesebene vereinheitlicht werden sollen. […] Außer hochtoxischen Stoffen sieht die Bundesliste einen Abschnitt für Katastrophenschutz, der sich im wesentlichen auf toxische Gase, und einen Abschnitt für Arbeitsschutz, der sich auf cancerogene, mutagene und teratogene Stoffe bezieht, vor.“616
Bayer hatte sich auf die neue Situation einzustellen; der Leverkusener Konzern rechnete damit, dass 15 bis 20 Substanzen auf den Listen in seinen Produktionsstät-
613 Vorstandsstab Öffentlichkeitsarbeit an Dir. Broja et.al. betreffend Pressekonferenz bei Minister Fahrtmann vom 12. Oktober 1976, in: BAL 388/247 Werksverwaltung Leverkusen, Gespräche mit Politikern: Hansmeyer, Bundeskanzler, Maihofer ab 1975, Fortsetzung. 614 Vgl. VCI an Minister Prof. Fahrtmann betreffend Ihr Erlass vom 20.09.1976 vom 26. Oktober 1976, in: BAL 388/247 Werksverwaltung Leverkusen, Gespräche mit Politikern: Hansmeyer, Bundeskanzler, Maihofer ab 1975, Fortsetzung. 615 Umweltschutzbesprechung am 27. November 1978 in Leverkusen mit Teilnehmern von Bayer, Höchst, BASF, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1978–1979. 616 Vorstandsitzung in Leverkusen am 07 Juni 1977, in: BAL 387/1 Vol. 17 Vorstandsprotokolle 15.03.77–04.03.78.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
ten vorhanden waren.617 Von nun an hatte sich Bayer mit der Frage zur „Sicherheit in Chemiebetrieben“618 unter neuen Vorzeichen auseinanderzusetzen. Ich werde später im Zusammenhang mit neu entworfenen Sicherheitssystemen und Katastrophenabwehrplänen wie auch der Frage einer erweiterten externen Unternehmenskommunikation über Sicherheitsfragen auf diese Aspekte eingehen. Das neu erfundene Sicherheitsmanagement werde ich anhand von Un- und Störfällen und der veränderten Einstellung der Unternehmen zu ihrer Risikoproduktion prüfen. Auch in der inner-unternehmerischen Wahrnehmung und Meinungsbildung bei Henkel infolge des Fahrtmann-Erlasses wird eine gewisse Hektik ersichtlich, wobei Henkel nicht wie Bayer mit größeren Problemen zu rechnen hatte. Es ging nun nicht mehr um eine Schwarze Liste, die allein Einleite- oder Emissionsbestimmungen gewisser Stoffe oder Stoffverbindungen regelte. Es ging um den Entzug der Erlaubnis, diese Stoffe anzuwenden oder, abgeschwächter, es waren fortan höchste Sicherheitsbestimmungen im Umgang mit diesen Stoffen gefordert. An die leitenden Angestellten wurde der Inhalt des Erlasses kommuniziert, wobei keine Gegenargumentation zu finden war. Vielmehr erkennen wir bei Henkel eine gewisse Erleichterung, da das Unternehmen um die bevorstehenden Schwierigkeiten mit den Gewerbeaufsichtsämtern wusste und bislang noch keine schwerwiegenden Folgen für seine Produktionen zu erwarten hatte: „Durch einen mit hoher Dringlichkeit ausgestatten Erlass hat das Ministerium […] die Staatlichen Gewerbeaufsichtsämter verpflichtet, anhand einer Liste von 721 ‚hoch toxischen Stoffen‘ in der Industrie zu erkunden, ob sich ein Fall von ‚Seveso‘ in der Bundesrepublik ereignen könne. Die Überprüfung von Henkel-Holthausen ergab nur einen Stoff, der zwar in der Liste enthalten war, dort aber wegen fehlerhaften Daten zu unrecht aufgeführt war.“619
Wie schon mehrfach angeklungen ist, verfügte Henkel nicht über solche Gefahrenpotenziale wie Bayer. Der angesprochene Stoff, der zu Besorgnis bei Henkel führte, war die chemische Verbindung Chlormethyl, die zur Herstellung von Klebstoffen gebraucht und im Unternehmen schon immer als Risikoherd erster Güte gegolten hatte.620 Im Anschluss an das Seveso-Unglück und den Fahrtmann-Erlass jedoch wurden Katastrophenschutzübungen explizit auf Unfälle mit diesem Stoff ausgerichtet. Der Grund liegt nahe, wie dies der Leiter der Werksfeuerwehr von Henkel deutlich machte: Da sich der Stoff zu giftigen Wolken verflüchtigen und damit „großen gesundheitlichen Schaden und Umweltschäden“ verursachen könne,
617 Aktennotiz von Dr. Weber / LE-AWALU vom 3. November 1976 betreffend Fahrtmann-Erlaß vom 20. September 1976, in: BAL 388/247 Werksverwaltung Leverkusen, Gespräche mit Politikern: Hansmeyer, Bundeskanzler, Maihofer ab 1975, Fortsetzung. 618 Exemplarisch Aktenotiz von Dr. Weber / LE-AWALU über eine Besprechung zum Thema Sicherheit von und in Chemiebetrieben am 07.04.1978 vom 14. April 1978, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1978–1979. 619 Intern 1/1977 Mitteilung für Führungskräfte vom 02. März 1977, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Blaue Mitteilungen/Intern. 620 Vgl. Jahresrückblick der Werksfeuerwehr für 1978 vom 19. Dezember 1978, S. 1, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Akte Abt. 635 Feuerwehr / Brand- und Hilfeleistungen.
3.3 Der Schreck sitzt tief
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müsse noch „mehr als früher achtsam mit Chlormethyl umgegangen werden, da nach dem Zwischenfall von Seveso alle Augen auf die Chemie“ gerichtet seien.621 Die verordnete Sicherheit durch den formal-institutionellen Kontext richtete sich auch in den Folgejahren nicht mehr allein auf den grundsätzlichen Schutz der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt vor Immissionen oder Gewässerverschmutzung. Hinsichtlich der Risikoproduktion blieben weiterhin Un- und Störfälle und ihre Folgen im Fokus des Gesetzgebers. Präventive Maßnahmen mit dem Ziel, Vorfälle wie den Dioxin-Störfall in Seveso zu verhindern, hieß nach diesem externen Schock die Devise. Risikominimierung und -abschätzung von Unfällen mit Außenwirkung wurden durch formale wie informelle Institutionen außerhalb und dann auch innerhalb der Unternehmen verlangt. Dies zeigt sich nicht zuletzt an einer neuerlichen Ausweitung von Katastrophenschutzgesetzen der Länder, die nun explizit den Ernstfall ausgehend von Chemieunglücken berücksichtigten.622 Innerhalb der Chemiewerke wurden diese Überlegungen sehr schnell in kooperativer Haltung gegenüber dem institutionellen Kontext umgesetzt. Zwar war man sich beim VCI im Jahre 1978 einig, „in Richtung Behörde deutlich zu machen, dass quantitative Risikoanalysen, wie sie für die Raumfahrt entwickelt und für Kernkraftwerke gefordert werden, für die auf jahrzehntelanger Erfahrung beruhenden Chemietechnik nicht erforderlich sind.“623 Faktisch geschah aber genau dies in den folgenden Jahren bzw. es wurde von nun an darauf hin gearbeitet. Die Verbindung von Umweltschutz und Sicherheit war endgültig in der Anlagenplanung sowie neuartigen, allumfassenden Sicherheitskonzepten der Werke angekommen. Bei Bayer trat etwa seit Beginn des Jahres 1978 ein Koordinationsausschuss „Umwelt und Sicherheit“ zusammen, der die Aufgabe hatte, „Checklisten zur sicherheitstechnischen Überprüfung neuer Verfahren und Anlagen“ aufzustellen und entsprechende Richtlinien – also kodifizierte Spielregeln – für den Ernstfall bzw. seine Verhinderung zu erarbeiten.624 In Zusammenarbeit mit dem VCI und anderen großen Chemiewerken ging es dem Ausschuss auch darum, ein „Sicherheitskonzept der Chemie zu erstellen, aus dem hervorgeht, wie in der chemischen Industrie das Produktionsrisiko vertretbar gering gehalten wird.“625 Es zeigt sich hier ganz deutlich das veränderte Selbstverständnis der Unternehmen und vor allem ihre Stellung dem institutionellen Kontext gegenüber: Nicht mehr eine abwehrende Haltung gegen jedwede Art der Veränderung ist zu beobachten, sondern vielmehr die offene Thematisierung der Risikoproblematik und überdies eine weitgehend kooperative Haltung und konstruktive Mitarbeit. Die veralteten Katastrophenabwehrpläne, die seit 621 Vgl. ebd. S. 3. 622 Vgl. Henriette Sattler: Gefahrenabwehr im Katastrophenfall, Schriften zum öffentlichen Recht, Bd. 1115, Berlin 2008, S. 72f. 623 Prof. Weise an Dr. Weber betreffend Koordinierungsgespräch „Umwelt und Sicherheit“ vom 23. Mai 1978, in: 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1978–1979. 624 Vgl. ebd. 625 Vgl. ebd. Ebenso Aktennotiz von Dr. Weber / LE-AWALU betreffend Sicherheit von und in Chemiebetrieben vom 14. April 1978, in: 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und AbluftLabor 1978–1979. Sehr deutlich kann also gezeigt werden, dass die Ausarbeitung von nachhaltigen Sicherheitskonzepten erst in der Folge des Dioxinunglücks von Seveso zu festen Bestandteilen des institutionellen Arrangements von Bayer wurden.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
den beginnenden 1970er Jahren existierten, wurden mit großer Akribie aktualisiert. Systematisch wurden die Werke nach Gefahrenherden durchkämmt, oder besser: Das seit langem existierende Gefahrenpotenzial wurde nun anerkannt, und es wurde akzeptiert, dass es unbeherrschbare Restrisiken gab, die so gering wie möglich zu sein hatten bzw. die bezogen auf Un- und Störfälle vollends nicht mehr legitim waren. Verwendete Stoffe wurden detailliert erfasst und auf ihre Risikopotenziale hin bewertet; Produktionsstätten katastriert und ebenfalls im Sinne einer vorsorglichen Risikoabwehr nach Art der Produktionen eingestuft: „Der Abschnitt ‚Gefahrenpunkte‘ im Katastrophenabwehrplan […] bedarf einer Aktualisierung. Die Auflistung der Gebäude erfolgt nach Sparten, Zentralbereichen und bei der Werksverwaltung nach Abteilungen […]. Mengenaufstellungen der Gefahrenpunkte in den einzelnen Gebäuden erfolgen auf einheitlichen Formularen […]. Produkte sollen nach ihrer Hauptgefahrenart (Brand, toxische Gase […]) eingestuft werden.“626 Der einzige Streitpunkt zwischen Bayer und dem institutionellen Kontext am Ende der 1970er Jahre bestand noch in der eigentlichen Störfallanalyse – und dieser Terminus wurde in den Unternehmen nun auch explizit gebraucht –, die man von Seiten des Unternehmens als überflüssig ansah, da dann in „Lapidarfällen eine Störfallanalyse gefordert werden würde.“627 Doch auch diese Machtprobe ging zugunsten der abermals veränderten Gefahrenzuschreibungen und damit der Gefahrenabwehr nach den Vorstellungen des Immissionsschutzes aus. Es bedurfte hierzu eines letzten Schritts, der in der Klassifizierung und Definition dessen lag, was ein Störfall ist. Ab Ende der 1970er Jahre wurde an einer Durchführungsverordnung zum Bundesimmissionsschutzgesetz gearbeitet, die sich schließlich als so genannte Störfallverordnung in die Geschichte des deutschen Immissionsschutzes einreihte und in den 1990er Jahren zusammen mit europäischen Gesetzen die so genannten „Seveso-Richtlinien“ im deutschen Umwelt- und Immissionsschutzrecht darstellte. Sie trat am ersten September 1980 in Kraft und fand Anwendung für „genehmigungsbedürftige Anlagen“, in denen bestimmte Stoffe, die in einer an den Fahrtmann-Erlass angelehnten Liste „im bestimmungsgemäßen Betrieb vorhanden sind oder bei einer Störung des bestimmungsgemäßen Betriebs entstehen können.“628 626 Vertrauliches Schreiben von Herrn Kaebe / Werkleiterbüro vom 16. Januar 1978 an Sparten, Zentralbereiche, AWALU, Chefingenieurbereich und die Geschäftsleitung der Agfa-Gevaert AG und der Kronos Titan GmbH, in: BAL 388/242 Werksverwaltung Leverkusen, Gefahrenpunkte im Katastrophenabwehrplan 1978. Hierzu auch Schreiben von Herrn Beekhuizen / LE AWALU an Dr. Weber betreffend hochtoxische Stoffe / Störfall-VO vom 17. April 1980, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1979–1982. Auch hier wird deutlich, dass es zwar kleinere Erfolge bei der Mitgestaltung der Störfallverordnung gab, diese aber nicht annährend den Vorstellungen der chemischen Industrie entsprachen, weswegen auch nach Erlass der Verordnung die Einsicht in die Chancenlosigkeit des Widerspruchs und die endgültige Akzeptanz der Forderungen des institutionellen Immissionsschutzes bei Bayer Einzug hielt. 627 Vgl. Aktennotiz von Dr. Weber / LE-AWALU für Dir. Broja betreffend Besprechung über Sicherheit von Chemiebetrieben vom 27. April 1978, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1978–1979. 628 Vgl. Zwölfte Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (StörfallVerordnung) – 12. BImSchV vom 27. Juni 1980, Bundesgesetzblatt, Jg. 1980 Teil I, Nr. 32, S. 772f – Tag der Ausgabe: Bonn, den 05. Juli 1980, § 1. Die Stoffe, die hier angeführt wurden und
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Gezielt richtete das neue Gesetz seinen Fokus nun auf die Definition von Störfällen und ihre Abwehr; dabei wird festgestellt, dass ein Störfall immer ein Ereignis ist, das die Werksumwelt in Mitleidenschaft zieht, und dass dagegen vorkehrende Maßnahmen zu treffen sind: „Störfall […] ist eine Störung des bestimmungsgemäßen Betriebs, durch die ein Stoff […] frei wird, entsteht, in Brand gerät oder explodiert und eine Gemeingefahr hervorgerufen wird. Gemeingefahr […] ist eine Gefahr für Leben oder hinsichtlich Gesundheitsbeeinträchtigungen von Menschen, die nicht zum Bedienungspersonal des Anlagenteils gehören, für die Gesundheit einer großen Zahl von Menschen, für Sachen […], die sich außerhalb der Anlage befinden, falls durch eine Veränderung ihres Bestandes oder ihrer Nutzbarkeit das Gemeinwohl beeinträchtigt ist. Stand der Sicherheitstechnik […] ist der Entwicklungsstand fortschrittlicher Verfahren, Einrichtungen und Betriebswesen, der die praktische Eignung einer Maßnahme zur Verhinderung von Störfällen […] gesichert erscheinen lässt. Bei der Bestimmung des Standards der Sicherheitstechnik sind insbesondere vergleichbare Verfahren, Einrichtungen oder Betriebsweisen heranzuziehen, die mit Erfolg im Betrieb erprobt worden sind. Der Betreiber einer Anlage hat die nach Art und Ausmaß der möglichen Gefahren erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, um Störfälle zu verhindern […], um die Auswirkungen von Störfällen so gering wie möglich zu halten. Der Betreiber einer Anlage hat zur Erfüllung der sich […] ergebenden Pflichten insbesondere die Anlage so auszulegen, daß sie auch bei einer Störung des bestimmungsgemäßen Betriebs zu erwartenden Beanspruchungen genügt, […] Maßnahmen zu treffen, damit Brände und Explosionen innerhalb der Anlage vermieden werden, […] die Anlage mit ausreichenden Warn-, Alarm- und Sicherheitseinrichtungen auszurüsten […]. Der Betreiber einer Anlage hat zur Erfüllung der sich […] ergebenden Pflichten, Alarm- und Gefahrenabwehrpläne aufzustellen und fortzuschreiben, die mit der örtlichen Katastrophenschutz- und Gefahrenabwehrplanung im Einklang stehen. Der Betreiber einer Anlage hat Sicherheitsanalysen anzufertigen […].“629
Mit der Störfallverordnung und den neuen Katastrophenschutzgesetzgebungen standen nicht mehr allgemeine Immissionen im Mittelpunkt verordneter Sicherheit für die natürliche und lebensweltliche Umwelt. Nachdem „Seveso“ die zuvor immer verleugnete Möglichkeit eines Störfalls mit schlimmen Auswirkungen bewiesen hatte, standen nun Emissionen hochtoxischer Stoffe im Mittelpunkt der institutionellen Absichten zu ihrer Verbannung sowie der neuerlich verstärkten öffentlichen Anklage. Damit sahen sich Unternehmen der chemischen Industrie innerhalb der 1970er Jahre zum wiederholten Male neuem institutionellem Druck und öffentlicher Anfeindung gegenüber. Nach wie vor wurde dieser per Gesetz oder Protest ausgelöste Druck antizipiert. Erstaunlich sind dabei jedoch zwei Aspekte: nun höchster Sicherheitsmaßnahmen unterworfen wurden, waren Chemikalien, die schon immer in den chemischen Produktionen Verwendung gefunden hatten oder entstanden waren; etwa Chlor oder Phosgen. Hierzu Anhang II, Stoffliste der Störfallverordnung. Der gesetzliche Umweltschutz auf Stoffe bezogen erfuhr durch das so genannte Chemikaliengesetz 1980 abermals eine Erweiterung: „Zweck des Gesetzes ist es […], den Menschen und die Umwelt vor schädlichen Einwirkungen gefährlicher Stoffe zu schützen.“ Gesetzt zum Schutz vor gefährlichen Stoffen (Chemikaliengesetz – ChemG) vom 16. September 1980, Bundesgesetzblatt, Jg. 1980 Teil I, Nr. 58, S. 1718 – Tag der Ausgabe: Bonn, den 25. September 1980, § 1. 629 Vgl. Störfall-Verordnung, §§ 1–7.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
Wie oben angedeutet, wehrten sich die Unternehmen nicht mehr, wie dies wenige Jahre zuvor noch der Fall gewesen wäre. Und viel wichtiger erscheint mir an dieser Stelle, dass Bayer und Henkel in sehr kurzer Zeit eine flexible Umwelt- und Verantwortungspolitik entwickelt hatten, die selbst durch diese neuen Ansprüche nicht erschüttert werden konnte. Direkte Folgen neuer und abermals apokalyptischer Katastrophenvorstellungen, die durch Chemieunfälle ausgelöst wurden, waren bei Bayer und Henkel werks- bzw. konzernweit ausgearbeitete Sicherheitssysteme, welche die Werksumwelten strategisch und operativ-technisch schützten und mittels der externen Unternehmenskommunikation angepriesen wurden. Nachdem die Notwendigkeit eines Risikomanagements gegen Emissionen und Gewässerverunreinigungen allgemein bewusst geworden war, hatte sich mit dem Katastrophenmanagement ein neuer Stein des Sicherheitsmanagements für die natürliche und lebensweltliche Umwelt in das Mosaik unternehmenspolitischen Umweltschutzes eingefügt. Die allumfassende Thematisierung des Risikos, etwa auch in der neuen Sicht, der Stand der Technik sei nun der Stand der Sicherheitstechnik, schlug sich ab September 1980 bei Bayer im so genannten „Werksweit organisierten Sicherheitssystem (WOS)“ nieder.630 Das endgültige Konzept des WOS darf als straff durch organisierte Verschiebung des institutionellen Arrangements im Bezug auf die Risikoabwehr und die Störfallbewältigung gesehen werden. Generalstabsmäßig wurden Prozess-, Verhaltens- und Meldeabläufe im Ernstfall vorgegeben: „Es sind alle Aspekte zu betrachten und zu diskutieren, die aus sicherheitstechnischen- und sicherheitsorganisatorischen Gesichtspunkten […] von Bedeutungen sind. Diese Gesichtspunkte sind entsprechend zu bewerten und zu einem Konzept zusammenzuführen.“631 Zudem wurde im Kontext des WOS faktisch erstmals ein Krisenstab gebildet, der in der Folge von Störfällen zusammentrat. Dieser „Fünferkreis“ bestand aus Vertretern von AWALU, der Rechtsabteilung, der Produktion, der Arbeitssicherheit und dem Werksleiterbüro als Bindeglied zur Werksumwelt.632 Auch dies zeigt, dass man sich der verheerenden Auswirkungen nicht nur in materieller Hinsicht bewusst war; ein umfassendes Katastrophen- und in seinem Anschluss auch ein Krisenmanagement mussten aufgrund des institutionellen und kulturellen Drucks implementiert werden. Darüber gab es keine Verhandlungsmöglichkeiten mehr. Das WOS lässt sich am besten graphisch darstellen, und damit lässt sich auch die völlig neue Ausrichtung des Risiko-, Krisen- und Störfallmanagements erläutern:
630 Vgl. Protokoll der 1. Sitzung des AK (Arbeitskreis, T.J) „WOS LEV“ vom 08. September 1980, in: BAL 388/237 Werksverwaltung Leverkusen, Arbeitskreis WOS. 631 Schreiben von Herrn Tombült an Dr. Adrio et.al. betreffend Arbeitskreis „Werksweit organisiertes Sicherheitssystem“ vom 16. Februar 1981, hier Anlage I: Gesamtkonzept, in: BAL 388/237 Werksverwaltung Leverkusen, Arbeitskreis WOS. 632 Vgl. Schreiben von Herrn Tombült an Dr. Adrio et.al. betreffend Arbeitskreis „Werksweit organisiertes Sicherheitssystem“ vom 16. Februar 1981, hier Anlage II: Erläuterung zum Schema „Meldungsablauf bei Störfällen“, in: BAL 388/237 Werksverwaltung Leverkusen, Arbeitskreis WOS.
267
3.3 Der Schreck sitzt tief
n Title
hrift
Störfall
Werkfeuerwehr
Feuerwehr
Werksleiterbüro AWALU
Öffentlichkeitsarbeit
Presse
Recht
Vorstand
Produktionsabteilung
Mitarbeiterinfo
Arbeitssicherheit
Behörden
AWALU
Messwagen Werkschutz Polizei
Abb. 12: Werksweit organisiertes Sicherheitssystem (WOS) der Bayer AG633
JJMMTT_Berichtstitel_Kürzel
Die Darstellung zeigt, dass alle Unternehmensbereiche in das Katastrophen- bzw. Störfall-Risikomanagement integriert waren. Im nicht länger legitimen Störfall kam nun die Komponente der Nachsorge für die natürliche und lebensweltliche Werksumwelt hinzu: Ein explizites Krisenmanagement sollte die Werksumwelt vor den Auswirkungen eines Störfalls schützen, wozu auch eine weitere Öffnung durch kommunikative Mittel nötig wurde. Hierauf werde ich weiter unten noch eingehen. Es wurde seit dem Seveso-Unglück jedoch noch eine weitere Öffnung der Unternehmen in Richtung der Behörden notwenig. So gab Bayer beispielsweise ohne Widerworte bestehende Alarm- und Katastrophenpläne zur Durchsicht und Überarbeitung an das Staatliche Gewerbeaufsichtsamt weiter, nachdem dieses „aus gegebenem Anlaß“ darum gebeten hatte.634 633 Vereinfachte Darstellung des werksweit organisierten Sicherheitssystem der Bayer AG für das Werk Leverkusen, aus: Schreiben von Herrn Tombült an Dr. Adrio et.al betreffend Arbeitskreis „Werksweit organisiertes Sicherheitssystem“ vom 16. Februar 1981, hier Anlage II: Erläuterung zum Schema „Meldungsablauf bei Störfällen“, in: BAL 388/237 Werksverwaltung Leverkusen, Arbeitskreis WOS. 634 Vgl. Staatliches Gewerbeaufsichtsamt Köln an die Bayer AG betreffend Alarm- und Katastrophenschutzplan vom 20. August 1976, in: BAL 388/79 Werksverwaltung Leverkusen, Werkschutz 1973–1983. Hier auch die wohlwollende Antwort, vgl. Bayer AG / Werkverwaltung an
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
Auch bei Henkel unterschieden sich nun die Pläne des Katastrophenschutzes signifikant von früheren Alarmplänen. Der betriebliche Katastrophenschutz wurde in einem „Sonderschutzplan Firma Henkel“ neu organisiert. Im Anschluss kam es in konstruktiver und kooperativer Zusammenarbeit mit der Stadt Düsseldorf zu einer Vereinbarung zwischen Stadt und Werk, um den direkt an das Henkelwerk angrenzenden Stadtteil Holthausen besser schützen zu können. Seit Januar 1981 wurden im Zusammenhang mit dem Sonderschutzplan diskutiert, welche Maßnahmen bei „einem Störfall nach außen“ sofort ergriffen werden könnten; faktisch handelt es sich um eine Störfallanalyse, da hierfür auch ein neues innerbetriebliches Datenblatt – solche Datenblätter existiertet auch bei Bayer – konzipiert wurde. Pedantisch musste dort notiert werden, ob es sich um einen „Störfall mit oder ohne Außenwirkung“ handelte, um welche „Art des Störfalls“ im Sinne von „Leckage, Brand oder Explosion“ es sich handelte sowie welche Wirkung nach außen, etwa in der Gestalt von „Geruchsbelästigungen oder Gefahren durch Explosionen oder Gase“, vermutet werde.635 Explizit wurde der Sonderschutzplan auf die risikoreichste Anlage im Werk, die Chlormethyl-Anlage, ausgerichtet. Pate stand ihm eine auf dem Wissenstransfer innerhalb der chemischen Industrie über das Katastrophenmanagement beruhende Vereinbarung von Bayer mit der Stadt Leverkusen. Folgendes wurde bei Henkel über den Einsatz von Kräften und die zu treffenden Maßnahmen bei einem Störfall in der Chlormethyl-Anlage vorbereitet: Im Einvernehmen mit der Stadt Düsseldorf […] stimmten [die Besprechungsteilnehmer] überein, daß die Werkfeuerwehr Henkel bzw. der Werkschutz als erste Institution in der Läge wären, die Bevölkerung zu warnen und die Zufahrtswege […] abzusperren. Die verschiedenen Möglichkeiten der Warnung (Lautsprecherdurchsagen, Sirenen) wurden ausdiskutiert. Herr Steuer regte an, dem geruchlosen Chlormethyl im Bedarfsfall (Austritt) Mercaptan beizumischen (Sprengkapseln), damit die Bevölkerung durch die dadurch hervorgerufene Geruchsbelästigung die Warnungen ernst nimmt und nicht denkt, es handle sich um keine akute Gefährdung.636
Die aus diesen Überlegungen des Hauses Henkel entstandene Übereinkunft mit der Stadt Düsseldorf glich dem WOS bei Bayer deutlich. Meldewege, Kompetenzen der Einsatzkräfte, Warnungs- und Evakuierungsmaßnahmen waren minutiös erarbeitet und standardisiert. Der Schutz der Bevölkerung – oder im Allgemeinen: der Werksperipherie – stand im Mittelpunkt des Sicherheitsmanagements der HenkelAnlage. Die akute Gefährdung wurde nicht mehr verhehlt, im Gegenteil: Die Menschen in Holthausen sollten gar mit lauten und übel riechenden Sprengkapseln auf die Gefahr aufmerksam gemacht werden; alte Geruchsbelästigungen wurden also als eine Art Warnsystem gebraucht. Mit welcher Akribie auch im Düsseldorfer Süden an neuen Katastrophenschutzmaßnahmen gearbeitet wurde, zeigt die folgende das Staatliche Gewerbeaufsichtsamt Köln betreffend Katastrophenabwehrplan vom 17. September 1976, in: 388/79 Werksverwaltung Leverkusen, Werkschutz 1973–1983. 635 Vgl. Aktennotiz über die Besprechung zum Thema Sonderschutzplan Firma Henkel vom 29. Januar 1981, hier Anlage Meldeformular „Störfall“ der Firma Henkel KGaA, Werk Holthausen, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Akte Katastrophenschutz. 636 Aktennotiz über die Besprechung zum Thema Sonderschutzplan Firma Henkel vom 29. Januar 1981, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Akte Katastrophenschutz.
