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German Pages 308 [309] Year 2013
Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht 293 Herausgegeben vom
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht Direktoren:
Jürgen Basedow, Holger Fleischer und Reinhard Zimmermann
Nicole Baldauf
Richtlinienverstoß und Verschiebung der Contra-legem-Grenze im Privatrechtsverhältnis Der Konflikt zwischen Richtlinie und nationalem Recht bei der Rechtsanwendung
Mohr Siebeck
Nicole Baldauf, geboren 1985; Studium der Rechtswissenschaften; 2013 Promotion; wissenschaftliche Mitarbeiterin; seit Oktober 2011 Rechtsreferendarin am Landgericht Tübingen.
e-ISBN PDF 978-3-16-152914-6 ISBN 978-3-16-152878-1 ISSN 0720-1141 (Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. dnb.de abrufbar. © 2013 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer tung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elek tronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck papier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.
1 2 3 4 5 Meiner Familie
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Danksagung Die Arbeit entstand an der Universität Tübingen und wurde im Januar 2013 von der Juristischen Fakultät als Dissertation angenommen. Sie wurde durch Herrn Prof. Dr. Martin Gebauer betreut, bei dem ich mich ganz herzlich bedanken möchte. Er hatte nicht nur stets ein offenes Ohr für Fragen und Probleme, sondern gab mir als Mitarbeiterin seines Lehrstuhls die Freiheit, mich neben der Promotion persönlich und fachlich weiterzuentwickeln. Herrn Prof. Dr. Jan Schürnbrand danke ich für die sehr zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Großer Dank gilt Herrn Dr. Janis Leifeld, der mir jederzeit bedingungslos zur Seite stand und der durch seine selbstlose und kompetente Unterstützung entscheidend zum Gelingen der Arbeit beigetragen hat. Dank gilt auch meinen Freunden, mit deren Hilfe ich stets rechnen durfte, sei es für inhaltliche Fragen, für Korrekturen während der Weihnachtsfeiertage oder für nette Ablenkung, wenn es nötig schien. Meiner Familie möchte ich für ihre uneingeschränkte Unterstützung danken, die diese Arbeit erst ermöglicht hat – ihnen allen ist die Arbeit gewidmet. Ein besonderer Dank gilt meinen Eltern, die mich unaufhörlich motiviert und angespornt haben, nicht zuletzt meiner Mutter für die orthographische Überarbeitung des Manuskripts. Rottenburg, Juni 2013
Nicole Baldauf
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Inhaltsübersicht Danksagung……………………………………………………………..... VII Inhaltsverzeichnis ................................................................................... XI Abkürzungsverzeichnis ....................................................................... XXV Einleitung ................................................................................................. 1
Teil 1: Die Veränderungen durch Richtlinien und die Ausgangslage im nationalen Recht ........................................ 7 A. Die Veränderungen im nationalen Recht durch den Erlass der Richtlinie ........................................................................................ 7 B. Gesetzesanwendung im nationalen Kontext (Einebenensystem) .............................................................................. 38 C. Zwischenergebnis und Auslick ............................................................ 79
Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien (Zweiebenensystem) ......................................... 81 A. Die Vorgaben des EuGH zur richtlinienkonformen Rechtsfindung ................................................... 82 B. Meinungen in der Literatur zur Lösung des Konflikts zwischen Richtlinie und nationalem Recht im Privatrechtsverhältnis durch richtlinienkonforme Gesetzesanwendung ................................ 105 C. Die Ansätze in der deutschen Rechtsprechung zur Ausgestaltung der richtlinienkonformen Rechtsfindung..................... 174 D. Zusammenfassung und Zwischenergebnis ......................................... 203
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Inhaltsübersicht
Teil 3: Zulässigkeit und Notwendigkeit der Veränderung traditioneller Methoden im Kontext der Richtlinie ........................................................... 206 A. Zulässigkeit der Modifikation traditioneller Rechtsfindungsmethoden .................................................................. 207 B. Schutzlücken bei richtlinienkonformer Rechtsfindung im Sinne eines Ergebnisvorrangs ...................................................... 226 C. Notwendigkeit der Modifikation der Staatshaftungsvoraussetzungen......................................................... 249 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse .................................... 259 Verzeichnis der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs ........... 263 Literaturverzeichnis .............................................................................. 265 Sachverzeichnis .................................................................................... 281
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Inhaltsverzeichnis Danksagung ........................................................................................... VII Inhaltsübersicht ....................................................................................... IX Abkürzungsverzeichnis ....................................................................... XXV Einleitung ................................................................................................. 1
Teil 1: Die Veränderungen durch Richtlinien und die Ausgangslage im nationalen Recht ........................................ 7 A. Die Veränderungen im nationalen Recht durch den Erlass der Richtlinie ........................................................................................ 7 I. Meinungen zur Frage der Geltung der Richtlinie in der nationalen Rechtsordnung.............................................................. 10 1. Die Befürworter der unmittelbaren Geltung von Richtlinien .................................................................................. 10 a) Das europäische Bundesstaatsmodell ...................................... 10 b) Die völkerrechtliche Theorie der unmittelbaren Geltung von Richtlinien ........................................................ 12 2. Die Gegner der unmittelbaren Geltung der Richtlinie: Die Transformationsthese ........................................................... 15 a) Grundsatz: Das Transformationserfordernis für die Richtlinie ............................................................................... 15 b) Ausnahme: Die Anordnung der unmittelbaren Geltung durch den EuGH .................................................................... 16 II. Die Rechtsprechung des EuGH ...................................................... 17 1. Erster Schritt: Unmittelbare Wirkung von Sekundärrecht – das Urteil van Duyn (1974) ......................................................... 17 2. Zweiter Schritt: Die Rechtsmissbrauchsratio – das Urteil Ratti (1979) ................................................................ 21 3. Fazit: Keine unmittelbaren Wirkungen im Horizontalverhältnis ..................................................................... 2 III. Stellungnahme ................................................................................ 24 1. Die Auslegung von Art. 288 AEUV ........................................... 25
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a) Wortlaut ................................................................................ 25 b) Grammatikalisch-systematische Interpretation ...................... 26 c) Historisch-systematische Interpretation ................................. 26 d) Regelungszweck von Art. 288 III AEUV ............................... 27 2. Die Möglichkeit zulässiger Rechtsfortbildung von Art. 288 AEUV ......................................................................... 29 a) Die Unvollständigkeit von Art. 288 AEUV ............................ 29 b) Die Planwidrigkeit der fehlenden unmittelbaren Geltung von Richtlinien ........................................................ 30 3. Ergebnisse der Interpretation von Art. 288 AEUV...................... 32 a) Die unterschiedlichen Kategorien von Sekundärrecht ............ 32 b) Der primärrechtliche Umsetzungsbefehl ................................ 34 (1) Der Umsetzungsbefehl gilt innerstaatlich......................... 34 (2) Der Umsetzungsbefehl richtet sich an die nationalen Organe ............................................................ 34 (3) Der Inhalt des Umsetzungsbefehls ist dynamisch ............. 36 IV. Zwischenergebnis .......................................................................... 37 B. Gesetzesanwendung im nationalen Kontext (Einebenensystem) .............................................................................. 38 I. Die Bindung des Richters an geltende Gesetze, Art. 20 III GG ................................................................................. 38 II. Auslegung und Rechtsfortbildung im nationalen Kontext ............... 40 1. Die gemischt-objektive Theorie ................................................. 41 a) Die Auslegung nach der gemischt-objektiven Theorie ........... 41 (1) Das Ziel der Auslegung ................................................... 41 (2) Die Auslegungskriterien, insbesondere die objektivteleologischen Kriterien .................................................. 42 (3) Das Vorgehen bei der Gesetzesanwendung ...................... 44 (a) Grundsatz: Keine Rangfolge der Auslegungskriterien ................................................... 44 (b) Ausnahme: Vorliegen einer interpretatorischen Vorrangregel .............................................................. 46 (i) Die Unterscheidung von Abwägungslösung und interpretatorischer Vorrangregel ...................... 46 (ii) Die interpretatorischen Vorrangregeln und ihre Stufung .......................................................... 47 (aa) Vorrangregel auf der ersten Stufe: Der eindeutige Wortlaut ................................ 48
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(bb) Vorrangregeln auf der zweiten Stufe: Das Doppelkriterium (historische) Regelungsabsicht des Gesetzgebers und Wortsinn ................................................ 50 (aaa) Gesetzgeberische Regelungsentscheidung und Wortsinn decken sich ........................... 51 (bbb) Die wesentliche Umstrukturierung einer Norm, insbesondere ihre Reduktion „auf Null“ ........................... 54 (ccc) Keine Vorrangregel bei fehlender Kongruenz von (historischer) Regelungsabsicht bzw. Wertentscheidung und Wortsinn .......... 54 (cc) Vorrangregel auf dritter Stufe: Vorrang objektiv-teleologischer Kriterien? ................. 55 (aaa) Objektiv-teleologische Kriterien und Wortsinn decken sich ..................... 56 (bbb) Objektiv-teleologische Kriterien und Wortsinn decken sich nicht ........... 57 b) Die Rechtsfortbildung nach der gemischt-objektiven Theorie ................................................................................. 58 (1) Die Unvollständigkeit des Gesetzes ................................. 60 (2) Das Merkmal der Planwidrigkeit ..................................... 61 (a) Die positive Bestimmung: Der Maßstab für die Rechtsfortbildung ................................................. 61 (b) Die negative Bestimmung: Die Contra-legem-Grenze........................................... 62 c) Die Stufen der Interpretation von Gesetzen nach der gemischt-objektiven Theorie ................................................. 64 2. Die subjektive Theorie ............................................................... 66 a) Auslegung nach der subjektiven Theorie ............................... 66 (1) Das Ziel der Auslegung und die Auslegungskriterien ......................................................... 66 (2) Die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung ............................................................ 67 b) Die Rechtsfortbildung nach der subjektiven Theorie ............. 68 (1) Voraussetzungen der Lückenfeststellung ......................... 68 (a) Die positive Bestimmung der Lücke ........................... 68 (i) Primäre bzw. anfängliche Lücken .......................... 69 (ii) Sekundäre bzw. nachträgliche Lücken ................... 69
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(b) Die negative Bestimmung der Lücke: Die Contra-legem-Grenze........................................... 70 (2) Der Maßstab der Lückenschließung ................................. 71 c) Die Stufen der Rechts- und Gesetzesanwendung nach subjektiver Theorie ....................................................... 71 III. Die Behandlung von Normenkollisionen nach dem Lex-superior-Grundsatz im nationalen Kontext ............................. 73 1. Die Existenz, Geltung und Anwendbarkeit der konfligierenden Normen innerhalb einer Rechtsordnung ............ 74 2. Die inhaltliche Kollision bei gleichem Adressat ......................... 75 3. Normen unterschiedlichen Ranges ............................................. 76 4. Folge: Die Verwerfung des niederrangigen Rechts und die Anwendung der höherrangigen Norm durch den zur Entscheidung berufenen Richter ................................................. 77 5. Fazit ........................................................................................... 79 C. Zwischenergebnis und Ausblick .......................................................... 79
Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien (Zweiebenensystem) ......................................... 81 A. Die Vorgaben des EuGH zur richtlinienkonformen Rechtsfindung .................................................... 82 I. Die volle Ausschöpfung des methodischen Beurteilungsspielraums: Die Urteile von Colson & Kamann und Harz (1984) ............................................................................. 84 II. Erweiterungstendenzen in Bezug auf das Institut der richtlinienkonformen Rechtsfindung ............................................. 86 1. Das Urteil Marleasing (1990)..................................................... 86 a) Sachverhalt und Problemstellung im nationalen Recht ........... 87 b) Die methodischen Vorgaben des EuGH ................................. 87 c) Folgen für die nationale Methode .......................................... 88 2. Das Urteil Wagner Miret (1993)................................................. 89 a) Sachverhalt und Problemstellung im nationalen Recht ........... 89 b) Die methodischen Vorgaben des EuGH ................................. 90 c) Folgen für die nationale Methode .......................................... 91 3. Das Urteil Unilever Italia (2000) ............................................... 92 a) Sachverhalt und Problemstellung im nationalen Recht ........... 92 b) Die methodischen Vorgaben des EuGH ................................. 92 c) Folgen für die nationale Methode .......................................... 93 4. Das Urteil Björnekulla Fruktindustrier (2004) ........................... 93
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a) Sachverhalt und Problemstellung im nationalen Recht ........... 93 b) Die methodischen Vorgaben des EuGH ................................. 94 c) Folgen für die nationale Methode .......................................... 94 5. Das Urteil Pfeiffer (2004) .......................................................... 95 a) Sachverhalt und Problemstellung im nationalen Recht .......... 95 b) Die methodischen Vorgaben des EuGH und Folgen für die nationale Methode .......................................................... 95 (1) Keine unmittelbare Anwendung der Richtlinie und Soweit-wie-möglich-Formel ........................................... 96 (2) Fiktive Normenkollision zwischen Richtlinie und nationalem Recht ............................................................ 96 (3) Absicht zur korrekten Richtlinienumsetzung................... 98 6. Das Urteil Mangold (2005) ....................................................... 99 a) Sachverhalt und Problemstellung im nationalen Recht .......... 99 b) Die methodischen Vorgaben des EuGH .............................. 100 c) Folgen für die nationalen Methoden ................................... 100 III. Die Klarstellung der Grenzen der Verpflichtung: Das Urteil Adeneler (2006) .......................................................... 101 1. Sachverhalt und Problemstellung im nationalen Recht ............ 101 2. Die methodischen Vorgaben des EuGH ................................... 102 3. Folgen für die nationalen Methoden ........................................ 103 IV. Fazit ............................................................................................ 104 B. Meinungen in der Literatur zur Lösung des Konflikts zwischen Richtlinie und nationalem Recht im Privatrechtsverhältnis durch richtlinienkonforme Gesetzesanwendung ................................ 105 I. Die Lösung des Konflikts zwischen Richtlinie und nationalem Recht bei verbleibendem Rechtsfindungsspielraum nach traditioneller Gesetzesanwendung: Die These vom Ergebnisvorrang ................. 106 1. Der gedankliche Ansatz ........................................................... 107 2. Das methodische Vorgehen ...................................................... 108 a) Besonderheiten der Auslegung des nationalen Rechts im Richtlinienkontext .......................................................... 108 (1) Die richtlinienkonforme Auslegung ............................... 108 (2) Sonderfall: Die richtlinienorientierte Auslegung ............ 110 b) Besonderheiten der Rechtsfortbildung im Richtlinienkontext ............................................................... 112 3. Probleme der Methode ............................................................. 113 4. Begründung der Methode ......................................................... 114 5. Fazit ......................................................................................... 115
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II. Die Lösung des Konflikts zwischen Richtlinie und nationalem Recht bei der Gesetzesanwendung.............................. 116 1. Die Richtlinienkonformität als Vorrangregel bei der Gesetzesanwendung ................................................................ 116 a) Richtlinienkonformität als interpretatorische Vorrangregel ....................................................................... 117 (1) Gedanklicher Ansatz ..................................................... 117 (2) Das methodische Vorgehen ........................................... 119 (a) Die richtlinienkonforme Auslegung .......................... 120 (b) Die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung .............. 121 (i) Die Lückenfeststellung und -schließung .............. 122 (ii) Instrumente zur Lückenschließung ...................... 123 (c) Grenzen der richtlinienkonformen Rechtsfindung..... 123 (i) Der eindeutige Wortlaut ...................................... 124 (ii) Gesetzgeberische Regelungsentscheidung und Contra-legem-Grenze .................................... 124 (3) Begründung und Vorteile der Methode .......................... 126 (4) Probleme der Methode ................................................... 127 (5) Fazit .............................................................................. 128 b) Die Auffassung von C. Herresthal ......................................... 128 (1) Der gedankliche Ansatz ................................................. 129 (a) Die unmittelbare Geltung von Rechtssetzungspflichten ........................................... 129 (i) Der Beachtungsvorrang der Richtlinie ................. 129 (ii) Die Modifikation des Modells vom Stufenbau der Rechtsordnung durch die „integrative Verbindung“ von nationaler und Unionsrechtsordnung zu einer Gesamtrechtsordnung .......................................... 130 (b) Die Verschiebung der innerstaatlichen Kompetenzen ........................................................... 131 (2) Methode und Vorgehen ................................................. 134 (a) Der neue Maßstab der Gesetzesanwendung .............. 135 (b) Die gemeinschaftsrechtskonforme Rechtsfortbildung ..................................................... 137 (i) Lückenfeststellung: Das Vorliegen einer systemwidrigen Regelungslücke ......................... 137 (ii) Die Lückenschließung ........................................ 138 (iii) Zeitlicher Beginn der gemeinschaftsrechtskonformen Rechtsfortbildung............................................... 138 (c) Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung .......... 139
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(3) Grenzen der Rechtsfortbildung nach C. Herresthal ........ 140 (a) Ablehung traditioneller Grenzen............................... 140 (i) Der Wortlaut der nationalen Norm ....................... 140 (ii) Der Wille des nationalen Gesetzgebers ................ 140 (iii) Tradierte Konkretisierungen von Verfassungsinhalten ............................................ 141 (b) Verbleibende Grenzen der gemeinschaftsrechtskonformen Rechtsfortbildung ..................................................... 142 (i) Grenzen aus dem Prinzip der Gewaltenteilung ..... 142 (aa) Die (weiterhin) aktuelle Wertungsentscheidung des Gesetzgebers ....... 142 (bb) Die (weiterhin) aktuelle gesetzgeberische Ablehnung einer Umsetzung oder Durchsetzung ..................... 143 (cc) Sperrwirkung bevorstehender Gesetze .......... 144 (ii) Funktionale Grenzen ........................................... 144 (iii) Strukturelle Grenzen ........................................... 144 (4) Fazit .............................................................................. 145 2. Die Richtlinienkonformität als nationaler Gesetzgeberwille: Die These vom Vorrang des Umsetzungswillens ..................... 146 a) Der gedankliche Ansatz ....................................................... 146 b) Das methodische Vorgehen ................................................. 147 (1) Fall 1: Der Umsetzungswille liegt konkret nachweisbar vor, ohne dass der Gesetzgeber eine materielle Regelungsentscheidung getroffen hat ............ 148 (2) Fall 2: Widerspruch von konkretem Umsetzungswillen und gesetzgeberischer Regelungsentscheidung.................................................. 149 (3) Fall 3: Fehlender bzw. nicht nachweisbarer Umsetzungswille ........................................................... 151 (a) Problematik: Die Vermutung eines (generellen) Umsetzungswillens................................................... 151 (b) Die Begründung der generellen Vermutung des Vorliegens eines Umsetzungswillens ........................ 152 c) Grenzen des Vorrangs des Umsetzungswillens .................... 154 (1) Die Wortlautgrenze ....................................................... 154 (2) Die Grenze der konkreten Regelungsabsicht des (historischen) Gesetzgebers ........................................... 154 d) Fazit ..................................................................................... 155 III. Die Lösung des Konflikts zwischen Richtlinie und nationalem Recht (auch) auf Normebene ..................................... 156
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1. Vorgehen und Methode ............................................................ 156 a) Die Richtlinie als unmittelbar geltende, höherrangige Norm ............................................................. 156 b) Einschränkungen der Anwendbarkeit der Richtlinie im Horizontalverhältnis ....................................................... 157 (1) Zeitliche Einschränkung: Ablauf der Umsetzungsfrist ........................................... 157 (2) Methodische Einschränkung: Gesetzesanwendung vor Verwerfung der nationalen Norm ............................. 158 (a) 1. Stufe: Anwendung des nationalen Rechts nach den traditionellen Methoden .................................... 158 (b) 2. Stufe: Die Verwerfung von richtlinienwidrigen Auslegungskriterien als richtlinienkonforme Rechtsfindung .......................................................... 159 (c) 3. Stufe: Die Verwerfung der gesamten nationalen Norm ....................................................... 161 (3) Inhaltliche Einschränkungen bei der Wirkung der Richtlinie ....................................................................... 161 (a) Die Theorie von den positiven Richtlinienwirkungen ............................................... 162 (i) Vorgehen bei der Gesetzesanwendung ................. 162 (ii) Begründung ......................................................... 163 (b) Die Theorie von den negativen Richtlinienwirkungen ............................................... 164 (i) Vorgehen bei der Gesetzesanwendung ................. 164 (ii) Begründung ......................................................... 166 (iii) Probleme ............................................................. 167 (aa) Widerspruch zur Rechtsprechung des EuGH .......................... 167 (bb) Nichtvorhandensein von richtlinienkonformem nationalem Recht ....... 170 (cc) Methodische Probleme ................................. 172 2. Fazit ......................................................................................... 172 C. Die Ansätze in der deutschen Rechtsprechung zur Ausgestaltung der richtlinienkonformen Rechtsfindung..................... 174 I. Die Ansicht des Bundesgerichtshofs ............................................. 174 1. Der Fall Heininger (BGHZ 150, 248-263) ................................ 174 a) Sachverhalt und Problemstellung ......................................... 174 b) Lösung des BGH ................................................................. 176 (1) Grammatikalische Interpretation .................................... 177 (2) Genetische Interpretation ............................................... 177
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c) Fazit .................................................................................... 179 2. Der Fall Quelle (BGHZ 179, 27-43) ......................................... 179 a) Sachverhalt und Problemstellung ......................................... 179 b) Die Lösung des BGH........................................................... 181 (1) Grammatikalische Interpretation .................................... 181 (2) Genetische Interpretation ............................................... 182 (3) Reichweite der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung .......................................................... 184 c) Rechtfertigung des Lösungsansatzes .................................... 184 d) Fazit .................................................................................... 185 3. Der Fall Weber (BGH NJW 2012, 1073 ff.) ............................. 186 a) Sachverhalt und Problemstellung ......................................... 186 b) Lösung des BGH zum 1. Problemkomplex .......................... 188 c) Lösung des BGH zum 2. Problemkomplex .......................... 189 (1) Grammatikalische Interpretation .................................... 189 (2) Genetische Interpretation ............................................... 189 d) Fazit .................................................................................... 191 4. Zusammenfassung .................................................................... 192 II. Die Ansicht des Bundesarbeitsgerichts im Fall Urlaubsabgeltung ......................................................................... 192 1. Sachverhalt und Problemdarstellung ........................................ 192 2. Lösung des BAG ...................................................................... 194 a) Die richtlinienkonforme Auslegung ..................................... 194 b) Die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung.......................... 195 3. Fazit ......................................................................................... 196 III. Die Rechtsprechung des BVerfG ................................................. 197 1. Honeywell (BVerfGE 126, 286 ff.) ........................................... 197 a) Sachverhalt und Problemstellung im nationalen Recht ......... 197 b) Lösung des BVerfG ............................................................. 198 c) Fazit .................................................................................... 199 2. Beschluss Haustürwiderrufsgesetz (BVerfGE NJW 2012, 699 ff.) ................................................. 200 a) Lösung des BVerfG ............................................................. 201 b) Fazit .................................................................................... 202 3. Zusammenfassung .................................................................... 203 D. Zusammenfassung und Zwischenergebnis ......................................... 203
Teil 3: Zulässigkeit und Notwendigkeit der Veränderung traditioneller Methoden im Kontext der Richtlinie................ 206
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A. Zulässigkeit der Modifikation traditioneller Rechtsfindungsmethoden .................................................................. 207 I. Rechtfertigung der mit der Modifikation traditioneller Rechtsfindungsmethoden verbundenen Kompetenzverschiebung auf der Grundlage eines unveränderten Verfassungsverständnisses .................................... 207 1. Die Kompetenz zur Setzung von materiellen Regelungszielen ..................................................... 207 a) Argumente............................................................................ 207 (1) Der nationale Gesetzgeber hat die Kompetenz zu materieller Entscheidung im Richtlinienbereich verloren ........................................................................... 208 (2) Die Judikative trifft keine eigene rechtspolitische Entscheidung, sondern führt nur den Willen des Unionsgesetzgebers aus ................................................... 208 b) Stellungnahme...................................................................... 208 (1) Vorliegen einer verfassungsrechtlich relevanten Kompetenzverschiebung durch die Modifikation der traditionellen Methoden ............................................ 209 (2) Rechtfertigung der Verschiebung der verfassungsrechtlichen Kompetenzen.............................. 210 (a) Die materielle Regelungsentscheidung im Richtlinienbereich ..................................................... 210 (b) Rechtfertigung der Kompetenzverschiebung, wenn Verordnungserlass möglich .............................. 212 (c) Rechtfertigung, weil sich die Legislative ihre Kompetenz zurückholen kann.................................... 213 2. Vermutete Entsprechung des judikativen Ergebnisses mit dem Gesetzgeberwillen ...................................................... 213 a) Argumente............................................................................ 213 (1) Die Vermutung des Gesetzgeberwillens zur korrekten Umsetzung ....................................................... 213 (2) Die Alterung des nationalen Gesetzes allein durch die Richtlinie ................................................ 214 b) Stellungnahme...................................................................... 214 (1) Gleichwertigkeit von Umsetzungswillen und materieller Regelungsentscheidung ................................ 214 (2) Keine Rechtfertigung der Vermutung der ordnungsgemäßen Richtlinienumsetzung ......................... 216 (a) Umkehrung des festgestellten Auslegungsergebnisses ............................................... 216 (b) Keine empirische Beweisbarkeit der Vermutung ........ 218
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(3) Keine Alterung des nationalen Gesetzes .......................... 219 3. Zwischenergebnis .................................................................... 220 II. Rechtfertigung der mit der Modifikation traditioneller Rechtsfindungsmethoden verbundenen Kompetenzverschiebung durch Aufwertung von Art. 23 GG als Staatsstrukturprinzip............................................ 221 1. Argument: Veränderung der Verfassungsstruktur und der nationalen Methoden durch das Staatsstrukturprinzip der integrierten Staatlichkeit ..................................................... 221 2. Stellungnahme ......................................................................... 221 a) Der Ansatz über die Veränderung der nationalen Verfassungsstruktur ............................................. 222 b) Vorliegen einer Veränderung der nationalen Verfassungsstruktur ............................................. 222 (1) Auslegung von Art. 23 GG ............................................. 222 (a) Wortlaut .................................................................... 222 (b) Genetische Auslegung ............................................... 223 (c) Systematisch-teleologische Auslegung ...................... 223 (d) Fazit .......................................................................... 224 (2) Jedenfalls keine Reduktion auf Null ............................... 224 III. Zwischenergebnis ........................................................................ 225 B. Schutzlücken bei richtlinienkonformer Rechtsfindung im Sinne eines Ergebnisvorrangs ...................................................... 226 I. Verfassungskonforme Konfliktlösungsmechanismen für den Konflikt zwischen Richtlinie und nationalem Recht ......... 226 1. Die richtlinienkonforme Rechtsfindung im Sinne eines Ergebnisvorrangs .............................................. 227 2. Die unionsrechtliche Staatshaftung ......................................... 228 a) Hintergründe für die Entwicklung des Instituts der unionsrechtlichen Staatshaftung ..................................... 229 b) Die Voraussetzungen der Staatshaftung ............................... 230 c) Die Qualifikation des Umsetzungsverstoßes ........................ 231 (1) Hintergrund für das Erfordernis der Qualifikation des Umsetzungsverstoßes .............................................. 231 (2) Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs......... 232 (a) Das Ob der Umsetzung ............................................. 232 (b) Das Wie der Umsetzung ........................................... 233 d) Fazit .................................................................................... 233 II. Bestimmung der Schutzlücken durch Anwendung der verfassungskonformen Konfliktlösungsmechanismen ............. 234
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1. Der Gesetzgeber hat die Richtlinie nicht umgesetzt (Altrecht)................................................................................. 234 a) Bewusste Untätigkeit des Gesetzgebers ............................... 234 (1) Reichweite der richtlinienkonformen Rechtsfindung im Sinne eines Ergebnisvorrangs ............ 234 (2) Reichweite der Staatshaftung ......................................... 235 b) Unbewusste Untätigkeit des Gesetzgebers ........................... 235 (1) Reichweite der richtlinienkonformen Rechtsfindung im Sinne eines Ergebnisvorrangs ............ 236 (2) Reichweite der Staatshaftung ......................................... 236 2. Der Gesetzgeber hat die Richtlinie fehlerhaft umgesetzt........... 237 a) Bewusst fehlerhafte Umsetzung des nationalen Gesetzgebers ....................................................................... 237 b) Unbewusst fehlerhafte Umsetzung des nationalen Gesetzgebers ....................................................................... 237 (1) Der Gesetzgeber hat das nationale Recht zur Umsetzung der Richtlinie verändert ............................... 238 (a) Reichweite der traditionellen Rechtsfindungsmethoden.......................................... 238 (i) Rechtsfindung nach subjektiver Theorie .............. 238 (ii) Die Rechtsfindung nach objektiver Theorie ......... 239 (b) Reichweite der Staatshaftung ................................... 240 (2) Der Gesetzgeber hat das nationale Recht unverändert gelassen, aber vermerkt, dass dieses der Umsetzung der Richtlinie dienen soll ....................... 242 (a) Reichweite der traditionellen Rechtsfindungsmethoden.......................................... 242 (i) Rechtsfindung nach subjektiver Theorie .............. 242 (ii) Rechtsfindung nach objektiver Theorie ............... 243 (b) Reichweite der Staatshaftung ................................... 243 c) Die Unterscheidung zwischen unbewusst und bewusst fehlerhafter Umsetzung.......................................... 244 3. Fazit: Es verbleiben Schutzlücken ............................................ 245 III. Unzulässigkeit des Offenlassens von Schutzlücken...................... 245 1. Effektive Durchsetzung des Unionsrechts ................................ 246 2. Ungleichbehandlung der Marktbürger ...................................... 247 3. Verantwortungsverlagerung ..................................................... 248 C. Notwendigkeit der Modifikation der Staatshaftungsvoraussetzungen ......................................................... 249 I. Methode ....................................................................................... 250 II. Absicherung der Methode ............................................................ 251
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1. Unzulässigkeit des Offenlassens von Schutzlücken als Rechtfertigung der Ausdehnung der richtlinienkonformen Rechtsfindung ................................... 251 a) Vertrauensschutz und Rechtssicherheit ................................ 251 b) Verantwortungsprinzip ........................................................ 254 2. Das Effektivitätsprinzip ........................................................... 254 a) Abstufung im Vertrauen aufgrund der Dogmatik der Richtlinie ........................................................................ 255 b) Effektive Durchsetzung auf zweiter Ebene ........................... 256 c) Effektive Umsetzung der Richtlinie ...................................... 256 3. Gleichbehandlung der Marktbürger .......................................... 257 4. Keine Ausuferung der Staatshaftung ........................................ 258 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse .................................... 259 Verzeichnis der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs ........... 263 Literaturverzeichnis .............................................................................. 265 Sachverzeichnis .................................................................................... 281
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Abkürzungsverzeichnis AcP AEUV Art. Aufl. BAG BB Bd. BGB BGH BGHZ BKR BUrlG BVerfG BVerfGE C.L.J. C.M.L.Rev. DB ders. dies. DÖV DVBl EG EGV E.L.Rev. EU EuGH EuR EuZW EWS f. ff. FS gem. GG ggf. GPR GRUR Hrsg.
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XXVI I.C.L.Q. i.d.F. i.V.m. JCMS Jura JuS JZ m.w.N. NJW Nr. NVwZ NZS OLG ÖJZ RabelsZ RdA RIW Rn. Rs. Rspr. S. s. s.o. Slg. UWG Var. VBlBW Vgl. VVDStRL WM WRP ZaöRV ZfA ZEuP ZEuS ZIP ZGR ZPO ZRP
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Einleitung Im November 2008 begann mit der Entscheidung des BGH in Sachen Quelle1 eine neue Entwicklungsetappe in der deutschen Rechtsprechung zum Problemkomplex der richtlinienkonformen Anwendung des nationalen Rechts.2 Inhaltlich ging es um eine alltägliche kaufrechtliche Problemstellung: Eine Verbraucherin hatte beim Versandhandelsunternehmen Quelle ein „Herd-Set“ bestellt. Etwa eineinhalb Jahre nach Lieferung stellte sie einen Fehler der Kaufsache fest. Da eine Nachbesserung nicht möglich war, lieferte Quelle eine neue, mangelfreie Sache, verlangte aber eine Entschädigung für die Dauer der Nutzung des mangelhaften Herdes gemäß §§ 439 IV, 346 I, II 1 Nr. 1, 100 BGB. Die Nutzungsentschädigung wurde zunächst von der Verbraucherin gezahlt, später jedoch von dem von ihr hierzu ermächtigten Verbraucherverband gemäß § 812 I BGB herausverlangt.3 Der BGH hatte noch vor Einführung des § 474 II 1 BGB n.F. zu entscheiden, ob die Zahlung der Verbraucherin ohne Rechtsgrund erfolgt war und damit inzident, ob ein Anspruch des Verkäufers auf Nutzungsersatz aus §§ 439 IV, 346 I, II 1 Nr. 1, 100 BGB für die Zeit bestand, in der der Verbraucher eine mangelhafte Sache in Gebrauch hatte. Das nationale Recht verweist in § 439 IV BGB für die Rückgewähr der mangelhaften Sache uneingeschränkt auf § 346 BGB, der einen Anspruch auf Nutzungsersatz für den Verkäufer bereithält. Zudem enthalten auch die Gesetzesmaterialien die Aussage, dass dem Verkäufer für die Nutzung der mangelhaften Sache ein Ersatzanspruch zustehen soll.4 Aufgrund dieser eindeutigen Aussagen des nationalen Rechts war der Verbraucher unter 1
BGH NJW 2009, 427 ff. Weitere vergleichbare, auch instanzielle Entscheidungen folgten: BGH NJW 2012, 1073 ff.; AG Köln BeckRS 2010, 2637, Rn. 20 f.; LG Stuttgart BeckRS 2012, 6165, Leitsatz, Rn. 19. 3 Die Revision des Klägers, die sich gegen die Abweisung einer Unterlassungsklage nach § 2 I 1 UKlaG richtete, im Zusammenhang mit einer Ersatzlieferung im Sinne des § 439 Abs. 1 BGB, Verbrauchern für die Nutzung der mangelhaften Sache Beträge in Rechnung zu stellen, soll hier nicht betrachtet werden, vgl. dazu BGH NJW 2009, 427 ff., Rn. 36 ff. 4 BT-Drucks. 14/6040. Vgl. BGH NJW 2009, 427 ff., Rn. 23. 2
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Anwendung traditioneller Gesetzesanwendungsmethoden verpflichtet, dem Verkäufer Nutzungsersatz zu leisten.5 Die Besonderheit des Falles lag nun darin, dass die Problematik in den Regelungsbereich der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie6 fiel. Nach Art. 3 III der Richtlinie steht dem Verbraucher ein Anspruch auf „unentgeltliche“ Nachbesserung des Verbrauchsguts zu. Da der BGH deshalb an der Richtlinienkonformität des nationalen Rechts zweifelte, legte er dem EuGH die Frage vor, ob § 439 IV BGB mit den Vorgaben der Richtlinie vereinbar sei. Der EuGH entschied, dass mit der Vorgabe der Richtlinie zur unentgeltlichen Nachbesserung eine Pflicht des Verbrauchers, Nutzungsersatz zu leisten, nicht vereinbar ist. Er stellte folglich die Richtlinienwidrigkeit von § 439 IV BGB (in der Auslegung durch den BGH) fest.7 Der BGH sah sich damit vor einen durch die Entscheidung des EuGH deutlich gewordenen Konflikt des nationalen Rechts mit der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie gestellt. Die Problematik des inhaltlichen Gegensatzes zwischen Richtlinienvorgaben und nationalem Recht ist nicht unbekannt. Im öffentlich-rechtlichen Verhältnis, in dem sich der Bürger gegenüber dem fehlerhaft umsetzenden Mitgliedstaat auf seine Rechte aus der Richtlinie beruft (sog. Vertikalverhältnis), ist der Konflikt weitgehend wissenschaftlich aufgearbeitet. Im Grundsatz gilt, dass die Vorgaben der Richtlinie in nationales Recht zu überführen sind. Unterbleibt die Umsetzung oder erfolgt sie fehlerhaft, wird der auftretende Konflikt zwischen Unionsrecht und nationalem Recht mit zwei Instituten gelöst: der unmittelbaren Wirkung der Richtlinie in der nationalen Rechtsordnung und gegebenenfalls, wenn eine unmittelbare Wirkung ausscheidet, über das Institut der Staatshaftung. Im Fall Quelle handelt es sich jedoch nicht um ein Vertikalverhältnis zwischen Bürger und Staat, sondern um ein sog. Horizontalverhältnis. Im Kern steht ein zivilrechtlicher Streit zwischen zwei Bürgern, hier einem Verbraucher und einem Unternehmer. Aufgrund der identischen Grundproblematik, dem Konflikt zwischen Richtlinienvorgaben und nationalem Recht, ist es nicht verwunderlich, dass auch bei Konflikten im Horizontalverhältnis vor allem zu Beginn der Diskussion als Lösung eine unmittelbare Wirkung der Richtlinie vorgeschlagen wurde. Bei diesem Ansatz ist es jedoch nicht geblieben. Mehrheitlich wird nunmehr die These favorisiert, dass der Konflikt zwischen Richtlinienvorgaben und nationalem Recht mit den methodischen Mitteln der richtlinienkonformen Auslegung und der 5
Vgl. BGH EuZW 2007, 286 ff., Rn. 12. Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai 1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter. 7 EuGH, Rs. C-404/06, NJW 2008, 1433 ff. (Quelle), Leitsatz, Rn. 31 ff., 43. 6
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Rechtsfortbildung gelöst werden kann und muss. Auch der BGH hat sich in seinem Quelle-Urteil dafür entschieden, das nationale Recht „wo dies nötig und möglich ist, richtlinienkonform fortzubilden […]. Daraus folgt hier das Gebot einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung durch teleologische Reduktion […] des § 439 Abs. 4 BGB auf einen mit Art. 3 der Richtlinie zu vereinbarenden Inhalt.“ 8
Greift man lediglich dieses Ergebnis der Entscheidung heraus, erscheint das Urteil wenig spektakulär. Die Brisanz des Falles im Hinblick auf die gewählte Methode der Gesetzesanwendung zeigt sich erst, wenn man folgende Feststellung des BGH aus dem Vorlagebeschluss hinzunimmt: Der BGH sah dort nämlich noch „keine Möglichkeit, die unangemessene gesetzliche Regelung im Wege der Auslegung zu korrigieren. Dem steht neben dem eindeutigen Wortlaut insbesondere der in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck gebrachte eindeutige Wille des Gesetzgebers entgegen.“ 9
Dennoch setzt sich der BGH in seiner endgültigen Entscheidung über diese eindeutige gesetzgeberische Regelungsentscheidung hinweg. Es stellt sich daher zunächst die Frage, ob der Erlass der Richtlinie Einfluss auf die Anwendung des nationalen Rechts haben und ein aus rein nationaler Sicht eindeutiges Auslegungsergebnis in Zweifel ziehen kann. Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser Frage ist Art 20 III GG, die Bindung des Richters an Gesetz und Recht. Eine Beeinflussung der nationalen Rechtsanwendung ist daher nur denkbar, wenn die Richtlinie mit ihrem Erlass Teil der nationalen Rechtsordnung und damit geltendes Recht würde. Deshalb wird in einem ersten Teil geklärt, ob die Richtlinie ohne weiteres Geltung in der nationalen Rechtsordnung entfaltet oder nicht (Teil 1.A.). Zum anderen stellen sich methodische und damit verknüpft verfassungsrechtliche Fragen. Der BGH spricht von einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung durch teleologische Reduktion. Die Möglichkeit einer teleologischen Reduktion ist den traditionellen Methoden der Rechtsfindung bekannt, jedoch an gewisse Voraussetzungen gebunden, die sich letztlich aus der Verfassung ergeben, um das Kompetenzgefüge zwischen Legislative und Judikative zu schützen. Zum Verständnis der in der Literatur und der Rechtsprechung vertretenen methodischen Ansätze ist es daher notwendig, die traditionellen Methoden der Gesetzesanwendung darzustellen (Teil 1.B.). Im anschließenden Teil 2 werden dann aufbauend auf den bisher gewonnenen Erkenntnissen die in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Ansätze zur richtlinienkonformen Gesetzesanwendung im Richtlinienkontext analysiert. Aufgrund der Fülle der vertretenen Ansätze kann nicht jeder Vertreter gesondert dargestellt werden. Deshalb werden die Vertreter 8 9
BGH NJW 2009, 427 ff., Rn. 21. BGH EuZW 2007, 286 ff., Rn. 12.
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im Rahmen der Arbeit in drei Meinungsgruppen eingeteilt. Differenziert wird danach, wie die traditionelle Methode der Rechtsfindung im Richtlinienkontext modifiziert werden soll. Innerhalb der Darstellung der methodischen Ansätze erfolgt die Analyse anhand von zwei Kriterien: Auf der einen Seite werden die konkreten Modifikationen herausgearbeitet. Auf der anderen Seite werden die Folgen der jeweiligen Ansicht in den verfassungsrechtlichen Kontext eingeordnet. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob eine Veränderung der nationalen Methoden zu einer Verschiebung der verfassungsrechtlichen Gewaltenteilung führt. Dieses Problem zeigt sich auch im Fall Quelle: Im Vorlagebeschluss ging der BGH davon aus, dass das nationale Recht eindeutig war und damit eine richtlinienkonforme Interpretation nach traditionellem Verständnis ausscheiden musste. Trotzdem nimmt der Gerichtshof nach der Entscheidung des EuGH eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung vor. Wenn der BGH aber eine eindeutige Gesetzesvorgabe zugunsten der Richtlinie auflösen kann, stellt sich aus verfassungsrechtlicher Perspektive die Frage, welche Rolle dem nationalen Gesetzgeber dann noch verbleibt. Kann das nationale Recht, das sich als richtlinienwidrig herausstellt, vor dem Hintergrund des Europarechts grenzenlos durch den nationalen Rechtsanwender angepasst werden oder zieht die Verfassung Grenzen? Die Diskussion dieser Frage zeigt, dass Einigkeit darüber besteht, im Interesse der effektiven Durchsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben die traditionellen Methoden der Gesetzesanwendung zu verändern. Zudem scheint mittlerweile der Konsens gefunden, dass die Lösung des Konflikts zwischen Richtlinie und nationalem Recht im Institut der richtlinienkonformen Rechtsfindung liegt. Inwieweit diese Prämissen zutreffend sind, wird im Rahmen von Teil 3 untersucht und auf dem Hintergrund der gewonnenen Erkenntnisse ein eigener Ansatz zur Lösung des genannten Konflikts aufgezeigt. In einem ersten Schritt werden hierfür die die nationalen Methoden modifizierenden methodischen Ansätze zur richtlinienkonformen Rechtsfindung vor dem Hintergrund der deutschen Verfassung bewertet. Im Anschluss wird untersucht, warum und in welchen Fällen überhaupt die Notwendigkeit besteht, die nationalen Methoden zur Lösung des Konflikts zwischen Richtlinie und nationalem Recht zu modifizieren. Hierauf aufbauend kann dann ein eigener Ansatz zur Lösung des Konflikts entwickelt werden. Hierzu werden nicht nur das Institut der richtlinienkonformen Rechtsfindung, sondern auch andere Institute für die Lösung des genannten Konflikts in den Blick genommen, insbesondere die Staatshaftung und die unmittelbare Wirkung der Richtlinie. Diese Institute werden auf ihre Geeignetheit zur Lösung des Konflikts im Horizontalverhältnis untersucht. Hierbei wird folgender Gesichtspunkt im Mittelpunkt stehen, der in Litera-
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tur und Rechtsprechung bisher keine ausreichende Beachtung fand: Anders als im Vertikalverhältnis sind im Horizontalverhältnis drei Personen an dem Problem des Konflikts zwischen Richtlinie und nationalem Recht beteiligt, nämlich die Parteien des Rechtsstreits, im Fall Quelle der Unternehmer und der Verbraucher, sowie der EU-Mitgliedstaat Deutschland als derjenige, der für die fehlerhafte Umsetzung der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie verantwortlich ist. Ohne diese Verantwortlichkeit des Mitgliedstaates für die fehlerhafte Umsetzung mit einzubeziehen, ist das Wertungsgefüge im Horizontalverhältnis nicht vollständig. Die Begünstigung eines der beiden Privaten hat nämlich automatisch belastende Folgen für den anderen Beteiligten, ohne dass sichergestellt ist, dass die Belastung auf den Staat (der für die Umsetzung verantwortlich war) umgelegt werden kann. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Lösung des Konflikts zwischen Richtlinie und nationalem Recht nicht isoliert die richtlinienkonforme Rechtsfindung in der einen oder anderen Ausprägung berücksichtigen kann, sondern dass zwingend die Staatshaftung mit einbezogen werden muss. Nur diese erlaubt nämlich, die Belastung im wirtschaftlichen Ergebnis auf den Verantwortlichen, den Mitgliedstaat, zurückzuführen. Anhand dieser Wertung kann dann die Frage beantwortet werden, ob die Modifikation der nationalen Rechtsfindungsmethoden das gerechteste Ergebnis liefert und wie der Konflikt zwischen nationalem Recht und Richtlinie im Horizontalverhältnis gelöst werden sollte.
Teil 1
Die Veränderungen durch Richtlinien und die Ausgangslage im nationalen Recht Teil 1: Veränderungen durch Richtlinien, Ausgangslage nationales Recht Wie eingangs erläutert, konzentriert sich die vorliegende Arbeit zunächst auf die Frage, ob die Existenz einer Richtlinie Einfluss auf die Anwendung des nationalen Rechts haben kann. Zur Beantwortung der Frage werden zunächst die Veränderungen untersucht, die im nationalen Recht mit dem Erlass der Richtlinie entstehen können (A.). Im Anschluss daran werden die traditionellen Methoden der Gesetzesanwendung dargestellt (B.).
A. Die Veränderungen im nationalen Recht durch den Erlass der Richtlinie A. Veränderungen im nationalen Recht durch Erlass der Richtlinie Die Richtlinie kann nur dann zu Veränderungen in der nationalen Rechtsordnung führen, wenn sie darin als Sollensgebot Geltung entfaltet. Mit ihrer Geltung drängt die Norm auch auf ihre Anwendung im Einzelfall.1 Erst die angewendete Norm führt schließlich zu bestimmten Wirkungen im Einzelfall. Bevor sich diese Arbeit mit den Wirkungen der Richtlinie beschäftigen kann, muss daher zunächst geklärt werden, ob die Richtlinie überhaupt geltende Vorgaben in der nationalen Rechtsordnung setzt. Dieser Abschnitt behandelt daher die Frage der Geltung der Richtlinie in der deutschen Rechtsordnung. Die Geltung der Richtlinie in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ist nicht selbstverständlich. Zwar erlangt die Richtlinie als Unionsrecht mit ihrem Inkrafttreten Geltung in der Unionsrechtsordnung. Allerdings führt dies nicht gleichzeitig zu ihrer Geltung auch in der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung. Nach der herrschenden dualistischen Sichtweise2, die so1
Klein, Unmittelbare Geltung, S. 9. Im Schrifttum: Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 247; Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 53; Di Fabio, NJW 1990, 947, 950 f.; Felix, Einheit der Rechtsordnung, S. 150 ff.; Gellermann, Beeinflussung, S. 96; Giannopoulos, Einfluss der Rechtsprechung des EuGH, S. 3; Heinrichs, EuGRZ 1989, 237, 241; Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 97; Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 1, 1; Nettesheim, AöR 1994, 261, 262; Nicolaysen, Europarecht I, S. 72. 2
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Teil 1: Veränderungen durch Richtlinien, Ausgangslage nationales Recht
wohl das BVerfG3 als auch der EuGH4 vertreten, ist das Unionsrecht eine „neue Rechtsordnung des Völkerrechts“5, die eine „eigene Rechtsordnung“ bildet. Dementsprechend ist das Unionsrecht dem Grunde nach, trotz vielfältiger Wechselwirkungen, ein der deutschen Rechtsordnung fremdes Recht und bedarf zu seiner Geltung der Aufnahme durch die deutsche Lexfori-Rechtsordnung. Für die Aufnahme von fremdem Recht in innerstaatliches Recht wurden im klassischen Völkerrecht verschiedene Modelle entwickelt, die von Aufnahmestaat zu Aufnahmestaat unterschiedlich sein können, denn entscheidend ist aus Sicht des Völkerrechts lediglich, dass die völkerrechtlichen Verpflichtungen effektiv erfüllt werden.6 Alle Modelle können potentiell auch zur Übernahme von Unionsrecht in die nationale Rechtsordnung herangezogen werden. In Betracht kommt zunächst die Übernahme im Sinne der Adoptions- bzw. Inkorporationslehre7, bei der das Völkerrecht ohne weiteren innerstaatlichen Akt unmittelbar in der nationalen Rechtsordnung gilt. Nach der Vollzugstheorie8 erfolgt die Übernahme von Völkerrecht in nationales Recht mit Hilfe eines innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehls, der die Geltung des fremden Rechts im innerstaatlichen Rechtsraum anordnet und die völkerrechtliche Vorschrift für innerstaatlich vollziehbar erklärt. Nach der Transformationstheorie9 ist Völkerrecht nur für Staaten verbindlich. Eine Geltung im innerstaatlichen Bereich und damit die Verbindlichkeiten für die Staatsbürger entstehen erst, wenn der Staat die Völkerrechtsnorm im innerstaatlichen Bereich erneut setzt, also in das nationale Recht transformiert.10, 11 3
BVerfGE 22, 287, 293; 37, 271; 52, 187; 58, 1; 59, 63; 73, 339. EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1164 (Costa/ENEL), S. 1269; EuGH, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125 (Internationale Handelsgesellschaft), Rn. 3. 5 EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 3 (van Gend & Loos), S. 25 und 3. Leitsatz. 6 Amrhein-Hofmann, Monismus und Dualismus, S. 299 m.w.N. in Fn. 14. Das Völkerrecht überlässt folglich den Vertragsstaaten die Art und Weise der Durchführung des Vertrages und damit auch die Rangfrage. Der Ausdruck vom „Vorrang des Völkerrechts“ meint nicht einen Vorrang im Sinne einer Höherrangigkeit als Möglichkeit zur Lösung von Normenkollisionen, sondern lediglich die uneingeschränkte Bindung der Völkerrechtssubjekte, Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 1, 1 f.; a.A.: Niedobitek, VerwArch 2001, 58, 67. 7 Ausführlich zu dieser Theorie Amrhein-Hofmann, Monismus und Dualismus, S. 306 f. mit Nachweisen zu den Vertretern in Fn. 43, 44. 8 Nachweise bei Amrhein-Hofmann, Monismus und Dualismus, S. 302. 9 Kunig in: Völkerrecht, 2013, S. 93 f., Rn. 38. Vgl. Amrhein-Hofmann, Monismus und Dualismus, S. 300 m.w.N.; dazu auch Schilling, ZaöRV 1988, 637, 642. 10 Amrhein-Hofmann, Monismus und Dualismus, S. 301, Fn. 20 weist darauf hin, dass der Begriff der Transformation missverständlich ist, denn Völkerrecht werde nicht in staatliches Recht umgewandelt. Die Vorschrift völkerrechtlichen Ursprungs wird stattdessen im nationalen Recht neu gesetzt. Vgl. auch Boehmer, Der völkerrechtliche Vertrag, S. 16. 4
A. Veränderungen im nationalen Recht durch Erlass der Richtlinie
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In Bezug auf Primärrecht gilt, dass die Verträge mit Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ratifiziert und so in Übereinstimmung mit dem damaligen Art. 24 I GG [nunmehr existiert hierfür Art. 23 GG] in Kraft gesetzt wurden. Daraus folgt, dass ähnlich dem für Völkervertragsrecht in Art. 59 II GG vorgesehenen Verfahren durch einen nationalen Vollzugsakt die Geltung des unionsrechtlichen Primärrechts, als eine besondere Art des Völkervertragsrechts, angeordnet wurde. Primärrechtliche Vorgaben gelten damit seit dem Zustimmungsakt in der nationalen Rechtsordnung. Im Rahmen der mit dem Zustimmungsakt übertragenen und im Primärrecht enthaltenen Kompetenzen wurde den Unionsorganen gestattet, eigenständig Rechtsakte mit unmittelbarer Geltung und Wirkung in den Mitgliedstaaten zu erlassen. Für bestimmte Rechtsakte ist daher keine Übernahme des fremden Unionsrechts in nationales Recht erforderlich, vielmehr besteht (nach Ansicht des BVerfG in den Grenzen der Art. 23 I 3, 79 III GG12) die Eigenständigkeit des Unionsrechts im Hinblick auf Geltung und Anwendbarkeit dieser Normen13, was insbesondere bei Verordnungen nach Art. 288 II AEUV der Fall ist. Die Verordnung gilt danach automatisch mit ihrem Erlass in der Unionsrechtsordnung auch in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. Fraglich ist nun, was im Hinblick auf Richtlinien gilt. Besteht im Unionsrecht eine dem Art. 288 II AEUV bei Verordnungen vergleichbare Kompetenznorm, die die unmittelbare Geltung von Richtlinien in der nationalen Rechtsordnung ermöglicht? Nur wenn im Hinblick auf Richtlinien eine solche Kompetenz bestünde, änderte sich in diesem Bereich der Grundsatz, dass zwei selbstständige, voneinander getrennte Rechtsordnungen vorliegen und das fremde Unionsrecht in die nationale Rechtsordnung übernommen werden muss, um Geltung zu entfalten. Die Frage, ob der Richtlinie automatische Geltung im nationalen Recht mit ihrem Erlass in der Unionsrechtsordnung oder erst mit einer Entscheidung des nationalen Gesetzgebers zukommt, wird unterschiedlich beantwortet. Zunächst werden die zu dieser Frage in der Literatur vertretenen Ansichten dargestellt (I.). Im Anschluss wird die hierzu ergangene Rechtsprechung des EuGH dargelegt, soweit sie für die Problemstellungen dieser Arbeit von Bedeu11 Die Transformation kann durch eine spezielle oder generelle Transformationsnorm erfolgen. Erstere liegt vor, wenn das Völkerrecht jeweils durch gesonderten Rechtsakt umgesetzt wird, was überwiegend bei völkerrechtlichen Verträgen der Fall ist. Eine generelle Transformationsnorm übernimmt die Regeln des Völkerrechts insgesamt in das innerstaatliche Recht, ohne dass stets ein gesonderter Umsetzungsakt erforderlich wird. Völkergewohnheitsrecht wird regelmäßig generell übernommen. Genauer s. AmrheinHofmann, Monismus und Dualismus, S. 302. 12 BVerfG NJW 2009, 2267 ff., Rn. 229 f., 230, 261 ff., 264. 13 Noch zu Art. 24 GG a.F.: Winter, DVBl 1991, 657, 657.
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Teil 1: Veränderungen durch Richtlinien, Ausgangslage nationales Recht
tung ist (II.). Schließlich wird auf der Grundlage der vertretenen Meinungen zu der Problematik Stellung genommen und die Frage beantwortet werden, ob die Richtlinie mit ihrem Erlass Teil der nationalen Rechtsordnung wird (III.). Begrifflich soll von der unmittelbaren Geltung der Richtlinie in der nationalen Rechtsordnung dann gesprochen werden, wenn davon ausgegangen wird, dass die Richtlinie bereits mit ihrem unionsrechtlichen Inkrafttreten gleichzeitig in der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung gilt. Der Begriff der „Unmittelbarkeit“ der Geltung soll verdeutlichen, dass mit Erlass des Unionsrechts dieses automatisch, also unmittelbar, in der nationalen Rechtsordnung existent ist und Geltung entfaltet. Alternativ kommt in Betracht, dass die Richtlinie in nationales Recht übernommen werden muss und auf diese Weise innerstaatlich geltendes Recht wird. Der Begriff der innerstaatlichen Geltung (aus Sicht der Lex-fori-Rechtsordnung, d.h. der deutschen Rechtsordnung) wird in Abgrenzung zum Begriff der unmittelbaren Geltung dann gewählt, wenn eine nationale Entscheidung des Gesetzgebers (Vollzugs- oder Transformationsakt) hinzukommen muss, damit die Richtlinie verbindliche Vorgaben in der nationalen Rechtsordnung setzt. I. Meinungen zur Frage der Geltung der Richtlinie in der nationalen Rechtsordnung Mehrheitlich wird in der öffentlich-rechtlichen Literatur die unmittelbare Geltung der Richtlinie in der nationalen Rechtsordnung bejaht (1.). In der zivilrechtlich orientierten Literatur wird die unmittelbare Geltung häufig verneint (2.). 1. Die Befürworter der unmittelbaren Geltung von Richtlinien In der Literatur existieren zwei unterschiedliche Ansätze zur Legitimation der unmittelbaren Geltung von Richtlinien in der deutschen Rechtsordnung: das europäische Bundesstaatsmodell (a) sowie die völkerrechtliche Theorie der innerstaatlichen Geltung von Richtlinien (b). a) Das europäische Bundesstaatsmodell Ein europäisches Bundesstaatsmodell wurde vorwiegend in den sechziger Jahren vertreten14; in neuerer Zeit gibt es nur noch wenige Vertreter, die 14 Ophüls, NJW 1963, 1697, 1698 f.; Wohlfarth, Rechtsordnung, S. 181 f. Den Grund dafür, dass in dieser Zeit vorwiegend das Bundesstaatsmodell vertreten wurde, vermutet H.P.Ipsen in einem historischen Moment, in dem der offizielle deutsche Regierungsstandpunkt das Verhältnis von Gemeinschafts- und nationalem Recht in einem bundesstaatlichen Sinne sah. Mit Verweis auf eine Fundstelle in den Bundestagsdrucksachen
A. Veränderungen im nationalen Recht durch Erlass der Richtlinie
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sich auch mit dem Richtlinienrecht beschäftigen. 15 Mit dem LissabonUrteil des BVerfG16 könnte die Diskussion um einen europäischen Bundesstaat – obwohl auch das BVerfG einen solchen ablehnt – wieder aufleben17, sodass hierzu kurz Stellung genommen werden soll. Die Vertreter eines europäischen Bundesstaatsmodells verstehen Unions- und nationales Recht als zwei getrennte, aber aufeinander bezogene Rechtsordnungen.18 Diese Rechtsordnungen stehen nach diesem Verständnis übereinander und bilden so letztlich eine Normenpyramide bzw. eine Gesamtrechtsordnung mit Verdrängungswirkung für die jeweils darunterliegende Stufe.19 Verglichen wird dieses Modell mit dem deutschen Bundesstaat, welcher sich ebenfalls durch zwei Ebenen der Staatlichkeit kennzeichne. Das Unionsrecht verhalte sich zum nationalen Recht wie das Recht in einem Bundesstaat oder einem bundesstaatsähnlichen Mehrebenensystem20. Dieses Modell ermöglicht die Begründung der unmittelbaren Geltung sämtlichen Unionsrechts in der nationalen Rechtsordnung, denn im Bundesstaat ist das Recht der Gliedstaaten der Rechtsordnung des Bundes untergeordnet, sodass das Bundesrecht keiner Erlaubnis für die Geltung in den Ländern bedarf. Das Unionsrecht und damit auch das Richtlinienrecht gelten aufgrund seiner Autorität als übergeordnetes Recht unmittelbar mit Erlass. Aufgrund der unmittelbaren Geltung von Richtlinien wird die Richtlinie als vollwertige Rechtsnorm verstanden, die mit dem gesamten nationalen Recht kollidieren könne, nicht zwingend nur mit dem (gegebenenfalls fehlerhaften) Umsetzungsrecht.21 Beschränkungen der Geltung kämen nicht in Betracht, denn das höherrangige Europarecht dürfe nicht in der Verfügungsgewalt des nationalen Gesetzgebers stehen. Allenfalls das Unionsrecht selbst könne die Anwendbarkeit und Wirkung der und Nachweisen zu weiteren Vertretern s. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 273, Rn. 10/27. 15 Lutter, JZ 1992, 593, 594, 597 f.; Lutter, Europäisches Unternehmensrecht, S. 19 ff. Außerdem noch Salzwedel in: UTR 7, 1989, 65, 65 ff.; Bleckmann, RIW 1987, 929, 934 mit Fn. 29. Unabhängig vom Richtlinienrecht spricht von einem europäischen Bundesstaat auch Dicke, VVDStRL 1991, 158, 158; Dicke, Bundesstaat, S. 52 f., 70. Von einer eigenstaatlichen Einrichtung auf europäischer Ebene im Übergang zum Bundesstaat sprechen so oder ähnlich Scholz, NJW 1992, 2593, 2594; Ossenbühl, DVBl 1993, 629, 631. 16 BVerfG NJW 2009, 2267 ff., 2267 ff. 17 S. nur Röper, ZRP 2010, 194, 195. 18 Lutter, JZ 1992, 593, 598. 19 S. insbesondere Lutter, Europäisches Unternehmensrecht, S. 6 f., 18 f.; Lutter, JZ 1992, 593, 597 f., 605; OLG Celle EuZW 1990, 550, 552. 20 Von einem Mehrebenensystem spricht man, „wenn die jeweiligen Ebenen durch eigenständige Legitimationsverfahren erzeugtes Recht setzen und innerhalb eines gemeinsamen organisatorischen Rahmens Hoheitsgewalt arbeitsteilig ausüben“, Kadelbach, VVDStRL 2007, 7, 11 m.w.N. 21 Lutter, JZ 1992, 593, 606 f.