3.3 Der Schreck sitzt tief
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Vereinbarung mit der Kommune, in der nicht mehr in erster Linie das Werk als schützenswert verstanden wird, sondern die Menschen und ihre Umwelt im Mittelpunkt stehen: Diese Vereinbarung gilt hinsichtlich […] gemeinsam durchzuführender/umfassender Katastrophenschutzmaßnahmen bei Störfällen mit Gasen und Dämpfen, insbesondere bei Austritt von Methylohlorid […] im Werk Holthausen dar Henkel KGaA […]. Für die einsatztaktischen Maßnahmen benutzen alle beteiligten Kräfte den amtlichen Stadtplan der Stadt Düsseldorf […] und die im Rahmen dieser Vereinbarung festgelegten Einwirkflächen sowie die Windrose für die Windrichtungsangaben. Sofort nach Bekanntwerden eines Störfalles […] ist von der Werkfeuerwehr nach Meldeformular „Störfall“ die Leitstelle der Feuerwehr zu informieren. Hierbei hat die schnelle Information über das Ereignis, insbesondere bei Vorabmeldung […], Vorrang vor einer umfassenden Unterrichtung. […] Bei Störfällen […] tritt die Einsatzleitung Henkel KGaA, Werk Holthausen, in der „StörfallLeitstelle“ zusammen. Hier sind alle für die Gefahrenabwehr und für die Information der Öffentlichkeit erforderlichen Experten zusammengefaßt und mit allen erforderlichen Kommunikationsmitteln […] ausgestattet. Aufgrund der von der Leitstelle Werkfeuerwehr und/oder Wetterzentrale […] ermittelten Windrichtung und Windgeschwindigkeit wird der Meßwagen der Henkel KGaA […] in das betroffene Gebiet außerhalb des Werkes zur Messung – und wenn erforderlich Warnung – entsandt. […] Die Polizei trifft alle erforderlichen Maßnahmen in eigener Zuständigkeit. Sie erhält von allen Dienstanweisungen und Anlagen zu dieser Vereinbarung Kenntnis. […] Sofern bei Störfällen eine Warnung der Bevölkerung über Rundfunk und Fernsehen erforderlich wird, ist dies grundsätzlich Aufgabe des HVB (Hauptverwaltungsbeamter).“637
Wie im Falle von Bayer entstand auch hier also ein Schutz-Instrumentarium für die direkte Werksumgebung. Ebenfalls fanden bei Henkel im Kontext des Katastrophenschutzes aufwendige Übungen statt: Anhand von „Drehbüchern“ wurden Szenarien erprobt, wobei die umliegende Bevölkerung immer eingebunden wurde – sei es durch Vorabinformationen, um keine Verängstigung hervorzurufen, als Statisten oder als neugierige Zuschauer. Dabei ging es vor allem darum, Initiative zu zeigen: „Die gesamte Bevölkerung ist aufgerufen, die Umweltprobleme anzugehen! Das popularistische Fernsehen ist es, das eine Horrorshow nach der anderen bringt. Es bringt aber keine Aufklärung, wie man die Probleme wirklich angehen kann.“638 Auch wenn es bei Henkel nie zu einem größeren Zwischenfall mit dem Stoff Methylchlorid gekommen war, weisen Berichte der Feuerwehr auf eine strenge Befolgung der getroffenen Vereinbarungen selbst bei kleinsten Austritten des Stoffes 637 Vereinbarung zu den Vorabmeldungen der Störfallmeldung durch die Firma Henkel KGaA zwischen der Stadt Düsseldorf – als örtlich zuständige Katastrophenschutzbehörde – und der Henkel KGaA vom 15. April 1981, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Akte Katastrophenschutz. 638 „Liebe Leser“, in: Henkel Blick, November 1984, S. 2. In der Werkzeitschrift „Henkel Blick“ finden sich in der Folge solcher Übungen unter anderem auch die Drehbücher mitsamt der Manöverkritik. Etwa „Liebe Leser“, in Henkel Blick, Mai 1985, S. 2.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
hin.639 Daher sah es Henkel als seine Verantwortung an, die potenziellen Probleme und die hieraus resultierenden Gefahren beim Austreten dieses Stoffes wiederholt zu proben, um so den ‚popularistischen‘ Strömungen dem Unternehmen gegenüber Einhalt zu gebieten. Nachdem ich die institutionellen Folgenden von „Seveso“ in ihrer Interdependenz mit neuen, gegen den GAU gerichteten Sinnmustern und das zugehörige neue Selbstverständnis der Unternehmen dargestellt habe, werde ich nun wieder dazu übergehen, dieses Selbstverständnis und die damit korrespondierenden Einsichten innerhalb der Werke darzustellen. Dabei werde ich an neuralgischen Punkten die abermals stark zugenommenen Proteste gegenüber der chemischen Industrie von Seiten des organisationalen Feldes einfließen lassen. Noch tief greifender als bisher werde ich zeigen, dass die Unternehmen durchaus im Innern Lerneffekte erzielten, in denen sie auch einen Sinn erkannten. Ich werde die inneren Handlungslogiken und das interne institutionelle Gefüge in der Folge von Störfällen befragen; dabei kommt es mir weiterhin darauf an, eine sich manifestierende Sicherheitskultur während der 1980er Jahre zu eruieren. 3.3.3 Abschalten! Oder doch nicht abschalten? Neue Einstellungen gegenüber dem organisationalen Feld und organisatorisches Lernen nach „Seveso“ Ich werde in diesem abschließenden Kapitel die wichtigsten Veränderungen des strategischen, operativen und kommunikativen Umgangs mit produktionsinduzierten Risiken durch Bayer und Henkel nach dem Unglück von Seveso analysieren. Dabei gehe ich von einem weiter forcierten und nun beschleunigten Lernprozess der Unternehmen aus. Im erweiterten kulturellen Paradigma der Unternehmensgeschichte und damit vor dem Hintergrund eines Konzept des Unternehmens als offenes System im gesellschaftlichen (Werte-)Wandel kann Organisationslernen mit Meinolf Dirkes, Lutz Marz und Christian Kleinschmidt wie folgt beschrieben werden: „Bei diesem Lernen wird die Knechtschaft, unter der das Programm-Lernen steht, Zug um Zug aufgebrochen, weil es sich systematisch auf Vergangenheitserfahrungen stützt. Jeder neue Kontext wird hier zunächst so behandelt, als sei er eine Variante bereits erlernter Kontexte. Gibt es keine Kontextbrüche oder -sprünge, wird sich diese Grundannahme immer wieder in vielerlei Hinsicht bestätigen, aber auch stets in einer ganzen Reihe von Punkten als korrekturbedürftig erweisen. Während die Bestätigungen zu einer Stabilisierung des Verhaltensrepertoires führen, ermöglichen die Korrekturen seine Erweiterung und Modifizierung. In dem Maße, wie so im Laufe der Zeit Schritt um Schritt das ursprüngliche Verhaltensrepertoire aus- und umgebaut wird, lockert sich zwar die Repertoireabhängigkeit, zugleich erhöht sich jedoch die Vergangenheitsabhängigkeit.“640
639 Vgl. Meldung der Werkfeuerwehr Henkel laut Meldeformular „Störfall“ vom 18. Mai 1985, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Akte Abt. 635 Feuerwehr / Brand- und Hilfeleistungen. 640 Meinolf Dierkes / Lutz Marz: Lernkonventionen und Leitbilder. Zum Organisationslernen in Krisen. Discussion Paper FS-II 98–101 des Wissenschaftszentrums Berlin, Berlin, 1998. URL: http://bibliothek.wz-berlin.de/pdf/1998/ii98–101.pdf (17.01.2013).
3.3 Der Schreck sitzt tief
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Es geht nun um die Fragen, wie die ‚Vergangenheitserfahrung‘ der 1970er Jahre sowie das Dioxinunglück von Seveso bewältigt wurden bzw. wie diese beiden Erfahrungen kompatibel gemacht wurden und wie der Kontextbruch die Grundannahmen des bis dahin geltenden Risikohandelns der betrachteten Unternehmen veränderte. Dem werde ich unter der folgenden Prämisse organisationaler Lernprozesse auf den Grund gehen: „Neues Wissen, neue Denk- und Handlungsweisen werden im Unternehmen umgesetzt, um eine Verbesserung der organisationalen Aufgaben und Herausforderungen auf veränderte Umweltbedingungen gewährleisten zu können.“641 Meine Analyse soll nach der Darstellung des erneut veränderten und rigiden institutionellen Kontexts direkt die Auswirkungen einer radikalisierten kulturellen Rahmung auf das Unternehmenshandeln einschließen. Ich werde fragen, ob es den Unternehmen angesichts ihrer nachweisbar vollzogenen Lernprozesse bis zur Mitte der 1980er Jahre gelang, eine Reintegration als legitimer gesellschaftlicher Akteur und Risikoproduzent zu erreichen. Nachdem die Unternehmen seit den frühen 1970er Jahren einen offeneren Dialog mit dem organisationalen Feld führten, wurde dieser Dialog nach „Seveso“ noch einmal intensiviert und auf das Thema Sicherheit von Störfällen zugeschnitten. Die ihnen entgegen gebrachte Anfeindung darf auch hier als ursächlich angesehen werden. Als neu darf aber betrachtet werden, dass die Anstrengungen, die Wogen weiter zu glätten, nun im Sinne unternehmerischer Verantwortung und einer sehr offenen Unternehmenspolitik geschahen, weswegen zeittypisch hierfür spezielle Kommissionen und Arbeitskreise gebildet oder in Richtung dieser Thematik in ihren Aufgaben und Kompetenzen weiter entwickelt wurden: „Neben dem Für und Wider der Information von Öffentlichkeit und Behörden über die Vorstellungen der Chemischen Industrie zu Sicherheitsfragen wurde diskutiert, wie im Bereich von Bayer Unterlagen zu diesem Thema zusammengetragen werden könnten.“642 Ganz grundsätzlich wurden von nun an mit einer Überzeugung, wie sie wenige Jahre zuvor noch nicht vorhanden gewesen sein dürfte, darüber beraten, dass „Fragen aus der Öffentlichkeit […] für die Sicherheitsbetrachtung nicht außer acht gelassen werden“ dürften.643 Nach einer europaweiten Presseanalyse zur Berichterstattung in der Folge von Chemieunfällen wurden Fragen aufgelistet, die man der Öffentlichkeit zu beantworten habe: „Wäre so etwas bei uns auch möglich?, Bringt die Chemie Gefahr?, Wann erfolgt eine bessere Kontrolle von außen? und Wie steht es mit dem Katastrophenschutz?“.644 641 Christian Kleinschmidt: Neue Institutionenökonomik und Organisationslernen. Zur Kompatibilität ökonomischer und kulturalistischer Ansätze der Unternehmensgeschichtsschreibung, in: Karl-Peter Ellerbrock / Clemens Wischermann (Hg.): Herausforderung, Dortmund 2004, S. 256–272, hier S. 264–265. 642 Aktennotiz von LE-AWALU betreffend Sicherheit von und in Chemiebetrieben / Besprechung am 07.04.1978 vom 14. April 1978, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1978–1979. 643 Aktennotiz von LE-AWALU betreffend Sicherheit von und in Chemiebetrieben / Besprechung am 08.05.1978 vom 13. Juni 1978, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1978–1979. 644 Ebd.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
Diese Fragen und die damit verbundene Dokumentation der produktionsinduzierten Risiken für die Öffentlichkeit wurden etwa bei Bayer ab Juli 1978 in einem „Arbeitskreis Umweltweltschutz-Informationen“ organisiert und gehandhabt: „Zur Koordinierung unserer Aktivitäten im Rahmen von Öffentlichkeitsarbeit und Information zum Umweltschutz ist mehrfach die Einrichtung eines Arbeitskreises diskutiert worden. Damit soll eine laufende Abstimmung aller mit solchen Maßnahmen befaßten Stellen des Unternehmens gewährleistet werden.“645 Er entwickelte sich in den folgenden Jahren zu einer festen und angesehenen Institutionen bei Bayer, gab Publikationen zum Thema „Umweltschutz- und Sicherheit“ heraus, organisierte spezielle „Sicherheitsveranstaltungen für die interessierte Bürgerschaft“ in Bayer-Werken und unterstützte Lehrer bei der Unterrichtsplanung zum Thema Umweltschutz und Sicherheit. 646 Ähnliches finden wir bei Henkel in der bereits bestehenden Umwelt- und Verbraucherschutzkommission sowie in der Konstituierung der so genannten Holthausen-Kommission im September 1977. Sehr deutlich wird hier die ins Glaubenssystem von Henkel integrierte Verbindung von Umweltschutz, Sicherheit und Beziehungen zur Werksumwelt mit der Frage nach effizientem Wirtschaften: „Die Holthausen-Kommission […] hat die Aufgabe, auf Einrichtungen und Abläufe in Holthausen nach dem Grundsatz des größten Gesamtnutzens bzw. der geringstmöglichen Konflikte, Reibungen oder Aufwendungen einzuwirken. […] Sie wird deshalb externe Entwicklungen ([…], Öffentlichkeit und Umwelt) […] beobachten und gegebenenfalls gemeinsam mit den hierfür Verantwortlichen nach optimalen Lösungen für Holthausen suchen. Erforderlichenfalls wird sie die ZGF auf Fehlentwicklungen hinweisen. Sie soll durch ihre Arbeit gewährleisten, daß die von Öffentlichkeit und Behörden gestellten Anforderungen mit einem Minimum an Aufwand erfüllt werden […], die Repräsentanz des Werkes nach außen und innen […] nach einer durch die Unternehmensleitung festgestellten Politik erfolgt. Die Holthausen-Kommission wird sich daher […] bemühen [um]: Umsetzung und Durchsetzung übergeordneter Zielvorstellungen, Gestaltung von Verhaltensregeln, Einflußnahme auf die Auflagenerfüllung und Maßnahmen des betrieblichen Umweltschutzes […].“647
Damit ist sowohl für Bayer als auch für Henkel gezeigt, dass sich die Unternehmen am Ende der 1970er Jahre durch Eigeninitiative moderne Instrumentarien geschaffen hatten, die eine offene Unternehmenspolitik vertraten. Ziel war es, so eine Reintegration zu schaffen, indem der Dialog mit anderen Feldakteuren über produktionsinduzierte Risiken, Umweltschutz, Sicherheit und von der Chemie ausgehende Gefahren weiter vorangetrieben wurde. Man darf auch sagen, Bayer und Henkel hatten ein neues Ordnungsgefüge im Blick gehabt, das jenseits der alten Vorstellung vom allwissenden und allmächtigen paternalistischen Unternehmen lag. Das 645 Vgl. Schreiben von LE-Umweltschutz / Entwicklung und Information an Dr. Simmler et.al. betreffend Arbeitskreis „Umweltschutz-Informationen“ vom 20. Juli 1978, in: BAL 388/214 Werksverwaltung Leverkusen, Arbeitskreis Umweltschutzinformationen. 646 Exemplarisch Protokoll der Ausschuß-Sitzung „Umweltschutz-Informationen“ am 13. Februar 1980, in: BAL 388/214 Werksverwaltung Leverkusen, Arbeitskreis Umweltschutzinformationen. 647 Opderbecke an ZGF über Herrn Sihler vom 5. September 1977, hier Anlage Holthausen-Kommission: Aufgaben, Arbeitsweise, Bestzung, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke Berichte (Duplikate) 1977.
3.3 Der Schreck sitzt tief
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Ziel solcher organisatorischer Maßnahmen war es, die Rehabilitation als gesellschaftlicher Akteur zu erreichen, da sich die gesellschaftlichen Sinnmuster aus der Sicht der Unternehmen weiter radikalisiert hatten.648 Bei den angesprochenen Clearingstellen innerhalb der Unternehmen handelte es sich um die Anfänge gezielter Corporate Social Responsibility- oder Corporate Compliance-Maßnahmen, die nach „Seveso“ und der öffentlichen Gleichsetzung des Gefahrenpotenzials der chemischen Industrie mit jenem der Kernkraft nötig geworden waren. Die Unternehmen hatten auch gut daran getan, sich solche organisatorischen Lernprozesse aufzuerlegen. Insbesondere Bayer sah sich nach den Ereignissen von Seveso weiterhin heftigen Anfeindungen gegenüber, die völlig andere Dimensionen als vor 1976 angenommen hatten. Von Seiten der Protestbewegungen wurde nun explizit damit gedroht, das Unternehmen empfindlich in seinem existenziellen Geschäft zu stören; sie nahmen so direkt auf die Unternehmenspolitik des Konzerns Einfluss. Als Beispiel gilt ein von 1980 bis 1982 medienwirksam649 geführter Streit zwischen einem Lübecker Apotheker und dem Bayer-Konzern, bei dem es um das Dauerthema Dünnsäureverklappung ging. Besagter Apotheker schrieb an das Unternehmen: „Wie sie wissen (auch der ‚Stern‘ berichtete) werden in meiner Apotheke freiverkäufliche Bayer-Präparate nicht mehr weiter empfohlen, seit deutlich wurde, dass Ihre Firma keine ausreichenden Anstrengungen unternimmt, die skandalöse Verklappung von sog. Dünnsäure einzustellen.“650 Wie verfahren diese Situation war, zeigt auch seine erste Ankündigung – offenbar konnte er es aus moralischen Gesichtspunkten nicht mehr vertreten, mit Bayer weiter zusammenzuarbeiten: „[I]ch maße mir auf Grund meiner Ausbildung an, beurteilen zu können, daß ihre Gesellschaft sich nachhaltig der Verschmutzung der Nordsee schuldig gemacht hat. […] Mitarbeiter ihres Hauses sind in meiner Apotheke nicht mehr erwünscht.“651 Das Bewusstwerden der chemisch-technischen Risiken durch „Seveso“ hatte eine Welle des Zorns ausgelöst, welcher der Konzern hilflos gegenüberstand. Alte Entsorgungstechnologien konnten nicht mehr angewandt werden, da diese nun die absichtliche und schuldhafte Verschmutzung von Ökosystemen symbolisierten. Mit anderen Worten: Es wurde von Bayer nun ganz gezielt die Stilllegung alter Produktions- und Entsorgungstechnologien gefordert, wie dies auch bei Kernkraftwerken und anderen Risikotechnologien für nötig erachtet wurde. Bayer blieb auch gegenüber einem einzelnen Apotheker und Aktionär nur eine vertrauensbildende Defensivstrategie zur Beilegung des Boykotts seiner Produkte, wie 648 Vgl. Protokoll der Ausschuß-Sitzung „Umweltschutz-Informationen“ am 29. Oktober 1984, in: BAL 388/214 Werksverwaltung Leverkusen, Arbeitskreis Umweltschutzinformationen. 649 Exemplarisch: „Apotheker kämpft gegen großen Chemiekonzern“, aus: Lübecker Nachrichten Nr. 47 vom 25. Februar 1981, ohne Seitenangaben, Abschrift des Vorstandsstabes Öffentlichkeitsarbeit der Bayer AG, in: BAL 388/31 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU / Umweltschutz 1974–1983. 650 Apotheker Thimann an die Bayer AG / Sparte Pharma betreffend Mein offener Brief an die STADA AG vom 17. März 1982, in: BAL 388/31 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU / Umweltschutz 1974–1983. 651 Apotheker Thimann an den Vorstand der Farbenfabriken Bayer AG vom 24 Juni 1980, in: BAL 388/31 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU / Umweltschutz 1974–1983.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
ein erster Brief des Werksleiters Weise an den zitierten Apotheker aus dem Jahr 1980 belegt: Ich bedaure außerordentlich, daß Sie in Ihrer Apotheke das Sortiment unseres Hauses […] nicht mehr an Ihre Kunden abgeben wollen, was auch bedeutet, daß ärztliche Verordnungen, soweit sie unsere Arzneimittel betreffen, von Ihnen nicht mehr ausgeführt werden. Wir respektieren selbstverständlich Ihren Wunsch, Mitarbeiter unseres Hauses in Ihrer Apotheke nicht mehr zu empfangen. Es ist daher eine entsprechende Anweisung an die zuständigen Herren gegeben worden. Was aber nun den Anlaß zu diesem Schritt betrifft, so muß ich Ihnen unter Wahrung der Interessen der Bayer AG in aller Form widersprechen. Wir nehmen das Problem der Abwasserbeseitigung mindestens ebenso ernst wie die, die es leichter haben und nur darüber in den Medien berichten. […] Da ich selbst im Lübecker Johanneum zur Schule gegangen bin und daher noch viele Bindungen an diese Stadt habe, bin ich öfters dort zu Besuch. Bei einer solchen Gelegenheit werde ich mir dann erlauben, mit Ihnen Verbindung aufzunehmen, um Ihnen unsere Argumentation darzulegen.“652
Hinter solchen Maßnahmen darf aber auch eine neue Globalstrategie des Unternehmens erkannt werden: „Wir möchten […] betonen, daß wir das Engagement aller um den Umweltschutz besorgten Bürger ausdrücklich anerkennen. Aus diesem Grund gehen wir […] auf alle kritischen Äußerungen ein, die im Verlauf dieser Diskussionen auf uns zukommen.“653 Dass es sich hierbei nicht um Lippenbekenntnisse handelte, zeigte eine intensive und über einen längeren Zeitraum geführte Diskussion mit der Umweltschutzorganisation Greenpeace. Nach einer Begehung des Werkes Leverkusen zusammen mit Greenpeace-Vertretern – auch eine solche Maßnahme, den direkten Kontrahenten ins Unternehmen einzuladen, deutet auf die missliche Lage des Konzerns hin –, die eine konstruktive Diskussion über das Thema Dünnsäure beinhaltete, wurde die Dünnsäureverklappung durch Bayer im Jahre 1982 vollends eingestellt.654 Bayer hatte es nun mit einem gut organisierten Umweltschutz von Seiten der Politik wie von Nicht-Regierungs-Organisationen zu tun; dabei erkannte das Unternehmen sehr schnell, dass ein direkter „Kollisionskurs mit ihnen nicht als Option in Betracht kommt“, weswegen auch der Arbeitskreis Umweltschutz 1982 von einem „positiven Verlauf des Besuches von Green Peace [sic!]“ sprach.655 Wie schnelllebig aber solche Friedensangebote sein konnten und dass sich Bayer nicht völlig unterwarf, zeigt wiederum ein Abbruch der Kommunikation mit der Leverkusener Ortsgruppe der Partei „Die Grünen“ aus dem Jahr 1985: „Wir hatten ja, wie Sie wissen, den Briefwechsel mit den Grünen abgebrochen, nachdem […] Korrespon652 Prof. Weise an Apotheker Thimann vom 11. Juli 1980, in: BAL 388/31 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU / Umweltschutz 1974–1983. 653 Vgl. Dr. Rempen an Apotheker Thimann betreffend Ihr offener Brief mit der STADA AG vom 02. April 1982, in: BAL 388/31 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU / Umweltschutz 1974– 1983. 654 Vgl. ebd. Zur Einstellung der Verklappung vgl. Geschäftsbericht der Bayer AG für das Jahr 1981, S. 20. Dort wird die Einstellung zum März 1982 unter der Rubrik „Umweltschutz“ bekannt gegeben. 655 Vgl. Sitzungsprotokoll des Arbeitskreises Umweltschutz vom 20. Januar 1982, S. 3, in: BAL 388/31 Werksverwaltung Leverkusen, Arbeitskreis Umweltschutz.
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denz […] in der Rheinischen Post veröffentlichen wurde.“656 In der Tat hatte Bayer den Dialog mit den Grünen beendet, nachdem auf höchster Unternehmensebene festgestellt worden war, dass „die Grünen Bayer den Kampf angesagt“ hätten.657 Diese harte Maßnahme war nicht unbegründet: Aus Sicht von Bayer konnte mit den Grünen kein Dialog geführt oder Konsens erreicht werden: „Die Erfahrungen mit Vertretern der Grünen […] haben bedauerlicherweise gezeigt, daß die Kommunikationsfähigkeit dieser Gruppierung immer begrenzter wird. […] Gesprächsrunden, in denen gemeinsame Auffassungen erörtert werden sollen, sind daher kaum möglich. […] In den Fällen, wo die Grünen […] mit uns Kontakt aufnehmen, ist der Briefstil durch eine hämische Grundeinstellung gekennzeichnet bzw. haben die Fragen an uns den Charakter staatsanwaltlicher Ermittlungen.“658
Es gab nun also keinen gemeinsamen Nenner mehr zwischen dem politisch organisierten Umweltschutz und seiner immer zahlreicher werdenden Anhängerschaft. Ein gegenseitiges Misstrauen zwischen diesen Organisationen und der Konzernspitze hatte sich auf breiter Front eingestellt. Aus Sicht der Bayer-Vertreter hatte es das Unternehmen nach allen Anstrengungen der vergangenen Dekade im Jahr 1985 auch nicht mehr nötig, sich „hämisch“ behandeln zu lassen und sich von einer politischen Organisation als „staatsanwaltschaftlicher“ Ankläger in die Schranken weisen zu lassen. Ein weiteres Beispiel aus dem Jahr 1985 zeigt überdies, wie sich nun immer mehr eine Eskalation zwischen dem politisch organisierten Umweltschutz und dem Bayer-Konzern anbahnte. Obwohl Bayer die Dünnsäureverklappung vom Standort Deutschland aus beendet hatte, wurde dem Konzern eine weitere Beteiligung an einem anderen Standort vorgeworfen. Die an Bayer gerichtete Korrespondenz war dabei von einer Mischung aus Polemik, Wut und aggressiver Haltung gekennzeichnet, auf die das Unternehmen wiederum mit Platzverweisen gegen Protestanten reagiert hatte. Die Grünen / Leverkusen schrieben an den Vorstandsvorsitzenden Strenger und den neuen Werksleiter Rosahl: „Mit großer Überraschung haben wir zur Kenntnis nehmen müssen, daß Sie gestern den Greenpeacern vor dem Pförtner I des Werkes Leverkusen ein Gespräch über die Dünnsäure-Problematik in Antwerpen verweigert haben. Nach den ‚Grünen Leverkusen‘ ist also eine weitere Organisation von der oft beschworenen Kooperations- und Gesprächsbereitschaft des Konzerns und der Werksleitung ausgeschlossen. Einmal mehr wurden dagegen Polizeikräfte mit der Lösung Ihres Problems beauftragt, wo doch in der Tat ein Gesprächsangebot die ‚Sitzenden‘ sofort zur Aufgabe der ‚Blockade‘ bewogen hätte. […] Veranlassen Sie umgehend, daß […] sämtliche Schadenersatzforderungen gegenüber Greenpeace zurückgezogen werden, daß die einstweilige Verfügung zurückgenommen und daß 656 Schreiben der Stabstelle Öffentlichkeitsarbeit an Herrn Steinacker / Werksleiterbüro vom 04. April 1985, in: BAL 388/232 Werksverwaltung Leverkusen, Schriftverkehr F-K 1983–1986. 657 Vgl. vertrauliches Schreiben von Herrn Springer / Öffentlichkeitsarbeit an Direktor Koch und Werksleiter Rosahl vom 04. März 1985, in: 388/218 Vol. 3 Werksverwaltungen Leverkusen, Sprecherausschuss 1985. 658 Ebd.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel das Greenpeace-Schiff ‚Sirius‘ sofort wieder freigegeben wird, bauen Sie in Belgien eine Recyclinganlage!“659
Solche Forderungen – die für zeitgenössische Verhältnisse als Agitation gelten dürfen – finden sich nicht nur auf der Ebene lokaler oder bundesdeutscher Zusammenhänge. In Rotterdam hatte sich ein internationales Tribunal gegründet, das aus politischen und Nicht-Regierungs-Akteuren bestand und die chemische Industrie aufgrund der weiterhin angenommenen starken Rheinverschmutzung anging: „Das Internationale Wasser-Tribunal soll nun endgültig vom 03. bis 08.10.1983 stattfinden. Die Anklage gegen vor allem deutsche Chemiefirmen ist zum August dieses Jahres zu erwarten. Hauptanklagepunkte werden die Einleitung von Chrom, chlorierten Kohlenwasserstoffen und PCB sein. Die Bayer AG wird sich ebensowenig wie andere namhafte deutsche Firmen an der Veranstaltung beteiligen. Der VCI sieht allerdings die Einrichtung eines Ausschusses vor, der mögliche Reaktionen koordinieren soll. Auch Bayer wird gegebenenfalls Stellung beziehen müssen.“660
Wie ich im vorangegangenen Kapitel jedoch bereits zeigen konnte, hatten sich die Verhältnisse für die Umwelt zu diesem Zeitpunkt im Vergleich zu der vorangegangenen Dekade stark verbessert.661 Inwiefern das präventive und reaktive StörfallVerhalten sich verbessert hatte, wird sich im Anschluss zeigen. Die Anschuldigungen des Tribunals waren auch deshalb unbegründet, weil die angesprochenen Einleitungen nach geltendem Recht legitim waren; sie sind damit als überzogen zu bewerten. Es war also eine deutsche und europäische Umwelt-Hysterie entstanden, die die Unternehmen trotz verbesserter und nun durchaus Gewinn bringender Technologien in die Bredouille bringen konnte.662 Das angebliche Wissen über Umweltgefährdungen hatte sich mit der neuen Umweltbewegung verselbstständigt. Es führte einerseits – gemischt mit den Sinnorientierungen der bundesdeutschen Gesellschaft aus den frühen 1970er Jahren zu sehr legitimen Forderungen. Anderseits 659 Volker Hebestreit für den Vorstand der Grünen / Leverkusen an den Vorstandsvorsitzenden Strenger und den Werksleiter Rosahl der Bayer AG vom 09. Mai 1985, in: BAL 388/232 Werksverwaltung Leverkusen, Schriftverkehr F-K 1983–1986. 660 Protokoll der Ausschuß-Sitzung „Umweltschutz-Informationen“ vom 09. Februar 1983 in Wuppertal, in: BAL 388/214 Werksverwaltung Leverkusen, Arbeitskreis Umweltschutzinformationen. 661 Ergänzend für die verbesserte, jedoch an machen Stellen immer noch problematische Wassergüte des Rheins die Studie der Arbeitsgemeinschaft der Länder zur Rheinhaltung des Rheins: ARGE-Rhein-Bericht 1984 mit Rheingütebericht 1983, Bonn 1984. 662 Zur technologischen Seite der Wasserreinigung: „Die Turmbiologie wurde 1980 fertiggestellt und bewies, dass man Abwasserklärung auf einer kleinen Fläche, weitgehend lärm- und geruchsfrei und mit einem Viertel der bisher benötigten Energie wirksam betreiben kann.“ Erik Verg / Gottfried Plumpe / Heinz Schultheis, S. 524. Und im Jahr 1984 hieß es von Seiten des „Leverkusener Anzeigers“ lobend: „Bayer sieht sich von der Landesregierung bestätigt, denn neue Messungen haben ergeben: Die Luft ist viel besser geworden. Im vergangenen Halbjahr baute das Werk für 15. Mio. Mark neue Reinhalteanlagen.“ „Die Luft ist viel bessere geworden“, aus: Leverkusener Anzeiger Nr. 107 vom 09. Mai 1984, ohne Seitenangaben, Abschrift der Öffentlichkeitsarbeit der Bayer AG, in: BAL 388/31 Werksverwaltung Leverkusen, Arbeitskreis Umweltschutzinformationen. Hierzu auch der Jahresbericht 1981 der Abteilung LE Umweltschutz / AWALU zugleich auch Bericht des Beauftragten für Umweltschutz, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1979–1982.
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bildete sich aus einem Gemisch apologetischer und radikalisierter Sinnorientierungen aus den späten 1970er und frühen 1980er Jahren ein angeblicher Wissensbestand der neuen Umweltbewegung, der oft jenseits der Realität lag und demzufolge auch unrealistische Forderungen an die chemische Industrie erzeugte.663 Ich werde im letzten Teil des Kapitels zeigen, dass die Rufe oft unbegründet waren, und dennoch auf die Chemiebranche wirkten. Die Unternehmen waren sich aber durchaus bewusst, dass sie die Unheil verkündeten Stimmen sehr wohl zu erhören hatten, um weiter an ihrer Reintegration zu arbeiten. Bevor ich zu zeigen versuche, dass die Unternehmen auch innerhalb ihrer Produktionsprozesse sehr wohl aus „Seveso“ lernten, ein verändertes Störfallmanagement anstrebten und ihre Sicherheitsstandards diesbezüglich anpassten, geht es mir um die Suche nach einem ausgleichenden Dialog von Seiten der Unternehmen. Im Falle des internationalen Wasser-Tribunals wie auch auf der lokalpolitischen Ebene war der direkte Dialog gescheitert oder wurde von Seiten der neuen Umweltbewegung nicht anerkannt. Eine mehr als animose Haltung gegenüber dem unternehmerischen Handeln kann anhand solcher Aktionen gezeigt werden. Es war aber gerade dieser direkte Dialog, der von den Unternehmen im Gegensatz zur Zeit vor „Seveso“ weiter forciert wurde, um Reintegration als gesellschaftlicher Akteur zu erlangen. Nachdrücklich brachte dies der VCI zum Ausdruck, als er für den Industriezweig im Jahre 1977 im Kontext einer Leistungsschau forderte, die chemische Industrie müsse zeigen, dass sie „sozialpolitisch handelt“, wenn es um den Umweltschutz gehe.664 Wenige Jahre später ging man auf Seiten von Bayer noch weiter. In einem alt bekannten Argumentationsseminar für leitende Angestellte wurde für die Zukunft beschlossen, man wolle sich einer „ökologischen Marktwirtschaft“ verschreiben.665 Die Politik der offenen Werkstore zeigte sich aber auch in Alarmübungen, wie sie oben bereits vorgestellt wurden. Auch bei Bayer wurden hier nun die interessierte Öffentlichkeit sowie Journalisten ins Werk eingeladen, um sich über den möglichen Ernstfall und die entsprechenden Gegenmaßnahmen zu informieren. Dabei wurde zugegeben, dass alle chemische Produktion ein Restrisiko beinhalte, das es unbedingt einzudämmen galt – natürlich war dies seit jeher klar, der Unterschied bestand nun aber darin, die gesellschaftliche Erwartungshaltung hinsichtlich einer Verminderung dieses Restrisikos zu erfüllen. Normalität sollte und durfte nicht mehr vermittelt werden. Zudem trat etwa der bevormundende Experte zugunsten aufklärerischer Maßnahmen in den Hintergrund: „Ganz allgemein berühren heute neue Sicherheitstechniken das öffentliche Interesse stärker als in früheren Jahren. […] Gegenwärtig sind hier [im Werk Leverkusen, T.J] Referate für die Gebiete Explosionsschutz, Strahlenschutz, elektrotechnische Sicherheit, Maschinenschutz und 663 Vgl. Frank Uekötter / Jens Hohensee, S. 9. 664 Vgl. VCI / Landesverband Nordrhein-Westfalen an den Vorstand der Bayer AG betreffend Leistungsschau der Chemischen Industrie vom 15. April 1977, in: BAL 388/86 Werksverwaltung Leverkusen, Vorstandsstab 1974–1983. 665 Vgl. UWS-Argumentation. Eine Auswahl von Vorträgen, die im September 1983 auf einem Seminar gehalten wurden, in: BAL 388/216 Werksverwaltung Leverkusen, Arbeitskreis Umweltschutz ab April 1983.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel gefährliche Stoffe eingerichtet. […] Sicherheit ist auch das Ziel staatlicher Vorsorge sowie der Bürger um unsere Werke herum. Diese Bedürfnisse hat ein Unternehmen wie die Bayer AG zu befriedigen.“666
Vor allem Mittel der externen Unternehmenskommunikation dienten dazu, die Absichten und den Wandel in den Einstellungen zur Sicherheitstechnik des nun informationswilligen Unternehmens einem breiten Adressatenkreis zugänglich zu machen. Bei Bayer hieß es 1981 hierzu: „Gemeinsam mit dem Zentralbereich Werbung und Marktforschung beabsichtigen wir, in den Umfeldern der Werke […] eine Image-Untersuchung durchführen zu lassen; […] Ziel einer solchen Untersuchung […] ist es, die Einstellung der Nachbarn zu den jeweiligen Werken, ihre Verbundenheit mit den Wohnorten und ihre positiven oder auch negativen Eindrücke vom Unternehmen sowie ihre Informationsgewohnheiten zu ermitteln. Die Untersuchung wird Aufschlüsse darüber geben, welche Informationsquellen die Bevölkerung bevorzugt und wie die Glaubwürdigkeit der Bayer- Informationen eingeschätzt wird. Zusätzlich kann dabei die mögliche Diskrepanz zwischen veröffentlichter und öffentlicher Meinung sowie das Informationsbedürfnis der Nachbarn festgestellt werden. Darüber hinaus sollen die Untersuchungsergebnisse mit dazu beitragen, noch zielgruppengerechtere Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben und die immer vielfältiger werdenden Kommunikationsmittel und -möglichkeiten des Unternehmens so wirkungsvoll und nützlich wie möglich einzusetzen. Gleichzeitig könnten die Ergebnisse auch Ihnen für Ihre Zusammenarbeit mit Politikern und Behörden „vor Ort“ wertvolle Informationen vermitteln.“667
Die Umsetzung eines solchen Instruments externer Kommunikation finden wir sehr anschaulich bei Henkel. Aus dem 1971 begonnen „Gespräch mit den Nachbarn“ über den „Umwelt-Blick“ aus dem Jahre 1974/75 hatte sich eine weitere Initiative unter der Leitung Friedrich Bohmerts entwickelt; im Mai 1979 erschien die erste Ausgabe von „Rundrum / Zeitschrift für die Henkel-Nachbarn“.668 In seiner ersten Kolumne „Liebe Leser“, strich Bohmert den Zweck der neuen Zeitschrift heraus: Es sollte ein Verständnis von beiden Seiten entwickelt werden, das durch den Dialog zwischen Werk und Umfeld entstehen und das friedfertige Miteinander fördern sollte. Dabei wendete er sich sicherlich in allererster Linie an die gemäßigten Umweltschützer, da der konservative Bohmert im Unternehmen schon immer als Gegner jeglicher radikaler Ansichten galt, was ich anhand früherer von ihm angeregter Aktionen schon mehrfach dargestellt habe.669 Die Erstausgabe von „Rundrum“ zeigt, wie wichtig es ihm war, die Nachbarn davon zu überzeugen, dass das Unternehmen einen Sicherheits- und Wohlfühlfaktor im Düsseldorfer Süden 666 „Sicherheit in Bayer-Werken“ Vortrag von Diplomingenieur Heinz Hennecken / Leiter der Zentralen Eigenüberwachung / Sicherheitstechnik anlässlich eines Besuchs von Journalisten im Bayer-Werk Leverkusen am 01. Juni 1979, in: BAL 388/86Werksverwaltung Leverkusen, Vorstandsstab 1974–1983. 667 Schreiben von Herrn Schmidt / VS-Öffentlichkeitsarbeit an Werksleiter Weise et.al. betreffend Image-Untersuchung Leverkusen / Dormagen vom 15. Mai 1981, in: BAL 388/86 Werksverwaltung Leverkusen, Vorstandsstab 1974–1983. 668 Vgl. „Rundrum / Zeitschrift für die Henkel-Nachbarn“, Mai 1979, in: Konzernarchiv Henkel, L 523, ohne weitere Angaben. 669 Zu den Vorstellungen Bohmerts über die PR-Arbeit des Hauses auch Wilfried Feldenkirchen / Susanne Hilger / Wolfgang Zengerling, S. 266f.
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darstellte, und es diesbezüglich als gesellschaftlich verantwortungsvoll handelnden Akteur anzupreisen: Vor Ihnen liegt eine neue Zeitschrift, die Henkel ganz speziell für Sie – für die Nachbarn im Düsseldorfer Süden – herausgegeben hat. Wir haben sie „Rundrum“ genannt. Nicht nur, weil sie im Stadtgebiet rund um Henkel verteilt wird. Sondern vor allem, weil sie Sie rundherum über das informieren soll, was bei Henkel und in der Umgebung geschieht. Im Vordergrund der Diskussion standen damals [im ‚Gespräch mit den Nachbarn‘ und dem ‚Umwelt Blick‘, T.J.] noch massive – und zum Teil sicherlich berechtigte – Beschwerden der Henkel-Nachbarn über Umweltbelästigungen. Seither hat sich vieles geändert. In weitere Anlagen und Maßnahmen zum Schutz der Umwelt wurden und werden Millionenbeträge gesteckt. Die Nachbarn – um die es ja geht – können sich in ihrer Umgebung heute wohler fühlen als damals. Sie haben die Bemühungen von Henkel erkannt – und anerkannt. Sie wissen, daß sich gelegentliche Störungen trotz besten Willens und modernster Technik nicht völlig ausschließen lassen. […] Auf beiden Seiten ist das Verständnis gewachsen. Und auf der Basis dieses gegenseitigen Verständnisses möchte Henkel das Gespräch mit den Nachbarn jetzt fortsetzen – mit „Rundrum“. Schließlich dürfen sich die Beziehungen zwischen Nachbarn nicht in Verärgerung und Vorhaltungen erschöpfen. In „Rundrum“ werden Sie […] nicht nur Beiträge über Umweltschutz und über Henkel finden, sondern auch allgemeinere Berichte, die Sie als Bewohner der südlichen Stadtteile persönlich berühren könnten. […] Unser Gespräch soll aber kein Monolog werden. Wenn Sie uns etwas zu sagen haben, was Sie und Henkel angeht, dann schreiben Sie uns!“670
Ebenfalls in der ersten Ausgabe findet sich auch ein Beweis der Offenheit Henkels, wenn die Umwelt- und Sicherheits-Experten Berth und Nösler in einem Interview direkt die Verbindung zwischen gesellschaftlichen Erwartungshaltungen und dem Henkel-Werk herstellten. Sie machten deutlich, dass die Risikoproduktion auch in ihrer augenscheinlichen Ineffizienz dennoch effizient für Henkel sei und zudem die Umweltsicherheit – anders als in den Jahren zuvor – nicht zugunsten eines ökonomischen Vorteils hinten angestellt werde. Allein der Aufmacher des Artikels – „Kein Zwang – wenn er nicht nötig ist!“ – belegt auch die Tatsache, dass sich Henkel nach außen hin mit weiteren gesetzlichen Reglementierungen abgefunden hatte: „Ja. Der Nachweis von toxikologischen und ökologischen Unbedenklichkeiten neuer Produkte und Produktionsverfahren ist natürlich arbeitsaufwendig und kostenaufwendig – und läuft somit […] manchen Unternehmensinteressen entgegen – ist aber eine wichtige Voraussetzung, wenn wir […] auf Dauer wettbewerbsfähig bleiben wollen. Insofern lösen sich anfängliche Konflikte von selbst, zugunsten eines vernünftigen Umwelt- und Verbraucherschutzes.“671
Im Jahr 1984 brachte Henkel dann eine Broschüre heraus, die sowohl für den internen als auch für den externen Leser bestimmt war. Der Titel „Verantwortung verpflichtet / Umweltschutz, Verbraucherschutz, Sicherheit“ zeigte, dass es Henkel ernst war, genau dies seinen Anspruchsgruppen zu vermitteln. Die Aspekte Verant670 Ebd. S. 2. 671 Ebd. „Kein Zwang – wenn er nicht nötig ist“, S. 12. In einem weiteren Artikel finden wir auch einen Einblick für die Henkel-Nachbarn in die existierenden formalen wie informellen Institutionen bei Henkel. Auch mit diesem gewährten Einblick wird Offenheit symbolisiert. Vgl. ebd. „Ein Blick in die Schubladen der Umweltschützer“, S. 13.
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wortung, Umweltschutz und Sicherheit wurden nun sowohl nach außen als auch nach innen als zusammengehörig dargestellt, was bereits durch die einleitenden Worte deutlich wird: „Dies ist eine erläuternde Darstellung keine Rechtfertigung. Natürlich erschweren uns immer neue Regelungen, Verordnungen, Emissions- und Immissionsgrenzwerte […] die Arbeit. Henkel sieht dies aber […] als Herausforderung, die es zu meistern gilt. […] Deshalb muss uns allen bewusst sein, daß wir für die Erhaltung unserer Umwelt einen bestimmten Preis zahlen. So wie wir früher für die Erschließung der Umwelt zu unserem Vorteil bezahlt haben.“672 Der Vorrang der ökonomischen Betrachtung gehörte nun vollends der Vergangenheit an, was auch nach außen in aller Deutlichkeit kommuniziert wurde, um eine neue Kohärenz zwischen chemischer Industrie, dem institutionellen Kontext und der kulturellen Rahmung herzustellen. Allgemeine Probleme wie Luft- und Wasserverschmutzungen waren im Sinne der Anforderungen des institutionellen Kontextes und der kulturellen Rahmung seit den beginnenden 1980er Jahren zurückgegangen. Es kam aber weiterhin zu Protesten. Diese Proteste waren aber aus einer über zwei Dekaden vergleichenden Sicht oft unbegründet, denn die Unternehmen hatten bis dahin ihren Teil der gesellschaftlichen Abmachungen eingehalten, wie sich an mehreren Beispielen zeigen lässt: So gingen etwa die Belastungen des Niederrheins mit den Schwermetallen Chrom, Blei, Cadmium und Quecksilber zwischen 1973 und 1982 um bis zu 87 % zurück, die Sauerstoffsättigung des Stroms erhöhte sich in diesen neun Jahren von 60 auf 94 % und die gesamten Luft-Emissionen des Werkes Leverkusen reduzierten sich von 475.000 Tonnen im Jahr 1966 auf 175.000 Tonnen in 1982.673 Diese Entwicklungslinie und die nach wie vor anhaltenden Empörungen, die auf den ersten Blick dann unbegründet erscheinen, lassen sich einmal mehr nur verstehen, wenn Zahlen des Instituts für Demoskopie in Allensbach herangezogen werden. Das Institut führte 1966 wie 1981 eine Befragung der Gesamtbevölkerung hinsichtlich der Einschätzung ob Technik „eher Segen“ oder „eher Fluch“ angesehen werde. 1966 deklarierten 72 % der Befragten Technik als Segen, 3 % der Befragten hingegen als Fluch. Im Jahr 1981 waren nur noch 30 % der Befrag672 Henkel KGaA (Hg), Verantwortung verpflichtet. Umweltschutz, Verbraucherschutz, Sicherheit, Düsseldorf 1984, S. 4. 673 Vgl. UWS-Argumentation. Eine Auswahl von Vorträgen, die im September 1983 auf einem Seminar gehalten wurden, hier verschiedene Graphiken der Umweltschutzabteilung, in: BAL 388/216 Werksverwaltung Leverkusen, Arbeitskreis Umweltschutz ab April 1983. Ebenso Jahresbericht 1981 der Abteilung Umweltschutz / Awalu Leverkusen zugleich Bericht des Beauftragten für Umweltschutz, Leverkusen im April 1982, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1979–1982. Es hatte sich allerdings ein neues Problem aufgetan, was an dieser Stelle aber nicht mehr behandelt werden soll: Die Beseitigung von Altlasten, das Problem und seine Lösungsansätze sowie die damit verbunden Aufgebrachtheit müssen von neue Forschungen eruiert werden. Hier wird insbesondere dann in der Folge einer sich weiter formierten „Risikogesellschaft“ nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl und dem Löschwasserunfall bei der Firma Sandoz in Schweizerhalle nach Maßnahmen der Unternehmen zu fragen sein. Exemplarisch eine Aussage des VCI bereits am Ende des Jahres 1984, die Branche müsse in der Zukunft allen neuen „Herausforderungen solidarisch“ und nicht „mit Schweigen“ begegnen. Vgl. „Täglich 10 Mio. für den Umweltschutz“ Verbandsmitteilung des VCI 11–12/84 vom 20. Dezember 1984, in: BAL 388/216 Werksverwaltung Leverkusen, Arbeitskreis Umweltschutz ab April 1983.
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ten der Meinung, Technik sei ein Segen, 13 % hingegen sahen sie als einen Fluch an.674 Solchen Sichtweisen hatten die Gesamt-Umweltschutzinvestitionen von Bayer auch nichts entgegen zu setzten. Die eingesetzten Summen betrugen 1973 ca. 75 Mio. (DM), stiegen bis 1980 rasant auf Höchstniveau von knapp 200. Mio. (DM), flachten dann auf ein Niveau von ca. 100 Mio. (DM) im Jahr 1983 ab; die Schätzungen, der Umweltschutz-Investitionen bis 1987 bewegten sich jedoch in Größenbereichen weit jenseits der 200 Mio. (DM)-Grenze.675 Diese Beträge belegen, dass die Schätzungen der Ausgaben, wie ich sie im letzten Kapitel dargestellt hatte, noch einmal weiter noch oben korrigiert werden mussten und relativ zu den Gesamtumsätzen des Unternehmens ebenfalls zunahmen. Es wird mir nun in einem letzten Analyseschritt darum gehen, die neuen Außendarstellungen der lernenden und damit veränderten Konzern Bayer und Henkel auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. Insbesondere möchte ich danach fragen, wie mit Störfällen umgegangen wurde, d.h. ob die zahlreichen Anschuldigungen der Öffentlichkeit gegen die Unternehmen bezüglich Un- und Störfälle immer noch berechtigt waren und ob es direkte Verbindungen zum Seveso-Unglück im Sinne eines reflexiven Störfall-Verhaltens auf Seiten von Bayer und Henkel gab. Auf einer Sitzung des Vorstandes bei Bayer im August 1976 wurde das SevesoUnglück sehr ernst genommen. Drei Wochen nach den dortigen Ereignissen verschaffte sich das Topmanagement einen Überblick erstens darüber, was geschehen war, und zweitens, welche Auswirkungen dies auf die Produktionen und das weitere Vorgehen bei Bayer zu Folge haben musste. Ein Mitglied des Vorstandes stellte die Ursachen und Auswirkungen des Unfalls eingehend dar und erläuterte die bis zu diesem Zeitpunkt bei Bayer durchgeführten Fabrikationen. Unter den Anwesenden bestand die Überzeugung, „daß das bei uns durchgeführte Verfahren beherrschbar ist, jedoch sind Zwischenfälle nicht auszuschließen. Aufgrund der unübersehbaren Folgen einer möglichen Katastrophe beschließt der Vorstand, daß die zur Zeit stilliegende Anlage für Trichlorphenol nicht wieder angefahren wird, wobei Klarheit besteht, daß diese Entscheidung endgültig ist, so daß auch anstelle der darauf aufgebauten Pflanzenschutz-Produktion neue Erzeugnisse gesucht werden müssen.“676
Erstaunlich wirkt hier die Überzeugung des kompletten Vorstandes, es müsse im Nachgang von „Seveso“ zu Veränderungen auch im Leverkusener Konzern kommen. Diese Überzeugung richtete sich auch auf die Notwendigkeit einer akribischen Analyse des eigenen Verfahrens zur Herstellung des Stoffes, der zur SevesoKatastrophe führte, durchzuführen. Ebenso bemerkenswert ist die Rede von der Beherrschbarkeit dieses Verfahrens. Denn ‚beherrschbar‘ ist nicht gleichbedeutend mit ‚sicher‘ und ‚undenkbar‘. Man war – eventuell aufgrund einer Verunsicherung, die aus den Erfahrungen der vergangenen Jahre resultierte – sich seiner Kompetenzen in der Beherrschbarkeit chemisch-technischer Prozesse auf einmal nicht mehr 674 UWS-Argumentation. Eine Auswahl von Vorträgen, die im September 1983 auf einem Seminar gehalten wurden, hier Darstellung der Allensbacher Studie, in: BAL 388/216 Werksverwaltung Leverkusen, Arbeitskreis Umweltschutz ab April 1983. 675 Vgl. ebd., hier Graphik: Bayer AG / Umweltschutzinvestitionen. 676 Vorstandsitzung in Leverkusen am 03. August 1976, in: BAL 387/1 Vol. 16 Vorstandsprotokolle 19.06.75–01.03.77.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
sicher. Aus diesem Grund war der Vorstand sich auch über die eingeschränkte Beherrschbarkeit einig, falls es doch zu Zwischenfällen käme. Das Topmanagement wusste nun, dass ein Störfall – so unwahrscheinlich er auch scheinen mochte – katastrophale Folgen für Menschen, Tiere und Vegetation in einer ganzen Region haben konnte. Er hätte aber auch katastrophale Folgen für den auf Reintegration pochenden Bayer-Konzern gehabt. Ein vergleichbarer Störfall in der Hochphase der deutschen Umweltbewegung, die zudem noch radikale Tendenzen annahm, musste also um jeden Preis ausgeschlossen werden. Dies zeigt, dass im Unternehmen sich nicht allein die Überzeugung gefestigt hatte, dass es wichtig war, den Dialog zur gesellschaftlichen Umwelt zu suchen und einen Konsens nur durch Lippenbekenntnisse herzustellen. Vielmehr hatten sich zudem – so scheint es – bei Bayer neue Sinnmuster entwickelt, die den Umweltschutz sowie den Schutz vor der eigenen Risikoproduktion beinhalteten. Diese Kultur, die der Vorstand hier vorlebte, zielte darauf ab, ein verantwortungsvoller gesellschaftlicher Akteur zu sein. Verantwortung hieß nun eben nicht mehr, auch zum Preis der Gefährdung der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Wir konnten dies im vorigen Betrachtungszeitraum bis „Seveso“ in seiner Konstituierungsphase sehen; nun schien sich diese Konzeption von Verantwortung in der Bayer-Kultur niedergeschlagen zu haben, und, noch wichtiger: Sie wurde eins zu eins aus den im Äußeren des Unternehmens vorhandenen Sinnmustern abgeleitet, um diesen gerecht zu werden. Ganz deutlich zeigt sich diese Verantwortung in der sofortigen Stilllegung einer Anlage, in der Suche nach neuen Erzeugnissen: Beides waren kostenintensive strategische Entscheidungen, auf höchster Ebene getroffen, die einem von außen ausgelösten institutionellen Wandel und kultureller Differenzierungen geschuldet waren. Dass Bayer hinter solchen strategischen Entscheidungen stand, zeigt allein die Tatsache, dass wir zu Beginn des Jahre 1981 insgesamt 41 Umweltschutz- und Sicherheitsgremien in den deutschen Bayer-Werken finden, unter anderem einen Koordinationskreis „Arbeitssicherheit und Ökologie“, einen Koordinierungsausschuss „Umwelt und Sicherheit“, eine ad-hoc-Projektgruppe „Sicherheit von Chemiebetrieben“, um nur einige der weiter professionalisierten Maßnahmen für die nun in der Unternehmenskultur verankerte Verbindung von Umweltschutz und Sicherheit zu nennen.677 Auch bei Henkel – und dies erscheint noch bemerkenswerter, da es in den dortigen Produktionsstätten keine Verfahren mit einem vergleichbaren Gefahrenpotenzial gab – erkennen wir direkte Verbindungen, die zeigen, dass Umweltschutz und Sicherheit sowie aktive Maßnahmen zur Katastrophenabwehr durch die chemische Risikoproduktion nun in die Gewohnheiten und Überzeugungen des Unternehmens Einzug gehalten hatten. Oberingenieur Funk akzentuierte diesen neuen und notwendigen „Henkel-Geist“ auf einer „technischen Waschmittelkonferenz“ in Rom und wiederholte seine Ausführungen in ähnlicher Form auf einer Meisterkonferenz – also einer niedrigeren Hierarchiestufe – im Frühjahr 1977 sehr deutlich, schärfte 677 Vgl. Dokumentation von LE Umweltschutz / AWALU über Umweltschutzgremien der Bayer AG Stand 01. Januar 1981, hier verschiedene Anlagen, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1979–1982.