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Teil 1: Veränderungen durch Richtlinien, Ausgangslage nationales Recht
Richtlinie für den einzelnen Bürger beschränken (insbesondere durch die Notwendigkeit des Ablaufs der Umsetzungsfrist und eine hinreichend klare und unbedingte Formulierung der Richtlinie).22 Begründet wird dieses Modell vornehmlich mit der Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 24 I GG a.F. [nunmehr Art. 23 I 2 GG], durch welche die Union mit eigener Hoheitsgewalt für das gesamte Unionsgebiet ausgestattet worden sei. Damit einher gehe der Verlust an mitgliedstaatlicher Souveränität23 und Rechtssetzungskompetenz in Bereichen, in denen die Union das Recht habe, Verordnungen oder Richtlinien zu erlassen. Mit Abgabe der Kompetenzen an die Union, könnten die Mitgliedstaaten nicht mehr selbst in diesen Bereichen tätig werden.24 Konsequenz müsse dann aber auch sein, da die Rechtssetzungskompetenz allein der Union zukomme, dass ihre Rechtsakte unmittelbar in der nationalen Rechtsordnung gelten. b) Die völkerrechtliche Theorie der unmittelbaren Geltung von Richtlinien25 Der Ausgangspunkt der Vertreter der völkerrechtlichen Theorie26 ist die Differenzierung zwischen der Geltung von Primärrecht und Sekundärrecht. 22
Lutter, JZ 1992, 593, 605. Andere Ansicht im Hinblick auf den Ablauf der Umsetzungsfrist: Lenz, DVBl 1990, 903, 908. 23 Im Hinblick auf den Verlust der Souveränität des Nationalstaates wird jüngst auch mit faktischen Gegebenheiten argumentiert. E. Röper bringt vor, dass die nationale Souveränität ihre Bedeutung in einer globalisierten Weltwirtschaft verloren habe, in der die Märkte jenseits staatlicher Bindung mit den Nationalstaaten „spielen“. US-Rating-Agenturen würden die Kreditaufnahme kontrollieren und so die Einnahmen und Ausgaben der Nationalstaaten faktisch steueRn. Dem könne nur eine Vereinigung europäischer Staaten wirksam entgegentreten, der souveräne Nationalstaat hingegen werde den Bedingungen der Globalisierung nicht gerecht. Beispielsweise könne eine Finanztransaktionssteuer nur supranational im Euro-Raum wirken, nationale Steuern würden privates Kapital hingegen in Steueroasen treiben, Röper, ZRP 2010, 194, 195. 24 Ophüls, NJW 1963, 1697, 1700; Wohlfarth, Rechtsordnung, S. 180 ff.; Lutter, Europäisches Unternehmensrecht, S. 23. 25 Diese Bezeichnung stammt von Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 133 ff. und soll hier aufgrund des Ausgangspunktes der Vertreter, der die Besonderheiten des Unionsrechts in Abgrenzung zum klassischen Völkerrecht hervorhebt, übernommen werden. 26 Bach, JZ 1990, 1108, 1110; Bergmann, VBlBW 2000, 169, 183; Bieber/Epiney, Europäische Union, S. 54 f.; Bleckmann, Europarecht, S. 370 f., Rn. 1070, S. 378 f., Rn. 1087, S. 380, Rn. 1091, S. 381, Rn. 1094, S. 402 f., Rn. 1142; Dendrinos, Direktwirkung, S. 160 f., 201, 281 ff.; Ehlers in: Europarecht, § 11 Verhältnis des Unionsrechts zu dem Recht der Mitgliedstaaten, Rn. 4; Grabitz, Gemeinschaftsrecht, S. 43; Grabitz, EuR 1971, 1, 5; Groß, JuS 1990, 522, 523 f.; Gellermann, Beeinflussung, S. 16; Hartley, Foundations, S. 205; Herlinghaus, Bedeutung und Reichweite, S. 3; Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 264, Rn. 10; Klein in: FS Everling I, 1995, 641, 646 ff.; Klein,
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Sie argumentieren, Primärrecht fordere für seine innerstaatliche Geltung (wie Völkerrecht) einen nationalen Transformations- oder Vollzugsbefehl, weil insofern beide Rechtsordnungen nebeneinanderstünden. Mit der Zustimmung zu den Unionsverträgen hätten die Mitgliedstaaten aber eine eigene Unionsgewalt geschaffen, die über die Geltung und Anwendbarkeit seiner Sekundärrechtsakte in der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung selbst entscheide. Folglich stehe das sekundäre Unionsrecht normenhierarchisch über dem nationalen Recht.27 Anders als die Vertreter eines Bundesstaatsmodells, welche von einer normenhierarchisch gestuften Rechtsordnung für Primär- und Sekundärrecht ausgehen, halten die Vertreter der völkerrechtlichen Theorie ein solches nur für Sekundärrecht gegeben. Die Folge ist damit jedoch für die hier interessierende Richtlinie dieselbe, wie bei einem Bundesstaatsmodell: Die Richtlinie gilt unmittelbar und automatisch mit ihrem Inkrafttreten auf Unionsebene auch in der nationalen Rechtsordnung.28 Nicht die Geltung der Richtlinie sei eingeschränkt, sondern aufgrund der Struktur der Richtlinie allein ihre Anwendbarkeit im Einzelfall, sodass die Richtlinie insbesondere Private nicht durch unmittelbare Verpflichtungen belasten dürfe.29 Nach diesem Modell ordnet sich die Richtlinie innerhalb der klassischen Normenpyramide im Rang zumindest über dem einfachen nationalen Recht
Unmittelbare Geltung, S. 9 f., 13; Langenfeld, DÖV 1992, 955, 955 f. m.w.N. in Fn. 5, 964; Metallinos, Europarechtskonforme Auslegung, S. 12 m.w.N.; Müller-Graff, NJW 1993, 13, 21; Nicolaysen, Europarecht I, S. 72, 83; Pernice in: GS Grabitz, 1995, 523, 524 ff.; Pernice, EuR 1996, 27, 29 ff.; Pieper, DVBl 1990, 684, 687 f.; Prechal, C.M.L.Rev. 37 (2000), S. 1047, 1049 ff.; Prechal, C.M.L.Rev. 35 (1998), S. 681, 685 f.; Schilling, ZaöRV 1988, 637, 639 ff., 677; Weber, Richtlinie im EWG-Vertrag, S. 95 ff.; Winter, DVBl 1991, 657, 657; Wölker, EuR 2007, 32, 43 m.w.N. in Fn. 66; Zuleeg, ZGR 1980, 466, 470 f. 27 Deutlich bei Klein, Unmittelbare Geltung, S. 10: „Während die Gründung der Gemeinschaften, die Inkraftsetzung und Geltung der Verträge in den Mitgliedstaaten vom Boden des Dualismus erklärt werden müssen, ist die so entstandene Gemeinschaftsordnung insoweit monistisch erklärbar, als die Frage der Geltung und Anwendbarkeit des sekundären Gemeinschaftsrechts im mitgliedstaatlichen Rechtsraum ausschließlich vom Gemeinschaftsrecht her beantwortet wird.“ [Hervorh. d. Verf., N.B.]. S. auch Bach, JZ 1990, 1108, 1110; Dendrinos, Direktwirkung, S. 281; Grabitz, Gemeinschaftsrecht, S. 42 f.; Groß, JuS 1990, 522, 523; Langenfeld, DÖV 1992, 955, 956; Nicolaysen, Europarecht I, S. 87, 338; Zuleeg, ZGR 1980, 466, 470 f. Andere Ansicht Schilling, ZaöRV 1988, 637, 639 ff., 658 f., der gemäß einer klassischen völkerrechtlichen Sichtweise davon ausgeht, dass das mitgliedstaatliche Recht die Geltung, Anwendbarkeit und Wirkung des Gemeinschaftsrechts bestimmt, vgl. zum Ganzen auch Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 158 m.w.N. 28 Nachweise s. Fn. 26. 29 Bach, JZ 1990, 1108, 1111; Langenfeld, DÖV 1992, 955, 956. Vgl. auch Grabitz, EuR 1971, 1, 6 ff., der von einem „Geltungsmodus“ spricht.
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ein.30 Vor diesem sei sie höher- und damit vorrangig. Aufgrund ihrer unmittelbaren Geltung könne die Richtlinie wie ein Gesetz (im engeren Sinne) wirken.31 Im Fall von richtlinienwidrigem nationalem Recht lägen dann regelmäßig zwei (oder mehr) innerstaatlich geltende Normen vor, die auf den Sachverhalt angewendet werden wollten. Es komme zu einem klassischen Normwiderspruch, den es aufzulösen gelte, wofür eine Kollisionsregel erforderlich werde. Begründet wird dieses Modell zunächst mit dem Wortlaut von Art. 288 III AEUV, der nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Organe in den Mitgliedstaaten als Adressaten der Richtlinie betrachte. Die Verpflichtung der innerstaatlichen Stellen setze aber die innerstaatliche Geltung der Richtlinie voraus: Werde nämlich die Richtlinie bei der Auslegung und Fortbildung des nationalen Rechts berücksichtigt, werde sie von den nationalen Gerichten als sog. objektive Rechtsnorm angewendet. Allerdings könne nur eine geltende Norm angewendet werden. Die Verpflichtung der nationalen Organe durch die Richtlinie sei folglich ohne ihre Geltung in der nationalen Rechtsordnung nicht denkbar.32 Zudem wird auf ein teleologisches Argument verwiesen. Es sei der Zweck der Richtlinie, einheitlich und effektiv in den Mitgliedstaaten zu wirken.33 Voraussetzung hierfür sei aber, dass die Richtlinie auch im Horizontalverhältnis wirken könne, was ihre Geltung voraussetze.34 Ansonsten könne der Bürger seine unionsrechtliche Rechtsposition mit Hilfe der nationalen Gerichte nicht durchsetzen, obwohl der betreffende Mitgliedstaat unionsrechtlich zur Richtlinienumsetzung verpflichtet sei.35 Es dürfe nicht
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Streitig ist die Höherrangigkeit des Unionsrechts vor dem nationalen Verfassungsrecht, insbesondere vor den in Art. 79 III GG benannten Grundsätzen. Diese umstrittene Frage kann hier nicht vollständig aufgearbeitet werden. Mehrheitlich wird die Höherrangigkeit auch des Unionsrechts vor dem nationalen Verfassungsrecht anerkannt, nicht aber vor den Grundsätzen des Art. 79 III GG, vgl. Nettesheim in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 288 AEUV, Rn. 65. 31 Spetzler, RIW 1990, 286, 290; Langenfeld, DÖV 1992, 955, 956 f. 32 Bach, JZ 1990, 1108, 1110; Dendrinos, Direktwirkung, S. 283; Gellermann, Beeinflussung, S. 16 ff.; Grabitz, EuR 1971, 1, 5; Grabitz, Gemeinschaftsrecht, S. 49 f.; Herlinghaus, Bedeutung und Reichweite, S. 34; Klein, Unmittelbare Geltung, S. 13; Metallinos, Europarechtskonforme Auslegung, S. 12 m.w.N.; Weber, Richtlinie im EWG-Vertrag, S. 95 f. 33 Emmert, EWS 1992, 56, 66; Nicolaysen, EuR 1984, 380, 389. 34 Grabitz, EuR 1971, 1, 12; Emmert, EWS 1992, 56, 66; Nicolaysen, EuR 1984, 380, 387. Vgl. auch Herdegen, RIW 1992, 89, 92; Richter, EuR 1988, 394, 399 f. 35 Müller-Graff, NJW 1993, 13, 20 f.; Grabitz, EuR 1971, 1, 12; Reich, EuZW 1991, 203, 210; Manger, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 54.
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zur Disposition der Mitgliedstaaten stehen, ob eine unionsrechtliche Bestimmung Anwendung finde oder nicht.36 Schließlich wird darauf rekurriert, dass der Richtlinie nach Rechtsprechung des EuGH bei Konstellationen im Staat-Bürger-Verhältnis (Vertikalverhältnis) unmittelbare Wirkung zukomme.37 Wenn aber die Richtlinie auch nur in einem Fall Wirkungen im innerstaatlichen Bereich entfalten könne, setze dies ihre unmittelbare Geltung voraus.38 2. Die Gegner der unmittelbaren Geltung der Richtlinie: Die Transformationsthese Die Gegner der unmittelbaren Geltung der Richtlinie fordern im Grundsatz eine Transformation der Richtlinie in nationales Recht, damit diese Geltung in der nationalen Rechtsordnung erlangt (a). Um die unmittelbaren Wirkungen von Richtlinien im Vertikalverhältnis zu erklären, stellen sie auf die Rechtsprechung des EuGH ab, die im Rahmen zulässiger Rechtsfortbildung die unmittelbare Geltung auch von Richtlinien anordnen könne (b). a) Grundsatz: Das Transformationserfordernis für die Richtlinie Nach Ansicht von Teilen des Schrifttums39 und nach älteren Entscheidungen des BGH 40 gilt die Richtlinie nicht automatisch mit ihrem unionsrechtlichen Inkrafttreten auch innerhalb der nationalen Rechtsordnung. Zugrunde liegt dieser Ansicht die Differenzierung zwischen dem Regelungsauftrag der Richtlinie an die Mitgliedstaaten und der legislativen Umsetzung der Richtlinie in den Mitgliedstaaten, sodass die unionsrechtliche und die nationale Ebene streng getrennt werden.41 Auf unionsrechtlicher Ebene verpflichte die Richtlinie lediglich die Mitgliedstaaten zur Ausschöpfung 36 Grabitz, EuR 1971, 1, 11; Groß, JuS 1990, 522, 525. Vgl. auch Arnull, I.C.L.Q. 35 (1986), S. 939, 944, der befürchtet, dass die Mitgliedstaaten von Lobbyisten und Interessengruppen der Privatwirtschaft derart unter Druck gesetzt werden könnten, dass bestimmte Richtlinien verspätet oder gar nicht umgesetzt werden und so der effet utile nur durch eine horizontale Direktwirkung herbeigeführt werden könne. 37 Dazu näher noch unten Teil 1,A.II., S. 17 ff. 38 Klein, Unmittelbare Geltung, S. 10. Vgl. auch Langenfeld, DÖV 1992, 955, 956. 39 Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 254; Dänzer-Vanotti, RIW 1991, 754, 754 f.; Di Fabio, NJW 1990, 947, 947; Ehricke, EuZW 1999, 553, 554; Ehricke, RabelsZ 59 (1995), S. 598, 613 f.; Everling, RabelsZ 50 (1986), S. 193, 224; Freyer, EuZW 1991, 49, 49 ff.; Herber, EuZW 1991, 401, 402; Herber, ZEuP 1996, 117, 122; Hommelhoff, AcP 1992, 71, 95; Jarass, EuR 1991, 211, 215; Schmidt in: Vertrag über die Europäische Union, Art. 249 EGV, Rn. 42. 40 BGHZ 63, 261, 264 f.; 87, 59, 61 f.; BGH WM 1974, 510; BGH NJW 1993, 1594, 1595; BGH ZIP 1996, 275, 277 f. 41 Di Fabio, NJW 1990, 947, 951 spricht von zwei „Parallelrechtsordnungen“.
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ihres Gestaltungsspielraums, um die Ziele der Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Eine Geltung auf nationaler Rechtsebene sei erst mit legislativer Umsetzung im Mitgliedstaat möglich.42 Mit anderen Worten: Die Richtlinie gilt nicht unmittelbar, sondern erst nach ihrer Transformation in nationales Recht. Ohne Umsetzung ist die Richtlinie weder gültig noch anwendbar. Mangels unmittelbarer Geltung ist die Richtlinie folglich bei fehlender Umsetzung nicht Teil der nationalen Rechtsordnung, sodass es zu einer echten Normenkollision zwischen dem fremden Richtlinienrecht und dem nationalen Recht nach der Transformationslehre nicht kommen kann.43 Ein normenhierarchisches Verhältnis von nationalem Recht und Unionsrecht wird folglich abgelehnt.44 Anders als die Befürworter der unmittelbaren Geltung von Richtlinien, die in der Verpflichtung der nationalen Organe zur Richtlinienumsetzung gemäß Art. 288 III AEUV die Grundlage zur Geltung der Richtlinie sehen, erkennen die Gegner der unmittelbaren Geltung hierin nur einen Regelungsauftrag an die Mitgliedstaaten.45 Der Grund für die fehlende unmittelbare Geltung der Richtlinie wird allerdings nicht in der fehlenden Öffnung des nationalen Rechts für Einwirkungen des Unionsrechts gesehen46, sondern in der Dogmatik der Richtlinie, die im Gegensatz zu Verordnungen ihre Umsetzung in nationales Recht selbst fordere. Ohne mitgliedstaatlichen Umsetzungsakt richte sie sich daher nur an die Mitgliedstaaten und ihre Organe. b) Ausnahme: Die Anordnung der unmittelbaren Geltung durch den EuGH Häufig wird der Ausgangspunkt der strengen Transformationstheorie aufgeweicht, indem anerkannt wird, dass der EuGH in bestimmten Konstellationen eine unmittelbare Geltung anordnen könne, indem er einzelnen Re-
42 Dänzer-Vanotti, DB 1994, 1052, 1054; Ehricke, EuZW 1999, 553, 554; Ehricke, RabelsZ 59 (1995), S. 598, 613 ff.; Hommelhoff in: FS BGH, 889, 892. 43 Für die Kollision von völkerrechtlichem und nationalem Rechtssatz Nettesheim in: Grundgesetz: Kommentar, Art. 59 GG, Rn. 167. 44 Di Fabio, NJW 1990, 947, 951; Pechstein/Koenig, Europäische Union, S. 296, Rn. 580; Baldus/Becker, ZEuP 1997, 874, 882; Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 52 f. 45 Mit Rekurs auf Art. 249 III EGV a.F. oder Art. 189 III EWG-Vertrag a.F. DänzerVanotti, DB 1994, 1052, 1054; Ehricke, EuZW 1999, 553, 554; Ehricke, RabelsZ 59 (1995), S. 598, 614 f.; Herber, EuZW 1991, 401, 403. Ebenso, aber mit Rekurs auf Art. 5 EWG bzw. Art. 10 EGV [nunmehr aufgegangen in Art. 4 III EUV] Freyer, EuZW 1991, 49, 49. 46 Anders nur Pechstein/Koenig, Europäische Union, S. 295 f., Rn. 579 f., nach denen stets nur der (nationale) Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes und damit nationales Recht angewendet werden könne.
A. Veränderungen im nationalen Recht durch Erlass der Richtlinie
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gelungen einer Richtlinie eine verbindliche Interpretation verleihe.47 Grundsätzlich wird also eine unmittelbare Geltung wegen des Transformationserfordernisses in Art. 288 III AEUV abgelehnt. In bestimmten Konstellationen wird aber ausnahmsweise eine Anordnung der Geltung in der nationalen Rechtsordnung durch den Gerichtshof für zulässig erachtet. Zulässig soll demnach die unmittelbare Geltung von Richtlinien im Vertikalverhältnis, nicht aber im Horizontalverhältnis sein (zu dieser Rechtsprechung sogleich). II. Die Rechtsprechung des EuGH Mit der Frage der Geltung von Richtlinien in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen setzt sich der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung nicht explizit auseinander. Im Zusammenhang mit Richtlinien spricht er stattdessen von unmittelbaren Wirkungen. Allerdings lässt sich von dem Bestehen unmittelbarer Wirkungen auf die inzidente Anordnung der innerstaatlichen Geltung schließen. Denn wäre das Richtlinienprogramm kein zugleich geltendes Recht, so wäre auch eine unmittelbare Wirkung der Richtlinie für den Einzelnen rechtslogisch nicht möglich.48 Die unmittelbare Wirkung setzt also die innerstaatliche Geltung des Richtlinienprogramms voraus. Umgekehrt folgt aus der Rechtsprechung aber auch, dass in den Fällen, in denen eine unmittelbare Wirkung nicht besteht, auch keine Anordnung des EuGH für die innerstaatliche Geltung vorliegt. Der Gerichtshof hat in zwei Entwicklungsetappen in rechtsfortbildender49 Rechtsprechung zu Art. 288 AEUV unmittelbare Wirkungen der Richtlinie in bestimmten Konstellationen anerkannt. Ein erster Schritt erfolgte bereits 1974 mit dem Urteil van Duyn, in dem er sich auf das unionsrechtliche Effektivitätsgebot berief. In einem zweiten Schritt wurde 1979 im Fall Ratti die zweite Säule des Instituts der unmittelbaren Wirkungen von Richtlinien hinzugefügt, das Verantwortungsprinzip. 1. Erster Schritt: Unmittelbare Wirkung von Sekundärrecht – das Urteil van Duyn (1974) Ursprung der Rechtsprechung zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien war die Entwicklung der unmittelbaren Geltung und Wirkung von primär-
47
Di Fabio, NJW 1990, 947, 953; Streinz, Europarecht, S. 175, Rn. 495, S. 170 ff., Rn. 486 ff.; wohl auch Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 85 f. 48 Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 188. Andere Ansicht: Winter, C.M.L.Rev. 9 (1972), S. 425, 437. 49 Von Rechtsfortbildung sprechen Streinz, Europarecht, S. 175, Rn. 495; Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 86.
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Teil 1: Veränderungen durch Richtlinien, Ausgangslage nationales Recht
rechtlichen Vorschriften, beginnend mit dem Urteil van Gend & Loos50 im Jahr 1963.51 Die unmittelbare Wirkung von Primärrecht leitet der EuGH seit dieser Entscheidung aus der Besonderheit des Unionsrechts als „neue[r] Rechtsordnung des Völkerrechts“52 her, sodass durch das supranationale Recht nunmehr auch Private berechtigt oder verpflichtet werden können. Insofern kehrt er die Vermutung des klassischen Völkerrechts um, wonach durch überstaatliches Recht Einzelne grundsätzlich nicht belastet werden.53 Diese besonderen Wirkungen von Unionsrecht übertrug er erstmals im Urteil van Duyn im Jahr 1974 auf Sekundärrecht54, indem er feststellte, dass auch Richtlinien unmittelbar wirken können.55 Der Hintergrund des Falles war eine Klage vor dem britischen High Court of Justice durch die niederländische Staatsbürgerin Yvonne van Duyn, die 1973 nach Großbritannien einreisen wollte, um eine Stelle als Sekretärin der Church of Scientology anzutreten. Da die britische Regierung diese Kirche für sozialschädlich hielt und die Einreise von Arbeitnehmern dieser Kirche als unerwünscht deklarierte, wurde ihr die Einreise mit entsprechender Begründung verweigert. Die Klage gegen das britische Innenministerium wurde gestützt auf Art. 48 EWG [Art. 45 AEUV], auf die Verordnung Nr. 1612/68/EWG über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft und auf Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern. Der High Court of Justice legte dem EuGH unter anderem die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob der Art. 3 der Richtlinie 64/221/EWG unmittelbare Geltung beanspruchen kann. Der EuGH entschied sich für eine effektive Durchsetzung der Richtlinie auf Kosten des rechtlichen Unterschieds zwischen Verordnungen und Richtlinien. Er führte dazu aus: „Zwar gelten nach Art. 189 [jetzt Art. 288 AEUV] Verordnungen unmittelbar und können infolgedessen schon wegen 50
EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 3 (van Gend & Loos), S. 22 ff. In der Folge wurde durch die Rechtsprechung erarbeitet, welche primärrechtlichen Bestimmungen der Verträge nach ihrem Inhalt einer unmittelbaren Wirkung fähig sind: Nachweise bei Schütz/Bruha, Casebook Europarecht, S. 76. 52 EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 3 (van Gend & Loos), S. 25. 53 Ähnlich Haltern, Europarecht, S. 329 f., Rn. 642. 54 Im Anschluss an das Urteil im Verfahren EuGH, Rs. 9/70, Slg. 1970, 825 (Grad), S. 825 ff.. Dort stellte der Gerichtshof erstmals fest, dass auch andere Sekundärrechtsakte als die Verordnung (im Verfahren ging es um den Rechtsakt der Entscheidung gem. Art. 249 IV EG a.F.) ähnliche Wirkungen wie die Verordnung entfalten können. Das Urteil wurde als „Leberpfennig-Entscheidung“ bezeichnet. Der Ausdruck resultiert aus dem Umstand, dass der damalige Verkehrsminister Georg Leber eine Straßengüterverkehrssteuer einführte, die einen Pfennig pro Tonne und Kilometer betrug, den „Leberpfennig“. 55 EuGH, Rs. 41/74, Slg. 1974, 1337 (van Duyn), Rn. 12. 51
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ihrer Rechtsnatur unmittelbare Wirkungen erzeugen. Hieraus folgt indessen nicht, dass andere in diesem Artikel genannte Kategorien von Rechtsakten niemals ähnliche Wirkungen erzeugen können. Mit der den Richtlinien durch Art. 189 [jetzt Art. 288 AEUV] zuerkannten verbindlichen Wirkung wäre es unvereinbar, grundsätzlich auszuschließen, dass betroffene Personen sich auf die durch die Richtlinie auferlegte Verpflichtung berufen können. Insbesondere in den Fällen, in denen etwa die Gemeinschaftsbehörden die Mitgliedstaaten durch Richtlinie zu einem bestimmten Verhalten verpflichten, würde die nützliche Wirkung („effet utile“) einer solchen Maßnahme abgeschwächt, wenn die Einzelnen sich vor Gericht hierauf nicht berufen und die staatlichen Gerichte sie nicht als Bestandteil des Gemeinschaftsrechts berücksichtigen könnten. Art. 177 [jetzt Art. 267 AEUV], wonach die staatlichen Gerichte befugt sind, den Gerichtshof mit der Gültigkeit und Auslegung aller Handlungen der Organe ohne Unterschied zu befassen, setzt im Übrigen voraus, dass die Einzelnen sich vor diesen Gerichten auf die genannten Handlungen berufen können. Es ist daher in jedem einzelnen Fall zu prüfen, ob die Bestimmung, um die es geht, nach Rechtsnatur, Systematik und Wortlaut geeignet ist, unmittelbare Wirkungen in den Rechtsbeziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den Einzelnen zu begründen.“56 Mit dieser Argumentation ebnet der EuGH den rechtlichen Unterschied zwischen Verordnungen und Richtlinien ein, indem er urteilt, beide Arten von Unionsrechtsakten könnten ähnliche Wirkungen haben. Allerdings soll dies jeweils im Einzelfall zu entscheiden sein, nach „Rechtsnatur, Systematik und Wortlaut“ der jeweiligen Vorschrift. Für unmittelbare Wirkungen geeignet seien Rechtsakte der Union grundsätzlich dann, wenn die jeweilige Norm hinreichend klar und präzise sowie unbedingt ist57, was nun bei Richtlinien und Verordnungen gleichermaßen zu prüfen wäre. Die unmittelbare Wirkung der Richtlinie 64/221/EWG58 ist mit einer Interpretation von Art. 288 III AEUV begrümdet worden. Nach deutschem Verständnis handelte es sich hierbei um eine Rechtsfortbildung. Die erforderliche Regelungslücke begründete der EuGH zunächst mit der Schwächung des gegenläufigen Wortlautarguments. Verordnungen könnten trotz ihrer unmittelbaren Geltung nur dann unmittelbar wirken, wenn sie hinreichend klar und präzise sowie unbedingt formuliert wären. Mit anderen Worten sei auch bei der Verordnung eine Einzelfallprüfung erforderlich, 56
EuGH, Rs. 41/74, Slg. 1974, 1337 (van Duyn), Rn. 12. Erstmals in EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 3 (van Gend & Loos), S. 25 f.; Ausdehnung und Präzisierung in EuGH, Rs. 57/65, Slg. 1966, 258 (Lütticke), S. 258 ff. 58 Richtlinie des Rates vom 25.2.1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind. 57
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ob die inhaltlichen Voraussetzungen für eine unmittelbare Wirkung vorlägen. Ordne also der Wortlaut bei Verordnungen nicht zwingend eine unmittelbare Wirkung an (sondern müsse sie stets geprüft werden), so schließe im Umkehrschluss die Formulierung in Art. 288 III AEUV die unmittelbare Wirkung von Richtlinien auch nicht aus. 59 Außerdem folgerte der EuGH aus dem Wort „verbindlich“ in Art. 288 III AEUV, dass eine unmittelbare Wirkung von Richtlinien nicht von vornherein ausgeschlossen sein könne.60 Die vergleichbare Interessenlage ergab sich für den Gerichtshof aus dem Effet-utile-Grundsatz, denn eine effektive Durchsetzung von Richtlinien sei nur dann möglich, wenn das Vorabentscheidungsverfahren auch im Hinblick auf Richtlinien funktioniere und der Einzelne seine Rechte unmittelbar vor den mitgliedstaatlichen Gerichten einklagen könne.61 Diese weitgehende Rechtsfortbildung lässt jedoch offen, worin dann noch der Unterschied zwischen Verordnungen und Richtlinien bestehen soll, wenn in beiden Fällen untersucht werden muss, ob die Norm hinreichend klar, präzise und unbedingt ist.62 Die Richtlinie wäre dann in vertikalen und horizontalen Beziehungen potentiell gleichermaßen unmittelbar wirksam. Der EuGH ging auf diese Frage im Fall van Duyn nicht ein. Die Folge des Urteils war eine große Unzufriedenheit unter den mitgliedstaatlichen Gerichten, die dem EuGH den Vorwurf machten, gegen die Grundregeln juristischer Methode verstoßen zu haben. 63 Bezeichnend hierfür ist der Beschluss des BFH in der Rechtssache Kloppenburg I.64 Der BFH argumentierte in dieser Sache, dass der Vertrag in Art. 189 EWG [nunmehr 59 So vorher bereits in EuGH, Rs. 9/70, Slg. 1970, 825 (Grad), Rn. 5; letztmals verwendet in EuGH, C-8/81, Slg. 1982, 53 (Becker), Rn. 21; vgl. Haltern, Europarecht, S. 340, Rn. 671 f.; Mörsdorf, EuR 2009, 219, S. 220. 60 EuGH, Rs. 41/74, Slg. 1974, 1337 (van Duyn), Rn. 12. Der Gerichtshof übergeht hier, dass die „Verbindlichkeit“ in Absatz 3 die Umsetzungsverpflichtung der Mitgliedstaaten, also eine prozedurale Verbindlichkeit, feststellt. Anders hingegen in Absatz 2, der die materielle Verbindlichkeit von Verordnungen anordnet, vgl. auch Haltern, Europarecht, S. 341, Rn. 673; Manger, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 43 f. 61 EuGH, Rs. 41/74, Slg. 1974, 1337 (van Duyn), Rn 12. Dazu auch Haltern, Europarecht, S. 341, Rn. 674; Schlussantrag GA Léger, C-287/98, Slg. 2000, I-6920 (Berthe Linster), S. 34; Götz, NJW 1992, 1849, 1855. 62 Es kann nämlich auch Verordnungen geben, die, wie üblicherweise Richtlinien, inhaltlich unbestimmt sind und die zu ihrer Anwendung weiterer nationaler Ausführungsmaßnahmen bedürfen, so etwa in weiten Teilen des Europäischen Zivilprozessrechts. Dazu Winter, C.M.L.Rev. 9 (1972), S. 425, 435. S. auch EuGH, Rs. C-403/98, Slg. 2001, I-103 (Monte Arcosu), Rn. 26. 63 BFH EuR 1981, 442 ff., Rn. 8-10; Conseil d'Etat 1978, 11604 (Ministre de l'Intérieur c/ Cohn Bendit), 292 ff. 64 BFH EuR 1981, 442 ff., vor allem Rn. 8–10. Aufgehoben durch BVerfG EuR 1987, 333.
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Art. 288 AEUV] zwischen Verordnungen und Richtlinien unterscheide und der EuGH diesen Unterschied nicht richterrechtlich nivellieren könne. Weiter könne der EuGH nicht das Ermessen der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie untergraben, indem er zulasse, dass sich einzelne Bürger vor den nationalen Gerichten unmittelbar auf die Richtlinie berufen können.65 Aufgrund dieser Unzufriedenheit zogen die mitgliedstaatlichen Gerichte die Konsequenz, von ihrem Recht, den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren [nunmehr in Art. 267 AEUV] anzurufen, in viel geringerem Maße Gebrauch zu machen als zuvor.66 Es kam also zu einer „Vorlage-Rebellion“67. Der EuGH, der auf eine freiwillige Kooperation der nationalen Gerichte angewiesen ist, wollte einen „Justizkonflikt“68 vermeiden und musste reagieren.69 2. Zweiter Schritt: Die Rechtsmissbrauchsratio – das Urteil Ratti (1979) Der EuGH reagierte auf diesen Konflikt 1979 im Fall Ratti.70 Ausgangspunkt für diese Entscheidung war ein Strafverfahren gegen Tullio Ratti vor dem Pretura di Milano (Amtsgericht Mailand). Herr Ratti war angeklagt, weil er 1978 Lacke und Lösungsmittel in seiner Firma hergestellt hatte, die nicht den strengen italienischen Vorschriften entsprachen. Allerdings hatte Italien versäumt, bis zum Dezember 1974 eine Richtlinie zur Rechtsharmonisierung bei Lacken und Lösungsmitteln umzusetzen. Die von Herrn Ratti hergestellten Chemikalien entsprachen zwar nicht den italienischen Vorschriften, wohl aber der Richtlinie, sodass er sich auf die unmittelbare Wirkung der Richtlinie zu seinen Gunsten berief. Der EuGH wiederholte in seiner Entscheidung zunächst seine Effektivitätsratio des Urteils van Duyn. Jedoch schränkte er die Rechtsfortbildung auf Fälle ein, in denen der Staat die fehlende oder fehlerhafte Richtlinienumsetzung zu verantworten habe. Der EuGH argumentierte, dass ein Staat, der eine Richtlinie nicht ordnungsgemäß umgesetzt habe, rechtsbrü-
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BFH EuR 1981, 442 ff., Rn . 9, 10. Ausführlicher zum BFH-Urteil: Dänzer-Vanotti, BB 1982, 1106, 1106 ff.; Friedrich, RIW 1985, 794, 794 ff.; Meier, BB 1982, 480, 480 ff. 66 Haltern, Europarecht, S. 342 f., Rn. 678. Zur Rechtsprechung des BFH s. z.B. BFH EuR 1981, 442 (Kloppenburg I); Conseil d'Etat 1978, 11604 (Ministre de l'Intérieur c/ Cohn Bendit), 292 ff. 67 So beschreibt es Haltern, Europarecht, S. 342, Rn. 678. 68 Hilf, EuR 1988, 1, 1; Magiera, DÖV 1985, 937, 938; Bach, JZ 1990, 1108, 1108. 69 Roth, RabelsZ 75 (2011), S. 787, 817. 70 EuGH, Rs. 148/78, Slg. 1979, 1629 (Ratti), v.a. Rn. 20, 21.
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chig geworden sei und sich aufgrund seines eigenen Fehlverhaltens nicht auf die Unanwendbarkeit der Richtlinie berufen könne.71 Der EuGH bedient sich damit des in den Mitgliedstaaten anerkannten Grundsatzes vom Verbot des treuwidrigen Verhaltens (venire contra factum proprium), im angloamerikanischen Rechtskreis unter dem Begriff „estoppel“ bekannt.72 Dieses Rechtsmissbrauchsargument ist Teil der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts.73 Die Argumentation des Gerichtshofs führt im Ergebnis dazu, dass in einem Staat, der Richtlinien ordnungsgemäß umgesetzt hat, die unmittelbare Wirkung von Richtlinien ausscheiden muss, denn dort gilt nur das nationale Umsetzungsgesetz. Hat der Staat hingegen überhaupt nicht, nicht fristgemäß oder fehlerhaft umgesetzt, bleibe nur die Richtlinie auf die sich der Einzelne dann gegenüber dem Staat unmittelbar berufen kann. „Es wäre nämlich nicht hinnehmbar, wenn der Staat, dem der Gemeinschaftsgesetzgeber den Erlass bestimmter Vorschriften vorschreibt, mit denen […] (den Bürgern) bestimmte Rechte gewährt werden sollen, sich auf die Nichterfüllung seiner Verpflichtungen berufen könnte, um den Bürgern diese Rechte zu versagen“.74 Damit wird 71 EuGH, Rs. 148/78, Slg. 1979, 1629 (Ratti), Rn. 22. Vgl. auch EuGH, C-8/81, Slg. 1982, 53 (Becker), Rn. 24; EuGH, Rs. C-188/89, Slg. 1990, I-3313 (Foster/British Gas), Rn. 16; EuGH, Rs. C-6/90, Slg. 1991, I-1631 (Francovich), Rn. 11. 72 Vgl. auch Albin, NuR 1997, 29, 29; Eisenkolb, GRUR 2007, 387, 387; Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 43; Haltern, Europarecht, S. 344 f., Rn. 684; Herber, EuZW 1991, 401, 401; Jarass, NJW 1990, 2420, 2422; Lenz, E.L.Rev. 2000, 509, 513; Nyssens/ Lackhoff, E.L.Rev. 1998, 397, 400; Mörsdorf, EuR 2009, 219, 220 f.; Müggenborg/Duikers, NVwZ 2007, 623, 624; Reich, EuZW 1991, 203, 209; Scherzberg, Jura 1993, 225, 226; Stirn, Gazette Européenne Recueil Janvier – Février 2009, 289, 290; Wank, RdA 2004, 246, 250; Winter, DVBl 1991, 657, 659. Nach anderer Ansicht stützt sich der EuGH auf den Grundsatz nemo auditur turpitudinem suam allegans, Bach, JZ 1990, 1108, 1114 f., mit der ausdrücklichen Ablehnung, sich nur auf den Grundsatz von Treu und Glauben zu berufen, da dieser nur die Ausübung staatlicher Befugnisse zu beschneiden vermöge, nicht dagegen Rechte Privater gegenüber dem Staat begründen könne. Vgl. auch Bleckmann, RIW 1984, 774, 776; Langenfeld, DÖV 1992, 955, 958, nach der die tragende Begründung für eine subjektive Direktwirkung der Richtlinie das Prinzip der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft bleibt. Auf alle drei Grundsätze gemeinsam abstellend Götz in: FS Ress, 2005, 485, 485; Manger, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 20; Frisch, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 61 mit Fn. 66. Im Gegensatz zu den Vorgenannten, die auf den Rechtsmissbrauchsgedanken abstellen, rücken Klein, Unmittelbare Geltung, S. 23; Fischer, EuZW 1991, 557, 558; den Gedanken der effektiven Sanktionierung des mitgliedstaatlichen Fehlverhaltens ins Zentrum der Begründung einer normativ verstandenen unmittelbaren Richtlinienwirkung. Für nicht tragfähig erachtet wird diese Grundlage von Schilling, ZaöRV 1988, 637, 653. 73 Auch die Union ist als rechtsstaatliche Organisation konstituiert und verbietet ein rechtsmissbräuchliches Handeln. Dies ergibt sich aus der ausdrücklichen Nennung des Werts der Rechtsstaatlichkeit in Art. 2 EUV. 74 Schlussantrag GA Geelhoed, C-253/00, Slg. 2002, I-7289 (Antonio Muñoz y Cia SA), Rn. 40.
A. Veränderungen im nationalen Recht durch Erlass der Richtlinie
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der Rechtsschutz des Einzelnen gegenüber dem Staat (Vertikalverhältnis) im Richtlinienbereich folglich mit dem Institut der unmittelbaren Wirkung ausgedehnt.75 Die Marktbürger werden so gestellt, wie sie bei rechtzeitiger und vollständiger Umsetzung der Richtlinie gestanden hätten.76 Der EuGH beantwortet damit auch die Frage nach dem Unterschied zwischen Verordnungen und Richtlinien. Dieser Unterschied zeigt sich nicht in vertikalen, sondern in horizontalen Rechtsbeziehungen. Während sich ein Einzelner auf die ihm durch die Richtlinie verliehenen Rechte unmittelbar gegenüber dem Staat berufen kann, ist ihm dies gegenüber anderen Dritten versagt.77 Das bedeutet, dass Richtlinien nur dann unmittelbar wirken können, wenn der Staat seinen Umsetzungsverpflichtungen nicht nachkommt und sich rechtsmissbräuchlich hierauf berufen will. Eine unmittelbare Wirkung in horizontalen Konstellationen, also gegenüber privaten Dritten, ist jedoch aufgrund einer fehlenden Umsetzungsverpflichtung von Privaten und damit eines fehlenden Rechtsmissbrauchs ihrerseits nicht möglich.78 Später stützte sich der EuGH zudem auf den Wortlaut von Art. 249 III EG [jetzt Art. 288 III AEUV]. Danach sei eine Richtlinie nur für den „Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird“, verbindlich. „Daraus folgt, dass eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen kann und dass eine Richtlinienbestimmung daher als solche nicht gegenüber einer derartigen Person in Anspruch genommen werden kann.“79 Mit dieser Rechtsprechung signalisiert der EuGH den mitgliedstaatlichen Gerichten, dass er den Wortlaut des Vertrages ernst nimmt und seine Kompetenzgrenzen wahrt.80
75
BVerfGE 75, 223, 241; Gellermann, Beeinflussung, S. 130; Jarass, NJW 1990, 2420, 2422. 76 Gellermann, Beeinflussung, S. 130. 77 Haltern, Europarecht, S. 345, Rn. 685. 78 Vgl. dazu auch Haltern, Europarecht, S. 345, Rn. 685; Schlussantrag GA Reischl, 148/78, Slg. 1979, 1629 (Ratti), S. 1650; Jarass, Grundfragen, S. 105; Kreße, ZGS 2007, 215, 216 m.w.N. 79 EuGH, C-152/84, Slg. 1986, 723 (Marshall I), 5. Leitsatz und Rn. 48; zur widersprüchlichen Argumentation des EuGH im Vergleich zur Rs. 43/75 „Defrenne II“, Slg. 1976, 455 s. Haltern, Europarecht, S. 349, Rn. 697. 80 Grund für diese nunmehr zurückhaltendere Rechtsprechung war wohl die Vorlageverweigerung der nationalen Gerichte nach dem Urteil van Duyn. Der EuGH, der auf die freiwillige Kooperation der nationalen Gerichte angewiesen ist, musste sich daher um die Vorlagen durch die mitgliedstaatlichen Gerichte bemühen. Vgl. dazu Haltern, Europarecht, S. 334, Rn. 682, S. 342, Rn. 678, S. 350, Rn. 698.
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Teil 1: Veränderungen durch Richtlinien, Ausgangslage nationales Recht
3. Fazit: Keine unmittelbaren Wirkungen im Horizontalverhältnis Aufgrund dieser zwei Leitentscheidungen lehnt der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung die unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Horizontalverhältnis81 und im umgekehrt vertikalen Verhältnis82 ab. Zulässig ist die unmittelbare Wirkung damit nur im Vertikalverhältnis zwischen dem durch die Richtlinie begünstigten Bürger und dem Mitgliedstaat, wenn die Richtlinie erstens nach ihrem Inhalt hinreichend bestimmt83 und inhaltlich unbedingt84 ist; sowie zweitens wenn die Umsetzungsfrist des Mitgliedstaates abgelaufen ist und er drittens die Richtlinie dennoch nicht oder nicht korrekt umgesetzt hat.85 Das BVerfG hat diese Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Wirkung (und damit unmittelbaren Geltung) von Richtlinienvorschriften im Vertikalverhältnis als zulässige Rechtsfortbildung des Art. 288 AEUV akzeptiert.86 III. Stellungnahme Die Beantwortung der Frage, ob die Richtlinie in der nationalen Rechtsordnung unmittelbare oder nur über einen nationalen Umsetzungsakt vermittelte innerstaatliche Geltung hat, wird durch Art. 288 AEUV geregelt. 81 EuGH, verb. Rs. C-372/85 bis 374/85, Slg. 1987, 2141 (Traen u.a.), Rn. 24; EuGH, C-152/84, Slg. 1986, 723 (Marshall I), Rn. 48; EuGH, Rs. 14/86, Slg. 1987, 2545 (Pretore di Salò ), Rn. 19; EuGH, C-221/88, Slg. 1990 Seite I-495 (Busseni ), Rn. 23; EuGH, Rs. C-106/89, Slg. 1990, I-4135 (Marleasing), Rn. 6; EuGH, Rs. C-91/92, Slg. 1994, I-3325 (Faccini Dori), Rn. 20; EuGH, Rs. C-192/94, Slg. 1996, I-1281 (El Corte Inglés), Rn. 16; EuGH, Rs. C-201/02, Slg. 2004, I-723 (Delena Wells), Rn. 56; EuGH, verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01, Slg. 2004, I-8835 (Pfeiffer), Rn. 108 f.; EuGH, Rs. C80/06, Slg. 2007, I-4473 (Carp), Rn. 20. 82 EuGH, Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651 (Johnston), Rn. 56; EuGH, Rs. 80/86, Slg. 1987, 3969 (Kolpinghuis Nijmegen), Rn. 9; EuGH, Rs. 14/86, Slg. 1987, 2545 (Pretore di Salò ), Rn. 19; EuGH, Rs. C-387/02 u.a., Slg. 2005, I-3565 (Berlusconi), Rn. 73 f. Genauer dazu s. Frenz, Handbuch Europarecht, S. V Rn. 33 f.; Streinz, Europarecht, S. 171 f., Rn. 488; Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 63. 83 Genauer zu dieser Voraussetzung s. Husmann, NZS 2010, 655, 660; Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 48 f. m.w.N.; alternativ kommt die Begründung der Überschreitung des Ermessensspielraums des Mitgliedstaats bei negativer unmittelbarer Wirkung der Richtlinie in Betracht, dazu Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 53, 50 ff. 84 Genauer zu dieser Voraussetzung s. Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 49 f. m.w.N. 85 Genauer zu dieser Voraussetzung s. Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 47 f. m.w.N.; Chevalier, Bulletin d'information n°624 du 01/08/2005. 86 BVerfGE 73, 339, 375; 75, 223, 240 ff., nur aber im Sinne eines Anwendungs-, nicht eines Geltungsvorrangs. Dazu auch Ehricke, RabelsZ 59 (1995), S. 598, 629 f. Von einer unzulässigen Rechtsfortbildung des Gerichtshofs geht dagegen Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733, 740 aus.
A. Veränderungen im nationalen Recht durch Erlass der Richtlinie
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Die Norm ist damit auszulegen (1.), wobei auch die Möglichkeit einer Rechtsfortbildung zu überprüfen ist (2.). Und der Interpretation von Art. 288 AEUV lassen sich die zur Beantwortung der Geltungsfrage notwendigen Ergebnisse entnehmen (3.). 1. Die Auslegung von Art. 288 AEUV a) Wortlaut Ausgangspunkt der Überlegungen zur Frage, ob die Richtlinie in der nationalen Rechtsordnung gilt, ist der Wortlaut von Art. 288 AEUV, der in seinem Absatz 2 den Rechtsakt der Verordnung, in Absatz 3 den der Richtlinie definiert. Die Absätze lauten wie folgt: „Die Verordnung hat allgemeine Geltung. Sie ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Die Richtlinie ist für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel.“
Anders als bei der Verordnung, wird für die Richtlinie die unmittelbare Geltung nicht ausdrücklich angeordnet. Stattdessen legt der Wortlaut von Art. 288 III AEUV nahe, dass der Mitgliedstaat mit der Richtlinie nur als Völkerrechtssubjekt angesprochen wird, spricht er doch davon, dass „die Richtlinie […] für jeden Mitgliedstaat […] verbindlich [ist]“87. Der unmittelbare Normtext nennt als Adressaten der Richtlinie also die Mitgliedstaaten, sodass eine Verpflichtung nur des Staates und keine unmittelbare Verpflichtung der Marktbürger angeordnet scheint. Zwar bleibt nach Art. 288 III AEUV „den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel“ der Umsetzung überlassen, sodass der Wortlaut nicht nur die Mitgliedstaaten als Verband im völkerrechtlichen Sinne, sondern auch die Träger öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten erwähnt.88 Dies lässt jedoch nicht auf eine unmittelbare Geltung der Richtlinie für den Marktbürger schließen. Stattdessen wird dem Mitgliedstaat ein Gestaltungsspielraum eingeräumt. Dass aber ein solcher Gestaltungsspielraum eingeräumt wird, ergibt nur dann einen Sinn, wenn ein mitgliedstaatlicher Zwischenakt erforderlich ist. Ansonsten fehlte nämlich eine mitgliedstaatliche Entscheidung, im Rahmen derer der Spielraum ausgeschöpft werden könnte. Hinzu kommt, dass Art. 288 AEUV in Absatz 2 bestimmt, dass die Verordnung unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gilt. Dahingegen sind Richtli87
Art. 288 III AEUV, Hervorhebung der Verfasserin. Metallinos, Europarechtskonforme Auslegung, S. 104; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 246; Krieger, Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, S. 187 m.w.N.; Herlinghaus, Bedeutung und Reichweite, S. 52; Scherzberg, Jura 1993, 225, 225. 88
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Teil 1: Veränderungen durch Richtlinien, Ausgangslage nationales Recht
nien für die Mitgliedstaaten verbindlich. Die Richtlinie bezieht sich damit nach ihrem Wortlaut auf die Ebene zwischen Union und Mitgliedstaat und nicht auf das Verhältnis von Union und Bürger. 89 b) Grammatikalisch-systematische Interpretation Zudem spricht der grammatikalisch-systematische Vergleich der Absätze 2 und 3 des Art. 288 AEUV gegen die unmittelbare Geltung von Richtlinien, denn Art. 288 II AEUV spricht ausdrücklich davon, dass die Verordnung unmittelbar gilt – eine vergleichbare ausdrückliche Fixierung fehlt für die Richtlinie. Dementsprechend liegt der E-contrario-Schluss nahe, dass Richtlinien keine unmittelbare innerstaatliche Geltung zukommt.90 Dieses Argument ist von E. Grabitz aufgrund einer vergleichenden Sprachanalyse der unterschiedlichen sprachlichen Fassungen von Art. 288 AEUV in Zweifel gezogen worden. Nach ihm müsse der Ausdruck „gilt unmittelbar“ durch den Ausdruck „ist unmittelbar anwendbar“ ausgetauscht werden. Verordnungen seien per se unmittelbar anwendbar, Richtlinien gelangten aber allenfalls im Einzelfall unmittelbar zur Anwendung. Damit liege der Unterschied zwischen Verordnungen und Richtlinien in ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit, nicht ihrer unmittelbaren Geltung, die bei beiden Rechtsakten gegeben sei.91 Dieses grammatikalische Argument ist allerdings überzeugend von W. Brechmann widerlegt worden, indem er nachgewiesen hat, dass die meisten der anderen europäischen Sprachen, vor allem die gängige englische und französische, nur die Begriffe von „direct applicability“ bzw. „l’applicabilité directe“ und „direct effect“ beziehungsweise „l’effet direct“ kennen, wobei ersterer Ausdruck der „direct applicability“, der für die Verordnung gebraucht wird, im Deutschen mit „unmittelbare Geltung“ zu übersetzen ist, der Ausdruck „direct effect“ hingegen mit dem Begriff der unmittelbaren Anwendbarkeit.92 c) Historisch-systematische Interpretation Bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaften wurde in Art. 100 des EWG-Vertrages93 bereits die Möglichkeit vorgesehen, mit Hilfe von Richt89
Kreße, ZGS 2007, 215, 216 m.w.N.; Husmann, NZS 2010, 655, 660; Freyer, EuZW 1991, 49, 49. 90 Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 184. 91 Grabitz, Gemeinschaftsrecht, S. 48 ff.; Grabitz, EuR 1971, 1, 8 f.; Weber, Richtlinie im EWG-Vertrag, S. 106 f.; Langenfeld, DÖV 1992, 955, 956. 92 Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 184 – 186 m.w.N. 93 Er lautet in Absatz 1: „Der Rat erläßt einstimmig auf Vorschlag der Kommission Richtlinien für die Angleichung derjenigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die sich unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes auswirken.“
A. Veränderungen im nationalen Recht durch Erlass der Richtlinie
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linien Rechtsangleichung zwischen den Mitgliedstaaten zu betreiben. Erst später wurde mit Art. 95 EGV die Möglichkeit geschaffen, zur Vollendung des Binnenmarktes Verordnungen zu erlassen. Das Rechtsvereinheitlichungsinstrument der Verordnung ist daher ein Systembruch zur ursprünglichen Konzeption.94 Dementsprechend ist in der Schlussakte der Einheitlichen Europäischen Akte, aber auch im sog. Subsidiaritätsprotokoll zum Amsterdamer Vertrag von 1997 die Erklärung enthalten, dass der Richtlinie gegenüber der Verordnung der Vorzug zu geben ist.95 Die Rechtsangleichung über die Mitgliedstaaten hat folglich Vorrang vor der Vereinheitlichung, zumal eine systemgerechte Einpassung in das Recht der Mitgliedstaaten, die auch die praktische Wirksamkeit gewährleistet, sonst nicht möglich wäre.96 Daraus lässt sich schließen, dass eine Annäherung der Richtlinie an das Rechtsvereinheitlichungsinstrument Verordnung nicht gewollt ist, sondern dass der Richtlinie als Rechtsangleichungsinstrument eine mindestens genauso entscheidende Rolle zukommt. Dies spricht schließlich dafür, dass sich die Richtlinie an die Mitgliedstaaten richtet und ihnen einen Spielraum zur Umsetzung bietet, nicht aber, dass die Richtlinie unmittelbar selbst Geltung entfaltet. Außerdem wurde mit Inkrafttreten des AEUV im Jahr 2009 die Trennung von Verordnung und Richtlinien nicht aufgehoben, sondern besteht unverändert in Art. 288 AEUV fort. Dies zeigt den aktuellen Willen der Vertragsstaaten, die Unterscheidung zwischen Rechtsangleichungs- und Rechtsvereinheitlichungsinstrumenten und damit zwischen Richtlinie und Verordnung bestehen zu lassen. d) Regelungszweck von Art. 288 III AEUV Diese Interpretation von Art. 288 III AEUV wird durch eine teleologische Auslegung bestätigt. Der von den Vertragsstaaten verfolgte Zweck des scheinbar umständlichen zweistufigen Rechtssetzungsverfahrens ist nämlich – im Gegensatz zum Rechtsakt der Verordnung – eine schrittweise Annäherung der Lebens- und Wirtschaftsbedingungen der Unionsbürger und der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen97 bei gleichzeitiger Wahrung
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Everling in: FS Steindorff, 1990, 1155, 1166; Danwitz, JZ 2007, 697, 698. Schlussakte zur EEA, BT-Drucks. 10/6392, S. 17 zu Art. 100a EWGV; s. auch Ziff. 6 des sog. Subsidiaritätsprotokolls zum Amsterdamer Vertrag Abl. 1997, Nr. C 340, S. 105; zum Ganzen Danwitz, JZ 2007, 697, 698. 96 Danwitz, JZ 2007, 697, 698. 97 Herlinghaus, Bedeutung und Reichweite, S. 6; Gellermann, Beeinflussung, S. 10; Scherzberg, Jura 1993, 225, 225; Danwitz, JZ 2007, 697, 698. Die Richtlinie ist also Instrument der Rechtsangleichung mit dem Ziel der Veranlassung nationaler Rechtssetzung, Gellermann, Beeinflussung, S. 10. 95
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Teil 1: Veränderungen durch Richtlinien, Ausgangslage nationales Recht
der Souveränität der Mitgliedstaaten und ihrer Parlamente.98 Zur Verwirklichung der Ziele der Europäischen Union ist es meist ausreichend, eine Rechtsangleichung oder Rechtsharmonisierung – anders als eine völlige Rechtsvereinheitlichung – vorzunehmen.99 Den Mitgliedstaaten soll nicht übermäßig die Rechtssetzungskompetenz zugunsten der Union entzogen werden, sondern die Gesetzgebungsbefugnis soll im Richtlinienbereich in der Hand des jeweiligen Staates bleiben.100 Deshalb kann die Richtlinie regelmäßig mit weniger politischem Widerstand in wesentlichen Politikfeldern eingesetzt werden.101 Die Mitgliedstaaten können dann die Mittel wählen, die ein bruchloses Einfügen der Ziele der Richtlinie in das innerstaatliche Rechtssystem ermöglichen. Auf nationale Besonderheiten kann Rücksicht genommen werden, ohne Systembrüche zu riskieren.102 Dies spricht dafür, dass bei Richtlinien das Parlament einen Spielraum für die Entscheidungen in Bezug darauf behalten soll, „wie“, „wann“ und sogar „ob“ eine Umsetzung erfolgt.103 Die unmittelbare Geltung der Richtlinie widerspräche damit dem Sinn und Zweck des Instruments Richtlinie, da hierdurch den Mitgliedstaaten der Gestaltungsspielraum genommen würde. Dass das Richtlinienprogramm auf Umsetzung ausgerichtet ist, zeigt sich schließlich darin, dass die Richtlinie vielfach noch unbestimmte Begriffe und Anordnungen enthält. Sie ist im zweistufigen Rechtssetzungsverfahren gerade darauf angelegt, dass die Mitgliedstaaten die ausfüllungsbedürftigen Begriffe und abstrakten Zielvorgaben konkretisieren.
98
Manger, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 7; Grundmann, JuS 2002, 768, 768; Haltern, Europarecht, S. 338, Rn. 665; Hilf, EuR 1993, 1, 5; Herber, EuZW 1991, 401, 402. 99 Schnorbus, AcP 201 (2001), S. 860, 863; Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 27; Gellermann, Beeinflussung, S. 10 spricht von der Herstellung einer „Einheit in der Vielfalt“. 100 Manger, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 7. 101 Franzen, JZ 2003, 321, S. 329; Haltern, Europarecht, S. 338, Rn. 665. 102 Gellermann, Beeinflussung, S. 19; Grundmann, JuS 2002, 768, 768; Schulze in: Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts – Einführung, 1999, 9, 14; Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 10 m.w.N. in Fn. 14, 15. 103 Es bestehen freilich unionsrechtliche Grenzen. Das Ziel der Richtlinie ist verpflichtend und muss erreicht werden. Ebenfalls muss die Frist zur Umsetzung eingehalten werden; eine frühzeitige Umsetzung ist jedoch möglich. Auch bezüglich des „Ob“ der Umsetzung bleibt die Entscheidungskompetenz bei den Mitgliedstaaten. Setzt er die Richtlinie nicht, verspätet oder fehlerhaft um, macht er sich allerdings einer Vertragsverletzung schuldig, Art. 258 AEUV.
A. Veränderungen im nationalen Recht durch Erlass der Richtlinie
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2. Die Möglichkeit zulässiger Rechtsfortbildung von Art. 288 AEUV Fraglich ist allerdings, ob durch eine Rechtsfortbildung zu Art. 288 III AEUV der Richtlinie im Horizontalverhältnis unmittelbare Geltung zugesprochen werden kann. Dies setzte eine planwidrige Unvollständigkeit von Art. 288 AEUV voraus. a) Die Unvollständigkeit von Art. 288 AEUV Eine Unvollständigkeit von Art. 288 AEUV ließe sich aufgrund der Notwendigkeit annehmen, für den Bürger einklagbare Unionsrechte zu sichern. Eine Grundentscheidung der Europäischen Union besteht nämlich darin, dem Unionsbürger die Möglichkeit zu geben, seine Rechte unmittelbar bei den nationalen Gerichten einklagen zu können (sog. „Modell des privaten Staatsanwalts“104).105 Der betroffene Bürger kann so selbst (und dezentral) für die Einhaltung des Europarechts sorgen.106 Durch die Klagemöglichkeit des Einzelnen erweitert sich der Kreis der vom Unionsrecht Betroffenen; deshalb ist das Unionsrecht zu fast staatlicher Normativität erstarkt107 und hebt das Unionsrecht vom reinen Völkerrecht ab.108 Dem104 In Abgrenzung zum „Modell des staatlichen Paternalismus“, vgl. dazu Haltern, Europarecht, S. 316, Rn. 605; Weiler, JCMS 1993, 417, 421. 105 Ableiten lässt sich dieses Modell aus Art. 267 AEUV. Dieser bliebe wirkungslos, wenn sich der Einzelne nicht vor nationalen Gerichten auf die ihm durch den Unionsvertrag zuerkannten Rechte berufen könnte. Das Vorabentscheidungsverfahren enthält damit die unausgesprochene Annahme, dass Unionsrecht grundsätzlich unmittelbare Wirkungen für den Einzelnen entfalten sollte: Haltern, Europarecht, S. 316, Rn. 605; vgl. auch Guyomar, Gazette Européenne Recueil Janvier-Février 2009, 256, 257; Wiedmann in: Gebauer/Wiedmann, Teil 2: Die Anwendung des europäischen Rechts, Rn. 72; auch EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 3 (van Gend & Loos), S. 26: „Die Wachsamkeit der an der Wahrung ihrer Rechte interessierten Einzelnen stellt eine wirksame Kontrolle dar, welche die durch die Kommission und die Mitgliedstaaten gemäß den Artikeln 169 und 170 [jetzt Art. 267 f. AEUV] ausgeübte Kontrolle ergänzt.“ 106 Weiler, JCMS 1993, 417, 421 ff.; Haltern, Europarecht, S. 190, Rn. 340; Lenz, E.L.Rev. 2000, 509, 509, 512; Canivet, Gazette Européenne Recueil NovembreDécembre 2000, 1971, 1971: „la vigilance de particuliers intéressés à la sauvegarde de leurs droit entraîne un contrôle efficace qui s’ajoute à celui que le Traité confie à la Commission et aux États membres.“ 107 Haltern, Europarecht, S. 187, Rn. 333; auch Roth, RabelsZ 75 (2011), S. 787, 803 ff., 806. Trotz der Herkunft des Unionsrechts aus dem Völkerrecht ist dieses eher mit staatlichem Recht zu vergleichen. Richtlinien werden zu durchschnittlich 97% fristgemäß von den Mitgliedstaaten umgesetzt, und die Urteile des EuGH werden befolgt und nicht am Maßstab einer nationalen Politik gemessen. Die Schwierigkeit, souveräne Staaten dazu zu bewegen, Entscheidungen transnationaler Spruchkörper als „Recht“ zu akzeptieren und nicht mit einer eigenen politischen Logik zu überziehen, zeigt sich am Beispiel des Haager Internationalen Gerichtshofs. Dessen Urteile werden teilweise von den Staaten ignoriert oder durch stillen Nichtvollzug unterminiert. Anders ist dies in der Union,
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entsprechend sind aber einklagbare Rechte des Bürgers eine Grundvoraussetzung für die Effektivität des Unionsrechts.109 Der EuGH strebt folglich generell nach Ausdehnung des Instituts der unmittelbaren Wirkung, um subjektive, einklagbare Rechte des Einzelnen zu schaffen.110 Gilt die Richtlinie aber nicht unmittelbar, kann der Bürger eine Klage vor den nationalen Gerichten nicht unmittelbar auf die Richtlinie stützen, die Effektivität des Richtlinienrechts wäre möglicherweise gefährdet. b) Die Planwidrigkeit der fehlenden unmittelbaren Geltung von Richtlinien Selbst wenn man aber Art. 288 AEUV vor dem Hintergrund der Effektivitätsratio als unvollständig beschreiben wollte, wäre diese Unvollständigkeit nicht planwidrig. Stattdessen war es, wie bereits im Rahmen der Auslegung gezeigt, gerade der Zweck des Instituts der Richtlinie, ein Rechtsangleichungsinstrument zu schaffen, bei dem die Mitgliedstaaten die unionsrechtlichen Vorgaben in das nationale Recht einpassen – notfalls zu Lasten der effektiven Umsetzung. An diesen Regelungsplan zu Art. 288 III AEUV und den Zweck des Instruments der Richtlinie ist der Gerichtshof als Interpret des Unionsrechts auch gebunden. Denn der Gerichtshof ist als Unionsorgan an den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit gebunden und darf nicht willkürlich handeln. Damit ist der EuGH auch an anerkannte Auslegungsgrundsätze gebunden und muss die unmittelbare Geltung von Richtlinien als fremdes Recht in der nationalen Rechtsordnung rechtfertigen. Für die unmittelbare Geltung von Richtlinien im Vertikalverhältnis ließ sich neben dem Effektivitätsprinzip zusätzlich das Verantwortungsprinzip heranziehen. Nach diesem wurde derjenige belastet, der die fehlende oder fehlerhafte Richtlinienumsetzung zu verschulden hatte, nämlich der zur Umsetzung verpflichtete Mitgliedstaat. Das Verantwortungsprinzip greift allerdings im Horizontalverhältnis nicht, da sich zwei Bürger gegenüberstehen, die für die Richtlinienumsetzung nicht verantwortlich sind. Eine unbedingte Effektivität zu Lasten der Marktbürger ist aber in Art. 288 AEUV nicht vorgesehen, wenn durch das zweistufige Rechtssetzungsverfahren Fehler bei der Umsetzung
wo die Urteile des EuGH als „Recht“ umgesetzt werden, wie nationale Gerichtsentscheidungen. Der Union gelingt es durch die Möglichkeit des Einzelnen, seine Rechte bei den nationalen Gerichten einzuklagen, auch auf transnationaler Ebene eine Rule of Law herzustellen – und dies, obwohl es an einem staatenähnlichen Durchsetzungsmechanismus fehlt, z.B. einer Polizei, die die Mitgliedstaaten zu Rechtsgehorsam zwingt. Zum Ganzen auch Haltern, Europarecht, S. 179, Rn. 315. 108 Bergel, Méthodologie juridique, S. 217 f. 109 Haltern, Europarecht, S. 314, Rn. 600. 110 Vgl. Haltern, Europarecht, S. 316, Rn. 605.