3.3 Der Schreck sitzt tief
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damit also den neuen ‚proper way of behave‘ und das damit verbundene Glaubenssystem von Henkel: „Der Umweltschutz […] hat sich in den Strukturen und Aufgaben unserer Firma, insbesondere der technischen Abteilung, fest integriert. Dafür haben nicht zuletzt in Deutschland eine Reihe von gesetzlichen Bestimmungen gesorgt. Aber auch die Verflechtungen des Umweltschutzes mit allgemeinen Sicherheitsbestimmungen […] hat zu einer Integrierung in das gesamte Sicherheitsdenken des Unternehmens geführt. […] Mehr und mehr betrachten wir den Umweltschutz als einen der Gesichtspunkte, unter dem wir die Sicherheit der von uns erstellten und betriebenen chemischen Anlagen gewährleisten müssen. Seit Seveso wissen wir außerdem, daß die Frage der Handhabung von ‚gefährlichen Stoffen‘ nicht mehr aus der Diskussion verschwinden wird.“678
Auch Henkel hatte den institutionellen Kontext und die unvermeidbaren Diskussionen reflektiert. Darauf folgte eine kulturrationale Sinnhandlung, die nun einerseits Umweltschutz, Produkt- und Produktionssicherheit miteinander verband. Andererseits musste auch Henkel im Sinne seiner betrieblichen Effizienz das integrativ geforderte Sicherheitsdenken in die Unternehmenskultur einbringen; eine reine Anpassung der Fokalorganisation reichte nicht mehr aus. Im Fall Henkel finden wir hierzu wieder sehr deutlich unterstützende, kommunikative Maßnahmen, die eine solche Unternehmenskultur anregen sollten; in der Werkszeitschrift etwa wurde wiederholt auf die „Chemie-Diskussion“ eingegangen.679 Institutionalisiert wurden die Erläuterungen und Auseinandersetzung mit der öffentlichen Chemie-Diskussion, deren Ergebnisse spartenspezifisch an die Henkel-Belegschaft weitergegeben werden sollten, dann in den 1980er Jahren wiederum in einem gleichnamigen Arbeitskreis. Dieser hatte den „Kontakt zu externen, besonders kritischen Repräsentanten aus dem Bereich Umweltschutz“ zu suchen; es sollten „die Standpunkte mit dem Ziel ausgelotet werden, unsere Argumentationsbasis […] stärker abzusichern“.680 Auch sollte der Arbeitskreis spezifische Information in „geeigneter Literatur für die Mitarbeiter“ des Düsseldorfer Konzerns bereit stellen und entsprechende Strategien der Kommunikation nach außen entwickeln. Sehr deutlich zeigte sich 1985 abermals, wie ausgefeilt die gesellschaftlichen Analysen der Unternehmen wurden, da der Arbeitskreis etwa für die Kosmetik-Sparte eine „defensive Informationspolitik empfahl, da hier z.Z. weitgehend Ruhe in der öffentlichen Diskussion herrscht.“681 Kommunikationsstrategien über Umweltrisiken und das allgemeine Unternehmenshandeln diesbezüglich mussten also seit den späten 1970er Jahren nun mittels Argumentationen abgesichert werden. Die einzig mögliche Erklärung dafür ist das noch weiter gewachsene Misstrauen gegenüber der chemischen Industrie und die Angst der Menschen vor den Gefahren, die sich aus den chemischen Produktio678 „Umweltschutz und Anlagensicherheit“ Vortrag von Dr. Funk auf der 24. technischen Waschmittelkonferenz in Rom am 17. und 18. Mai 1977, in: Konzernarchiv Henkel Zug.-Nr. 453 Akten Opterbecke, Nr.42a-42b Tageskopien Dr. Funk, hier 42a. Ebenso die Niederschrift über die Meisterkonferenz am 23. November 1976, in Konzernarchiv Henkel J 106 Meisterkonferenzen. 679 Exemplarisch „Chemie-Diskussion“, in: Henkel-Blick April 1980, S. 4. 680 Exemplarisch Protokoll der Sitzung des Arbeitskreises Chemie-Diskussion (ACD) am 03. Juni 1985, in: Konzernarchiv Henkel Umweltdiskussion 1984–1987, unverzeichnete Akte. 681 Vgl. ebd. S. 2.
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nen und Produkten ergaben. Die letzte Frage wird nun jene sein, wie dieses neue Sicherheitsdenken der Unternehmen im Un- und Störfall umgesetzt wurde und ob diese Maßnahmen vom institutionellen Kontext und der kulturellen Rahmung anerkannt wurden, kurz: War auch im Moment des Extrems – im Un- und Störfall – die Angst und das Misstrauen der Menschen gegenüber der chemischen Industrie in Anbetracht des historischen Kontextes angemessen, oder handelte es sich bei den festgefahrenen Verhältnissen zwischen der chemischen Industrie und der gegen sie gerichteten Protestkultur um einen Deutungskonflikt? Dies werde ich explizit an jeweils einem Ereignis bei Bayer und bei Henkel hinterfragen. Die Pflanzenschutzmittel-Produktionen von Bayer waren im Werk Dormagen angesiedelt. Dort ereignete sich Anfang November 1979 ein Störfall, bei dem in der Folge einer zunächst angenommenen Explosion davon ausgegangen wurde, dass der toxische Stoff Gusathion freigesetzt und in die Werksumwelt entwichen sei. Die Katastrophenschutzmaßnahmen, die das Unternehmen in den Jahren zuvor installiert hatte, funktionierten reibungslos: Es wurden umgehend für ein drei Quadratkilometer großes Gebiet Alarm ausgelöst und die zuständigen Behörden benachrichtigt.682 Auch alle Werksangehörigen wurden informiert: „Aus bisher ungeklärter Ursache kam es […] zu einem Brand. Die damit verbundene Rauchentwicklung war über die Werksgrenzen hinaus […] wahrnehmbar. Personen kamen nicht zu Schaden, eine Gefährdung der Bevölkerung bestand zu keiner Zeit. Die Rauchwolke führte jedoch zu Geruchsbelästigungen.“683 In ihrem Wortlaut und ihrer Übermittlung waren die Informationen für Werksangehörige und für die Bevölkerung identisch. Der Bevölkerung wurde also das gleiche Recht auf Informationen eingeräumt wie einem Bayer-Mitarbeiter. Was ich in diesem Kapitel bereits an anderer Stelle als scharfe Proteste, die teilweise in Polemik und aus Sicht von Bayer Agitation mündeten, beschrieben habe, zeigte sich nun im Dormagener-Störfall in Form eines spekulativen und investigativen Journalismus gegen das Unternehmen; selbst Bayers offene Informationspolitik konnte dies nicht verhindern. Die „Grevenbroicher Zeitung“ fragte etwa: „[V]erursachte Rauchwolke mehrfachen Vogeltod?“684 Obwohl bekannt war, dass genaue Berichte über die Gefahr durch etwaige Rückstände aus der Rauchwolke erst in einigen Tagen vorliegen würden, titelte der „Kölner Stadtanzeiger“: „Die Händler blieben auf Gemüse sitzen“.685 Die „Westdeutsche Zeitung“ schließlich berichtete über einen Expertenstreit hinsichtlich der Giftigkeit von Gusathion in der „Bayer-Wolke“ und warf dem Kon682 Vgl. Presse-Information der Bayer AG betreffend Brand im Bayerwerk Dormagen / Rauch war ungiftig, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1978–1979. 683 Vgl. Bayer Aktuell über die Werkleitung betreffend Brand in einem Pflanzenschutzbetrieb vom 8. November 1979, in: BAL 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1978– 1979. 684 Vgl. „Verursachte Rauchwolke mehrfachen Vogeltod?“, aus Grevenbroicher Zeitung Nr. 262, ohne Seitenangabe, vom 10. November, Abschrift des Vorstandsstabes Öffentlichkeitsarbeit der Bayer AG, in: BAL 388/31 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU / Umweltschutz 1974– 1983. 685 Vgl. „Die Händler blieben auf Gemüse sitzen“, aus Kölner Stadtanzeiger Nr. 262, ohne Seitenangabe, vom 10. November, Abschrift des Vorstandsstabes Öffentlichkeitsarbeit der Bayer AG, in: BAL 388/31 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU / Umweltschutz 1974–1983.
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zern eine „erhebliche Verzögerung“ bei der „Alarmierung der Bevölkerung“ vor.686 Einer der interviewten Experten war der Mitautor des Buches „Seveso ist überall“, der zuständige Umweltchemiker beim Umweltbundesamt. Er bezeichnete die Bayer-Mitteilungen zum Störfall als „leichtsinnige Schönmalerei“.687 Die allgemeine Hysterie, die sich nach den Ereignissen von Dormagen einstellte, gipfelte in einer Publikation eines ortsansässigen Schriftstellers, die von einem Störfall im Bayerwerk in der Zukunft handelte. Die Science Fiction-Darstellung, oder besser die Horrorgeschichte „Der Dormagener Störfall von 1996“, stand dabei dem katastrophalen Charakter des Seveso-Störfalls in nichts nach – im Gegenteil: Von toten und orientierungslos umherirrenden Menschen und einer trostlosen und beinahe ausgelöschten Stadt war die Rede.688 Die öffentliche Diskussion und die Angriffe auf Bayer rissen noch lange Zeit nicht ab, und sie waren von geschürter Angst und Polemik geprägt, die immer wieder auf die Bildsprache – insbesondere der (giftigen) Wolke – des Seveso-Störfalls zurückgriffen.689 Das Unternehmen wurden von der öffentlichen Anklage zu Verteidigungsstrategien gezwungen, die eine offene Informationspolitik notwendig machten, aber trotzdem das Image des Konzerns nicht mehr nachhaltig zu bessern vermochten. Erste Vermutungen der Bayer-Chemiker bezüglich der freigesetzten Substanzen, die auch als solche kommuniziert wurden, sollten sich letztlich nicht bestätigen: Das giftige Pflanzenschutzmittel Gusathion konnte nicht entwichen sein, da es aufgrund der entstandenen Hitze verbrannt war. Auch die Alarmierung der Bevölkerung und das Hinzuziehen von externen Sachverständigen sowie die Zusammenarbeit mit den Behörden verliefen reibungslos; der Abschlussbericht zum Unglück und in diesem Kontext auch eine chemisch-physikalische Analyse zeigten, dass Bayer zu Unrecht angegangen worden war: „Wahrnehmbar waren die Verbrennungsprodukte […]. Der Wirkstoff selbst trat nicht aus. Dem Brand war – entgegen ersten Annahmen keine Explosion – vorausgegangen. Die BayerWerkfeuerwehr wurde unmittelbar nach dem Ereignis alarmiert und hatte das Feuer bald unter Kontrolle. Vorsorglich hatten Polizei, Feuerwehr, Innenministerium und Gewerbeaufsichtsamt in Zusammenarbeit mit den Sicherheitsorganen des Bayerwerks eine Warnung an die Bevölkerung über Lautsprecher und Rundfunk veranlaßt. Eine Stunde nach Ausbruch des Feuers konnte bereits Entwarnung gegeben werden. […] Inzwischen konnte auch die Brandursache geklärt werden. […] Durch entsprechende technische Einrichtungen werden künftig solche Vorkommnisse verhindert.“690 686 Vgl. „Experten streiten über Gift in der Bayer-Wolke“, aus Westdeutsche Zeitung Nr. 262, ohne Seitenangabe, vom 10. November, Abschrift des Vorstandsstabes Öffentlichkeitsarbeit der Bayer AG, in: BAL 388/31 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU / Umweltschutz 1974– 1983. 687 Vgl. ebd. 688 Vgl. Klas E. Everwyn: Der Dormagener Störfall, Dormagen 1983. 689 Vgl. Neuß-Grevenbroicher Zeitung: „Gaswolke nach Brand bei Bayer“, Westdeutsche Zeitung: „Zwischen Angst und Einbildung“, Neuß-Grevenbroicher Zeitung: „Verursachte Rauchwolke mehrfachen Vogeltod?“. 690 Abschlussbericht von Dr. Hulpke / Forschungszentrum Sparte Pflanzenschutz betreffend Brand im Bayerwerk Dormagen vom 29. November 1979, in: BAL 59/337 Ingenieurverwaltung, Meldungen über Unfälle, Explosionen u.ä. 1964–1985.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
Die Verbrennungsanalyse brachte zudem folgendes Ergebnis: Gusathion wurde unter definierten Bedingungen einer Verbrennung […] unterzogen. Dabei wurden sowohl die Brand/Schwel-Gase als auch die Rückstände sorgfältig untersucht. Die wichtigsten Ergebnisse sind wie folgt zusammengefasst: […] „Gusathion: nicht nachweisbar […] Iso-Gusathion: nicht nachweisbar.“691 Ebenfalls zeigte die Rückstandsanalyse keine Anzeichen für den Stoff in der Umwelt: „Aufgrund der chemischen Struktur zu erwartenden Zersetzungsprodukte konnten Gusathion auch im Rückstand nicht nachgewiesen werden.“692 Interne und externe Untersuchungen solcher Vorfälle wurden nun entweder als selbstverständlich betrachtet bzw. ihre Notwendigkeit sogar von den Unternehmen selbst gefordert. Dennoch gelang es Bayer nicht, die Richtigkeit solcher Untersuchungen glaubwürdig darzustellen. Im Un- und Störfall war das Misstrauen ungleich höher, als es in den letzten Jahren ohnehin gewachsen war. Der Bayer-Vorstand, der sich nun mit solch öffentlichkeitswirksamen Ereignissen verstärkt auseinandersetzte, berichtete über eine Fernsehsendung der Reihe „Vor Ort“ im Jahr 1979 bezüglich der Geschehnisse in Dormagen und vom „Verlauf der öffentlichen Diskussion“.693 Daran, dass die Öffentlichkeit offenbar erneut die Thematisierung in einer Fernsehsendung für notwendig hielt, lässt sich leicht die neue Tragweite eines solchen Unglücks für Bayer im Vergleich zu früheren Situationen abschätzen: Zehn Jahre zuvor wäre ein solcher Störfall kaum öffentlich beachtet worden, war die Erwartungshaltung gegenüber dem Unternehmen doch eine ganz andere gewesen. Es hätten kaum Proteste stattgefunden. Auch muss die Reaktion Bayers auf die Interessen der Öffentlichkeit im Vergleich zur Situation zehn Jahre zuvor betrachtet werden: Es wurden Unternehmensvertreter entsandt, um dem Verlust eines weiteren Stücks der Legitimität und Integration des Unternehmens entgegenzuwirken. Das Protokoll der Vorstandssitzung hielt hinsichtlich der oben erwähnten Fernsehsendung fest, die Bayer-Vertreter hätten sich „in dieser Veranstaltung gut behauptet“, und Broja fügte gegenüber dem Vorstand an: „Insgesamt dürfen sich die Unternehmen in ihrer Umweltschutzpolitik nicht mehr abwartend verhalten, sondern es wird ein aktives Vorgehen erforderlich, um den ständigen Angriffen besser begegnen zu können. Es ist wichtig, die Bevölkerung rechtzeitig aufzuklären und die durch Rundfunk und Presse hervorgerufene Verunsicherung abzubauen.“694 Obwohl also das nun implementierte Störfall- und Katastrophenmanagement funktionierte, führte der Dormagener Störfall für das Unternehmen zu einem bis dahin nicht gekannten Angriff von Seiten der Medien und bundesweiter Protestgruppen. Der Bundestag nahm das Ereignis als Paradebeispiel für die weitere Diskussion über die zu beschließende Störfallverordnung.695 Trotz der Abbildung gesellschaftlicher Erwartungshaltungen in formellen Strukturen des Unternehmens, trotz ver691 Ebd., hier Produkte bei der Verbrennung/Verschwelung von Gusathion. 692 Ebd. S. 2. 693 Vgl. Vorstandsitzung in Leverkusen am 18. Dezember 1979, in: BAL 387/1 Vol. 18 Vorstandsprotokolle 19.09.78–19.03.80. 694 Ebd. 695 Vgl. Markus Raasch, S. 578.
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änderter Sinnstrukturen und einer erneuerten Sicherheits- und Umweltschutzkultur gelang es Bayer nicht, mögliche schwerwiegende Unternehmenskrisen infolge chemisch-technischer Störfälle auszuschließen. Diese Krisen waren aber aus der Sicht eines Ursache-Wirkungs-Schemas unbegründet: Für zeitgenössische Verhältnisse hatte sich das Unternehmen den gemäßigten Erwartungen und natürlich auch dem formalen Immissionsschutz gebeugt. Doch vermochte es der Konzern selbst durch nun korrektes und von außen erwünschtes Verhalten sowie trotz nachweislich legitimer Handlungsmuster nicht, den Anfeindungen im Störfall zu entgehen. Vertrauen und Integrität waren verloren gegangen, und dies wurde durch die Ängste in der Folge von Seveso weiter begünstigt. An einem zweiten Beispiel, diesmal ein Unfall bei Henkel696, möchte ich meine dargestellte Hypothese bestätigen. Da sich das im Folgenden geschilderte Ereignis im Dezember Jahr 1986 zutrug, muss bereits an dieser Stellen auf die Besonderheit dieses Jahres hingewiesen werden: Im April 1986 war es zur Kernschmelze im Reaktor von Tschernobyl gekommen, und im November 1986 kam es zu einem Brand bei der Firma Sandoz in Schweizerhalle, wobei auch der deutsche Rhein durch in den Strom geflossenes Löschwasser stark verunreinigt wurde. Ich werde auf diese Aspekte im Schlusskapitel noch einmal eingehen, um auf die geänderten Voraussetzungen hinzuweisen, die weiterführende Forschung zum Thema Risiko- und dann auch Krisenverhalten von Unternehmen mit Risikotechnologien zu berücksichtigen haben werden. Allgemein gilt sicher: Nach Tschernobyl und Schweizerhalle beobachten wir eine noch kritischere Technikfolgeabschätzung und eine nochmals verstärkte Hysterie gegenüber Risikotechnologien in Bezug auf den Umweltschutz und in Bezug auf das menschliche Leben.697 Zu den Ereignissen bei Henkel: Anfang Dezember 1986 fand der Werkschutz auf einem firmeneigenen LKW-Parkplatz ein ascheähnliches Pulver vor, das sich bei einsetzendem Regen rot färbte und teilweise in einen angrenzenden Bach geschwemmt wurde.698 Der herbei geeilte bzw. laut Alarmierungsplan gerufene Mitarbeiter der Öffentlichkeitsarbeit, Fischer, dokumentierte die Aufräumarbeiten wie auch alle reaktiven Maßnahmen. Ebenso verständigten die Mitarbeiter des Werkschutzes gemäß des Alarmierungsplans die Werksfeuerwehr, die sofort damit begann, das Pulver aufzusammeln, die Kanalisation zu schützen und den Wasserlauf des Bachs mit Sandsäcken zu blockieren, damit das mutmaßlich kontaminierte Wasser abgepumpt werden konnte. Da sich weder Werksfeuerwehr noch 696 Bei Henkel gab es bis heute keinen Störfall im Sinne der Störfall-Verordnung. 697 Exemplarisch Walter Giger: The Rhine red, the fish dead. The 1986 Schweizerhalle disaster – a retrospect and long-term impact assessment, in: Environmental science and pollution research international 16 (2009), S. 98–111. 698 Vgl. Kurzinformation von Herrn Fischer / Stabstelle Information vom 03. Dezember 1986, in: Konzernarchiv Henkel J 357, Werkfeuerwehr, Mappe 1980–1990. Vgl. auch den Hilfeleistungsbericht der Werksfeuerwehr zum Einsatz am Hoxbach vom 10. Dezember 1986, in: Konzernarchiv Henkel J 357, Werkfeuerwehr, Mappe 1980–1990. Der Bericht deckt sich exakt mit den Angaben, die von Fischer gemacht wurden. Zur korrekten Abwicklung der Meldewege ebenfals: Auszug aus dem Wachbuch für Wache 1 der Werkfeuerwehr der Firma Henkel KGaA vom 02. Dezember 1986, in: Konzernarchiv Henkel J 357, Werkfeuerwehr, Mappe 1980–1990. Hier findet sich auch die ausgefüllte Standardmeldung für Stör- und Unfälle.
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Werkschutz die Herkunft des mysteriösen Materials erklären konnten, wurden umgehend Proben des Gemischs sowie Wasserproben aus dem Bach und der Kanalisation gezogen und eine Toxizitätsanalyse veranlasst, außerdem die zuständigen Behörden zu Rate gezogen und der Werksleiter verständigt.699 Da es an diesem Dezember-Abend dunkel war, musste die Feuerwehr das Gelände mit Scheinwerfern ausleuchten, was ein Reporter des „Düsseldorfer Express“ bemerkte. Fischer von der Henkel-Öffentlichkeitsarbeit notierte zum Eintreffen des Journalisten und über das Gespräch mit ihm zunächst beruhigt: „Gegen 18.30 Uhr kam Herr Classen vom Express vorbei, fotografierte an allen Stellen. Dr. Mal. [ein Henkel-Analytiker, T.J.] und ich kümmerten uns um ihn, erklärten die Situation. Er sah jedoch ein, daß hier Henkel alles nur erdenkliche inszeniert, um irgendeinen Schaden schon im Keim zu ersticken. Nach Rücksprache mit seiner Redaktion meinte Herr Classen, er werde in der Mittwochausgabe […] nichts bringen, werde sich aber […] mit mir in Verbindung setzten, um Näheres zu erfahren.“700
Zunächst schien die entspannte Haltung Fischers auch korrekt zu sein. Die „Rheinische Post“ berichtete über den Vorfall angemessen; sie gab richtig wieder, dass die Polizei und die zuständigen Behörden eingeschalten wurden, um jede Umweltgefährdung auszuschließen, obwohl das Pulver immer noch nicht einwandfrei identifiziert wurde und vermutlich auch nicht von Henkel stammte, da es weder dort produziert noch verarbeite werde.701 Sehr drastisch war aber der Sensations-Journalismus des Reporters Classen, als dieser mit dem Titel: „Henkel: Chemie-Unfall als Übung getarnt…“ schockierte.702 Sicherlich handelte es sich bei der Zeitung, für die er arbeitete, um ein Boulevard-Blatt. Dennoch wird hier ersichtlich, mit welch einfachen Mitteln die Angst der Menschen vor einem Chemie-Unglück erstens angesprochen und zweitens weiter vorangetrieben werden konnte. Der Reporter berichtete von seinem Eintreffen am Unfallort und einem Gespräch mit einem Feuerwehrmann von Henkel: „‚Was ist denn hier passiert? Ein neues Chemie-Unglück?“‘ Beschwichtigend versicherte ein Wehrmann: „‚Nichts ist passiert! Wir machen hier nur eine Übung.“‘ EXPRESS deckt auf: Die ‚Übung‘ war ein Ernstfall! Inzwischen ermittelt die Kriminalpolizei.“703 Ein Schreiben des Leiters der Stabstelle Information und Öffentlichkeitsarbeit an den verantwortlichen Chefredakteur ist ein Beispiel dafür, dass die Unternehmen nun damit begannen sich gegen solche verzerrten Darstellungen zur Wehr zu setzen. Der Vorfall mündete in einem Schlagabtausch, 699 Vgl. Kommentar zu einer Pressemeldung des Vorfalls für den Werkleiter Schulenburg durch Herrn Fischer vom 04. Dezember 1986, in: Konzernarchiv Henkel J 357, Werkfeuerwehr, Mappe 1980–1990. 700 Kurzinformation von Herrn Fischer / Stabstelle Information vom 3. Dezember 1986, in: Konzernarchiv Henkel J 357, Werkfeuerwehr, Mappe 1980–1990. 701 Vgl. „Henkel-Wehr saugte rote Brühe ab“, aus: Rheinische, ohne weitere Angaben vom 04. Dezember 1986, ohne Seitenangaben, Abschrift durch Presse-Dokumentationsstelle der Henkel KGaA, in: Konzernarchiv Henkel J 357, Werkfeuerwehr, Mappe 1980–1990. 702 Vgl. „Henkel: Chemie-Unfall als Übung getarnt…“ aus: Düsseldorfer Express, ohne weitere Angaben vom 04. Dezember 1986, ohne Seitenangaben, Abschrift durch Presse-Dokumentationsstelle der Henkel KGaA, in: Konzernarchiv Henkel J 357, Werkfeuerwehr, Mappe 1980– 1990. 703 Ebd.
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der wohl zugunsten von Henkel ausging, da sich im Archiv des Unternehmens auf die folgende Tirade gegen den „EXPRESS“ keine Antwort mehr finden ließ: „[N]ach dem Beitrag Ihres Redakteurs […] sollten wir uns so schnell wie möglich darauf verständigen, daß dies die endgültig letzte Schlagzeile war, die Express, Düsseldorf, auf Kosten von Henkel gebracht hat. Zu den Facts: […] Das restliche Kilogramm [hier wird sich auf die Menge des Materials bezogen, das durch den Regen weggespült wurde, T.J], ist nicht in den Regenwasserkanal gelangt, sondern von unsere Feuerwehr kontrolliert abgespritzt worden, damit die Substanz eben nicht unkontrolliert […] versickert. Die Entscheidung abzuspritzen und das gefärbte Wasser vor Eintritt in den Hoxbach wieder abzusaugen, ist im übrigen gemeinsam von den Experten des Henkel-Gewässerschutzes, der Henkel-Feuerwehr und der Unteren Wasserbehörde getroffen worden. […] Zu keiner Zeit hat eine Gefährdung der Umwelt bestanden. Es verbietet sich deshalb wohl von selbst, von einem Chemieunfall zu sprechen, schon gar nicht von einem Chemie-Unfall bei Henkel. Bei allem Verständnis für ihre Arbeit des Boulevard-Journalismus und ihrer Einstellung, daß die einfache Wahrheit nicht reicht, sondern daß es eine aufgebauschte Wahrheit sein muß, bin ich der Meinung, daß ihr Redakteur durch falsche Facts und völlig unangemessene Übertreibung den vor unsere Tür gefunden Dreck mit Chemie-Katastrophe gleichsetzt. Diese Art des Journalismus ist auch deshalb unverantwortlich, weil er die seriöse und vertrauensvolle Arbeit der 13.000 Henkel-Mitarbeiter diffamiert. Insofern verstehe ich voll und ganz die Reaktion des zitierten Mitarbeiter (der offensichtlich geahnt hat, wie sein Handeln von Herrn Classen behandelt wird), daß er die Arbeit der Feuerwehr als Übung hingestellt hat.“704
Wie auch im Falle des beschriebenen Vorfalls bei Bayer hatte Henkel hier mit einer Art von Sensationsgier zu kämpfen, die die Ängste der Bevölkerung noch weiter schürte. Als Kenner der öffentlichen Meinung sprach der Leiter der Stabstelle selbst von einer Chemie-Katastrophe, da er um die Absichten des Boulevardblattes wusste. Es ging nun allein darum, das Unternehmen zu verteidigen, was auch bei bewiesener Unschuld oder berechtigten Zweifeln der unternehmerischen Schuld nötig geworden war. Wie auch im Falle von Bayer waren die ersten Analysen bei Henkel zutreffend: Vermutlich war der harmlose Stoff dort von einem parkenden Lastwagen verloren worden. Auch die zuständige Wasserbehörde bestätigte die Unbedenklichkeit des Stoffes. Henkel hatte das abgepumpte Gemisch gelagert und um sicher zu sein, noch einmal eine externe Analyse durchführen lassen, damit das rot gefärbte Wasser in die Kanalisation eingeleitet werden konnte. Die Wasserbehörde gab hierzu ihr Einverständnis: „[U]nter Berücksichtigung der von ihrem Labor durchgeführten Toxizitätsanalysen bestehen von Seiten der Unteren Wasserbehörde keine Bedenken […].“705 Dennoch reichte der Vorfall aus, um die Werksfeuerwehr, den Werkschutz und die Stabstelle Öffentlichkeitsarbeit über Tage hinweg in Atem zu halten. 704 Brief von Ebrulf Zuber / Leiter der Stabstelle Information und Öffentlichkeitsarbeit an Herrn Wolfgang Ley / Express Düsseldorf vom 4. Dezember 1986, in: Konzernarchiv Henkel Pannen, Betriebsstörungen bei Henkel in Holthausen ab 1987–2002, unverzeichnete Akte. 705 Landeshauptstadt Düsseldorf / Untere Wasserbehörde an die Firma Henkel KGaA betreffend Vorfall am 02.12.1986, LKW-Parkplatz Nord/Oerschbachstraße vom 03. Februar 1987, in: Konzernarchiv Henkel J 357, Werkfeuerwehr, Mappe 1980–1990.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
Es hatten sich also tiefe Gräben zwischen Unternehmen und (den Ängsten) der Menschen aufgetan, die durch eine bis dahin nicht gekannte Sensationsgier noch verbreitert wurden. Die Reintegration als gesellschaftlicher Akteur blieb weiterhin zum Scheitern verurteilt. Bayer und Henkel vermochten es oft nicht einmal bei kleineren Vorfällen ihre Unschuld glaubhaft zu beweisen oder besser: die Vorfälle als das zu deklarieren, was sie darstellten, nämlich normale und unbedenkliche Störungen im betrieblichen Alltag, die als solche wahr- und ernst genommen wurden, und an deren Akzeptanz sie ihr Risikohandeln präventiv wie reaktiv ausgerichtet hatten. Dies reichte aber nach den Geschehnissen von Seveso, Tschernobyl und Schweizerhalle nicht mehr aus. Das konnte das hier angeführte Beispiel im Fall Henkel bestätigen. So skurril dies auch erscheinen mag: Die Chemie-Katastrophe konnte nun im öffentlichen Bewusstsein durch eine rotes Pulver stattfinden, das auf einem Parkplatz für LKW in der Nähe eines chemischen Betriebes gefunden wurde. Die Katastrophe war im öffentlichen Diskurs, der kulturellen Rahmung und dem kulturellen Gedächtnis der Menschen seit den ausgehenden 1970er Jahren allgegenwärtig. Der Umgang mit produktionsinduzierten Risiken war nach organisatorischen Lernprozessen weit fortgeschritten, er hatte sich zugunsten der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt verbessert und richtete sich an den Erwartungen und Forderungen formaler, informeller und kultureller Erwartungshaltungen aus. Bayer und Henkel hatten ihr Handeln an der Akzeptanz der Unbeherrschbarkeit chemischtechnischer Prozesse ausgerichtet, wobei diese Akzeptanz nicht gleichbedeutend mit der Zuschreibung von Normalität gesehen werden darf. Ich konnte am Beispiel beider Unternehmen zeigen, dass sie versuchten, der Öffentlichkeit vor Augen zu führen, dass sie nun gelernt hatten, dass der Extremfall möglich war. Bayer und Henkel anerkannten die Ängste der Menschen, die sich einer Risikotechnologie gegenüber sahen. Die wahrhaftig vorgenommen Anstrengungen und Verteidigungsstrategien, die Aufklärungs-Kampagnen durch die externe Unternehmenskommunikation, der ausgedehnte Dialog, der auf Konsens zielte wie auch die wahrhaftige Implementierung einer Kultur der Sicherheit für die Umwelt wurden aber von großen Teilen der kulturellen Rahmung nicht honoriert. Im Gegenteil: Hochrisikotechnologien waren seit langem von ihr nicht mehr anerkannt; es wurde in der öffentlichen Meinung nun immer öfter ihre Abschaltung gefordert. Die Unternehmen hatten diese gegen ihre Existenz gerichteten Sinnmuster erkannt, und sie mussten neue Wege finden, sich zur Wehr zu setzen. Die ständigen Herabwürdigungen ihrer Anstrengungen, das offene Misstrauen ihnen gegenüber und die verstärkten Anfeindungen, die explizite Forderung nach dem Abschalten ihrer Anlagen, führten dann zu bisweilen skurril anmutenden Reaktionen und Gegenmaßnahmen. Eine solche Gegenstrategie werde ich im Fall Bayer abschließend darstellen. Zur Vorgeschichte: Im Jahr 1982 trat auf einer Bayer-Hauptversammlung erstmals eine Gruppe „Kritischer Bayer-Aktionäre“ auf, die sich hauptsächlich gegen durch Bayer hervorgerufene Umweltgefahren wandte.706 Hieraus hervor ging dann zwei Jahre später die bis heute existierende und sich unter anderem aufgrund des 706 Geschäftsbericht der Bayer AG für das Jahr 1982.
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Dormagener-Störfall formierende „Coordination gegen Bayer-Gefahren“.707 Damit hatten kritische und gut organisierte Umweltschützer Stimm- und Eigentumsrechte an Bayer erhalten. Die führenden Mitglieder der Organisation gehörten der DKP an, was auch Bayer nicht verborgen blieb und dazu führte, dass man alle Aktionen der „Coordination“ beobachtete und sogar von einem „Maulwurf“ der DKP im eigenen Unternehmen ausging.708 Die Sorgen der Konzernspitze waren in dieser von gegenseitigen Angriffen und Abneigungen geprägten Zeit nicht unbegründet: Ziel der Anti-Bayer-Organisationen war eine gezielte Stimmungsmache, die jenseits konstruktiver Kritik und demokratischer Partizipation angesiedelt war. So wurde immer wieder dazu aufgerufen, die Hauptversammlungen der Bayer AG zu stören: „Doch wir sind ungeduldig. Wir wollen mehr. Mehr Leute, die sich über die Probleme bei und mit Bayer in informieren; mehr Organisationen, die in Sachen Bayer in Aktion gehen.“709 Wie solche Aktionen auszusehen hatten, schilderte ein führendes Mitglied der „Coordination“ und der DKP-Umweltschutzkommunen auf einem Vortrag des DKP-Kreisvorstandes in Ludwigshafen, bei dem auch ein „Beobachter“ – vermutlich ein BASF-Mitarbeiter – zugegen war und Bayer darüber „aufschlussreiche“ Informationen übermittelte: Ich will schildern, wie man solche Aktionen erfolgreich vorbereitet und durchführt. Wir waren rund vierzig Leute […].Wir verabredeten miteinander einen Forderungskatalog: Mehr Umweltschutz […], sauberer Rhein – Einstellung der Dünnsäureverklappung – Einstellung der PCB-Produktion [Polychlorierte Biphenyle, kanzerogene Verbindung, die in Verruf geraten war, T.J] […], Mitbestimmung bei der Planung von Produktionsstätten etc. Wir holten uns einen Juristen, damit unsere Anträge an die HV von Bayer auch formgerecht waren. Wir stellten zur AR-Wahl [Aufsichtsrat, T.J.] Gegenkandidaten auf. Bayer mußte unsere Anträge allen Aktionären zuschicken. Die Journalisten horchten auf und berichteten. Bayer reagierte, – wir waren wieder in der Presse. Wir machten eine Gegenveröffentlichung, eine Pressekonferenz, Leserbriefe … immer wieder Presseberichte … Dann Aktionen: Ankettungsaktion […], Faß-Aktion: Wir geben dem Bayer-Vorstand Fässer mit PCB zurück. Die will keiner haben … Immer wieder Presseberichte. Ich empfehle Euch, diese Aktionen einfach nachzuahmen, wir geben Euch hier bei der BASF gerne jede Starthilfe, insbesondere bei den juristischen Fragen.
707 Zur Geschichte und den eigens entworfenen Zielen der Organisation vgl. URL: http://www. cbgnetwork.org (15.01.2013). 708 Vgl. Schreiben von Herrn Schmidt / Öffentlichkeitsarbeit an den Vorstandvorsitzenden der Bayer AG Prof. Grünewald et.al. betreffend „Internationale Coordinationsstelle – Aktiv gegen Bayer-Umweltgefährdungen“ vom 08. März 1984, in: BAL 388/218 Vol. 2 Werksverwaltungen Leverkusen, Sprecherausschuss 1984. Ebenso Schreiben von Herrn Schmidt / Öffentlichkeitsarbeit an den Vorstandvorsitzenden der Bayer AG Prof. Grünewald et.al. betreffend DKP-Agitation gegen Bayer vom 09. April 1984, in: BAL 388/218 Vol. 2 Werksverwaltungen Leverkusen, Sprecherausschuss 1984. 709 Schreiben von Herrn Schmidt / Öffentlichkeitsarbeit an den Vorstandvorsitzenden der Bayer AG Prof. Grünewald et.al. betreffend „Internationale Coordinationsstelle – Aktiv gegen BayerUmweltgefährdunge“ vom 08. März 1984, hier Anlage: Rundbrief Nr. 1, 2. Jg. der Internationalen Coordination – Aktiv gegen Bayer-Umweltgefährdung sowie der Alternativen BayerAktionäre, in: BAL 388/218 Vol. 2 Werksverwaltungen Leverkusen, Sprecherausschuss 1984.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel Es wurde dann eine Videoaufnahme […] abgespielt. Der Film zeigte Dünnsäureverklappung in der Nordsee, die DKP-Aktionen vor Bayer-Werkstoren und vor der HV [Hauptversammlung, T.J.] […]. Der Streifen war eindeutig antibayer kommentiert und entsprechend gefilmt. Ein folgendes Gespräch mit Bayer-Sprecher Schmidt lag auch voll auf dieser Linie.“710
Was sich hier liest wie ein Agentenroman aus der Zeit des Kalten Krieges gibt sehr anschaulich die gegenseitige feindliche Haltung wieder. Explizit konnten die Bayer-Gegner mit Hilfe ihrer Stimme Einfluss auf die Unternehmenspolitik nehmen, Forderungen nach Abschaltungen und Produktionseinstellungen wiederholen. Generalstabsmäßig wurden Großproteste etwa auf der Bayer-Hauptversammlung 1984 vorbereitet.711 Es hatte sich eine neue alternative, aus der damaligen Unternehmenssicht weit links positionierte und systemkritische Solidargemeinschaft gegen Bayer und seinen Umgang mit produktionsinduzierten Risiken gebildet, die auf das Herzstück des Unternehmens einwirken wollte: sein Eigentum und seine Unternehmenspolitik. Medienwirksam wurden diese Aktionen durchgeführt, um eine Plattform zur Rekrutierung neuer Mitstreiter zu haben. Sicherlich konnte hier nicht von Großaktionären die Rede sein. Jedoch war in der Mitte der 1980er Jahre aus Verhandlungsprozessen zweier gesellschaftlicher Akteure – nämlich Bayer als Produzent von Risiken einerseits und einer protestbereiten Öffentlichkeit andererseits – ein Geflecht entstanden, welches auf einer abstrakteren Ebene über Umweltthemen stritt: Auf einer gesellschaftspolitischen und oft auch auf einer zwischenmenschlichen Ebene hatte sich nun ein Disput über Systeme entwickelt. Eine alternative von links kommende und konzernfeindliche Bewegung agierte unter dem Deckmantel von Umweltschutzthemen gegen eine liberale Wettbewerbsordnung. Die Konzernspitze war ihrerseits spätestens seit 1985 zu einer „Wir verhandeln nicht mehr“-Strategie übergegangen. Daher ergriffen Arbeiter und Angestellte die Initiative, damit sich das Unternehmen als gesellschaftlicher Akteur rehabilitierte. Von unten machten sie ihrem Unmut Luft und gründeten 1983 selbst eine Bürgerinitiative, deren Name alleine die herrschenden Stereotypen ausdrückte: Sie nannten sich „Malocher gegen Schmarotzer“.712 Bereits in der Vorstellung der Initiative wird deutlich, wie sehr die Mitarbeiter des Unternehmens unter den Anfeindungen litten, waren sie doch überzeugt, tagtäglich in einem nun umweltgerechten Unternehmen zu arbeiten: „Wir haben uns zusammengeschlossen, weil wir die Diffamierungen und Unwahrheiten über unsere Arbeit nicht mehr hören können. Wir wenden uns gegen Berufsdemonstranten und Schmarotzer. […] Wir reden nicht nur über Umweltschutz, wir praktizieren ihn täglich bei
710 Ebenso Schreiben von Herrn Schmidt / Öffentlichkeitsarbeit an den Vorstandvorsitzenden der Bayer AG Prof. Grünewald et.al. betreffend DKP-Agitation gegen Bayer vom 09. April 1984, hier vertrauliche Anlage: Vortrag von Dr. Heimbrecht zum Thema „Alternative Aktionäre als Kritiker der Bayer-Konzernpolitik“, in: 388/218 Vol. 2 Werksverwaltungen Leverkusen, Sprecherausschuss 1984. 711 Exemplarisch: Internationale Coordinationsstelle – Aktiv gegen Bayer Umweltgefährdungen e.V., Info 1 Kritische Aktionäre auf der Bayer-HV ’84, in: BAL 388/218 Vol. 2 Werksverwaltungen Leverkusen, Sprecherausschuss 1984. 712 Hierzu erstes Flugblatt der Bürgerinitiative nach der Bayer-Hauptversammlung 1983, undatiert, in: BAL 388/218 Vol. 1 Werksverwaltungen Leverkusen, Sprecherausschuss 1983.
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unserer Arbeit! […] Wir sind gegen Propaganda, die von grünem Umweltschutz spricht und rote Diktatur meint!“713
Die Animositäten, die ihre Anfänge im Umgang Bayers mit produktionsinduzierten Risiken nahmen, wurden nun zusehends politisch. So wie die Bayer-Gegner das Unternehmen angriffen, so hallte es auch polemisch zurück. Von Anfang an lässt sich eine Haltung der „Malocher“ konstatieren, die den Umweltschutz bzw. ihre und damit die Bayer-Meinung zum Thema instrumentalisierte, um die links-orientierte Chemie-Kritik in ihre Schranken zu weisen. Dies wird bereits an den Rufen auf der Bayer-Hauptversammlung 1983 deutlich, auf der die „Malocher“ sich das erste Mal vor ihr Unternehmen stellten: Wir haben die Motzer satt! Motzer machen uns nicht satt! Panikmache – nein Danke! Bayer forscht auch für Euch! Diskussion ja – Panikmache nein! Kein Platz für rote Schlachtenbummler! Meckern ist leicht – ARBEITEN [Hervorhebung im Original, T.J.] ist schwer! Kein Platz für Berufsmotzer!714
Bei dieser Form der Aushandlungsprozesse ging es nicht mehr um die Sache des Umweltschutzes selbst; es hatte sich eine politisch motivierte Kraftprobe zwischen Unternehmen der chemischen Industrie und der neuen Umweltbewegung herausgebildet, die zumindest Bayer zu entgleiten schien. Hierfür sprechen erstens die Warnung der Bayer-Mitarbeiter, es gebe immer wieder politischen Missbrauch der Hauptversammlung, wo regelmäßig Gegenanträge zur bisherigen Unternehmenspolitik und gegen die Interessen von Bayer eingereicht wurde: „Themen wie Umweltschutz […] werden seit drei Jahren auf der Hauptversammlung zu Agitationszwecken benutzt. […] Die Methode, die Hauptversammlung zu einer Arena für Verleumdungen umzufunktionieren, wird von der DKP als Errungenschaft betrachtet und zur Nachahmung empfohlen.“715 Darin zeigt sich zweitens, dass die „Kritischen Bayer-Aktionäre“ bis zur Mitte der 1980er Jahre einigen Zuspruch erhielten, indem sie es schafften, medienwirksam aufzutreten. Auf diese Strategie wollte Bayer seinerseits nicht mehr reagieren, wie ich zeigen konnte.716 Drittens waren die Anklagepunkte gegen Bayer oft weit von der Realität entfernt, so dass hier ein gewisses Sensations-Bedürfnis zu vermuten ist. Da es das Unternehmen nicht vermochte, sich als gesellschaftlicher Akteur zu rehabilitieren, trauten weite 713 Vorstellung der Bürgerinitiative durch ein Flugblatt, unterzeichnet von Gisela Bollig, undatiert, in: BAL 388/218 Vol. 1 Werksverwaltungen Leverkusen, Sprecherausschuss 1983. 714 Parolen der Bürgerinitiative „Malocher gegen Schmarotzer“ unbekannter Absender an Heidenpeter vom 24. Juni 1983, in: BAL 388/218 Vol. 1 Werksverwaltungen Leverkusen, Sprecherausschuss 1983. 715 Bayer Intern, Mitteilung für Führungskräfte, Leitende Mitarbeiter und Angestellte Sonderausgabe vom Juni 1984, in: BAL 388/218 Vol. 2 Werksverwaltungen Leverkusen, Sprecherausschuss 1984. 716 Exemplarisch eine WDR 1-Sendung zu einer Aktion der „Kritischen Aktionäre“, hier Tonbandabschrift der Sendung „Echo West“ vom 28. Juni 1983, in: BAL 388/218 Vol. 2 Werksverwaltungen Leverkusen, Sprecherausschuss 1984.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
Teile der kulturellen Rahmung dem Konzern zu, sich illegal am Vertrieb oder der Herstellung des chemischen Kampfstoffes „Agent Orange“, der im Vietnamkrieg eingesetzt worden war, beteiligt zu haben. Dies muss allerdings aus der Sicht meiner Forschungen klar verneint werden, denn wie ein vertrauliches Schreiben zeigt, enthält „Agent Orange“ Bestandteile von Trichlorphenol, das Bayer wie gezeigt – abermals als Folge von „Seveso“ – gar nicht mehr produzierte: „Bayer hat weder selbst noch über die US-Töchter (Helena/Mobay) Agent Orange produziert oder vertrieben. […] Nach dem 03.08.1976 hat man die Trichlorphenol-Produktion eingestellt, da man nicht wußte, wie es zum Unglück von Seveso kommen konnte.“717 Wir beobachten in der Mitte der 1980er Jahre eine Strategie von Seiten des Konzerns, sich nicht mehr auf die Scharmützel mit einer aus ihrer Sicht radikalisierten Umweltbewegung einzulassen. Der Kampf um Legitimität und gesellschaftliche Rehabilitierung, was den Umgang mit produktionsinduzierten Risiken anbelangt, wurde nun auf beiden Seiten polemisch und politisch. Bayer dürfte hier jedoch im Nachteil gewesen sein, da das Misstrauen gegenüber der chemischen Industrie zu groß wurde. Als Beweis kann wieder im Zusammenhang mit der „Malocher“Initiative in ihrer Verbindung zur Konzernspitze argumentiert werden: Es kann nur vermutet werden, ob die Konzernleitung die Bürgerinitiative unterstützte, die sich ab 1984 nur noch „Die Malocher“ nannte und nicht müde wurde zu betonen, dass die Bayer-Mitarbeiter „keine Angst vor Panik-Macher[n]“ hätten und sie selbst eine Initiative „für Umweltschutz“ sei.718 Abschließend möchte ich anhand einer Rede eines Belegschaftsaktionärs von Bayer auf der Hauptversammlung 1985 zeigen, wie sich die eingefahrene und feindselige Lage darstellte, die sicherlich auch auf das Gesamtverhältnis Bayers zu großen Teilen seiner gesellschaftlichen Umwelt zutraf. Eigentlich wollte ich heute überhaupt nicht reden, da ich meinte, im Vorjahr sei alles gesagt worden zu diesen leidigen Anwürfen unserer roten Kinokarten-Aktionäre. Doch anscheinend war ich doch nicht deutlich genug. Wollen Sie denn niemals kapieren, daß hier in diesem Unternehmen ordentliche Menschen beschäftigt sind, die anständige Arbeit leisten? Meinen Sie, wir hätten nichts anderes zu tun, als Gesetze mit Füßen zu treten? Und wenn Sie immer wieder behaupten, Sie allein hätten das Recht gepachtet zu wissen, was gute und schlechte Umwelt ist, dann nehmen Sie doch endlich zur Kenntnis, daß unsere hauptamtlichen Umweltschützer […] für den Umweltschutz arbeiten. Hören Sie: Arbeiten! […] Wenn Sie jemals einen Arbeitsplatz bei uns gesehen hätten, hätten Sie mal mit den Leuten dort sprechen können. Und Ihnen zuhören können. Die sind nicht so blöd, wie Sie sie unverschämterweise machen wollen. Unser Betriebsklima stimmt, und wenn Sie nicht hier wären, wäre auch das Klima heute in dieser Halle in Ordnung. Obwohl ich eigentlich sagen muß, unsere Firma müßte Ihnen dankbar 717 Vertrauliche und eilige Notiz von Herrn Willig / Öffentlichkeitsarbeit an Herrn Dr. Hulpke et.al. betreffend Agent Orange vom 22. Juni 1983, in: BAL 388/218 Vol. 2 Werksverwaltungen Leverkusen, Sprecherausschuss 1984. 718 Vgl. Flugblatt der Bürgerinitiative „Die Malocher“ für die Hauptversammlung 1985, in: BAL 388/218 Vol. 3 Werksverwaltungen Leverkusen, Sprecherausschuss 1985.
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sein. Sie regen uns nämlich zu neuer Arbeit an. Denn bei aller Forschung nach neuen Medikamenten ist es uns leider noch nicht gelungen, ein ganz Bestimmtes zu finden, nämlich ein Mittel gegen die Dummheit. Doch das verspreche ich Ihnen: Wenn wir das Mittel gefunden haben, weiß ich schon, wem ich es schenke. […] Deswegen rufe ich ebenso Ihnen zu: Hören Sie auf, Ihre Mitmenschen zu quälen mit Ihren durch nichts zu rechtfertigenden Horrormeldungen.719
Die Rede macht deutlich, dass sich der Bayer-Konzern nun in einer ständigen, latenten Krisensituation befand, ausgelöst durch eine radikalisierte kulturelle Rahmung unter dem Deckmantel des Umweltschutzes. Der Umweltschutz hatte Einzug in die Unternehmenskultur von Bayer gehalten, die transportierten – wenn auch propagandistisch verstärkten – Sinnmuster des Redners zeugen davon. Das institutionelle Arrangement von Bayer, die Sinndeutungsgemeinschaft in Bezug auf den Umweltschutz und die damit verbundenen äußeren Sicherheitsvorstellungen hatten sich in knapp fünfzehn Jahren vollkommen verändert. Dies reichte jedoch nicht aus, den Anfeindungen der kulturellen Rahmung entgegenzuwirken. Nun hatte sich ein stereotypes Bild von ehrlich arbeitenden Menschen auf der einen und links orientierten Antidemokraten auf der anderen Seite konstituiert. An Unverschämtheiten von beiden Seiten wurde nicht gespart. Die feindselige Haltung der einen Seite beflügelte die jeweils andere. Für die Bayer-Mitarbeiter waren die Taktiken der neuen Umweltbewegung eine Qual, wenn sie sich und ihre Arbeit zu unrecht an den Pranger gestellt und diffamiert sahen. Eine ‚klassenkämpferische‘ Stimmung hatte sich gebildet, die aus den Aushandlungen über unternehmerisches Risikoverhalten entsprungen war. Jede ‚Horrormeldung‘ konnte nun zu ausgewachsenen Legitimations-Krisen für die Unternehmen führen, wie ich dies im hier betrachteten Zeitraum an öffentlichen Reaktionen auf (teilweise lapidare) Stör- und Unfällen zeigen konnte. Die chemische Industrie hatte es trotz nach zeitgenössischen Maßstäben moderner Verantwortungskonzeptionen und -strategien nicht vermocht, das in sie gesetzte Vertrauen der 1950er und 1960er Jahre zurückzuerobern. Beide Seiten wollten einander nicht mehr zuhören, wie die obige Rede deutlich macht. Konstruktive Kommunikation zwischen dem Umweltsünder und vermeintlichen Todbringer chemische Industrie und einer neuen Umweltbewegung konnte es in diesem historischen Setting nicht mehr geben, auch wenn sich Lernprozesse in den Unternehmen vollzogen hatten, die auf Nachhaltigkeit und Verantwortung im Umweltschutz ausgerichtet waren. Diese Lernprozesse wurden von außen nicht wahrgenommen oder honoriert – die kulturelle Rahmung glaubte nicht an ihre Richtigkeit oder daran, dass sie tatsächlich vollzogen wurden. Das unternehmerische Risikohandeln und damit seine Erzeuger waren in keiner Weise mehr legitim, der Grund dafür lag in ihrer Existenz. Auf die Spitze getrieben bedeutet dies: Nur das Verschwinden der Unternehmen selbst hätte in diesem historischen Setting den herrschenden Konflikt zwischen den gesellschaftlichen Akteuren aus Sicht der Protestkultur lösen können.
719 Rede des Belegschaftsvertreters Buss auf der Bayer-Hauptversammlung 1985, datiert auf den 25. Juni, in: BAL 388/218 Vol. 2 Werksverwaltungen Leverkusen, Sprecherausschuss 1984.