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und damit die Möglichkeit fehlender Geltung in der nationalen Rechtsordnung gerade in Kauf genommen werden. Neben dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und dem Willkürverbot wird die Überschreitung der Fortbildungsgrenzen durch den Gerichtshof auch durch ein anderes Mittel abgesichert, nämlich durch die Ausrichtung von Art. 267 II AEUV als Ermessensnorm.111 Hiernach „kann“ ein Gericht eines Mitgliedsstaates, welches mit einer Frage der Auslegung der Verträge oder der Handlungen der Organe befasst ist, dem EuGH diese Frage zur Vorabentscheidung vorlegen. Selbst im Rahmen von Art. 267 III AEUV, der Vorlageverpflichtung derjenigen mitgliedstaatlichen Gerichte, deren „Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können“, kann man diese kaum zu einer Vorlage zwingen – in Betracht kommt hier allenfalls ein Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 AEUV.112 Der EuGH ist also, um entscheiden zu können, abhängig von einer Vorlage der nationalen Gerichte113 und damit von der rechtspolitischen Akzeptanz seiner Rechtsprechung114. Der Mechanismus der Vorlagefrage enthält damit die Notwendigkeit eines Dialogs zwischen den Richtern des EuGH und den nationalen Gerichten.115 Diese Form der Kooperation116 ist aber nicht erzwingbar.117 Legen die nationalen 111
Hinzu kommt, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte nach Vorlage und Erlass der Vorabentscheidung durch den EuGH diese auch befolgen, also entsprechend urteilen müssen. Sollten sich die mitgliedstaatlichen Gerichte verweigern, würde das Rechtsschutzsystem instabil. Auf diesen Aspekt der Rechtsverweigerung der mitgliedstaatlichen Gerichte soll aber nicht weiter eingegangen werden, zumal die Befolgungsbereitschaft der nationalen Gerichte bei weit über 90% liegt. 112 Herlinghaus, Bedeutung und Reichweite, S. 74. 113 Haltern, Europarecht, S. 195, Rn. 354. Dies zeigen auch die Ausführungen in EuGH, Rs. C-212/04, Slg. 2006, I-6057 (Adeneler), Rn. 40, 41. 114 Krieger, Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, S. 121; Everling, JZ 2000, 217, 226 f. 115 Vgl. Biancarelli, Gazette Européenne Recueil Janvier - Février 2009, 269, 272: „En effet, le mécanisme de la question préjudicielle est, par excellence, l’expression du dialogue entre les juges.“. Von einem „Dialog“ der Richter sprechen auch: Darmon, Gazette Européenne Recueil Novembre - Décembre 2000, 1970, 1970; Darmon, Gazette Européenne Recueil Janvier-Février 2009, 249, 250: „dialogue de Cour à Cour“; Franzen, JZ 2003, 321, 330; Lenz, E.L.Rev. 2000, 509, 522; Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 250. Bach, JZ 1990, 1108, 1115 spricht davon, dass für eine ‘politische’ Lösung durch Verzicht auf die Möglichkeit horizontaler Wirkungen zumindest starke Anreize bestanden. Der EuGH selbst spricht von einer „Zusammenarbeit“ mit den nationalen Gerichten, EuGH, Rs. 297/88 und C-197/89, Slg. 1990, I-3763 (Dzodzi), Rn. 33. 116 Das BVerfG geht von einer „Verklammerung“ (BVerfGE 73, 339, 385, Solange II) der nationalen und Unionsrechtsordnung und einem Kooperationsverhältnis (BVerfGE 89, 155, 175; Maastricht) zwischen ihm und dem EuGH aus. Vgl. auch Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 315 m. vielen w. N. 117 Haltern, Europarecht, S. 197, Rn. 356.
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Teil 1: Veränderungen durch Richtlinien, Ausgangslage nationales Recht
Gerichte nicht mehr vor, wäre die Konsequenz eine Gefährdung der Einheit des Unionsrechts; diese kann nämlich das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV allein nicht sichern.118 Das Modell des seine Rechte selbstständig einklagenden Bürgers würde aufgrund der fehlenden Vorlage der nationalen Gerichte entfallen, und der Kreis der an der Einhaltung des Unionsrechts Interessierten wäre gering. Das Unionsrecht geriete wieder in die Nähe des nicht verhandlungssicheren Völkerrechts und der EuGH zu einem wenig durchsetzungsfähigen transnationalen Spruchkörper.119 Um dies zu vermeiden, muss der EuGH stets um die Kooperation der mitgliedstaatlichen Gerichte bemüht sein120 und kann deshalb nicht außerhalb einer zulässigen Rechtsfortbildung arbeiten. 3. Ergebnisse der Interpretation von Art. 288 AEUV Als Ergebnis der Interpretation von Art. 288 AEUV lassen sich verschiedene Kategorien der Geltung von Sekundärrecht ermitteln (a). Zudem ergibt sich aus Art. 288 III AEUV weiterhin ein Umsetzungsbefehl im Hinblick auf Richtlinien (b). a) Die unterschiedlichen Kategorien von Sekundärrecht Die Auslegung von Art. 288 AEUV ergab, dass der Mitgliedstaat an die Ziele bzw. Ergebnisse121, die die jeweilige Richtlinie vorgibt, gebunden ist. Wie er diese Vorgaben erreicht, wird in der „Wahl der Form und der Mittel“ den innerstaatlichen Stellen überlassen. Art. 288 III AEUV geht damit im Grundsatz davon aus, dass die Richtlinie – anders als die Verordnung – in innerstaatliches Recht umzusetzen ist. Der Rechtsakt der Richtlinie erfordert folglich ein zweistufiges Rechtssetzungsverfahren:122 In einer ersten Stufe wird die Richtlinie von den zuständigen Stellen der Union beschlossen und an einen oder mehrere Mitgliedstaaten adressiert; auf der 118 Haltern, Europarecht, S. 195 f., Rn. 354; zu den Schwächen des Vertragsverletzungsverfahrens s. Haltern, Europarecht, S. 184 ff., Rn. 326 ff. 119 Haltern, Europarecht, S. 196, Rn. 354. 120 Schlachter, ZfA 2007, 249, 271; Beispiele bei Rodriguez Iglesias, NJW 2000, 1889, 1991. 121 Ein von H.-P. Ipsen vorgenommener Vergleich der Vertragsfassungen der Mitgliedstaaten hat ergeben, dass man statt Zielverbindlichkeit besser von einer Ergebnisverbindlichkeit spricht, Ipsen in: FS Ophüls, 67, 73 f. 122 Gellermann, Beeinflussung, S. 9 m.w.N.; Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 25 f. m.w.N. in Fn. 5; Manger, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 6; Metallinos, Europarechtskonforme Auslegung, S. 19, 36; Herlinghaus, Bedeutung und Reichweite, S. 19; Krieger, Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, S. 186; Schulze in: Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts – Einführung, 1999, 9, 14; Scherzberg, Jura 1993, 225, 225; Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 100.
A. Veränderungen im nationalen Recht durch Erlass der Richtlinie
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zweiten Stufe soll dann die Umsetzung dieser Richtlinie durch die mitgliedstaatlichen Organe in nationales Recht nach dem Gesetzgebungsverfahren der mitgliedstaatlichen Verfassung erfolgen. Das nationale Umsetzungsrecht wiederholt dann idealiter die inhaltlichen Vorgaben der Richtlinie. Erst dieses wiederholende nationale Recht ist für den Bürger verbindlich und erlegt ihm subjektive Rechte und Pflichten auf, die auch durch Gerichte und Behörden festgestellt und realisiert werden nen.123, 124 Das Charakteristikum der Richtlinie ist daher, dass sie einen Akt „indirekter Rechtssetzung“ darstellt.125 Das Richtlinienrecht wird zwar auf unionsrechtlicher Ebene gesetzt, es richtet sich aber an die Mitgliedstaaten und ihre Organe, die die Richtlinien umsetzen müssen126, sodass man von staatengerichtetem Sekundärrecht der Union ohne Durchgriffswirkung für den Einzelnen sprechen kann.127 Die Richtlinie will also nur den Mitgliedstaat und die zur Umsetzung zuständigen Organe auf ihre Ziele verpflichten, nicht aber unmittelbare Wirkungen für den Bürger entfalten. Zur unmittelbaren Geltung benötigen die Richtlinienvorschriften grundsätzlich eine Betätigung des nationalen Gesetzgebers. Es ist das nationale Recht, das Rechte und Pflichten für den Bürger begründet, nicht die inhaltlichen Vorgaben der Richtlinie. Aufgrund dieses Erfordernisses eines mitgliedstaatlichen Umsetzungsaktes ist das staatengerichtete Sekundärrecht, wie die Richtlinie, eher mit dem klassischen (zwischenstaatlichen) Völkerrecht vergleichbar. Es gilt zwar für die nationalen Organe und mit der Umsetzung auch in der nationalen Rechtsordnung, nicht aber unmittelbar mit dem Erlass. Zu unterscheiden ist dieses staatengerichtete Recht von dem bürgergerichteten Sekundärrecht mit Durchgriffswirkung für Privatrechtssubjekte.
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Vgl. Manger, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 6; Herlinghaus, Bedeutung und Reichweite, S. 19 f.; Gellermann, Beeinflussung, S. 93; Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 263 f.; Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 80 f. 124 Aus diesem Grund ist auch die Meinung abzulehnen, die die nationale Umsetzungsnorm wegen ihres unionsrechtlichen Entstehungsgrundes als „tertiäres“ Unionsrecht behandelt und ihr deshalb Vorrang gegenüber nachträglichen Abänderungen zuerkennen will (Constantinesco, JuS 1965, 289, 295). 125 Molkenbur, Gemeinschaftsrecht, S. 15; Danwitz, JZ 2007, 697, 698. Vgl. auch Bach, JZ 1990, 1108, 1110, der von „mittelbarer Wirkung“ der Richtlinie spricht. 126 Freyer, EuZW 1991, 49, 49; Gellermann, Beeinflussung, S. 10, 94 f.; Gellermann/ Szczekalla, NuR 1993, 54, 59. Vgl. auch EuGH, C-8/81, Slg. 1982, 53 (Becker), Rn. 17 ff.; EuGH, Rs. 270/81, Slg. 1982, 2771 (Felicitas Rickmers-Linie), S. 2771, Rn. 24. 127 Im Ergebnis ähnlich Di Fabio, NJW 1990, 947, 947; Schmidt in: Vertrag über die Europäische Union, Art. 249 EGV, Rn. 42; Nettesheim in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 288 AEUV, Rn. 153 ff.; Herber, EuZW 1991, 401, 402; Freyer, EuZW 1991, 49, 49 ff.; Ehricke, EuZW 1999, 553, 554; Ehricke, RabelsZ 59 (1995), S. 598, 613 ff.
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Teil 1: Veränderungen durch Richtlinien, Ausgangslage nationales Recht
Dieses entfaltet unmittelbare Geltung in der nationalen Rechtsordnung.128 Diese Geltung muss, anders als bei staatengerichtetem Recht, nicht erneut durch die Lex-fori-Rechtsordnung angeordnet bzw. transformiert werden. Vielmehr können hier bereits die Unionsorgane die unmittelbare Geltung verbindlich anordnen. Diese Anordnung ist im Falle des kompetenzgedeckten bürgergerichteten Sekundärrechts bereits durch den Zustimmungsakt zu den Unionsverträgen gedeckt. Dies ist bei Verordnungen der Fall, für die in Art. 288 II AEUV primärrechtlich ausdrücklich die „allgemeine Geltung“ anordnet. b) Der primärrechtliche Umsetzungsbefehl Der Begriff der Richtlinie wird regelmäßig, so auch in dieser Arbeit, verwendet für den durch die Unionsorgane erlassenen Sekundärrechtsakt mit konkreten Vorgaben für die Umsetzung eines bestimmten Rechtsbereichs in einem oder mehreren Mitgliedstaaten. Wie soeben dargelegt, kommt der Richtlinie solange keine Geltung in der nationalen Rechtsordnung zu, wie sie nicht durch den Mitgliedstaat umgesetzt wird. Dies erklärt allerdings nicht, warum die nationalen Organe und damit auch die Gerichte dennoch nach Art. 288 III AEUV an die Zielvorgaben der Richtlinie gebunden sein sollen. Diese dem Grunde nach völkerrechtliche Verpflichtung der nationalen Organe, eine bestimmte Regelung in nationales Recht umzusetzen (deshalb fortan Umsetzungspflicht), lässt sich aus Art. 288 III AEUV als einer primärrechtlichen Vorschrift ableiten. Sie weist im Vergleich zum sekundärrechtlichen Richtlinienprogramm Besonderheiten auf129: (1) Der Umsetzungsbefehl gilt innerstaatlich Erstens gilt der Umsetzungsbefehl in der nationalen Rechtsordnung. Da es sich um Primärrecht handelt, wurde von den Mitgliedstaaten dieses Recht zum Zeitpunkt der Inkraftsetzung der Verträge konsentiert und damit in die nationalen Rechtsordnungen wie Völkerrecht übernommen. (2) Der Umsetzungsbefehl richtet sich an die nationalen Organe Zweitens richtet sich der Umsetzungsbefehl nicht an die Marktbürger selbst, sondern – nach dem Wortlaut von Art. 288 III AEUV – ausdrück128
Andere Ansicht nur Pechstein/Koenig, Europäische Union, S. 295 f., Rn. 579 f.: innerstaatlich angewendet werde nicht das fremde Unionsrecht, sondern lediglich der (nationale) Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes. 129 Zwischen den inhaltlichen Vorgaben der Richtlinie und dem Umsetzungsbefehl unterscheiden auch: Nicolaysen, EuR 1986, 370, 370 f.; Richter, EuR 1988, 394, 398; Scherzberg, Jura 1993, 225, 225; Winter, DVBl 1991, 657, 660.
A. Veränderungen im nationalen Recht durch Erlass der Richtlinie
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lich nur an die nationalen Organe.130 Auch der EuGH hat hierzu entschieden, dass die Umsetzungspflicht „allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten […], und zwar im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch den Gerichten“131 obliegt.132 Dies bedeutet, dass nicht nur die Legislative an die Richtlinienvorgaben gebunden ist, sondern zur effektiven Umsetzung des Sekundärrechts auch Exekutive und Judikative.133, 134 Die Umsetzungspflicht ist nämlich umso effektiver, je mehr innerstaatliche Stellen direkt mit der Umsetzung von Richtlinien befasst werden. Welche Vorgaben dies im Einzelfall sind, bestimmt ausfüllend das jeweilige (sekundärrechtliche) Richtlinienprogramm als Hilfsnorm. Es handelt sich demzufolge um an den einzelnen Mitgliedstaat gerichtetes Recht, das ähnlich dem klassischen Völkerrecht grundsätzlich nur Verpflichtungen für den Staat vorsieht. Insbesondere bei der Verpflichtung der nationalen Gerichte zur Richtlinienumsetzung ist allerdings auf eine Einschränkung hinzuweisen. Nach Rechtsprechung des EuGH erfordert die ordnungsgemäße Umsetzung aus Gründen der Rechtsklarheit und Transparenz im Normalfall ein Gesetz.135 130
S. auch Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 80. EuGH, Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891 (von Colson & Kamann), Rn. 26. Vgl. EuGH, Rs. 79/83, Slg. 1984, 1921 (Harz), 1. Leitsatz und Rn. 26; EuGH, Rs. 80/86, Slg. 1987, 3969 (Kolpinghuis Nijmegen), Rn. 12; EuGH, Rs. C-6/90, Slg. 1991, I-1631 (Francovich), Rn. 32; EuGH, Rs. C-365/98, Slg. 2000, I-4619 (Brinkmann/Hauptzollamt Bielefeld), Rn. 40; EuGH, verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01, Slg. 2004, I-8835 (Pfeiffer), Rn. 111; EuGH, Rs. C-212/04, Slg. 2006, I-6057 (Adeneler), Rn. 117; EuGH, verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07, Slg. 2009, I-3071 (Angelidaki), Rn. 106, 198, 207. 132 Gemeint ist hiermit nicht die prozessrechtliche, sondern die kompetenzrechtliche Zuständigkeit, Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 56; Jarass, Grundfragen, S. 94; Lorenz, LMK 2009, 273611, 2. Rechtliche Würdigung, a.; Lorenz, NJW 2006, 3202, 3203; Rüffler, ÖJZ 1997, 121, 126. 133 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 56; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 246 f., 297 f.; Lutter, JZ 1992, 593, 605; Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 82; Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 411. Vgl. auch Jarass, Grundfragen, S. 93; Jarass, EuR 1991, 211, 219; Jarass/Beljin, JZ 2003, 768, 774. 134 Schon im klassischen Völkerrecht existiert der Satz, dass die Verpflichtungen eines Staates von allen seinen Organen zu beachten und zu erfüllen sind, unabhängig davon, ob es sich um Legislative, Exekutive oder Judikative oder ob es sich um eine föderalen oder zentralen Staat bzw. eine kommunale Untergliederung handelt, Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 855 ff., §§ 1270 ff.; Ipsen, Völkerrecht, S. 628; Classen, EuZW 1993, 83, 83. Andere Ansicht: Weber, Richtlinie im EWG-Vertrag, S. 95 f.. Ableiten lässt sich dies aus dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit. Bei einem anderen Verständnis könnte sich der einzelne Staat durch eine völkerrechtsfeindliche innerstaatliche Struktur bzw. Organisation seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen entziehen. Ebenso für Unionsrecht s. Krieger, Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, S. 188 m.w.N. 135 EuGH, Rs. 239/85, Slg. 1986, 3645 (Kommission/Belgien), Leitsatz; EuGH, C13/90, C-14/90, C-64/90, NVwZ 1991, 866 ff. (TA-Luft), Rn. 16; EuGH, Rs. 217/97, Slg. 131
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Teil 1: Veränderungen durch Richtlinien, Ausgangslage nationales Recht
Dementsprechend kann man davon sprechen, dass die Primärpflicht die Richtlinie umzusetzen zunächst der nationalen Legislative zukommt. Durch die gleichzeitige Verpflichtung aller staatlichen Gewalten zur Umsetzung tritt aber eine sekundäre Umsetzungspflicht der nationalen Gerichte und Behörden dazu, wenn die Primärpflicht zur Umsetzung nicht vollständig, inkorrekt oder zweideutig erfüllt ist.136 Durch die Erfüllung der Sekundärpflicht durch die Gerichte wird die Primärpflicht aber nicht berührt; d.h. der Mitgliedstaat bleibt zu einer gesetzgeberischen Nachbesserung verpflichtet.137 Diese andauernde Primärpflichtverletzung kann dann auch im Vertragsverletzungsverfahren angemahnt werden.138 (3) Der Inhalt des Umsetzungsbefehls ist dynamisch Drittens ist der Inhalt des Umsetzungsbefehls nicht starr, wie bei der Verordnung, die einmalig durch den Unionsgesetzgeber als Sekundärrecht erlassen wird, sondern der Umsetzungsbefehl als Primärrecht wirkt mit verschiedensten sekundärrechtlichen Richtlinien zusammen. Er ist damit nicht nur multifunktional für alle sekundärrechtlichen Richtlinien, sondern er wirkt außerdem dynamisch. Der Umsetzungsbefehl besteht stets fort und aktualisiert sich bei Erlass von richtlinienwidrigem nationalem Recht, um den Inhalt der Richtlinie zu vermitteln. Wird beispielsweise die Richtlinie zu-nächst ordnungsgemäß umgesetzt, gerät sie dann später aber in Vergessenheit mit der Folge, dass das nationale Recht erneut richtlinienwidrig geändert wird, besteht ein Umsetzungsverstoß. Die Pflicht zur Richtlinienumsetzung, die sich aus Art. 288 III AEUV und der betreffenden Richtlinie ableiten lässt, ist nicht einmalig mit Erlass des richtliniengemäßen nationaI-5087, 5115 (Kommission/Deutschland), Rn. 31 f.; EuGH, C-29/84, Slg. 1985, 1661 (Kommission/Deutschland), Rn. 31. Diese Rechtsprechung wird im Schrifttum weitestgehend anerkannt: Faust, JuS 2012, 456, 459; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 550; Schnorbus, AcP 201 (2001), S. 860, 878 f.; Prechal, Directives, S. 87; Herdegen, WM 2005, 1921, 1927; König in: Europarecht: Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, § 2 Gesetzgebung, Rn. 51, 53; Franzen, JZ 2003, 321, 327 m.w.N. in Fn. 99; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 914 m.w.N. in Fn. 55 und 56; Möllers/Möhring, JZ 2008, 919, 921 m.w.N. in Fn. 35 und 36; Krieger, Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, S. 191 m.w.N.; Nettesheim, AöR 1994, 261, 283 f. Andere Ansicht Salzwedel in: UTR 7, 1989, 65, 65 f. Auch die Möglichkeit der unmittelbaren Anwendbarkeit der Richtlinie befreit nicht von der Pflicht, die Richtlinie umzusetzen, Metallinos, Europarechtskonforme Auslegung, S. 19 f. m.w.N. Zu den formellen und materiellen Anforderungen an die Umsetzung Danwitz, VerwArch 1993, 73, 73 ff.; Himmelmann, DÖV 1996, 145, 146 ff. 136 Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 48. 137 Franzen, JZ 2003, 321, 327 f.; Metallinos, Europarechtskonforme Auslegung, S. 19 f. m.w.N.; König in: Europarecht: Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, § 2 Gesetzgebung, Rn. 51 ff. 138 Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 48.
A. Veränderungen im nationalen Recht durch Erlass der Richtlinie
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len Rechts erloschen, sondern der Umsetzungsbefehl bleibt über eine Umsetzung hinaus bestehen. Die Existenz des Umsetzungsbefehls zeigt außerdem den Unterschied zwischen Verordnungen und Richtlinien auf. Eine Verordnung, die unmittelbar für den Bürger gilt, erfordert nur den Sekundärrechtsakt ohne Umsetzungsbefehl. Die Richtlinie charakterisiert sich gerade über einen zwischengeschalteten mitgliedstaatlichen Akt, den Umsetzungsakt. Dementsprechend wird der Staat auch unionsrechtlich auf die Richtlinienumsetzung verpflichtet. IV. Zwischenergebnis Bei der Richtlinie handelt es sich um staatengerichtetes Recht, da sich die Richtlinie an den Mitgliedstaat als Völkerrechtssubjekt richtet. Eine unmittelbare innerstaatliche Geltung im Horizontalverhältnis wird von Art. 288 AEUV nicht angeordnet und lässt sich auch nicht mittels Rechtsfortbildung begründen. Zur innerstaatlichen Geltung und damit einer unmittelbaren Wirkung zugunsten oder zulasten des Einzelnen bedürfen die Vorgaben der Richtlinie einer Übernahme durch den Mitgliedstaat. Mangels unmittelbarer Geltung der Richtlinie kann es ohne Übernahme der Richtlinie in die nationale Rechtsordnung nicht zu einer Normenkollision von nationalem Recht und Richtlinie kommen. Die Thesen der Befürworter einer unmittelbaren Geltung von Richtlinien sind folglich abzulehnen. Stattdessen erfordert die Richtlinie zu ihrer Geltung in der nationalen Rechtsordnung tatsächlich einen Transformationsakt, auf den allenfalls im Vertikalverhältnis, nicht aber im hier interessierenden Horizontalverhältnis verzichtet werden kann. Der Erlass der Richtlinie ist jedoch aus der Perspektive der nationalen Rechtsordnung nicht unerheblich, denn der primärrechtliche Umsetzungsbefehl gilt aufgrund der Zustimmung der Mitgliedstaaten zu den Unionsverträgen auch in der nationalen Rechtsordnung. Er überführt die Vorgaben verschiedenster Richtlinien in das nationale Recht und aktualisiert sich bei jedem Umsetzungsverstoß. Der Umsetzungsbefehl richtet sich dabei allein an die nationalen Organe, auch die Gerichte. Er verpflichtet die nationalen Gerichte, die Vorgaben der Richtlinie effektiv in nationales Recht umzusetzen. Diese Verpflichtung trifft die Gerichte als Rechtsanwender im Einzelfall im Rahmen des Rechtsfindungsvorganges. Damit lassen sich zwei wesentliche Erkenntnisse festhalten: Durch den Erlass der Richtlinie hat sich zum einen in der nationalen Rechtsordnung tatsächlich etwas geändert. Zwar ist nicht die Richtlinie selbst Teil der nationalen Rechtsordnung, aber der primärrechtliche Umsetzungsbefehl gilt in der nationalen Rechtsordnung. Diese neue Komponente des Umsetzungsbefehls richtet sich zum anderen nicht an die Marktbürger, sondern an die nationalen Or-
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Teil 1: Veränderungen durch Richtlinien, Ausgangslage nationales Recht
gane. Damit wird der Umsetzungsbefehl (auch) im Rahmen der nationalen Rechtsfindung relevant, sodass eine Modifikation der nationalen Methoden aufgrund dieser neuen Einwirkungen denkbar erscheint.
B. Gesetzesanwendung im nationalen Kontext (Einebenensystem) B. Gesetzesanwendung im nationalen Kontext Mangels unmittelbarer Geltung der Richtlinie in der nationalen Rechtsordnung kann die Richtlinie selbst durch den nationalen Richter nicht angewendet werden. Dennoch bindet der Umsetzungsbefehl die nationalen Gerichte bei ihren Tätigkeiten an die Zielvorgaben der Richtlinie. Bevor nun im nächsten Teil auf diese lenkenden Zielvorgaben der Richtlinie eingegangen wird, soll zunächst geklärt werden, welche Möglichkeiten dem Richter im rein nationalen Kontext zustehen, Konflikte zwischen zwei inhaltlich divergierenden Vorgaben zu lösen. Da diese methodischen Fragen untrennbar mit der Verfassung verbunden sind, wird zunächst der verfassungsrechtliche Rahmen geschildert (I.), um anhand dieses Ausgangspunktes die traditionellen Methoden der Rechtsfindung darzustellen (II.). Zudem ist an Kollisionsvermeidungsmechanismen, wie die Regel „lex superior derogat legi inferior“ zu denken (III.). Notwendig ist die Betrachtung der nationalen Methoden an dieser Stelle auf jeden Fall: Lässt man nämlich keine Modifikation der nationalen Methoden durch die Richtlinienvorgaben zu, muss es bei diesen Methoden verbleiben. Werden hingegen Modifikationen zugelassen, so kann anhand der Darstellung der traditionellen Methoden später genau geprüft werden, welche Modifikationen vorgenommen wurden und damit, welche Veränderungen einer Rechtfertigung bedürfen. I. Die Bindung des Richters an geltende Gesetze, Art. 20 III GG Der Richter ist bei seiner Methodenwahl nicht völlig frei, sondern an die Verfassung gebunden139, Art. 1 III GG. Insbesondere muss er bei der 139
Methodenfragen sind Verfassungsfragen, Hirsch, JZ 2007, 853, 855; Rüthers, JZ 2006, 53, 56, 60; Rüthers, JZ 2008, 446, 447; Rüthers, NJW 2005, 2759, 2761; Rüthers, NJW 2009, 1461, 1462; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), S. 1, 6; Höpfner, JZ 2009, 403, 403; Fleischer, RabelsZ 75 (2011), S. 700, 704, 710; auch Rüthers/Höpfner in FAZ vom 26.8.2011 (Nr. 198), S. 9; einschränkend Hassemer, ZRP 2007, 213, 214: Verfassung und juristische Methodenlehre „sind nicht miteinander identisch, sie sind aber miteinander verwachsen: Gesetzesbindung gelingt umso eher, je eher juristische Methode gelingt, und sie bleibt dann ein hohles Versprechen, wenn sich keine Methode finden lässt, welche die Bindung verlässlich ins Werk setzt und sichern kann. Insofern – aber auch nur insofern – hat eine juristische Methode Verfassungsbezug, und zwar eine
B. Gesetzesanwendung im nationalen Kontext
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Rechtsanwendung im Einzelfall die geltenden Gesetze und das Recht beachten, Art. 20 III, 97 I GG. Die Bindung des Richters umfasst vor allem förmliche Gesetze (Landes- und Bundesrecht) und das Grundgesetz.140 Die Verpflichtung auf das Recht beschreibt darüber hinaus die Bindung an die verfassungsmäßige Ordnung.141 Der Richter ist letztlich zur Anwendung sämtlichen geltenden Rechts in der nationalen Rechtsordnung berechtigt und verpflichtet.142 Das Gesetz setzt sich aus mehreren Komponenten zusammen. Wesentlich sind insbesondere der Wortlaut der Norm und die Regelungs- und Wertungsentscheidung eines legitimierten Gesetzgebers. Der Wortlaut des Gesetzes bildet dabei die Vertrauensgrundlage für den Bürger; die gesetzgeberische Regelungsentscheidung ist aufgrund des Demokratieprinzips als Willensentscheidung des (deutschen) Volkes maßgebend.143 Die Verknüpfung mit dem Demokratieprinzip zeigt, dass es sich um Gesetze eines demokratisch legitimierten Gesetzgebers handeln muss.144 Die strenge Gesetzesbindung des Richters ist damit gleichzeitig elementarer Bestandteil des Demokratieprinzips145, denn die eigentliche Staatsgewalt ist das Volk. Die Richter sind zwar nach Art. 97 I GG unabhängig, aber nur im Rahmen der geltenden Gesetze. Jede Lockerung der Gesetzesbindung bzw. jede rein subjektive Entscheidung des Richters bedeutet zugleich einen Abbau des Demokratieprinzips.146 Dieses nationale Gesetz ist von den deutschen Gerichten auch anzuwenden, wenn sie die gesetzgeberische Entscheidung in der Sache für falsch
jegliche Methode, soweit sie Methode ist: Ohne Regeln der Gesetzesauslegung und der Normbefolgung durch die gesetzesauslegenden Institutionen wird sich Gesetzesbindung nicht herstellen. Hingegen verordnet die Verfassung nicht die Unterwerfung unter eine bestimmte Methode der Gesetzesinterpretation, und sie verordnet schon gar nicht, dass sich eine solche Methode finden lassen muss – wie denn auch?“ 140 Weber, Grenzen, S. 43 m.w.N. 141 Sommermann in: Kommentar zum Grundgesetz, Art. 20 GG, Rn. 165; Jarass in: Grundgesetz Kommentar, Art. 20 GG, Rn. 32. Es handelt sich also nicht um eine Tautologie, Hirsch, JZ 2007, 853, 854; Hirsch, ZRP 2006, 161, 161. Nach BVerfGE 34, 269, 286 f. hält die Formel „das Bewusstsein aufrecht, dass sich Gesetz und Recht zwar faktisch im Allgemeinen, aber nicht notwendig und immer decken“. 142 Zur Gesetzesbindung s. auch Wenzel, NJW 2008, 345, 348 f. 143 Zu Letzterem vgl. BVerfGE 33, 125, 158; 64, 208, 214 f.; 89, 155, 182; s. auch Gern, VerwArch 1989, 415, 432. 144 Der Begriff „Volk“ in Art. 20 II GG meint primär das deutsche Staatsvolk. Ob man auf europäischer Ebene bereits von einem Volk sprechen kann, ist strittig, wird aber überwiegend abgelehnt, dazu Scholz in: Grundgesetz: Kommentar, Art. 23 GG, Rn. 44 m.w.N. 145 Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 444, Rn. 708. 146 Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 445, Rn. 709.
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Teil 1: Veränderungen durch Richtlinien, Ausgangslage nationales Recht
halten.147 Die politische Verantwortung für ein Gesetz trägt nicht der Richter, sondern die Gesetzgebung, was sich aus dem Gewaltenteilungsprinzip begründet.148 Bei einem Verstoß gegen die Gesetzesbindung liegt ein Verstoß gegen das Grundgesetz vor, was für einen Betroffenen zumindest zur Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit führt und das kann wiederum im Wege der Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG gerügt werden.149 II. Auslegung und Rechtsfortbildung im nationalen Kontext Ist der Richter gemäß Art. 20 III GG an das Gesetz gebunden, stellt sich die Frage, wie man den Begriff des Gesetzes definiert. Je enger der Bereich des Gesetzes gezogen wird, desto enger ist der Spielraum, in dem der Richter tätig werden darf (wenn nicht ausnahmsweise eine Gesetzeslücke nachgewiesen werden kann, die zur Rechtsfortbildung ermächtigen würde). Entsprechend größer ist der richterliche Spielraum, wenn der Gesetzesbegriff weiter gezogen wird. Aufgrund dessen herrscht über die Reichweite des Gesetzesbegriffs im Detail schon seit Jahrhunderten vehementer Streit.150 Kann der Richter bei der Ermittlung, was das Gesetz im Sinne von Art. 20 III GG ist, an objektive, vernünftige Zwecke anknüpfen (so die objektive Theorie) oder sind allein die Entscheidungen des historischen Gesetzgebers maßgebend (so die subjektive Theorie)? Das BVerfG neigt das eine Mal der objektiven Theorie151, das andere Mal der subjektiven Theorie152 zu. Diese Frage zu klären, ist nicht Aufgabe dieser Arbeit. Als zwei akzeptierte Möglichkeiten der Rechtsfindung können beide Ansätze auch im Richtlinienkontext genutzt werden. Deshalb sollen beide Theorien dargestellt werden, wobei jeweils das Vorgehen bei der Auslegung (je a) und der Rechtsfortbildung (je b) be-
147
Witt, NJW 2006, 3322, 3324; Herzog/Grzeszick in: Grundgesetz: Kommentar, Art. 20 V, Rn. 58. Die Gesetzesbindung ist damit das notwendige Gegenstück zur richterlichen Unabhängigkeit. Ansonsten könnte sich der Richter gegen verfassungsmäßige Gesetze und damit gegen den parlamentarischen Gesetzgeber auflehnen, dazu auch Krey, JZ 1978, 465, 465 m.w.N; Ipsen, Richterrecht, S. 207-209. 148 Krey, JZ 1978, 465, 465. 149 Möllers, JZ 2009, 668, 668. 150 Fleischer, RabelsZ 75 (2011), S. 700, 717 bezeichnet die Frage nach dem Ziel der Gesetzesauslegung als „Ewigkeitsfrage“; Wenzel, NJW 2008, 345, 345: „Der Streit um die Rolle des Richters in dem gewaltengeteilten Staat ist so alt wie die Gewaltenteilung selbst“. Zum Ganzen siehe auch Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 226 ff. und öfter. 151 BVerfGE 1, 299, 312; 10, 234, 244; 11, 126, 130. 152 BVerfGE NJW 2012, 669 ff. S. auch Sondervotum der Richter Di Fabio, Osterloh und Voßkuhle, NJW 2009, 1469, 1476 ff.; dazu auch Rüthers/Höpfner in FAZ vom 26.8.2011 (Nr. 198), S. 9.
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trachtet wird. Dabei wird auf Voraussetzungen und Grenzen bei der Gesetzesanwendung einzugehen sein. 1. Die gemischt-objektive Theorie Bedeutendste Repräsentanten der heute in Deutschland (noch) vorherrschenden gemischt-objektiven153 Methodenlehre sind K. Larenz sowie C.W. Canaris154, auf deren gedankliche Ansätze hier maßgeblich abgestellt wird. a) Die Auslegung nach der gemischt-objektiven Theorie (1) Das Ziel der Auslegung Das erklärte Ziel der Auslegung ist für sie die Ermittlung des normativen Gesetzessinns.155 Dabei gehe es „nicht darum, was sich der ‚Gesetzgeber‘ – wer immer das sein mag – beim Erlass des Gesetzes ‚gedacht hat‘, sondern darum, was er vernünftigerweise gedacht haben sollte.“156 Ermittelt wird also der verobjektivierte, vernünftige Zweck des Gesetzes.157 Anerkannt wird zwar, dass subjektive Vorstellungen und Willensziele der Urheber als Auslegungskriterium zu berücksichtigen seien, denn das Gesetz bleibe grundsätzlich in seinem Ursprung verhaftet, weil der Gesetzgeber an die 153
Eine reine Form der objektiven Interpretationstheorie, d.h. unter völliger Negierung der Relevanz der subjektiven Vorstellungen und Wertungen des Gesetzesverfassers, wird heute kaum mehr vertreten. Vorgestellt wird daher die von K. Larenz und C.-W. Canaris begründete gemischt-objektive Theorie, die im Grundsatz von einer objektiven Betrachtungsweise ausgeht. Diese Ansicht hat sich weitestgehend gegenüber einer streng objektiven Sichtweise durchgesetzt. An den Stellen, an denen diese gemischt-objektive Theorie von einer reinen objektiven Theorie abweicht, wird dies in Fußnoten vermerkt. 154 Mit ihrem Standardwerk „Methodenlehre der Rechtswissenschaft“. Eine ausführliche Darstellung der Methoden von Karl Larenz findet sich bei Frassek in: Methode und Zivilrecht bei Karl Larenz (1903-1993), 2012, 213, 213 ff.; Rüthers, JZ 2011, 593, 593 ff. und zu C.-W. Canaris von Seinecke in: Methode und Zivilrecht bei ClausWilhelm Canaris (geb. 1937), 2012, 350, 350 ff. 155 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 71 ff., 133 ff., 187 ff. In Anlehnung an die Formel vom „Willen des Gesetzgebers“ (subjektive Theorie) wird in bewusster Abgrenzung auch vom „Willen des Gesetzes“ gesprochen, Schmitt, Gesetz und Urteil, S. 27 ff. 156 Günter Hirsch, Der Richter im Spannungsverhältnis von Erster und Dritter Gewalt, abgedruckt in: DIE ZEIT Nr. 41/2003, teilweise bei Rüthers, JZ 2006, 53, 57. 157 Es geht um die Erschließung des dem Gesetz selbst innewohnenden Sinns, wobei der innewohnende Sinn etwas gegenwärtig Aktuelles ist, was nach den Anforderungen der jeweiligen Zeit zu begreifen ist (daher auch „Theorie der immanenten Gesetzesdeutung“), Larenz, Methodenlehre, S. 316 ff., 319; Weber, Grenzen, S. 23. Dem Zweckgedanken zum Durchbruch verhalf R. Jhering, der erkennt, dass der Maßstab des Rechts nicht die Wahrheit, sondern die Richtigkeit als Maßstab des Praktischen und des Handelns ist; dazu Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 32.
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Rechtsvorstellungen und Ausdrucksmöglichkeiten seiner Zeit anknüpfe.158 Entscheidend seien aber letztlich objektive Zwecke und Sachzwänge.159 Sei es dem Gesetzgeber nämlich nicht gelungen, das Gewollte zutreffend zu formulieren, unterlag er Irrtümern oder Fehlvorstellungen oder habe der Alterungsprozess eines Gesetzes zur nunmehr fehlenden Vereinbarkeit des Gesetzgeberwillens mit den aktuellen Wertvorstellungen oder Bedürfnissen des heutigen Rechtsverkehrs geführt, so könne vom subjektiven Willen des historischen Gesetzgebers abgewichen werden.160 Dies gelte insbesondere, wenn die historische Auslegung im Widerspruch zu heutigen Verfassungsgrundsätzen oder anerkannten Rechtsprinzipien stehe.161 In diesem Fall gelte das Wort G. Radbruchs und des BVerfG, dass das Gesetz klüger sein könne als der Gesetzgeber.162 (2) Die Auslegungskriterien, insbesondere die objektiv-teleologischen Kriterien Die wesentlichen Instrumente zur Gesetzesanwendung sind die Auslegungskriterien. Zur Ermittlung des normativen Gesetzessinnes werden von den Vertretern der objektiven Theorie die (leicht abgewandelten) Ausle158
Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 139; Hirsch, JZ 2007, 853, 855. Insofern vertreten K. Larenz und C.-W. Canaris keine reine Form der objektiven Theorie, sondern versuchen zwischen subjektiver und objektiver Ansicht zu vermitteln. Ziel der Auslegung bleibt aber letztlich der normative Gesetzessinn, und dabei liegt diese Theorie nahe einer rein objektiven Sichtweise. 160 Looschelders/Roth, Juristische Methoden, S. 233 f., 258; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 245 ff., 251; Schulze, DRiZ 1997, 369, 375; Hirsch, JZ 2007, 853, 855; Hirsch, ZRP 2006, 161, 161: „Normen sind statisch, formuliert vor dem Erkenntnishorizont des historischen Gesetzgebers, das Leben aber fließt. Die technische und medizinische Entwicklung ist rasant, die Verrechtlichung immer weiterer Bereiche schreitet fort, gesellschaftliche und moralische Wertungen verändern sich. Auf all diese Wandlungen muss das Recht reagieren. Adressat des Gebots, angemessene rechtliche Regeln zur Verfügung zu stellen, ist zwar primär der Gesetzgeber. Der kann und soll jedoch nicht jeweils kurzatmig und anlassbezogen tätig werden. Es sind die Richter, die dem ‚ehernen‘ Gesetz seine jeweils individuell angemessene Geltung in der Lebens- und Rechtswirklichkeit zu verschaffen haben. Andererseits haben die Richter das Primat des - im Gegensatz zu ihnen demokratisch unmittelbar legitimierten – Gesetzgebers zu respektieren. Zwischen diesen Kräftefeldern entstehen Spannungen.“ Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch das „französische Pendant“ zur objektiven Interpretationsmethode (dazu Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 33 f.) mit Ermittlung des hypothetischen Willens des Gesetzgebers. Der (reale) historische Wille des Gesetzgebers wird dort offen umgedeutet im Sinne der Erfordernisse der Anwendungszeit. Der Rechtsanwender stellt sich die Frage, wie der Gesetzgeber eine gesetzliche Regelung heute gestalten würde und beantwortet diese unter Rückgriff auf allgemeine gesetzgeberische Ziele oder Prinzipien. 161 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 139. 162 BVerfGE 36, 342, 362; vgl. auch Foerste, JZ 2007, 122, 124 m.w.N.; Hirsch, JZ 2007, 853, 855. 159
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gungskriterien nach F. C. von Savigny163, namentlich der Wortsinn, der Bedeutungszusammenhang (Systematik), die genetische und historische Auslegung164 sowie die Auslegung nach Sinn und Zweck des Gesetzes herangezogen.165 Diese „klassischen“ Auslegungskriterien werden ergänzt durch die sog. objektiv-teleologischen Kriterien. Nach K. Larenz und C.-W. Canaris gibt es zwei Gruppen objektiv-teleologischer Kriterien. Zum einen handelt es sich um „die Strukturen des geregelten Sachbereichs, tatsächliche Gegebenheiten, an denen auch der Gesetzgeber nichts ändern kann, die er vernünftigerweise bei jeder Regelung mit berücksichtigt; zum anderen um die rechtsethischen Prinzipien, die hinter einer Regelung stehen, in denen der Sinnbezug einer solchen auf die Rechtsidee faßbar, aussprechbar wird.“166 In ersterem Fall gehe es vor allem um das Gebot, eine der Sache angemessene Regelung zu ermitteln.167 In letzterem Fall gehe es um objektive Zwecke des Rechts, vor allem den Gedanken der Gerechtigkeit und der Gleichbehandlung. Eine unterschiedliche Bewertung wertungsmäßig gleichgelagerter Tatbestände sei ein Wertungswiderspruch und damit ein Verstoß gegen das Gleichheitsgebot. Diese Wertungswidersprüche gelte es, wenn möglich, zu vermeiden. Dazu diene die Ausrichtung an über die Einzelregelungen hinausgehende rechtsethische Prinzipien, beispielsweise dem Prinzip des Vertrauensschutzes.168 Daraus ergeben sich letztlich drei Charakteristika bei objektiv-teleologischen Kriterien: Erstens orientieren sie sich an einer sachgemäßen Regelung und damit letztlich an einem praktischen Argument. Zweitens erfolgt eine Orientierung an höherrangigen Prinzipien, um Widersprüchen in den Wertungen der Einzelnormen zu begegnen. Ein drittes Charakteristikum sei, dass es nicht darauf ankomme, „daß sich der Gesetzgeber ihrer Bedeutung für die von ihm geschaffene Regelung immer bewußt gewesen ist“169. Es sei daher nicht von Belang, ob in den Gesetzesmaterialien auf 163 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts Bd. I, S. 212 ff. Vgl. Bydlinski, Methodenlehre, S. 436 ff.; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 35 ff. 164 Von genetischer Auslegung wird im Folgenden dann gesprochen, wenn es um die Entstehung des auszulegenden Gesetzes geht, insbesondere die Normvorstellungen des Gesetzgebers, niedergelegt in den Gesetzesmaterialien. Bei der historischen Auslegung handelt es sich um den Vergleich der ursprünglichen Regelungen zur neuen Vorschrift, vgl. Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, S. 364, Rn. 360 ff. 165 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 141 - 153; Canaris in: FS Medicus, 1999, 25, 33 m.w.N. in Fn. 16; Bydlinski, Methodenlehre, S. 436 ff.; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 35 ff.; Gern, VerwArch 1989, 415, 417. 166 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 154. 167 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 154. 168 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 155 ff. 169 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 154.
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diese Kriterien Bezug genommen werde, sondern es handele sich um Kriterien, die stets bei der Rechtsfindung zu berücksichtigen seien. Sie können so zur Überwindung des subjektiven Gesetzgeberwillens führen, wenn sich ein anderer, vernünftigerer und damit objektiver Zweck des Gesetzes feststellen lässt.170 (3) Das Vorgehen bei der Gesetzesanwendung Der nationale Richter sucht bei der Gesetzesanwendung zunächst nach diesen Auslegungskriterien. Nach den Vertretern der objektiven Theorie ist grundsätzlich kein Auslegungskriterium einem anderen vorrangig (a), es erfolgt also eine Abwägung aller Kriterien. Ausnahmsweise kann dennoch eine Rangfolge der Auslegungskriterien entstehen, wenn eine sog. interpretatorische Vorrangregel eingreift (b). Dann müsse der Rechtsanwender ein konkretes Kriterium berücksichtigen, ohne auf das Gewicht der anderen Kriterien einzugehen. (a) Grundsatz: Keine Rangfolge der Auslegungskriterien Nach den Vertretern einer objektiven Theorie ist unter den Auslegungskriterien Wortsinn, Bedeutungszusammenhang des Gesetzes sowie Historie und Telos grundsätzlich keines einem anderen vorrangig, sondern alle finden im Rechtsanwendungsprozess zunächst gleichrangig Beachtung.171 Dennoch ist eine gedankliche Prüfungs- bzw. Stufenfolge auszumachen, nach der der Prozess der Rechts- und Gesetzesanwendung verläuft172: Der Wortlaut hat eine besondere Stellung. Der äußerste mögliche Wortsinn des Gesetzestextes bildet den Ausgangspunkt173 und zugleich die Grenze der Auslegung.174 Das heißt, in einem ersten Schritt wird der 170
Das Gesetz reißt sich also vom Gesetzgeber los; so schon Thöl, Einleitung, S. 150. Canaris in: FS Medicus, 1999, 25, 33, 59; Canaris in: FS Kramer, 2004, 141, 144; Lutter, JZ 1992, 593, 596; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 534, nach denen die „Auslegungsargumente außerhalb der Reichweite fester Vorrangregeln gemäß der Methode des beweglichen Systems je nach Zahl und Gewicht zu bewerten sind.“; Canaris, JZ 1987, 543, 545 f.; Bydlinski, Methodenlehre, S. 555; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 50 f.;Gern, VerwArch 1989, 415, 436; wohl auch schon Savigny, System des heutigen Römischen Rechts/ Bd. I, S. 206, 215. Andere Ansicht wohl Larenz, Methodenlehre, S. 343 ff. Vgl. dazu auch Seinecke in: Methode und Zivilrecht bei ClausWilhelm Canaris (geb. 1937), 2012, 350, 354 ff. 172 Ähnlich Looschelders/Roth, Juristische Methoden, S. 192 ff. 173 Canaris in: FS Medicus, 1999, 25, 40; Coing/Honsell in: Staudinger BGB, Einleitung zum BGB, Rn. 141; Witt, NJW 2006, 3322, 3323; Staake in: What Are We Looking for? – The Aim of Legal Interpretation, 2011, 31, 36; Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 14, 15; Lutter, JZ 1992, 593, 595 m.w.N.; Gern, VerwArch 1989, 415, 433. 174 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 187; Looschelders/Roth, JZ 1995, 1034, 1044; Engisch, Einführung, S. 101 f.; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 39; Grundmann/ 171
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sprachliche Sinn des Gesetzestextes ermittelt (grammatische und systematische Interpretation). Nur wenn sich im Ergebnis ein Auslegungsergebnis einstellt, das im Rahmen des möglichen Wortsinnes liegt, sprechen die Objektivisten von Auslegung. Das rein formale Kriterium des Wortlauts bzw. noch möglichen Wortsinns grenzt so die Auslegung von einer weitergehenden Rechtsfortbildung ab. Außerhalb des Wortlauts handelt es sich nach objektiver Begrifflichkeit um Rechtsfortbildung.175 Aber „Gesetzesauslegung und richterliche Rechtsfortbildung dürfen nicht als wesensverschieden angesehen werden, sondern nur als voneinander verschiedene Stufen desselben gedanklichen Verfahrens“.176 Ein noch größeres Gewicht als dem Wortlaut komme den teleologischen Gesichtspunkten zu.177 Dies zeigt sich auch daran, dass teilweise gefordert wird, bei großem Gewicht einer Stufe stets eine „teleologische Plausibilitätskontrolle“178 durchzuführen, das heißt, das Ergebnis sei gegen den Einwand der Unvernünftigkeit abzusichern.179 Beispielsweise solle bei einem eindeutigen Wortlaut noch eine solche Kontrolle durchgeführt werden. Wenn diese aber die Richtigkeit des gefundenen Auslegungsergebnisses bestätige, müsse niemand die Richtigkeit des Auslegungsergebnisses noch durch die Entstehungsgeschichte erhärten. 180 Demzufolge wird dem
Riesenhuber, JuS 2001, 529, 535; Depenheuer, Wortlaut als Grenze, S. 41; Witt, NJW 2006, 3322, 3323. Nachweise zur gegenteiligen Auffassung bei Schiffauer, Wortbedeutung, S. 36 ff. 175 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 163 f. 176 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 187 f. 177 BVerfGE 1, 299, 312; 11, 126, 130 f.; Canaris in: FS Medicus, 1999, 25, 58; Canaris in: FS Schmidt, 2006, 41, 45; Canaris, JZ 1987, 543, 549; Coing/Honsell in: Staudinger BGB, Einleitung zum BGB, Einl. Rn. 151. 178 Canaris in: FS Medicus, 1999, 25, 33 f. 179 Canaris in: FS Medicus, 1999, 25, 37; dazu gehöre insbesondere auch der Nachweis, dass keine untragbaren Wertungswidersprüche entstehen. Siehe dazu auch Seinecke in: Methode und Zivilrecht bei Claus-Wilhelm Canaris (geb. 1937), 2012, 350, 356. 180 Canaris in: FS Medicus, 1999, 25, 33 f. Ähnlich Looschelders/Roth, Juristische Methoden, S. 193 und Bydlinski, Methodenlehre, S. 558 ff., die aber eine „subsidiäre Stufenfolge“ bevorzugen. Auf die jeweils nächste Stufe müsse nur insoweit zurückgegriffen werden, wie die vorherige Stufe kein eindeutiges Ergebnis erbringe. Später schränken Looschelders/Roth, Juristische Methoden, S. 193 dies jedoch ein: „Da das Ziel des Rechtsanwenders in der möglichsten Minimierung von Unsicherheit über die Richtigkeit der Normauslegung liegen muss, sollte er den Prozess der Auslegung auch dann „zur Sicherheit“ bis zu seiner letzten Stufe durchführen, wenn das Ergebnis der Auslegung ihm schon auf den vorausgehenden Stufen eindeutig erscheint. Denn die auf den späteren Auslegungsstufen gewonnenen Erkenntnisse mögen Zweifel daran erwecken, ob das Ergebnis der früheren Stufen wirklich so zwingend ist, wie es den Anschein haben mag.“ S. dazu auch Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 534.
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systematischen und dem historischen Argument das geringste Gewicht zugemessen.181 Wenn so auch eine gewisse Gewichtung der Auslegungskriterien im Rahmen der Abwägung erfolgt, besteht zumindest im Grundsatz ein Gleichrang der Auslegungskriterien untereinander. (b) Ausnahme: Vorliegen einer interpretatorischen Vorrangregel Ausnahmsweise wird dieser Gleichrang der Auslegungskriterien durch das Vorliegen einer interpretatorischen Vorrangregel durchbrochen. (i) Die Unterscheidung von Abwägungslösung und interpretatorischer Vorrangregel Lassen sich auf den Stufen der Auslegung keine eindeutigen Ergebnisse erzielen oder stehen sich mehrere Kriterien konträr gegenüber, ist nach objektiver Sichtweise die bereits beschriebene Lösung im Rahmen der Abwägung der verschiedenen Kriterien zu suchen.182 Im Fall der Abwägungslösung sei das Zusammenspiel der Kriterien je nach Zahl und Stärke entscheidend, um so eine Abstufung zu erreichen.183 Nach Abwägung der für- und widersprechenden Argumente stelle sich heraus, welches der Argumente höhere Überzeugungskraft habe.184 Allerdings sei eine solche Abwägungslösung nicht in jedem Fall möglich und zulässig.185 Greife nämlich eine so genannte interpretatorische Vorrangregel ein, sei diese vorrangig.186 Eine interpretatorische Vorrangregel liege vor, wenn schon aufgrund einer abstrakten Regel feststehe, dass eines der Auslegungskriterien Vorrang vor den übrigen habe.187 Diese Vorrangart betrifft also nicht das Rangverhältnis zweier (oder mehrerer) Rechtsnormen zueinander, sondern – eine Stufe darunter – die Kriterien zur Auslegung von Rechtsnormen. Inter181
Canaris in: FS Schmidt, 2006, 41, 45; Canaris, JZ 1987, 543, 549. Andere Ansicht: Looschelders/Roth, Juristische Methoden, S. 193 f. 182 Canaris in: FS Medicus, 1999, 25, 58. 183 Canaris in: FS Medicus, 1999, 25, 59: C.-W. Canaris spricht von „Prinzipien” statt Regeln; Looschelders/Roth, Juristische Methoden, S. 196; BGHZ 46, 74, 76; 49, 221, 223; Larenz, Methodenlehre, S. 319, 328, 343 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 140, 149, 163 ff.; Stern, Staatsrecht I, S. 126. Vgl. auch schon Savigny, System des heutigen Römischen Rechts/ Bd. I, S. 215: „Es sind also nicht vier Arten der Auslegung, unter denen man nach Geschmack und Belieben wählen könnte, sondern es sind verschiedene Thätigkeiten, die vereinigt wirken müssen, wenn die Auslegung gelingen soll.“ 184 Canaris in: FS Medicus, 1999, 25, 49; Canaris in: FS Kramer, 2004, 141, 143 f. 185 Canaris in: FS Medicus, 1999, 25, 49. 186 Canaris in: FS Kramer, 2004, 141, 145. 187 Canaris in: FS Medicus, 1999, 25, 60; Canaris in: FS Kramer, 2004, 141, 145; vgl. auch Canaris in: FS Schmidt, 2006, 41, 46 f.
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pretatorische Vorrangregeln sind der Abstufung, Gewichtung oder Abwägung weder bedürftig, noch zugänglich. Die Vorrangregel gilt entweder und ist dann anwendbar, oder sie gilt nicht und ist für die Auflösung einer Kollision der Auslegungskriterien ohne Belang. 188 Die Vorrangregel schneidet sogar die Abwägung mit den übrigen Auslegungskriterien grundsätzlich von vornherein ab, indem sie diese auch dann überflüssig und gegenstandslos macht, wenn sie zu demselben Ergebnis führen würden, also es gar nicht zu einem Konflikt der Abwägungskriterien käme.189 Aufgrund dieser Intensität der Vorrangregeln – andere Auslegungskriterien werden schließlich nicht beachtet – bedürfen sie einer besonderen Begründung für ihr Vorliegen.190 Diese werden im Folgenden im Zusammenhang mit der jeweiligen Vorrangregel dargestellt. Ist eine interpretatorische Vorrangregel einschlägig, bestimmt diese gleichzeitig die Grenzen des Möglichen und Zulässigen bei der Gesetzesanwendung. Außerhalb der Auslegungsergebnisse der interpretatorischen Vorrangregel wird die Grenze zum unzulässigen Contra-legem-Judizieren überschritten.191 Ist also eine interpretatorische Vorrangregel einschlägig, sind alle entgegenstehenden Auslegungsergebnisse zu verwerfen und damit contra legem. Die verschiedenen interpretatorischen Vorrangregeln markieren also gleichzeitig die Contra-legem-Grenze. (ii) Die interpretatorischen Vorrangregeln und ihre Stufung Wann eine interpretatorische Vorrangregel und damit – negativ gewendet – für entgegenstehende Auslegungsergebnisse ein unzulässiges Contralegem-Judizieren vorliegt, ist im Einzelnen strittig. Dennoch muss die Problematik bereits im nationalen Recht genau untersucht werden, denn für diese Arbeit ist es später von Bedeutung, ob beispielsweise auch die Richtlinie eine Vorrangregel begründen kann und welche Grenzen gegebenenfalls bestehen. Eine ausdrückliche Stufenfolge unter den Vorrangregeln wird von den Vertretern der objektiven Theorie nicht gebildet. Vergleichbar mit der Gewichtung im Rahmen der Auslegung können m.E. auch hier drei Ebenen auseinander gehalten werden, in denen eine Vorrangregel greifen kann: der Wortsinn einer Norm (aa), die (historische) Regelungsabsicht des Gesetzgebers (bb) sowie der „objektive Normzweck“ (cc).
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Canaris in: FS Medicus, 1999, 25, 59; Canaris in: FS Kramer, 2004, 141, 145. Canaris in: FS Kramer, 2004, 141, 145, ähnlich Canaris in: FS Schmidt, 2006, 41, Canaris in: FS Medicus, 1999, 25, 60. Zum Ganzen Canaris in: FS Schmidt, 2006, 41, 46.
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(aa) Vorrangregel auf der ersten Stufe: Der eindeutige Wortlaut Ob der Wortlaut eine interpretatorische Vorrangregel begründen kann, wenn er eindeutig ist192, ist streitig.193 Für den Vorrang eines eindeutigen Wortlauts wird mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen argumentiert, insbesondere mit Vertrauensschutz und Rechtssicherheit. Der Wortlaut stelle den vom Gesetzgebungsorgan erlassenen und verkündeten Gesetzestext dar. Die in der Norm zum Ausdruck kommenden Anordnungen des Gesetzgebers träten nach der Ausgestaltung des Gesetzgebungsverfahrens nur in dem Maße und Umfang in Kraft, als sie im Bundesgesetzblatt verkündet worden seien, Art. 82 I 1 GG. Nur insoweit könnten sie einen Vertrauenstatbestand bilden194, denn juristische Laien könnten an einem positiven gesetzten Gesetzestext relativ leicht die Frage der Bedeutung des Textes erschließen.195 Der Wortlaut sei damit für die Normadressaten verbindlich und eine Orientierung daran führe zu mehr Rechtssicherheit. Die herrschende Meinung geht deshalb davon aus, dass ein Vorrang des Wortlauts zumindest dann besteht, wenn über den Wortlaut mangels Auslegungsspielraum und Lücke nicht hinwegzukommen ist196, beispielsweise wenn die Norm konkrete Zahlen oder Daten nennt. Dies solle auch der Fall sein, „wo die gesetzgeberische Normvorstellung in Widerspruch zum Gesetzeswortlaut steht und bei verständiger Betrachtung niemand eine entgegenstehende Regelungsabsicht erwarten würde.“197 Wertungswidersprüche müssten dann, bis zur Grenze des Verstoßes gegen
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Der Satz, dass im Falle eines eindeutigen Wortlauts die Auslegung einer Norm ausscheidet, stammt aus dem Römischen Recht: „Cum in verbis nulla ambiguitas est, non debet admitti voluntatis quaestio“, Paulus, Dig. 32, 25, 1. 193 Dafür: BVerfGE 3, 331, 351; 8, 34; 54, 299; 59, 330, 334; 93, 37, 81; BGH NJW 1956, 1553; BGH NJW 2004, 154, 155; BGH 18.1.2005, XI ZR 54/04; Urteil vom 14.10 2003 WM 2003, 2328, 2331; Hirsch Zeit Nr. 41/2003; Hirsch in FAZ vom 20.4.2007, S. 8; Larenz, Methodenlehre, S. 340; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 379 f.; Rüffler, ÖJZ 1997, 121, 126 m.w.N.; Hochleitner/Wolf, WM 2002, 529, 532; Grundmann/ Riesenhuber, JuS 2001, 529, 534, solche Fälle seien allerdings „praktisch selten und dürfen nicht zur Verschleierung von Auslegungsfragen behauptet werden“; wohl auch Heiderhoff in: Interpretation, 2011, 101, 109. Dagegen: Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 141 f.; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtlehre, S. 615; Schnorbus, AcP 201 (2001), S. 860, 883; zumindest bei normativen Begriffen auch Gebauer, AnwBl 2007, 314, 319. 194 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 378 m.w.N. Vgl. auch Gern, VerwArch 1989, 415, 434, 436. 195 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 378. 196 Canaris in: FS Medicus, 1999, 25, 57; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 182; Krey, JZ 1978, 361, 362. 197 Neuner, Rechtsfindung contra legem, S. 114. Nach ihm trägt derjenige die Argumentationslast, der gegen den klaren Wortlaut des Gesetzes judizieren will, s. S. 115 m.w.N.