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
3.3.4 Zusammenfassung: Ist Seveso überall? Die chemische Industrie vor der Herausforderung polemischer Angriffe, der ständigen Umwelt-Krise und der gescheiterten Reintegration als gesellschaftlicher Akteur Bayer und Henkel hatten sich bis zum Dioxin-Unglück von Seveso auf eine Sinnsuche begeben. Nur sehr zögerlich hatte sich ihr inner-unternehmerisches institutionelles Arrangement verändert und eine Sicherheitskultur konstituiert. Oft nur unter Protest und mit Unverständnis adaptierten die Unternehmen bis zur Mitte der 1970er Jahre gesellschaftliche Erwartungshaltungen. Zu fremd waren ihnen der damit einhergehende Verlust an Macht- und Deutungshoheiten und der drohende Entzug von Legitimität. Mit anderen Worten: Einen neuen Pfad im Umgang mit produktionsinduzierten Risiken einzuschlagen, fiel ihnen nach ihren Erfahrungen der 1950er und 1960er Jahren, in denen sie als Herr im Feld und ökonomischer Heilsbringer gegolten hatten, schwer. In den Jahren nach „Seveso“ beobachten wir sowohl inner- wie außerhalb der Unternehmen neue Strömungen. Im Äußern hatten sich abermals strengere formale Institutionen gebildet, die explizit auf die Störfall-Abwehr ausgerichtet waren. Die neuen Spielregeln bezogen sich vor allem auf den Katastrophenschutz, der nun Chemiekatastrophen einschloss. Die Aspekte des neu gedachten Immissionsschutzes stellten nach den Erfahrungen von Seveso auf ein geringeres Gefährdungspotenzial für die natürliche und lebensweltliche Umwelt ab. Im Innern der Unternehmen beobachten wir in der Folge dieser Änderungen des formalen Immissionsschutzes eine sehr schnelle Einbeziehung dieser Forderungen in ihre Kalküle. Dies zeigte sich unter anderem an der offenen Ansprache von Problemen und Fehlern der Vergangenheit oder an der Akzeptanz der neuen Forderungen und Erwartungshaltungen ohne Protest von Seiten der Unternehmen. Auf der Handlungsebene von Bayer und Henkel konnte ich dies etwa an massiven Anstrengungen der externen Unternehmenskommunikation, der Einstellungen von äußerst gefahrenträchtigen Produktionsverfahren bzw. deren Modifikation oder an einem neu eingeführten Störfall- und Katastrophenmanagement zeigen. Als Beispiel hierfür dienten mir wiederholte Alarmübungen – heute würde man diese wohl als Stresstests bezeichnen; heutige Stresstests beinhalten Elemente des Risikohandelns von Unternehmen, die in den 1970er Jahren erfunden wurden. Die Tatsache, dass auch Henkel mit seinem weniger gefahrträchtigen Produktionsprogramm bzw. ohne Störfall (laut Störfall-Verordnung) diese Übungen durchführte, verdeutlicht einerseits die Ernsthaftigkeit des neuen Risikohandelns in der chemischen Industrie. Sie zeigt aber andererseits auch, dass sich die chemische Industrie ihrer Verantwortung gegenüber der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt bewusst geworden war, und schließlich illustriert sie die Furcht der Unternehmen in Folge eines Störfalls weiter in Misskredit zu geraten, womit auch die Sinnhaftigkeit aus Unternehmenssicht gezeigt wurde. Sie hatten die Zeichen der Zeit erkannt und thematisierten die Folgen ihrer produktionsinduzierten Risiken für die Umwelt im Innern wie auch nach außen in einem auf Konsens angelegten und offenen Dialog. In diesem Kapitel wurde ebenfalls gefragt, ob denn die Furcht vor einem weiteren Legitimitätsverlust aus Sicht von Bayer und Henkel erstens gerechtfertigt war
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und ob zweitens die Unternehmen von Seiten der kulturellen Rahmung zu Recht weiterhin unter Generalverdacht standen. Die erste Frage muss mit einem klaren Ja beantwortet werden: Aus den Ursprüngen des Umweltbewusstseins der frühen 1970er Jahre hatte sich eine neue, in ihren Aktionen und Forderungen aus zeitgenössischer Sicht oft radikale Umweltbewegung gegründet. Die Aktivisten wurden unterstützt durch eine neu entstandene Furcht und damit erhöhter Gefahrenzuschreibungen der kulturellen Rahmung in der Folge des Unglücks von Seveso: Der Beweis der totbringenden Chemie-Gefahren war in dem kleinen lombardischen Städtchen erbracht worden. Seit den späten 1970er Jahren erfuhren die Sinndeutungen einer schützenswerten Umwelt erneut eine Veränderung: Apokalyptische Szenarien einer Zerstörung des Lebens hatten Einzug in den öffentlichen Diskurs und die Gefahrenzuschreibungen der bundesdeutschen Gesellschaft gehalten. Damit verbunden waren einerseits Mahnrufe etwa vor dem drohenden Waldsterben oder dem Ende der europäischen Gewässer. Zweitens war damit die Aufmerksamkeit auf die chemische Industrie – die nun in ihrem Gefahrenpotenzial der Kernkraft weitgehend gleichgestellt wurde – gelenkt; der GAU war denkbar und er brachte ökologische Katastrophen mit sich. So konnten sich Sinnmuster formen, die sich gegen Hochrisikotechnologien richteten. Diesen außer-unternehmerischen Sinnmustern entsprangen Stereotypen, die nur noch zwischen Verursacher und Betroffenem, zwischen Täter und Opfer oder zwischen Gut und Böse unterschieden. Eine massenmediale Sensationsgier und allgemein unternehmenskritische Stimmungen speisten diese Bilder. Vor dem Hintergrund der Institutionenanalyse von Scott heißt das: Die normativen wie auch kulturellen Dimensionen hatten sich in eine Richtung verändert, die ohne das Unglück von Seveso wohl nicht möglich gewesen wären. Ich habe an vielen Stellen auf den direkten Bezug zu „Seveso“ durch die Ankläger verwiesen. Die normative Dimension war gleichgesetzt mit Forderungen des Abschaltens chemischer Anlagen und dem Entzug des Rechts, zu produzieren. Wünschenswert war nur noch Sicherheit, was notfalls mit radikalen Mitteln gegenüber den Unternehmen zum Ausdruck gebracht wurde. Die kulturelle Dimension verweist auf eine sich neu konstruierte Wirklichkeit, die nur noch die oben beschriebene Schwarzweiß-Malerei zwischen der Umweltbewegung und ihren vielen Sympathisanten auf der einen Seite sowie der chemischen Industrie auf der anderen Seite kannte. Vor dem Hintergrund dieser Gut-böse-Wirklichkeitskonstruktion muss dann die zweite Frage beantwortet werden, ob die Radikalisierung und enorm verstärkte Anfeindung gegenüber den Unternehmen angemessen war. Aus der Sicht einer unternehmenshistorischen Analyse wäre es verfehlt, die Frage nach Recht und Unrecht beantworten zu wollen. Innerhalb des historischen Kontextes war die Radikalisierung und die damit eng verbundenen Anfeindungen sicherlich nachvollziehbar, berücksichtigt man die Argumente der Protest-Akteure. Behält man aber wie die vorliegende Arbeit den zeitlichen Verlauf und die damit einhergehenden Veränderungen des unternehmerischen Risikohandelns im Blick, dann tendiere ich bei der Beantwortung der Frage nach der Angemessenheit der Anfeindungen zu einem Nein. Ich konnte in der Folge der Seveso-Zäsur die Anstrengungen der Unternehmen zeigen, nun Sicherheit im
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
Bezug auf den Umweltschutz in ihre strategischen, operativen und kommunikativen Überlegungen zu implementieren. Es wurden Produktionsanlagen herabgefahren und Verfahren geändert. Flankierend öffneten sich die Unternehmen in ihrem Austausch und den Verhandlungen mit den institutionellen und kulturellen Akteuren in einem stärkeren Maße, als dies in der Konstituierungsphase des Umweltschutzes und einer offenen Unternehmenspolitik bis 1976 der Fall gewesen war. Den gemäßigten Protesten gegenüber Bayer und Henkel wurde von Unternehmensseite nun nicht mehr mit Unverständnis und Argwohn begegnet. Bayer und Henkel stellten sich der Herausforderung und implementierten Umwelt schutz-, Sicherheits- und Katastrophenschutzsysteme nicht nur in ihre Fokalorganisation sondern auch in ihre Unternehmenskultur. Die Unternehmen selbst waren schockiert, dass ein Unglück wie in Seveso geschehen konnte bzw. sie hatten vollends ihre Deutungshoheit darüber verloren, dass es eben nicht geschehen könne. Ihre frühere Haltung zum Katastrophenpotenzial der chemischen Industrie wurde Lügen gestraft und – viel wichtiger – dies erkannten sie an. Sämtliche unternehmerischen Funktionsbereiche wurden im hier betrachteten Zeitraum auf diese Tatsache ausgerichtet, wie ich dies unter anderem in der weiteren Professionalisierung des Umweltschutz- und Sicherheits- bzw. dem Katastrophenmanagement zeigen konnte, was sowohl in strategischen wie operativen Bereichen galt. Dennoch hatte sich eine verfahrene Situation zwischen der chemischen Industrie und vieler ihrer gesellschaftlichen Anspruchsgruppen eingestellt, die einen Deutungskonflikt zum Thema Umweltschutz und Sicherheit zur Folge hatte. Dieser Konflikt konnte – auch wenn es von den Unternehmen gewünscht wurde – im hier betrachteten Zeitraum mit zeitgenössischen Strategien nicht gelöst werden, was ich vor allem am Beispiel von Bayer zeigen konnte. Die guten Absichten der entworfenen Verantwortungs- und Sicherheitsstrategien waren gewissermaßen nutzlos, da sie keine Beachtung und Anerkennung fanden; zu weit waren die Ansichten der chemischen Industrie und einer breiten Protestkultur auseinander geraten. Mit Christine Olivers Analyseschema der angewandten Strategien und Taktiken lässt sich der hier betrachtete Zeitraum aus meiner Sicht wie folgt darstellen: Die Strategie des Erduldens des formalen Immissionsschutzes wurde nun mit der zugehörigen Taktik des Befolgens der neuen Regeln des formalen Immissionsschutzes verbunden, und dies ohne großartige Widerworte im Innern. Die Unternehmen hatten erkannt, dass in der öffentlichen Wahrnehmung „Seveso“ überall sein konnte. Aus diesem Grunde erkannten sie die formalen wie informellen Institutionaliserungsprozesse an und verhandelten meiner Ansicht nach mit dem Ziel, Kooperation zu signalisieren und Konsens zu erzielen. Unter der neuen Prämisse der Katastrophenabwehr wurden Aushandlungsprozesse mit dem institutionellen Kontext und der kulturellen Rahmung geführt, die nun auch von den Unternehmen als nötig und angemessen betrachtet wurden. Folgerichtig korrespondiert damit die Strategie der Kompromisssuche, indem taktisch die Befriedigung der Erwartungshaltungen der Umwelt in den Mittelpunkt des Umgangs mit produktionsinduzierten Risiken gestellt wurde. Mit anderen Worten: Die Ängste der bundesdeutschen Gesellschaft wurden wahr- und ernst genommen und vor allem als legitimer betrachtet als dies noch wenige Jahre zuvor der Fall gewesen war. Eine Strategie des Vermeidens,
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die nach Oliver mit der Taktik des Verbergens von weiter existenten Problemen in den Unternehmen bzw. der Nichtkonformität unternehmerischer Institutionen mit gesellschaftlichen Erwartungshaltungen einhergeht, zeigte sich bis zur Mitte der 1980er Jahre aus meiner Sicht nicht. Es gab keine Entkopplung, da die wirtschaftlichen (Image-)Schäden im Falle einer Aufdeckung dieser Entkopplung immens gewesen wären. Daraus schließe ich, dass die Unternehmen es ernst meinten; deswegen möchte ich dafür plädieren, den Abschluss der Konstituierungsphase von modernen Verantwortungskonzepten und -strategien hinsichtlich des Themas Umweltschutz und Sicherheit für die Werksumwelt in dem hier betrachteten Zeitraum zu verorten; sie mussten sich in den Folgejahren jedoch etablieren und (an-)erkannt werden. Dafür spricht weiterhin das Fehlen von Anhaltspunkten, dass bis zur Mitte der 1980er Jahre weiter eine Strategie des Trotzes verfolgt wurde, wie sie zwischen 1970 und 1976 noch des Öfteren anzutreffen war. Auch eine manipulative Strategie im Sinne Olivers konnte nicht aufgedeckt werden. Diese wäre mit der Kooptierung einflussreicher außer-unternehmerischer Akteure einhergegangen. Ich konnte jedoch anhand des „Fahrtmann-Erlasses“ wie auch anhand der Störfall-Verordnung das endgültige Scheitern der Chemie-Lobby zeigen, wenn es um Verhandlungen der Umwelt-Sicherheit ging. Trotz dieser Ergebnisse meiner Untersuchung für den Zeitraum vom Sommer 1976 bis zur Mitte der 1980er beobachten wir eine paradoxe Situation: Die Unternehmen befolgten nun wie selbstverständlich die Forderungen des formalen Immissions- und Gewässerschutzes und erhöhten ihre Sicherheitsstandards ohne Widerworte. Sie traten in einen offenen Dialog mit ihrer kulturellen Rahmung und gingen nicht mehr weiter auf Kollisionskurs. Sie hatten die Sinnsuche nach der Richtigkeit ihres Handelns abgeschlossen. Ebenso hatten sie Sinn darin erkannt, sicher zu produzieren und die Umwelt zu schützen. Die dritte Sinnfindung sehe ich in der Anerkennung legitimer Proteste im Falle des fehlerhaften Handelns. Die potenzielle Umweltverschmutzung durch den eigenen Industriezweig und das Risiko für und im Un- oder Störfall wurde anerkannt und sukzessive verringert. Für zeitgenössische Verhältnisse darf man also eine verbesserte Umwelt-Situation und eine verbesserte Lebensqualität für die Werksumwelt, sogar das gesamte Bundesgebiet konstatieren. Dennoch schafften es die Unternehmen nicht, sich als gesellschaftlich anerkannter Akteur zu legitimieren. Ihr kulturrationales Handeln fand nur mäßigen Anklang und wurde oft nicht honoriert. Diesem Paradoxon möchte ich noch tiefer mit dem Modell des Unternehmens als offenes System im gesellschaftlichen Wertewandel auf den Grund gehen. Institutionalisierte oder habitualisierte Handlungen und Entscheidungen im Innern von Unternehmen sind nicht einfach zu steuern und zu koordinieren, wie das Modell des Unternehmens als offenes System postuliert. Unternehmen funktionieren und überleben demnach unter anderem deswegen, weil die einzelnen Akteure bzw. das Kollektiv im Sinne eines vorgebenden und interpretationsbedürftigen Ziels handeln und kooperieren; die Handlungen mit den zugehörigen Zielen sind wiederum abhängig vom geschichts- und kulturgeprägten Kontext, dem sich das Unternehmen gegenübersieht. Durch die Weitergabe von kulturellem Wissen über
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
gemeinsame Ziele und Regeln sowie die ihnen zugrunde liegenden Werte und Normen führt dies zu effizientem, zu kulturrationalem Wirtschaften. Im Fall der hier betrachteten Unternehmen der chemischen Industrie und ihrem Umgang mit produktionsinduzierten Risiken finden Institutionalisierungsprozesse dann statt, sobald sich habitualisierte Handlungsmuster innerhalb der Organisation ausprägen, die von Institutionen außerhalb der Werkstore angeleitet werden. Durch Sedimentation bilden sich innerhalb eines Unternehmens Glaubenssysteme an die Richtigkeit und den (nicht notwendigerweise monetären) Nutzen der übernommenen Elemente heraus. Ich konnte anhand formaler und informeller Sicherheitsinstitutionen bei Bayer und Henkel bis zur Mitte der 1980er Jahre aufzeigen, dass dieser Institutionalisierungsprozess im Innern der Unternehmen stattfand. Ich konnte auch zeigen, dass sich ein Glaubenssystem, eine gemeinsame Sinndeutung der Mitarbeiter von Bayer und Henkel gebildet hatte, die den Umweltschutz einschloss. Die Verteidigung des eigenen Unternehmens und der eigenen Arbeit durch die Rede des Belegschaftsaktionärs gegen die Vertreter der „Kritischen Aktionäre“ zeigte, wie sehr sich die Mitarbeiter mit diesem Thema und der Richtigkeit der Handlungslogiken von Bayer um die Mitte der 1980er Jahre identifiziert hatten. Es ging dort zwar um einen Schlagabtausch, jedoch ging es auch um die innere Überzeugung des Redners. Die Tatsache, dass Bayer die „Malocher“-Initiative nicht finanziell unterstützte oder weit reichend protegierte, untermauert diese These zudem. Das organisationale Feld respektive die kulturelle Rahmung hatten sich nach „Seveso“ strukturell kaum verändert; nach wie vor waren die Anspruchsgruppen von Bayer und Henkel die Behörden sowie die Menschen in der Werksumwelt. Jedoch hatte sich nach den Ereignissen von Seveso eine Solidargemeinschaft gegen die chemische Industrie gegründet, so dass meiner Ansicht nach nun eine gesellschaftliche Antipathie gegen die Unternehmen gerichtet wurde, die überregional in der neuen Umweltbewegung aufging. Die neuen Sinnmuster der Bewegung im Bezug auf Umweltschutz und Sicherheit waren gekennzeichnet von Forderungen, die sich gegen jede Art von Risikotechnologien richteten. Mit anderen Worten: In der bundesdeutschen Gesellschaft hatte sich eine Kultur gebildet, die sich gegen Risikotechnologien richtete. Im Sinne des Kulturverständnisses dieser Arbeit bewegten sich im außer-unternehmerischen Bereich die Abweichungsgrade gesellschaftlicher Erwartungshaltungen in einem Gefüge von Praktiken und Diskursen, die ein Kontinuum der Anfeindung und Radikalisierung gegen unternehmerisches Risikohandeln entstehen ließen. Spätestens seit den beginnenden 1980er Jahren gab es keine Verhandlungsbasis mehr zwischen der kulturellen Rahmung – diesmal hauptsächlich bezogen auf Umwelt-Protestgruppen, nicht aber auf die Behörden – wodurch die Möglichkeit für die chemische Industrie verloren ging, elastisch und glaubhaft ihr an die zeitgenössischen Forderungen der Gesellschaft angepasstes Handeln anzupreisen. Zu tief waren die Gräben nach „Seveso“ und zu uneinheitlich die Erwartungen an die chemische Industrie und ihr Risikohandeln in der Verbindung der tatsächlichen Errungenschaften. Umweltschutz und Sicherheit wurden radikal mit einer allgemeinen Systemkritik verbunden. Dadurch ergaben sich solche Spannungen, so dass trotz der Institutionalisierungsprozesse und der Herausbildung einer
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Sicherheitskultur in den Unternehmen, Bayer und Henkel eine Reintegration als gesellschaftlicher Akteur verwehrt blieb. Das seit Jahren verloren gegangene Vertrauen wurde der chemischen Industrie auch bis zur Mitte der 1980er Jahre nicht mehr geschenkt. Die chemische Risikoproduktion wurde nicht mehr länger als legitim betrachtet, weshalb die Proteste gegen sie im Kontext dieser gesellschaftlich konstruierten Wahrheit auch nachvollziehbar erscheinen. Oder anders formuliert: Unternehmen der chemischen Industrie waren Böse, ihre Gegner die Guten, gleichgültig ob sich Messwerte und Analyseverfahren verbesserten oder allgemein sich das Risikopotenzial der chemischen Produktionen verringerte. Der Grund dafür lag in der eigentlichen Existenz der Unternehmen und ihrer notwendigen Produktion. Die Unternehmen galten als potenzieller – nach den Ereignissen von Seveso auch nachvollziehbarer – Gefahrenherd. Weitreichende Anstrengungen, diese Wahrnehmung durch die externe Kommunikation zu verändern und gleichzeitig die durchgeführten inner-unternehmerischen Maßnahmen stark zu machen, scheiterten oftmals am Misstrauen gegenüber dem Industriezweig, das sich, massenmedial unterstützt, verschärft hatte. Damit einhergehend hatten die Unternehmen noch einmal an Macht verloren. Dies galt sowohl für ihre Lobby-Arbeit wie auch für die Deutungshoheit darüber, welche Aspekte ihrer Produktion gefährlich waren. Sie hatten endgültig die Macht als Herr im Feld aufgeben müssen. Erstaunlich dabei finde ich die Tastche, dass die Unternehmen alle drei Machtverluste mehr oder weniger hinnahmen und sich noch flexibler organisatorisch, strategisch und operativ anpassten. Direkt nach „Seveso“ wurde ihnen die Notwendigkeit dieser Maßnahmen bewusst, was ich an der Umstellung von Produktionsverfahren oder dem Abschalten von Produktionsanlagen gezeigt habe. Die Verantwortlichen wussten also sehr genau, dass sie alte Machtansprüche nicht mehr aufrechterhalten konnten, da sie auch hierdurch ganz sicher die Legitimität ihrer Risikoproduktion früherer Jahre nicht zurückgewonnen hätten. Wie bereits im vorausgegangenen Kapitel konnte ich folglich in diesem Kapitel die von mir konzeptionell in den Mittelpunkt gestellten Annahmen kulturrationaler Akteure und Strategien aufzeigen; die oben dargestellte und paradoxe Situation ist nur mit dem Modell des Unternehmens als offenem System in seinen Interdependenzen mit dem historisch-kulturellen Kontext und seinem hierdurch angeleiteten Handeln zu verstehen. Bis zur Mitte der 1980er Jahre trafen Bayer und Henkel oft Entscheidungen, die nur durch den definierten Kontext zu begründen waren. Transaktionskosten und im Sinne einer Mainstream-Ökonomik irrationale Entscheidungen dienten alleine dem Kampf um Legitimation des eigenen Risikohandelns. Ein narrativ konstruiertes Horrorszenario jagte das nächste, wenn es um so genannte Chemieunfälle ging. Es hatte sich außerhalb der Unternehmen eine Epistemologie der Chemie-Katastrophe gebildet, die allgegenwärtig vom nächsten GAU ausging. Das Wissen um die Gefahren der chemischen Risikoproduktion hatte sich seit „Seveso“ potenziert und wurde auf jeden Stör- oder Unfall übertragen. Das gewachsene Misstrauen der vergangen Jahre unterstützte die Ängste der Menschen. Ich konnte anhand ausgewählter Stör- und Unfälle zeigen, dass dieses Misstrauen unbegründet war, dass die
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3. Eine Unternehmensgeschichte von Bayer und Henkel
Unternehmen richtig und zum Wohle der Sicherheit für die natürliche und lebensweltliche Umwelt handelten. Ich fand keine Hinweise auf Lippenbekenntnisse und Vertuschungen. Bei den von mir angeführten Stör- und Unfällen handelte es sich im Vergleich zu den 1950er und 1960er Jahren entweder um Lappalien oder um reaktiv einwandfrei gemanagte, zuvor durch Übungen eingeprobte Szenarien; dennoch mussten Bayer und Henkel erkennen, dass ihre kulturrationalen Strategien keinen Erfolg mehr hatten, weswegen sich das Verhältnis zwischen der Umweltbewegung und den Unternehmen spätestens nach dem ersten Drittel der 1980er Jahre weiter abkühlte. Trotz der Übernahme des Umweltschutzes in die Glaubenssysteme der Unternehmen, trotz des nun überzeugten Begehens eines neuen Pfades des Risikohandelns sehe ich entsprechend des Modells des Unternehmens als offenes System im gesellschaftlichen Wertewandel genau hier den Grund, warum die Unternehmen auch als kontextabhängiger Akteur keine Reintegration und neue Legitimität erlangten: Die Transaktionskosten bezogen auf den Umweltschutz stiegen rapide, was sich nicht nur in den verbesserten Verhältnissen für die natürliche und lebensweltliche Umwelt zeigte. Dennoch trauten weiten Teile der bundesdeutschen Gesellschaft den Unternehmen alles zu, sei es die Schuld am Waldsterben oder die Produktion chemischer Kampfstoffe. Trotz stetig steigender Ausgaben für den Umweltschutz, der nun auch einen regelrechten Markt für die Unternehmen darstellte, konnten Bayer und Henkel nicht verhindern, dass in den Augen ihrer kulturellen Rahmung die latente Gefahr von einem Ereignis wie in Seveso ständig präsent gehalten wurde. Die chemische Industrie stand vor der Herausforderung polemischer Angriffe, die ihr neues, umweltbewusster werdendes Handeln nicht honorierten. Folgerichtig sahen Bayer und Henkel sich einer ständigen Umwelt-Krise gegenüber. Trotz vieler Bemühungen im strategischen und operativen Risikohandeln und trotz der Anerkennung, dass die chemische Industrie katastrophale Folgen haben konnte, woraus die externe Unternehmenskommunikation nun keinen Hehl mehr machte, gelang es Bayer und Henkel nicht, sich als gesellschaftlicher Akteur zu rehabilitieren. Die erneute Integration im Sinne sozialer Ordnungsmuster in Bezug auf das gegenseitige Verstehen von Unternehmen und gesellschaftlichem Wertewandel in Bezug auf das Risikohandeln der chemischen Industrie misslang. Dies konnte das von mir dargestellte Modell des Unternehmens samt seinem impliziten Unternehmensverständnis zeigen. Aus Sicht einer radikaleren Umweltbewegung war Seveso überall dort, wo chemische Produktion stattfand, da dort auch die nach wie vor unvermeidbaren Restrisiken eines Chemieunternehmens bestanden. Eine auf Unternehmenskrisen in der Folge chemischer Störfälle konzentrierte Forschung wird diese Thematik für die 1990er Jahre und das 21. Jahrhundert erneut hinterfragen müssen. Ich werde abschließend einen Ausblick geben, welche Aspekte eine solche Forschung aus meiner Perspektive in den Blick nehmen müsste. Zuvor möchte ich aber die von mir eruierten Ergebnisse aller Kapitel zusammenfassen und die Verbindung zwischen Unternehmenshandeln und gesellschaftlichen Transformationsprozessen noch einmal auf einer abstrakteren Ebene herstellen.
SCHLUSS UND AUSBLICK In der vorliegenden Dissertation habe ich organisationswissenschaftliche, institutionen-ökonomische und kulturwissenschaftliche Konzepte miteinander verbunden und so das kulturelle Paradigma der Unternehmensgeschichtsschreibung um den Aspekt Umwelt erweitert. Ein Ziel dabei war die Konzeption eines Modells, das kontextabhängiges Unternehmenshandeln in strategischer, organisatorischer und operativer Hinsicht als Folge von gesellschaftlichem Wertewandel, veränderten gesellschaftlichen Erwartungshaltungen sowie historisch-kulturell differenzierten Sinnzuschreibungen gegenüber dem Unternehmen erklären kann. Unternehmen wirtschaften und funktionieren demnach in geschichts- und kulturgeprägten Kontexten; sie funktionieren nicht universal. Und: Sie funktionieren und überleben abhängig von Zeit und Raum höchst unterschiedlich. Um dieses Modell zu entwerfen, war es nötig, die neoinstitutionalistische Organisationstheorie mit dem Verständnis des Unternehmens als Sinndeutungsgemeinschaft in Einklang zu bringen. Nur so konnten (De-)Institutionalisierungsprozesse außerhalb der Unternehmen mit jenen (De-)Institutionalisierungsprozessen im Innern und einer veränderten Unternehmenskultur adäquat in Verbindung gebracht werden. Nach den Annahmen des Unternehmens als Sinndeutungsgemeinschaft minimiert dies Transaktionskosten. Die zentrale Aussage zur Spezifizierung eines solchen Unternehmensverständnisses lautet: Die Weitergabe von Wissen über ein bestimmtes Thema vollzieht sich in Unternehmen in Sozialisationsprozessen. Institutionen verkörpern die Sinndeutung einer objektiven Wirklichkeit; sie sind jedoch immer im Wandel und nur temporär stabil, solange sie als sinnvolle Deutungsangebote Akzeptanz finden. Bezogen auf das Unternehmen heißt dies: Es stellt eine Subsinnwelt dar, die eine gesellschaftlich verhandelbare Lösung des jeweils zu beleuchtenden Themas anbietet. Durch alle Mitglieder dieser Subsinnwelt wird die Sinnwelt Unternehmen ständig neu geschaffen. Alle sind, wenn auch in unterschiedlichem Maße, Träger dieser Sinnkonstruktion und verändern sie durch ihr Handeln.1 Diese Subsinnwelt gerät nach dem von mir entworfenen Unternehmensmodell durch einen veränderten institutionellen Kontext und die kulturelle Rahmung, d.h. durch externe Parameter des Unternehmens, die ihrerseits eine ständig neue Wirklichkeit darstellen, in eine Situation, die dauernd neu erfunden und verhandelt werden muss. Nur durch die ständige Reflexion dieser neuen Situationen ist effizientes und effektives Wirtschaften hinsichtlich eines bestimmten Zieles möglich. Damit stehen institutionelle Parameter und Unternehmenskulturen in interdependenten Abhängigkeitsverhältnissen zu veränderten Unternehmensumwelten.
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Zentral die vielfach dargestellten Ausführungen von Clemens Wischermann. Ebenso Reinhard Pirker, S. 77f.