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Art. 3 I GG, hingenommen werden.198 Eine Rechtsprechung, die sich über einen eindeutigen Wortlaut hinwegsetzte, wäre contra legem.199 Tatsächlich kann es Fälle geben, in denen der Wortlaut eindeutig ist und der Adressat daher in seinem objektiven Verständnis geschützt werden muss. Nichtsdestoweniger ist stets genau zu untersuchen, ob der Wortlaut tatsächlich derart eindeutig ist, bevor man einen interpretatorischen Vorrang des Wortlauts annimmt. Die übrigen Auslegungskriterien geraten in diesem Fall nämlich gar nicht in den Blick, sodass mit der Feststellung der Eindeutigkeit des Wortlauts sparsam umgegangen werden sollte. Durch das Abstellen auf den vermeintlich eindeutigen Wortlaut wird die Möglichkeit des Diskurses über die Norm abgeschnitten und durch das Formalargument der Eindeutigkeit ersetzt.200 Außerdem lässt sich gegen das Postulat der Eindeutigkeit eines Gesetzes anführen, dass der Befund, dass etwas eindeutig ist, notwendigerweise eine vorherige Auslegung voraussetzt. Denn die Feststellung der Eindeutigkeit ist immer erst das Ergebnis der Auslegung.201 Der mögliche Wortsinn ist vage und durch die Möglichkeit technischer Festlegung und Definition des Wortsinns manipulierbar.202 Von einer eindeutigen Bedeutung kann man in der Regel nur in einem bestimmten Kontext sprechen.203 Demnach gibt es „keine – als positivrechtlich charakterisierbare – Methode, nach der von mehreren sprachlichen Bedeutungen einer Norm nur die eine als richtig ausgezeichnet werden könnte.“204 Probleme kann der Vorrang eines eindeutigen Wortlauts auch bereiten, wenn beispielsweise eine Legaldefinition aus einem Gesetzeszusammenhang herausgerissen und in einen anderen Kontext gestellt wird.205 Eine „eindeutige“ Definition kann im anderen Kontext etwas Gegenteiliges bedeuten.206 Außerdem müssen offensichtliche Redaktionsversehen des
198
Canaris in: FS Medicus, 1999, 25, 57. Vgl. Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtlehre, S. 615. S. auch Pötters/Christensen, JZ 2011, 387, 392, die aber die Wortlautgrenze nicht als Ergebnis der grammatikalischen Auslegung verstehen, sondern als „umfassend ausgelegte[n] Wortlaut, eingebettet in die übrigen Auslegungscanones“. 200 Möllers/Möhring, JZ 2008, 919, 922 m.w.N.; Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 146. 201 Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 146; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), S. 1, 11; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 333 m.w.N. in Fn. 76, 77; Möllers/Möhring, JZ 2008, 919, 921; Lutter, JZ 1992, 593, 595; Pötters/Christensen, JZ 2011, 387, 391 f. 202 Kriele, Rechtsgewinnung, S. 223; Depenheuer, Wortlaut als Grenze, S. 38 f. 203 Möllers, JZ 2009, 668, 669. 204 Klecatsky, Die Wiener rechtstheoretische Schule: ausgewählte Schriften von Hans Kelsen, Adolf Julius Merkl und Alfred Verdross, Bd. II, S. 1116. 205 Möllers/Möhring, JZ 2008, 919, 922. 206 Gern, VerwArch 1989, 415, 416. 199
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Gesetzgebers korrigiert werden.207 Würde man hier die Eindeutigkeitsregel anwenden, würde man, entgegen eines möglicherweise sogar eindeutig feststellbaren Regelungswillens des Gesetzgebers, der Norm ein anderes Gewicht beimessen. Damit wird letztlich der Gesetzgeberwille konterkariert, was nicht nur dem Gewaltenteilungsprinzip, sondern auch dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip zuwiderläuft. Schließlich kann sich der Sprachgebrauch wandeln208, sodass im Laufe der Zeit mehrere Deutungsmöglichkeiten hinzutreten, wobei unklar bleibt, auf welche „eindeutige“ Regel es nunmehr ankommen soll. Nach alldem lässt sich festhalten, dass dem Wortlaut in der Regel kein Vorrang vor den übrigen Auslegungskriterien zukommt.209 Der eindeutige Wortlaut wird als Grenze regelmäßig nur dann greifen, wenn konkret nachgewiesen werden kann, dass ein verständiger Leser nach dem Gesetzestext nicht von einer entgegenstehenden Regelungsabsicht ausgehen konnte. Dieser Nachweis ist aber unter Beachtung der aufgeführten Kritik schwer zu führen. Er wird in der Regel nur bei eindeutigen Zahlen und Daten im Tatbestand der Norm gelingen, beispielsweise bei Fristenregelungen wie in § 622 BGB. Insgesamt hilft letztlich nur der übergeordnete Gedanke der praktischen Konkordanz: Je größer das Vertrauen des Normadressaten in die Rechtsnorm ist, desto mehr muss der Wortlaut als Grenze berücksichtigt werden. Anhand des Differenzierungskriteriums der Eindeutigkeit gilt also: je eindeutiger der Wortlaut der Norm ist, desto eher kann der Wortlaut eine Grenze darstellen. Ist der Wortlaut nicht eindeutig, muss anhand weiterer Auslegungskriterien210 untersucht werden, welche der verschiedenen Deutungsmöglichkeiten im Ergebnis die durchschlagendste ist. (bb) Vorrangregeln auf der zweiten Stufe: Das Doppelkriterium (historische) Regelungsabsicht des Gesetzgebers und Wortsinn Führt die erste Stufe der Ermittlung des Wortlauts nicht zu einem eindeutigen Ergebnis, ist der Wortsinn also mehrdeutig, wird auf die gesetzgeberischen Zweckvorstellungen als mögliches Auslegungskriterium zurückgegriffen.211 Nach den Vertretern einer (gemischt-)objektiven Theorie greife dann eine Vorrangregel ein, wenn die (historische) Regelungs- und Wertentscheidung des Gesetzgebers eindeutig sei, nicht aber, wenn sie nur unklar, unkonkret, vage oder veraltet sei.212 Veraltet sei die Norm, wenn sie 207
Möllers/Möhring, JZ 2008, 919, 922. Möllers/Möhring, JZ 2008, 919, 922. 209 Bydlinski in: FS Canaris, 1998, 27, 33 ff. 210 In Betracht kommt die Möglichkeit der Anwendung einer weiteren interpretatorischen Vorrangregel (dazu sogleich) oder der Rückgriff auf die Abwägungslösung. 211 Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 182. 212 Neuner, Rechtsfindung contra legem, S. 112 ff. 208
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im Laufe der Zeit einem gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, technischen oder rechtlichen Wandel unterlag und damit die gesetzgeberische Regelungsentscheidung obsolet geworden sei oder sich grundlegend verändert habe. Es könne dann zum Anwendungszeitpunkt der Norm nicht mehr von einer aktuellen gesetzgeberischen Wertentscheidung ausgegangen werden. Für einen solchen Fall fehle dann eine (aktuelle) gesetzgeberische Bewertung und der Richter könne vom ursprünglichen Willen des Gesetzgebers abweichen.213 Könne aber durch Hinzuziehen von Gesetzesmaterialien, vor allem der amtlichen Protokolle214, zweifelsfrei eine noch aktuelle Regelungsabsicht oder Wertentscheidung215 erschlossen werden, so sei diese als Auslegungskriterium zu berücksichtigen. Der genetischen Auslegung komme umso mehr Gewicht zu, je jünger die Vorschrift sei.216 Liegt aber eine eindeutige und aktuelle gesetzgeberische Wertentscheidung vor, stellt sich im Anschluss die Frage nach dem Grad der Berücksichtigung von Regelungs- und Wertentscheidung des historischen Gesetzgebers. Ist der historische Regelungs- und Wertungsplan anderen Auslegungskriterien in dem Maße vorrangig, dass ein Rückgriff auf die übrigen Kriterien unzulässig ist, d.h. handelt es sich um eine interpretatorische Vorrangregel oder ist die Regelungsentscheidung des Gesetzgebers lediglich eines unter mehreren Abwägungskriterien? Die Antwort hängt nach den Vertretern einer objektiven Theorie davon ab, ob sich die ermittelte gesetzgeberische Wertentscheidung mit dem noch möglichen äußersten Wortsinn der Norm vereinbaren lässt oder nicht: (aaa) Gesetzgeberische Regelungsentscheidung und Wortsinn decken sich Ist die ermittelte gesetzgeberische Regelungs- bzw. Wertentscheidung mit dem Wortsinn der Norm vereinbar, wird ein interpretatorischer Vorrang der Kriterien angenommen.217 Das heißt, ohne Rücksicht auf andere me213
Coing/Honsell in: Staudinger BGB, Einleitung zum BGB, 136 f.; vgl. Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 291 f. 214 Stellungnahmen einzelner Abgeordneter in kontrovers geführten Diskussionen genügen nicht, s. dazu Kramer, Methodenlehre, S. 103 ff. 215 Maßgeblich seien Regelungsabsicht und Zweckvorstellungen des historischen Gesetzgebers, nicht aber die Vorstelllungen der Gesetzesverfasser vom Inhalt der Norm. Bloße Vorstellungen der Gesetzesverfasser vom Inhalt der Norm seien zwar als Auslegungskriterium relevant und demgemäß im Rahmen einer etwaigen Abwägungslösung zu berücksichtigen, als solche jedoch nicht verbindlich, so Canaris in: FS Medicus, 1999, 25, 51 m.w.N. 216 Coing/Honsell in: Staudinger BGB, Einleitung zum BGB, Rn. 136. 217 BVerfGE 101, 312, 319; BGH NJW 2006, 3200, 3201; BAG NJW 2006, 3161, 3164; Canaris in: FS Medicus, 1999, 25, 51, 55; Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 91 ff.; Bydlinski in: FS Canaris, 1998, 27, 47. Ausnahmsweise soll diese Vorrangregel dann nicht greifen, wenn sich ein tiefgreifender Wandel der gesetzlichen Wertungen oder
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thodische Kriterien sei wegen eines ansonsten vorliegenden Verstoßes gegen die Gesetzesbindung des Art. 20 III GG eine Rechts- und Gesetzesanwendung unzulässig, wenn deren Ergebnis gegen den „(insoweit) eindeutigen Wortlaut des (als Einzelnorm und im systematischen Zusammenhang verstandenen) Gesetzes und gegen die damit übereinstimmende, aus anderen Grundlagen erkennbare Absicht (Zwecksetzung, Wertentscheidung) des Gesetzgebers (objektiv: gegen den Gesetzeszweck) verstößt.“218, 219 Das bedeute, dass sich der Rechtsanwender nicht über das im Gleichlauf von grammatischer und genetischer Auslegung gefundene Ergebnis unter Berufung auf „objektiv-teleologische“ Kriterien hinwegsetzen könne.220 Tue er dies dennoch, läge ein Verstoß gegen Art. 20 III GG vor. Die beiden Kriterien Wortlaut und historischer Normzweck bilden damit nach den Vertretern der (gemischt-)objektiven Theorie die beiden konstituierenden Elemente eines Gesetzes und markieren zugleich den Bereich, bei dessen Überschreiten contra legem judiziert wird.221 Damit sei es – wie auch die höchstrichterliche Rechtsprechung stets betont – mit der Bindung an Recht und Gesetz unvereinbar, gegen den Wortlaut und den
der geregelten Sachlage ereignet hat, sowie bei Entstehen von untragbaren Wertungswidersprüchen, Canaris in: FS Medicus, 1999, 25, 55 in Fn. 78. In Österreich und Italien existieren hierfür sogar Methodennormen. § 6 ABGB lautet: „Einem Gesetze darf in der Anwendung kein anderer Verstand beygelegt werden, als welcher aus der eigenthumlichen Bedeutung der Worte in ihrem Zusammenhange und aus der klaren Absicht des Gesetzgebers hervorleuchtet.“ Art. 12 der Allgemeinen Vorbestimmungen zum italienischen Codice civile lautet: „Nell’applicare la legge non si può ad essa attribuire altro senso che quello fatto palese dal significato proprio delle parole secondo la connessione di esse, e dalla intenzione del legislatore.“ Zu Methodennormen in kontinentaleuropäischen Kodifikationen s. Wendehorst, RabelsZ 75 (2011), S. 730, 730 ff. 218 Bydlinski in: FS Canaris, 1998, 27, 47. Vgl. auch Sperber, ZJS 2009, 429, 432. 219 Entscheidend ist also, dass die Regelungsentscheidung sich eindeutig ergibt und mit einer Wortlautauslegung übereinstimmt. Der Wortlaut kann daher auch mehrdeutig sein (ansonsten würde ohnehin eine Vorrangregel auf erster Stufe eingreifen). Dazu BVerfGE 122, 248 ff., Rn. 100: „Die Eindeutigkeit der im Wege der Auslegung gewonnenen gesetzgeberischen Grundentscheidung wird nicht notwendig dadurch relativiert, dass der Wortlaut der einschlägigen Norm auch andere Deutungsmöglichkeiten eröffnet, soweit diese Deutungen offensichtlich eher fern liegen oder von der ganz überwiegenden Praxis zu keinem Zeitpunkt ernsthaft erwogen worden sind. Andernfalls wäre es für den Gesetzgeber angesichts der Schwierigkeit, textlich Eindeutigkeit herzustellen, nahezu unmöglich, sein Regelungsanliegen gegenüber der Rechtsprechung über einen längeren Zeitraum durchzusetzen.“ 220 Canaris in: FS Medicus, 1999, 25, 39, der allerdings noch eine "teleologische Plausibilitätskontrolle" durchführen will; Bydlinski, Methodenlehre, S. 568 f. 221 Canaris in: FS Kramer, 2004, 141, 158 f.; Canaris in: FS Schmidt, 2006, 41, 56. So auch Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 92, 94; Canaris, Lücken, S. 37.
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eindeutig erklärten Willen des Gesetzgebers zu judizieren.222 Ziel und Aufgabe der Gesetzgebung sei nämlich die Setzung von Zwecken bzw. die Verwirklichung von Werten. Diese Entscheidung müsse der Gesetzgeber aber auch formulieren, also in eine sprachliche Form gießen.223 Das „‚Gesetz‘ ist ja nicht bloß ein in bestimmter Weise behandelter (beschlossener und kundgemachter) Text, sondern dieser als Ausdruck eines dahinterstehenden menschlichen Willens. Gesetz ist aber auch nicht eine bloße, etwa aus Beratungen im Gesetzgebungsverfahren entnehmbare, aber im Gesetz nicht ausgedrückte Absicht. Gesetz ist vielmehr die Einheit von menschlichem Willen als Substanz und von Text als Form des Gesetzes. Diese Einheit, nicht aber das eine oder andere Teilelement, sind für den Rechtsadressaten und damit auch für den Richter schlechthin bindend. Die Teilelemente allein sind es trotz schon je für sich bestehender rechtlicher und insb. methodischer Relevanz nicht.“224 Legitimiert wird die Vorrangregel von Wortsinn und historischer Regelungs- und Wertungsentscheidung mit verfassungsrechtlichen Überlegungen. Gem. Art. 20 III GG sei der Richter an Gesetz und Recht gebunden sowie nach Art. 97 GG nur dem Gesetz unterworfen. Aus staatstheoretischer Sicht bestehe der Sinn und Zweck dieser richterlichen Gesetzesbindung in der Verwirklichung des demokratisch legitimierten Willens des Gesetzgebers.225 Die Aufgabenteilung zwischen erster und dritter Gewalt sei entsprechend: Die Legislative erlasse die Gesetze; die Judikative habe diese auf den konkreten Einzelfall anzuwenden. Ihr komme damit nur eine Kontrollfunktion bzgl. der Gesetze zu, nicht aber eine Ersetzungsfunktion.226 Dies zeige sich auch in der Beschränkung der Richtermacht durch Art. 100 GG.227 Der Richter habe also grundsätzlich den vollen Willen des Gesetzgebers zur Geltung zu bringen. Dies gelte umso mehr, wenn er sich dabei auf den verkündeten Gesetzestext, der das Vertrauen der Adressaten genießt, stützen könne.
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BVerfGE 65, 182, 193; 96, 375, 398. Vgl. auch Schürnbrand, JZ 2007, 910, 916 m.w.N. in Fn. 78; Grosche/Höft, NJOZ 2009, 2294, 2304 f.; Bydlinski in: FS Canaris, 1998, 27, 47; Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 92 m.w.N. in Fn. 200. 223 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 92 m.w.N. 224 Bydlinski in: FS Canaris, 1998, 27, 47. Ähnlich Gusy, JuS 1983, 189, 194 mit Anm. 37. 225 Neuner, Rechtsfindung contra legem, S. 112, 85 ff. 226 Vgl. BVerfGE 122, 248 ff., Rn. 103. Dazu auch Neuner, Rechtsfindung contra legem, S. 113 m.w.N. in Fn. 145. 227 Vgl. Krey, JZ 1978, 361, 363.
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(bbb) Die wesentliche Umstrukturierung einer Norm, insbesondere ihre Reduktion „auf Null“ Aufgrund der Anerkennung des Vorrangs von Wortsinn und gesetzgeberischer Regelungsabsicht lässt sich als Unterfall der Vorrangregel auf zweiter Stufe eine weitere negative Vorrangregel formulieren. Eine Gesetzesanwendung einer Norm, die dazu führe, dass der normative Gehalt der auszulegenden Norm grundlegend neu bestimmt oder das gesetzgeberische Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlt werde, sei unzulässig.228 Beispielsweise dürfe nicht der Lauf einer Frist abweichend von der gesetzlichen Regelung bestimmt oder ein Tatbestandsmerkmal durch ein anderes ersetzt werden.229 Mit anderen Worten: Eine Reduktion einer Norm dürfe nur ein minus, nicht aber ein aliud hervorbringen.230 Ebenso wenig dürfe einer Norm ihre wesentliche und vom Gesetzgeber gewollte praktische Bedeutung genommen werden.231 Ein solcher Fall jeglichen Verlusts von praktischer Anwendungsmöglichkeit komme der Derogation einer Norm gleich. Eine solche Derogation einer Norm sei aber dem Gesetzgeber vorbehalten und gehöre damit nicht zum methodischen Repertoire der Rechtsprechung.232 (ccc) Keine Vorrangregel bei fehlender Kongruenz von (historischer) Regelungsabsicht bzw. Wertentscheidung und Wortsinn Fraglich ist, ob eine Vorrangregel auch für die Rechtsfortbildung greift (dazu ausführlich sogleich), d.h. ob auch außerhalb des Wortsinns der Norm die Regelungsentscheidung bzw. Wertentscheidung des Gesetzgebers Vorrang genießt.233 228 Insbesondere für die verfassungskonforme Auslegung und Rechtsfortbildung: BVerfGE 8, 28, 34; 35, 263, 280; 54, 277, 299; 71, 81, 105; Canaris in: FS Schmidt, 2006, 41, 56; Looschelders/Roth, JZ 1995, 1034, 1044; Sperber, ZJS 2009, 429, 432. 229 Canaris in: FS Schmidt, 2006, 41, 56 m.w.N.. Für den Richtlinienbereich dazu auch Hochleitner/Wolf, WM 2002, 529, 533 f. 230 Canaris in: FS Kramer, 2004, 141, 159; Canaris in: FS Schmidt, 2006, 41, 56 f. 231 BVerfG 18, 97, 111; Canaris in: FS Schmidt, 2006, 41, 57; Canaris in: FS Kramer, 2004, 141, 159. 232 Schürnbrand, JZ 2007, 910, 916; Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 94. 233 Auf die kaum mehr vertretene streng objektive Theorie, nach der eine Gesetzesanwendung außerhalb des äußersten möglichen Wortsinns positiver Gesetzesvorschriften unzulässig und contra legem ist, kann hier nicht näher eingegangen werden. Nachweise bei Bydlinski in: FS Canaris, 1998, 27, 34 in Fn. 22. Nach dieser Theorie wären viele Rechtsfortbildungsvorgänge als contra legem ausgeschlossen, beispielsweise Analogie und teleologische Reduktion. Ein solch weitgehender Ausschluss der Rechtsfortbildungstätigkeit des Richters ist aber vom Gesetzgeber nachweislich nicht gewollt (dies ergibt sich beispielsweise aus einem Umkehrschluss aus Art. 103 II GG), Bydlinski in: FS Canaris, 1998, 27, 35; Bydlinski, Methodenlehre, S. 570; Raisch, Juristische Methoden,
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C.-W. Canaris äußert sich zu dieser Frage wie folgt: „die Zweckvorstellung des Gesetzgebers vermag für sich allein überhaupt nichts zu bewirken, sondern muss zusätzlich einer Äußerung in der dafür vorgesehenen, also textuellen Form – sei es auch nur andeutungsweise, bruchstückhaft oder mittelbar – zu entnehmen sein, und daher führt die gewisse Relativierung des möglichen Wortsinns als Abgrenzungskriterium, die in dem Erfordernis seiner vorgängigen Auslegung und dem in diesem Zusammenhang meist unerlässlichen Rückgriff auf den Zweck des Gesetzes liegt, nicht etwa dazu, dass sich die lex-lata-Grenze nun immer nur nach dem Zweck des Gesetzes richtet und der Wortlaut dafür gänzlich irrelevant wird.“234
Bei F. Bydlinski heißt es ähnlich: Eine „nur den Materialien zur Entstehungsgeschichte eines Gesetzes entnehmbare, aber in keinem autoritativ beschlossenen und verkündeten Gesetz formulierte Regelungsabsicht (ist) keine ‚lex‘ [...]. Sprechen könnte man insoweit, streng genommen, nur von einer Rechtsfindung contra rationem legis. Das ist offensichtlich etwas anderes. Wenn eine bestimmte mögliche und erwogene Regelung aufgrund eines entsprechenden Entschlusses bewusst unterlassen wurde, ist das mit einer tatsächlich erlassenen Gesetzesregel desselben negativen Inhaltes keineswegs gleichzusetzen! Es fehlt ja an einer von der Gesetzgebungsinstanz formell beschlossenen und kundgemachten Vorschrift. Das ist schon wegen der Voraussetzungen eines geregelten Gesetzgebungsverfahrens und wegen der Rechtssicherheitsfunktion des kundgemachten Gesetzestextes sehr wesentlich.“235
Mit anderen Worten liegt nach den Vertretern der objektiven Theorie eine interpretatorische Vorrangregel nur bei einem Gleichlauf von Wortsinn und Zweckvorstellung des Gesetzgebers vor. Findet die Regelungsabsicht der Gesetzesverfasser keinen Rückhalt im Wortlaut, begründet sie keine Vorrangregel. Dennoch ist sie nicht gänzlich unbeachtlich, sondern stellt ein Abwägungselement dar, das in den Auslegungsprozess einzubeziehen ist, wenn keine Vorrangregel greift.236 Bei fehlender Kongruenz von Wortsinn und Regelungsabsicht des Gesetzgebers liegt also keine interpretatorische Vorrangregel vor. (cc) Vorrangregel auf dritter Stufe: Vorrang objektiv-teleologischer Kriterien? Würde eine Vorrangregel von objektiv-teleologischen Kriterien greifen, dann wäre ein Ergebnis im Einklang mit einem solchen Kriterium vorrangig. Nur die Vorrangregeln auf erster und zweiter Stufe (d.h. ein eindeutiger Wortlaut bzw. die im Wortsinn verankerte Regelungsentscheidung des Gesetzgebers) gingen dieser Vorrangregel auf dritter Stufe vor. Die VertreS. 151 f.; Canaris, 1999 #1010@ 51 f.}; weiterführende Argumente bei Bydlinski in: FS Canaris, 1998, 27, 34 ff. 234 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 95. 235 Bydlinski in: FS Canaris, 1998, 27, 50. 236 Canaris in: FS Medicus, 1999, 25, 55.
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ter der objektiven Theorie gehen von solch einer interpretatorischen Vorrangregel insbesondere für die verfassungskonforme Auslegung aus. Gerade die Wertungen der objektiven Theorien zur verfassungskonformen Rechtsfindung scheinen hier besonders interessant, scheint eine Übertragung auf die Richtlinie aufgrund der ebenfalls bestehenden Höherrangigkeit des Konformmaßstabes naheliegend. (aaa) Objektiv-teleologische Kriterien und Wortsinn decken sich Ein Vorrang des objektiv-teleologischen Kriteriums der Verfassungskonformität wird im Rahmen des Wortsinns (verfassungskonforme Auslegung) regelmäßig bejaht.237 Mit Hilfe des Lex-superior-Grundsatzes und des Grundsatzes der Normerhaltung (Favor-legis-Gedanke) wird das Prinzip der Konformität mit der Verfassung auf höherer Ebene angesiedelt, sodass ihm nicht nur ein größeres Gewicht, sondern ein qualitativ anderer Rang zukomme.238 Nach dem Stufenbau der Rechtsordnung können höherrangige Normen niederrangige derogieren, sodass Letztere bei der Rechtsanwendung außer Acht zu lassen sind. Um die „harte“ Nichtigkeitserklärung der Norm durch das Bundesverfassungsgericht (Art. 100 I GG, §§ 78, 82 BVerfGG) zu vermeiden, wird die „weichere“ Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung vorgezogen.239 Diese führt dann zum Ausschluss der Auslegungsvarianten, die zu einem Verstoß der nationalen Norm gegen die Verfassung führen. So diene die verfassungskonforme Auslegung gleichzeitig der Herstellung der Einheit der Rechtsordnung durch Beseitigung von Kollisionen rangverschiedener Normen.240 Da aber die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung grundsätzlich auch durch die Kassation der rangniederen Norm hergestellt werden kann, bedürfe es einer weiteren Begründung zur Legitimation der verfassungskonformen Auslegung.241 Diese wird in
237 Canaris in: FS Schmidt, 2006, 41, 48, 49; für eine bloße Abwägungslösung Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, s. S. 130, Rn. 100. Eine Aufwertung nimmt auch das BVerfG vor, indem es von einer Vermutung der Verfassungskonformität von Gesetzen ausgeht, BVerfG 2, 266, 282; 7, 198; 8, 210, 220; 9, 338, 350 und öfter. Die Aufwertung erfolgt hier allerdings bereits auf der zweiten Ebene im Rahmen des Regelungswillens des Gesetzgebers, indem davon ausgegangen wird, dass der einfache Gesetzgeber eine verfassungskonforme Norm schaffen wollte. Dieser Begründungsansatz wurde in der Literatur stark kritisiert. Zur Kritik s. Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 184 ff. m.w.N. 238 Canaris in: FS Schmidt, 2006, 41, 48 mit dem Beispiel des Satzes„lex superior derogat legi generali“. 239 Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 229. 240 Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 189 f. m.w.N. 241 Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 190 f.
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dem Gedanken der Normerhaltung (favor legis) gesehen.242 Gemäß Art. 20 III GG sei der Richter an „Gesetz und Recht“, mithin an die Vorgaben der Legislative, gebunden. Der Respekt gegenüber dem Normgeber verlange nun, dass die Normen möglichst aufrechtzuerhalten und die vollständige Normverwerfung nur als ultima ratio zu gebrauchen sei.243 Grenze der verfassungskonformen Auslegung sei allerdings das Verbot contra legem zu judizieren, die vollständige Derogation der Norm oder ihre wesentliche Umstrukturierung.244 Da die richtlinienkonforme Auslegung durch die Rechtsfindung contra legem begrenzt sei, greife sie erst als Vorrangregel dritter Stufe ein. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Verfassungskonformität als Ausprägung der Grundsätze von lex superior und favor legis als objektiv-teleologisches Kriterium anerkannt ist. Dieses objektiv-teleologische Kriterium hat im Rahmen des Wortsinns Vorrang vor den übrigen Auslegungskriterien. (bbb) Objektiv-teleologische Kriterien und Wortsinn decken sich nicht Fraglich ist, ob dem objektiv-teleologischen Kriterium der Verfassungskonformität auch außerhalb des Wortsinns der Norm (verfassungskonforme Rechtsfortbildung) Vorrang im Sinne einer interpretatorischen Vorrangregel zukommen kann. Bei C.-W. Canaris heißt es hierzu: „Richtig erscheint demgegenüber, den verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht lediglich ein höheres Gewicht im Rahmen einer Gesamtabwägung mit den übrigen – auf der Ebene des einfachen Rechts liegenden – Argumenten zuzubilligen, sondern von einer strikten interpretatorischen Vorrangregel auszugehen, bei der eine solche Abwägung unterbleibt und lediglich zu prüfen ist, ob die verfassungskonforme Lösung mit dem einfachen Recht interpretatorisch überhaupt vereinbar ist oder ob insoweit die – noch zu präzisierenden – Grenzen einer möglichen Auslegung und Rechtsfortbildung überschritten sind.“245
Als Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung und Rechtsfortbildung werden im Folgenden das Verbot des Contra-legem-Judizierens, die Unzulässigkeit der wesentlichen Umstrukturierung einer Norm sowie die Unzulässigkeit der Reduktion auf Null genannt.246 242 BVerfGE 86, 288, 320; 90, 263, 275; 110, 226, 267; Canaris in: FS Kramer, 2004, 141, 148 ff.; Canaris in: FS Schmidt, 2006, 41, 42 f.; Lüdemann, JuS 2004, 27, 29; Zippelius, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz: Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd. II, S. 110 f. 243 BVerfGE 68, 337, 344; 85, 329, 333 f.; Lüdemann, JuS 2004, 27, 29. 244 Canaris in: FS Kramer, 2004, 141, 158; Looschelders/Roth, JZ 1995, 1034, 1044; Vgl. auch Canaris in: FS Schmidt, 2006, 41, 56 f. 245 Canaris in: FS Schmidt, 2006, 41, 48. 246 Canaris in: FS Schmidt, 2006, 41, 56 f.
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Dementsprechend scheint C.-W. Canaris davon auszugehen, dass auch der verfassungskonformen Rechtsfortbildung ein interpretatorischer Vorrang auf dritter Stufe zukommt. Klarer formuliert er dies noch für die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung, auf die er aber im Zusammenhang mit der verfassungskonformen Rechtsfortbildung eingeht: „[Es gibt] kein auch nur ansatzweise nachvollziehbares Argument dafür […], die Mitwirkung der Rechtsprechung bei der Durchsetzung von Richtlinien ausgerechnet an der – bekanntlich ohnehin heiklen – Grenze des ‚möglichen Wortsinns‘ enden zu lassen.“ 247
b) Die Rechtsfortbildung nach der gemischt-objektiven Theorie Auch wenn bereits im Rahmen der Vorrangregeln auf zweiter und dritter Stufe teilweise auf die Rechtsfindung außerhalb des Wortlauts, die nach gemischt-objektiver Theorie mit dem Terminus der Rechtsfortbildung belegt ist, eingegangen wurde, folgt diese gesonderten Regeln. Aufgrund dieser besonderen Regeln wird hier ein eigenes Kapitel erforderlich. Die Rechtsfortbildung beginnt nach den Vertretern der gemischtobjektiven Theorie mit Verlassen des möglichen Wortsinns einer Norm. Die Grenze des Wortlauts dürfe nämlich die systemkonforme Gesetzesund Rechtsanwendung nicht begrenzen, solle diese nicht zu einer „öden Buchstabenjurisprudenz“248 verkümmern. Der Rechtsanwender dürfe sich nicht mit den äußeren Anzeichen, wie Wortlaut und äußere Systematik begnügen, sondern müsse versuchen, den Regelungszweck zu ermitteln und ihn falls möglich im Rahmen der zulässigen Rechtsanwendung verwirklichen.249 Der Wortlaut bilde zwar die formale Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung; beide Methoden seien aber nur zwei „voneinander verschiedene Stufen desselben gedanklichen Verfahrens“250 und damit beide zulässig.
247
Canaris in: FS Schmidt, 2006, 41, 52. Canaris in: FS Medicus, 1999, 25, 34. 249 Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 534. 250 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 187. Auf S. 188 heißt es außerdem: „Die Auslegung vermag sich daher gleichsam bruchlos in der Lückenergänzung als der ersten Stufe einer dem Subjekt auch als solcher bewussten, in diesem Sinne offenen Rechtsfortbildung fortzusetzen. So kann es nicht verwundern, dass weithin dieselben Kriterien, die bei der Auslegung eine Rolle spielen, insbesondere die Regelungsabsicht und die Zwecke des Gesetzgebers und die objektiv-teleologischen Kriterien, auch für die Ausfüllung der Gesetzeslücken von maßgebender Bedeutung sind. Auf diese Weise kann sich die Auslegung gleichsam bruchlos in der offenen Rechtsfortbildung fortsetzen.“ Nettesheim, AöR 1994, 261, 264 beschreibt Auslegung und Rechtsfortbildung als „Gegenpole einer linearen Skala, deren innere Ordnung das Ausmaß bildet, mit dem der subjektive Verständnisakt vor dem Hintergrund der Sprachkonvention in der Auslegungsgemeinschaft konsensfähig ist.“ 248
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Die Rechtsfortbildung außerhalb des Wortlauts einer Norm erfordert eine besondere Rechtfertigung, weil die Gerichte durch die Rechtsfortbildung in den Kompetenzbereich der Legislative eingreifen251, indem sie neues Recht für einen konkreten Einzelfall finden (und eben nicht nur bestehende Normen interpretieren). Durch die Rechtsfortbildung wird der subjektive Gesetzgeberwille zurückgedrängt und die Entscheidung des Richters an seine Stelle gesetzt. Zudem kann eine richterliche Rechtsfortbildung regelmäßig nicht im Vorhinein vom Rechtsunterworfenen erkannt werden, sodass sein Vertrauen in den Gesetzestext erschüttert wird.252 Als Voraussetzung für die Rechtsfortbildung gilt daher ganz überwiegend das Vorliegen einer Gesetzeslücke.253 Eine Gesetzeslücke wird nach gemischtobjektiver Theorie definiert als planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes gemessen am Maßstab der gesamten geltenden Rechtsordnung.254 Er251
Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 535. Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 535. 253 Zurückgehend auf Canaris, Lücken, S. 39 und passim. 254 Der Begriff der „planwidrigen Unvollständigkeit“ stammt von Elze, Lücken, S. 17 ff. und wurde aufgegriffen v.a. durch Canaris, Lücken, S. 39; Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 82. Die Rechtsprechung ist dem weitgehend gefolgt: BVerfGE 34, 269, 289 ff; 65, 182, 191 f.; 82, 6, 12 f.; JZ 1990, 811 ff.; BGH NJW 2007, 992, 993 f.; BGHZ 149, 165, 174; BGH ZIP 1988, 1188, 1190. Aber auch in der Literatur hat diese Definition weitgehend Zustimmung gefunden: Kramer, Methodenlehre, S. 137; Larenz, Methodenlehre, S. 370; Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 514 f., Rn. 832; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 913; Schwintowski, Juristische Methodenlehre, S. 83; Hochleitner/Wolf, WM 2002, 529, 533; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 412. Für die Analogie ebenso Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 194; für „weiter reichende Rechtsfortbildung“ soll nach ihm hingegen der Begriff der „Regelungsnotwendigkeit“ verwendet werden. Für Österreich Bydlinski, Methodenlehre, S. 473. Am Lückenbegriff ist kritisiert worden, dass nicht allein das Vorliegen einer Gesetzeslücke über die Zulässigkeit der richterlichen Rechtsfortbildung entscheiden könne, sondern vielmehr die verfassungsrechtliche Kompetenzabgrenzung zwischen Legislative und Judikative maßgeblich sei (so vor allem Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 254: „Genau betrachtet ist „Lücke“ ein zweistelliger Relationsbegriff, der mit der Einsetzung von Gesetz auf der einen Seite noch gar nicht verständlich ist. Es bedarf der Einsetzung einer zum Vergleich herangezogenen Ordnung auf der anderen Seite, auf die hin die Lückenhaftigkeit des Gesetzes überhaupt nur festgestellt werden kann. Im Streit über die einzusetzenden Ordnung aber ist, wenn die Feststellung der Lücke zugleich über die Ausfüllungsmöglichkeit durch Richterrecht befinden soll, die gesamte verfassungstheoretische Problematik der Kompetenzabgrenzung zwischen Gesetzgeber und Richter aufzurollen, sodass sich die Lückenproblematik als eine überflüssige Station auf dem Weg zur Lösung der verfassungstheoretischen Kompetenzfrage erweist.“. Kritisch aber auch Wank, Grenzen, S. 70: Der Lücke verstanden als planwidrige Unvollständigkeit des positiven Rechts „scheint die Vorstellung einer prästabilierten Harmonie des positiven Rechts zugrundezuliegen, als gelte es nur, den verborgenen, unausgesprochenen Plan des positiven Rechts ans Licht zu führen. Der so enthüllte Plan ergibt dann, ob Abhilfe möglich ist oder nicht. Soweit diese Darstellung zugleich eine Beschreibung des tatsächlichen Vorgehens wiedergeben soll, 252
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forderlich ist somit erstens die bloße Tatsachenfeststellung, dass eine Unvollständigkeit des Gesetzes vorliegt (a), zweitens das Urteil, dass etwas vorhanden sein sollte, damit die Unvollständigkeit also „planwidrig“ ist (b). (1) Die Unvollständigkeit des Gesetzes Dem Merkmal der Unvollständigkeit wird von den Objektivisten regelmäßig wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Von der Unvollständigkeit des Gesetzes wird dann gesprochen, wenn das Gesetz eine vom Rechtsanwender gewünschte Anordnung nach seinem Wortlaut nicht enthält.255 Als derart formales und beliebiges, die subjektiven Interessen oder moralischen bzw. rechtspolitischen Maßstäbe des Rechtsanwenders widerspiegelndes Kriterium soll das Fehlen einer entsprechenden gesetzlichen Anordnung allein nicht zur Rechtsfortbildung berechtigen.256 Damit dient das Kriterium der Unvollständigkeit lediglich der Abgrenzung von Auslegung und Rechtsfortbildung.257 Diese Abgrenzung erfolgt, wie bereits oben erläutert, anhand des Wortlauts. Mit anderen Worten bildet nach objektiver Theorie der noch mögliche Wortsinn die Grenze der Auslegung.258 Außerhalb des Wortlauts beginnt die Rechtsfortbildung.
ist sie nicht zutreffend. Tatsächlicher Ausgangspunkt ist stets, dass der Interpret einen Mangel empfindet.“; Müller in: Richterrecht - rechtstheoretisch formuliert, 1986, 65, 71 ff.: „Die Beteuerung, eine Rechtsordnung könne nie lückenlos sein, und deshalb müsse der Richter Lücken schließen, ist in sich widersprüchlich. Das Hinnehmen dieses Widerspruchs dürfte sich aus dem genannten krypto-positivistischen Missverständnis erklären; aus dem abschreckend kläglichen Bild eines unselbständig subsumierenden, automatenhaft anwendenden Richters, dem es ‚ein enger Gesetzespositivismus‘ auferlegt, ‚richterliche Tätigkeit‘ im Normalfall, das heißt außerhalb der Fälle von Richterrecht, ‚nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers‘ bestehen zu lassen.“ Andere Ansicht Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, S. 208 ff., Rn. 455 ff., 461 f., 475. 255 Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 40; Gebauer, AnwBl 2007, 314, 318; Krieger, Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, S. 37; Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 82. 256 Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 40; Gebauer, AnwBl 2007, 314, 318. 257 Canaris, Lücken, S. 19, 21; Canaris in: FS Kramer, 2004, 141, 155; Kramer, Methodenlehre, S. 39 ff., 131 f.; Bydlinski, Methodenlehre, S. 467 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 143 f. 258 S. oben Teil 1, B.II.1.a)(3)(a), S. 44 ff.; s. auch Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 38.
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(2) Das Merkmal der Planwidrigkeit Neben der Feststellung der Unvollständigkeit setzt das Vorliegen einer Lücke deshalb weiterhin die Planwidrigkeit dieser Unvollständigkeit des Gesetzes voraus.259 Im Gegensatz zum Merkmal der Unvollständigkeit, das lediglich der Abgrenzung zur Auslegung dient (innere Grenze), ist das Vorliegen der Planwidrigkeit von entscheidender Bedeutung. Für dieses Kriterium gibt es verschiedene Definitionsversuche, die man als positive (a) und negative (b) kategorisieren kann. (a) Die positive Bestimmung: Der Maßstab für die Rechtsfortbildung Da das Kriterium der Unvollständigkeit allein als formales Kriterium als unzureichend angesehen wird, die Rechtsfortbildung zu legitimieren, wird mit dem Merkmal der Planwidrigkeit ein zweiter, rechtsinterner Maßstab bzw. Bezugspunkt herangezogen. Diesen Maßstab bilde nach überwiegender Auffassung der Plan der Gesamtrechtsordnung (weiter Lückenbegriff).260 Unter Gesamtrechtsordnung wird das gesamte geltende Recht, also mehr als nur der Bereich der einfachgesetzlichen Normierungen, verstanden. Er umfasse die dem Gesetz immanente Teleologie261, aber auch Rechtssätze des Verfassungsrechts und die teils geschriebenen, teils ungeschriebenen Rechtsprinzipien.262 Ein Beispiel eines solchen Rechtsprinzips ist der Gleichheitssatz, der regelmäßig bei der analogen Anwendung von Normen eine Rolle spielt. Die so definierte Gesamtrechtsordnung stelle nun den rechtsinternen, verobjektivierten und aktuellen „Plan“ des Gesetzgebers bereit; dieser „Plan“ umfasse auch die objektiv-teleologischen Kriterien. Ziel dieses weiten Lückenbegriffs sei es, „solche Rechtsfortbildungen in den Lückenbegriff einzubeziehen, die sich zwar nicht mehr mit hinreichender Überzeugungskraft auf das Gesetz stützen lassen, aber andererseits auch nicht im Widerspruch zu diesem stehen und zugleich durch spe259
Grundlegend Canaris, Lücken, S. 39. So der weite Lückenbegriff: Canaris, Lücken, S. 34 ff., 39; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 246 f.; ähnlich: Bydlinski, Methodenlehre, S. 473; Koller/Hager, Einheit und Folgerichtigkeit, S. 71; Koller, Theorie des Rechts, S. 227, 230 (Abschnitt b); Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 412 , 419 f.; ähnlich BVerfGE 34, 269, 287; 49, 304, 321; 65, 182, 191, 193; 82, 6, 12 f.; wohl auch Gebauer, AnwBl 2007, 314, 318. Andere Ansicht: enger Lückenbegriff: Larenz, Methodenlehre, S. 368, 375 ff., 426 f.. Für den ganz herrschenden, weiten Lückenbegriff wird angeführt, dass der Richter nach Art. 20 III GG nicht nur an „Gesetz“, sondern auch an „Recht“ gebunden sei (nichtpositivistischer Rechtsbegriff). Demgemäß solle auch die Rechtsfindung sich nicht am Gesetz allein, sondern an der Gesamtrechtsordnung orientieren (Canaris, Lücken, S. 37; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 413; Krey, JZ 1978, 361, 365). 261 Canaris, Lücken, S. 34, § 23. 262 Krey, JZ 1978, 361, 365; Canaris, Lücken, S. 31 ff., 38 f., 55, 93, 197; Rüthers, unbegrenzte Auslegung, S. 438; wohl auch Engisch, Einführung, S. 135 ff. 260
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zifisch rechtliche – aber eben außergesetzliche – Werte und Prinzipien legitimiert werden“.263 Fehle daher dem Gesetz eine Regelung, die im Hinblick auf die Gesamtrechtsordnung notwendig erscheine, bestehe eine (aus der Sicht der Gesamtrechtsordnung) planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes, die durch eine Rechtsfortbildung zu schließen sei. Der Maßstab für die richterliche Rechtsfortbildung wird damit sehr weit gezogen; die Bereitschaft, das Gesetz als lückenhaft zu betrachten, erhöht sich.264 Eine Lücke kann nur dann nicht festgestellt werden, wenn die Judikative rechtsexterne oder nicht mehr aktuelle Wertungen des Gesetzgebers heranzieht. Mit Hilfe des Kriteriums der Planwidrigkeit kann die „Lücke“ funktional von einem bloßen rechtspolitischen „Fehler“ abgegrenzt werden.265 Während das Schließen einer „Lücke“ durch den Rechtsanwender grundsätzlich zulässig sei, gelte die Korrektur eines „Fehlers“ hingegen als unzulässig.266 Bei Letzterem richte sich der Rechtsanwender nach einem außerhalb des Gesetzes liegenden, externen Maßstabes, z.B. Religion, Weltanschauung oder persönliches Gerechtigkeitsempfinden, was mit der Bindung an „Gesetz und Recht“ unvereinbar sei.267 Eine Lücke hingegen liege dann vor, wenn das Gesetz nach rechtsinternen Maßstäben unvollständig sei.268 (b) Die negative Bestimmung: Die Contra-legem-Grenze Eine negative Umschreibung des Begriffs der Planwidrigkeit kann auch durch den Contra-legem-Begriff erfolgen. Unter einem Contra-legemJudizieren versteht man eine unzulässige Rechtsfortbildung. 269 Probleme ergeben sich aber aufgrund der Begrifflichkeit. Je nachdem wie man den Terminus lex definiert, ergibt sich eine unterschiedliche Betrachtungswei263
Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 84; der als Beispiele die culpa in contrahendo und die Lehre von der Geschäftsgrundlage nennt, die vor der Schuldrechtsmodernisierung nur ansatzweise im BGB Niederschlag gefunden hatten, aber durch Vertrauens- und Äquivalenzprinzip legitimiert sind. 264 Frassek in: Methode und Zivilrecht bei Karl Larenz (1903-1993), 2012, 213, 219. 265 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 83; Bydlinski, Methodenlehre, S. 473; Larenz/ Canaris, Methodenlehre, S. 195; Kramer, Methodenlehre, S. 138; Krey, JZ 1978, 361, 364; Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 41. 266 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 83. 267 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 83; Canaris, Lücken, S. 32 f., § 21. 268 Ähnlich Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 83. 269 So Bydlinski in: FS Canaris, 1998, 27, 33: „Alles und jedes wird vertreten“; Neuner, Rechtsfindung contra legem, S. 1: „der Terminus ‚Rechtsfindung contra legem‘ gehört wohl zu den schillerndsten Begriffen der juristischen Methodenlehre“; Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 290: „diese [Contra-legem-]Grenze [wird] aber bereits bei der autonom-national induzierten Rechtsgewinnung unterschiedlich verstanden.“.
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se. Die Vertreter der subjektiven Gesetzes- und Rechtsanwendungstheorie verstehen unter dem Begriff die bloße Regelungs- und Wertentscheidung des (historischen) Gesetzgebers270, wohingegen die Vertreter der objektiven Theorie die geschriebene Norm, aber auch die wertorientierte Homogenität und Vollständigkeit der Rechtsordnung insgesamt unter den Begriff des Gesetzes fassen.271 Somit ist die Begriffsdefinition letztlich abhängig von der methodischen Grundsatzentscheidung zwischen objektiver und subjektiver Theorie. Der Begriff contra legem beschreibt jedenfalls die Grenze der zulässigen Rechtsfortbildung und damit das Merkmal der Planwidrigkeit in einem negativen Sinne. Was in den Contra-legem-Bereich fällt, kann nicht als Maßstab bzw. Bezugspunkt der Rechtsfortbildung herangezogen werden. Nur in seltenen Ausnahmefällen darf diese weite Contra-legem-Grenze überschritten werden; in der Regel wird als Beispiel der Rechtsnotstand genannt.272 Unabhängig von dieser Terminologie wird jedenfalls mit dem Begriff des Contra-legem-Judizierens versucht, außerhalb (des weit verstandenen Begriffs) der Gesamtrechtsordnung liegende Wertungen als Bewertungsmaßstab auszusondern.273 Die Grenze zwischen gesetzesergänzender Lückenfüllung und unzulässigem Contra-legem-Judizieren ist daher dann überschritten, wenn der Richter den Bereich von „Gesetz und Recht“ verlässt und rechtexterne Werte aufgreift.274 Ein kaum herausgearbeiteter Zusammenhang besteht zwischen dem Contra-legem-Begriff und den herausgearbeiteten interpretatorischen Vorrangregeln, auf den an dieser Stelle noch hingewiesen werden soll. Sofern eine interpretatorische Vorrangregel greift, versperrt sie den Zugang auf andere Auslegungskriterien und eine Gesamtabwägung aller Auslegungskriterien (deshalb ist sie Vorrangregel). Ist beispielsweise der Wortlaut eindeutig, wird der Zugriff auf Regelungsabsicht, systematische und teleologische Argumentation gesperrt, wenn weder ein Auslegungsspielraum noch eine Lücke vorliegt und kein verständiger Betrachter eine entgegenstehende Regelungsabsicht erwarten würde. Die Contra-legem-Grenze ist folglich dann erreicht, wenn ein derart eindeutiger Gesetzeswortlaut durch entgegenstehende Gesetzesanwendung anhand anderer Auslegungskriterien überschritten wird. Ebenso ist auch der Wille des (historischen) Gesetzge270
Dazu siehe unten Teil 1, B.II.2.a)(2), S. 67 ff. Hirsch, JZ 2007, 853, 855. 272 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 251 f.; Naber, JuS 2007, 614, 615. 273 Canaris, Lücken, S. 31, 33 f.; Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 41. 274 Krey, JZ 1978, 361, 365; Canaris, Lücken, s. S. 31 ff., 37; Göldner, Verfassungsprinzip, S. 79; Gebauer, AnwBl 2007, 314, 318. 271
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bers dann im Sinne einer interpretatorischen Vorrangregel maßgeblich, wenn er zweifelsfrei feststellbar und aktuell ist und außerdem mit dem noch möglichen Wortsinn einer Norm vereinbar ist. Die Contra-legemGrenze ist umgekehrt also dann erreicht, wenn gegen einen eindeutigen, noch aktuellen Gesetzgeberwillen judiziert wird, der sich in einer gesetzlichen Anordnung manifestiert hat. Die Contra-legem-Grenze ist aber auch dann erreicht, wenn durch eine Rechtsfortbildung die Norm derart wesentlich umstrukturiert wird, dass das gesetzgeberische Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlt wird oder die Norm keinen praktischen Anwendungsbereich mehr hat. Schließlich kann auch eine Vorrangregel auf dritter Stufe zugunsten objektiv-teleologischer Kriterien greifen, wenn diese innerhalb des möglichen Wortsinns liegen. Contra legem wird damit dann judiziert, wenn sich trotz Auffindens von höherrangigen objektiv-teleologischen Prinzipien und Wertungen und der Verwirklichungsmöglichkeit des Prinzips im Rahmen des möglichen Wortsinns, das von dem Prinzip geforderte Ergebnis nicht vorrangig im Rechtsanwendungsergebnis niederschlägt. Greift also eine Vorrangregel ein, ist ein entgegenstehendes Ergebnis contra legem. Außerdem versperrt die jeweils vorhergehende Stufe der Vorrangregel den Rückgriff auf die nächste Stufe der Vorrangregeln. c) Die Stufen der Interpretation von Gesetzen nach der gemischtobjektiven Theorie Aus dem Vorangegangenen werden von den Vertretern der gemischtobjektiven Theorie schließlich drei Schritte bei der Rechts- und Gesetzesanwendung aufgezeigt, die zudem zur Unterscheidung von drei verschiedenen Arten der Gesetzesanwendung führen: Auf erster Stufe stehe die Auslegung der Rechtsnorm innerhalb des möglichen Wortsinns der Norm (Gesetzesanwendung innerhalb des Gesetzes, also intra legem).275 Zunächst sei dabei auf die dargestellten Vorrangregeln zu rekurrieren.276 Liege eine dieser Vorrangregeln vor, sei ein Rückgriff auf die nicht von der Vorrangregel in Bezug genommenen Kriterien unzulässig. Lasse sich keine Vorrangregel finden, erfolge die Auslegung 275 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 187. Den Begriff der Rechtsprechung „intra legem“ als Abgrenzung zur Rechtsprechung „praeter legem“ und „contra legem“ verwendet auch Gusy, DÖV 1992, 461, 463. Nach C. Gusy ist Rechtsprechung intra legem das Alltagsgeschäft aller Gerichte: „Wer einen abstrakten Rechtsbegriff auf einen konkreten Fall anwenden will und nach seiner ‚Bedeutung‘ in diesem Fall fragt; wer einen unbestimmten Rechtsbegriff operationalisierbar macht oder Regeln für die Ausübung eines bestimmten, gesetzlich eingeräumten Ermessens aufstellt, wendet Recht an. Intra legem findet diese Operation statt, soweit sie im Rahmen des Tatbestands der angewandten Norm geschieht, also der zu entscheidende Einzelfall begründungsmäßig auf das angewandte Recht zurückgeführt werden kann.“ 276 S. oben Teil 1, B.II.1.a)(3)(b)(ii), S. 47 ff.
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im Rahmen einer Gesamtabwägung von allen klassischen Auslegungskriterien. Liege das Auslegungsergebnis dann noch im Bereich des möglichen Wortsinns, dann handele es sich methodisch-technisch um Auslegung. Außerhalb des noch möglichen Wortsinns komme nur eine Rechtsfortbildung in Betracht. Sei das Gesetz gemessen am Plan des Gesetzes (enger Lückenbegriff) planwidrig unvollständig und folglich lückenhaft, sei zunächst zu versuchen, diese Lücke mit Hilfe der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung anhand gesetzlicher Wertungen zu schließen (Rechtsfortbildung „neben“ dem Gesetz bzw. mit Hilfe des Gesetzes, also praeter legem). Die gesetzesimmanente Rechtsfortbildung beachte nur diejenigen Kriterien, die sich aus der Teleologie des Gesetzes bzw. seiner immanenten Regelungsabsicht ergeben.277 Die bestehenden Lücken könnten im Fall der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung durch Analogie geschlossen werden278; bei überschüssigen Regelungen könne durch teleologische Reduktion der Regelungsgehalt der Norm verringert oder durch Extension erweitert werden279. Analogie und teleologische Reduktion oder Extension verwirklichen danach den Regelungsplan des Gesetzes.280 Lasse sich die Planwidrigkeit des Gesetzes nicht mit Sicherheit anhand des vorgegebenen Planes des Gesetzes feststellen, wohl aber mit Hilfe außergesetzlicher, aber immerhin noch rechtlicher Maßstäbe (weiter Lückenbegriff), werde auf der dritten Stufe der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung die Lücke anhand der Wertungen der Gesamtrechtsordnung bestimmt (Rechtsfortbildung außerhalb des Gesetzes, d.h. extra legem).281 Diese schließe sowohl das Gesetz, aber auch sonstige rechtliche Maßstäbe ein, wie die Bedürfnisse des Rechtsverkehrs, die „Natur der Sache“ oder rechtsethische Prinzipien.282 Bei der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung sei besonders auf die Contra-legem-Grenze zu achten. Eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung sei vorzunehmen, wenn das Fehlen der rechtlichen Regelung zwar nicht am Plan des Gesetzes selbst gemessen erfolgen könne, die Rechtsfortbildung aber gleichzeitig dem Gesetz auch nicht widerspreche, da ein
277 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 189, 191. Ein enges Verständnis sei hier aber nicht angebracht. Es seien nicht nur die Absichten und bewusst getroffenen Entscheidungen des Gesetzgebers zu berücksichtigen, sondern auch solche objektiven Rechtszwecke und allgemeinen Rechtsprinzipien, die in das Gesetz Eingang gefunden hätten, wie beispielsweise der Grundsatz der Gleichbehandlung von Gleichartigem Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 195. 278 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 191-210, 216-220. 279 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 210-216. 280 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 187 f., 232. 281 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 187, 189, 232. 282 Zu diesen objektiv-teleologischen Kriterien schon oben Teil 1, B.II.1.a)(2), S. 42 f.
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rechtsinterner Maßstab der Lückenfeststellung – die Erfordernisse der Gesamtrechtsordnung – gewählt wird. 2. Die subjektive Theorie Die Vertreter der subjektiven Theorie, als bedeutendster Vertreter in jüngster Zeit ist B. Rüthers283 zu nennen, legen entscheidenden Wert auf die Ermittlung des (historischen) Gesetzgeberwillens als Ziel der Gesetzesanwendung (a), wonach auch die Auslegungskriterien (b) ausgerichtet werden. a) Auslegung nach der subjektiven Theorie (1) Das Ziel der Auslegung und die Auslegungskriterien Anders als die objektive Auslegungstheorie, die sich im Wesentlichen auf die vier Auslegungskriterien F. C. von Savignys stützt284, ist im Rahmen einer subjektiven Betrachtungsweise die historisch-genetische Auslegung nicht mehr eigenständiges Auslegungskriterium. Vielmehr ist die Ermittlung des historischen Normzwecks nicht das Mittel zum Verständnis der Norm, sondern das eigentliche Ziel der Auslegung.285 Ein methodisch korrektes Vorgehen erfordere daher in einem ersten Schritt immer die historische Gebots- und Normzweckforschung.286 Die Auslegungsmittel, um dieses Ziel zu erreichen, sind Wortlaut und systematischer Zusammenhang
283
Zur Methode von B. Rüthers s. insbesondere Rückert/Seinecke in: Methode und Zivilrecht, Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner, 326 ff. Vertreten wurde die Theorie u.a. auch von Friedrich Carl von Savigny, Windscheid, Ernst Rudolf Bierling, Philipp Heck, Wolfgang Siebert und Hans-Carl Nipperdey. 284 Dazu s. oben oben Teil 1, B.II.1.a)(2), S. 42 ff. 285 Looschelders/Roth, Juristische Methoden, S. 229; Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 452 ff., Rn. 725 ff.; Rüthers/Höpfner, JZ 2005, 21, 21; Rüthers, NJW 2009, 1461, 1461 zur abweichenden Meinung der Richter Voßkuhle, Di Fabio und Osterloh in BVerfG NJW 2009, 1469; Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 83 f.; Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 141 ff. Eine teleologische Auslegung wird abgelehnt, denn der Telos einer Norm sei das Ziel jeder Auslegung, er könne daher nicht gleichzeitig Auslegungsmittel sein, deutlich Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), S. 1, 7. Im Ausgangspunkt auch Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 306 ff., 328, der aber in bestimmten Fällen auch objektivteleologische Kriterien zulassen will. 286 Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 498, Rn. 796; Rüthers/Höpfner, JZ 2005, 21, 21; Rüthers, JZ 2006, 53, 59, dort werden mehrere „Schichten“ von Umständen und Einflüssen der Normentstehung genannt: 1. Der historisch-gesellschaftliche Kontext, d.h. die Frage nach den Konflikt- und Interessenlagen, die zur Normsetzung geführt haben; 2. Der geistes- und dogmengeschichtliche Kontext, d.h. die Bedeutung der verwendeten Begriffe im Zeitpunkt der Normentstehung; 3. Die Regelungsziele (Normzwecke) der Gesetzgebung; Höpfner, JZ 2009, 403, 404.
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der Norm, des Gesetzes und der Gesamtrechtsordnung.287 Die historische Normzweckforschung wird unter den übrigen Auslegungskriterien herausgelöst und als Ziel der Auslegung den übrigen Auslegungskriterien übergeordnet. Alle sonstigen Auslegungskriterien dienen diesem Ziel. Erforscht werden soll dabei nicht der Wille der einzelnen am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Individuen, sondern vielmehr die in Gesetzesform gegossene gesetzgeberische Regelungsabsicht und Wertungsentscheidung, die anhand der Gesetzgebungsmaterialien ermittelt werden kann.288 Der Grund für diese Heraushebung des subjektiven Normzwecks wird aus dem Grundgesetz herausgearbeitet. Hiernach sind die im demokratischen Verfassungsstaat bestehenden Gesetze mit den darin zum Ausdruck kommenden Wertungsentscheidungen des Gesetzgebers unbedingter Ausgangspunkt der Gesetzesanwendung. Der Richter soll diese Gesetze in „denkendem Gehorsam“ anwenden.289 Nach den Prinzipien von Gewaltenteilung und Demokratie habe nur der Gesetzgeber die Gesetzgebungsprärogative sowie die unmittelbare demokratische Legitimation zur Setzung von Normen. Diese Berechtigung zur inhaltlichen Regelung habe der Richter aufgrund der Gesetzesbindung in Art. 20 III, 97 I GG, § 1 GVG, § 25 DRiG zu respektieren, indem er versuche, den Norminhalt so weit wie möglich zu erfassen und bei der Gesetzesanwendung zu berücksichtigen. Die Gerichte seien daher „verfassungsrechtlich zur historischen Normzweckforschung verpflichtet“.290 (2) Die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung Die Grenze der Auslegung zur Rechtsfortbildung wird entsprechend allein durch den historischen Normzweck bestimmt. Die Reichweite des Gesetzes bestimmt sich nach subjektiver Theorie allein am (historischen) Willen des Gesetzgebers. Erst wenn überhaupt keine oder nicht mehr aktuelle Wertungen des Gesetzgebers bestehen, kann der Richter tätig werden und eigene richterrechtliche Normen setzen; in diesem Fall wird er zum Ersatzgesetzgeber.291 Das bedeutet, die historische gesetzliche Wertung ist stets 287
Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 452 ff., Rn. 725 ff.; Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 141 ff.; Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 83, auch Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 35; Henninger, Europäisches Privatrecht, S. 53 ff.; Rüthers/Höpfner, JZ 2005, 21, 21. 288 Staake in: What Are We Looking for? – The Aim of Legal Interpretation, 2011, 31, 39. 289 Rüthers, JZ 2006, 53, 57; Heck, Gesetzesauslegung, S. 51; vgl. auch Rüthers, Rechtstheorie, S. 433 Rn.708. 290 Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 456, Rn. 730c. 291 Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 517, Rn. 822.
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maßgeblich (nicht der Wortlaut).292 Daher ist eine Korrektur einer ungenügenden Formulierung einer Norm durch die Judikative sogar im Wege der Auslegung möglich.293 Der Wortlaut der nationalen Norm ist nicht entscheidend. B. Rüthers formuliert diese strikte Trennung von Auslegung (im Rahmen des gesetzgeberischen Normzwecks) und Rechtsfortbildung wie folgt: „Gesetzesanwendung und richterliche Rechtsfortbildung sind so strikt wie möglich zu unterscheiden. Es geht um zwei grundlegend unterschiedliche Funktionen der Justiz. Nach der Verfassung ist der Richter, wo immer gesetzliche Wertungen vorhanden sind, der zu denkendem Gehorsam verpflichtete Diener des Gesetzes. Wo er aber das Recht fortbildet, wird er als ‚Ersatzgesetzgeber‘ partiell zum Herrn der Rechtsordnung. Eine rational ausgerichtete juristische Methodenlehre hat eine Hauptaufgabe darin, den Rechtsanwender genau dies bewusst zu machen, nämlich wann sie Gesetze anwenden, wenn sie Gesetze im Dienste der Gesetzgebung fortbilden, und wann sie die Gesetzgebung im Sinne eigener Regelungsabsichten korrigieren, also den Gesetzesgehorsam verweigern wollen. Das setzt klare Unterscheidungen dieser Funktionen voraus, nicht aber die Verwischung der Grenzen zwischen ihnen.“ 294
b) Die Rechtsfortbildung nach der subjektiven Theorie Nach subjektiver Theorie werden methodisch die Schritte der Lückenfeststellung (2) und der Lückenschließung (1) unterschieden. (1) Voraussetzungen der Lückenfeststellung Ähnlich wie bei der objektiven Theorie lassen sich im Rahmen der Feststellung von Lücken zur Rechtsfortbildung eine positive (a) und eine negative (b) Definition aufzeigen. (a) Die positive Bestimmung der Lücke „Gesetze können die Rechtsprechung nur dort binden, wo gesetzliche Wertungen vorhanden sind.“295 Ansonsten liege eine Lücke im Gesetz vor und der Richter müsse „eigene“ richterliche Wertungen treffen. 296 Im Lückenbereich, d.h. außerhalb gesetzlicher Wertungen, werde der Richter deshalb zum Ersatzgesetzgeber.297 Die Feststellung einer Lücke setzt danach primär den Versuch des Erkennens des gesetzgeberischen „Wertungsplanes“
292
Rüthers/Höpfner, JZ 2005, 21, 21. Am Beispiel S. Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 541, Rn. 867. 294 Rüthers, JZ 2002, 365, 366, Hervorhebungen im Original. 295 Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 516, Rn. 822, Hervorhebung hinzugefügt. 296 Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 523, Rn. 824. 297 Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 517, Rn. 822. Andere Ansicht: Arenhövel, ZRP 2005, 69, 69. 293
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der Einzelnorm, des Gesetzes bzw. des Rechtsgebiets voraus.298 Die Ermittlung des historischen Normzwecks wird allerdings nicht als Endpunkt, sondern nur als erster, unverzichtbarer Schritt der verfassungstreuen Gesetzesanwendung gesehen.299 Außerhalb des historischen Normzwecks sei der Richter dennoch zur Entscheidung des ihm vorgelegten Falles aufgrund des Rechtsverweigerungsverbotes verpflichtet.300 Gesetzgeberische Wertungen fehlen immer dann, wenn der zu entscheidende Sachverhalt schon zu Erlass der Norm nicht unter den historischen Normzweck fiel (primäre bzw. anfängliche Lücke) ((i)) oder wenn der historische Normzweck zum Anwendungszeitpunkt nicht mehr aktuell ist (sekundäre bzw. nachträgliche Lücke) ((ii)). (i) Primäre bzw. anfängliche Lücken Von der Gesetzgebung geplante und damit anfängliche Lücken, wie beispielsweise Generalklauseln, seien vom Gericht im jeweils aktuellen Anwendungszeitpunkt auszufüllen. Zunächst sei zwar bei ungeplanten, anfänglichen Lücken nach dem ursprünglichen Regelungswillen des Gesetzgebers zu suchen. Vom Gesetzgeber unbemerkt fehle in diesem Fall aber gerade eine (historische) Bewertung des vorliegenden Sachverhalts. Der Richter müsse nun diese primäre Lücke durch richterliche Bewertung füllen, was er anhand der im Anwendungszeitpunkt gültigen, d.h. der aktuellen Rechtsordnung, vorzunehmen habe.301 (ii) Sekundäre bzw. nachträgliche Lücken Die Gesetzgebung kann nur solche Sachverhalte regeln, welche sie bei Erlass der Rechtsnorm kannte und deren Interessenkonflikt sie daher bewertet hat.302 Bei nachträglichen Gesetzes- und Rechtslücken hat die Ge298
Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 527, Rn. 833, S. 530 f., Rn. 839, S. 532 ff., Rn. 842 ff.. Zu beachten sei aber, dass nicht alle Lücken im Gesetz „planwidrig“ seien, sondern es gebe auch vom Gesetzgeber geplante Unvollständigkeiten, wie beispielsweise Generalklauseln oder bewusste Nichtregelung im Sinne eines „beredten Schweigens“ des Gesetzes, dazu Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 528-530, Rn. 835-838. 299 Rüthers, JZ 2006, 53, 58. 300 Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 517, Rn. 823; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), S. 1, 17. 301 Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 549 ff., Rn. 878 ff. Auf den hypothetischen Gesetzgeberwillen abstellend: Heiderhoff in: Interpretation, 2011, 101, 108 f.; Piekenbrock/Schulze, WM 2002, 521, 524. 302 Rüthers, JZ 2006, 53, 59, auf S. 57 heißt es: „Auch die klügste Gesetzgebung kann nicht regeln, was sie noch nicht kennen konnte.“ Ähnlich auch Hassemer, ZRP 2007, 213, 215: „Diese Art juristischer Logik kann dem Gesetz kein Quentchen mehr an Informationen entnehmen als das, was sie ihm zuvor eingesteckt hat. Und funktionieren
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setzgebung zu diesem Zeitpunkt jedoch die fragliche Situation nicht beurteilen können, weil sie so gerade noch nicht existierte. Die Lücke entsteht hier aus dem Vergleich des veränderten Sachverhalts zwischen Entstehungszeitpunkt und Anwendungszeitpunkt303, also „nachträglich“ aus Sicht des aktuellen Rechtsanwenders. Dies sei insbesondere in den folgenden drei Situationen der Fall: Erstens, wenn das mit der Norm verfolgte Ziel unerreichbar oder gegenstandslos geworden ist. Zweitens, wenn die technische, ökonomische oder gesellschaftliche Entwicklung sich seit Erlass der Norm in ihrem Regelungsbereich erheblich verändert hat. Drittens, wenn die der Norm zugrunde liegenden Wertvorstellungen sich seit ihrem Erlass einschneidend verändert haben.304 In diesen Fällen liegen zwar an sich historische, gesetzgeberische Wertungen vor, diese sind jedoch im Anwendungszeitpunkt aufgrund längerer Untätigkeit der Gesetzgebung nicht mehr aktuell. (Nur) unter dem Nachweis der fehlenden Aktualität der gesetzgeberischen Wertentscheidung darf der Richter eine Lücke feststellen. Erst mit diesem Nachweis verschieben sich die Normsetzungsaufgaben von der untätigen Gesetzgebung auf die Justiz.305 (b) Die negative Bestimmung der Lücke: Die Contra-legem-Grenze Nach der subjektiven Theorie ist die Contra-legem-Grenze dann erreicht, wenn gegen die Regelungsabsicht des historischen Gesetzgebers bzw. seine Zwecksetzung judiziert wird. Der Bereich des Judizierens contra legem wird damit sehr weit gefasst, indem das einzige Kriterium zur Grenzbestimmung der Wille des historischen Gesetzgebers ist, ohne dass das Wortlautkriterium hinzugezogen wird. Diese weite Definition der Contralegem-Grenze wird dadurch abgefangen, dass mehrere Ausnahmen von dieser Grundregel zugelassen werden. In seiner umfangreichen Untersuchung zur „Rechtsfindung contra legem“, auf die hier verwiesen wird, hat J. Neuner folgende Beispiele einer zulässigen Rechtsfindung contra legem nachgewiesen: 1. das rechtsethisch untragbare Gesetz, 2. gesetzliche Verstöße gegen physische und psychische Gesetzlichkeiten des Menschen und gegen Gesetzlichkeiten der Naturtatsachen, 3. vom Gesetzgeber herbeigeführte Wertungswidersprüche, 4. die Situation, in der die Anwendung des Gesetzes unter den geänderten gegenwärtigen Umständen zu offenbar unkann das Ganze nur unter der jenseitigen Voraussetzung, dass man zuvor alles einsteckt, was man später irgendwann einmal als Entscheidungsinformation brauchen wird“. 303 Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 542 ff., Rn. 869 ff.; Rüthers, JZ 2006, 53, 58. 304 Rüthers/Höpfner, JZ 2005, 21, 25, ähnlich auch in Rüthers, JZ 2006, 53, 58; Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 96; Staake in: What Are We Looking for? – The Aim of Legal Interpretation, 2011, 31, 39 f. Ähnlich auch Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 195, 308. 305 Rüthers, JZ 2006, 53, 59.
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vernünftigen Ergebnissen führen würde, 5. durch Veränderungen in der Rechtsordnung nachträglich entstandene Wertungswidersprüche, 6. die „Derogation“ der ursprünglichen gesetzgeberischen Zweckvorstellungen durch die aktuellen Anschauungen und Wertungen innerhalb der Sozietät, 7. der Durchbruch eines rechtsethischen Prinzips, wenn dabei der Vorgriff auf einen – zu erwartenden – Konsens möglich ist, 8. gesetzliche Verstöße gegen das generelle Willkürverbot durch sachwidrige Regelungen, 9. gesetzliche Verstöße gegen die „Vertrauenshaftung kraft rechtsethischer Notwendigkeit“, 10. die krasse Verletzung der Anforderungen der (Einzelfall-)Gerechtigkeit in besonderen, atypischen Fällen und 11. eine „Ausstrahlungswirkung“ von Grundrechten bzw. das „Übermaßverbot“, etwa in Durchbrechung des schadensrechtlichen „Alles-oder-Nichts-Prinzips“306. (2) Der Maßstab der Lückenschließung Als Maßstab für die Unvollständigkeit werden (aufsteigend) die Einzelnorm (Normlücke), das Gesetz (Gesetzeslücke) und ein ganzes Rechtsgebiet (Rechts- oder Gebietslücke) herangezogen, wobei in jedem Fall zwischen anfänglicher, also bereits zum Regelungszeitpunkt bestehender, oder nachträglicher Lücke unterschieden wird.307 Maßstab für die Lückenausfüllung ist daher zunächst das Gesetz selbst und danach die Gesamtrechtsordnung.308 Dabei habe der Rechtsanwender die bestehende Gesetzesordnung sowie Fernwirkungen anderer Rechtsgebiete, insbesondere des Grundgesetzes, zu beachten. Die Lücke sei dann durch eine „Hochrechnung“ der bestehenden Rechtsordnung auf den ungeregelten Sachverhalt zu schließen.309 c) Die Stufen der Rechts- und Gesetzesanwendung nach subjektiver Theorie Die subjektive Theorie geht bei der Rechtsanwendung in mehreren Schritten vor, um eine klare und begründete Rechtsfindung zu garantieren.310 Es 306
Neuner, Rechtsfindung contra legem, S. 141 ff. Dazu auch Bydlinski in: FS Canaris, 1998, 27, 29 f. 307 Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 533 ff., Rn. 847 ff. 308 Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 542 ff., Rn. 869 ff. 309 Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 550, Rn. 881; Rüthers/Höpfner, JZ 2005, 21, 23; vgl. auch Rüthers, JZ 2006, 53, 59: „Er [der Richter] darf nicht seine eigenen Gerechtigkeits- und Sozialideale verwirklichen. Er ist an das Konzept des ‚Architekten‘ der Rechtsordnung gebunden. Das sind die Gesetzgebung und die vorhandene, durch Tradition begründete Dogmatik.“ Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 96. 310 Zum Ganzen ausführlich Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 141 ff.; Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 83 f.; Rüthers, Rechtstheorie, S. 442 ff., Rn. 730a ff. (drei Stufen); Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 455 ff., Rn. 730b ff. (zwei Stufen).
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können drei Stufen der Gesetzes- und Rechtsanwendung unterschieden werden, bei der wesentlicher gedanklicher Ausgangspunkt die grundlegende Trennung zwischen Auslegungsziel und Auslegungsmitteln ist.311 In einem ersten Schritt soll die einschlägige Norm mit Hilfe der Auslegungsmittel Wortlaut, Systematik sowie anhand der Entstehungsgeschichte ausgelegt werden, um ihren ursprünglichen (historischen) Normzweck zu erforschen.312 Eine objektiv-teleologische Auslegung wird abgelehnt.313 In einem zweiten Schritt wird überlegt, ob der historische Normzweck zum Anwendungszeitpunkt der Norm noch Gültigkeit besitzt. Hatte der Gesetzgeber aber bereits anfänglich keine Wertentscheidung zu einem bestimmten Sachverhalt getroffen oder ist die Norm durch Veränderungen im Normenumfeld, durch Weiterentwicklungen in Gesellschaft, Technik und Recht obsolet geworden, liegt eine Lücke vor. Sei Letzteres der Fall, sei es unzulässig zu fragen, ob das obsolete Gesetz im Hinblick auf die heutigen Verhältnisse einen anderen, „vernünftigen“ Zweck erfüllen könne.314 Habe der historisch ermittelte Wille des Gesetzgebers durch Veränderungen der Zeit vielmehr keinen aktuellen Bedeutungsgehalt, sei die damit veraltete Norm nicht anzuwenden.315 Stattdessen setze der Richter bei der Entscheidungsfindung im Lückenbereich eigene, rechtspolitische Maßstäbe.316 Der Richterrechtsnorm komme damit kein Wahrheits- oder Richtigkeitsmonopol zu, sondern sie gewinne ihre Autorität und Geltung aus ihrer Begründung und der Zuständigkeit des Gerichts – sie sei also letztendlich von der Qualität ihrer Begründung abhängig.317 In diesem zweiten Schritt lege der 311
Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 35; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 137, 141; Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 452, Rn. 725 ff.; Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 141 ff.; Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 83. 312 Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 83; Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 141 ff.; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), S. 1, 4; Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 456, Rn. 730c; Fischer, Verdeckte Rechtsfortbildungen, S. 489; Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 307 f. 313 Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 83. 314 Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 457, Rn. 730d; Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 149. Andere Ansicht Larenz, Methodenlehre, S. 350 f., aber auch Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 309: „Ziel der Gesetzesauslegung ist es demnach, die Regelungszwecke und -absichten des historischen Gesetzgebers zu ermitteln. Wo diese wegen der Weiterentwicklung der Lebenswirklichkeit für das konkrete Auslegungsproblem keine Bedeutung mehr haben oder haben können, muss nach objektivierten Gesetzeszwecken gefragt werden, welche die Regelungsabsichten des historischen Gesetzgebers im Einklang mit sonstigen Wertungen der Rechtsordnung fortschreiben.“ 315 Nach dem römisch-rechtlichen Grundsatz: „cessante ratione legis cessat lex ipsa“ (Mit dem Wegfall des verfolgten Normzwecks fällt die Rechtsnorm selbst dahin), Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 512, Rn. 816. 316 Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 512, Rn. 817. 317 Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 512, Rn. 818.
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Richter offen, ob und wieweit er die gesetzgeberische Interessenbewertung im Anwendungszeitpunkt noch für maßgeblich halte; nur so decke er methodenehrlich seine Arbeitsweise auf.318 Sei der historische Normzweck im Anwendungszeitpunkt noch gültig, sei die Norm auch anzuwenden, was sich aus dem Grundsatz der Gesetzesbindung der Gerichte ergebe (Art. 20 III GG, 97 I GG). Nur wenn keine gesetzlichen Wertungen bestehen oder diese überholt sind, dürfe der Richter rechtsfortbildend tätig werden.319 Andernfalls sei das Urteil wegen eines Verstoßes gegen die Begründungspflicht absolut revisionsfähig.320 In einem letzten, dritten Gedankengang müsse das so gefundene Ergebnis der Rechtsanwendung auf etwaige Anwendungshindernisse und sonstige Grenzen überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden. Beispiele für derartige Anwendungshindernisse ergeben sich im Zivilrecht vor allem bei Verstößen des Grundgesetzes, wie dem Vertrauenstatbestand im Falle des Art. 103 II GG.321 In letzterem Fall hat das BVerfG die Norm auf Vorlage des Fachgerichts für nichtig zu erklären, §§ 82, 78 BVerfGG.322 III. Die Behandlung von Normenkollisionen nach dem Lex-superior-Grundsatz im nationalen Kontext Neben den Mitteln der Auslegung und Rechtsfortbildung besteht eine dritte Möglichkeit, die den Konflikt zwischen Regelungsvorgaben durch die Nichtanwendung einer Norm vermeidet (an die der Richter an sich gemäß Art. 20 III GG gebunden wäre). Die Nichtanwendung einer Norm ist allerdings nur in bestimmten Fällen denkbar. Anerkannte Kollisionsregeln sind die Maxime „lex superior derogat legi inferiori“ (die höherrangige Norm verdrängt in ihrer Anwendbarkeit die niederrangige), „lex posterior derogat legi priori“ (die jüngere Vorschrift verdrängt die ältere) und „lex specialis derogat legi generali“ (die speziellere Vorschrift verdrängt die allgemeinere).323 In dieser Arbeit wird ausschließlich auf die erstgenannte Maxime der lex superior eingegangen, da für das später zu betrachtende
318 Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 457, Rn. 730d; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), S. 1, 5. 319 Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 457, Rn. 730d. 320 Herleitung bei Fischer, Verdeckte Rechtsfortbildungen, S. 522 ff. 321 Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), S. 1, 5. 322 Rüthers, Rechtstheorie, S. 445, Rn. 730d. 323 Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 48; Engisch, Einführung, S. 213; Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 15. Zur teilweise schwierigen dogmatischen Begründung der Kollisionsregeln s. Engisch, Einheit der Rechtsordnung, S. 47 ff.; Bydlinski, Methodenlehre, S. 573 f.; Larenz, Methodenlehre, S. 266 ff.; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 31 ff.
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Verhältnis von Richtlinie und nationalem Recht (nur) die Anwendung dieser Kollisionsregel naheliegt.324 Für das nationale Einebenensystem lassen sich drei Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Lex-superior-Satzes herausarbeiten, namentlich die Existenz, Geltung und Anwendbarkeit der konfligierenden Normen innerhalb einer Rechtsordnung (1.) sowie das Vorliegen einer inhaltlichen Kollision von Normen, die sich auf denselben Adressaten beziehen (2.). Schließlich muss es sich um Normen unterschiedlichen Rangs handeln, da der Lex-superior-Grundsatz eine normenhierarchische Stufung des Rechts voraussetzt (3.). Die Rechtsfolge besteht in der Verwerfung des niederrangigen und der Anwendung des höherrangigen Rechts durch den zur Entscheidung zu berufenden Richter (4.). 1. Die Existenz, Geltung und Anwendbarkeit der konfligierenden Normen innerhalb einer Rechtsordnung Zur Anwendung des Lex-superior-Satzes ist zunächst erforderlich, dass die konfligierenden Normen innerhalb einer Rechtsordnung existieren, gelten und für den Einzelfall anwendbar sind, ansonsten sind die jeweiligen Rechtssätze nicht für den Richter verbindlich. Terminologisch klar werden die drei Kategorien von E. Klein unterschieden.325 Die Existenz und die Geltung der Norm unterscheidet er zeitlich: die Existenz der Norm beginnt mit ihrer Verkündung, die Geltung326 mit ihrem Inkrafttreten. Unter Anwendbarkeit versteht er die Fähigkeit der Norm, in einem konkreten Fall zur Lösung herangezogen zu werden. Die drei Kategorien sind derart miteinander verknüpft, dass nur eine existente Norm Geltung entfaltet und nur eine gültige Norm auch anwendbar sein kann. Im Normalfall könne daher aus der Geltung einer Norm auf ihre Anwendbarkeit geschlossen werden. Über die Existenz, Geltung und Anwendbarkeit von Rechtsnormen entscheidet derjenige, der für dieses Gebiet die Hoheitsgewalt innehat.327 Darunter versteht man die Befugnis des Staates und seiner Körperschaften, 324
Die Anwendung des Lex-specialis-Grundsatzes scheint aufgrund des allgemein gehaltenen Charakters von Richtlinien fernliegend. Aber auch der Lex-posterior-Satz kann im Verhältnis des Unionsrechts zum nationalen Recht nicht angewendet werden, weil er erfordert, dass es sich um zeitlich aufeinander folgende Normen gleichen Geltungsgrundes, gleichen Wertes und gleicher Qualität handelt, Grabitz, Gemeinschaftsrecht, S. 55; Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 278 f., und zudem die Anwendbarkeit von nationalem lex posterior die Effektivität des Unionsrechts erheblich schwächen würde, dazu insbesondere BVerfGE 22, 293, 296; Corte Costituzionale vom 5.6.1984, Nr. 170, S. 1098, 1113, zu letzterem Ritterspach, EuGRZ 1985, 98, 98 ff. 325 Klein, Unmittelbare Geltung, S. 8 m.w.N. 326 Gemeint ist hiermit die juristische Geltung. Zur ethischen und faktischen Geltung s. Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtlehre, S. 311 f., 335 ff. 327 Vgl. Geiger, Völkerrecht, S. 34.
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einseitig rechtlich verbindliche Anordnungen zu erlassen.328 Darf der Staat aber einseitig bestimmte Regelungen erlassen, muss er souverän, d.h. selbstbestimmt, sein. Für den deutschen Rechtsraum besitzt der deutsche Staat Souveränität. Diese leitet er von seinem Staatsvolk, dem eigentlichen Souverän, ab. Ausgeübt wird die Staatsgewalt dann durch das Parlament, das vom Volk in allgemeiner, freier, geheimer, gleicher und unmittelbarer Wahl gewählt wird. Die vom deutschen Bundestag erlassenen Gesetze gelten dann im deutschen Rechtsraum und sind für den Einzelnen verbindlich. Der Richter ist an diese Gesetze und das geltende Recht gebunden, Art. 20 III GG. Letztlich entscheiden die deutschen Gesetzgebungsorgane, welches Recht auf ihrem Staatsgebiet gilt und welches nicht. Zu unterscheiden sind folglich, innerhalb der nationalen Rechtsordnung, die Existenz, die Geltung und die Anwendbarkeit deutschen Rechts. 2. Die inhaltliche Kollision bei gleichem Adressat Nach einer Definition von K. Engisch liegt eine Normenkollision vor, wenn „ein Verhalten in abstracto oder in concreto zugleich als geboten und nicht geboten oder als verboten und nicht verboten oder gar als geboten und verboten erscheint“.329 Entscheidend ist demnach die inhaltliche Verschiedenheit von (konkret ermittelbaren und unbedingten) Aussagen des Rechts. In Betracht kommen Divergenzen zwischen Normen auf Tatbestand- und Rechtsfolgenseite.330 Problematisch ist allerdings, wann eine inhaltliche Verschiedenheit der konfligierenden Normen angenommen werden kann. Es stellt sich insbesondere die Frage, ob der Gegensatz allein anhand des Wortlauts der Normen zu ermitteln ist oder ob beide Normen zunächst nach ihrem Regelungsgehalt auszulegen sind. Eine Normenkollision, die die Anwendung der Kollisionsregel von der lex superior erforderlich macht, entsteht nur, wenn eigentlich das niederrangige Recht zur Anwendung berufen ist, dieses aber nicht mit einer höherrangigen Norm konform ist. Im Grundsatz soll also das niederrangige Gesetz angewendet werden, da es (regelmäßig) auf einer geringeren Abstraktionsebene liegt und damit einen engeren Bezug zum Einzelfall hat. Daher muss zunächst der Regelungsbereich des niederrangigen Gesetzes eingegrenzt werden, denn nur bei einem Gegensatz zwischen den Regelungszwecken beider Gesetze soll ausnahmsweise das höherrangige Gesetz angewendet werden. Dementsprechend erfordert die Anwendung des Lex-superior-Grundsatzes in einem ersten Schritt notwendig die Auslegung beider Normen nach allen anerkannten Auslegungs328
Stern, Staatsrecht I, S. 520 f. Engisch, Einführung, S. 212. 330 Vgl. Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 37. 329
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kriterien. Lässt sich hingegen nach einer Auslegung zumindest eine teilweise Überschneidung der Regelungszwecke ermitteln, dann ist dies der typische Anwendungsfall einer Konformauslegung. Lässt also, vereinfacht dargestellt, das anzuwendende nationale Recht nach Auslegung die Auslegungsergebnisse A und B zu und ergibt die Auslegung des höherrangigen Verfassungsrechts die Verpflichtung nur auf das Auslegungsergebnis A, dann erfolgt eine verfassungskonforme Gesetzesanwendung des nationalen Rechts, nach der das Auslegungsergebnis B ausscheidet. Nur wenn das Verfassungsrecht nach Auslegung lediglich die Lösung C vorsieht, kommt bei entsprechender Kompetenz331 die Lex-superior-Regel zum Tragen, nach der das Verfassungsrecht unmittelbar anzuwenden ist. Nur in letzterem Fall ist die nationale Norm derart verfassungswidrig, dass sie als eigentlich anwendbare Norm nicht mehr aufrechterhalten werden kann und die höherrangige Norm eingreift. In diesem Kapitel sollen daher gerade die Konstellationen besprochen werden, bei denen nach Auslegung zweier konfligierender Normen ein inhaltlicher Gegensatz nicht durch Auslegung korrigiert werden kann. Ein weiteres Erfordernis einer Normenkollision besteht darin, dass die gegensätzlichen Anordnungen den gleichen Adressaten betreffen.332 Für unterschiedliche Normadressaten kann der Gesetzgeber nämlich unterschiedliche Regelungen treffen. Dies gilt zumindest soweit kein Verstoß gegen Art. 3 GG gegeben ist, das heißt die Vergleichsgruppen nicht wesentlich gleich sind.333 Damit ergibt sich als notwendige Voraussetzung für die Anwendung des Lex-superior-Grundsatzes die nach Auslegung beider Normen ermittelte inhaltliche Divergenz in den Verhaltensanweisungen oder in den Rechtsfolgen eines Verhaltens für einen konkreten Normadressaten. 3. Normen unterschiedlichen Ranges Der nationale Richter ist gemäß Art. 20 III GG an geltendes Recht gebunden. Eine solche Bindung ergibt allerdings dann keinen Sinn, wenn zwei divergierende Anordnungen für einen Normadressaten vorliegen, die auf den Fall angewendet werden wollen. Eine Bindung an beide Normen ist für den Richter logisch nicht zu erreichen. Erforderlich wird daher eine Durchbrechung des Grundsatzes der richterlichen Gesetzesbindung bzw. die Konkretisierung der Gesetzesbindung auf nur eine Norm. Handelt es 331
Dazu sogleich unter B.III.3., S. 76 ff. Vgl. auch Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 247. 333 So genannte „Neue Formel“ des BVerfG, zuerst BVerfGE 55, 72, 88; seither st. Rspr., zuletzt etwa BVerfGE 110, 412, 432; 112, 368, 401; 113, 167, 214 f. Zur Entwicklung der Judikatur Sachs, JuS 1997, 124, 124 ff.; Osterloh in: Grundgesetz: Kommentar, Art. 3, Rn. 13 ff. 332
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sich nun um divergierende gesetzliche Anordnungen auf unterschiedlicher normenhierarchischer Stufe, kann eine solche Konkretisierung mit Hilfe des Lex-superior-Grundsatzes erfolgen. Die rechtstheoretische Begründung dieses Lex-superior-Satzes ist umstritten; E. Vranes konnte im Schrifttum eine Einordnung in mindestens zehn verschiedene Kategorien ausmachen.334 Er kommt schließlich zu dem Ergebnis, dass es sich um einen der Rechtsordnung inhärenten Interpretationsgrundsatz handelt, der sich als notwendige Schlussfolgerung aus der Struktur der Rechtsordnung rechtfertigen lässt, wenn diese nicht ad absurdum geführt werden soll.335 Als der Rechtsordnung immanenter Satz muss er nicht positiviert sein.336 Folgt man dem, führt der normenhierarchische Vorrang dazu, dass das höherrangige Recht vorrangig anzuwenden ist. Der Rang des Gesetzesrechts bestimmt sich nach der Autorität, welche die Rechtsnorm gesetzt hat. Im Bereich des Staates bestimmt das nationale Verfassungsrecht die Höhe dieser Autorität.337 So schafft beispielsweise der verfassungsgebende Gesetzgeber geltendes Verfassungsrecht, der einfache Gesetzgeber einfache Parlamentsgesetze, der Landesgesetzgeber Landesrecht.338 Dieses Recht unterscheidet sich in seiner Setzung durch eine unterschiedliche Autorität und in seinem jeweiligen Rang. Die höherrangige Autorität setzt die höherrangige Norm, was sich an dem normenpyramidalen Modell verdeutlichen lässt. Die Normen der jeweils höheren Stufe gehen denjenigen der niederen Stufe vor. 4. Folge: Die Verwerfung des niederrangigen Rechts und die Anwendung der höherrangigen Norm durch den zur Entscheidung berufenen Richter Zu welcher Rechtsfolge ein normenhierarchischer Vorrang von Gesetzen führt, ist damit nicht entschieden. In Betracht kommt eine Suspendierung nur im konkreten Einzelfall oder aber eine Derogation mit der Folge der
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Vranes, ZaöRV 2005, 391, 392 f. m.w.N. zu den jeweiligen Ansichten. Vranes, ZaöRV 2005, 391, 397 f., 400. 336 Vranes, ZaöRV 2005, 391, 398 m.w.N. 337 Badura in: Rangordnung der Gesetze, 1995, 107, S. 109; Di Fabio, NJW 1990, 947, 951; Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 164. 338 Nach der Kelsenschen Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung leitet sich die Geltung von Rechtsnormen aus der jeweils höheren geltenden Norm ab, sodass sich alle Rechtsnormen letztlich auf das Grundgesetz als „Grundnorm“ zurückführen lassen. Die Geltung von normativen Sätzen lässt sich damit nur aus anderen normativen Sätzen und letztlich nur aus der Verfassung ableiten. Zur Frage, warum die Verfassung gilt, Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 228 ff. Ausführlich zu dieser Theorie Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtlehre, S. 313 ff. m.w.N.; Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 266; Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 24 m.w.N. 335
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Nichtigkeit der niederrangigen Norm, was für jede Rechtsordnung bzw. die konfligierenden Normen gesondert zu ermitteln ist.339 Die Kompetenz zur Entscheidung der Verwerfung der niederrangigen Norm steht innerhalb der deutschen Rechtsordnung nicht allein dem Instanzrichter zu. Zwar ergibt sich aus der Bindung des Richters an Gesetz und Recht nach Art. 20 III GG seine Verpflichtung, die im Rechtsstreit anzuwendenden Normen auf ihre Rechtsgültigkeit zu überprüfen (Prüfungskompetenz). Eine uneingeschränkte Kompetenz zur Verwerfung der niederrangigen Norm bei Verstoß gegen die normenhierarchisch höherrangige lässt sich daraus jedoch nicht schlussfolgern. Eingeschränkt wird die Verwerfungskompetenz durch Art. 100 I 1 GG (in Verbindung mit den §§ 81, 82 I, 78 S. 1, 80 I BVerfGG), der von dem Richter eine Vorlage an das BVerfG in bestimmten Fällen fordert. Hiernach hat das BVerfG das Monopol, verfassungswidrige Gesetze oder bundesrechtswidriges Landesrecht zu verwerfen.340 Mit anderen Worten trifft – soweit das Monopol reicht341 – nur das BVerfG eine verbindliche Entscheidung über die Ungültigkeit einer Norm.342
339
Ähnlich Vranes, ZaöRV 2005, 391, 398. Rüthers, Rechtstheorie, S. 445, Rn. 730d; Herzog/Grzeszick in: Grundgesetz: Kommentar, Art. 20 V, Rn. 36, 58; Krey, JZ 1978, 465, 467; Weber, Grenzen, S. 63; auch Paulus, NJW 2011, 3686, 3686 f. Eine Ausnahme soll dann bestehen, wenn nur eine Möglichkeit zur Beseitigung des Verfassungsverstoßes existiert, Nachweise dazu bei Krey, JZ 1978, 465, 467 in Fn. 56, 57. 341 Wichtig sind vor allem zwei Ausnahmen des Verwerfungsmonopols des BVerfG: Erstens sind nach allgemeiner Meinung im Rahmen des Art. 100 GG nur förmliche, nachkonstitutionelle Gesetze Prüfungsobjekt, d.h. solche die im förmlichen Gesetzgebungsverfahren und unter Herrschaft des Grundgesetzes erlassen wurden. Im Umkehrschluss lebt das Prüfungsrecht des Fachrichters bei vorkonstitutionellen Gesetzen ebenso wieder auf wie bei nicht-förmlichen Gesetzen, insbesondere Rechtsverordnungen (Maunz in: Grundgesetz: Kommentar, Art. 100 GG, Rn. 7 ff., 12 ff. jeweils m.w.N.). Zweitens sind von der Vorlagepflicht nur bestimmte Lex-superior-Konstellationen erfasst. Kann nämlich die frühere lex inferior bereits durch die spätere lex superior nach dem Lexposterior-Satz verdrängt werden, so fällt dies in die Zuständigkeit der Fachgerichte. Dies gilt unabhängig davon, ob die Vereinbarkeit eines Gesetzes mit dem Grundgesetz oder die Vereinbarkeit von Bundes- und Landesrecht geprüft wird. Für das spätere höherrangige Gesetz greift das Prüfungsrecht des nationalen Richters durch, BVerfGE 10, 124, 128; Maunz in: Grundgesetz: Kommentar, Art. 100 GG, Rn. 12, 13; a.A.: Hufnagl, DVBl 1951, 277, 277 f. 342 Kommt das Gericht hingegen zum Ergebnis, dass die entscheidungsrelevante Norm gültig ist, dann ist die Vorlage an das BVerfG unzulässig, Maunz in: Grundgesetz: Kommentar, Art. 100 GG, Rn. 4. 340
C. Zwischenergebnis und Ausblick
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5. Fazit Die Anwendbarkeit des Lex-superior-Satzes durch den nationalen Richter setzt voraus, dass zwei geltende und anwendbare Rechtsnormen unterschiedlichen normenhierarchischen Ranges miteinander kollidieren, die den gleichen Sachverhalt für den gleichen Adressaten unterschiedlich regeln. Dem Richter muss schließlich die Kompetenz zukommen, die niederrangige Norm zugunsten der höherrangigen unangewendet zu lassen (Verwerfungskompetenz). Nach deutschem Verfassungsrecht besteht diese Kompetenz bei förmlichen, nachkonstitutionellen Gesetzen erst nach Vorlage an das BVerfG.
C. Zwischenergebnis und Ausblick C. Zwischenergebnis und Ausblick Im ersten Abschnitt wurde gezeigt, dass die Richtlinie selbst keine unmittelbare Geltung in der nationalen Rechtsordnung entfaltet. Stattdessen gilt der primärrechtliche Umsetzungsbefehl in der nationalen Rechtsordnung und verpflichtet die nationalen Gerichte, die Vorgaben der Richtlinie effektiv in nationales Recht umzusetzen. Als neue Komponente, die eine Modifikation nationaler Methoden rechtfertigen könnte, kommt vor diesem Hintergrund damit nur der Umsetzungsbefehl in Betracht. Der zweite Abschnitt hat gezeigt, dass bereits auf nationaler Ebene zwei grundverschiedene methodische Ansätze der Auslegung und Rechtsfortbildung existieren. Es wird sich im nächsten Teil zeigen, dass sich diese Differenzierung zwischen objektiver und subjektiver Theorie auch im Rahmen der Diskussion um die richtlinienkonforme Rechtsfindung fortsetzt und zu unterschiedlichen Lösungsansätzen führt. Vergegenwärtigt man sich nun nochmals das Ergebnis der beiden Abschnitte, zeigt sich das Spannungsverhältnis, in dem sich der Richter bei der Gesetzesanwendung im Richtlinienbereich befindet: Auf der einen Seite wird die Judikative verpflichtet, die Zielvorgaben der Richtlinie zu beachten. Setzt er den legislativen Verstoß gegen die Umsetzung der Richtlinie fort, erreicht also durch die Rechtsanwendung nicht die Zielvorgabe der Richtlinie, drohen der Bundesrepublik nicht nur Staatshaftungsansprüche ihrer eigenen geschädigten Bürger, sondern auch ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV. Lockert er die Bindung an das nationale Gesetz auf der anderen Seite aber zu stark, muss sich das Gericht möglicherweise einen Verstoß gegen die Bindung des Richters an Gesetz und Recht nach Art. 20 III GG oder das Demokratieprinzip in Art. 20 II GG vorwerfen lassen. Wo verläuft nun der Mittelweg, den der Richter zulässigerweise mit seinen methodischen Mitteln gehen kann? Dies verweist auf die im Anschluss zu stellende Frage nach der Gesetzesanwen-
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Teil 1: Veränderungen durch Richtlinien, Ausgangslage nationales Recht
dung im Einwirkungsbereich des die Vorgaben der Richtlinie mittelnden Umsetzungsbefehls.
1 2 3 Teil 2
Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien (Zweiebenensystem) Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien Wie gerade dargestellt, verpflichtet der Umsetzungsbefehl die nationalen Gerichte, die Vorgaben der Richtlinie umzusetzen. Zu klären ist daher zunächst, ob bereits das Unionsrecht Vorgaben macht, wie im Horizontalverhältnis die Vorgaben der Richtlinie umzusetzen sind (A.). Die Untersuchung der EuGH-Rechtsprechung zu dieser Frage ist in zweierlei Hinsicht hilfreich. Zum einen kann geklärt werden, ob die Ansätze in Literatur und Rechtsprechung den unionsrechtlichen Vorgaben gerecht werden oder ob sogar über die Vorgaben hinaus Modifikationen zugelassen werden. Zum anderen erlaubt die Kenntnis des unionsrechtlichen Hintergrundes, einzelne Lösungsansätze besser zu verstehen, da viele Lösungsvorschläge auf unionsrechtlichen Impulsen beruhen. Im zweiten und dritten Abschnitt werden dann die in der Literatur (B.) und Rechtsprechung (C.) vertretenen Ansätze dargestellt, die im Wege der richtlinienkonformen Gesetzesanwendung den Konflikt zwischen Richtlinie und nationalem Recht lösen wollen. Diese Ansätze modifizieren die traditionellen Methoden der Gesetzesanwendung. 1 Der Vergleich mit den traditionellen Methoden im Einebenensystem zeigt auf, welche Änderungen an den herkömmlichen Methoden vorgenommen werden.2 Die Modifikationen sind stets dadurch motiviert, dem Bürger einen durchsetzbaren Anspruch vor den nationalen Gerichten zu sichern und damit die Effektivität des Unionsrechts zu gewährleisten.
1 Dass sich bisher noch keine gemeineuropäische Methode gebildet hat, die auf die Rechtsanwendung von nationalem Recht im Richtlinienbereich anzuwenden wäre, wird hier vorausgesetzt. – Ausführlich zur gemeineuropäischen Methode s. Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 16 ff., 43 mit zahlreichen weiteren Nachweisen; Berger, ZEuP 2001, 4, 4 ff.; Schulze, ZEuP 1993, 442, 442 ff.; Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 234 ff.; Wendehorst, RabelsZ 75 (2011), S. 730, 757 ff. Zu den Entwicklungsstufen der Methodendiskussion, Fleischer, RabelsZ 75 (2011), S. 700, 708 ff. 2 Flessner, JZ 2002, 14, 18, 15 ff. hat darauf hingewiesen, dass der „monistische Ansatz“ nicht für das pluralistische europäische Privatrecht passt.
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Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien
A. Die Vorgaben des EuGH zur richtlinienkonformen Rechtsfindung A. Vorgaben des EuGH zur richtlinienkonformen Rechtsfindung Eine Verpflichtung aller nationalen Organe zur Umsetzung der Richtlinie im Rahmen ihrer jeweiligen durch das nationale (Verfassungs-)Recht bestimmten Zuständigkeiten wird im Schrifttum mittlerweile einstimmig anerkannt. Uneinigkeit herrscht lediglich bei der Frage, ob die unionsrechtliche Forderung nach richtlinienkonformer Gesetzesanwendung allein aus den Vorgaben von Art. 288 AEUV3 und der hierzu ergangenen rechtsfortbildenden4 Rechtsprechung des EuGH folgt oder ob Art. 4 III EUV ergänzend herangezogen werden kann.5, 6 Vertreten wird auch, dass Art. 4 III EUV allein maßgeblich7 oder er die eigentliche Stütze neben Art. 288 III 3 Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 256 ff.; Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 62; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 297; Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 32; Gebauer, AnwBl 2007, 314, 317; Gellermann, Beeinflussung, S. 15 ff., 104 f.; Grundmann, ZEuP 1996, 399, 401, 407; Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 264 f., 268; Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 82; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), S. 1, 25; Klamert, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 164, 166; Rüffler, ÖJZ 1997, 121, 123; Manger, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 106 f.; Canaris in: FS Schmidt, 2006, 41, 43 f.; Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 109; Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 264 m.w.N., 269 ff.; Krieger, Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, S. 132, 186, 195; Krieger, Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, S. 132, 195, 196; Schlachter, ZfA 2007, 249, 259. 4 Von Rechtsfortbildung des EuGH sprechen Jarass, EuR 1991, 211, 216; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 292; Zöckler in: JhJZW, 1992, 141, 148; Krieger, Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, S. 188. 5 BGH EuZW 2007, 286 ff., Rn. 12 ff.; Baldus/Becker, ZEuP 1997, 874, 879; Bleckmann, RIW 1987, 929, 930; Frisch, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 54 ff., 66 ff.; Gellermann, Beeinflussung, S. 105; Herlinghaus, Bedeutung und Reichweite, S. 17 f., 34 ff., 52, 82; Herresthal, EuZW 2007, 396, 397; Hummel, EuZW 2007, 268, 270; Jarass, Grundfragen, S. 52, 89; Jarass, EuR 1991, 211, 216; Naber, JuS 2007, 614, 615; Prechal, Directives, S. 17; Sack, WRP 1998, 241, 241; Zöckler in: JhJZW, 1992, 141, 148 f. 6 Es ist herauszustellen, dass gegen Art. 4 EUV als Legitimation der Vorrangwirkung nicht schon eingewendet werden kann, dass sich aufgrund des allgemeinen Charakters der Norm aus ihr gar keine konkreten Pflichten ergeben könnten. Mittlerweile ist anerkannt, dass sich aus der Norm im Unionsrecht nicht explizit aufgeführte Handlungs- und Unterlassungspflichten ableiten lassen, vgl. Krieger, Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, S. 185 m.w.N. in Fn. 550, was insbesondere der Effektivität der Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten dient, Krieger, Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, S. 196 m.w.N. 7 Zuleeg in: Auslegung europäischen Privatrechts, 1999, 163, 167 f.; Nettesheim, AöR 1994, 261, 268: Gegen die Annahme des Geltungsgrundes aus Art. 288 III AEUV spreche seine systematische Stellung, der sich im sechsten Teil des AEUV („institutionelle Bestimmungen und Finanzvorschriften“) unter dem Kapitel „Rechtsakte der Union, Annahmeverfahren und sonstige Vorschriften“ finde. Auch regele Art. 288 III AEUV nur
A. Vorgaben des EuGH zur richtlinienkonformen Rechtsfindung
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AEUV8 ist. Die Rolle des Art. 4 III EUV kann hier aber offenbleiben, da sich eine Umsetzungspflicht zumindest aus Art. 288 III AEUV ergibt und dieser Norm ebenfalls der Gedanke der effektiven Richtlinienumsetzung entnommen werden kann.9 Klärungsbedürftig ist aber, ob sich im nationalen Recht aufgrund unionsrechtlicher Vorgaben zur richtlinienkonformen Rechtsfindung auch die Zuständigkeiten im nationalen Recht verschieben können. Insbesondere ist fraglich, ob die nationalen Gerichte aufgrund ihrer Umsetzungsverpflichtung nach Art. 288 III AEUV zu einer weitergehenden Auslegung oder Rechtsfortbildung im Richtlinienbereich berufen sind. Die Norm enthält keine ausdrückliche Aussage über den Zuständigkeitsrahmen der nationalen Gerichte, ihnen wird stattdessen „die Wahl der Form und der Mittel“ überlassen. Bereits 1984 hat der Gerichtshof mit der Interpretation der Reichweite von Art. 288 III AEUV begonnen,10 mit den Urteilen von Colson & Kamann11 und Harz12 (I.). Obwohl manche Urteile des Gerichtshofs in der Folge auf eine Verpflichtung zur Ausdehnung des nationalen Kompetenzrahmens hindeuten könnten (II.), verfolgt er in jüngster Zeit (klarstellend) einen restriktiveren Ansatz (III.). Im Folgenden ist zu beachten, dass der Europäische Gerichtshof, französischer Rechtstradition folgend, den Begriff der Auslegung in sehr weitem Sinne versteht. Für ihn schließt dieser Begriff jede zulässige Form der Rechtsfindung, auch die Rechtsfortbildung, ein.13
die Wirkungen der Richtlinie, nicht aber den Umgang mit nationalem Recht, sodass ihr Gehalt überspannt würde, würden der Norm Auslegungsregeln für den Fall des Widerspruchs von nationalem Recht und Richtlinie entnommen. Folgt man dieser Ansicht, wäre Art. 288 III AEUV nicht einmal eine legislative Umsetzungspflicht zu entnehmen, denn dann würde die Norm allein die Rechtswirkungen der Richtlinie beschreiben. In jedem Fall wird nicht deutlich, warum eine legislative Umsetzungspflicht bestehen soll, eine judikative hingegen nicht; Piekenbrock/Schulze, WM 2002, 521, 523 mit Fn. 31. 8 Basedow in: FS Brandner, 1996, 651, 656 f.; Nettesheim, AöR 1994, 261, 268. 9 Zur Rechtsprechung des EuGH bereits oben Teil 1, A.II., S. 17 ff. 10 In einer früheren ersten Phase der Rechtsprechung sprach der EuGH lediglich davon, dass eine richtlinienkonforme Rechtsfindung zweckmäßig wäre (s. insbesondere EuGH, Rs. 111/75, Slg. 1976, 657 (Mazzalai), insb. Rn. 7/11. Erst 1984 ging er dann dazu über, die mitgliedstaatlichen Organe zu einer Umsetzung zu verpflichten. Die verschiedenen Entwicklungsetappen wurden von Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 32 ff. erkannt. Eine Zusammenfassung der Etappen der EuGH-Rechtsprechung nach W. Brechmann findet sich auch bei Grundmann, ZEuP 1996, 399, 400 ff. 11 EuGH, Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891 (von Colson & Kamann), S. 1891 ff. 12 EuGH, Rs. 79/83, Slg. 1984, 1921 ff. (Harz). 13 Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 38; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 910.
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Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien
I. Die volle Ausschöpfung des methodischen Beurteilungsspielraums: Die Urteile von Colson & Kamann und Harz (1984) Hintergrund des Urteils von Colson & Kamann14 war die fehlerhafte Umsetzung der Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen.15 Die Richtlinie wurde von der Bundesrepublik in § 611a a.F. BGB umgesetzt, im Hinblick auf den von der Richtlinie vorgesehenen Schadensersatz allerdings – aus unionsrechtlicher Sicht – nur unzureichend, da § 611a II BGB a.F. nur den Ersatz eines Vertrauensschadens vorsah. Sabine von Colson und Elisabeth Kamann, die sich um eine Stelle in einer Justizvollzugsanstalt beworben hatten, wurden zwar zum Bewerbungsgespräch eingeladen, dann aber deswegen abgewiesen, weil in der Vollzugsanstalt nur Männer untergebracht seien, sodass eine Betreuung ausschließlich durch männliches Personal zu erfolgen habe. Die Zurückweisung erfolgte, so stellte das Arbeitsgericht Hamm fest, ausschließlich aus Gründen des Geschlechts. Wegen § 611a II a.F. BGB hätte das Arbeitsgericht allerdings nur einen Vertrauensschaden zusprechen können, der sich auf 7,20 DM vergeblich aufgewendeter Fahrtkosten und Kosten für das Bewerbungsgespräch belief. Das Arbeitsgericht legte daher dem EuGH vor. Der Gerichtshof stellte zunächst fest, dass die „Chancengleichheit nicht ohne eine geeignete Sanktionsregelung erreicht werden kann“16 und dass deshalb eine angemessene, nicht nur eine symbolische Entschädigung erforderlich sei17. Da die Richtlinie aber „keine unbedingte und hinreichend bestimmte Verpflichtung“ 18 enthalte, sei das Arbeitsgericht zur richtlinienkonformen Gesetzesinterpretation verpflichtet. Nach Ansicht des Gerichtshofs ist diese Vorgabe umzusetzen, indem „das nationale Gericht bei der Anwendung des nationalen Rechts, insbesondere auch der Vorschriften eines speziell zur Durchführung der Richtlinie 76/207 erlassenen Gesetzes, dieses nationale Recht im Lichte des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie auszulegen hat, um das in Art. 189 Absatz 3 [Art. 288 III AEUV] genannte Ziel zu erreichen.“19
14
EuGH, Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891 (von Colson & Kamann), S. 1891 ff.. Richtlinie 76/207/EWG. 16 EuGH, Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891 (von Colson & Kamann), Rn. 22. 17 EuGH, Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891 (von Colson & Kamann), Rn. 23, 24. 18 EuGH, Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891 (von Colson & Kamann), Rn. 27. 19 EuGH, Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891 (von Colson & Kamann), Rn. 26; EuGH, Rs. C421/92, Slg. 1994, I-1657 (Habermann-Beltermann), Rn. 10. Weitere Nachweise bei Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 292 in Fn. 11 und Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 46 ff. 15
A. Vorgaben des EuGH zur richtlinienkonformen Rechtsfindung
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Der EuGH begründet diese Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das Ziel der Richtlinie zu erreichen, mit der Pflicht aus Art. 5 EWG [nunmehr Art. 4 III EUV], alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen. Eine solche Verpflichtung obliege allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten und zwar im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch den Gerichten.20 Damit sei es „Sache des nationalen Gerichts, das zur Durchführung der Richtlinie erlassene Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden.“ 21
Ganz ähnlich gelagert war der Fall in Sachen Harz.22 Hier legte das Arbeitsgericht Hamburg dem EuGH Fragen im Zusammenhang mit § 611a a.F. BGB vor. Die Diplom-Kauffrau Dorit Harz wurde bei der Firma Deutsche Tradax GmbH aus Gründen des Geschlechts nicht eingestellt. § 611a II BGB a.F. sah lediglich einen Vertrauensschaden vor, der sich im Fall von Frau Harz auf die Bewerbungskosten in Höhe von 2,31 DM belief. Wie im Fall von Colson & Kamann stellte der EuGH im Fall Harz fest: „Die sich aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das in dieser vorgesehene Ziel zu erreichen, sowie die Pflicht der Mitgliedstaaten gemäß Artikel 5 EWG-Vertrag [Art. 4 III EUV], alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, obliegen allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten, und zwar im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch den Gerichten. Daraus folgt, dass das nationale Gericht bei der Anwendung des nationalen Rechts, insbesondere auch der Vorschriften eines speziell zur Durchführung einer Richtlinie erlassenen Gesetzes, dieses nationale Recht im Lichte des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie auszulegen hat, um das in Artikel 189 Absatz 3 [Art. 288 III AEUV] genannte Ziel zu erreichen.“23 „Es ist Sache des nationalen Gerichts, das zur Durchführung der Richtlinie erlassene Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden.“ 24
Den zitierten, teilweise wortgleichen Passagen, lässt sich zum einen entnehmen, dass der Gerichtshof die richtlinienkonforme Gesetzesanwendung nur im Rahmen der nationalen Zuständigkeitsverteilung fordert. Im Rahmen dieser Zuständigkeiten sollen die Gerichte jedoch ihren Beurteilungsspielraum voll ausschöpfen und eine Rechtsfindung „soweit wie möglich“ 20
EuGH, Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891 (von Colson & Kamann), Rn. 26; Vgl. auch EuGH, verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07, Slg. 2009, I-3071 (Angelidaki), Rn. 106, 198. 21 EuGH, Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891 (von Colson & Kamann), Rn. 28. 22 EuGH, Rs. 79/83, Slg. 1984, 1921 ff. (Harz). 23 EuGH, Rs. 79/83, Slg. 1984, 1921 (Harz), 1. Leitsatz. 24 EuGH, Rs. 79/83, Slg. 1984, 1921 (Harz), 2. Leitsatz.
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Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien
vornehmen, um ein richtlinienkonformes Ergebnis zu erreichen. Nach traditionellen Methoden ist der Beurteilungsspielraum noch nicht erschöpft, wenn die Grenze des möglichen Wortsinns erreicht ist.25 Vielmehr fordert die „volle Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums“, wenn die Voraussetzungen hierfür vorliegen, die Möglichkeit der Rechtsfortbildung einzubeziehen.26 Gleichzeitig werden mit der Formulierung aber auch Grenzen anerkannt. Wird von einem Beurteilungsspielraum gesprochen, wird gleichzeitig anerkannt, dass über den gegebenen Spielraum hinaus nicht gearbeitet werden muss. Unter Berücksichtigung der oben dargestellten nationalen Methoden hat der EuGH damit inzident die Grenze der nationalen Rechtsfindung – mit anderen Worten die nationale Contra-legemGrenze – anerkannt, denn zu einer solchen Rechtsfindung ist die Judikative nach nationalen Methoden nicht berechtigt.27 Die deutschen Arbeitsgerichte fanden einen Beurteilungsspielraum in § 823 I BGB. Bei den diskriminierten Bewerbern wurde eine Persönlichkeitsrechtsverletzung anerkannt und ihnen ein Schmerzensgeld zugesprochen. II. Erweiterungstendenzen in Bezug auf das Institut der richtlinienkonformen Rechtsfindung In der Zeit zwischen 1990 und 2005 ergingen mehrere Entscheidungen des Gerichtshofs, die von einigen Vertretern in der Literatur als Verpflichtung zu einer Ausdehnung der nationalen Rechtsanwendungsmethoden und damit der innerstaatlichen Zuständigkeitsverteilung zwischen Legislative und Judikative interpretiert wurden. 1. Das Urteil Marleasing (1990) Unter Zugrundelegung des weiten Staatsbegriffs des EuGH28 mussten die Urteile von Colson & Kamann und Harz allerdings als vertikale Konstella-
25
Also dann, wenn im deutschen Recht von Auslegung gesprochen wird; Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 81. 26 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 82. 27 Vgl. Thüsing, ZIP 2004, 2301, 2303 f.; Schlachter, RdA 2005, 115, 118 f. 28 S. insbesondere EuGH, C-152/84, Slg. 1986, 723 (Marshall I), Rn. 49: Frau Marshall gegen eine englische Gesundheitsbehörde, wobei die Arbeitsbeziehung zwischen diesen beiden eine privatrechtlich war; EuGH, Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651 (Johnston), Rn. 56: Polizeibehörden und ähnliche Hoheitsträger unterfallen dem Staatsbegriff; EuGH, Rs. 103/88, Slg. 1989, 1839 (Fratelli Costanzo), Rn. 31: alle Träger der öffentlichen Verwaltung einschließlich der Gemeinden und sonstigen Gebietskörperschaften unterfallen dem Staatsbegriff; EuGH, Rs. C-188/89, Slg. 1990, I-3313 (Foster/British Gas), Rn. 20: British Gas war Rechtsnachfolgerin eines staatlichen Monopolunterneh-
A. Vorgaben des EuGH zur richtlinienkonformen Rechtsfindung
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tionen verstanden werden, sodass die Frage noch offen blieb, ob die richtlinienkonforme Gesetzesinterpretation auch in horizontalen Konstellationen möglich ist. Für das Horizontalverhältnis wurde erst 1990 in der Marleasing-Entscheidung29 geklärt, dass auch hier eine richtlinienkonforme Rechtsfindung erforderlich ist.30 a) Sachverhalt und Problemstellung im nationalen Recht Ausgangspunkt des Rechtsstreits Marleasing war die nicht fristgemäße Umsetzung der Richtlinie über die Koordinierung der Schutzbestimmungen für Gesellschafter und Dritte31 durch Spanien. Nach dem spanischen Zivilgesetzbuch war ein Gesellschaftsvertrag dann nichtig, wenn eine Gesellschaft ohne rechtlichen oder mit unerlaubtem Grund errichtet wurde. Ein solcher Grund lag insbesondere dann vor, wenn die Gesellschaft nur zu dem Zweck gegründet wurde, das Kapital eines Gesellschafters der neuen Gesellschaft dem Zugriff von Gläubigern zu entziehen. Die beklagte Firma La Comercial Internacional de Alimentación SA wurde von drei Beteiligten errichtet, darunter die Firma Barviesa, die ihr Vermögen in die Gesellschaft einbrachte. Die Firma Marleasing machte geltend, dies sei nur erfolgt, um das Vermögen der Firma Barviesa ihren Gläubigern, darunter Marleasing, zu entziehen. La Comercial beantragte hingegen, die Klage abzuweisen, indem sie sich auf die Richtlinie berief. Die Richtlinie ordne lediglich an, dass eine Nichtigkeit nur dann möglich sei, wenn der „tatsächliche Gegenstand des Unternehmens rechtswidrig ist oder gegen die öffentliche Ordnung verstößt“.32 Nach Rechtsprechung des EuGH meint dies aber nur den Errichtungsakt oder den in der Satzung beschriebenen Unternehmensgegenstand, nicht aber ihre ausgeübte Tätigkeit, hier die Vereitelung von Ansprüchen von Gläubigern. Das spanische Recht widersprach damit der Richtlinie. b) Die methodischen Vorgaben des EuGH Diese Vorgabe ist nach Ansicht des EuGH durch die nationalen Gerichte im Rahmen einer richtlinienkonformen Gesetzesinterpretation, nunmehr auch in dieser horizontalen Konstellation, umzusetzen. Die Verpflichtung
mens, das vor seiner Privatisierung Angestellte zwangspensioniert hatte. Dazu auch Haltern, Europarecht, S. 354, Rn. 708 29 EuGH, Rs. C-106/89, Slg. 1990, I-4135 ff. (Marleasing). 30 Auch auf dieses Urteil wird von den Vertretern eines interpretatorischen Vorrangs regelmäßig Bezug genommen, s. nur Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 59 ff. 31 Richtlinie 68/151/EWG des Rates vom 9. März 1968. 32 Artikel 11 der Richtlinie 68/151/EWG.
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der Gerichte stützt der Gerichtshof auf Art. 189 III EG [jetzt Art. 288 AEUV]. Er formuliert: „Wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 10. April 1984 in der Rechtssache 14/83 (Von Colson und Kamann, Slg . 1984, 1891, Rn. 26) entschieden hat, obliegen die sich aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das in dieser Richtlinie vorgesehene Ziel zu erreichen, sowie die Pflicht der Mitgliedstaaten gemäß Artikel 5 EWG-Vertrag [Art. 4 III EUV], alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten, und zwar im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch den Gerichten. Daraus folgt, dass ein nationales Gericht, soweit es bei der Anwendung des nationalen Rechts – gleich, ob es sich um vor oder nach der Richtlinie erlassene Vorschriften handelt – dieses Recht auszulegen hat, seine Auslegung soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten muss, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen und auf diese Weise Artikel 189 Absatz 3 EWG-Vertrag nachzukommen.“ 33
Der EuGH klärt im Marleasing-Urteil zunächst, dass sich die Pflicht zur richtlinienkonformen Rechtsfindung auf das gesamte innerstaatliche Recht und nicht nur auf eigens zur Umsetzung der Richtlinie erlassene nationale Vorschriften bezieht.34 Außerdem müsse der Richter die Auslegung „soweit wie möglich“ an den Zielen der Richtlinie ausrichten. Zudem stellte der EuGH in Marleasing fest, dass die aus dem Umsetzungsbefehl folgende Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung es „verbietet“, die nationalen Normen entgegen den einschlägigen Richtlinienbestimmungen auszulegen und dass „ein nationales Gericht […] sein nationales Recht unter Berücksichtigung des Wortlauts und des Zwecks dieser Richtlinie auslegen muss, um [ein mit der Richtlinie nicht zu vereinbarendes Ergebnis] zu verhindern.“35 c) Folgen für die nationale Methode Aus der Wendung des Urteils, dass es die Pflicht zur Konformauslegung verbiete, die nationalen Normen entgegen den Vorgaben der Richtlinie auszulegen, wurde teilweise gefolgert, dass die richtlinienkonforme Auslegung nicht mehr nur dann geboten sei, wenn ein „Beurteilungsspielraum“ bestehe, sondern dass der EuGH die nationalen Methoden der Rechtsfindung habe für irrelevant erklären wollen und die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung nun allein durch das Europarecht zu bestimmen seien.36 Im Zweifel sei die nationale Norm zu verwerfen, sodass die richtli33
EuGH, Rs. C-106/89, Slg. 1990, I-4135 (Marleasing), Rn. 8. Dies wird weitgehend als Erweiterung der Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung gesehen, dazu Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 293 m. vielen weiteren Nachweisen in Fn. 15. 35 EuGH, Rs. C-106/89, Slg. 1990, I-4135 (Marleasing), Rn. 9, 13. 36 Nachweise bei Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 61 in Fn. 53 und 54. 34
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nienkonforme „Auslegung“ damit geradezu ein Contra-legem-Judizieren verlange.37 Gegen eine solche Auslegung spricht aber die Formulierung des EuGH, die Gerichte müssten das nationale Recht „soweit wie möglich“ am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten.38 Der Gerichtshof stellt also die richtlinienkonforme Rechtsfindung unter den Vorbehalt des „Möglichen“ und damit unter das Dach des nationalen Methodenrahmens.39 Damit hat der nationale Richter zu entscheiden, ob eine Rechtsfortbildung nach den Maßstäben des nationalen Rechts (noch) zulässig ist; damit hat er aber gleichzeitig die Möglichkeit eine solche Rechtsfindung – trotz entgegenstehender Ergebnisvorgabe der Richtlinie – abzulehnen. Eine Auslegung contra legem ist aber zumindest nach herkömmlichen nationalen Maßstäben nicht möglich. Der Frage, inwieweit die Contra-legem-Grenze tatsächlich verschoben werden kann oder muss, wird im weiteren Verlauf der Arbeit nachgegangen. Außerdem hielt das der Entscheidung zugrunde liegende Urteil offenbar einen Spielraum für eine richtlinienkonforme Auslegung bereit40, wenngleich das etablierte Verständnis der einschlägigen Normen in Rechtsprechung und Literatur ein unterschiedliches war.41 Insofern spricht viel dafür, dass der EuGH mit der Entscheidung lediglich das Erfordernis der „vollen“ Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums weiter akzentuieren wollte.42 2. Das Urteil Wagner Miret (1993) a) Sachverhalt und Problemstellung im nationalen Recht Der Entscheidung Wagner Miret43 lag ein Rechtsstreit zwischen Teodoro Wagner Miret, einem leitenden Angestellten eines zahlungsunfähigen Unternehmens, und dem spanischen Fondo de Garantia Salarial zugrunde, der die Zahlung von rückständigem Gehalt für Arbeitnehmer von zahlungsunfähigen Unternehmen garantieren sollte. Die Richtlinie über die Zahlungsunfähigkeit von Arbeitgebern44 verpflichtet die Mitgliedstaaten zum Erlass von Maßnahmen, die Arbeitnehmern Zahlungsansprüche im Fall der Zahlungsunfähigkeit eines Unternehmens garantieren. Im spanischen Recht 37
Dazu Classen, EuZW 1993, 83, 86 f.; Lutter, JZ 1992, 593, 597; Müller-Graff, NJW 1993, 13, 21 f. 38 EuGH, Rs. C-106/89, Slg. 1990, I-4135 (Marleasing), Rn. 8. 39 Grosche/Höft, NJOZ 2009, 2294, 2298. 40 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 60 mit Fn. 50. 41 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 60 mit Fn. 51. 42 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 60 mit Fn. 52; Vgl. auch Krieger, Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, S. 107 ff. 43 EuGH, Rs. C-334/92, Slg. 1993, I-6911 (Wagner Miret). 44 Richtlinie 80/987/EWG vom 20. 10. 1980.
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war zwar ein Garantiefond vorgesehen, dieser griff jedoch nicht für den Schutz leitender Angestellter. Herr Wagner Miret erhob daher Klage vor dem Juzgado de lo Social Nr. 27 von Barcelona, um seine geschuldeten Beträge zu erhalten. Nach der ablehnenden Entscheidung des ersten Instanzgerichts legte schließlich das im Rechtsmittelverfahren angerufene Tribunal Superior de Justicia von Katalonien dem EuGH vor. Nach Auffassung des Gerichtshofs sah die Richtlinie zumindest dann die Geltung auch für leitende Angestellte vor, wenn dies nicht durch den betreffenden Mitgliedstaat ausgeschlossen wurde, was nicht der Fall war. Das nationale Recht widersprach daher der Richtlinie. b) Die methodischen Vorgaben des EuGH Methodisch lehnt der EuGH zunächst die unmittelbare Wirkung der Richtlinie im vorliegenden Fall ab: „Obwohl also die in Rede stehenden Richtlinienvorschriften in bezug auf die Bestimmung des Personenkreises, dem die Garantie zugutekommen soll, und den Inhalt dieser Garantie unbedingt und hinreichend genau sind, kann sich der einzelne deshalb noch nicht vor den nationalen Gerichten auf diese Vorschriften berufen.“45
Stattdessen fordert er von den nationalen Gerichten eine richtlinienkonforme Interpretation des spanischen Rechts. Es sei Sache des Mitgliedstaates, „die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit Garantieeinrichtungen die Befriedigung der nicht erfüllten Ansprüche der Arbeitnehmer sicherstellen.“46 Hierbei hat eine richtlinienkonforme Gesetzesinterpretation zu erfolgen. Der Gerichtshof führt diesbezüglich aus: „Drittens hat jedes nationale Gericht bei der Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts davon auszugehen, dass der Staat die Absicht hatte, den sich aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen in vollem Umfang nachzukommen. Wie der Gerichtshof (Slg. I 1990, 4135 Tz. 8 – Marleasing) entschieden hat, muss das nationale Gericht, soweit es bei der Anwendung des nationalen Rechts – gleich, ob es sich um vor oder nach der Richtlinie erlassene Vorschriften handelt – dieses Recht auszulegen hat, seine Auslegung soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten, um das mit dieser verfolgte Ziel zu erreichen und auf diese Weise Artikel 189 Absatz 3 EWGVertrag [Art. 288 III AEUV] nachzukommen. Der Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung gilt für ein nationales Gericht besonders dann, wenn ein Mitgliedstaat wie im vorliegenden Fall der Ansicht war, dass die bereits geltenden Vorschriften seines nationalen Rechts den Anforderungen der betreffenden Richtlinie genügen.“47
Der Gerichtshof wiederholt hier nicht nur die in der Marleasing-Entscheidung aufgestellten Voraussetzungen, dass die nationalen Gerichte „soweit 45
EuGH, Rs. C-334/92, Slg. 1993, I-6911 (Wagner Miret), Rn. 17. EuGH, Rs. C-334/92, Slg. 1993, I-6911 (Wagner Miret), Rn. 18. 47 EuGH, Rs. C-334/92, Slg. 1993, I-6911 (Wagner Miret), Rn. 20 f. 46
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wie möglich“ dem Wortlaut und Zweck der Richtlinie entsprechen müssen48, sondern er fügt mit dem ersten Satz der zitierten Passage ein weiteres Kriterium hinzu. Die nationalen Gerichte sollen dem Staat stets die Absicht unterstellen, den sich aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen nachzukommen. Dies gelte besonders dann, wenn der Mitgliedstaat der Ansicht war, das bereits bestehende Recht genüge den Anforderungen der Richtlinie (s. letzter Satz des Zitats). c) Folgen für die nationale Methode Die soeben zitierte Passage des Urteils ließe sich dahingehend interpretieren, dass in Fällen, in denen der Gesetzgeber „der Ansicht war, dass die bereits geltenden Vorschriften seines nationalen Rechts den Anforderungen der betreffenden Richtlinie genügen,“49 besondere Auslegungsmaßstäbe gelten. Es ließe sich darüber nachdenken, ob der Gerichtshof mit dieser Passage dem Gesetzgeber bei Umsetzungsgesetzen den Willen unterstellen will, die Richtlinie stets ordnungsgemäß umzusetzen. Kann das nationale Recht bzw. die nationale Regelungsentscheidung ggf. dadurch mehrdeutig oder lückenhaft werden, dass der Gesetzgeber die Richtlinie irrtümlich fehlerhaft umgesetzt hat oder ihm im Zweifel ein Irrtum zu unterstellen ist? Ob eine solche Ausdehnung des Gesetzgeberwillens nach deutschem Recht möglich ist, wird im Rahmen dieser Arbeit zu klären sein. Zu berücksichtigen ist zudem eine weitere Passage dieses Urteils, in der der Gerichtshof davon ausgeht, dass eine richtlinienkonforme Rechtsfindung im nationalen Recht auch scheitern kann: „Dem Vorlagebeschluß scheint sich entnehmen zu lassen, daß die nationalen Vorschriften nicht in einem der Richtlinie über die Zahlungsunfähigkeit von Arbeitgebern konformen Sinn ausgelegt werden […]. Für diesen Fall ergibt sich aus dem Urteil Francovich u. a. […], daß der betreffende Mitgliedstaat verpflichtet ist, leitenden Angestellten die Schäden zu ersetzen, die ihnen dadurch entstanden sind, daß die Richtlinie in bezug auf sie nicht durchgeführt worden ist.“ 50
Indem der Gerichtshof hier auf die Schadensersatzpflicht nach den Francovich-Grundsätzen verweist, geht er davon aus, dass die richtlinienkonforme Rechtsfindung auch scheitern kann. Erkennt der EuGH damit aber an, dass eine Konformauslegung scheitern kann, zeigt er gleichzeitig, dass er die nationalen Grenzen der richtlinienkonformen Rechtsfindung respektiert.