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Zur empirischen Überprüfung des hier entworfenen Modells des Unternehmenshandelns und des damit verbundenen Unternehmensverständnisses als offenes System – dem zweiten Ziel der vorliegenden Arbeit – diente mir das Risikoverhalten bzw. der allgemeine Umgang der deutschen chemischen Industrie mit produktionsinduzierten Risiken für die natürliche und lebensweltliche Umwelt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Durch eine umfassende Analyse eines einzigartigen Quellenbestands aus den Unternehmensarchiven von Bayer und Henkel konnte die Arbeit auf den verschiedenen Ebenen der Unternehmenshierarchien und der vielfältigen Funktionsbereiche zeigen, wie multidimensionale außerunternehmerische Institutionen sowie die Verschiebung von äußeren Sinndeutungen bzw. Wirklichkeitskonstruktionen für die Unternehmen handlungsanleitend wurden. Anhand überlieferter Interna und entsprechender Argumentationen ließen sich Aushandlungsprozesse zwischen Unternehmen und Gesellschaft zeigen, die innere Handlungsfelder in ihrer Effizienz nachhaltig (positiv) beeinflussten. So konnte das Denken und Handeln von Großkonzernen zu diesem heiklen Thema vor dem Hintergrund ihrer sich ständig verändernden Rolle als gesellschaftlicher Akteur rekonstruiert werden; auch konnte durch diesen methodischen Weg eine investigative Argumentation vermieden werden. Es zeigte sich, dass außerunternehmerische Parameter zu ökonomischen Kerngrößen für die betrachten Unternehmen wurden, was einer universalistisch argumentierenden Mainstream-Ökonomik älterer Prägung diametral entgegen steht. Wahrnehmungsrelevante und sich differenzierende organisationale Felder, ihre Akteure und die veränderte Thematisierung umweltrelevanter und sicherheitstechnischer Fragen dienten der Analyse und Darstellung des Innen-Außenverhältnisses. Gefragt wurde: Wie nahmen die Unternehmen ihre produktionsinduzierten Risiken selbst wahr, oder wie nahmen sie ihre Fremdwahrnehmung auf? Wie rechtfertigten sie in Aushandlungsprozessen mit dem gesellschaftlichen Umfeld kommunikativ ihre zum Überleben notwendige Risikoproduktion im historischen Zeitablauf? Welche strategischen, operativen und organisatorischen Maßnahmen trafen sie, um Risiken einzudämmen, oder wie wurde ihre Nicht-Eindämmung erklärt? Kurz: Wie veränderte sich das formale und informelle institutionelle Arrangement in Bezug auf Umweltrisikofragen bzw. wie veränderten sich die inneren Überzeugungen, Wissensbestände und Glaubensysteme der Unternehmen in Bezug auf diese Thematik, und welche neuen Pfade des unternehmerischen Risikohandelns wurden aufgrund des Einflusses veränderter gesellschaftlicher Erwartungshaltungen von Bayer und Henkel eingeschlagen? Und noch pointierter: Wie veränderte sich die Risikokultur der chemischen Industrie, dargestellt an den Beispielen von Bayer und Henkel? Für die Beantwortung dieser Fragen leitend waren neoinstitutionalistische Analysekategorien wie ein Verständnis kultureller Akteure und ihrer Strategien als kulturrationale Sinnhandlungen sowie Macht und vor allem von außen zugeschriebene – oder besser: verliehene – Legitimität des Unternehmenshandeln in unterschiedlichen historischen Settings. Der Untersuchungszeitraum wurde aufgrund veränderter Sinndeutungen der bundesdeutschen Gesellschaft hinsichtlich einer schützenswerten Umwelt ausgewählt, wie sie von jüngsten zeitgeschichtlichen und kulturwissenschaftlichen Stu-
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dien festgestellt worden sind. Bereits hier ist erstaunlich, wie kongruent zu dieser Zeiteinteilung sich das unternehmerische Risikoverhalten änderte; dies untermauert meine These, wonach ein Unternehmen als gesellschaftlicher Akteur stets in starkem Maße von solchen außer-unternehmerischen Sinnmustern beeinflusst wird. Als ersten Untersuchungsabschnitt habe ich den Zeitraum vom Beginn der 1950er Jahre bis zum Ende der 1960er Jahre festgelegt. Die Boomphase der deutschen Volkswirtschaft, an der die chemische Industrie maßgeblich beteiligt war, brachte große Umweltschäden in Gestalt von Atmosphären-Emissionen und daraus resultierenden Immissionen sowie starken Gewässerverschmutzungen mit sich. Einen rigiden formalen Immissionsschutz suchte man in dieser Zeit vergebens; wie auch im Gewässerschutz entstammten die bestehenden Regelungen zu großen Teilen der Zeit des Deutschen Kaiserreiches und erfuhren nur wenige Modifikationen, die sich kaum gegen die emittierende Industrie stellten. Traditionelle Natur- und Heimatschutzverbände konnten dem nichts entgegensetzen; die Wirklichkeit und Sinndeutungen der Menschen waren geprägt durch die Überwindung der Mangelgesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Zu diesem Zweck galt es als durchaus legitim, die Umwelt der industriellen Produktion zu unterwerfen: Der Mensch der Industriegesellschaft wollte sich seine Umwelt auch mit schädigenden Wirkungen zu Nutzen machen. In- und außerhalb der Unternehmen herrschte eine Technikund Machbarkeitseuphorie, die einzig dazu diente, Prosperität zu generieren bzw. den Wunsch nach ihr zu unterstützen; die Abschätzung der Folgen chemischer Risikoproduktion wurden vernachlässigt. Auch Bayer und Henkel konnten ihre in der Kaiserzeit entstandene, traditionelle Rolle erneut annehmen. Die formalen wie informellen Spielregeln des Immissions- und Gewässerschutzes wie auch die kulturellen Erwartungshaltungen, denen sich die Unternehmen im Äußern gegenübersahen, ließen sie in pfadabhängigen Handlungsmustern verharren. Diese waren vom Selbstverständnis eines ökonomischen Heilsbringers geprägt, wofür die Schädigung der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt hingenommen wurde. Eindrücklich konnte ich dies anhand der Verschmutzungsgrade der Luft und der Gewässer zeigen; die Darstellung von Un- und Störfällen diente ebenso dazu, das legitime Risikohandeln zu rekonstruieren. Rauchende Schlote, die giftige Abgase in die Atmosphäre und in die Gärten der Menschen transportierten, der Rhein als Kloake und explodierende Produktionsanlagen galten seit jeher als Preis für den Wohlstand. Aufgrund ihrer Fähigkeit, diesen Wohlstand zu generieren, wurde den Konzernen Legitimität hinsichtlich ihrer Risikoproduktion verliehen. Daraus habe ich auf die kulturrationale Sinnhandlung einer stetigen Produktionssteigerungsstrategie auch angesichts des Wissens um die daraus resultierenden Risiken geschlossen. Innerhalb der Unternehmen wurde die Gefährdung der natürlichen und lebensweltlichen Umwelt nicht thematisiert; es wurden keine Wissensbestände hinsichtlich ihres Schutzes aufgebaut, obwohl dies technologisch möglich gewesen wäre. Solche institutionellen und technologischen Maßnahmen wären aber auch ineffizient und ortsunüblich gewesen: Die Werksumwelt hatte sich den Verhältnissen anzupassen. Ein solcher „Industrie-Darwinismus“ konnte jedoch nur bestehen, da die Menschen aufgrund ihres Wissens um die Chancenlosigkeit keinen Sinn im Protest sahen, oder anders gedeutet: Sie rangen dem ökonomischen Wachstum mehr
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Sinn ab als dem ökologischen Schutz. Hier zeigte sich ein großes Machtpotenzial der chemischen Industrie gegenüber der Öffentlichkeit und den Aufsichtsbehörden. Diese Macht konnte nur aufrechterhalten werden, da ein tradiertes Ordnungsgefüge zwischen paternalistisch respektive patriarchal auftretenden Unternehmen und ihren Anspruchsgruppen bestand. Ein seit langem entwickeltes Ehrfurchtsverhältnis machte es den Unternehmen möglich, in der Werksumwelt weiter als Schädiger des Lebensraumes aufzutreten bzw. durch die eingesetzten Expertenmeinungen eine Deutungshoheit darüber zu erhalten, was gefährdend sei und was nicht. Das Wort und die Lobby der chemischen Industrie hatten bis zum Ende der 1960er Jahre viel Gewicht, und damit verbunden waren Starrköpfigkeit und Arroganz sowie eine gewisse Naivität auf Seiten der Konzerne. Sowohl in der Öffentlichkeit wie auch bei den Unternehmen ist für den ersten Betrachtungszeitraum sicherlich eine hohe Risikobereitschaft zu konstatieren, die für beide Seiten Sinn ergab. Bayer und Henkel hatten keinen Grund, ihr inner-unternehmerisches institutionelles Arrangement zu verändern oder dem Schutz der Werksumwelt Sinn abzuringen; die Implementierung einer Kultur der Sicherheit für die Umwelt wäre schlicht unnötig gewesen. Dies habe ich unter verschiedensten Aspekten gezeigt, und die Zeit bis zum Ende der 1960er Jahre als eine Zeit analysiert, in der ein legitimes Primat der Risikoproduktion bestand. Als zweiter Untersuchungszeitraum diente mir die Zeit von den ausgehenden 1960er Jahren bis zum Dioxin-Störfall im lombardischen Seveso am 10. Juli 1976. Mit dem Umweltschutzprogramm der neuen Bundesregierung etablierten sich in Westdeutschland ein strengerer Immissions- und Gewässerschutz sowie die Möglichkeit zum Protest gegen Gefährdungen durch die chemische Risikoproduktion. Der mündige Bürger, der sich aus der gesellschaftlichen Konstellation der 1970er Jahre entwickelte, wurde umweltbewusst und nutzte die ihm gegebene Gelegenheit, persönlich gegen die widrigen Verhältnisse vorzugehen. Es fand eine „institutionelle Revolution“2 des formalen und informellen Umweltschutzes im Äußern der Unternehmen statt, auf die Bayer und Henkel in keiner Weise vorbereitet waren und gegen die sie zunächst versuchten, sich mit naiven Mitteln und alter Arroganz zu behaupten. Im institutionellen Kontext und der kulturellen Rahmung schälte sich aber rasch eine neue Wirklichkeit heraus, in der die Umwelt als vor industriellen Einflüssen zu schützend angesehen wurde. So mussten die Konzerne bald erkennen, dass sie in eine defensive Position gedrängt wurden. Ein allmählicher Legitimitätsentzug der tradierten Risikoproduktion war die Folge, der mit einem Machtentzug des Herrn im Feld und dem Entzug der Deutungshoheit über chemische Gefahren einherging. Insgesamt fand eine Machtumkehr zugunsten der organisationalen Akteure von Bayer und Henkel statt. Innerhalb weniger Jahre waren die Unternehmen gezwungen, ihre Kommunikationsstrategie umzustellen und nun unterwürfig und bittstellerisch zu agieren, um etwa Konzessionen für ihre Produktionsanlagen zu erhalten. Sie mussten neue Umwelttechnologien erfinden oder installieren, womit
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Zu den Annahmen und Folgen einer „institutionellen Revolution“ für das Wirtschaftsgeschehen und eine Wirtschaftskultur zentral Clemens Wischermann / Anne Nieberding, 2004.
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wieder einmal gezeigt ist, dass technologischer Fortschritt meist nur die Folge einer „institutionellen Revolution“ darstellt und nicht das Gegenteil der Fall ist.3 Proteste und Anfeindungen gegenüber den Unternehmen konnten sich im besagten Untersuchungszeitraum formieren, und sie wurden im Kontext der neuen Umweltschutz-Kultur gesellschaftlich anerkannt. Nur kurz versuchten die Unternehmen, entweder alte Handlungsstrategien anzuwenden bzw. unternehmerische Aktivitäten zu entkoppeln; etwa in der Mitte der 1970er Jahre erkannten sie, dass sie neue Pfade des Umweltschutzes einschlagen mussten. Dies habe ich zunächst anhand der nun transparenteren Unternehmenspolitik wie offensiver externer Kommunikation zeigen können. Die staatlichen Eingriffe und gesellschaftlichen Proteste führten die Unternehmen auf eine Sinnsuche: Wie konnte es sein, dass alles, was zuvor gut und richtig gewesen war, nun abgelehnt und verteufelt wurde? Wie konnte man ihnen die hohen Kosten für etwas aufbürden, das doch selbstverständlich war, nämlich die Gefährdung der Werksumwelt als Selbstzweck? Nach einem anfänglichen Schock über diese veränderten gesellschaftlichen Erwartungen und Forderungen begannen Bayer und Henkel jedoch, den Umweltschutz in seiner zeitgenössischen Ausprägung in der Unternehmensstrategie zu verankern und effizient zu gestalten.4 Die Einmischung von außen wurde zwar zunächst als fremd und unverhältnismäßig angesehen, doch beugten sich die Unternehmen diesem Druck. Sie verfielen auch nicht in alte Verhaltensstrategien zurück, wie ich dies für die Zeit nach den Gesprächen auf Schloss Gymnich zeigen konnte. Die chemische Industrie konnte nicht mehr – wie zwei Dekaden zuvor – auf ihr Recht zur Selbstverwaltung chemischtechnischer Risiken verweisen; dieses wurde ihnen zusammen mit ihren exklusiven Eigentumsrechten über das Wissen des chemischen Risikopotenzials entzogen, was ich etwa anhand der Emissionskatastrierung herausgearbeitet habe. Der Zeitraum bis ca. 1976 stellt aus heutiger Sicht die Konstituierungsphase nachhaltiger Umweltschutzbestrebungen und Verantwortungskonzeptionen dar; Bayer und Henkel begannen ihre Prozesse und ihre Organisation effizient darauf einzustellen, wobei die Anfänge sicherlich noch schwierig waren. Hier zeigte sich, wie schwer und kostspielig es für die Unternehmen war, alte Pfade unternehmerischen Handelns zu verlassen und neue zu beschreiten. Ich konnte dies unter anderem an den Schwierigkeiten zwischen den jungen Umweltschützern und älteren Mitarbeitern in den Unternehmen zeigen. Hätten sich die Konzerne dieser kulturellen Entwicklung der Märkte und des damit einhergehenden notwendigen Wirtschaftens jedoch verwehrt, hätten sie sich also nur entkoppelt oder nicht durch ihre neu geschaffenen flexiblen Organisationsstrukturen reagieren können, so hätten beide wohl erhebliche 3
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Vgl. ebd. Clemens Wischermann und Anne Nieberding haben im großen Kontext eindrücklich gezeigt, dass nicht etwa eine „Industrielle Revolution“, im weitesten Sinne ein „take-off“ (Walt Rostow) durch technischen Fortschritt, zur Industrialisierung Deutschlands und Westeuropas und damit zu einer Wohlstands- und Industriegesellschaft führte, sondern eine „institutionelle Revolution“ erst eine liberale Wettbewerbswirtschaft ermöglichte. Hierzu rückblickend aus dem Jahr 1985 ein Vortrag im Hause Henkel anlässlich des 70. Geburtstages von Dr. Konrad Henkel: „Zur ökologischen Absicherung von chemischen Produkten. Eine Bilanz nach 25 Jahren“, Vortrag von Dr. Nösler und Dr. Gerike vom 07. August 1985, in: Konzernarchiv Henkel, J 108 Umweltschutz.
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wirtschaftliche Verluste und Imageschäden hinnehmen müssen. Den Grund dafür sehe ich in Reputations- und Vertrauensverlusten, mit denen nicht nur Mehrkosten, etwa für die stark ausgeweitete externe Unternehmenskommunikation, teure Konzessionsverfahren sowie Forschung und Entwicklung, einhergingen. Damit verbunden war auch die Ablösung des tradierten Ordnungsverständnisses zwischen den Werken und den Menschen und Organisationen in ihrem gesellschaftlichen Umfeld: Die Unternehmen der chemischen Industrie hatten aufgrund der veränderten Zuschreibungen ihnen gegenüber und des aufgekommenen Misstrauens ihre Integration als gesellschaftlicher Akteur verloren, die ihnen wenige Jahre zuvor noch einen reibungslosen Umgang mit produktionsinduzierten Risiken bzw. das Wirtschaften hinsichtlich dieser Themen ermöglicht hatte. Sie mussten nun vor dem Hintergrund der veränderten Vorzeichen ein neues Ordnungsgefüge herstellen, um wieder reibungslos als gesellschaftlich integrierter Akteur funktionieren zu können; dies hatte natürlich seinen Preis. Als dritten Forschungszeitraum habe ich die Zeit nach dem Unglück in Seveso bis in das letzte Drittel der 1980er festgelegt. Dabei konnte ich den zäsuralen Charakter von „Seveso“ als bis dahin folgenschwerstes Chemieunglück in Kontinentaleuropa darstellen und die hieraus hervorgegangen neuen Erwartungshaltungen und Sinndeutungen der bundesdeutschen Gesellschaft erörtern: „Seveso“ war der Beweis für das Katastrophenpotenzial chemischer Produktionen. Die Ereignisse stellten eine kollektive Krisenerfahrung dar, die sich im kulturellen Gedächtnis auch der deutschen Gesellschaft niederschlug und fortan die Erfahrungswelt der Menschen prägte. Die Auswirkungen des Vorfalls auf den deutschen Immissionsschutz konnte ich anhand des „Fahrtmann-Erlasses“ und der Störfallverordnung zeigen. Den Betreibern von chemisch-technischen Anlagen wie auch dem Umgang mit chemischen Vor-, Zwischen- und Endprodukten wurde nun vom Gesetzgeber eine neue Dimension an Sicherheit verordnet, die im Falle ihrer Nichteinhaltung zum sofortigen Abschalten der Anlagen führte. Zugleich führte das Unglück von Seveso zu neuen Ängsten und Hysterien innerhalb der bundesdeutschen Gesellschaft, die durch eine massenmedial unterstützte Sensationsgier und Panikmache getragen und gefördert wurden. Neue und radikalisierte Angriffe und Forderungen wurden an Bayer und Henkel herangetragen. Die öffentliche Anklage kam aus Richtung einer neuen Umweltbewegung. Dabei hatten sich – zumindest aus Sicht der Unternehmen – Umweltschutzgedanken der ersten Stunde mit systemkritischen Meinungen vermischt. Umweltschutz- und Sicherheitsthemen wurden instrumentalisiert, um gegen eine liberale Wettbewerbsordnung und die daran maßgeblich beteiligte chemische Industrie zu protestieren. Wie ich zeigen konnte, handelte es sich aus einer zeitgenössischen Sicht bei diesen Anfeindungen oft um polemische Angriffe vor allem gegen Bayer. Dabei hatten die Unternehmen tief greifende Lernprozesse nach Seveso vollzogen: Sie hatten die Zäsur durch den externen Seveso-Schock schnell erkannt und verbanden damit auch einen neuen, sie umgebenden Kontext, an dessen Erwartungen sie sich orientierten. Die Ängste der Menschen wurden wahr- und ernst genommen; vor allem wurden sie als legitim betrachtet. Der Grund lag in der Einsicht der Unternehmen, dass chemische Prozesse zwar in den meisten Fällen beherrschbar seien, man ein Restrisiko jedoch nicht mehr ausschließen könne und
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wolle, womit auch die Proteste gegen diese nun offenkundige Risikotechnologie anerkannt wurden. Auch die Absicht, einen neuen Konsens zu erzielen und einen noch offeneren Dialog mit dem gesellschaftlichen Umfeld zu führen, konnte ich an zahlreichen Beispielen zeigen. Innerhalb der Unternehmen habe ich strategische und operative Maßnahmen herausgestellt, die eine Umkehr des institutionellen Arrangement und der Glaubenssysteme auf allen Hierarchieebenen und in allen Funktionsbereichen darstellten. Erlassene Richtlinien, strategische Entscheidungen zum Abschalten potenziell gefährlicher Anlagen oder die Ausweitung von Kompetenzen der Umweltschutzgremien stellten dabei nur einen Teil dar. Insgesamt hatte sich eine Kultur der Sicherheit für die Werksumwelt etabliert, und das Wissen über umweltrelevante Fragen wurde zum Grundstein der betrieblichen Praxis im Umgang mit produktionsinduzierten Risiken. Trotz der Einsicht der Unternehmen in die Notwendigkeit von Präventivmaßnahmen, die auch die Welt jenseits der Werkstore schützten, und trotz zum Großteil funktionierender reaktiver Veränderungen in Routinen und Praktiken infolge von Störfällen wurde den Unternehmen jedoch ein destruktives Risikoverhalten unterstellt. Selbst kleinste Abweichungen und Störungen im Betriebsablauf konnten zur Unternehmenskrise führen – das skurrile Beispiel des bei Henkel gefundenen roten Pulvers, das nicht einmal vom Unternehmen stammte und harmlos war, dennoch aber einen Medienwirbel auslöste, bestätigt diese These. Der Grund hierfür ist wieder im historisch-kulturellen Kontext zu suchen: Nicht allein die reell existierenden chemisch-technischen Risiken waren es, die Unternehmen in Krisen stürzen konnten. Die Präsenz des Möglichen, das Krisennarrativ an sich reichte innerhalb der sich konstituierten Risikogesellschaft5 aus, um Unternehmen in desperate Zustände zu versetzten, in denen sie (zumeist recht kostspielig) ihr institutionelles Arrangement und ihre tradierten Praktiken über Bord werfen mussten. Die chemische Risikoproduktion und damit ihre Erzeuger waren nicht mehr legitim, auch wenn nur noch ein Bruchteil jenes Risikos für die natürliche und lebensweltliche Umwelt bestand, als es noch weniger als zwanzig Jahre zuvor der Fall gewesen war. Vertrauen konnte es zwischen den gesellschaftlichen Akteuren nicht mehr geben. Die chemische Industrie hatte ab Mitte der 1980er Jahre all ihre Macht und Deutungshoheit verloren, was zu einer eingefahrenen Situation zwischen Unternehmen und ihrem gesellschaftlichen Umfeld führte. Dies konnte ich beispielsweise anhand der „Malocher“-Initiative bei Bayer zeigen. Weitere Forschungen müssen meiner Ansicht nach genau hier ansetzen: Es wird zu zeigen sein, wie es der deutschen chemischen Industrie im Folgenden gelang, sich als gesellschaftlicher Akteur zu rehabilitieren. Zunächst fielen die Unternehmen aus eigener Sicht nach dem Unfall bei der Firma Sandoz in Schweizerhalle noch weiter in Misskredit, wie der Werksleiter von Bayer Leverkusen im Dezember 1986 seinen Vertrauensleuten berichtete.6 Auch hier sind Zweifel ob der Berech5 6
Zur Konstituierung der Risikogesellschaft im historischen Kontext der 1980er Jahre mitsamt ihrer institutionellen Folgen zentral Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986. Vgl. Rosahl an Vertrauensleute der Bayer AG vom 11. Dezember 1986, in: BAL 388/234 Werksverwaltungen Leverkusen, Schriftwechsel S-Z 1983–1986.
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tigung dieser neuerlichen Vorwürfe angezeigt, da die deutsche chemische Industrie zehn Jahre nach „Seveso“ in ihrer Sicherheitstechnik noch einmal weiter war und um die Auswirkungen eines solchen externen Schocks auf das eigene Geschäft wusste. Dies beweist ein Vorfall aus dem Jahr 1987, ein Brand eines Henkel-Lagers im Hafen Düsseldorf-Reisholz, bei dem aus Sicht der öffentlichen Meinung ähnliche Gefahren durch versickerndes Löschwasser wie in Schweizerhalle zu befürchten waren. Henkel konnte jedoch jede Gefahr bekämpfen, auch hier funktionierten das Sicherheits- und Katastrophenmanagement einwandfrei, was aufgrund eines verbesserten Wissenstransfers innerhalb der chemischen Industrie möglich wurde, und Henkel aus dem Sandoz-Unfall abermals lernen ließ.7 Neueste, aber aus meiner Sicht notwendigerweise weiter zu verifizierende Forschungen, zeigen, dass eine gesellschaftliche Rehabilitierung der chemischen Industrie in Deutschland wohl erst Ende der 1990er Jahre einsetzte. Zentrale Bausteine scheinen hierfür vor allem die weiter professionalisierten Kommunikationsstrategien gewesen zu sein, die nicht aufgaben, auf Glaubwürdigkeit, Transparenz und so vertrauensschaffende Maßnahmen zu setzen.8 Dahinter standen sich stetig neu erfindende betriebliche Praktiken im vorsorglichen, reaktiven und kommunikativen Umgang mit produktionsinduzierten Risiken. Folgerichtig leitete ein Empfehlungskatalog für die Krisenkommunikation bei Henkel im Jahre 2000 auch ein: „Krisenkommunikation im Ernstfall kann nur dann effizient und ökonomisch sein, wenn sie bereits in ‚Friedenszeiten‘ vorbereitet wird.“9 Um im ‚Ernstfall‘ ökonomisch sinnvoll und gesellschaftlich verantwortungsbewusst handeln zu können, mussten die ‚Friedenszeiten‘ als Maßstab gelten. Man könnte auch sagen, der gesellschaftliche Kontext, die Erwartungen und Ansprüche der Menschen gegenüber Unternehmen mit Risikotechnologien mussten Berücksichtigung finden, wenn es darum ging, strategische Krisenreaktionsstrategien auszuarbeiten. Die Unternehmen hatten dies – so scheint es – an der Schwelle zum 21. Jahrhundert endgültig erkannt, und manches spricht dafür, dass es gelang, dies den Menschen glaubhaft zu vermitteln. Anders formuliert: Die Menschen hatten wieder Vertrauen in die chemische Industrie und ihre Produktionen erlangt, und es konnte sich ein von der Industrie lange ersehntes und kostspielig herbeigeführtes Ordnungsgefüge der gesellschaftlichen Akteure bilden. Ein solches stabiles Ordnungsgefüge ist für jede unternehmerische Aktivität unerlässlich und ermöglicht 7 8 9
Exemplarisch der Brandbericht der Werksfeuerwehr Henkel zum Brand und die nachsorglichen Anstrengungen vom 06. Juli 1987, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Akte Abt. 635 Feuerwehr / Brand- und Hilfeleistungen. Vgl. Norbert Baumgärtner, S. 368ff. Empfehlungskatalog von unicepta Communication & Consulting für die Krisenkommunikation der Henkel KGaA, Stand 2000, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Akte Henkel Corporate Crisis Management Manual. Dahinter stand eine komplette Krisenstrategie, hierzu: Vertraulicher Entwurf für das Henkel Corporate Crisis Management, Stand Juni 2000, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Akte Henkel Corporate Crisis Management Manual. Bereits 1994 hatte der VCI einen dementsprechenden Leitfaden an seine Mitglieder herausgegeben, vgl. Leitfaden des VCI „Krisenmanagement“ für die Öffentlichkeitsarbeit. Ein deutscher Beitrag zum weltweiten Responsible Care Programm der chemischen Industrie, Stand März 1994, in: Konzernarchiv Henkel, unverzeichnete Akte IGL II ab 1985.
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gleichfalls ein effizientes Wirtschaften, wie dies neueste Forschungsprojekte etwa zum Themenkreis Corporate Social Responsibility belegen.10 Diese Stabilität in Ordnungsgefügen und damit einhergehende integrative Potenziale sind nur zu erreichen, wenn institutionelle und kulturelle Faktoren in unternehmerische Aktivitäten implementiert werden. Gesellschaftliche Transformationsprozesse beeinflussen unternehmerische Aktivität in hohem Maße, da Unternehmen keine amorphen Gebilde sind, sondern von Menschen gemachte und am Leben erhaltene, kollektive Mitglieder der Gesellschaft. Deshalb bin ich verleitet, noch einen Schritt weiter zu gehen: Jürgen Osterhammel hat unlängst über „Große Transformationen“ geschrieben. Diese seien mehr als institutioneller, (sozio-)kultureller und ökonomischer Wandel; sie seien irreversibel und sie vollzögen sich immer in einem vom Historiker ex post zu identifizierenden Zeitrahmen, innerhalb dessen viele kleine Veränderungen dann im Ergebnis zu einer solchen Transformation führten.11 Solche partikularen Veränderungen konnte ich bezogen auf institutionelle, kulturelle und sozioökonomischen Erwartungshaltungen gegenüber dem Risikohandeln von Unternehmen der chemischen Industrie aufzeigen und ihren starken Einfluss innerhalb der unterschiedlichen Unternehmenshierarchien sowie auf die inner-unternehmerischen Funktionsbereiche nachweisen. Diese außerhalb der Unternehmen operationalisierten Parameter veränderten das institutionelle Arrangement von Bayer und Henkel also nachhaltig, und trugen somit zur Bildung einer Kultur der Sicherheit für die Werksumwelt bei, womit das ökonomische Überleben der Konzerne mit gesichert wurde. Bezogen auf die Ökonomik als Referenzpunkt konnte ich nachzeichnen, dass kulturrationale Sinnhandlungen von Bayer und Henkel zunächst sicherlich sehr ineffizient und unvernünftig erschienen. Doch hatte sich seit dem Ende der 1970er Jahre ein effizientes Wirtschaften im Bezug auf den Umgang mit produktionsinduzierten Risiken gebildet, und neue Absatzmärkte insbesondere für Bayer-Umwelttechnologie waren entstanden. Historiker wie Ökonomen sollten die Wirkungsmacht außer-unternehmerischer gesellschaftlicher Parameter auf das Funktionieren und Überleben von Unternehmen in Lehre und Forschung für die Zukunft sehr ernst nehmen. Jürgen Osterhammel postuliert nämlich: „Heute steht eine neue große Transformation bevor: der ökologische Umbau des Industriesystems.“ Und er fragt dann: „Was können Historiker dazu sagen?“12 Aus Sicht meiner unternehmensgeschichtlichen Analyse widerspreche ich Jürgen Osterhammel. Diese Art der großen Transformation hatte in den 1970er Jahren ihren Anfang genommen, entwuchs in den 1980er und 1990er Jahren ihrer Konstituierungsphase, auch wenn der ökologische Umbau des Industriesystems gesellschaftlich noch nicht (an-)erkannt wurde. Seit dem Übergang zum 21. Jahrhundert dürfen wir aber sicherlich von einer Hinwendung in Richtung eines „ökologischen 10 11 12
Vgl. Beschreibung des Projektes „Integriertes Corporate Social Responsibility-Management in Logistiknetzwerken“ an der Universität Essen/Duisburg, URL: http://www.uni-due.de/zlv/effizienzcluster/integriertes-csr-management.php (17.01.2013). Vgl. Jürgen Osterhammel: Große Transformationen, in: Merkur, Zeitschrift für europäisches Denken, Sonderdruck aus Heft 746 (2011), S. 625–631, hier S. 627/628. Ebd. S. 627.
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Kapitalismus“ – also von der Entstehung eines „grünen Wirtschaftswunders“ bzw. dem gesellschaftlichen Ausgleich von Ökologie und Ökonomie13 – sprechen, der sowohl von Unternehmen (mit Risikotechnologie) wie auch ihren gesellschaftlichen Anspruchsgruppen getragen wurde und von beiden Seiten als kulturrational und effizient angesehen wird. Auf gesellschaftlicher Seite liegt der Grund dafür meiner Ansicht nach in einer Mäßigung der Protestkultur, die einsah, dass ein ständiger Kollisionskurs nicht mehr zielführend war.14 Auf Seiten der Unternehmen mündete dies in gesellschaftlich verhandelbare Lösungen ihrer Verantwortungsstrategien; sie erkannten, dass eine transparente und ehrliche Unternehmenspolitik zu einer Elastizität beider Akteure führte, angesichts derer eine Kommunikation über die Probleme leichter fiel und ein Miteinander möglich wurde. Belege für diese Hypothesen konnten wir innerhalb der letzten vier Jahre mehrfach beobachten. Wie schnell sich gesellschaftliche Erwartungen sowie institutioneller Druck auf unternehmerische Aktivität auswirkten und in zukünftige strategische Überlegungen einbezogen wurden, sahen wir in Folge der beginnenden Bankenkrise im September 2008, bei der Leckage auf der „Deepwater Horizon“, die die größte Ölseuche der USA nach sich zog, sowie in den Diskussionen um „Stuttgart 21“: Sie alle zeugten von der strategischen Berücksichtigung gesellschaftlicher Erwartungen der Unternehmen, da bisher keines der betroffenen Unternehmen den Eindruck erweckt, es könnte durch die Proteste ihm gegenüber in eine wirtschaftliche Schieflage geraten. Mit dem fassungslosen Blick auf die havarierten Meiler des Atomkraftwerks in Fukushima – dem spektakulärsten Beispiel vom März 2011 – entzündete sich eine neuerliche Atomdebatte nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auf der ganzen Welt. Abermals wurde den Versorgungskonzernen Legitimität und Mitspracherecht entzogen, nachdem sie in Deutschland kurz zuvor noch eine starke Lobby für Laufzeitverlängerungen von Atomkraftwerken hatten aufbieten können. Es steht jedoch außer Frage, dass die Unternehmen auf diese Ernstfälle flexibel haben reagieren können, auch wenn hier und da alte Klagestrategien eingesetzt werden. In den meisten Fällen wurde schnell und ohne viele Widerworte eine verhandelbare Lösung gefunden. Das Wissen der Konzerne um die Notwendigkeit dieser Strategien beruht nicht auf einer einfachen Informationsübermittlung von einer Manager-Generation auf die nächste; ein so erzeugtes Wissen hätte versagt. Es handelt sich hier um das Wissen, eine Entscheidung kulturrational treffen zu müssen und hinter ihr zu stehen. Um dies aber möglich zu machen, muss jede Manager-Generation sich darüber bewusst sein, dass das benötigte Wissen stets neu verhandelt und erzeugt wird. Hierfür müssen die Vorstände den kulturellen Kontext sehr genau beachten, da gerade er diese Wissensbestände anbietet. Die vorliegende Arbeit hat den Einfluss gesellschaftlicher Transformationsprozesse auf das Risikoverhalten der chemischen Industrie belegt. Als Historiker und Ökonom sehe ich angesichts der Ereignisse der jüngsten Vergangenheit eine erneute „Sattelzeit“, was erstens die institutionellen und kulturellen Einflüsse auf unterneh13 14
Exemplarisch (URL):http://www.zeit.de/2007/28/Auf_in_den_Oekokapitalismus (18.01.2013). Neuerdings Sabine Ursula Nover: Protest und Engagement. Wohin steuert unsere Protestkultur?, Wiesbaden 2009.