48
EuGH, Rs. C-106/89, Slg. 1990, I-4135 (Marleasing), 1. Leitsatz, Rn. 8. EuGH, Rs. C-334/92, Slg. 1993, I-6911 (Wagner Miret), Rn. 20 f. 50 EuGH, Rs. C-334/92, Slg. 1993, I-6911 (Wagner Miret), Rn. 22. 49
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3. Das Urteil Unilever Italia (2000) a) Sachverhalt und Problemstellung im nationalen Recht In dem Rechtsstreit Unilever Italia51 ging es um die Bezahlung einer Lieferung Olivenöl von Unilever Italia SpA an die Central Food SpA. Der Käufer Central Food wies die Ware aufgrund eines Verstoßes gegen eine italienische Etikettierungsvorschrift zurück. Die nationale Vorschrift war allerdings unter Verletzung der Richtlinie 83/189/EWG zustande gekommen. Die Richtlinie sah vor, dass nationale technische Vorschriften, wie auch Etikettierungsvorschriften, der Kommission mitzuteilen und durch sie zu prüfen seien. Diese Mitteilung war zwar durch den italienischen Staat erfolgt, allerdings setzte die Kommission eine Wartefrist für den Erlass der nationalen Vorschrift fest, die nicht eingehalten wurde. Dementsprechend vertrat Unilever den Standpunkt, die italienische Vorschrift sei nicht anzuwenden, sodass das gelieferte Olivenöl den geltenden italienischen Bestimmungen entspreche. Der Pretore von Mailand, der den Fall zu entscheiden hatte, legte dem EuGH die Frage vor, ob er die italienische Etikettierungsvorschrift bei der Entscheidung außer Acht lassen dürfe. Der EuGH entschied, dass das nationale Gericht verpflichtet war, von der Anwendung der nationalen Etikettierungsvorschrift abzusehen, sodass Central Food zur Abnahme und Zahlung verpflichtet war. b) Die methodischen Vorgaben des EuGH Der EuGH begründete seine Entscheidung wie folgt: „Zwar kann […] eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen Einzelner begründen und daher nicht als solche ihnen gegenüber herangezogen werden […]; diese Rechtsprechung gilt jedoch nicht für den Fall, dass die Nichtbeachtung der Art. 8 und 9 der Richtlinie 83/189, die einen wesentlichen Verfahrensfehler darstellt, die Unanwendbarkeit der unter Verstoß gegen einen dieser Artikel erlassenen technischen Vorschrift nach sich zieht. In einem solchen Fall legt die Richtlinie 83/189 […] keineswegs den materiellen Inhalt der Rechtsnorm fest, auf deren Grundlage das nationale Gericht den bei ihm anhängigen Rechtsstreit zu entscheiden hat. Sie begründet weder Rechte noch Pflichten für Einzelne.“52
Der EuGH geht also grundsätzlich davon aus, dass die Richtlinie keine Verpflichtungen für den Einzelnen begründet. Eine Ausnahme macht er allerdings, wenn aufgrund der Verletzung einer Mitteilungspflicht des Mitgliedstaates eine technische Vorschrift unwirksam ist. Die Verpflichtung aus der Richtlinie bestimme dann nicht den materiellen Inhalt der Rechtsnorm und begründe keine Rechte oder Pflichten für den Einzelnen. 51 52
EuGH, Rs. 443/98, Slg. 2000, I-7535 (Unilever Italia). EuGH, Rs. 443/98, Slg. 2000, I-7535 (Unilever Italia), Rn. 50.
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c) Folgen für die nationale Methode Aus dieser Passage wird zum Teil abgeleitet, dass der EuGH bestätigt habe, dass eine richtlinienwidrige nationale Vorschrift unanwendbar sein könne, wenn sie der Richtlinie entgegenstehe.53 In diesem Fall würde die Richtlinie das nationale Recht suspendieren, aber selbst keine Pflichten begründen. Eine solche Rechtsfolge erscheint problematisch, da, wie bereits oben dargelegt wurde54, die Richtlinie nicht unmittelbar in der nationalen Rechtsordnung gilt und sich daher auch nicht in die nationale Normenhierarchie einordnet. Die Verwerfung des nationalen Rechts kann damit jedenfalls nicht mit der normenhierarchischen Höherrangigkeit des nationalen Rechts begründet werden. Zudem muss berücksichtigt werden, dass der Konstellation im Fall Unilever eine Richtlinie zugrunde lag, welche zu Lasten der Mitgliedstaaten öffentlich-rechtliche Verpflichtungen mit technischem bzw. verfahrensrechtlichem Charakter aufstellte. Es handelt sich hier nämlich vielmehr um eine Dreieckskonstellation im Bürger-Staat-Bürger-Verhältnis, bei der sich zwar zwei Bürger gegenüberstehen, die Richtlinie aber keine Rechte und Pflichten des Bürgers begründen will, sondern vom Mitgliedstaat die Einhaltung technischer Vorgaben fordert. Diese Situation unterscheidet sich von einem klassischen Horizontalverhältnis.55 Der Einzelne beruft sich im Horizontalverhältnis gerade direkt auf die Richtlinie selbst, sodass das nationale Recht suspendiert wird. Bei den Dreieckskonstellationen handelt es sich hingegen dem Grunde nach um ein Vertikalverhältnis, bei dem ein Dritter nur reflexartig und unvermeidbar betroffen wird. Insofern kann die Richtlinie nur mittelbar auf den Ausgang privater Streitigkeiten einwirken, sofern sie nicht darauf abzielt es zu tun.56 Es ist daher zweifelhaft, ob diese Rechtsprechung des Gerichtshofs zu einer Dreieckskonstellation auf das Horizontalverhältnis übertragen werden kann. 4. Das Urteil Björnekulla Fruktindustrier (2004) a) Sachverhalt und Problemstellung im nationalen Recht Das Urteil Björnekulla Fruktindustrier57 bezog sich auf eine Klage vor dem schwedischen Tingsrätt. Björnekulla Fruktindustrier klagte gegen 53
Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 69. Ablehnend hingegen Schürnbrand, JZ 2007, 910, 911; so auch BAG NZA 2003, 742, 750; Jarass/Beljin, EuR 2004, 714, 724 f.; Brenn, ÖJZ 2005, 41, 51. 54 S. oben Teil 1, A.III., S. 24 ff. 55 Ähnlich auch Schürnbrand, JZ 2007, 910, 911; Jarass/Beljin, EuR 2004, 714, 722 f.; Brenn, ÖJZ 2005, 41, 51. 56 Körber, EuZW 2001, 353, 353. 57 EuGH, Rs. C-371/02, Slg. 2004, I-5791 (Björnekulla Fruktindustrier).
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Procordia Food, die Gurken-Marke Bostongurka für verfallen zu erklären, da sie ihre Unterscheidungskraft verloren habe. Björnekulla stützte seine Klage auf Verbraucherumfragen zur Unterscheidungskraft; Procordia widersprach mit Hilfe von Marktstudien hierüber, die bei Großunternehmen im Bereich Lebensmittelhandel eingeholt wurden. Aufgrund der schwedischen Gesetzgebungsmaterialien zum Markengesetz entschied der Tingsrätt, dass die Beurteilung der Frage, ob die Marke ihre Unterscheidungskraft verloren habe, sich nach den Verkehrskreisen richte, die geschäftlich mit der Ware befasst sind. Damit war die Studie von Procordia maßgebend. Der daraufhin angerufene Svea hovrätt legte dem EuGH zur Vorabentscheidung vor, denn er fragte sich, ob das mit Hilfe der Gesetzgebungsmaterialien ausgelegte schwedische Markengesetz mit Art. 12 II a mit der Markenrichtlinie58 vereinbar sei, aus der sich nicht klar ergebe, nach welchen Verkehrskreisen sich die Frage der Unterscheidungskraft einer Marke bestimme. Der EuGH entschied, dass es nach der Richtlinie auf sämtliche beteiligte Verkehrskreise und damit auch auf die Endverbraucher ankomme. b) Die methodischen Vorgaben des EuGH Als methodische Vorgabe gibt der EuGH vor, dass das nationale schwedische Recht so ausgelegt werden muss, dass es sich soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichte, um das mit ihr verfolgte Ziel zu erreichen. Dies gelte auch „ungeachtet entgegenstehender Auslegungshinweise, die sich aus den vorbereitenden Arbeiten zu der nationalen Regelung ergeben könnten.“ 59
Der Gerichtshof rekurriert also zunächst erneut auf die Soweit-wiemöglich-Formel, sodass der gesamte Beurteilungsspielraum durch die nationalen Gerichte auszuschöpfen ist, gleichzeitig aber die Grenzen des Möglichen bestehen bleiben. Außerdem soll sich eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts auch über Auslegungshindernisse in den Gesetzesmaterialien, letztlich also über eine historische Auslegung, hinwegsetzen. c) Folgen für die nationale Methode Aus der zitierten Passage wird teilweise der Schluss gezogen, dass die konkrete Zwecksetzung des Gesetzgebers, die in den Gesetzgebungsmaterialien ausgedrückt sei, hinter seinem zu vermutenden Willen richtlinien58 Erste Richtlinie 89/104/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken. 59 EuGH, Rs. C-371/02, Slg. 2004, I-5791 (Björnekulla Fruktindustrier), Rn. 13.
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konform umzusetzen, zurückzutreten habe.60 Würde man diese Rechtsprechung des EuGH als unbedingte Vorgabe verstehen, könnte sich die Richtlinie ohne Rücksicht auf die (aus den Gesetzesmaterialien abgeleitete) konkrete Sachentscheidung des Gesetzgebers durchsetzen. Die traditionelle Contra-legem-Grenze stellt allerdings gerade auf die materielle Sachentscheidung des Gesetzgebers ab, sodass die Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Verschiebung dieser Grenze zu Gunsten der Richtlinienkonformität zu fordern scheint. Auch dieses Urteil wirft damit, wie die Entscheidungen Marleasing und Wagner Miret61, die Frage auf, ob an den nationalen Methoden und damit auch den ermittelten Grenzen der Rechtsfindung, insbesondere der Contra-legem-Grenze, festzuhalten ist oder ob nach den Vorgaben des Gerichtshofs eine Kompetenzverschiebung im nationalen Recht stattfinden soll, die die Kompetenzen der Judikative bei richtlinienkonformer Rechtsfindung erweitert. 5. Das Urteil Pfeiffer (2004) a) Sachverhalt und Problemstellung im nationalen Recht Bei der ebenfalls im Jahr 2004 ergangenen Entscheidung Pfeiffer62 ging es u.a. um den Widerspruch zwischen Art. 6 der Richtlinie über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung63 und dem deutschen Arbeitszeitgesetz. Die Richtlinie schrieb eine wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden vor. Das Arbeitszeitgesetz ließ von dieser Regelung allerdings eine Ausnahme zu: Eine Verlängerung der Wochenarbeitszeit über 48 Stunden war zulässig, wenn ein Tarifvertrag dies vorsah. Beim Deutschen Roten Kreuz war das der Fall, sodass die Rettungssanitäter 49 Stunden in der Woche arbeiten mussten. Herr Pfeiffer und andere Arbeitnehmer klagten daraufhin auf Nachzahlung für ihre Überstunden. Das Arbeitsgericht Lörrach legte die Frage dem EuGH vor. Der EuGH entschied u.a., dass die Richtlinie so auszulegen ist, dass sie einer Überschreitung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 48 Stunden, die tarifvertraglich vereinbart ist, entgegensteht. b) Die methodischen Vorgaben des EuGH und Folgen für die nationale Methode Im Urteil Pfeiffer nimmt der EuGH ausführlicher zu methodischen Vorgaben Stellung. Auf drei Aspekte ist einzugehen: 60 Vgl. Roth in: Europäische Methodenlehre, § 14 Die richtlinienkonforme Auslegung, Rn. 28. 61 Dazu s. oben Teil 2, A.II.1, S. 86 ff. und Teil 2, A.II.2., S. 89 ff. 62 EuGH, verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01, Slg. 2004, I-8835 (Pfeiffer). 63 Richtlinie 93/104/EG.
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(1) Keine unmittelbare Anwendung der Richtlinie und Soweit-wie-möglich-Formel Der Gerichtshof rekurriert zunächst auf die bereits bekannten Grenzen der richtlinienkonformen Rechtsfindung im nationalen Recht. Zunächst verweist er darauf, dass „eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen kann, sodass ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche nicht möglich ist“64
Die Richtlinie könne in einem Rechtsstreit, bei dem sich ausschließlich Private gegenüberstehen, nicht unmittelbar angewendet werden.65 Stattdessen seien die Gerichte im Rahmen ihrer Zuständigkeiten verpflichtet, „alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen“, um das in der Richtlinie vorgesehene Ziel zu erreichen.66 Der EuGH schließt mit einem Verweis auf die Soweit-wiemöglich-Formel: „[D]as nationale Gericht [muss] das innerstaatliche Recht außerdem so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zweckes dieser Richtlinie auslegen, um das in ihr festgelegte Ergebnis zu erreichen“67
Diese methodischen Vorgaben des Gerichtshofs sind aus früheren Entscheidungen bekannt und zeigen die Grenzen der Konformauslegung auf. (2) Fiktive Normenkollision zwischen Richtlinie und nationalem Recht Der EuGH wählt jedoch in einem Absatz eine neue Formulierung, in der er die nationalen Gerichte im Hinblick auf die anzuwendenden Methoden verpflichtet, von einer im nationalen Recht bestehenden Möglichkeit, Normkollisionen im Wege der Auslegung oder durch andere Kollisionsvermeidungsmechanismen aufzulösen, auch zugunsten von Richtlinienrecht Gebrauch zu machen. Im genauen Wortlaut heißt es: „Ermöglicht es das nationale Recht durch die Anwendung seiner Auslegungsmethoden, eine innerstaatliche Bestimmung unter bestimmten Umständen so auszulegen, dass eine Kollision mit einer anderen Norm innerstaatlichen Rechts vermieden wird, oder die Reichweite dieser Bestimmung zu diesem Zweck einzuschränken und sie nur insoweit anzuwenden, als sie mit dieser Norm vereinbar ist, so ist das nationale Gericht verpflichtet, die gleichen Methoden anzuwenden, um das von der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen.“68
64
EuGH, verb. EuGH, verb. 66 EuGH, verb. 67 EuGH, verb. 68 EuGH, verb. 65
Rs. C-397/01 bis C-403/01, Rs. C-397/01 bis C-403/01, Rs. C-397/01 bis C-403/01, Rs. C-397/01 bis C-403/01, Rs. C-397/01 bis C-403/01,
Slg. 2004, I-8835 (Pfeiffer), Slg. 2004, I-8835 (Pfeiffer), Slg. 2004, I-8835 (Pfeiffer), Slg. 2004, I-8835 (Pfeiffer), Slg. 2004, I-8835 (Pfeiffer),
Rn. 108. Rn. 109. Rn. 110. Rn. 113. Rn. 116.
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Der Gerichtshof vergleicht hier den Fall der Normenkollision im nationalen Recht mit dem Konflikt zwischen Richtlinie und nationalem Recht. Zur Vermeidung von Normenkollisionen werden im nationalen Recht nicht nur Auslegung und Fortbildung herangezogen, sondern insbesondere auch die Anwendung des Lex-superior-Satzes. Dementsprechend soll aus obiger Textpassage nach teilweise vertretener Ansicht abzuleiten sein, dass die innerstaatlichen Mittel zur Vermeidung von Normenkollisionen auch bei einem Konflikt zwischen Richtlinie und nationalem Recht heranzuziehen sind.69 Obwohl erkannt wird, dass die Richtlinie in der nationalen Rechtsordnung nicht unmittelbar gilt und daher gar nicht in einem klassischen Normenwiderspruch mit dem nationalen Recht treten kann70, sehe der Gerichtshof die Möglichkeit einer Normenkollision zwischen Richtlinienrecht und nationalem Recht gerade auch dann als eröffnet an, wenn und soweit nicht von der unmittelbaren Anwendbarkeit einer Richtlinienbestimmung auszugehen ist.71 Für die richtlinienkonforme Auslegung sei nach EuGH daher eine Normenkollision zu fingieren und diese anhand der nationalen Normenkollisionsregeln zu lösen.72 Problematisch ist bei diesem Vorgehen, dass bei Anwendung der Regeln einer Normenkollision stets ein Widerspruch und damit eine Kollisionslücke fingiert werden kann. Diese Kollisionslücke ließe sich dann richtlinienkonform schließen, indem der Umsetzungsbefehl die Auswahl der Auslegungskriterien fordert, die richtlinienkonform sind oder indem die Richtlinie das nationale Recht wie bei Anwendung des Lex-superior-Satzes ersetzt. Die nationale Contra-legem-Grenze wäre verschoben oder sogar aufgehoben. Es ist daher zu prüfen, ob eine Verschiebung der nationalen Contra-legem-Grenze durch eine Kompetenzverschiebung zugunsten der Judikative im Richtlinienbereich stattgefunden hat. Außerdem spricht gegen die Annahme, der EuGH habe eine Fiktion einer Normenkollision zur Begründung einer Kollisionslücke etablieren wollen, dass der Gerichtshof an der Soweit-wie-möglich-Formel festgehalten hat und damit nationale Grenzen anerkennt.73 Die Annahme einer Normenkollision zwischen Richtlinie und nationalem Recht würde dazu führen, 69
Dafür LAG Köln ZIP 2005, 1524, 1526; Konzen, ZfA 2005, 189, 197 f., 200; Roth in: Europäische Methodenlehre, § 14 Die richtlinienkonforme Auslegung, Rn. 31; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 51. 70 Mörsdorf, EuR 2009, 219, 224. Andere Ansicht: Roth, EWS 2005, 385, 395. 71 Vgl. Roth, EWS 2005, 385, 395; Mörsdorf, EuR 2009, 219, 223. 72 Mörsdorf, EuR 2009, 219, 224 f. 73 EuGH, verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01, Slg. 2004, I-8835 (Pfeiffer), 4. Leitsatz, s. auch erster Halbsatz der im Text zitierten Passage in Rn. 116. Thüsing, ZIP 2004, 2301, 2304 hält das Urteil ebenfalls für eine bloße Bestätigung des Bisherigen, zumal der Gerichtshof kein Auslegungsergebnis vorgegeben habe.
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dass die Richtlinie eine Lücke in der nationalen Rechtsordnung aufwirft und damit Anwendung im Horizontalverhältnis findet. Eine unmittelbare Anwendbarkeit hat der EuGH in der Entscheidung Pfeiffer aber gerade abgelehnt.74 Dies zeigt ein Vergleich des Endurteils mit dem zugrunde liegenden Schlussantrag von Generalanwalt R.-J. Colomer, wo es heißt: „Somit hat das vorlegende Gericht, das mit einem Rechtsstreit befasst ist, der in den Anwendungsbereich einer Richtlinie fällt und auf einen nach Ablauf der Frist zur Umsetzung der Richtlinie entstandenen Sachverhalt zurückgeht, die innerstaatlichen Rechtsvorschriften so auszulegen, dass sie im Einklang mit den Zielen dieser Richtlinie stehen. Erweist sich diese richtlinienkonforme Auslegung als unmöglich, so muss das nationale Gericht die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts dadurch gewährleisten, dass es erforderlichenfalls jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste“75
Während der EuGH viele Passagen des Schlussantrages fast wörtlich übernimmt, weicht er an dieser Stelle ab.76 Wäre es also die Intention des Gerichtshofs gewesen, eine unmittelbare (zumindest negative) Wirkung von Richtlinien im Horizontalverhältnis einzuführen, wäre dies durch eine klarere Sprache möglich gewesen.77 Der EuGH stellt gerade nicht fest, dass die höherrangige Unionsnorm zur Derogation einer niederrangigen nationalen Norm führt. Vielmehr solle eine Derogation der nationalen Norm gerade vermieden werden, indem die nationalen Gerichte nur im Rahmen des (vorgelagerten) Auslegungsprozesses Normenkollisionen auflösen sollen.78 Die Auslegungsmaßstäbe des nationalen Rechts erkenne der EuGH ausdrücklich an.79 (3) Absicht zur korrekten Richtlinienumsetzung Außerdem hat der EuGH in der Rechtssache Pfeiffer eine bereits im Urteil Wagner Miret getroffene Formulierung nochmals bestätigt. Danach hat ein nationales Gericht bei der Rechtsfindung „in Anbetracht des Artikels 249 Absatz 3 EG [nunmehr Art. 288 III AEUV] davon auszugehen, dass der Staat, wenn er von dem ihm durch diese Bestimmung eingeräumten
74
Mörsdorf, EuR 2009, 219, 223; Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 101. Andere Ansicht: Schlachter, ZfA 2007, 249, 271; zurückhaltender Streinz/Herrmann, RdA 2007, 165, 168. 75 Schlussantrag GA Colomer, C-397-403/01, Slg. 2004, I-8835 (Pfeiffer), Rn. 58. 76 So auch Mörsdorf, EuR 2009, 219, 223. 77 Mörsdorf, EuR 2009, 219, 223. 78 Mörsdorf, EuR 2009, 219, 223 f. 79 Thüsing, ZIP 2004, 2301, 2304.
A. Vorgaben des EuGH zur richtlinienkonformen Rechtsfindung
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Gestaltungsspielraum Gebrauch gemacht hat, die Absicht hatte, den sich aus der betreffenden Richtlinie ergebenden Verpflichtungen in vollem Umfang nachzukommen“ 80
Ginge man davon aus, dass es sich hierbei um eine unionsrechtliche Vorgabe zur generellen Vermutung richtlinienkonformen Verhaltens des nationalen Gesetzgebers81 handelte, bedeutete dies, dass die konkreten Überlegungen, die der Gesetzgeber im Übrigen anstellt, keine besondere Bedeutung mehr hätten. Der nationale Richter müsste bei der nationalen Rechtsfindung davon ausgehen, dass der Gesetzgeber die Richtlinie korrekt umsetzen wollte, auch wenn eine Umsetzung gar nicht erfolgt oder beabsichtigt war. In diesem Fall würde die eigentliche Regelungsentscheidung des Gesetzgebers durch den Konformitätswillen ersetzt. Die richtlinienkonforme Auslegung anhand eines solchen Umsetzungswillens wäre – nach originär nationalem Verständnis – contra legem. Es käme wiederum zu dem Problem der Kompetenzabgrenzung zwischen der Judikative und der Legislative und der Frage, ob diese im Richtlinienbereich verschoben ist. 6. Das Urteil Mangold (2005) a) Sachverhalt und Problemstellung im nationalen Recht Der Entscheidung Mangold lag folgender, anscheinend gestellter82, Sachverhalt zugrunde: Der 56jährige Herr Mangold schloss mit dem als Rechtsanwalt tätigen Herrn Helm einen Arbeitsvertrag mit Wirkung zum 1.7.2003 und befristet bis zum 28.2.2004. Die Befristung wurde ausdrücklich auf die § 14 III 1 und 4 TzBfG a.F. gestützt, die vorsahen, dass die Befristung keines sachlichen Grundes bedürfe, wenn der Arbeitnehmer das 52. Lebensjahr vollendet hat.83 Herr Mangold macht nun geltend, dass diese nationale Vorschrift unvereinbar mit der Gleichbehandlungsrichtlinie84 und der Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge 85 sei, die eine Altersdiskriminierung nicht zuließen. Herr Helm hingegen machte geltend, dass die Altersdiskriminierung aufgrund sachlicher Gründe gerechtfertigt 80
EuGH, verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01, Slg. 2004, I-8835 (Pfeiffer), Rn. 112. Vgl. EuGH, Rs. C-334/92, Slg. 1993, I-6911 (Wagner Miret), Rn. 20 f. 81 So Mörsdorf, EuR 2009, 219, 225; Schnorbus, AcP 201 (2001), S. 860, 880. 82 EuGH, Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981 (Mangold), Rn. 32 ff. 83 Die zum 1.1.2003 in Kraft getretene Fassung lautete: „1Die Befristung eines Arbeitsvertrages bedarf keines sachlichen Grundes, wenn der Arbeitnehmer bei Beginn des befristeten Arbeitsverhältnisses das 58. Lebensjahr vollendet hat. […] 4Bis zum 31. 12. 2006 ist Satz 1 mit der Maßgabe anzuwenden, dass an die Stelle des 58. Lebensjahres das 52. Lebensjahr tritt.” 84 Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf. 85 Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge vom 18. März 1999.
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sei, insbesondere weil es für ältere Arbeitnehmer angesichts der Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt schwer sei, Arbeit zu finden. Das Arbeitsgericht München zweifelte an der Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit den Vorgaben der Richtlinie und legte dem EuGH vor. Der EuGH entschied inhaltlich, dass Art. 6 I der Gleichbehandlungsrichtlinie, dem uneingeschränkten Abschluss von befristeten Arbeitsverträgen mit Arbeitnehmern die das 52. Lebensjahr überschritten haben, entgegensteht. b) Die methodischen Vorgaben des EuGH Methodisch sei dieses Ergebnis notfalls damit zu erreichen, dass entgegenstehende Bestimmungen des nationalen Rechts unangewendet bleiben müssen. Es obliege dem nationalen Gericht, „im Rahmen seiner Zuständigkeiten den rechtlichen Schutz, der sich für den Einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht ergibt, zu gewährleisten und die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu garantieren, indem es jede möglicherweise entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet lässt“86
Begründet wird die Notwendigkeit für dieses Vorgehen mit der Effektivität des Unionsrechts, welche für den Schutz der Marktbürger zu gewährleisten ist. c) Folgen für die nationalen Methoden Die Entscheidung wird teilweise zur Unterstützung der These herangezogen, die Richtlinie könne auch im Horizontalverhältnis zur Suspendierung des nationalen Rechts führen, solange sie nicht positiv selbst zur Anwendung gelange.87 Dann würde die Richtlinie wie bei der Anwendung des Lex-superior-Satzes das nationale Recht kassieren, würde allerdings selbst keine positiven Rechte für den Bürger begründen. Insofern müsste auf das verbleibende nationale Recht zurückgegriffen werden (das ggf. wiederum richtlinienkonform zu interpretieren ist). Zu berücksichtigen ist jedoch, dass sich der Gerichtshof nicht auf die Richtlinie stützte, zumal die Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen war. Vielmehr stützte er sich im Kern auf den allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf.88 Als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts ist dieser aber Teil des 86
EuGH, Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981 (Mangold), 4. Leitsatz, vgl. auch Rn. 77. Kreße, ZGS 2007, 215, 216 ebenso auch Reich, EuZW 2006, 20, 21. Zurückhaltender Streinz/Herrmann, RdA 2007, 165, 168. 88 EuGH, Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981 (Mangold), Rn. 74 und 75. Dazu auch Schürnbrand, JZ 2007, 910, 911; Preis/Temming, NZA 2010, 185, 185 ff.; Picker, ZTR 2009, 230, 234. 87
A. Vorgaben des EuGH zur richtlinienkonformen Rechtsfindung
101
Primärrechts und wurde von den Mitgliedstaaten durch Zustimmungsakt in nationales Recht übernommen. Allgemeine Rechtsgrundsätze gelten damit innerstaatlich in den nationalen Rechtsordnungen und können auch im Horizontalverhältnis Wirkungen entfalten. Diese Konstellation der innerstaatlichen Geltung von Primärrecht ist von der Frage der unmittelbaren Geltung von Richtlinien zu unterscheiden, sodass nicht etwa von der innerstaatlichen Geltung von allgemeinen Grundsätzen auf die unmittelbare Geltung von Richtlinien geschlossen werden kann. Vielmehr spricht der Umweg des EuGH über die Ableitung des Diskriminierungsverbots aus allgemeinen Prinzipen des Primärrechts gerade dafür, dass auch der EuGH der Richtlinie keine unmittelbar (negative) Wirkung zusprechen will.89 III. Die Klarstellung der Grenzen der Verpflichtung: Das Urteil Adeneler (2006) In dem jüngeren Urteil Adeneler90 von 2006 verfolgt der EuGH einen restriktiveren Ansatz im Hinblick auf das Institut der richtlinienkonformen Rechtsfindung. 1. Sachverhalt und Problemstellung im nationalen Recht Vor einem griechischen Arbeitsgericht kam es zur Klage mehrerer Arbeitnehmer, darunter Konstantinos Adeneler, gegen den griechischen Milchverband Ellenikos Organismos Galaktos (ELOG). Letzterer ist organisiert als juristische Person des Privatrechts, nach griechischem Recht allerdings dem öffentlichen Sektor zuzurechnen. ELOG beschäftigte die klagenden Arbeitnehmer mit befristeten Arbeitsverträgen für jeweils acht Monate, ließ die Verträge dann aber 2003 auslaufen. Die Klage der Arbeitnehmer war gerichtet auf Feststellung, dass ihre Arbeitsverhältnisse als unbefristet anzusehen seien. Sie war gestützt auf eine griechische Vorschrift, nach der bei Überschreiten von zwei Jahren Gesamtdauer des Arbeitsvertrages ein befristeter Arbeitsvertrag in einen unbefristeten umgewandelt wird, sofern kein objektiver Grund für die Befristung vorliegt. Diese Vorschrift galt allerdings nicht für staatliche Träger und juristische Personen bei Deckung eines saisonalen, regelmäßig wiederkehrenden oder zeitweiligen Bedarfs. Außerdem besagte die griechische Norm, dass Arbeitsverträge nur als „aufeinander folgend“ gelten, wenn zwischen ihnen weniger als 20 Werktage liegen. Die Arbeitsverträge der klagenden Arbeitnehmer mit ELOG waren stets mit etwas längeren Unterbrechungen geschlossen worden. Das griechische Arbeitsgericht hatte Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Vorschriften mit § 5 I a der im Anhang zur Richtlinie 1999/70/EG 89 90
So auch Schürnbrand, JZ 2007, 910, 911. EuGH, Rs. C-212/04, Slg. 2006, I-6057 (Adeneler).
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Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien
enthaltenen Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge. 91 Diese verpflichtet die Mitgliedstaaten, den Missbrauch zu Lasten des Arbeitnehmers durch die wiederholte Befristung aufeinanderfolgender Arbeitsverhältnisse zu unterbinden.92 Das griechische Gericht legte deshalb dem Gerichtshof vor und fragte u.a. nach der Vereinbarkeit des griechischen Rechts mit der Richtlinie. Der Gerichtshof entschied, dass das griechische Recht der Richtlinie entgegensteht, die für eine Befristung sachliche Gründe verlange, die mit der betreffenden Tätigkeit und den Bedingungen ihrer Ausübung zusammenhängen. Solche Gründe fordere das griechische Recht nicht, sodass die Richtlinie fehlerhaft umgesetzt wurde. 2. Die methodischen Vorgaben des EuGH Methodisch verweist der Gerichtshof zunächst auf seine ständige Soweitwie-möglich-Formel: „Es ist daran zu erinnern, dass die nationale Gerichte [sic] bei der Anwendung des innerstaatlichen Rechts dieses so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zweckes der fraglichen Richtlinie auslegen müssen, um das in ihr festgelegte Ergebnis zu erreichen und so Artikel 249 Absatz 3 EG [nunmehr Art. 288 AEUV] nachzukommen.“ 93 „Das Gebot einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts ist dem EG-Vertrag immanent, da dem nationalen Gericht dadurch ermöglicht wird, im Rahmen seiner Zuständigkeit die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten, wenn es über den bei ihm anhängigen Rechtsstreit entscheidet“94
Sodann legt sich der Gerichtshof ausdrücklich auf die Contra-legemGrenze des nationalen Rechts als Grenze der richtlinienkonformen Rechtsfindung fest: „Die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt einer Richtlinie heranzuziehen, wird zwar durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere durch den Grundsatz der Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot begrenzt; auch darf sie nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen“95
91 Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge vom 18.3.1999 im Anhang der Richtlinie 1999/70 zu der EGB-UNICE-CEEP Rahmenvereinbarung; ABlEG Nr. L 175 v. 10.7.1999, S. 43. 92 EuGH, Rs. C-212/04, Slg. 2006, I-6057 (Adeneler), Rn. 63 ff. 93 EuGH, Rs. C-212/04, Slg. 2006, I-6057 (Adeneler), Rn. 108. 94 EuGH, Rs. C-212/04, Slg. 2006, I-6057 (Adeneler), Rn. 109. 95 EuGH, Rs. C-212/04, Slg. 2006, I-6057 (Adeneler), Rn. 110. Aufgegriffen in EuGH, verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07, Slg. 2009, I-3071 (Angelidaki), Rn. 199; EuGH, C-268/06, Slg. 2008, I-2483 (Impact), Rn. 100; EuGH, C-364/07, Slg. 2008, I-90 (Vassilakis), 58. Zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung vorher bereits EuGH, Rs. C105/03, Slg. 2005, I-5285 (Pupino), Rn. 44, 47.
A. Vorgaben des EuGH zur richtlinienkonformen Rechtsfindung
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Der Gerichtshof bekennt sich also zu rechtsstaatlichen Grundsätzen, insbesondere zu denen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes. Zudem erkennt er die nationale Gewaltenteilung an, indem er auf die Contralegem-Grenze rekurriert. Diese Grenze wird auch in weiteren Urteilen, jüngst in den Urteilen und Angelidaki96 von April 2009 und Dominguez von Januar 2012, bestätigt.97 3. Folgen für die nationalen Methoden Der Verweis auf die Contra-legem-Grenze durch den EuGH bedeutet, dass der Gerichtshof die methodischen Grenzen des nationalen (Verfassungs-) Rechts respektiert. Er macht damit deutlich, dass das Unionsrecht die nationalen Auslegungsmethoden, die an den jeweiligen verfassungsrechtlichen Kompetenzrahmen von Legislative und Judikative rückgekoppelt sind, nicht verschieben kann. Damit beschränkt der EuGH die Erfüllung der Umsetzungspflicht gleichzeitig auf den Zuständigkeitsrahmen der nationalen Organe.98 Der Gerichtshof überlässt es also dem nationalen Verfassungsrecht, die Grenzen der richtlinienkonformen Rechtsfindung zu bestimmen. Innerhalb dieser Grenzen ist der Richter jedoch verpflichtet, die Rechtsfindung soweit wie möglich an den Zielen der Richtlinie auszurichten.
96
EuGH, verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07, Slg. 2009, I-3071 (Angelidaki), v.a. Rn. 199. 97 EuGH, Rs. C-282/10, EuZW 2012, 342 ff. (Dominguez), Rn. 25. Des Weiteren: EuGH, C-268/06, Slg. 2008, I-2483 (Impact), Rn. 100; EuGH, C-364/07, Slg. 2008, I-90 (Vassilakis), Rn. 58; EuGH, verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07, Slg. 2009, I-3071 (Angelidaki), Rn. 199. 98 Im Ergebnis ebenso: EuGH, Rs. 79/83, Slg. 1984, 1921 (Harz), Rn. 26; EuGH, Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891 (von Colson & Kamann), Rn. 26; EuGH, Rs. 80/86, Slg. 1987, 3969 (Kolpinghuis Nijmegen), Rn. 12; EuGH, Rs. C-129/96, Slg. 1997, I-7411 (Inter Environnement Wallonie), Rn. 40; EuGH, verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01, Slg. 2004, I-8835 (Pfeiffer), Rn. 110; EuGH, Rs. C-212/04, Slg. 2006, I-6057 (Adeneler), Rn. 117; EuGH, verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07, Slg. 2009, I-3071 (Angelidaki), Rn. 106, 198, 207 und öfter. Diese Rechtsprechung wird im Schrifttum weitestgehend anerkannt: Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 246 m.w.N. in Fn. 15; Faust, JuS 2012, 456, 459; Grosche/Höft, NJOZ 2009, 2294, 2298; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 550; Schnorbus, AcP 201 (2001), S. 860, 879; Herdegen, WM 2005, 1921, 1926 f.; Nettesheim, AöR 1994, 261, 284; Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 38; Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 252; Jarass/Beljin, JZ 2003, 768, 775. Andere Ansicht Salzwedel in: UTR 7, 1989, 65, 41 f. Zu den formellen und materiellen Anforderungen an die Umsetzung Danwitz, VerwArch 1993, 73, 73 ff.; Himmelmann, DÖV 1996, 145, 146 ff.
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Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien
IV. Fazit Die Betrachtung der Rechtsprechungsentwicklung hat gezeigt, dass der Gerichtshof seine Vorgaben in den Urteilen von Colson & Kamann und Harz mit nur geringen Modifikationen oder Ergänzungen aufrechterhält. Er verpflichtet die nationalen Gerichte zur vollen Ausschöpfung ihres Beurteilungsspielraums und zu einer richtlinienkonformen Rechtsfindung „soweit wie möglich“. Dabei respektiert er den nationalen Kompetenzrahmen, in dem er die nationale Contra-legem-Grenze ausdrücklich anerkennt. Vereinzelt hat es Rechtsprechung gegeben, die sich dahingehend interpretieren lässt, dass eine Ausdehnung der nationalen Methoden durch den EuGH gefordert würde. Vor dem Hintergrund der ausdrücklichen Anerkennung der Contra-legem-Grenze und der als ständig zu bezeichnenden Soweit-wie-möglich-Formel lassen sich diese Ansätze vielmehr als ein Aufzeigen von Möglichkeiten zur richtlinienkonformen Rechtsfindung verstehen, die aber stets vor den verfassungsrechtlichen Grenzen zu überprüfen sind. Hätte der EuGH hingegen in diesen Entscheidungen etablieren wollen, dass die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung allein durch Europarecht bestimmt werden, so hätte er seine Kompetenzen überspannt und seine Befugnisse überschritten.99 Die Einwirkungen von Unionsrecht unterliegen nämlich den verfassungsrechtlichen Bindungen, vor allem den absoluten Grenzen des Art. 79 III GG (in Verbindung mit Art. 23 I 3 GG). Dementsprechend wäre eine Entscheidung, die derartige Grenzen nicht anerkennt, für die deutschen Gerichte nicht bindend.100 Die Handhabung der Auslegung des nationalen Rechts, ihrer maßgebenden Auslegungskriterien und Grenzen ist – soweit eine Richtlinie nicht unmittelbar anwendbar ist – eine Frage der Anwendung des nationalen Rechts und des Verhältnisses zwischen Legislative und Judikative innerhalb eines Mitgliedstaates.101 Der EuGH hat hier keine Entscheidungskompetenz. Außerdem hätte der Gerichtshof, hätte er den Lex-superior-Grundsatz im Verhältnis zur Richtlinie anwenden wollen, dies eindeutig formulieren können und müssen.102 Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass der Gerichtshof damit eine jahrzehntelange Rechtsprechung ändern würde. Eine solche Entscheidung ist nicht ergangen, obwohl dies von mehreren Generalanwälten ausdrücklich gefordert wurde. 103 Richtlinien, denen die unmittelbare Wirkung fehlt, können also gerade keine Verwerfungskompe-
99
So auch Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 61 mit Fn. 55; Herdegen, WM 2005, 1921, 1926; Gsell, JZ 2009, 522, 524 in Fn. 30. 100 Auch Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 61. 101 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 61. 102 Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 101. 103 Streinz/Herrmann, RdA 2007, 165, 167 f.
B. Meinungen zum Konflikt von Richtlinie und nationalem Recht
105
tenz des nationalen Richters und damit die Aufhebung der Contra-legemGrenze begründen.104
B. Meinungen in der Literatur zur Lösung des Konflikts zwischen Richtlinie und nationalem Recht im Privatrechtsverhältnis durch richtlinienkonforme Gesetzesanwendung B. Meinungen zum Konflikt von Richtlinie und nationalem Recht Aufgrund der teilweise weitgehenden, teilweise restriktiven Formulierungen des Europäischen Gerichtshofs zu Inhalt und Reichweite der Umsetzungsverpflichtung der nationalen Gerichte, werden in der Literatur verschiedene Ansichten im Hinblick auf die Methode der richtlinienkonformen Rechtsfindung vertreten. Wegen der großen Anzahl von Stellungnahmen und Ansätzen wird nicht jeder Vertreter einzeln dargestellt, sondern es werden Meinungsgruppen gebildet. Differenziert wird danach, welcher Ansatzpunkt gewählt wurde, um ein der Richtlinie entsprechendes Ergebnis zu erzielen. Unter Abschnitt I werden die Ansätze zusammengefasst, die die unionsrechtliche Vorgabe erst nach der traditionellen Gesetzesanwendung zur Auswahl unter mehreren Auslegungsergebnissen heranziehen (I.). In Abschnitt II werden die Vertreter eingeordnet, die die Notwendigkeit der Richtlinienkonformität bereits bei der Auslegung und Rechtsfortbildung der konkreten mit der Richtlinie konfligierenden Norm berücksichtigen wollen (II.). Unter Abschnitt III werden demgegenüber die Ansätze zusammengefasst, die davon ausgehen, die Richtlinie sei eine Rechtsnorm, die mit dem nationalen Recht kollidiere, sodass auf Normenkollisionsregeln zurückgegriffen wird (III.). Vorweggenommen sei an dieser Stelle, dass weitgehend Einigkeit im Hinblick auf die absoluten Grenzen besteht, die das Unionsrecht einerseits und das Verfassungsrecht andererseits vorgeben, sodass hierauf nicht bei jeder Meinungsgruppe gesondert eingegangen wird. Als unionsrechtliche Grenzen werden anerkannt die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts, wie beispielsweise das Gebot der Rechtssicherheit, der Vertrauensschutz und das Rückwirkungsverbot.105 Verstößt die Richtlinie gegen einen 104
Im Ergebnis ebenso: Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 272 f.; Gellermann, Beeinflussung, S. 107; Scherzberg, Jura 1993, 225, 232; Krieger, Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, S. 133; Kreße, ZGS 2007, 215, 215 m.w.N. Andere Ansicht Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 164. 105 Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 289 f.; Frisch, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 101; Götz in: FS Ress, 2005, 485, 489 m.w.N.; Grosche/Höft, NJOZ 2009, 2294, 2300; Herlinghaus, Bedeutung und Reichweite, S. 65 f. m.w.N.; Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 302 und passim; Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 161; Höpf-
106
Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien
dieser primärrechtlichen Grundsätze, ist sie selbst als Sekundärrechtsakt unionsrechtswidrig.106 Als verfassungsrechtliche Grenzen werden die unantastbaren Grundsätze des Art. 79 III GG genannt.107 Verstößt die Richtlinie gegen diese Grundsätze, entfaltet sie keine Geltung für die nationalen Organe und muss nicht umgesetzt werden; es gilt dann das höherrangige Verfassungsrecht. Zudem wird eine Modifikation der nationalen Methoden aufgrund der Richtlinie nur im Anwendungsbereich der Richtlinie angenommen, sodass diese eine funktionelle Grenze der richtlinienkonformen Rechtsfindung bildet.108 Da diese Grenzen weitgehend anerkannt werden, wird auf sie nicht gesondert eingegangen. I. Die Lösung des Konflikts zwischen Richtlinie und nationalem Recht bei verbleibendem Rechtsfindungsspielraum nach traditioneller Gesetzesanwendung: Die These vom Ergebnisvorrang Die Problematik des Widerspruchs zwischen Richtlinie und nationalem Recht wird von einigen Vertretern mit Hilfe eines Vorrangs eines richtlinienkonformen Auslegungsergebnisses gelöst. Das bedeutet, dass man nach rein nationaler Methode zunächst alle denkbaren Auslegungs- oder Fortbildungsergebnisse zusammenträgt. Findet sich zumindest ein richtlinienkonformes Ergebnis, ist dieses Ergebnis bei der Rechtsfindung den anderen vorzuziehen.109 Es lässt sich deshalb von der Theorie des Ergebner, Systemkonforme Auslegung, S. 281 f.; Jarass, EuR 1991, 211, 223; Jarass/Beljin, JZ 2003, 768, 776, Langenfeld, DÖV 1992, 955, 965; Roth, RabelsZ 75 (2011), S. 787, 812 m.w.N. zur Rechtsprechung des Gerichtshofs; Schlachter, ZfA 2007, 249, 267 f.; Wölker, EuR 2007, 32, 43 f.; Zuleeg in: Auslegung europäischen Privat-rechts, 1999, 163, 173. 106 Zu den Normenhierarchien innerhalb des EU-Rechts s. Nettesheim, EuR 2006, 737, 737 ff. 107 BVerfGE 73, 339 ff.; Lutter, JZ 1992, 593, 605 f. Aufgrund der Parallele zur verfassungskonformen Auslegung schränken ihre Ausführungen noch weiter ein: Langenfeld, DÖV 1992, 955, 964 f.; Salzwedel in: UTR 7, 1989, 65, 69. Einschränkungen aufgrund elementarer Verfassungsprinzipien, Gefährdung von Grundrechten und unverbrüchlichen Strukturprinzipien nimmt Wöhlermann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 141 f. vor. Die andere Ansicht nimmt einen absoluten Vorrang des Unionsrechts vor dem gesamten nationalen Verfassungsrecht an, Dendrinos, Direktwirkung, S. 169 f.; Bleckmann, Europarecht, S. 379, Rn. 1088; Bergmann, VBlBW 2000, 169, 183. 108 Unberath, ZEuP 2005, 5, 32; Wöhlermann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 133 m.w.N. in Fn. 431. 109 Baldus/Becker, ZEuP 1997, 874, 882; Büdenbender, ZEuP 2004, 36, 38; DänzerVanotti, RIW 1991, 754, 755; Dänzer-Vanotti, DB 1994, 1052, 1054; Ehricke, RabelsZ 59 (1995), S. 598, 615 ff.; Ehricke, ZIP 2004, 1025, 1027; Eisenkolb, GRUR 2007, 387, 389, 393; Gellermann, Beeinflussung, S. 107, 112 f.; Gödicke, WM 2008, 1621, 1622, 1625, 1626, 1630; Gsell, JZ 2009, 522, 525; Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 322; Haneklaus, DVBl 1993, 129, 131; Herber in: FS Döllerer, 225, 243 f.; Herlinghaus,
B. Meinungen zum Konflikt von Richtlinie und nationalem Recht
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nisvorrangs der Richtlinie sprechen. Die Wirkungen des Umsetzungsbefehls des nationalen Rechts erschöpfen sich folglich in einer Auswahlregel zwischen unterschiedlichen, bereits nach nationalem Recht denkbaren Interpretationsergebnissen. 1. Der gedankliche Ansatz Die Frage der Wirkungen von Richtlinien im nationalen Recht ist eng verknüpft mit der Problematik der Geltung von Richtlinien bzw. des Umsetzungsbefehls in der nationalen Rechtsordnung. Die anerkannten Wirkungen von Richtlinien beruhen daher stets auf einer Positionierung zur Frage der Geltung der Richtlinie. Diese Positionierung wird allerdings häufig nicht ausdrücklich abgegeben. Rückschlüsse lassen sich aber aus dem Vorbringen ziehen, das Vorliegen einer Normenkollision im Horizontalverhältnis sei abzulehnen.110 Da aber nur zwei in der nationalen Rechtsordnung geltende Normen kollidieren würden, spricht dies dafür, dass die Vertreter eines Ergebnisvorrangs nicht von der unmittelbaren Geltung der Richtlinie ausgehen. Außerdem wird regelmäßig auf das Transformationserfordernis für die Wirksamkeit (und damit Geltung) der Richtlinie abgestellt111, sodass für Unions- und Richtlinienrecht einer dualistischen Sichtweise gefolgt wird.112 Ohne Transformation gelten die Richtlinienvorgaben daher nicht in der nationalen Rechtsordnung. Stattdessen rekurrieren die Anhänger dieser Theorie auf das Erfordernis der richtlinienkonformen Rechtsfindung aus Art. 288 III AEUV, der die mitgliedstaatlichen Organe, auch die Gerichte, verpflichte, die Richtlinie in Bedeutung und Reichweite, S. 37, 48 f.; Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 274; Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 85; Höpfner, EuZW 2009, 159, 160; Jarass, EuR 1991, 211, 218; Jarass, Grundfragen, S. 105; Jarass/Beljin, JZ 2003, 768, 775; Metallinos, Europarechtskonforme Auslegung, S. 52, 55 f., 58, 134 f.; Nettesheim, AöR 1994, 261, S. 269; Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht, S. 99 f.; Piekenbrock/Schulze, WM 2002, 521, 523; Scherzberg, Jura 1993, 225, 231 f.; Schmidt, ZGS 2006, 408, 410; Zuleeg in: Auslegung europäischen Privatrechts, 1999, 163, 171 f., 174. Unklar Frisch, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 64 f., 89 ff., 97, der zum einen davon spricht, dass eine Konformauslegung nur im Rahmen des national Möglichen erfolgen kann, zum anderen aber das Abstellen auf einen generellen Umsetzungswillen befürwortet, der gemeinsam mit dem Wortlaut auch zu einer Auslegung contra legem herangezogen werden könne. 110 Höpfner, JZ 2009, 403, 404; Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 268 f.; Grosche/Höft, NJOZ 2009, 2294, 2299; Danwitz, JZ 2007, 697, 702; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 912. 111 Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 80: „Richtlinien sind demgegenüber allein hinsichtlich des mit ihnen erstrebten Zieles verbindlich. Sie richten sich ausschließlich an die Mitgliedstaaten und bedürfen zu ihrer Wirksamkeit eines mitgliedstaatlichen Umsetzungsaktes.“; Dänzer-Vanotti, RIW 1991, 754, 754 f.; Herber in: FS Döllerer, 225, 243 f.; Scherzberg, Jura 1993, 225, 231 f. 112 Ausdrücklich Jarass, Grundfragen, S. 4 f.
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Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien
nationales Recht umzusetzen.113 Damit leiten die Vertreter des Ergebnisvorrangs ihre Methode der richtlinienkonformen Rechtsfindung letztlich aus dem primärrechtlichen Umsetzungsbefehl ab. 2. Das methodische Vorgehen Entsprechend der auch im nationalen Recht regelmäßig vorgenommenen Unterscheidung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung wird bei der Darstellung des methodischen Vorgehens der Vertreter eines Ergebnisvorrangs ebenfalls entsprechend differenziert. a) Besonderheiten der Auslegung des nationalen Rechts im Richtlinienkontext (1) Die richtlinienkonforme Auslegung Nach den Vertretern eines Ergebnisvorrangs der Richtlinie sei zunächst das nationale Recht anhand der klassischen Auslegungskriterien (je nach vertretener Ansicht subjektiv oder objektiv) auszulegen. Nur wenn diese rein nationale Auslegung bereits ausschließlich auf das richtliniengemäße Ergebnis hindeute oder ein Auslegungsspielraum bestehe und dementsprechend mehrere Auslegungsergebnisse vertretbar erschienen, von denen mindestens eines richtlinienkonform sei, bestehe die notwendige Grundlage zur richtlinienkonformen Rechtsfindung. Einen Auslegungsspielraum habe der Richter dann aufgrund seiner Umsetzungsverpflichtung aus Art. 288 III AEUV dahingehend auszuüben, dass das richtlinienkonforme Ergebnis den anderen vorzuziehen sei.114 Selbst wenn die besseren Argumente für das richtlinienwidrige Ergebnis sprächen, sei in diesem Fall keine Abwägung oder Zweckmäßigkeitsprüfung durchzuführen, sondern stets 113 Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 270, 284; Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 81 f.; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), S. 1, 25; Schulze in: Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts – Einführung, 1999, 9, 14; Grosche/Höft, NJOZ 2009, 2294, 2297 f. 114 Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 84; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), S. 1, 22; Höpfner, JZ 2009, 403, 404; Di Fabio, NJW 1990, 947, 953; Jarass, Grundfragen, S. 93 ff.; Zöckler in: JhJZW, 1992, 141, 150 f.; Schulze in: Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts – Einführung, 1999, 9, 14 f.; Zuleeg in: Auslegung europäischen Privatrechts, 1999, 163, 171 m.w.N., 174, 177; Fisahn/Mushoff, EuR 2005, 222, 223; Metallinos, Europarechtskonforme Auslegung, S. 1, der aber von „europarechtskonformer Auslegung“ spricht. Insbesondere C. Höpfner fordert, dass nicht nur ein richtlinienkonformes, sondern auch ein richtlinienwidriges Ergebnis besteht. Falls sich ein richtliniengemäßes, aber gar kein richtlinienwidriges Ergebnis nach Auslegung des nationalen Rechts ergibt, dann erreicht er das konforme Ergebnis bereits über eine „richtlinienorientierte“ Auslegung, Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 272, 275, 283 und öfter.
B. Meinungen zum Konflikt von Richtlinie und nationalem Recht
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das richtlinienkonforme Ergebnis zu wählen.115 Wenn es aufgrund dieser Wahl zu Systembrüchen im nationalen Recht komme, sei dies als Ausdruck einer höherrangigen Gesetzgebungsgewalt des Unionsrechts hinzunehmen.116 Gebe es mehrere mögliche richtlinienkonforme Auslegungsergebnisse, könne der Rechtsanwender zwischen diesen nach eigener Überzeugung wählen117; er könne allerdings nur im Rahmen seiner (nationalen) Zuständigkeiten tätig werden.118 Die richtlinienkonforme Auslegung verbiete dann nur die Wahl eines richtlinienwidrigen Ergebnisses, schreibe aber selbst kein bestimmtes Auslegungsergebnis vor.119 Eine so verstandene richtlinienkonforme Auslegung im Horizontalverhältnis sei dann auch zu Lasten Privater möglich.120 Bestehe in der nationalen Rechtsordnung hingegen kein hinreichender Spielraum zur Einwirkung der Richtlinie, das heißt keines der potentiellen Auslegungsergebnisse ist richtlinienkonform, habe es der nationale Rechtsanwender bei dem richtlinienwidrigen Ergebnis zu belassen. Als Grenze der richtlinienkonformen Rechtsfindung wird damit die traditionelle Contra-legem-Grenze anerkannt.121 Nach subjektivem Verständnis versteht man hierunter jede Auslegung entgegen der (historischen) Regelungsabsicht des Gesetzgebers. Nach objektivem Verständnis muss sich diese Regelungsabsicht im Rahmen des Wortlauts halten, um eine Sperrwirkung (Vorrangregel auf zweiter Stufe) zu bewirken. Dementsprechend sei es unzulässig, wenn sich der Rechtsanwender mit Hilfe der richtlinienkonformen Auslegung über einen noch aktuellen Gesetzgeberwillen hinwegsetze oder ihr einen anderen Sinn unterschiebe.122 Insbesondere dürfe das gesetzgeberi-
115 Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 283; Metallinos, Europarechtskonforme Auslegung, S. 173, 175 f. Nach Schürnbrand, JZ 2007, 910, 914, muss die Lösung allerdings „ernsthaft in Betracht zu ziehen“ sein. 116 Zuleeg in: Auslegung europäischen Privatrechts, 1999, 163, 174. 117 Jarass, EuR 1991, 211, 217. 118 Jarass, EuR 1991, 211, 215; Jarass, Grundfragen, S. 94; Gödicke, WM 2008, 1621, 1628. 119 Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 270 f. 120 Jarass, EuR 1991, 211, 222. 121 Gsell, JZ 2009, 522, 524; Höpfner, JZ 2009, 403, 404; Gödicke, WM 2008, 1621, 1628; Krieger, Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, S. 354 f.; Unberath, ZEuP 2005, 5, 6; Zuleeg in: Auslegung europäischen Privatrechts, 1999, 163, 177. Ähnlich Metallinos, Europarechtskonforme Auslegung, S. 152; Gellermann, Beeinflussung, S. 114. 122 Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 85; Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 272 f., 281; Jarass, Grundfragen, S. 95; Jarass, EuR 1991, 211, 218; Jarass/Beljin, JZ 2003, 768, 775. Ähnlich Herlinghaus, Bedeutung und Reichweite, S. 37, der allerdings auf den ursprünglichen Gesetzeszweck abstellt.
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Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien
sche Ziel nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt werden123 oder der normative Gehalt der nationalen Regelung grundlegend neu bestimmt werden124. Ausgeschlossen sei es damit auch, dass das nationale Recht unangewendet gelassen werde, denn auch damit werde der Gesetzgeberwille negiert.125 Die so verstandene richtlinienkonforme Auslegung führe im Ergebnis zur Verwerfung sämtlicher richtlinienwidriger Auslegungsergebnisse. Sie finde daher erst nach der eigentlichen Auslegung statt und sei daher eine besondere Form der Normenkassation.126 (2) Sonderfall: Die richtlinienorientierte Auslegung Für den Fall, dass der Gesetzgeber die Richtlinie in das nationale Recht umgesetzt hat, diese Umsetzung aber unbewusst fehlerhaft erfolgte, wird insbesondere von C. Höpfner auf die Unterscheidung zwischen der richtlinienkonformen Auslegung als Vorrangregel und der richtlinienorientierten Auslegung als Teil der Normauslegung im eigentlichen Sinne hingewiesen.127 Er beschreibt die richtlinienkonforme Auslegung als Instrument zur Vermeidung von Richtlinienverstößen. Der Rechtsanwender habe bei Anwendung der richtlinienkonformen Auslegung als Vorrangregel nicht nach dem Inhalt der Norm zu fragen, sondern lediglich nach der Vereinbarkeit mit der Richtlinie. Die richtlinienkonforme Auslegung führe damit, als echte Vorrangregel, zur Verwerfung der Norm in der der Richtlinie widersprechenden Auslegung, zwinge also das konforme Ergebnis herbei.128 Dieser Eingriff in die Entscheidungsfreiheit des Richters bedürfe einer Rechtfertigung, die im Horizontalverhältnis nur innerhalb der nach nationaler Methode gefundenen Auslegungsergebnisse bestehe. Nach den nationalen Methoden sei ein Vorrang des Umsetzungswillens, als Motiv der Gesetzgebung, vor der materiellen Regelungsentscheidung des Gesetzgebers jedoch nicht möglich. Allerdings könne aus rein nationalen Gesichtspunkten bei der Gesetzesanwendung, also bei dem tatsächlichen Interpreta123
Jarass, Grundfragen, S. 95; Jarass, EuR 1991, 211, 218; Jarass/Beljin, JZ 2003, 768, 775. 124 Jarass, Grundfragen, S. 95; Jarass, EuR 1991, 211, 218; Jarass/Beljin, JZ 2003, 768, 775. 125 Jarass/Beljin, JZ 2003, 768, 775. 126 Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 84; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), S. 1, 22; Höpfner, JZ 2009, 403, 404. 127 Höpfner, JZ 2009, 403, 404; Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 84; Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 178 ff. Zur Unterscheidung von verfassungskonformer und verfassungsorientierter Auslegung schon Stern, Staatsrecht I, S. 136, § 4 III 8 d. 128 Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 84, 85; Höpfner, JZ 2009, 403, 404; Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 275. Im Ergebnis ähnlich Zuleeg in: Auslegung europäischen Privatrechts, 1999, 163, 172.
B. Meinungen zum Konflikt von Richtlinie und nationalem Recht
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tionsvorgang, d.h. der Anwendung der Auslegungskriterien, eine richtlinienorientierte Auslegung erfolgen.129 Eine richtlinienorientierte bzw. historisch-systematische Auslegung zum Zwecke der Ermittlung des Norminhalts liege vor, wenn es der Wille der Normsetzer war, die Vorgaben der Richtlinie zu erfüllen.130 Das gesetzgeberische Motiv der Umsetzung könne dann bereits nach rein nationalen Methodenregeln im Rahmen einer historischen Auslegung berücksichtigt werden.131 Als ein Auslegungskriterium unter mehreren diene das gesetzgeberische Umsetzungsmotiv dann zu einer richtlinienorientierten Auslegung.132 Die richtlinienorientierte Auslegung sei daher kein Einbezug der Richtlinie bei der Rechtsfindung, sondern eine Ausschöpfung nationaler Auslegungskriterien. Wenn beispielsweise der Gesetzgeber sich ausdrücklich mit der Richtlinienkonformität eines Umsetzungsgesetzes befasse und dabei die Vorgaben der Richtlinie zutreffend erkenne, gehe der Umsetzungswille einem missglückten Wortlaut regelmäßig vor.133 Aber auch wenn er fälschlicherweise davon ausgehe, die Richtlinie durch das bestehende nationale Recht bereits ordnungsgemäß umgesetzt zu haben, liege ein Umsetzungswille vor, der eben nur keinen Eingang ins Gesetz habe finden können. Dennoch sei er bei der Auslegung zu berücksichtigen, da zur Ermittlung des Normzwecks alle Auslegungskriterien beachtet werden müssten, so auch die Entstehungsgeschichte des Gesetzes.134 In jedem Fall sei der Umsetzungswille eines von mehreren, gleichrangigen Auslegungskriterien, die stets einer Gewichtung und Abwägung mit den übrigen Auslegungskriterien
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Der Begriff der richtlinienorientierten Auslegung kommt von dem parallelen Begriff der „verfassungsorientierten Auslegung“, dazu Canaris in: FS Kramer, 2004, 141, 154, der aber den Begriff der verfassungsorientierten Auslegung ablehnt. 130 Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 249, 256 f., 285 f.; Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 80; Metallinos, Europarechtskonforme Auslegung, S. 148 f. Nach DänzerVanotti, RIW 1991, 754, 754, der allerdings von richtlinienkonformer nicht richtlinienorientierter Auslegung spricht, kann die Richtlinie Berücksichtigung im Rahmen aller Auslegungskriterien finden ohne Vorrangregel zu sein. Andere Ansicht Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 417, 444, der die Richtlinie nicht in den gesetzgeberischen Wertungsplan einschließt. Für ihn kommt es für die Frage der Lückenbestimmung nur auf den Plan und die Regelungsabsicht des innerstaatlichen Gesetzgebers und der innerstaatlichen Rechtsordnung an. 131 Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 80; Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 256 f., 258. 132 Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 256 f.; Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 80. Vgl. auch Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 51, 74. 133 Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 256 f., 258; Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 80. 134 Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 286.
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Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien
bedürfen.135 Ein Vorrang vor den übrigen Auslegungskriterien komme dem Umsetzungswillen allerdings nicht zu.136 Anzumerken ist zwar, dass die Wahl des Begriffes der richtlinienorientierten Auslegung ungünstig ist, weil es nicht um eine Auslegung aufgrund der Richtlinie, sondern um eine Anwendung rein nationaler Auslegungsmethoden geht. Allerdings verdeutlicht die Begriffswahl, dass die Grundlage der nationalen, genetischen Auslegung auf einem unionsrechtlichen Motiv basiert und ist insofern gerechtfertigt. Jedenfalls verdeutlicht der Begriff der richtlinienorientierten Auslegung, dass die Richtlinie ein Motiv der gesetzgeberischen Umsetzung war und daher auch bei der Auslegung Berücksichtigung finden sollte. Der Begriff wird daher beibehalten. Der Umsetzungswille als bloßes Motiv zur Rechtssetzung ist unter Zugrundelegung der subjektiven Theorie lediglich zur Ermittlung des tatsächlichen Gesetzgeberwillens von Bedeutung. Unter Zugrundelegung der objektiven Theorie kann er im Rahmen der Abwägung unterschiedlicher Auslegungskriterien Bedeutung erlangen, wenn nicht vorher eine interpretatorische Vorrangregel eingreift. Eine maßgebende Bedeutung im Sinne eines Vorrangs gegenüber der materiellen Regelungsentscheidung erlangt er jedenfalls nicht. So wird sich daher nicht in allen Fällen eine richtlinienorientierte Rechtsfindung im Ergebnis durchsetzen, ohne die traditionelle Contra-legem-Grenze zu verschieben. b) Besonderheiten der Rechtsfortbildung im Richtlinienkontext Die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung lasse sich nicht allein auf einen bestehenden Widerspruch des nationalen Rechts zur Richtlinie stützen oder nur mit dem Argument begründen, dass ein vermuteter oder bestehender, abstrakter oder konkreter Umsetzungswille des Gesetzgebers vorgelegen habe.137 Stattdessen sei eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung nur dann vorzunehmen, wenn sich isoliert aus einem der Rechtsordnung immanenten Maßstab eine Lücke ergebe und das Gesetz bereits unter rein nationalen Gesichtspunkten korrekturbedürftig erscheine.138 Dies sei (nach 135
80.
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Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 256 ff.; Höpfner in: JhJZW, 2009, 73,
Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 256 ff.; Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 80, 91. 137 Grosche/Höft, NJOZ 2009, 2294, 2304. 138 Dänzer-Vanotti, RIW 1991, 754, 755; Fisahn/Mushoff, EuR 2005, 222, 223; Grosche/Höft, NJOZ 2009, 2294, 2305; Gsell, JZ 2009, 522, 525; Unberath, ZEuP 2005, 5, 9; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 914; Zuleeg in: Auslegung europäischen Privatrechts, 1999, 163, 167, 171. Unklar ist aber die Aussage, die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung habe in diesem Bereich „keine eigenständige Bedeutung“, Höpfner, JZ 2009, 403, 403. Gemeint ist damit, dass die Richtlinie selbst keine Lücke im nationalen Recht aufwerfen kann. Wenn aber bereits nach nationalem Recht eine Lücke vorliegt, kann diese
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objektivem Grundverständnis) der Fall, wenn der Wortsinn der nationalen Norm überschritten werde und die entstehende Regelungslücke planwidrig sei. Wie im nationalen Recht bilde also der Wortlaut keine Grenze der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung.139 Eine Ausnahme bestehe nur bei einem eindeutigen Wortlaut.140 Hier greift nach objektiver Ansicht die Vorrangregel auf erster Stufe.141 Nach der subjektiven Auslegungstheorie bilde der Wortlaut ebenfalls keine Grenze der Rechtsfindung; er sei lediglich eines der Auslegungskriterien und sei damit Hilfsmittel zur Ermittlung des (historischen) Gesetzgeberwillens.142 Bestehe eine Lücke nach (traditioneller) Auslegung des nationalen Rechts, sei diese Lücke zu füllen. Wie die Lücke zu füllen ist, wird von den Vertretern eines Ergebnisvorrangs soweit ersichtlich nicht thematisiert. Anscheinend geht man davon aus, dass die primärrechtliche Umsetzungspflicht die Gerichte dazu verpflichte, die Lücke im Sinne der Richtlinie, notfalls mit dieser selbst, zu füllen. Diese Vorgehensweise entspräche jedenfalls der Ansicht der Vertreter eines Ergebnisvorrangs, zunächst das nationale Recht ohne Berücksichtigung der Richtlinie auszulegen und bei bestehendem Spielraum (also auch bei planwidrigen Lücken des nationalen Rechts) diesen Spielraum im Sinne der Richtlinie zu nutzen. 3. Probleme der Methode Diese Sichtweise der Vertreter des Ergebnisvorrangs führt dazu, dass in den Fällen, in denen der Gesetzgeber sich eindeutig für eine der Richtlinie entgegenstehende Lösung entschieden hat, es bei dieser Lösung verbleiben muss, auch wenn der gesetzgeberische Fehler nur unbewusst erfolgte. Die Vertreter eines Ergebnisvorrangs sehen sich daher mit dem Problem konfrontiert, ob ihre Methode die unionsrechtlichen Vorgaben bei der richtlinienkonformen Rechtsfindung hinreichend erfüllt. Aus Sicht des Unionsrechts könnten bei Anwendung dieser Methode Schutzlücken entstehen, denn der Bürger kann seine unionsrechtlich gesicherten Rechte vor den nationalen Gerichten nicht in jedem Fall erfolgreich einklagen. Wenn nicht ausnahmsweise das Institut der Staatshaftung greift, was allerdings nur bei qualifiziertem Umsetzungsverstoß der Fall wäre143, steht der Marktbürger aus unionsrechtlicher Perspektive schutzlos. richtlinienkonform geschlossen werden, deutlicher bei Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), S. 1, 33 f., 35. 139 Dänzer-Vanotti, RIW 1991, 754, 755. 140 Dazu Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 266 f. 141 Zur Vorrangregel auf erster Stufe im nationalen Recht s. oben Teil 1, B.II.1.a)(3)(b)(ii)(aa), S. 48 ff. 142 Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 258 f., 281. 143 Ausführlich zur Staatshaftung s. unten Teil 3, B.I.2., S. 228 ff.
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4. Begründung der Methode Begründet wird die Methode aus unionsrechtlicher Perspektive damit, dass das Unionsrecht keine Veränderung der traditionellen Methoden und damit der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung fordere. Rekurriert wird auf Art. 288 III AEUV und die interpretierende Rechtsprechung des EuGH, insbesondere den Fall Adeneler144, in dem der EuGH die nationale Contra-legem-Grenze anerkenne. Es verbleibe also bei den nationalverfassungsrechtlich zulässigen Methoden. Zu einer Veränderung der Kompetenzverteilung im nationalen Verfassungsrecht sei es durch Übertragung der Kompetenzen an die Union nicht gekommen. Der Gesetzgeber habe seine Kompetenz zur Setzung materieller Regelungsentscheidungen im Richtlinienbereich behalten. Insbesondere stehe es ihm frei, die Richtlinienumsetzung zu verzögern oder zu unterlassen.145 Der Mitgliedstaat müsse zwar die Konsequenzen einer Staatshaftung oder eines Vertragsverletzungsverfahrens tragen, wenn er richtlinienwidriges Recht setze oder es beim richtlinienwidrigen Altrecht belasse. Daher sei die richtlinienkonforme Auslegung primär ein eigenes Interesse des Mitgliedstaates.146 Was im Interesse des Staates liege, entscheide aber verbindlich die demokratisch legitimierte Legislative.147 Deshalb könne die Legislative nicht von den rechtsanwendenden Organen bevormundet werden.148 Da die Rechtssetzungskompetenz der Legislative zustehe, sei es der Judikative untersagt, die Rolle des Rechtsanwenders zu verlassen, wenn ein eindeutiger und aktueller Gesetzgeberwille nachweisbar sei.149 Eine Korrektur der Regelungsabsichten des Gesetzgebers anhand objektiver Ziele, wie der Richtlinienkonformität, verletze die Gesetzesbindung der Gerichte und damit die Gewaltenteilung und das Demokratieprinzip.150 Anders sei dies hingegen, wenn feststehe, dass der Gesetzgeber keine eigenen rechtspolitischen Wertungen treffen wollte oder wenn sie im Falle der Richtlinienwidrigkeit des nationalen Rechts eine Alternativlösung anböten. In diesen Konstellationen sei von einer Delegierung der Gesetzgebungskompetenz an die Gerichte auszugehen und es liege eine dynamische Verweisung auf das aktuelle Unionsrecht vor.151 Allerdings sei dann be144 EuGH, Rs. C-212/04, Slg. 2006, I-6057 (Adeneler), v.a. Rn. 110. Zu dieser Entscheidung s. bereits oben Teil 2, A.III., S. 101 ff. 145 Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 276. In diesem Sinne auch DänzerVanotti, RIW 1991, 754, 755. 146 Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 269 f. 147 Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 269 f. 148 Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 276. 149 Schürnbrand, JZ 2007, 910, 915; Dänzer-Vanotti, RIW 1991, 754, 755. 150 Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 276 f.; Scherzberg, Jura 1993, 225, 232. 151 Höpfner, JZ 2009, 403, 405; Grosche/Höft, NJOZ 2009, 2294, 2303. Vgl. auch Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 205, 208 f.
B. Meinungen zum Konflikt von Richtlinie und nationalem Recht
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reits eine einfache Auslegung ausreichend, um dieses Ergebnis zu erreichen.152 Würde man dies anders sehen und eine weitergehende Konformauslegung annehmen, würde zudem der Vertrauensschutzgrundsatz verletzt. Bestünden nach nationalem Recht keine Auslegungs- oder Fortbildungsspielräume, müsse sich der Bürger auf das nationale Recht verlassen können. Andernfalls käme dem nationalen Recht „bestenfalls die Rolle des narrativen, schlimmstenfalls diejenige des irreführenden Rechts“153 zu. Der Bürger würde dann im Prozess „überrascht“ werden. Sein Vertrauen sei nur dann nicht schützenswert, wenn bereits nach nationalem Verständnis Auslegungsspielräume bestünden und damit auch im rein nationalen Bereich ein anderes Auslegungsergebnis möglich sei.154 Dann müsse der Bürger ohnehin mit einer von seinem Verständnis verschiedenen Auslegung rechnen; diese Auslegung könne dann auch eine richtlinienkonforme sein. Zudem wird auf das Rechtsmissbrauchsargument rekurriert. Nur dem Mitgliedstaat könne der Vorwurf des treuwidrigen Verhaltens bei Berufung auf die Richtlinie gemacht werden.155 Den Bürger treffe ein solcher Vorwurf hingegen nicht, sodass eine richtlinienkonforme Auslegung nur dann zulässig sein könne, wenn die Belastung bereits im mitgliedstaatlichen Recht angelegt sei.156 Ansonsten würde der Private haften, „selbst dann, wenn sein Vertrauen in das fehlerhafte nationale Umsetzungsrecht noch so unverschuldet war, während die zur Umsetzung verpflichteten Mitgliedstaaten vom EuGH zur gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung wegen fehlerhafter Richtlinienumsetzung nur bei ‚qualifizierten Verstößen‘ herangezogen werden“.157 Ein Irrtum des Gesetzgebers im Hinblick auf die Ziele der Richtlinie würde zu Lasten des Bürgers gehen, was nicht sein dürfe. 5. Fazit Die Vertreter eines Ergebnisvorrangs behalten die nationale Contra-legemGrenze bei der Rechtsfindung bei, was bei eindeutigen gesetzgeberischen Vorgaben dazu führen kann, dass sich die Richtlinie im Einzelfall nicht durchsetzt. Eine Verschiebung der Grenze zugunsten der Richtlinie wird 152
Höpfner, JZ 2009, 403, 405. Freitag, EuR 2009, 796, 797, der sich aber auf die unmittelbare Direktwirkung von Richtlinien bezieht. Der Gedanke greift allerdings auch bei mittelbarer Direktwirkung, wenn die Richtlinie dazu geeignet ist, Lücken ins nationale Recht zu reißen und sie selbst zu schließen. 154 Freitag, EuR 2009, 796, 798; Zuleeg in: Auslegung europäischen Privatrechts, 1999, 163, 173. 155 Vgl. Freitag, EuR 2009, 796, 796 f.; Metallinos, Europarechtskonforme Auslegung, S. 60 f. 156 Zuleeg in: Auslegung europäischen Privatrechts, 1999, 163, 173. 157 Freitag, EuR 2009, 796, 797. 153
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Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien
nicht für möglich erachtet, weil eine Kompetenzverschiebung zwischen Legislative und Judikative nicht stattgefunden habe und somit die Contralegem-Grenze aufrecht zu erhalten sei. Die These, dass es bei einer Ausdehnung der Contra-legem-Grenze zu einer Kompetenzverschiebung zwischen Judikative und Legislative komme, muss hinterfragt werden. Dies scheint insofern problematisch, als der Unionsgesetzgeber im Richtlinienbereich für den Mitgliedstaat verbindliche Ziele setzen kann und ihm insofern die eigentliche materielle Regelungskompetenz zukommen könnte. Die Union kann ihre Regelungsziele auch mit Hilfe des Vertragsverletzungsverfahrens stets durchsetzen (wenn nicht der unwahrscheinliche Fall eintritt, dass sich der Mitgliedstaat zu einem Austritt aus der Union entschließt). Zudem ergibt sich das Problem, dass in einigen Fällen dem Bürger nicht die sich aus der Richtlinie ergebenden Rechte zugesprochen werden können, sondern es bei Anwendung des nationalen Rechts verbleibt. Aus Sicht des Unionsrechts entstehen daher Schutzlücken für den durch die Richtlinie begünstigten Bürger, weil dieser seine Richtlinienrechte vor den nationalen Gerichten nicht stets erfolgreich einklagen kann. Klärungsbedürftig ist daher, ob diese Schutzlücken bestehen bleiben können oder müssen oder ob stattdessen ihre Schließung unter Modifikation des nationalen Methodenspielraums des Richters notwendig ist. II. Die Lösung des Konflikts zwischen Richtlinie und nationalem Recht bei der Gesetzesanwendung Sofern die Lösung des Konflikts zwischen Richtlinie und nationalem Recht auf der Ebene der Gesetzesanwendung gesucht wird, werden die nationalen Methoden teilweise dahingehend modifiziert, dass die Vorgaben der Richtlinie als Auslegungskriterium bei der Rechtsfindung einfließen (1.). Häufig findet die Modifikation aber auch allein innerhalb des Auslegungskriteriums des Gesetzgeberwillens statt, indem ein gesetzgeberischer Umsetzungswille vorrangig vor der materiellen Regelungsentscheidung des Gesetzgebers berücksichtigt wird (2.). 1. Die Richtlinienkonformität als Vorrangregel bei der Gesetzesanwendung Nach Vertretern, die im Ausgangspunkt einer objektiven Theorie der (nationalen) Gesetzesanwendung folgen, soll der sich aus der Richtlinie ergebende Normsetzungsbefehl Einfluss auf die Interpretation des nationalen Rechts ausüben. Zu unterscheiden sind zwei Theorien, die die Modifikation der nationalen Interpretationsmethoden unterschiedlich begründen. Zum einen die These vom interpretatorischen Vorrang zugunsten der Richtlinie
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(a.), die die objektive Methode auf der Grundlage des bisherigen Verfassungsverständnisses modifiziert anwendet. Zum anderen die Theorie von C. Herresthal (b.), der die traditionellen Methoden ebenfalls verändert, dies aber mit einer Veränderung des Kompetenzgefüges im nationalen Verfassungsrecht rechtfertigt. a) Richtlinienkonformität als interpretatorische Vorrangregel (1) Gedanklicher Ansatz Ausgangspunkt der Vertreter der interpretatorischen Vorrangregel zugunsten der Richtlinienkonformität158 ist zunächst die Ablehnung der unmittelbaren normativen Wirkung der Richtlinie im Sinne einer lex superior.159 Die Richtlinie sei keine „lex“, sondern bedürfe erst noch der Umsetzung in eine solche.160 Die Richtlinie stehe damit in einer pyramidenförmigen Hierarchie wie im Modell des Stufenbaus der Rechtsordnung nicht eine Stufe oberhalb der Normen des nationalen Rechts, sondern befinde sich – wie C.-W. Canaris bildhaft schreibt – „in einem anderen Teil des Doppelgebäudes, das aus dem Gemeinschaftsrecht zum einen und der jeweiligen nationalen Rechtsordnung zum anderen besteht. Aus diesem Teil kann die Richtlinie nicht einfach in den anderen Teil hinüberwirken, weil es insoweit an einer gemeinsamen pyramidalen Hierarchie fehlt.“161 Die Richtlinie sei daher nicht höherrangig im normenhierarchischen Sinne und könne das nationale Recht nicht völlig bei der Rechtsanwendung verdrängen und überlagern.162
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Auer, NJW 2007, 1106, 1108; Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 68 ff.; Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 33 ff.; Hergenröder in: FS Zöllner II, 1999, 1139, 1149 f., 1159; Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 132 ff.; Möllers, EuR 1998, 20, 45; Roth, EWS 2005, 385, 394; Thume/Edelmann, BKR 2005, 477, 485; Unberath, ZEuP 2005, 5, 7. Wohl auch Thüsing, ZIP 2004, 2301, 2304: Richtlinienkonformität als „vorzugswürdiges Auslegungskrite-rium“. Dem Ansatz nach wohl auch Behrens, EuZW 1994, 289, 289. 159 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 52; Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 17; Gebauer, AnwBl 2007, 314, 315; Gundel, EuZW 2001, 143, 143; Jarass/Beljin, JZ 2003, 768, 772 ff.; Thüsing, ZIP 2004, 2301, 2301; Unberath, ZEuP 2005, 5, 6. Gebauer in: JbJZW, 2001, 201, 206 f. spricht davon, dass es sich bei der richtlinienkonformen Auslegung also gerade nicht um eine „Alles oder Nichts“-Entscheidung wie bei einer Verdrängung des nationalen Rechts handele. 160 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 53. 161 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 53. 162 Herlinghaus, Bedeutung und Reichweite, S. 18; Nettesheim, AöR 1994, 261, 268.
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Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien
Stattdessen sei die Richtlinie als Normsetzungsbefehl des Unionsrechts beim Rechtsfindungsvorgang zu berücksichtigen.163 Es handele sich um eine „europarechtliche Konsequenz aus Art 249 Abs. 3 EG [nunmehr Art. 288 III AEUV] und gewissermaßen um die ‚Verlängerung‘ des in der Richtlinie liegenden Normsetzungsbefehls auf die Ebene des Rechtsprechungsprozesses“164. Dieser Gesetzgebungsauftrag, der sich aus der Richtlinie ergebe, müsse, um innerstaatlich Wirkungen zu entfalten, auch innerstaatlich gelten, d.h. Teil der nationalen Gesamtrechtsordnung sein.165 Die unmittelbare Geltung des Normsetzungsbefehls nach Ablauf der Umsetzungsfrist166 (auch ohne mitgliedstaatlichen Umsetzungsakt) wird mit der „Fortentwicklung der Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung“ begründet, die es ermöglichen soll, dem Normsetzungsbefehl aus der Richtlinie „den Rang eines für die Rechtsprechung bindenden objektiv-teleologischen Kriteriums zuzuerkennen, soweit dieser de lege lata – also ohne Verstoß gegen das Verbot des Contra-legem-Judizierens – ein Spielraum für eine Rechtsfortbildung offensteht“167. Der Normsetzungsbefehl sei also höherrangiger, rechtsinterner Maßstab, der die mitgliedstaatlichen Gerichte binde, ohne dass er eine „lex“ im Sinne des Art. 20 III GG wäre. 168 Die Lehre vom Stufenbau wird damit dahingehend modifiziert, dass sie sich nicht mehr nur auf eine Stufung von Normen bezieht, sondern auch andere Arten von Einwirkungen des Unionsrechts einbezieht, die nicht Normqualität besitzen, vor allem Normsetzungsbefehle aus Richtlinien. Letztlich wird damit für die unmittelbar-normative Geltung der Richtlinie eine Umsetzung im Sinne eines dualistischen Transformationsmodells gefordert; für die Geltung des Normsetzungsbefehls, der ebenfalls aus der Richtlinie abgeleitet wird, wird die unmittelbare Geltung im Sinne eines monistischen Modells befürwortet. Diese Widersprüchlichkeit, dass die 163
Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 61, 69; Klauer, Europäisierung des Privatrechts, S. 52; Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 32; Gebauer, GPR 2009, 82, 85. 164 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 61. 165 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 69 verweist auf die Wirkungen des Umsetzungsbefehls und geht damit auch von seiner Geltung aus. Zu dem Schluss von der Wirkung auf die Geltung s. Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 189-191. 166 Vor Ablauf der Umsetzungsfrist kommt auch nach Ansicht der Vertreter eines interpretatorischen Vorrangs der Richtlinie noch kein Geltungsanspruch zu, Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 87; Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 27. Nach Auer, NJW 2007, 1106, 1109 sei die Richtlinie vor Ablauf der Umsetzungsfrist aber „Abwägungsgesichtspunkt“. 167 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 87, vgl. auch S. 69. 168 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 87 f., 69; Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 17, 19, 31, 33: Richtlinie als selbstständiges Auslegungskriterium; Nettesheim, AöR 1994, 261, 268; Auer, NJW 2007, 1106, 1108; Möllers, EuR 1998, 20, 45. Andere Ansicht: Roth, EWS 2005, 385, 394.
B. Meinungen zum Konflikt von Richtlinie und nationalem Recht
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Richtlinie das eine Mal nicht unmittelbar gelten soll, das andere Mal aber doch, wird damit legitimiert, dass „das Denken in der starren Alternative von dualistischer und monistischer Konzeption des Verhältnisses zwischen dem Gemeinschaftsrecht und den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in diesem Zusammenhang nicht angemessen ist“169. Dieser Umweg ist m.E. nicht erforderlich. Wie bereits oben gezeigt170, ergibt sich der Normsetzungsbefehl nicht aus der Richtlinie selbst, sondern vielmehr aus der primärrechtlichen Vorschrift des Art. 288 III AEUV. Die Richtlinie ist rechtstechnisch nur Hilfsnorm, die die (dynamische) Verpflichtung aller Organe zur Richtlinienumsetzung aus Art. 288 III AEUV ausfüllt. Der Umsetzungsbefehl gilt damit als Primärrecht in der nationalen Rechtsordnung; die sekundärrechtliche Richtlinie nicht. (2) Das methodische Vorgehen Die Vertreter einer interpretatorischen Vorrangregel zugunsten der Richtlinienkonformität gehen zunächst von den traditionellen, nationalen Auslegungsmethoden aus. Ergebe sich nach rein nationaler Auslegung oder Fortbildung bereits ein richtlinienkonformes Ergebnis, müssten die Methoden nicht modifiziert werden. Wenn die traditionellen Methoden hingegen kein richtlinienkonformes Ergebnis ermöglichten, wird der Umsetzungsspielraum des Richters erweitert. Methodisch kann dies im Wege der richtlinienkonformen Auslegung (a.) oder Rechtsfortbildung (b.) geschehen. Beiden Wegen ist der Ausgangspunkt gemein, dass der Normsetzungsbefehl, der der Richtlinie entnommen wird, unmittelbar in der nationalen Rechtsordnung gelten soll. Da aber der Richtlinie keine unmittelbare normative Wirkung zukomme, wirke sie nicht im Sinne einer lex superior, sondern nur im Rahmen des Rechtsfindungsvorgangs. 171 Der Normsetzungsbefehl aus der Richtlinie sei damit vergleichbar mit den bereits bekannten objektiv-teleologischen Kriterien, denn er könne ähnlich einem Wertungsprinzip172 auf die nationale Rechtsordnung einwirken173 und als Maßstab bei der Gesetzesanwendung herangezogen werden.174 Sei der Normsetzungsbefehl demnach wie ein objektiv-teleologisches Kriterium zu 169
Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 69. S. oben Teil 1, A.III.3., S. 32 ff. 171 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 61, 68 f., 87; Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 31, 33. 172 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 85. Zur Eignung von allgemeinen Rechtsprinzipien als Maßstab der Lückenfeststellung s. grundlegend Canaris, Lücken, S. 93 ff. 173 Vgl. auch Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 33: „Sie [die richtlinienkonforme Auslegung] ist beides zugleich: selbstständiges Auslegungskriterium und eine Auslegungsregel“. 174 Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 19; Nettesheim, AöR 1994, 261, 270. 170
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Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien
behandeln, könne er folglich, wie die objektiv-teleologischen Kriterien auch, interpretatorischen Vorrang einnehmen.175 Als Auslegungsregel sei er daher in der Lage, die Zulässigkeit und das Gewicht der anderen Auslegungskriterien zugunsten der Richtlinienkonformität des nationalen Rechts zu steuern.176 (a) Die richtlinienkonforme Auslegung Nach den Vertretern einer interpretatorischen Vorrangregel zugunsten der Richtlinienkonformität lässt sich der Rechtsfindungsvorgang wie folgt aufschlüsseln: Auf einer ersten Stufe sei zunächst die Argumentationslage nur nach den „klassischen“ Auslegungskriterien, ohne Rücksicht auf das Gebot richtlinienkonformer Rechtsfindung, zu ermitteln. Dies sei wichtig, um die Contra-legem-Grenze zu erhalten, ansonsten laufe man Gefahr, das nationale Recht vorschnell im Sinne einer Offenheit für die Möglichkeit richtlinienkonformer Rechtsfindung zu verbiegen.177 Man könne sich außerdem in einem Zirkelschluss verstricken, indem man bei der Suche nach der Grenze der richtlinienkonformen Rechtsfindung inzident bereits deren Zulässigkeit voraussetze und diese vorschnell bejahe.178 Ergibt sich nach klassischer Auslegung kein richtlinienkonformes Ergebnis, wird dann aber dennoch die Richtlinienkonformität als Auslegungskriterium den klassischen Kriterien hinzugestellt.179 Die Vorgaben der Richtlinie seien dann mit dem nationalen Recht zu vergleichen. Ergebe dieser Vergleich, dass die lex lata keinen hinreichenden Raum für eine richtlinienkonforme Rechtsfindung zu lassen scheine, so könne grundsätzlich erneut in die erste Stufe eingetreten werden, wobei dann im Wege eines „Hin-und-Herwandern des Blickes“ zu untersuchen sei, ob die „klassi175 Unberath, ZEuP 2005, 5, 7; Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 34; Gebauer, AnwBl 2007, 314, 317; vgl. auch Lutter, JZ 1992, 593, 604 m.w.N., 605. 176 Gebauer, AnwBl 2007, 314, 317; Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 33. Vgl. auch Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 97 177 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 80 f.; ähnlich auch Gebauer in: Gebauer/ Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 35. Andere Ansicht Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 346 f.; Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 267: „Der rechtstheoretische Vorzug dieser Verfahrensweise [von C.-W. Canaris] ist unbestreitbar. Sie scheint jedoch zu idealistisch. Praktikabler und lebensnäher ist der Weg, die Richtlinie bereits auf der Ebene der Inhaltsbestimmung der nationalen Norm als Auslegungsziel zu berücksichtigen, welches allerdings nur mit den Mitteln des nationalen Methodenrechts erreicht werden kann. Die entscheidende Sachfrage ist, welchen Spielraum das nationale Methodenrecht eröffnet.“ 178 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 97. 179 Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 33.
B. Meinungen zum Konflikt von Richtlinie und nationalem Recht
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schen“ Auslegungskriterien im Lichte des Gebots richtlinienkonformer Auslegung nicht doch den erforderlichen Spielraum für eine solche hergeben würden.180 Denn trotz der anzuerkennenden Contra-legem-Grenze dürfe „das erkenntnisleitende Interesse [der richtlinienkonformen Rechtsfindung] nicht völlig außer Betracht bleiben“. „Die Suche nach dem Vorhandensein eines ‚Beurteilungsspielraums‘ darf und muß daher durchaus in dem Bewußtsein erfolgen, daß dessen Auffindung im Interesse der Möglichkeit einer richtlinienkonformen Rechtsfindung wünschenswert ist. So wird es oft zu einem ‚Hin-und-Her-Wandern des Blickes‘ zwischen nationalem Recht und Richtlinie kommen, worin indessen kein vitioser, sondern lediglich ein – unvermeidlicher, ja uU fruchtbarer – hermeneutischer Zirkel liegt.“181 Der Normsetzungsbefehl bzw. die Richtlinienkonformität als Auslegungskriterium wirken hiernach also nicht erst auf die Auswahl unter mehreren nach nationalem Recht zulässigen Auslegungsergebnissen ein, sondern bereits bei der Gesetzesinterpretation182, sodass man von einer interpretatorischen Vorrangregel spricht. (b) Die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung Außerhalb des noch möglichen Wortsinns wird von den Vertretern einer interpretatorischen Vorrangregel zugunsten der Richtlinienkonformität eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung befürwortet.183
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Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 80 f. m.w.N. in Fn. 146. Zudem wird von C.-W. Canaris eine Modifikation der nationalen Contra-legem-Grenze auch für die Fälle angedacht, in denen die Richtlinienumsetzung missglückt oder irrtümlich fehlerhaft erfolgt sei und ein Ermessensspielraum des nationalen Gesetzgebers bei der Umsetzung nicht bestehe. Dann käme eine unmittelbare Anwendung bzw. Horizontalwirkung der Richtlinie in Betracht, Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 99. Dieser Ansatz wird von C.-W. Canaris aber nur angedeutet, sodass er an dieser Stelle nicht weiter aufgegriffen werden soll. 181 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 97. Vgl. auch Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 33: Die richtlinienkonforme Auslegung sei selbstständiges Auslegungskriterium und Auslegungsregel. 182 Dafür Mörsdorf, EuR 2009, 219, 226 f.; Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 33; Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 132 f., 171 f. 183 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 96; Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 38; Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 171 f.; Unberath, ZEuP 2005, 5, 7 f. Andere Ansicht Nettesheim, AöR 1994, 261, 284; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 911 m.w.N.
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Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien
(i) Die Lückenfeststellung und -schließung Die Rechtsfortbildung, bei der die Gerichte eigenständig Recht neu gestalten, bedürfe sowohl im rein nationalen wie auch im Richtlinienkontext einer gesonderten Rechtfertigung.184 Zulässig sei eine Rechtsfortbildung daher, wie im rein nationalen Kontext, nur bei Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke. Die Vertreter der interpretatorischen Vorrangregel zugunsten der Richtlinienkonformität gehen davon aus, dass der Normsetzungsbefehl Teil der nationalen Gesamtrechtsordnung sei und als objektivteleologisches Kriterium die Gerichte binde. Seien die Umsetzungspflicht der Richtlinie und damit ihre Ziele aber verbindlicher Teil der Gesamtrechtsordnung, dann sei ein Konflikt zwischen Richtlinie und nationalem Recht auch ein Widerspruch innerhalb der Gesamtrechtsordnung.185 Dieser Widerspruch führe zu einer Lücke, die gemessen am Plan der Gesamtrechtsordnung (die den Normsetzungsbefehl aus der Richtlinie enthalte) auch planwidrig sei. Nicht erforderlich für eine Rechtsfortbildung sei bei Umsetzungsgesetzen eine ausdrückliche Bestätigung in den Gesetzesmaterialien, dass der Gesetzgeber die Richtlinie ordnungsgemäß habe umsetzen wollen.186 Dies verstieße gegen das Äquivalenzgebot, das fordere, dass die unionsrechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Rechtsfindung methodisch nicht ungünstiger ausgestaltet sein dürfe als die Anwendung im rein nationalen Kontext.187 Im rein nationalen Kontext sei nämlich nicht erforderlich für eine Rechtsfortbildung, dass in den Gesetzesmaterialien stets Andeutungen zum (verfehlten) Gesetzesplan vorlägen.188 Der Normsetzungsbefehl ist bei diesem Vorgehen in der Lage, im nationalen Recht eine Lücke aufzuwerfen. Die von dem Normsetzungsbefehl geschaffene Lücke wird dann sogleich durch die Vorgaben der Richtlinie selbst geschlossen.189 Die Richtlinie ist daher beides, Maßstab zur Lückenfeststellung und zur Lückenschließung.190 Anders gewendet: Die Richtlinie schafft sich selbst die Lücke, in die sie dann eintritt. 184
Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 38; Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 171 f. 185 Auer, NJW 2007, 1106, 1108; Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 88; Gebauer, AnwBl 2007, 314, 318; Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 42; Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 146; Unberath, ZEuP 2005, 5, 8. 186 Gebauer, GPR 2009, 82, 85. 187 Ähnlich Pfeiffer, NJW 2009, 412, 413; Wiedmann in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 2: Die Anwendung des europäischen Rechts, Rn. 73; Gebauer, GPR 2009, 82, 85. 188 Gebauer, GPR 2009, 82, 85 f. 189 Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 45. 190 Mörsdorf, EuR 2009, 219, 229.
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(ii) Instrumente zur Lückenschließung Zur Lückenschließung werden von den Vertretern eines interpretatorischen Vorrangs die bereits im rein nationalen Bereich bekannten Instrumente der teleologischen Extension und Reduktion sowie die Analogie herangezogen.191 Zu berücksichtigen sei allerdings, dass ihr tragender Grund in der Regel ein anderer sei als im nationalen Recht. Beispielsweise beruhe die nationale Analogie auf dem Ähnlichkeitsschluss, Gleiches gleich zu behandeln; die teleologische Reduktion auf dem Gebot, Ungleiches ungleich zu behandeln.192 Die teleologische Extension decke Fälle ab, bei denen der Wortlaut gemessen am eigenen Zweck zu eng sei.193 Im Richtlinienbereich diene die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung hingegen nicht dazu, den zu weit geratenen Wortlaut gemessen am eigenen Zweck einzuschränken, sondern verhelfe anderen, auch gegenläufigen Richtlinienzwecken, mit einer Grundlage außerhalb der betreffenden Norm zum Durchbruch.194 Ähnlich könne bei der teleologischen Extension der zu erreichende Zweck der Richtlinie entnommen werden und der Wortlaut im Hinblick auf den Richtlinienzweck ausgedehnt werden.195 Die richtlinienkonforme Analogie sei hingegen weniger bedeutend, fehle es doch an der Grundlage für einen Ähnlichkeitsschluss. Sie habe daher in der Regel nur dann Bedeutung, wenn sich ein Ähnlichkeitsschluss bereits aus dem nationalen Recht ergebe.196 (c) Grenzen der richtlinienkonformen Rechtsfindung Wird der Normsetzungsbefehl als objektiv-teleologisches Kriterium verstanden, greift eine richtlinienkonforme Interpretation – denkt man den objektiven Ansatz konsequent fort – erst auf dritter Stufe ein. Zuerst zu überprüfen wäre, ob Vorrangregeln auf erster Stufe (eindeutiger Wortlaut) oder zweiter Stufe (Gleichlauf von Wortsinn und gesetzgeberischer Regelungsentscheidung) vorgehen. Diese bildeten dann die Grenzen der richtlinienkonformen Rechtsfindung.
191 Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn 45 ff.; Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 89 f. 192 Ausführlich zum nationalen Recht Canaris, Lücken, S. 71 ff., 82 ff. 193 Canaris, Lücken, S. 89 ff. 194 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 90. Auf die Nähe zur unmittelbar negativen Anwendung der Richtlinie weist Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 146 hin. 195 Gebauer, AnwBl 2007, 314, 318. Andere Ansicht Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 148. 196 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 89 nennt als Beispiel die Problematik das Haustürwiderrufsrecht auf den Bürgen anzuwenden. Siehe auch Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 147; Auer, NJW 2007, 1106, 1108.
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Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien
(i) Der eindeutige Wortlaut Nur vereinzelt wird auf die mögliche Vorrangregel des eindeutigen Wortlauts (auf erster Stufe) eingegangen. Ausnahmsweise sei danach eine Norm dann nicht richtlinienkonform korrigierbar, wenn der Wortlaut der nationalen Norm eindeutig sei. Dann fixiere der Wortlaut das Auslegungsergebnis, welches sich nach dem Wortlaut ergebe.197 Wie bereits oben erläutert198, wird die Eindeutigkeit des Wortsinns jedoch regelmäßig abgelehnt (wenn es sich nicht gerade um zahlenmäßige Festsetzungen handelt). Konsequenterweise greift diese Vorrangregel dann auch im Richtlinienkontext allenfalls im Ausnahmefall.199 (ii) Gesetzgeberische Regelungsentscheidung und Contra-legem-Grenze Die gesetzgeberische Regelungsentscheidung allein wird bereits nach der traditionellen objektiven Theorie nicht als Vorrangregel und Grenze der Rechtsfindung begriffen. Vielmehr sei auch der gesetzgeberische Regelungszweck einer richtlinienkonformen Anpassung zugänglich. Dies sei nur dann nicht der Fall, wenn der Regelungszweck durch den Wortlaut in unkorrigierbarer Weise festgelegt sei200, mit anderen Worten, wenn eine Vorrangregel (auf zweiter Stufe) greife. Eine Contra-legem-Grenze wird daher anerkannt. Zu beachten ist jedoch, dass die hiermit anerkannte Contra-legemGrenze nicht die traditionelle Contra-legem-Grenze ist. Das für ein Eingreifen der Contra-legem-Grenze maßgebliche Doppelkriterium von Wortlaut und Zweck wird nämlich nicht allein anhand der nationalen Rechtsordnung bestimmt, sondern die Auslegungskriterien werden im Lichte der Richtlinie bzw. des Normsetzungsbefehls besehen und können daher zu197
Nettesheim, AöR 1994, 261, 274, 275. Dazu oben Teil 1, B.II.1.a)(3)(b)(ii)(aa), S. 48 ff. 199 S. beispielsweise Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 96: „Der Wortlaut allein kann dagegen überwunden werden“. 200 Nettesheim, AöR 1994, 261, 275; Jarass, Grundfragen, S. 95; Rüffler, ÖJZ 1997, 121, 127; Klauer, Europäisierung des Privatrechts, S. 52; Hergenröder in: FS Zöllner II, 1999, 1139, 1146 f., 1150; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 913; Gebauer in: Gebauer/ Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 34, 43; Gebauer, AnwBl 2007, 314, 317, 318. Weitergehend noch Unberath, ZEuP 2005, 5, 8, 31 f., der einen Systembruch fordert. Dem Grunde nach auch Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 87, 95 f.; zu seinen Einschränkungen sogleich im Text. Andere Ansicht: Auer, NJW 2007, 1106, 1108, die eine Contra-legem-Grenze gänzlich ablehnt, da sie sich im Fall der richtlinienkonformen Rechtsfindung selbst aufhebe. Dabei verkennt sie allerdings die Stufenfolge der Vorrangregeln, nach denen eine gesetzesnähere Interpretation anhand von übereinstimmendem Wortlaut und gesetzgeberischem Zweck den gesetzesferneren Wertungen der Gesamtrechtsordnung bei eindeutigem Auslegungsergebnis vorzuziehen sind. 198
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mindest potentiell ihre Interpretation im Gegensatz zum rein nationalen Kontext verändern.201 Als Auslegungsregel steuere die Richtlinienkonformität die Zulässigkeit und das Gewicht der anderen Auslegungskriterien des nationalen Rechts.202 Besteht also nach Auslegung kein richtlinienkonformes Ergebnis, tritt man – obwohl man die nach nationalem Recht maßgeblichen Auslegungsergebnisse bereits gefunden glaubte – wieder in den Rechtsfindungsvorgang ein und überprüft die Auslegungskriterien nunmehr im Lichte der Richtlinie. Eindeutiges nationales Recht wird im Lichte der Richtlinie besehen möglicherweise zu uneindeutigem.203 Damit kann sich die nationale Contra-legem-Grenze zugunsten einer richtlinienkonformen Interpretation verschieben, es sei denn der gesetzgeberische Zweck ist, auch im Lichte der Richtlinie besehen, in unkorrigierbarer Weise im Wortlaut fixiert. Dies führt zu einer Modifikation der nationalen Methoden, die allein mit Hilfe der Richtlinie gerechtfertigt wird. Besonders deutlich zeigt sich die Modifikation der Vertreter einer interpretatorischen Vorrangregel zugunsten der Richtlinienkonformität in dem Fall, indem der Gesetzgeber die Umsetzung der Richtlinie unterlässt, weil er irrig davon ausging, das nationale Recht sei bereits richtlinienkonform. Nach rein nationalen Methoden kann man die Richtlinie bei der Rechtsfindung nicht berücksichtigen, denn ein Wille zur Umsetzung des Gesetzgebers hat sich im Gesetz oder den Materialien nicht niedergeschlagen. In vielen Fällen wird daher nach traditioneller Methode eine richtlinienkonforme Rechtsfindung aufgrund einer gegenläufigen Regelungsentscheidung des Gesetzgebers ausscheiden müssen. Geht man hingegen mit den Vertretern eines interpretatorischen Vorrangs davon aus, die Richtlinie sei mit Ablauf der Umsetzungsfrist Bestandteil der nationalen Gesamtrechtsordnung, kann die Richtlinie den Maßstab der Lückenfeststellung bilden. Die Zulässigkeit einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung sei dann „unproblematisch“.204 Die Grenze der richtlinienkonformen Rechtsfindung sei allerdings dann erreicht, wenn der Gesetzgeber die Richtlinie bewusst (partiell) nicht oder fehlerhaft umsetzt, ihr also den Gehorsam verweigert. Zeige sich dieser Wille zu einer entgegengesetzten materiellen Regelung im Wortlaut der Norm, sei eine weitergehende richtlinienkonforme Rechtsfindung nicht 201 Unzutreffend sind daher die Ausführungen von Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht, S. 99 in Fn. 537, dass es in der Sache keinen Unterschied mache, ob eine interpretatorische Vorrangregel oder eine bloße Auswahlregel (im Sinne eines Ergebnisvorranges) vorliege. 202 Gebauer, AnwBl 2007, 314, 317; Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 33. Vgl. auch Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 97 203 Ablehnend Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 85 f. 204 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 88 f.
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Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien
möglich. Der Gesetzgeber habe dann gerade eine Wertentscheidung gegen die Richtlinie getroffen, an die der Richter gebunden sei. Es verbiete sich eine richtlinienkonforme Gesetzesanwendung.205 Als Unterfall der Contra-legem-Rechtsfindung wird außerdem der vollständige Funktionsverlust einer Norm als Grenze der Gesetzes- und Rechtsanwendung berücksichtigt.206 Der vollständige Funktionsverlust der Norm sei nämlich letztlich nichts anderes als die vollständige Negierung des in ihrer Existenz zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Regelungswillens und damit als contra legem abzulehnen.207 (3) Begründung und Vorteile der Methode Die Methode des interpretatorischen Vorrangs zugunsten der Richtlinienkonformität wahre die traditionelle Kompetenzverteilung zwischen Legislative und Judikative, denn Art. 288 AEUV stelle keine Grundlage für eine Verschiebung dar.208 Stattdessen schöpfe der Rechtsanwender nur seinen Spielraum aus, indem der Normsetzungsbefehl aus der Richtlinie als unmittelbar geltendes Recht in der nationalen Rechtsordnung verstanden wird. Er könne deshalb als objektiv-teleologisches Kriterium bei der Gesetzesanwendung Berücksichtigung finden und bestimme als Maßstab die Interpretation des nationalen Rechts. Dies führe auch nicht zu einer Kom205 Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 34, 43; Franzen, JZ 2003, 321, 327 f.; Dänzer-Vanotti, StVj 1991, 1, 9 f.; Heß, JZ 1995, 149, 151. Andere Ansicht: Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 85 f., nach dem ein Verbot der richtlinienkonformen Rechtsfindung bei entgegenstehendem Gesetzgeberwillen nicht voraussetze, dass der Wille des Gesetzgebers zur (partiellen) Nichtumsetzung der Richtlinie im Wortlaut der nationalen Norm zum Ausdruck komme. Zum einen ergebe sich nämlich seine Regelungsabsicht mit hinreichender Deutlichkeit schon aus dem Zusammenspiel von historischer und systematischer Auslegung, wenn er die Richtlinie überhaupt umsetze, von dieser aber in einem bestimmten Punkt nachweislich abweiche. Das Schweigen des Gesetzgebers sei dann „beredt“. Zum anderen sei es eine unrealistische Übersteigerung der Anforderungen an die Gesetzgebungstechnik, wenn man erwarten würde, dass der Gesetzgeber die Umsetzungsverweigerung auch noch in das Gesetz „hineinschreibt“. Unklar bzgl. der Voraussetzung der Andeutung im Wortlaut: Mörsdorf, EuR 2009, 219, 230: „Die Grenze dürfte jedenfalls dort erreicht sein, wo das Zurückbleiben des nationalen Rechts hinter den Anforderungen einer Richtlinie auf einer mehr oder weniger deutlichen Umsetzungsverweigerung des nationalen Gesetzgebers beruht“. In diesem Zusammenhang heißt es aber dort auch: „eine Umsetzungsverweigerung des nationalen Gesetzgebers [ist] nur im Ausnahmefall anzunehmen“. 206 Mörsdorf, EuR 2009, 219, 231; Auer, NJW 2007, 1106, 1108; Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 51; Gebauer, AnwBl 2007, 314, 318 f.; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 916 m.w.N.; Unberath, ZEuP 2005, 5, 8. 207 Mörsdorf, EuR 2009, 219, 231; Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 51. 208 Deutlich bei Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 56 f.
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petenzverschiebung im nationalen Verfassungsrecht durch eine unbegrenzte Aufwertung der Richtermacht, denn der Richter setze keine eigenen rechtspolitischen Wertungen zur Negierung des Willens des Gesetzgebers, sondern er stütze sich auf Ergebnisvorgaben aus dem Unionsrecht.209 Zudem werde die Normsetzungsprärogative des Gesetzgebers nicht verletzt. Es bleibe ihm unbenommen, die Umsetzung der Richtlinie selbst vorzunehmen.210 Ein etwaiger Eingriff in die Kompetenzverteilung sei jedenfalls gerechtfertigt, da die nationalen Parlamente im Richtlinienbereich bereits die Befugnis verloren hätten, eigenständig materielle Regelungsziele zu setzen. Stattdessen sei das unionsrechtliche Regelungsziel maßgeblich. An dieses Regelungsziel sei auch die nationale Judikative gebunden und nicht mehr an die Entscheidungen des nationalen Gesetzgebers.211 Indem der Normsetzungsbefehl in den Rechtsfindungsvorgang einbezogen werde und Lücken im nationalen Recht aufwerfe, die nach rein traditioneller Methode nicht bestünden, werde die Richtlinie effektiver umgesetzt212 und Vertragsverletzungsverfahren und Staatshaftung würden weitestgehend vermieden213. Ansonsten müsste der Gesetzgeber stets den Richtlinienverstoß korrigieren, was lange dauern könne. Im Vergleich dazu sei die Annahme einer interpretatorischen Vorrangregel wesentlich effizienter zur Umsetzung des Unionsrechts. Außerdem vermeide sie eben die sonst drohende Gefahr einer Staatshaftung wegen mangelhafter Umsetzung der Richtlinie.214 (4) Probleme der Methode Problematisch ist die Annahme, der Gesetzgeber habe seine Regelungskompetenz verloren, weil er unionsrechtlich verpflichtet sei, die Vorgaben der Richtlinie umzusetzen. Ob sich aus Unionsrecht tatsächlich so eine Rechtsfolge ableiten lässt, ist zu klären. Zudem wurden von den Vertretern eines interpretatorischen Vorrangs die Vermeidung der Staatshaftung und die effektive Umsetzung von Richtlinien als Vorteil deklariert. Dieser Vorteil geht allerdings im Horizontalverhältnis zu Lasten eines Marktbürgers, der auf das nationale Recht und nicht auf die für ihn nicht geltende Richtlinie vertraut hat. Dies ist vor al209
Dazu Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 151 f. Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 88; denkbar seien Ausnahmen vom Gebot der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung für den Fall, dass der Gesetzgeber eine Umsetzung nicht vornehmen will oder der Umsetzungsvorgang dicht bevorsteht. Eine Problematik, die C.-W. Canaris explizit ausklammert. 211 Nettesheim, AöR 1994, 261, 271 f.; Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 140 f. 212 Lutter, JZ 1992, 593, 604 f. m.w.N.; Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 70. 213 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 70, 87. 214 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 70, 87. 210
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lem in dem Fall problematisch, wenn das nationale Recht aus sich heraus eindeutig ist und eine anderweitige Interpretation contra legem wäre. Der Marktbürger muss in diesem Fall nicht mit einer richtlinienkonformen Rechtsfindung rechnen. Schließlich muss die Frage gestellt werden, ob ein Hin- und Herwandern des Blickes zwischen nationalem Recht und Richtlinie bei der Auslegung, wie es C.-W. Canaris vorschlägt, die notwendige Rechtssicherheit gewährleistet. Das Vorgehen scheint nicht methodenklar215 und es besteht zumindest die Gefahr, dass die Contra-legem-Grenze zugunsten der Vorgaben der Richtlinie aufgegeben wird. (5) Fazit Die These des interpretatorischen Vorrangs der Richtlinie wirft damit letztlich zwei Probleme auf, die genauer zu analysieren sind: Zum einen handelt es sich um die Frage, in welcher Form und in welchem Ausmaß dem Gesetzgeber die Rechtssetzungskompetenz für nationales Recht noch zukommt. Käme sie ihm nicht mehr zu, könnte auch der nationale Richter die Rechte aus der Richtlinie durchsetzen ohne dem Gesetzgeber Kompetenzen zu nehmen. Er hielte sich dann trotz Verschiebung der Contra-legem-Grenze im Rahmen seiner nationalen Kompetenzen, ohne dass es zu einer nicht schon durch den Zustimmungsakt zu den Unionsverträgen vorgesehenen Kompetenzverschiebung käme. Zum anderen stellt sich die Frage, wie das unionsrechtliche Effektivitätsprinzip und der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz des Bürgers im Hinblick auf geltende nationale Gesetze zueinander stehen. Würde die Contra-legem-Grenze zugunsten der Richtlinie verschoben, wäre die Richtlinie effektiver umgesetzt und der auf die Richtlinie vertrauende Marktbürger wäre geschützt. Lehnte man eine Verschiebung der Contra-legemGrenze ab und beließe es bei den nationalen Methoden, wäre der auf das nationale Recht Vertrauende geschützt. Die Richtlinie wäre dann allerdings nicht umgesetzt und eine Staatshaftung und ein Vertragsverletzungsverfahren sind möglich. b) Die Auffassung von C. Herresthal Die Auffassung von C. Herresthal lehnt sich an die These der Richtlinienkonformität als interpretatorische Vorrangregel an und baut auf deren Ansätzen auf. In einem gesonderten Kapitel wird dieser Ansatz dargestellt, weil C. Herresthal ein umfassendes Modell der verfassungsrechtlichen 215 Ebenso Auer, NJW 2007, 1106, 1108. Zudem scheint der methodische Aufwand müßig, wenn sich die Richtlinie ohnehin durchsetzt, Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 323.
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Neuzuordnung der Staatsgewalten entwickelt. Er geht davon aus, dass sich die verfassungsrechtlichen Kompetenzen im Richtlinienbereich zugunsten der Judikative verschieben, da sie berechtigt sei, auch außerhalb des traditionellen Kompetenzrahmens das nationale Recht zugunsten der Richtlinie zu korrigieren. Die verfassungsrechtliche Kompetenzverschiebung rechtfertige nämlich die Veränderung der nationalen Methoden im Richtlinienbereich. (1) Der gedankliche Ansatz C. Herresthal geht, wie die Vertreter eines interpretatorischen Vorrangs, von einer Veränderung des Stufenmodells zugunsten der unmittelbaren Geltung und vorrangigen Einwirkung von (durch ihn benannt als sog.) Rechtssetzungspflichten aus Richtlinien aus, was er jedoch mit der Öffnung der nationalen Rechtsordnung durch Art. 23 GG begründet (a). Schließlich geht er über die These der Vertreter eines interpretatorischen Vorrangs hinaus, indem er davon ausgeht, dass Rechtssetzungspflichten die nationalen Organe nicht nur im Rahmen ihrer traditionellen Kompetenzen treffen, sondern dass diese zugunsten der Judikative auszudehnen sind (b). (a) Die unmittelbare Geltung von Rechtssetzungspflichten Die unmittelbare Geltung von Rechtssetzungspflichten, die sich aus Richtlinien ergeben, begründet C. Herresthal mit der Einwirkung von Rechtssetzungspflichten aus Richtlinien im Sinne eines Beachtungsvorrangs (i.). Aufgrund dieser besonderen Einwirkungen sei das Modell vom Stufenbau der Rechtsordnung im Hinblick auf Richtlinien zu modifizieren (ii.). (i) Der Beachtungsvorrang der Richtlinie C. Herresthal versteht die Richtlinie als „Rechts(setzungs)pflicht“, nach der eine niederrangige Norm mit einem bestimmten Regelungsinhalt zu schaffen oder auszugestalten sei. Dieser Normsetzungsbefehl der Richtlinie derogiere und suspendiere nicht; nichtsdestotrotz enthalte er eine höherrangige normative Pflicht216, eine bestimmte Regelung zu schaffen. Diese Pflicht wirke also nicht im Sinne eines Geltungs- oder Anwendungsvorrangs ein, sondern die Vorrangwirkung des Unionsrechts sei weiter zu verfeinern, sodass auch ein sog. Beachtungsvorrang des Unionsrechts möglich sei.217 Diese Pflicht werde Bestandteil der Rechtsordnung und 216
Dies mache den Unterschied aus zwischen der Rechtssetzungspflicht, die normativ verbindlich ist, und anderen objektiv-teleologischen Rechtsgewinnungskriterien, Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 169. 217 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 167.
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binde auch die Judikative als Gesetz im Sinne von Art. 20 III GG 218 (erweiterter Gesetzesbegriff219). Der Inhalt der Bindung richte sich nach der jeweiligen Unionsnorm. Rechtssetzungspflichten seien bis zur innerstaatlichen Kompetenzgrenze zu erfüllen und bei der Rechtsgewinnung zu beachten.220 (ii) Die Modifikation des Modells vom Stufenbau der Rechtsordnung durch die „integrative Verbindung“221 von nationaler und Unionsrechtsordnung zu einer Gesamtrechtsordnung Aufgrund dieser Besonderheiten der Einwirkungen von Richtlinien sei nicht an der strengen Alles-oder-Nichts-Lösung einer vorrangigen Geltung bzw. Nichtgeltung des Unionsrechts festzuhalten und das Stufenmodell zu modifizieren, sodass nunmehr auch höherrangige Rechtssetzungspflichten im Sinne eines Beachtungsvorrangs einwirken könnten. Spreche man dem Unionsrecht jegliche innerstaatliche Bedeutung ab, könne die demokratische Legitimation zweier Gesetzgeber nicht hinreichend erfasst und das Gebot der effektiven Durchsetzung des Unionsrechts nicht erfüllt werden.222 Begründet wird die Modifikation des Stufenbaumodells mit den vielfältigen Verschränkungen der Rechtsordnungen, deren materielle Grundlage Art. 23 GG und die veränderte Verfassungsstruktur seien. Die Trennung von nationaler und Unionsrechtsordnung im Sinne eines streng dualistischen Verständnisses aufgrund des erreichten Integrationsniveaus sei nicht mehr zeitgemäß.223 Für ein streng monistisches Verständnis fehle es der Union allerdings noch an der Kompetenz-Kompetenz.224 Daher müsse die Öffnung der nationalen Rechtsordnung vom verfassungsändernden Gesetzgeber ausgehen, was durch die Integrationsermächtigung des Art. 23 GG geschehe.225 Die Normenpyramide werde an ihrer Spitze durch Art. 23 I GG und gegebenenfalls etwaige zukünftige Zustimmungsgesetze gemäß Art. 23 I 3 GG geöffnet. „Bildlich entsprechen die nationale Rechtsordnung und die Gemeinschaftsrechtsordnung damit einer Pyramide mit einer aufgesetzten Kugel (‚Mensch-ärgere-Dich-nicht-Figur‘), wobei der 218
Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 191. Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 192. 220 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 168, 192. 221 Die nationale Rechtsordnung wird dabei als integrierte Rechtsordnung, die gemeinschaftsrechtliche als eine integrierende bezeichnet, Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 166 f. 222 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 164 f. 223 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 161, 163 und ff. 224 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 159 f. 225 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 160. 219
B. Meinungen zum Konflikt von Richtlinie und nationalem Recht
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verfassungsändernde Gesetzgeber die Breite des Durchlasses, d.h. Inhalt und Reichweite der Einwirkungen bestimmt, und an der zentralen Kugel (dem Gemeinschaftsrecht) zahlreiche Pyramiden (die nationalen Rechtsordnungen) andocken. Insoweit kann man in letzter Konsequenz von einer Rechtsordnung ausgehen, das immer engere Verhältnis der zwei Rechtsordnungen kann qualitativ als integrative Verbindung, die nationale Rechtsordnung als integrierte, die gemeinschaftsrechtliche als integrierende bezeichnet werden.“226 Das kompetenzgedeckte Unionsrecht könne deshalb innerhalb der Grenzen des Art. 79 III GG höchstrangig und vorrangig von oben in die nationale Rechtsordnung einwirken. Folge sei die Modifikation des Modells des Stufenbaus der Rechtsordnung durch die „integrative Verbindung der Rechtsordnungen“227. (b) Die Verschiebung der innerstaatlichen Kompetenzen Neben der vorrangigen Einwirkung von Richtlinien im Sinne eines Beachtungsvorrangs begründet C. Herresthal zudem anhand einer Auslegung von Art. 23 GG die Verschiebung der innerstaatlichen Kompetenzgrenzen, indem er Art. 23 GG nicht mehr bloß als Staatsziel, sondern als neues Staatsstrukturprinzip der „integrierten Verfassungsstaatlichkeit“228 begreift. Als Staatsstrukturprinzip konkurriere Art. 23 GG mit den übrigen Strukturprinzipien, v.a. dem Demokratieprinzip229, dem Bundesstaatsprinzip230 und der Gewaltenteilung231. Dementsprechend ändere sich die traditionelle Verfassungsstruktur im Richtlinienbereich232, was insbesondere zu einer Abschwächung der demokratischen Legitimation der Gesetze233, einem 226
Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 166, Hervorhebung im Original. Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 166 f. 228 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 123 ff., v.a. S. 126 ff., 137; Herresthal, EuZW 2007, 396, 398. 229 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 130 ff. 230 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 132 f. 231 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 133 f., 142 ff. 232 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 130 ff. 233 Die Abschwächung der demokratischen Legitimation folge aus den externen Regelungsvorgaben des Unionsrechts. Nach dem Demokratieprinzip müsse die Willensbildung vom Staatsvolk ausgehen und zu den Staatsorganen verlaufen. Dies sei nicht hinreichend gewährleistet, wenn die mitgliedstaatliche Rechtsordnung für vorrangige, externe Vorgaben des Unionsrechtsgesetzgebers geöffnet werde. Eine derartige Hoheitsgewalt gehe nach Verständnis des Art. 20 II 1 GG nicht vom (deutschen) Staatsvolk aus (sondern nur vom Rat als weisungsunterworfene, mitgliedstaatliche Regierungsvertretung). Dies werde nicht kompensiert durch die Rückbindung an die nationalen Parlamente, da bei den Normsetzungsverfahren der Art. 251, 252 EG eine qualifizierte Mehrheit und damit das Überstimmen eines Mitgliedstaats möglich sei (dies gilt auch noch nach dem neuen Art. 294 VIII AEUV). Zudem hätten der Bundestag bzw. die Länderparlamente ohnehin bereits wesentliche Kompetenzen an die Bundesregierung verloren, die Deutschland im 227
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Zuständigkeitsverlust der Länder234, aber auch der nationalen Legislative235 zugunsten der Integration in eine überstaatliche Organisationsform mit einer eigenständigen Rechtsordnung führe.236 Demgemäß seien die Gewalten im integrierten Verfassungsstaat neu zu ordnen237, soweit dies der „integrationsfeste Kern der Gewaltenteilung“ gem. Art. 79 III GG (i.V.m. Art. 23 I 3 GG) zulasse238: Der Kompetenzverlust der Legislative liege darin, dass die Gesetze des nationalen Gesetzgebers suspendiert (wie bei Verordnungen) oder seine materielle Regelungsfreiheit durch detailreiche Rechtssetzungsvorgaben reduziert würde (wie bei Richtlinien). Zudem werde der Vorbehalt des Gesetzes begrenzt, da wesentliche Regelungsziele in der nationalen Rechtsordnung ohne Tätigwerden der Legislative gelten könnten, da insofern die Initiativkompetenz bei der Kommission liege. 239 Erweiterte Kompetenzen habe hingegen die Exekutive, die (statt der Legislative) am Willensbildungsprozess im Rat teilnehme und so zum Rechtssetzungsorgan der Union gehöre. Damit verbunden seien gewisse Kompetenzverluste sowohl bezüglich des Inhalts der Rechtsakte, die nun unionsrechtlich bestimmt seien, als auch hinsichtlich der Normsetzungsinitiative soweit diese bei der Kommission liege.240 Für die Judikative legitimiere die Einordnung des Art. 23 GG als Staatsstrukturprinzip einen erheblichen Kompetenzzuwachs aufgrund der verschiedenen Einwirkungen des Unionsrechts241. Da das Unionsrecht eine Rat vertritt. Schließlich sei auch die Rolle des Europäischen Parlaments selbst als Repräsentationsorgan der Völker Europas umstritten, zumindest bestehe noch kein europäisches Staatsvolk im herkömmlichen Sinne, Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 130 f. 234 Der Zuständigkeitsverlust der Länder folge aus der ausschließlichen Bundeskompetenz in auswärtigen Angelegenheiten nach Art. 32, 59, 73 Nr. 1 GG sowie der einheitlichen Repräsentation Deutschlands in den Unionsorganen durch die Bundesregierung und der Blindheit des Europarechts für die innerstaatliche Kompetenzverteilung, Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 132 f. 235 Der Kompetenzverlust der Legislative folgt aus der Mitwirkung der Bundesregierung an der „rechtsordnungsexternen Normsetzung“ über den Rat und aus der vorrangigen Besetzung der Kommission und des EuGH durch den Rat, Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 133 f. 236 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 139 m.w.N. 237 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 142 und ff. 238 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 152 und ff., insbesondere dürfe die in Art. 20 II, III GG festgelegte Zuordnung der Gewalten nicht vollständig aufgehoben oder materiell umfassend entwertet werden, Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 155 f. Zudem müsse die Judikative sich an Gesetz und Recht halten, Art. 20 III GG, sodass „die prinzipielle Substituierung der gesetzgeberischen Tätigkeit durch die Judikative und die umfassende Aufhebung des Gesetzesvorrangs untersagt“ ist, Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 157. 239 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 144 f. 240 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 146 f. 241 Zu den Einwirkungen s. Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 65 ff.
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Kompetenzausschöpfung durch die Legislative verlange, müsse die Judikative neue242 Aufgaben in der integrierten Staatlichkeit übernehmen. Nach Auffassung von C. Herresthal sind diese die Gewährleistung der effektiven Durchsetzung des Unionsrechts zur Unterstützung der Unionsgerichtsbarkeit243, die Harmonisierung des nationalen Rechts mit den Regelungszielen und Normen des Unionsrechts (vertikale Harmonisierung)244 sowie die interne Harmonisierung des autonom geprägten nationalen Rechts mit dem gemeinschaftsrechtlich überformten nationalen Recht245. Diese Neuzuordnung der Gewalten ist der maßgebende Teil der Methode von C. Herresthal, durch welche er sich von den übrigen Methoden abhebt. Diese Veränderung der Kompetenzverteilung der Gewalten ermöglicht ihm nämlich die Legitimation der Modifikation der nationalen Methoden und die Verschiebung der traditionellen Contra-legem-Grenze. Die Öffnung der nationalen Rechtsordnung durch Art. 23 GG führe zum Hinzutreten eines weiteren demokratisch legitimierten Gesetzgebers, dem Unionsgesetzgeber. Die bisher bipolare Zuordnung der Judikative zur Legislative ändere sich in eine tripolare, denn die nationale Judikative sei nunmehr auch dem Unionsgesetzgeber untergeordnet.246 Aufgrund dessen seien auch die Führungs- und Gestaltungsaufgaben der nationalen Legislative im Richtlinienbereich reduziert. Sofern eine Unionsrechtsvorgabe bestehe, sei die Legislative bezüglich des „ob“ und des „wie“ der Regelung determiniert.247 Dieser Kompetenzverlust der Legislative werde kompensiert durch die Bindung der Judikative an Unionsrecht.248 Zulässig soll dies sein, weil sich die Judikative nicht zu einer zweiten normsetzenden Instanz aufschwinge, sondern lediglich die höherrangige Rechtssetzungspflicht durchsetze. Sie treffe keine eigene rechtspolitische Wertentscheidung und stelle sie gegen die des Gesetzgebers, sondern sei selbst an die höherrangige Vorgabe gebunden.249 Damit werde die Judikative nicht politischlenkend tätig und erstelle einen Gegenentwurf zur nationalen Gesetzgebung, sondern bemühe sich lediglich um eine Anpassung des nationalen Rechts an das höherrangige Unionsrecht.250 Die Legislative könne auf ih-
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Zu den tradierten Aufgaben der Judikative s. Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 183-185. 243 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 186 ff. 244 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 188 f. 245 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 189 f. 246 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 195. 247 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 194. 248 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 195. 249 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 312 f. 250 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 206.