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merische Handlungslogiken und in diesem Kontext zweitens auf das Verhältnis von Risikotechnologien und Gesellschaft anbelangt. In bisher nicht gekanntem Ausmaß werden sich Unternehmen in ihren jährlichen Gewinn- und Verlustrechnungen in Zukunft die Frage zu stellen haben, wie gesellschaftliche Erwartungen auf diese betriebswirtschaftlichen Rechengrößen Einfluss gehabt haben. Wichtiger als noch vor wenigen Jahren sind gesellschaftliche Verantwortungsund Nachhaltigkeitskonzepte, die jenseits von Imagekampagnen in die strategischen Überlegungen der Unternehmen implementiert werden müssen; effizientes Wirtschaften kann – wenngleich mit einem zeitlichen Verzögerungseffekt – nur unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Zuschreibungen stattfinden. Viele Unternehmen – insbesondere jene, die mit Risikotechnologien zu tun haben – beanspruchen dies bereits heute für sich. Aber auch das internationale Finanz- und Bankensystem wird nicht mehr umhin kommen, sich endlich diesen Herausforderungen zu stellen, will es nicht vollends das gleiche Schicksal erleiden, wie ich es für die chemische Industrie zwischen den 1970er Jahren bis an die Schwelle des 21. Jahrhundert nachgezeichnte habe. Es ist jedoch für solche Überlegungen nötig, über konzeptionelle und abstrakte Modelle des Unternehmenshandelns zu verfügen, die jenseits von einfachen „Berater-Tools“ angesiedelt sind. Solche Modelle müssen stets den Kontext des Unternehmens im Blick haben, damit ökonomische, sozi-ökonomische, soziale und kulturelle Parameter außerhalb des Unternehmens operationalisiert und deren Einfluss auf die Handlungen des Unternehmens abgeschätzt werden können. Das Handlungsmodell des Unternehmens als offenes System im gesellschaftlichen Wertewandel ist hierzu in der Lage.
ANHANG 5.1 QUELLENVERZEICHNIS Fortlaufende Auflistung der benutzten Bestände des Bayerarchivs Leverkusen: 59/337 Ingenieurverwaltung, Meldungen über Unfälle, Explosionen u.ä. 1955–1963. 59/337 Ingenieurverwaltung, Meldungen über Unfälle, Explosionen u.ä. 1964–1985. 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1954–1956. 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser und Abluft-Labor 1956–1958. 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1959–1960. 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1960–1961. 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1961–1962. 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1963–1964. 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1964–1967. 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1967–1971. 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1972–1973. 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1973–1974. 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1974–1977. 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1978–1979. 59/384 Ingenieurverwaltung, Abwasser- und Abluft-Labor 1979–1982. 329/377 Direktionsabteilung, AWALU. 330/332 Direktionsabteilung, Volkswirtschaftliche Abteilung. 387/1 Vol. 1, Vorstandsprotokolle 20.5.1952 – 6.12.1955. 387/1 Vol. 3, Vorstandsprotokolle 24.4.1958–27.7.1960. 387/1 Vol. 5, Vorstandsprotokolle 19.4.1962–5.6.1963. 387/1 Vol. 6, Vorstandsprotokolle 18.6.1963–17.3.1965. 387/1 Vol. 8, Vorstandsprotokolle 20.10.1966–6.2.1968. 387/1 Vol. 10, Vorstandsprotokolle 6.1.1970–3.8.1971. 387/1 Vol. 11, Vorstandsprotokolle 17.8.1971–15.8.1972. 387/1 Vol. 12, Vorstandsprotokolle 05.09.1972–05.06.1973. 387/1 Vol. 13, Vorstandsprotokolle 19.6.73–9.4.74. 387/1 Vol. 15, Vorstandsprotokolle 16.4.74–2.9.75. 387/1 Vol. 16, Vorstandsprotokolle 19.06.75–01.03.77. 387/1 Vol. 17, Vorstandsprotokolle 15.03.77–04.03.78. 387/1 Vol. 18, Vorstandsprotokolle 19.09.78–19.03.80. 388/15 Werksverwaltung Leverkusen, Werksverwaltung bis 1983. 388/22 Werksverwaltung Leverkusen, Ingenieurverwaltung 1973–1983. 388/31 Werksverwaltung Leverkusen, Arbeitskreis Umweltschutzinformationen. 388/31 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU / Umweltschutz 1974–1983. 388/79 Werksverwaltung Leverkusen, Werkschutz 1973–1983.
5.1 Quellenverzeichnis
315
388/85 Werksverwaltung Leverkusen, Vorstandsstab 1975–1983. 388/86 Werksverwaltung Leverkusen, Vorstandsstab 1974–1983. 388/108 Werksverwaltung Leverkusen, Bayerwerke 1971–1983. 388/112 Werksverwaltung Leverkusen, Verbände und Schulen bis 1983. 388/129 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Allgemein 1971. 388/130 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Allgemein 1971. 388/130 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU bis 1972. 388/130 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU I bis Ende 1972. 388/130 Werksverwaltung Leverkusen, AWALUKO 1972–1974. 388/130 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Allgemein 1.1.1974–30.6.1974. 388/131 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU II bis Ende 1972. 388/132 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Allgemein 1973. 388/133 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Allgemein 1973. 388/140 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Allgemein ab 1.7.74. 388/141 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Allgemein ab 1.7.74 / Fortsetzung von 388/140. 388/144 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Gesetze und Verordnungen 1971. 388/145 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Kommission 1970–1972 / AWALU-Forschung 1971–1974. 388/149 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Umweltschutz-Unterlagen für den Bundeskanzler. 388/165 Werksverwaltung Leverkusen, Vorstandsstab bis 1973. 388/173 Werksverwaltung Leverkusen, Zentrales Bildungswesen seit 1974. 388/179 Werksverwaltung Leverkusen, Stadt Leverkusen 1973/74. 388/200 Werksverwaltung Leverkusen, VCI Allgemein. 388/209 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU I 1974. 388/214 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU II bis Ende 1972. 388/214 Werksverwaltung Leverkusen, AWALU Allgemein ab 1.7.1974. 388/214 Werksverwaltung Leverkusen, Arbeitskreis Umweltschutzinformationen. 388/216 Werksverwaltung Leverkusen, Arbeitskreis Umweltschutz ab April 1983. 388/218 Werksverwaltungen Leverkusen, Leitung Sprecherausschuss Bürgerinitiative „Malocher gegen Schmarotzer“. 388/218 Werksverwaltungen Leverkusen, Sprecherausschuss 1983 Vol. 1. 388/218 Werksverwaltungen Leverkusen, Sprecherausschuss 1984 Vol. 2. 388/218 Werksverwaltungen Leverkusen, Sprecherausschuss 1985 Vol. 3. 388/232 Werksverwaltung Leverkusen, Schriftverkehr F-K 1983–1986. 388/234 Werksverwaltungen Leverkusen, Schriftwechsel S-Z 1983–1986. 388/237 Werksverwaltung Leverkusen, Arbeitskreis WOS. 388/241 Entwurf Katastrophenschutzgesetz 1972–1987. 388/242 Werksverwaltung Leverkusen, Gefahrenpunkte im Katastrophenabwehrplan 1978. 388/246 Werksverwaltung Leverkusen, Gespräche mit Politikern ab 1975. 388/247 Werksverwaltung Leverkusen, Gespräche mit Politikern: Hansmeyer, Bundeskanzler, Maihofer ab 1975.
Veröffentlichte Quellen: „Unser Werk“, Werkszeitschrift der Farbenfabriken Bayer AG, Heft 4, 1950. „Unser Werk“, Werkszeitschrift der Farbenfabriken Bayer AG, Heft 2, 1956. „Unser Werk“, Werkszeitschrift der Farbenfabriken Bayer AG, Heft 1, 1961. Geschäftsbericht 1971 der Farbenfabriken Bayer AG. Geschäftsbericht 1974 der Bayer AG. Geschäftsbericht 1975 der Bayer AG.
316
Anhang
Geschäftsbericht 1976 der Bayer AG. Geschäftsbericht 1977 der Bayer AG. Fortlaufende Auflistung der benutzten Bestände des Konzernarchivs Henkel Düsseldorf: E10/83, Organisationshandbuch Teil I und II. E 20, Juristische Abteilung. H 50/I, Abteilungsbesprechungen PR und Presse 1969–1974. J 105, Betriebskonferenzen 1943–1976. J 106, Meisterkonferenzen 1949–1967. J 108, Umweltschutz. J 357, Werkfeuerwehr. J 357, Werkfeuerwehr / Mappe 1980–1990. L523 Umwelt-Blick 1974/75. 153/6, Postprotokolle. 153/7, Postprotokolle. 153/9, Postprotokolle. 153/10, Postprotokolle. 153/11, Postprotokolle. 153/15, Postprotokolle. 153/21, Postprotokolle. 153/43, gemeinsame Post Persil / Henkel / Böhme / HI. 153/45, Postprotokolle. 153/46, Postprotokolle. 153/47, Postprotokolle. 153/64, Postprotokolle. Zug.-Nr. 314 Akten Opderbecke, Abt. 501, Abwasserkontrolle. Zug.-Nr. 314 Akten Opderbecke, Abt. 501, 510 ab 1950. Zug.-Nr. 314 Akten Opderbecke, Abt 651 Ingenieurwesen Jahres- und Quartalsberichte 1958–1965. Zug.-Nr. 314 Nr.101 Akten Opderbecke, Viererbesprechungen 196–1968. Zug.-Nr. 314 Akten Opderbecke, Langfristige Unternehmensplanung, SRI 1966–1969. Zug.-Nr. 442 I u. II, Familienbesprechungen Henkel 1954–1974. Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Blaue Mitteilungen/Intern. Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Emissionen/Immissionen alt. Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, VCI Technischer Ausschuss bis 1969. Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, VCI Technischer Ausschuss 1969–1973. Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Langfristige Unternehmensplanung. Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Umweltschutz-Kommission / Konferenzen. Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Umweltschutz-Kommission / Konferenzen 1971–1973. Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Produktionsleiterkonferenz / Bereichsleiterbesprechung. Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Betriebssuchuß / Meisterkonferenzen 1973–1978. Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Berichte (Duplikate) 1972. Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Berichte (Duplikate) 1977. Zug.-Nr. 451 Akten Opderbecke, Umweltschutz bis 1978. Zug.-Nr. 453 Akten Opderbecke, Produktionsleiterkonferenzen und Bereichsleiterbesprechungen 1972–1974. Zug.-Nr. 453 Akten Opderbecke Nr. 40a-40b / 40a, Tageskopien Dr. Funk. Zug.-Nr. 453 Akten Opderbecke Nr. 40a-40b / 40b, Tageskopien Dr. Funk.
5.1 Quellenverzeichnis
317
Zug.-Nr. 453 Akten Opderbecke Nr. 41a-41b / 41a, Tageskopien Dr. Funk. Zug.-Nr. 453 Akten Opderbecke Nr. 41a-41b / 41b, Tageskopien Dr. Funk. Zug.-Nr. 453 Akten Opderbecke Nr. 42a-42b / 42a, Tageskopien Dr. Funk. Zug.-Nr. 453 Akten Opderbecke Nr. 42a-42b / 42b, Tageskopien Dr. Funk. Abt. 635 Feuerwehr / Brand- und Hilfeleistungen, unverzeichnet und ohne Bestandsangabe. Akten Henkel Corporate Crisis Management Manual, unverzeichnet und ohne Bestandsangabe. Akte IGL II ab 1985, unverzeichnet und ohne Bestandsangabe. Akten Katastrophenschutz, unverzeichnet und ohne Bestandsangabe. Akten UVS-Kommission 1975–1981, unverzeichnet und ohne Bestandsangabe. Akten VCI, unverzeichnet und ohne Bestandsangabe. Akten STI Alarmstufen 1–4/5, Krisenstab, unverzeichnet und ohne Bestandsangabe. Bestand der Stabsstelle Öffentlichkeitsarbeit, Firmenbildstudien 1969–1983, unverzeichnet und ohne Bestandsangabe. „Das Henkel-Image bei Meinungsbildnern“ Studie von Contest, unverzeichnet und ohne Bestandsbezeichnung. Einzelakte Umweltschutz, unverzeichnet und ohne Bestandsangabe. Einzelakte 36 Umweltschutz 1973–1975, unverzeichnet und ohne Bestandsangabe. Firmenbildstudie im Auftrag der Firma Henkel & Cie., durchgeführt von infratest im Oktober 1965, unverzeichnet und ohne Bestandsangabe. Gesellschafterprotokolle, Aufsichtsrat etc Auszüge 1975, unverzeichnet und ohne Bestandsangabe. Pannen, Betriebsstörungen bei Henkel in Holthausen ab 1987–2002, unverzeichnet und ohne Bestandsangabe. Persil Image-Studie durchgeführt von Dr. Fessel & Co., Institut für Marktforschung, Teil C vom Jänner/Februar 1972, unverzeichnet und ohne Bestandsangabe. Umweltdiskussion 1984–1987, unverzeichnet und ohne Bestandsangabe. UVS-Kommission 1975–1981, unverzeichnet und ohne Bestandsangabe. Verband der chemischen Industrie / Ersatzteillager / Chemie- und Braunkohleindustrie / Beseitigung von Abfallstoffen / Reinhaltung der Luft, unverzeichnet und ohne Bestandsangabe.
Veröffentlichte Quellen: „Blätter vom Hause“, Werkzeitschrift der Firma Henkel, 1947, Heft 1. „Blätter vom Hause“, Werkzeitschrift der Firma Henkel, 1948, Heft 1. „Blätter vom Hause“, Werkzeitschrift der Firma Henkel, 1949, Heft 1. „Blätter vom Hause“, Werkzeitschrift der Firma Henkel, 1959, Heft 9. „Blätter vom Hause“, Werkzeitschrift der Firma Henkel, 1960, Heft 1. „Henkel Blick“, Werkzeitschrift der Firma Henkel, November 1973. „Henkel-Blick“, Werkzeitschrift der Firma Henkel, April 1975. „Henkel Blick“, Werkzeitschrift der Firma Henkel, Februar 1980. „Henkel-Blick“, Werkzeitschrift der Firma Henkel, April 1980. „Henkel Blick“, Werkzeitschrift der Firma Henkel, November 1984. „Henkel Blick“, Werkzeitschrift der Firma Henkel, Mai 1985. Verantwortung verpflichtet: Umweltschutz, Verbraucherschutz, Sicherheit. Hrsg. von der Henkel KGaA, Düsseldorf 1984.
318
Anhang
Fortlaufende Auflistung der benutzten Bestände des Historischen Archivs Roche Basel: BU.0.2-200869. BU.5.1-201649e. PE.1.R-101998. PO.2.1.1-104150. TI 8.8.1-100248. TI.8.8.1-100555. TI.8.8.1-101570a. TI.8.8.1-101570b. TI 8.8.1-102847. TI.8.8.1-103158. TI.8.8.1-104719.
Gesetzliche Quellen Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869 in der Fassung vom 26. Juli 1900 (RGBL. S. 871) unter Berücksichtigung seitheriger Änderungen, in: Hans Kiskalt / Karl Wolff, Gewerbeordnung. Kommentar, 3. Auflage, 1961, S. 1. Gesetz zur Ordnung des Wasserhaushalts (Wasserhaushaltsgesetz) in der Fassung vom 27. Juli 1957. Bürgerliches Gesetzbuch in der Fassung vom 1. Juli 1960, § 906 BGB, (1), (2). Gesetz zur Reinhaltung der Bundeswasserstraßen in der Fassung vom 17. August 1960, in: Bundesgesetzblatt II, S. 2125. Gesetz über Detrgentien in Wasch- und Reinigungsmittel vom 5. September 1961, in: Bundesgesetzblatt 1653/Nr. 72, ausgegeben zu Bonn am 12. September 1961 Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Oktober 1962 – 2 BvF 2/60 – 2 BvF 1/61 – 2 BvF 2/61 – 2 BvF 3/61 – in dem Verfahren wegen verfassungsrechtlicher Prüfung des Gesetzes zu Reinhaltung der Bundeswasserstraßen vom 16. November 1962. Gesetz zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen und ähnliche Vorgänge (Bundes-Immissionsschutzgesetz – BischG), in Bundesgesetzblatt Teil I, Nr. 27 (1974), Z 1997A, ausgegeben zu Bonn am 21. März 1974. Katastrophenabwehrgesetz Nordrhein-Westfalen (KatAG NW), arbeitstitel, Stand 8. Dezember 1975, § 1 (2). Gesetz über Abgaben für das Einleiten von Abwasser in Gewässer (Abwasserabgabengesetz – AbwAG), in: Bundesgesetzblatt Teil I, Nr. 118 (1976), Z 1997A, ausgegeben zu Bonn am 15. September 1976. Bekanntmachung der Neufassung des Gesetzes zur Ordnung des Wasserhaushalts (Wasserhaushaltsgesetz – WHG), in: Bundesgesetzblatt Teil I, Nr. 128 (1976), Z 1997A, ausgegeben zu Bonn am 26. Oktober 1976. Zwölfte Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Störfall-Verordnung) – 12. BImSchV vom 27. Juni 1980, Bundesgesetzblatt, Jg. 1980 Teil I, Nr. 32 – Tag der Ausgabe: Bonn, den 5. Juli 1980. Gesetzt zum Schutz vor gefährlichen Stoffen (Chemikaliengesetz – ChemG) vom 16. September 1980, Bundesgesetzblatt, Jg. 1980 Teil I, Nr. 58, S. 1718 – Tag der Ausgabe: Bonn, den 25. September 1980
5.2 Literaturverzeichnis
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Interview Interview mit Dr. Hans-Georg Meyer, ehemals Umweltschutzabteilung der Bayer AG vom 18.12.2009.
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Anhang
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5.3 ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Dimensionen von Institutionen nach Scott Abbildung 2: Strategische und taktische Reaktionen auf institutionalisierte Erwartungen nach Oliver Abbildung 3: Gegenüberstellung der Produktionsmengen und der Umsatzsteigerungen bei Henkel & Cie. 1947–1973 Abbildung 4: Benachrichtigung bei schweren und tödlichen Unfällen (Bayer) Abbildung 5: Chlorfracht des Abwassers des Bayer-Werkes Dormagen im Tagesverlauf Abbildung 6: Umweltschutzausgaben von Bayer seit ihrer Erhebung Abbildung 7: Fokale Umweltschutzorganisation und -gremien bei Henkel 1971 Abbildung 8: Fokale Umweltschutzorganisation und -gremien bei Bayer 1973 Abbildung 9: Wirtschaftswachstum und Entwicklung der industriellen Emissionen in der BRD 1975–1988 Abbildung 10: Belastung des Rheins (CSB) Abbildung 11: Sauerstoffgehalt des Rheins Abbildung 12: Werksweit organisiertes Sicherheitssystem (WOS) der Bayer AG
5.4 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS AbwAG/AAG ACD AK AP Apo AR ARGE Awaluko AWALU BAL BDI
Abwasserabgabengesetz Arbeitskreis Chemie-Diskussion (Henkel KGaA) Arbeitskreis Anlagenplanung (Abteilung der Bayer AG) Außerparlamentarische Opposition Aufsichtsrat Arbeitsgemeinschaft (Kleine) Abwasser- und Abluftkommission (Bayer) Abwasser und Abluft/Abfall, Wasser, Luft Bayer Archiv Leverkusen Bundesverband der Deutschen Industrie
5.4 Abkürzungsverzeichnis BImSchG BMI Cd Chem. Cie. CL CSB DDT Dir. DM EBHA EWG FB FCKW Fe FFB GAA GAU Gew. GewO GL Icmesa/ICMESA HAR HC Hg HI HV H S 2 IG Ing.Abt. Ing.Verw. KatAG NW KGaA LD50 LE m3 mbH Min. Dir. MIK μg NI NOx NW/NRW NS OC OECD PCB OReg. PR RA Regierungsdir. / Reg. Dir. RG
Bundesimmissionsschutzgesetz Bundesministerium des Innern Cadmium (chemisches Element) Chemische/Chemischen Compagnie Chlor (chemisches Element) Chemischer Sauerstoffbedarf Dichlordiphenyltrichlorethan Direktor Deutsche Mark European Business History Association Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Farben (Sparte) Fluor Chlor Kohlenwasserstoffe Eisen (chemisches Element) Farben Fabriken Bayer Gewerbeaufsichtsamt Größter anzunehmender Unfall Gewerbe Gewerbeordnung Geschäftsleitung Industrie Chimiche Meridionali Società Azionaria Historisches Archive Roche Henkel & Cie. Quecksilber (chemisches Element) Henkel International Hauptversammlung Schwefelwasserstoff Industrie Gemeinschaft Ingenieurabteilung Ingenieurverwaltung Katastrophenabwehrgesetz Nordrhein-Westfalen Kommanditgesellschaft auf Aktien Letale Dosis, die bei 50 % einer (Tier-) Versuchspopulation zum Tod führt Leverkusen Kubikmeter mit beschränkter Haftung Ministerialdirektor/Ministerialdirigent Maximale Immissionskonzentration Mikrogramm Neoinstitutionalismus Stickoxide Nordrhein Westfalen Nationalsozialismus Organische Chemie (Sparte der Bayer AG) Organisation for Economic Cooperation and Development Polychlorierte Biphenyle Ober Regierungsrat Public Relations Rechtsanwalt Regierungsdirektor Reichsgericht
331
332 Si SO2 SO3 SRI ST TA TCDD TCP TDC UBA UHH Uko UVS Vo.-Wi-Abt. VS WDR WHG WOS ZUG Zug.-Nr.
Anhang Silizium (chemisches Element) Schwefeldioxid Schwefeltrioxid Stanford Research Institute Stab/Stabsstelle Technische Anleitung Chemikaliengruppe der Dioxine, etwa 2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin und 1,3,6,8-Tetrachlordibenzo-p-dioxin. („Seveso-Gift“) Trichlorphenol (chemische Verbindung) Technische Direktions Conferenz Umweltbundesamt Unternehmen Henkel Holthausen Untersuchungskommission Umwelt- und Verbraucherschutz Volkswirtschaftliche Abteilung Vorstandsstab (Bayer AG) Westdeutscher Rundfunk Wasserhaushaltsgesetz Werksweit organisiertes Sicherheitssystem (Bayer AG Leverkusen) Zeitschrift für Unternehmensgeschichte Zugangsnummer
Martin Lutz
Siemens im Sowjetgeschäft Eine Institutionengeschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen 1917–1933 Perspektiven der Wirtschaftsgeschichte – Band 1
„Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes.“ Dieser Leitspruch Lenins war eine Grundlage dafür, dass nur wenige Jahre nach der Oktoberrevolution das kapitalistische Unternehmen Siemens Telefonanlagen, Generatoren, elektrische Motoren und zahlreiche weitere elektrotechnische Produkte an den sozialistischen Staat liefern konnte.
Martin Lutz Siemens im Sowjetgeschäft 2011. 391 Seiten mit 16 Abbildungen, 8 Tabellen und 7 Schaubilder. Geb. ISBN 978-3-515-09802-1
Anhand des Fallbeispiels Siemens untersucht Martin Lutz, welchen Stellenwert der Faktor Wirtschaft in den deutschsowjetischen Beziehungen zwischen 1917 und 1933 einnahm. Grundlage der Analyse ist ein erweiterter institutionentheoretischer Ansatz, der den Einfluss von Ideologie auf begrenzt rationale Akteure empirisch erfassbar macht: Unsicherheit und Misstrauen beeinflussten das Sowjetgeschäft von Siemens maßgeblich. .............................................................................
Aus dem Inhalt 1917–1921: Die fundamentale Krise p 1921–1924: Formali sierung und Versagen von Institutionen p 1924–1928: Der Aufbau institutioneller Sicherungsmechanismen p 1928–1933: Die „Blütejahre“ im Sowjetgeschäft? p Die Zielpräferenzen von Siemens p Die Kommunikation mit der Umwelt
Franz Steiner Verlag Birkenwaldstr. 44 · D – 70191 Stuttgart Telefon: 0711 / 2582 – 0 · Fax: 0711 / 2582 – 390 E-Mail: [email protected] Internet: www.steiner-verlag.de
Armin Müller
Kienzle Ein deutsches Industrieunternehmen im 20. Jahrhundert Mit einem Vorwort von Thomas Guzatis und einem Nachwort von Christian H. Kienzle Perspektiven der Wirtschaftsgeschichte – Band 2
In der Geschichte des Unternehmens Kienzle Apparate GmbH Villingen steckt ein spannendes Kapitel deutscher Industriegeschichte. Sie beginnt in der Schwarzwälder Uhrenindustrie in den Krisenjahren der Weimarer Republik, sie reicht über 50 Jahre als unabhängiges Familienunternehmen mit Weltruf und weitere 30 Jahre als Standort und wichtige High-Tech-Schmiede der deutschen Technologiekonzerne Mannesmann, Siemens und Continental bis in die Gegenwart.
Armin Müller Kienzle 2011. 311 Seiten mit 124 s/w-Fotos und 12 Abbildungen. Geb. ISBN 978-3-515-09845-8
In acht Jahrzehnten Kienzle-Unternehmensgeschichte spiegeln sich wichtige Trends der Wirtschafts- und Industriegeschichte: Angefangen mit der Produktion von Taxametern und der Erfindung des Fahrtschreibers setzte Kienzle immer wieder aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen in zukunftsträchtige Produktstrategien um. Als bedeutender Hersteller von automobilen Kontrollinstrumenten und von Computern made in Germany erlebte die Firma Kienzle Apparate ihre Goldenen Jahre mit dem internationalen Boom der Automobilisierung und der Automatisierung in Betrieb und Büro. .............................................................................
Aus dem Inhalt Wurzeln und Anfänge p Bürosysteme und Computer aus Villingen p Die Goldenen Jahre p Wachstumsmärkte im Automobilgeschäft p Vom Familienunternehmen zur Konzerntochter p Neue Wege der automobilen Kommunikation p Ein Unternehmen in seiner Zeit
Franz Steiner Verlag Birkenwaldstr. 44 · D – 70191 Stuttgart Telefon: 0711 / 2582 – 0 · Fax: 0711 / 2582 – 390 E-Mail: [email protected] Internet: www.steiner-verlag.de
Der Umgang mit Risikotechnologien bleibt insbesondere seit Fukushima umstritten. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts verzeichnete enorme Produktionszuwächse der chemischen Industrie in Westdeutschland. Umweltverschmutzungen und gesteigerte Gefahrenpotentiale waren die Folge. Wo sind aber aus Sicht der verursachenden Unternehmen die Anreize zu suchen, die problematischen Verhältnisse zu korrigieren? Besitzen gesellschaftliche Erwartungen nach einer sauberen Umwelt und einem gefahrlosen Lebensalltag Wirkungsmacht auf strategische Entscheidungen eines Unternehmens?
Diesen Fragen nach Veränderungen eines verantwortungsvollen unternehmerischen Handelns geht Thilo Jungkind aus unternehmensgeschichtlicher Perspektive nach. Er ergänzt hierfür ökonomische Handlungstheorien, indem er erstmals auf die neoinstitutionalistische Organisationstheorie zurückgreift. So gelingt ihm der Entwurf eines Handlungsmodells des Unternehmens im gesellschaftlichen Wertewandel. Der Autor zeigt die Entwicklungen in der Risikokultur und im Störfallverhalten der Firmen Bayer und Henkel, indem er eine Verbindung von transformierten gesellschaftlichen Erwartungen und unternehmerischen Praktiken herstellt.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-10345-9