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ren zeitlichen Vorrang verzichten, habe sie doch stets die Möglichkeit, die Entscheidung an sich zu ziehen.251 Ein Vorteil der neuen Kompetenzverteilung in der integrierten Staatlichkeit sei auch, dass die Judikative das erhöhte Aufkommen an Regelungsdefiziten und -widersprüchen durch das Agieren zweier Normgeber in der heterogenen Gesamtrechtsordnung besser harmonisieren könne als die Legislative.252 Der Legislative stehe nur eine begrenzte Kapazität zu, die Rechtsordnung fortlaufend an neues Unionsrecht anzupassen.253 Die Legislative könne nach judikativer Tätigkeit auf einer breiteren Tatsachengrundlage aufbauen. Die Beständigkeit des Rechts und die Vorhersehbarkeit von Rechtsänderungen seien in der integrierten Staatlichkeit ohnehin reduziert. Aufgrund von unmittelbar anwendbarem Unionsrecht und der sukzessiven Konkretisierung von Rechtssetzungspflichten ergäben sich stets neue Regelungsvorgaben oder es entstünden Umsetzungsdefizite, die die Beständigkeit des Rechts und die Vorhersehbarkeit von Rechtsänderungen reduzierten. Jedenfalls sei die Judikative an die Unionsrechtsvorgaben gebunden, sodass die Rechtsunsicherheit der judikativen Entscheidungen hinreichend gemindert sei.254 Schließlich werde in der integrierten Staatlichkeit der Gesetzgeberwille nur begrenzt negiert. C. Herresthal unterstellt, dass der Gesetzgeber selten sehenden Auges eine Vertragsverletzung begehen oder nach festgestelltem Verstoß an ihr festhalten würde. Stattdessen sei von einer Anschauungslücke der Legislative auszugehen, die auf einem unzutreffenden Verständnis des nationalen Gesetzgebers beruhe.255 (2) Methode und Vorgehen Die Judikative müsse ihre neuen Aufgaben in der integrierten Staatlichkeit durch Ausschöpfung ihrer Kompetenzen, notfalls durch eine den einzelnen Bürger belastende Konformauslegung, erreichen.256 Zwar hält C. Herresthal im Grundsatz an der national-verfassungsrechtlichen Verankerung257 der Methoden fest und lehnt eine europäische Methode ab258, jedoch sei die Modifikation der nationalen Methoden aufgrund der veränderten Verfas251
Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 205 f. Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 198 ff. 253 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 202. 254 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 210 f. 255 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 206 f. 256 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 308 f. 257 Genauer zur Prägung der Methoden durch das Verfassungsrecht, Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 115 ff. 258 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 7 f., 58 ff., 63. 252
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sungsstruktur notwendig, denn die nationalen Methoden müssten die Einwirkung von höherrangigen Rechtssetzungspflichten aus Richtlinien verarbeiten, die häufig konkrete Rechtsgewinnungsergebnisse vorgeben und nicht auf höherer Abstraktionsebene liegen.259 (a) Der neue Maßstab der Gesetzesanwendung Aufgrund dieser Veränderungen der verfassungsrechtlichen Grundlage, auf der auch die Methoden aufbauen, lehnt C. Herresthal den bei der Rechtsfortbildung im nationalen Rahmen verwendeten Lückenbegriff als planwidrige Unvollständigkeit des positiven Rechts im europäischen Bezugsrahmen ab.260 Die „subjektive Konnotation des Planbegriffes“261 sei ungeeignet, weil in diesem Bereich zwei verschiedene Normgeber (nationaler und Unionsgesetzgeber) Recht setzten und damit „[w]eder jeweils der (hypothetische) ‚Regelungsplan‘ des nationalen Gesetzgebers noch des Gemeinschaftsgesetzgebers für sich betrachtet noch beide ‚Pläne‘ zusammen […] den zutreffenden Maßstab für eine konsistente Rechtsfortbildung“ ergäben.262 Der Maßstab der Rechtsfortbildung dürfe daher nicht der subjektive Plan des Gesetzgebers sein, sondern sei stattdessen objektiv zu wählen. Zutreffender Maßstab für die Bestimmung eines Regelungsdefizits in der integrierten Staatlichkeit sei daher die (nationale) Gesamtrechtsordnung.263 Diese umfasse neben dem nationalen Recht sowie neuen Prinzi-
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Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 236. Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 219, 221 ff. Im Ergebnis ebenso Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 141; Ulmer, ZIP 2002, 1080, 1081. 261 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 221. 262 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 221, Hervorhebung im Original. Auf den (hypothetischen) Regelungsplan nur des nationalen Gesetzgebers sei nicht abzustellen, da er das innerstaatlich geltende Unionsrecht und dessen Wertungen nicht umfasse. Zudem stehe dem nationalen Gesetzgeber keine Regelungsmacht zu, die Gesamtrechtsordnung konsistent nach seinem autonomen Plan auszugestalten, vielmehr sei er selbst an die Vorgaben des Unionsgesetzgebers gebunden, Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 221 f. Das kumulative Abstellen auf die Regelungspläne des nationalen und des Unionsgesetzgebers sei ungeeignet, weil eine interne und vertikale Harmonisierung der Regelungsziele zweier Normgeber nicht gewährleistet werde und sie zudem nicht methodenehrlich die Aufdeckung der Derogation des nationalen Gesetzgeberwillens zeige oder vorschnell ein Regelungsdefizit geleugnet werde, Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 222. Ein Abstellen auf den hypothetischen Regelungsplan der nationalen Gesamtrechtsordnung, als ideal gedachte Konzeption des nationalen Gesetzes unter Berücksichtigung höherrangiger Normen einschließlich des Unionsrechts, scheide aus, weil keine Legislativgewalt eine umfassende Rechtssetzungskompetenz für Unionsrecht besitze. Zudem sei das Leitbild eines planenden Subjekts mangels Kongruenz der Gesetzgeber nicht strukturangemessen, Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 222 f. 263 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 224, 398. 260
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pien und Wertungen264 auch die normativen Einwirkungen des Unionsrechts in die nationale Rechtsordnung, nicht aber das europäische Staatsorganisationsrecht.265 Bei der Prüfung, ob eine Lücke vorliege, sei zu untersuchen, ob im System dieser integrierten nationalen Gesamtrechtsordnung ein Regelungsdefizit bestehe. Normative Grundlage sei dabei die Einheit und Folgerichtigkeit dieser integrierten nationalen Rechtsordnung.266 Der Vorteil dieses objektiven statt des subjektiven Maßstabes sei, dass er die Rechtssetzungspflicht aus Richtlinien als normative Pflicht in den Rechtsfindungsvorgang einbeziehen könne. Die Judikative sei dann gemäß Art. 20 III GG auch an diese normative Pflicht gebunden.267 Das heißt, der Maßstab umfasse vor allem auch die Konstellationen, in denen das nationale Gesetz am Maßstab seiner Regelungen und immanenten Wertungen nicht ergänzungsbedürftig sei, ein Regelungsdefizit aber daraus resultiere, dass eine Rechtssetzungspflicht ein abweichendes Ergebnis vorschreibe.268 Ein solches Regelungsdefizit am Maßstab der (objektiv-ermittelten) integrierten nationalen Gesamtrechtsordnung bezeichnet C. Herresthal als systemwidrige Regelungslücke.269 Um die Veränderung des Maßstabes von einem subjektiven zu einem objektiven im europäischen Bezugsrahmen zu verdeutlichen, bezeichnet C. Herresthal sie als eigenständige Kategorie der „gemeinschaftsrechtskonformen Rechtsfortbildung“.270 264
Gemeint sind das Prinzip der integrationsbegleitenden Harmonisierung, siehe Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 105 ff., und der gemeinschaftsweite Gleichheitssatz, siehe Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 98 ff. 265 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 224, 398. 266 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 225, 228 ff. Auf den hypothetischen Einheitlichkeitswillen des nationalen Gesetzgebers könne nicht abgestellt werden, da aufgrund der Pluralität der Normgeber ein solcher nicht feststellbar sei, Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 226. Auch Art. 3 I GG und die daraus folgende Ableitung der Widerspruchsfreiheit der nationalen Rechtsordnung könne keine Grundlage sein, da Art. 3 I GG dem Staatstrukturprinzip aus Art. 23 I GG in praktischer Konkordanz gegenüberzustellen sei und somit Wertungs- und Normwidersprüche der Rechtsordnung strukturimmanent seien, Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 226 f. Aufgrund dieser Strukturänderung könne auch die Einheit der Rechtsordnung als Konsequenz aus der Bindung aller staatlichen Gewalt an die Verfassung (Art. 1 III, 20 III GG) keine normative Grundlage sein, Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 227. Der klassische Stufenbau der Rechtsordnung könne deshalb nicht als Basis dienen, weil keine Abstufung von Normschichten vorliege, sondern eine durch den verfassungsändernden Gesetzgeber mit der Einfügung von Art. 23 I GG gesteuerte Einwirkung von Unionsnormen „von oben“. Diese höherrangigen Normen wiesen aber gerade nicht zwingend eine höhere Abstraktionsstufe auf, Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 227. 267 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 224 f., 398 f. 268 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 225. 269 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 230 f., 398. 270 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 232 ff., 235.
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(b) Die gemeinschaftsrechtskonforme Rechtsfortbildung Die Rechtsfortbildung erfolgt entsprechend der objektiven nationalen Methode, in zwei Schritten: die Lückenfeststellung (i) und die Lückenschließung (ii). (i) Lückenfeststellung: Das Vorliegen einer systemwidrigen Regelungslücke Nach Auffassung C. Herresthals folgt eine systemwidrige Regelungslücke aus dem Vergleich der nationalen Einzelfallregelung mit der Gesamtrechtsordnung, die die höherrangige Rechtssetzungspflicht aus der Richtlinie enthält. Eine Lücke sei dann anzunehmen, „wenn die nationale Gesamtrechtsordnung unter Einbezug der – durch den EuGH zu konkretisierenden – Rechts(setzungs)pflicht eine Regelung fordert, die im positiven Recht noch fehlt, oder ein konkretes Ergebnis der Rechtsanwendung verlangt, das durch Auslegung des nationalen Rechts nicht erzielt werden kann.“271 Der Fortbildungsbedarf folgt damit nicht – wie autonom-national – aus einer Divergenz von Wortlaut und Zweck der nationalen Norm, sondern aus dem Widerspruch des nationalen Gesetzes mit der Rechtssetzungsvorgabe des Unionsrechts. Die höherrangige unionsrechtliche Rechtssetzungspflicht ist nach Ansicht C. Herresthals zudem anderen Rechtsgewinnungskriterien der Gesamtrechtsordnung absolut vorrangig, etabliere also eine Vorrangregel. Aktualisiere sich der Vorrang, kämen andere Auslegungskriterien überhaupt nicht in den Blick und gingen auch nicht in das Ergebnis ein.272 Rechtstheoretisch begründet er diesen Beachtungsvorrang von Richtlinien mit der modifizierten Normenhierarchie, der staatstheoretisch auf die Einfügung des Staatsstrukturprinzips der integrierten Staatlichkeit zurückgehe, was die Normenpyramide nach oben für normative Einwirkungen des Unionsrechts öffne.273 Mit dieser Methode ergibt sich eine zur Rechtsfortbildung berechtigende Lücke allein durch den Vergleich des nationalen Rechts mit der vorrangigen Rechtssetzungspflicht aus Richtlinien, die Teil der Gesamtrechtsordnung sind. Allein durch den Erlass einer Richtlinie verändert sich also das nationale Recht derart, dass – auch ein vorher eindeutiges – nationales Recht lückenhaft wird.
271
Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 234. Vgl. auch Herresthal, EuZW 2007, 396,
398 f. 272
273
Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 237. Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 237 f., s. auch S. 233 f.
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(ii) Die Lückenschließung Die Pflicht zur Schließung von systemwidrigen Lücken folge aus dem Gebot der Einheit und Folgerichtigkeit der Gesamtrechtsordnung sowie aus der höherrangigen Rechtssetzungspflicht selbst.274 Als Teil der Rechtsordnung sei die höherrangige Rechtssetzungspflicht Gesetz im Sinne des Art. 20 III, 97 I GG, an das die Judikative gebunden sei. Im Rahmen ihrer Kompetenzen habe die Judikative daher die Vorgaben der Richtlinie vorrangig zu beachten.275 Damit werde die Lücke, wie bei der klassischen gesetzesübersteigenden Fortbildung (nach objektiver Theorie), anhand eines rechtlichen Kriteriums der Gesamtrechtsordnung geschlossen.276 (iii) Zeitlicher Beginn der gemeinschaftsrechtskonformen Rechtsfortbildung Für die Judikative normativ verbindlich seien die Vorgaben der Richtlinie allerdings in zeitlicher Hinsicht erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist. Zwar gelte die Rechtssetzungspflicht ab ihrem Inkrafttreten in der nationalen Rechtsordnung, der Inhalt der Richtlinie schreibe die Geltung ihres Zieles aber erst ab einem bestimmten Zeitpunkt vor. „Vor dem Ablauf der Umsetzungsfrist ist der Pflichteninhalt daher ‚die Verankerung des Ergebnisses in der Rechtsordnung bis zum Umsetzungstermin‘, ab diesem Termin die ‚sofortige Herbeiführung des Ergebnisses‘.[…] Die Pflicht zur richtlinienkonformen Rechtsgewinnung mit ihren normativen Besonderheiten für die nationalen Methoden besteht daher grundsätzlich erst nach dem Ablauf der Umsetzungsfrist“.277 Folglich sollen bis zum Ablauf der Um-
274
Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 234 f., Hervorhebung im Original. Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 237 f., s. auch S. 233 f.. Gesondert für die Analogie Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 239; für die Reduktion Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 241 f.; für die Extension Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 243; für die gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung anhand von Prinzipien und Wertungen, Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 245. 276 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 236. 277 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 255 f., Hervorhebungen im Original. Grund sei, dass sich die materiellen Aspekte der Gewaltenteilung nicht vor Ablauf der Umsetzungsfrist aktualisierten, sodass die Prärogative politisch-gestaltender Entscheidungen (noch) bei der Legislative verbleibe. Auch bestünde vor Ablauf der Umsetzungsfrist noch kein Bedarf für eine punktuelle judikative Korrektur, da noch unklar sei, ob die Legislative nicht doch den Anpassungsbedarf umfassend erkenne, Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 256 f. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz sei aber zu machen, wenn die (höchstrichterliche) judikative Entscheidung dazu führe, dass das Richtlinienergebnis auch nach Fristablauf mit weit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht im Mitgliedstaat gelte. Dies sei etwa dann der Fall, wenn „unter Berücksichtigung des Zeitraums für das Absetzen der Entscheidungsgründe mit weit überwiegender Wahrscheinlichkeit der Legislative nicht 275
B. Meinungen zum Konflikt von Richtlinie und nationalem Recht
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setzungsfrist die traditionellen Grundsätze der Rechtsfortbildung gelten, nach denen die Richtlinienkonformität allenfalls ein Abwägungskriterium unter vielen sei, nicht aber einen absoluten Vorrang genieße.278 Bei einer Umsetzung vor Fristablauf greife die Umsetzungspflicht und die Vorrangregel noch nicht. Allerdings komme bei der Rechtsanwendung der historischen Auslegung in der Abwägung mit den übrigen Kriterien bei erkennbarem Umsetzungswillen des Gesetzgebers ein erhebliches Gewicht zu.279 Dies gelte auch bei legislativem Fehlverständnis der Richtlinienregel, da der Gesetzgeber aufgrund des Wesentlichkeitsgrundsatzes und seiner legislativen Normsetzungsprärogative nicht stets auf ein richtlinienkonformes Ergebnis verweisen könne; stattdessen müsse sein konkretes Verständnis der Richtlinie maßgebend sein.280 Technisch könnten die tradierten Instrumente der Lückenschließung die Besonderheiten dieser neuen Kategorie erfassen.281 Möglich sei also die gemeinschaftsrechtskonforme Analogie282, die gemeinschaftsrechtskonforme Reduktion283, die gemeinschaftsrechtskonforme Extension284 sowie die gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung durch Rückgriff auf Prinzipien und Wertungen285. (c) Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung Die Auslegung, d.h. die Rechtsanwendung innerhalb des Wortlautes, ist nicht Gegenstand der Arbeit von C. Herresthal, der nur Konstellationen der Rechtsfortbildung bearbeitet. Dennoch erkennt er auch die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung bei systemwidriger Regelungslücke an und geht von einer Vorrangregel zugunsten der Unionsrechtsvorgabe auch gegenüber dem objektivierten Normzweck aus.286 der regelmäßig erforderliche Zeitraum verbleibt, um legislativ auf eine Fortbildung im Widerspruch zum Richtlinienergebnis zu reagieren.“. In derartigen Fällen bestünde bei sich im rein nationalen Kontext ergebenden Lücken eine Vorrangregel zugunsten der Ergebnisse, die den Vorgaben der Richtlinie nicht widersprechen vor denen, die mit weit überwiegender Wahrscheinlichkeit bis Fristablauf nicht legislativ zu korrigieren seien, Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 259 f. 278 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 257. 279 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 259 f. 280 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 260. 281 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 236, 239 ff.. Insoweit sei ein unmittelbarer Rückgriff auf das Unionsrecht und die rechtsfortbildende Integration seiner Regelungen nicht erforderlich, dazu Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 246 f. 282 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 239 ff. 283 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 241 ff. 284 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 243 f. 285 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 244 ff. 286 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 327.
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Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien
(3) Grenzen der Rechtsfortbildung nach C. Herresthal Die eigenständige Kategorie der gemeinschaftsrechtskonformen Rechtsfortbildung habe nach Auffassung C. Herresthals aufgrund ihrer Besonderheiten und der veränderten Verfassungsstruktur auch andere nationale Grenzen als die tradierte nationale Rechtsfortbildung. Demzufolge werden die traditionellen Grenzen der Rechtsfortbildung von C. Herresthal abgelehnt (a.) und stattdessen andere anerkannt (b.). (a) Ablehnung traditioneller Grenzen (i) Der Wortlaut der nationalen Norm Der Wortlaut der nationalen Norm, auch ein „eindeutiger“, bilde keine Grenze der Rechtsfortbildung bei der Schließung systemwidriger Lücken.287 Entscheidender Grund ist für C. Herresthal, dass nach der Rechtsprechung des EuGH die Judikative als Teil des Mitgliedstaates alles im Rahmen ihrer Zuständigkeit Mögliche tun müsse, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen. In den Bereich des national Zulässigen falle „zweifelsohne auch die Rechtsfortbildung“. 288 (ii) Der Wille des nationalen Gesetzgebers Ebenso wenig sei das historische Verständnis des Gesetzgebers vom Norminhalt noch die historische ratio legis eine Grenze der Rechtsfortbildung in der integrierten Staatlichkeit.289 Bereits im rein nationalen Kontext wird diese durch die Anhänger der objektiven Theorie abgelehnt, denn die stetige Änderung der rechtlichen, sozialen und tatsächlichen Bedingungen könne nur angemessen über ein objektives Rechtsgewinnungsziel in den Rechtsgewinnungsprozess eingebaut werden. Das gelte in besonderem Maße für die integrierte Staatlichkeit, in der es gehäuft zu Normwidersprüchen und schnellerer „Alterung“ nationaler Gesetze komme. Richte man sich dort auf einen subjektiv-historischen Regelungswillen aus, verlege man einen Großteil der Rechtsgewinnungsaufgabe in den Bereich der ausnahmsweise zulässigen Contra-legem-Fortbildung, was der Rechtsfindung im Richtlinienbereich eine zu enge Grenze ziehe. 290 Keine Grenze bilde auch der vollständige Funktionsverlust einer nationalen Norm.291 Die gegen eine derartige Derogation der nationalen Norm im nationalen Rechtsrahmen vorgebrachten Argumente „aus der Rechtssi287
Herresthal, Rechtsfortbildung, Herresthal, Rechtsfortbildung, 289 Herresthal, Rechtsfortbildung, 290 Herresthal, Rechtsfortbildung, 291 Herresthal, Rechtsfortbildung, 288
S. 318, vgl. auch S. 6. S. 317 ff., Zitat auf S. 318. S. 319. S. 319 f. S. 323.
B. Meinungen zum Konflikt von Richtlinie und nationalem Recht
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cherheit, der Gewaltenteilung, dem verfassungsgerichtlichen Verwerfungsmonopol sowie aus der unzulässigen Substitution einer auch unvernünftigen legislativen rechtspolitischen Entscheidung durch eine judikative [verlieren] bei der gemeinschaftsrechtskonformen Rechtsfortbildung entscheidend an Überzeugungskraft […]. Denn hier ersetzt die nationale Judikative nicht die (zeitlich überholte) rechtspolitische Bewertung des nationalen Gesetzgebers durch ihre eigene, sondern sie setzt die Bewertung des ebenfalls demokratisch legitimierten Gemeinschaftsgesetzgebers durch.“292 Die Rechtssicherheit sei nur begrenzt beeinträchtigt, da der Funktionsverlust nicht aus einer wenig vorhersehbaren richterlichen Bewertung entspringe, sondern aus einer veröffentlichten Unionsnorm. Zudem komme ein Funktionsverlust nur bei sehr präzisen, punktuellen oder rechtstechnischen Unionsvorgaben in Betracht, bei größerer Abstraktionshöhe bestehe regelmäßig die Möglichkeit zur abweichenden Gesetzesanwendung.293 Komme es jedoch zu einem Funktionsverlust, sei der Kompetenzverlust der nationalen Legislative hinzunehmen; er werde ausgeglichen, indem der nationale Gesetzgeber jederzeit eine neue nationale Norm mit von ihm bevorzugten, unionsrechtskonformen Zweck erlassen könne.294 Inwieweit diese nachträgliche „Zurückholung“ der Kompetenz allerdings den ursprünglichen Kompetenzverlust ausgleichen kann, wird zu klären sein. (iii) Tradierte Konkretisierungen von Verfassungsinhalten Aufgrund der Neuzuordnung der Kompetenzen im europäischen Bezugsrahmen seien die tradierten Konkretisierungen von Verfassungsinhalten (Grundentscheidungen der Verfassung, Grundrechte, Rechtsstaatsprinzip) in der integrierten Staatlichkeit nicht mehr maßgebend. In der integrierten Staatlichkeit erweitere die Rechtssetzungspflicht aus der Richtlinie die Gesamtrechtsordnung und fließe in die Konkretisierung der Verfassungsvorgaben ein. Sofern die gemeinschaftsrechtskonforme Rechtsfortbildung nicht dem bisherigen Verfassungsprinzip entspreche, setze sich die vorrangige Rechtssetzungspflicht durch.295 Damit werden die traditionellen verfassungsrechtlichen Grenzen in ihrem Umfang reduziert. Die notwendige demokratische Legitimation werde nicht nur durch die nationalen Parlamente, sondern auch durch das Europäische Parlament vermittelt296; Vertrauensschutz und Rechtssicherheit, die sich in der Anknüpfung an den Wortlaut der nationalen Norm zeigen, seien in der integrierten Staatlichkeit reduziert und eine weitgehende Ausdeh292
Herresthal, Rechtsfortbildung, Herresthal, Rechtsfortbildung, 294 Herresthal, Rechtsfortbildung, 295 Herresthal, Rechtsfortbildung, 296 Herresthal, Rechtsfortbildung, 293
S. 322. S. 322. S. 323. S. 323 f. S. 310.
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Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien
nung der Rechtsfortbildung zulässig.297 Greife im nationalen Kontext der Vertrauensschutz bei rückwirkenden Rechtsprechungsänderungen nur begrenzt, sei dies bei einer gemeinschaftsrechtskonformen Rechtsfortbildung nicht anders.298 Hinzu komme die Verpflichtung auch der Judikative, die unionsrechtliche Vorgabe in das System der Gesamtrechtsordnung zu integrieren.299 (b) Verbleibende Grenzen der gemeinschaftsrechtskonformen Rechtsfortbildung C. Herresthal differenziert zwischen gewaltenteiligen, funktionalen und strukturellen Grenzen, die er auch im europäischen Bezugsrahmen anerkennt. (i) Grenzen aus dem Prinzip der Gewaltenteilung Eine Grenze aus dem Gewaltenteilungsprinzip bestehe, „wenn der nationale Gesetzgeber seine Rechtssetzungsprärogative unter den gegenwärtigen (‚aktuellen‘) Geltungsbedingungen ausgeübt hat“.300 Um die Grenze der Rechtsfortbildung zu ermitteln, muss C. Herresthal daher bestimmen, ob die Entscheidung des Gesetzgebers für (a) oder gegen (b) die Richtlinie noch aktuell ist. (aa) Die (weiterhin) aktuelle Wertungsentscheidung des Gesetzgebers Könnte sich die Judikative bei der Rechtsgewinnung über den Wortlaut und eine aktuelle Wertungsentscheidung des Gesetzgebers hinwegsetzen, bliebe keine materielle Bindung mehr an das nationale Gesetz.301 Daher sei eine Grenze der gemeinschaftsrechtskonformen Rechtsfortbildung erreicht, wenn eine weiterhin aktuelle Wertentscheidung des Gesetzgebers erkennbar sei.302 Die Aktualität der Wertentscheidung bestimme sich nach der jeweiligen Normsituation. Diese sei wiederum mit der Frage zu ermitteln, ob der Erlass einer Rechtssetzungspflicht einen (hinreichenden) Wandel der Normsituation bewirken könne, um von der (nationalen) gesetzgeberischen Ent297
Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 311. Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 311 f. 299 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 313 f. 300 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 325. 301 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 327. 302 Herresthal, EuZW 2007, 396, 400; Herresthal, NJW 2008, 2475, 2477. Innerhalb des Wortlauts setze sich hingegen das gemeinschaftsrechtskonforme Verständnis gegenüber dem nationalen Recht qua Vorrangregel auch gegenüber dem objektivierten Normzweck im Rahmen der Auslegung durch, Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 327, 335. 298
B. Meinungen zum Konflikt von Richtlinie und nationalem Recht
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scheidung abrücken zu können.303 Um diese Frage zu beantworten, bildet C. Herresthal zwei Fallgruppen: Handele es sich um eine Wertungsentscheidung, die der Gesetzgeber vor dem Erlass der Rechtssetzungspflicht getroffen habe, trete der entscheidende Wandel der Normsituation bereits mit dem Erlass der zeitlich nachfolgenden Rechtssetzungspflicht ein. Die Wertentscheidung des Gesetzgebers sei dann nicht mehr aktuell, da sie nicht mehr auf den maßgebenden Rechtsgewinnungskriterien in der Rechtsordnung beruhe.304 Habe der nationale Gesetzgeber seine Wertentscheidung hingegen nach Erlass der Rechtssetzungspflicht getroffen, mangele es an der Aktualität dieser Entscheidung erst, wenn sie „auf einem nicht (mehr) zutreffenden Verständnis der Gemeinschaftsvorgabe beruht, d.h. wenn eine für die Reichweite der nationalen Norm quantitativ oder qualitativ wesentliche, abweichende Auslegung oder Konkretisierung des Gemeinschaftsrechts erfolgt, sodass Reichweite oder Intensität der Rechts(setzungs)pflicht nun von dem Verständnis abweicht, das der nationale Gesetzgeber und die folgende Objektivierung seiner Wertungsentscheidung zugrunde gelegt haben. Aus Gründen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes muss das maßgebende, vom Gesetzgeber zugrunde gelegte Verständnis der Rechts(setzungs)pflicht aus den Gesetzesmaterialien hinreichend deutlich hervorgehen, um die Grundlage der weiterhin aktualisierten Wertungsentscheidung bilden zu können, mit der sich diese höheren Anforderungen an eine judikative Fortbildung verbinden.“305 Das nationale Gesetz altert damit schneller als nach den herkömmlichen Methoden, denn es genügt für einen Wandel der Normsituation und damit eine Alterung des nationalen Gesetzes, dass das bereits erlassene nationale Gesetz mit Ablauf der Umsetzungsfrist den Richtlinienvorgaben entgegensteht oder wenn die Richtlinienvorgaben durch den EuGH anders als durch den nationalen Gesetzgeber ausgelegt werden. (bb) Die (weiterhin) aktuelle gesetzgeberische Ablehnung einer Umsetzung oder Durchsetzung Spiegelbildlich besteht nach C. Herresthal auch dann eine Grenze, wenn der Gesetzgeber sich bewusst gegen die Umsetzung bzw. Durchsetzung einer Rechtssetzungspflicht entschieden hat.306 An die Feststellung eines solchen Willens seien allerdings erhöhte Voraussetzungen zu stellen. Eine Grenze bestehe nur, wenn auch nach Auslegung oder Konkretisierung der Rechtssetzungspflicht durch den Gerichtshof das Verständnis des nationa303
Herresthal, Rechtsfortbildung, Herresthal, Rechtsfortbildung, 305 Herresthal, Rechtsfortbildung, 306 Herresthal, Rechtsfortbildung, 304
S. 326 f. S. 329 f. S. 330, Hervorhebung im Original. S. 331 ff.
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len Gesetzgebers von der Richtlinienvorgabe abweiche307 und der Gesetzgeber zudem die Abweichung erkenne und seine Ablehnung ausdrücklich in die Gesetzesmaterialien aufnehme und dieses Verständnis auch mit dem Normtext objektiv übereinstimme.308 Ansonsten könne die Ablehnung des Gesetzgebers, die in den Materialien zum Ausdruck komme, allenfalls ein Rechtsgewinnungskriterium (unter vielen) sein.309 (cc) Sperrwirkung bevorstehender Gesetze In begrenzten Ausnahmefällen habe ein bevorstehender Gesetzeserlass begrenzende Wirkung. Dies sei dann der Fall, wenn sich die geplante politische Gestaltung durch den Gesetzgeber hinreichend konkretisiert habe. Dazu müsse sich bereits eine endgültige Lösung abzeichnen, wozu ein Gesetzesentwurf nicht ausreiche. Zeichne sich das zu erlassende Gesetz jedoch ausreichend ab, sei auch in der integrierten Staatlichkeit der Gesetzgeber vor einem kurzfristigen Änderungs- oder Begründungszwang durch höchstrichterliche Entscheidungen, in der eine gemeinschaftsrechtskonforme Fortbildung erfolgt, zu schützen.310 (ii) Funktionale Grenzen Eine funktionale Grenze der gemeinschaftsrechtskonformen Rechtsfortbildung als eigenständige Kategorie sei es, dass die Norm nur hinsichtlich ihrer Intensität oder Ausdehnung reduziert werden dürfe (minus), nicht aber ein neuer Tatbestand geschaffen werden könne (aliud). Aus der nationalen Regel dürfen daher keine Normbestandteile selektiert oder die Norm gänzlich in ihr Gegenteil verkehrt werden.311 (iii) Strukturelle Grenzen Schließlich bestünden Grenzen, die sich aus der Struktur der Richtlinie ergeben. Erstens bestehe eine Vorrangregel zugunsten des unionsrechtskonformen Ergebnisses nur innerhalb der Reichweite der Rechtssetzungspflicht. Außerhalb der systemwidrigen Regelungslücke bestünden die Besonderheiten der integrierten Staatlichkeit nicht und die abweichende Zuordnung der Gewalten sei nicht gerechtfertigt.312 Zweitens könne der nationale Richter nicht die Integrationsgrenzen der Verfassung aus Art. 79 III GG überschreiten. Die Kernbereiche der Grundrechte sowie 307
Herresthal, Rechtsfortbildung, Herresthal, Rechtsfortbildung, 309 Herresthal, Rechtsfortbildung, 310 Herresthal, Rechtsfortbildung, 311 Herresthal, Rechtsfortbildung, 312 Herresthal, Rechtsfortbildung, 308
S. 331. S. 332 ff., 334. S. 332, 334. S. 334. S. 335. S. 340.
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grundlegende Strukturentscheidungen der Verfassung müssten berücksichtigt werden.313 Drittens könne die Judikative nicht ganze Regelungsbereiche und grundlegende Strukturkonzepte ändern. Die Umstrukturierung ganzer Regelungsbereiche bleibe der nationalen Legislative vorbehalten. Folglich habe die Judikative stets die niedrigste Abstraktionshöhe zu wählen, die unionsrechtlich notwendig erscheint. Dabei habe sie legislative Grundentscheidungen zu berücksichtigen. Ansonsten liege eine unzulässige judikative Rechtssetzung vor.314 Schließlich könne die Judikative nicht die gewährten Gestaltungsspielräume anhand eigener rechtspolitischer Wertungen schließen. Das Ausfüllen verbleibender Gestaltungsspielräume habe systemorientiert zu erfolgen, sodass stets die systemnächste Verortung zu wählen sei. Sofern der höherrangigen Rechtssetzungspflicht keine inhaltliche Vorgabe entnommen werden könne, greife der Geltungsanspruch der Regelungsentscheidungen des nationalen Gesetzgebers. Die Änderung der Verfassungsstruktur biete keine Grundlage für eine eigene rechtspolitische Entscheidung der Judikative.315 (4) Fazit C. Herresthal sieht als einziger Vertreter, dass die Modifikation der nationalen Methoden von einer verfassungsrechtlichen Kompetenzverschiebung ausgehen und entsprechend gerechtfertigt werden muss. Hierzu nutzt er die Aufwertung von Art. 23 GG zum Staatsstrukturprinzip. Inwieweit es sich bei Art. 23 GG tatsächlich um ein Staatsstrukturprinzip handelt und hierüber eine Kompetenzverschiebung im Ausmaß, wie sie C. Herresthal etabliert, gerechtfertigt werden kann, muss untersucht werden.316 Dabei wird das zentrale Argument von C. Herresthal zu beleuchten sein, die Judikative setze keine eigene Regelungsentscheidung entgegen der Gesetzgeberentscheidung, sondern sei an die Unionsvorgabe gebunden. Sie halte sich damit an einen (gesamt)rechtsordnungsinternen Maßstab und sei keine eigenmächtige judikative Entscheidung. Problematisch scheint am Ansatz C. Herresthals vor allem, warum Art. 23 GG eine derart weitreichende Veränderung der Verfassungsstrukturprinzipien bezwecken sollte, wenn dies noch nicht einmal unionsrechtlich gefordert scheint. Sogar der Gerichtshof weist in seiner Rechtsprechung ausdrücklich auf die vorgefundene innerstaatliche Kompetenzverteilung hin, die zu respektieren sei und verlangt von den nationalen Gerichten keine Modifikation ihrer Methoden sowie keine Auslegung contra le313
Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 340 f. Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 341 ff. 315 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 343 f. 316 Dazu Teil 3, A.II., S. 221 ff. 314
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gem.317 Warum vor diesem Hintergrund die nationale Verfassung weiter gehen sollte, als es das Unionsrecht fordert, ist nicht erklärlich.318 2. Die Richtlinienkonformität als nationaler Gesetzgeberwille: Die These vom Vorrang des Umsetzungswillens Der Konflikt zwischen Richtlinie und nationalem Recht wird von einigen Vertretern319 nicht nur im Rahmen der Abwägung und mit Hilfe von Vorrangregeln der Auslegungskriterien gelöst, sondern indem der materiellen Regelungsentscheidung der Wille des Gesetzgebers zur ordnungsgemäßen Umsetzung der Richtlinie hinzugefügt wird. Aufgrund dieser Konzentration auf das Kriterium des Gesetzgeberwillens lässt sich von der Willenstheorie sprechen. a) Der gedankliche Ansatz Der gedankliche Ansatz der Anhänger der Willenstheorie ist ein nationaler. Wie im rein nationalen Kontext wird der aktuelle Gesetzgeberwille als das maßgebende Auslegungskriterium verstanden.320 Die Veränderung der traditionellen Methoden erfolgt durch eine Umdefinition des üblichen Verständnisses vom Gesetzgeberwillen im Sinne der konkreten Regelungsentscheidung zugunsten der Richtlinienkonformität. Dazu wird neben die traditionell maßgebliche konkrete Sachentscheidung des Gesetzgebers ein weiterer Wille hinzugestellt, nämlich jener zur korrekten Umsetzung der Richtlinie. Letzterem wird im Falle der Kollision mit der konkreten Sachentscheidung Vorrang zuerkannt. Der Wille zur korrekten Umsetzung der Richtlinie wird methodisch teils als objektiver Zweck, den das Gesetz verfolge (objektive Sichtweise)321, teils als Gesetzgeberwille (subjektiveteleologische Sichtweise)322 beschrieben. Die Willensthese wird daher sowohl von Anhängern einer objektiv geprägten Gesetzesanwendungsmethode als auch von Subjektivisten vertreten.
317
Zu ersterem EuGH, Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891 (von Colson & Kamann), Rn. 28; EuGH, Rs. C-91/92, Slg. 1994, I-3325 (Faccini Dori), Rn. 24; insbesondere zu letzterem EuGH, Rs. C-212/04, Slg. 2006, I-6057 (Adeneler), Rn. 110; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 917. 318 Gsell, JZ 2009, 522, 524 m. Fn. 30. 319 Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 270 f.; Frisch, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 64 f.; Schnorbus, AcP 201 (2001), S. 860, 891 ff.; Hochleitner/ Wolf, WM 2002, 529, 533. S. auch Nachweise in Fn. 345 in Teil 2. 320 Nach objektiver Theorie im Rahmen des noch möglichen Wortsinns, s. oben Teil 1, B.II.1.a)(3)(b)(ii)(bb), S. 50 ff. 321 Möllers, EuR 1998, 20, 44 f.; Schlachter, RdA 2005, 115, 119 f. 322 Grundmann, JuS 2002, 768, 771.
B. Meinungen zum Konflikt von Richtlinie und nationalem Recht
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Von den Vertretern einer objektiven Auslegungstheorie wird die These vom Willensvorrang sogar häufig kombiniert mit dem bereits oben dargelegten Ansatz vom interpretatorischen Vorrang zugunsten der Richtlinienkonformität.323 Wurde die Richtlinie vor Ablauf der Umsetzungsfrist umgesetzt, könne keine interpretatorische Vorrangregel zur Anwendung kommen, da es an einem geltenden Normsetzungsbefehl als vollwertigem Bestandteil der Gesamtrechtsordnung fehle. In diesem Fall sei dann auf den Umsetzungswillen des nationalen Gesetzgebers zurückzugreifen.324 Aber auch nach Ablauf der Umsetzungsfrist könne man bei Widerspruch von Richtlinie und nationalem Gesetz den Willen des Gesetzgebers zu einer bestimmten Regelungsentscheidung durch den Willen zur korrekten Umsetzung der Richtlinie ersetzen, um ein richtlinienkonformes Ergebnis zu erreichen. Sei hingegen ein Vorrang des Umsetzungswillens schwer begründbar, weil die Richtlinie beispielsweise nicht umgesetzt wurde oder das Vorliegen eines Umsetzungswillens widerlegt sei, könne auf den Normsetzungsbefehl aus der Richtlinie als Kriterium für eine interpretatorische Vorrangregel zurückgegriffen werden.325 Dies zeigt gleichzeitig, dass die Frage der unmittelbaren Geltung der Richtlinie in der nationalen Rechtsordnung durch die Anhänger der Willenstheorie unterschiedlich beantwortet wird. Die Vertreter eines interpretatorischen Vorrangs gehen, wie oben dargelegt 326, von der unmittelbaren Geltung des Normsetzungsbefehls mit Ablauf der Umsetzungsfrist aus. Die Vertreter einer subjektiven Theorie nehmen zur Frage der unmittelbaren Geltung der Richtlinie regelmäßig keine Stellung. Nach einer reinen Willenstheorie ist die unmittelbare Geltung der Richtlinie oder eines Normsetzungsbefehls auch gar nicht erforderlich. Die Methode stützt sich nicht auf die Vorgaben der Richtlinie, sondern allein auf den Willen des nationalen Gesetzgebers, indem ein Umsetzungswille zugunsten der überlagernden Richtlinie bestehen soll. b) Das methodische Vorgehen Ergibt sich nach rein nationaler Auslegung nicht das gewünschte richtlinienkonforme Auslegungsergebnis, wird erneut in die Prüfung des Ausle323
Dazu oben Teil 2, B.II.1.a), S. 117 ff. Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 30; Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 51, 75; Ehricke, RabelsZ 59 (1995), S. 598, 662; Ehricke, EuZW 1999, 553, 554; Rüffler, ÖJZ 1997, 121, 125. 325 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 85; Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 224 f., 233 f.; Möllers, EuR 1998, 20, 45; Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 30, 33; Schnorbus, AcP 201 (2001), S. 860, 896; Unberath, ZEuP 2005, 5, 7; Lutter, JZ 1992, 593, 604, 605. 326 S. oben Teil 2, B.II.1.a), S. 117 ff. 324
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Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien
gungskriteriums des Gesetzgeberwillens eingetreten. Der Gesetzgeberwille wird dann aufgespalten in die eigentliche Regelungsabsicht, die die Zwecksetzung des nationalen Gesetzgebers enthält sowie die konkrete, im Gesetz oder den Materialien zum Ausdruck kommende Umsetzungsabsicht des Gesetzgebers. Dabei wird der Wille des nationalen Gesetzgebers zur Umsetzung einer Richtlinie als Teil des Gesetzgeberwillens verstanden, der ohnehin nach genetischer Auslegung zu berücksichtigen wäre.327 Schließlich wird dem Umsetzungswillen notfalls Vorrang vor der Regelungsentscheidung des Gesetzgebers zugebilligt. Je nachdem, ob eine Regelungsabsicht oder ein Umsetzungswille oder beide Willen konkret nachweisbar vorliegen, lassen sich drei Fallgruppen unterscheiden: (1) Fall 1: Der Umsetzungswille liegt konkret nachweisbar vor, ohne dass der Gesetzgeber eine materielle Regelungsentscheidung getroffen hat Wenig problematisch ist der Fall, dass der Wille des Gesetzgebers zu einer konkreten Regelungsentscheidung fehlt bzw. nicht nachweisbar ist, aber sich ein Umsetzungswille des Gesetzgebers im Hinblick auf die Richtlinie nachweisen lässt. Erkennt man hier den Umsetzungswillen als vollwertigen Teil des Gesetzgeberwillens an, stellt dieser nunmehr den Gesetzgeberwillen dar. Der Inhalt der Richtlinie wird dann über das Vehikel des Umsetzungswillens des Gesetzgebers berücksichtigt. Im Ergebnis führt dieses Vorgehen dazu, dass ein gesetzgeberisches Motiv (Richtlinienumsetzung) zu einem Gesetzgeberwillen aufgewertet wird. Die eigentliche konkrete Sachentscheidung wird überlagert und ersetzt. Was von den Vertretern einer „Lehre vom Umsetzungswillen“ häufig nicht erwähnt wird328, ist, dass es sich bei diesem Schritt – der Ersetzung des eigentlichen Gesetzgeberwillens durch das Motiv zur gesetzgeberischen Regelung – um eine Gesetzesanwendung contra legem handelt. Nach originärem Verständnis wird nämlich zumindest dann contra legem gearbeitet, wenn gegen die konkrete materielle gesetzgeberische Regelungsund Wertungsentscheidung und den (gleichlaufenden) Wortlaut gearbeitet wird.329 Die materielle Gesetzgeberentscheidung wird bei einer derartigen Vermutung zur korrekten Richtlinienumsetzung aber nicht mehr relevant. Entscheidend ist vielmehr das Regelungsziel, was sich aus der Richtlinie ergibt. In der Sache hat der Gesetzgeber eine Entscheidung für dieses (materielle) Regelungsziel der Richtlinie aber gerade nicht getroffen. 327
Nachweise s. Fn. 321 und 322. Anders aber Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 47 ff., die klar sagen, dass es sich um eine ausnahmsweise zulässige Rechtsfindung contra legem handelt. 329 S. dazu Bydlinski in: FS Canaris, 1998, 27, 47. 328
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(2) Fall 2: Widerspruch von konkretem Umsetzungswillen und gesetzgeberischer Regelungsentscheidung Problematisch ist der Fall, wenn sowohl Umsetzungswille als auch Sachregelungswille konkret nachweisbar vorliegen, sich aber widersprechen. Der Gesetzgeber will in dieser Konstellation zwei Dinge gleichzeitig, die auf verschiedenen Ebenen liegen: zum einen will er einen bestimmten Regelungsinhalt im nationalen Recht erreichen, zum anderen die unionsrechtliche Vorschriftsmäßigkeit des nationalen Rechts.330 Ein Widerspruch liegt vor, wenn das ausdrückliche Umsetzungsgesetz einen konkreten, vom Willen des Gesetzgebers umfassten materiell-rechtlichen Gesetzesbefehl enthält, der nicht mit der Richtlinienvorgabe vereinbar ist. Liege ein solcher Widerspruch vor, werde eine Vorrangentscheidung erforderlich, die zugunsten des Umsetzungswillens ausfalle. Zur Begründung des Vorrangs des Umsetzungswillens wird regelmäßig auf den fiktiven bzw. objektiven Plan des nationalen Gesetzgebers abgestellt. Habe der Gesetzgeber die Richtlinie nämlich versehentlich unvollständig und fehlerhaft umgesetzt, sehe es der „Plan“ des Gesetzgebers gerade vor, eine richtlinienkonforme Regelung zu treffen. Wenn der Gesetzgeber die korrekte Richtlinienumsetzung gewollt habe und dennoch irrig eine andere (materielle) Regelung getroffen habe, müsse er nicht formal „beim Wort“ genommen werden.331 Die materielle Regelungsentscheidung des Gesetzgebers sei dann lediglich Mittel zum Zweck des Erreichens einer konformen Regelung gewesen.332 Es sei in diesem Fall kein Grund ersichtlich, die am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten an einer irrtümlichen Fehleinschätzung festzuhalten.333 Die Souveränität des Gesetzgebers werde durch die Bezugnahme auf den Umsetzungswillen dann nicht in der Sache, allenfalls der Form nach, missachtet.334 Begründet wird dieser Plan des Gesetzgebers damit, dass aufgrund objektiv fassbarer Konzepte, wie Rechtstreue und Redlichkeit des Gesetzgebers, anzunehmen sei, dass der Gesetzgeber, wenn er die Richtlinienwidrigkeit gekannt hätte, eine richtlinienkonforme Regelung getroffen hätte.335 Außerdem habe der Gesetzgeber (objektiv) eine Staatshaftung oder die mögliche Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die Kom-
330
Pfeiffer, NJW 2009, 412, 413. Grundmann, ZEuP 1996, 399, 421 f.; Grundmann, JuS 2002, 768, 771. 332 Schulte-Nölke/Busch in: FS Canaris II, 2007, 795, 803. 333 Möllers/Möhring, JZ 2008, 919, 922 f. 334 Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 52; Schulte-Nölke/Busch in: FS Canaris II, 2007, 795, 808; ebenso Grundmann, ZEuP 1996, 399, 422; Grundmann, JuS 2002, 768, 771. 335 Pfeiffer, NJW 2009, 412, 413. 331
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Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien
mission nicht gewollt.336 Im Umkehrschluss müsse es dann aber sein Wille sein, die Richtlinie ordnungsgemäß umzusetzen. Berücksichtige man hingegen den Umsetzungswillen nicht und stelle nur auf die konkrete Regelungsentscheidung ab, seien dem Richter im Fall einer vom Gesetzgeber beabsichtigten aber misslungenen Richtlinienumsetzung die Hände gebunden.337 Der Umstand, dass eine Richtlinie umzusetzen war, ändere dann nicht einmal etwas an der Formulierung der einzelnen nationalen Auslegungsmethoden.338 T. Möllers und A. Möhring ziehen die Parallele zu der Möglichkeit, ein Redaktionsversehen zu korrigieren, wenn Wortlaut des Gesetzes und gesetzgeberischer Wille auseinanderfielen. Ebenso müsse bei Auseinanderfallen von Umsetzungswillen und konkreter Regelungsabsicht der Richtlinienverstoß korrigiert werden. Wenn der Gesetzgeber sich nämlich im Irrtum befinde, also unbewusst von den Vorgaben der Richtlinie abweiche, sei es nämlich nur in seinem Interesse, wenn die Gerichte diesen Irrtum korrigierten.339 Klarstellend fordert T. Pfeiffer demzufolge die Neueinführung eines Art. 2 a EGBGB: „Jeder hat mindestens diejenigen bürgerlichen Rechte, die ihm das EG-Recht verschaffen will“.340 Sei nun aber die Richtlinie nicht korrekt umgesetzt, laufe diese Unvollständigkeit des nationalen Gesetzes dem Plan des Gesetzgebers zuwider; sie sei also planwidrig. Es entstehe eine Lücke, die der Rechtsanwender durch richtlinienkonforme Rechtsfortbildung schließen müsse, indem er dem Umsetzungswillen des Gesetzgebers zum Durchbruch verhelfe.341 Nur wenn sich der Gesetzgeber bewusst über seine Umsetzungsverpflichtung hinwegsetze, verweigere er den Gehorsam gegenüber der Richtlinienvorgabe. Dann sei die Unvollständigkeit des nationalen Gesetzes planvoll und das Gericht gemäß Art. 20 III GG gebunden. Eine richtlinienkonforme Rechtsfindung sei in diesem Fall nicht möglich.342 Diese Vorgehensweise hat bei ausdrücklichen Umsetzungsgesetzen weitreichende Folgen: „Wenn eine nationale Gesetzesbestimmung, die ausdrücklich zur Umsetzung einer Richtlinienvorgabe erlassen worden ist, im Widerspruch zu dieser Vorgabe steht, ist im Ergebnis die Richtlinie anzuwenden, soweit sie hinreichend konkret ist und kein Wille zum Ungehorsam des deutschen Gesetzgebers festzustellen ist. Die Worte des deutschen
336
Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 52; Mörsdorf, EuR 2009, 219, 230; Möllers/Möhring, JZ 2008, 919, 923. 337 Schulte-Nölke/Busch in: FS Canaris II, 2007, 795, 807. 338 Grundmann, ZEuP 1996, 399, 417 ff. 339 Möllers/Möhring, JZ 2008, 919, 922 f. 340 Pfeiffer, NJW 2009, 412, 413. 341 Schulte-Nölke/Busch in: FS Canaris II, 2007, 795, 803. 342 Schulte-Nölke/Busch in: FS Canaris II, 2007, 795, 802 f.
B. Meinungen zum Konflikt von Richtlinie und nationalem Recht
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Gesetzgebers werden in diesem Fall zu bloßen Hülsen für den Inhalt der Richtlinienvorgabe, die der Gesetzgeber mit diesen Worten umsetzen wollte.“343
Es komme zu einer mittelbaren direkten Anwendung der Richtlinie.344 (3) Fall 3: Fehlender bzw. nicht nachweisbarer Umsetzungswille Eine besondere Rechtfertigung wird für die Vertreter der Willenstheorie nötig, wenn ein Umsetzungswille fehlt, die Richtlinie also nicht umgesetzt wurde. Eigentlich läge hier nur die konkrete Regelungsentscheidung vor, die allerdings der Richtlinie entgegensteht. (a) Problematik: Die Vermutung eines (generellen) Umsetzungswillens Fehlt der Umsetzungswille, ist also keine Umsetzung erfolgt (oder der Umsetzungswille kann nicht anhand des Gesetzes oder der Gesetzesmaterialien nachgewiesen werden), liegt an sich nur die Regelungsentscheidung des Gesetzgebers vor und müsste als maßgebliches Auslegungskriterium des Gesetzgeberwillens herangezogen werden. Da die Regelungsentscheidung aber in den hier interessierenden Konstellationen den Vorgaben der Richtlinie widerspricht, wäre für die Richtlinienumsetzung nichts gewonnen. Deshalb wird von einigen Vertretern345 des Willensvorrangs das Vor343
Schulte-Nölke/Busch in: FS Canaris II, 2007, 795, 802 f. So Schulte-Nölke/Busch in: FS Canaris II, 2007, 795, 797 und ff. 345 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 303; Grundmann, ZEuP 1996, 399, 421 ff.; Grundmann, JZ 1996, 274, 282; Hergenröder in: FS Zöllner II, 1999, 1139, 1148; Klamert, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 167; Roth in: Europäische Methodenlehre, § 14 Die richtlinienkonforme Auslegung, Rn. 53b; Schnorbus, AcP 201 (2001), S. 860, 891; Möllers/Möhring, JZ 2008, 919, 922 f.; Schlachter, RdA 2005, 115, 119; Schlachter, ZfA 2007, 249, 261 mit Fn. 82; Schulte-Nölke/Busch in: FS Canaris II, 2007, 795, 796; Witt, NJW 2006, 3322, 3325 in Fn. 30. Die andere Ansicht geht davon aus, dass die Vermutung nur greife, wenn der Umsetzungswille konkret nachweisbar vorliege: Gebauer, AnwBl 2007, 314, 318 f.; Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 4: Europäische Auslegung des Zivilrechts, Rn. 30; Jarass, EuR 1991, 211, 217. Ein Unterschied ergibt sich vor allem für das Altrecht, das keiner Richtlinienumsetzung unterlag. Fordert man einen konkreten Umsetzungswillen, ist ein Vorrang des konkreten Umsetzungswillens auf die Fälle begrenzt, in denen der Gesetzgeber Recht zur Umsetzung einer Richtlinie erlassen hat. Hat es der Gesetzgeber lediglich unterlassen das nationale Recht umzusetzen, ist nämlich in den Gesetzesmaterialien und im Gesetzestext keine konkrete gesetzgeberische Entscheidung ersichtlich. Allenfalls in parlamentarischen Protokollen kann auf einen Umsetzungswillen des Gesetzgebers geschlossen werden. Diese werden aber, weil die für ein Gesetz vorgeschriebene Form nicht eingehalten wird, als nicht ausreichend zum Nachweis eines Umsetzungsgesetzgeberwillens angesehen, dazu Larenz/ Canaris, Methodenlehre, S. 149 ff. Folglich scheidet nach der Lehre vom konkreten Umsetzungswillen eine richtlinienkonforme Rechtsfindung bei Altrecht aus, wohingegen bei Annahme eines generellen (fingierten) Umsetzungswillens auch in diesen Fällen eine richtlinienkonforme Gesetzesanwendung in Betracht kommt. 344
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Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien
liegen eines sog. generellen Umsetzungswillens des Gesetzgebers zur korrekten Umsetzung der Richtlinie vermutet, wenn nicht ausnahmsweise ein Wille des Gesetzgebers erkennbar ist, sich gegen die Richtlinien aufzulehnen.346 Als „generell“ wird der Umsetzungswille deshalb bezeichnet, weil er stets anzunehmen ist, d.h. unabhängig von seiner konkreten Nachweisbarkeit oder davon, ob eine Umsetzung tatsächlich erfolgt ist oder nicht. Vermutet man derart das Vorliegen eines generellen Umsetzungswillens, bestehen in der Fallgruppe des fehlenden bzw. nicht nachweisbaren Umsetzungswillens dennoch erneut zwei Willen: die konkrete Regelungsabsicht und der generelle Umsetzungswille. Bei einem Widerspruch zwischen diesen Willen wird dann, wie in der vorhergehenden Fallgruppe, dem generellen Umsetzungswillen Vorrang vor der konkreten Regelungsentscheidung zuerkannt. (b) Die Begründung der generellen Vermutung des Vorliegens eines Umsetzungswillens Begründet wird die Vermutung des generellen Umsetzungswillens mit der Notwendigkeit, Schutzlücken zu schließen. Die richtlinienkonforme Interpretation des nationalen Gesetzes sei erforderlich, denn als Alternative komme nur die Staatshaftung in Betracht, die aber nur bei qualifizierten, nicht bei einfachen Umsetzungsverstößen greife (Francovich-Rechtsprechung347). Ein qualifizierter Verstoß sei zwar dann anzunehmen, wenn der Mitgliedstaat die Umsetzung gänzlich unterlassen habe.348 Bei nur fehlerhafter Umsetzung liege ein qualifizierter Umsetzungsverstoß nur dann vor, wenn die vom Mitgliedstaat vorgenommene Auslegung der Richtlinie in offenkundigem Widerspruch zu deren Wortlaut und dem mit der Richtlinie verbundenen Ziel stehe.349 Erforderlich sei also eine eklatante, keine vernünftigen Zweifel lassende Unionsrechtswidrigkeit des nationalen Umsetzungsgesetzes.350 In den Fällen, in denen der nationale Gesetzgeber den Richtlinienbefehl aber gerade missverstanden habe, liege solange kein qualifizierter Verstoß vor, wie das verwendete Instrument „nicht völlig abwe346
Bei bewusster Umsetzungsverweigerung des Gesetzgebers sei die Vermutung widerlegt: Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 303; Möllers, EuR 1998, 20, 44 f.; Möllers/Möhring, JZ 2008, 919, 923; Schlachter, RdA 2005, 115, 118 ff.; Schnorbus, AcP 201 (2001), S. 860, 880 ff.; Schulte-Nölke/Busch in: FS Canaris II, 2007, 795, 796, 798. 347 EuGH, Rs. C-6/90, Slg. 1991, I-1631 (Francovich), Rn. 39 ff.; EuGH, Rs. C-91/92, Slg. 1994, I-3325 (Faccini Dori), Rn. 27. 348 Jarass, NJW 1994, 881, 883; Grundmann, JuS 2002, 768, 772 m.w.N. in Fn. 47. 349 EuGH, Rs. C-392/93, Slg. 1996, I-1631 (British Telecommunications), Rn. 43; Mankowski in: Handbuch des Rechtsschutzes, § 37, Rn. 114. 350 Mankowski in: Handbuch des Rechtsschutzes, § 37, Rn. 114; Schulte-Nölke/Busch in: FS Canaris II, 2007, 795, 804.
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gig und ungeeignet ist, das Ziel der Richtlinie zu erreichen“.351 Regelmäßig werde es deshalb an einem offenkundigen Verstoß fehlen.352 In solchen Fällen müsse die Staatshaftung verneint werden. Müsse aber auch die richtlinienkonforme Rechtsfindung mangels konkretem Umsetzungswillen ausscheiden, wäre im Ergebnis eine effektive Berücksichtigung der Vorgaben der Richtlinie nicht möglich. Der Bürger könne sich nur bei qualifizierten Verstößen darauf verlassen, dass ihm im Endergebnis der Vermögenswert eines ihm nach der Richtlinie eigentlich zustehenden Rechts als Schadensersatz zufließe. Bei Umsetzungsfehlern unterhalb eines qualifizierten Verstoßes liege hingegen eine Schutzlücke vor, weil auch die unionsrechtliche Staatshaftung nicht eingreife. Dem durch die Richtlinie Berechtigten werde ein Recht, dass ihm die Richtlinie eigentlich gewährt, auf Dauer vorenthalten. Diese Schutzlücke werde geschlossen, indem dem generellen Umsetzungswillen des Gesetzgebers bei ausdrücklichen Umsetzungsgesetzen Vorrang gebühre – und damit mittelbar auch dem Inhalt der Richtlinie. Damit habe im Ergebnis „derjenige das Risiko zu tragen, der darauf vertraut, dass der nationale Gesetzgeber bewusst von den Vorgaben der Richtlinie abgewichen ist. Geschützt wird demgegenüber derjenige, der sich bei einem Gesetz, das ausdrücklich als Umsetzungsgesetz gekennzeichnet ist – sei es durch amtliche Fußnote oder in anderer Form –, darauf verlässt, dass dieses Gesetz die Richtlinie fehlerfrei umzusetzen sucht und die Gerichte es deshalb im Lichte der Richtlinie anwenden und notfalls fortbilden.“353
Den naheliegenden Einwand hiergegen, dass der Bürger einen vermuteten Gesetzgeberwillen nicht erahnen könne und daher in seinem Vertrauen auf das nationale Recht zu schützen sei, weisen T. Möllers und A. Möhring zurück.354 Es existiere ja der Normtext der Richtlinie, auf den der Bürger vertrauen könne. Ein Vertrauen darauf, dass der Richtlinientext nicht zur Anwendung komme, bestehe nicht. Mit der Öffnung der Rechtsordnung gehe der deutsche Gesetzgeber das Risiko ein, dass der EuGH den europäischen Normtext kraft seiner Auslegungskompetenz konkretisiere.355 Warum allerdings der Bürger dieses vom Staat eingegangene Risiko tragen sollte, wird nicht aufgedeckt. Ebenso bleibt unklar, warum der Bürger auf den Richtlinientext vertrauen könne, wo es doch im Richtlinienbereich eigentlich das nationale Recht ist, das für den Bürger verbindlich gilt.
351
LG Berlin EuZW 2001, 511 f. Ähnlich Schulte-Nölke/Busch in: FS Canaris II, 2007, 795, 804. 353 Schulte-Nölke/Busch in: FS Canaris II, 2007, 795, 806. 354 Möllers/Möhring, JZ 2008, 919, 923 f. 355 Möllers/Möhring, JZ 2008, 919, 923 f. 352
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Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien
c) Grenzen des Vorrangs des Umsetzungswillens (1) Die Wortlautgrenze Mehrheitlich wird der Wortsinn einer Norm nicht als Grenze der richtlinienkonformen Rechtsfindung verstanden.356 Bereits im rein nationalen Rahmen wird nach objektiver Theorie die Grenze, außer bei eindeutigem Wortlaut, nicht anerkannt.357 Im Richtlinienbereich wird teilweise die Grenze des eindeutigen Wortlauts sogar gänzlich abgelehnt; bei entgegenstehender Richtlinienregelung könne man von „Eindeutigkeit in diesem Bereich schlechterdings nicht sprechen“.358 Vor dem Hintergrund einer subjektiven Theorie kommt es auf den Wortlaut ohnehin nur am Rande an. Entscheidend ist für die Subjektivisten einzig die gesetzgeberische Wertentscheidung, die mit dem Wortlaut als Hilfsmittel ermittelt wird. Fällt dieses Hilfsmittel aus, kann aber der Gesetzgeberwille dennoch eindeutig ermittelt werden, muss auf den Wortlaut nicht rekurriert werden. Eine Grenze der Rechtsfindung stellt der eindeutige Wortlaut nicht dar. (2) Die Grenze der konkreten Regelungsabsicht des (historischen) Gesetzgebers Der Gesetzgeberwille, verstanden als eine konkrete Regelungsentscheidung des Gesetzgebers, wird konsequenterweise nicht als Grenze der Rechtsanwendung angesehen359, es soll ja gerade der Umsetzungswille sein, der vor der konkreten Sachregelungsentscheidung Vorrang hat. Es ist geradezu der Zweck dieses Ansatzes, durch den Vorrang des Umsetzungswillens bei Fehlen einer bewussten Gesetzgeberentscheidung gegen die 356 Möllers, EuR 1998, 20, 45; Schlachter, ZfA 2007, 249, 260 f. Andere Ansicht Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 417 ff. 357 Dazu oben Teil 1, B.II.1.a)(3)(b)(ii)(aa), S. 48 ff. 358 Grundmann, ZEuP 1996, 399, 423. Vgl. auch Möllers, EuR 1998, 20, 44, der auf die Rechtsprechung zu dem früheren § 611 a BGB abstellt, der trotz seines eindeutigen Wortlauts richtlinienkonform interpretiert wurde. Enger am Wortlaut arbeiten Frisch, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 92 m.w.N.; Herlinghaus, Bedeutung und Reichweite, S. 64, 82. 359 Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 52 und 53; Herlinghaus, Bedeutung und Reichweite, S. 83. Deutlich auch Grundmann, ZEuP 1996, 399, 420: „Jedenfalls in den Fällen muss eine richtlinienkonforme Auslegung auch unter Missachtung aller anderen Auslegungsmethoden zulässig sein, in denen der Gesetzgeber eine richtlinienkonforme Umsetzung anstrebte. Dies aber ist nicht nur anzunehmen, wenn der Gesetzgeber durch Erlass eines Umsetzungsgesetzes seiner Pflicht aus Art. 189 III EGV [jetzt: Art. 288 III AEUV] nachkommen wollte, sondern auch, wenn er nachweislich von der bereits bestehenden Richtlinienkonformität des nationalen Rechts ausging und daher eine Umsetzung unterließ […] Erst der nachgewiesene Wille des Gesetzgebers, eine Lösung zu wählen, von der er wusste, dass sie richtlinienwidrig ist, verändert das Ergebnis“.
B. Meinungen zum Konflikt von Richtlinie und nationalem Recht
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Richtlinie eine Rechtsfindung in ihrem Sinne zu ermöglichen.360 Die Umsetzungsabsicht als bloßes Motiv wird deshalb im Falle der fehlerhaften Gesetzgeberentscheidung der konkreten Sachentscheidung des Gesetzgebers übergeordnet. Die Gesetzes- und Rechtsanwendung erfolgt aufgrund dieser Verdrängung des nationalen Gesetzgeberwillens damit faktisch unter Missachtung der traditionellen Contra-legem-Grenze, die sich an der Regelungsentscheidung des Gesetzgebers (ggf. mit dem Wortlaut) ausrichtet. Ob diese Verschiebung der Contra-legem-Grenze so weit reichen kann, dass die nationale Norm ihre Funktion vollständig verliert und damit faktisch derogiert wird, wird allerdings unterschiedlich beurteilt.361 Eine Grenze der richtlinienkonformen Rechtsfindung sei aber jedenfalls dann erreicht, wenn der Gesetzgeber sich ausdrücklich und nachweisbar gegen die Richtlinienumsetzung entschieden habe.362 d) Fazit Aus der Argumentation und der Begründungsnotwendigkeit der Vertreter einer Willenstheorie lassen sich zwei wesentliche Fragen ableiten: Die Betrachtung der Grenzen der Rechtsfindung nach der Theorie eines Willensvorrangs hat gezeigt, dass die Contra-legem-Grenze verschoben wird, indem statt auf die materielle Regelungsentscheidung des Gesetzgebers auf das Motiv der Rechtssetzung, den (gegebenenfalls fingierten) Umsetzungswillen, abgestellt wird. Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass der Wille des Gesetzgebers nur der Form nach, nicht aber dem Grunde nach missachtet werde, denn der nationale Gesetzgeber habe keine Kompetenz mehr, verbindlich Regelungsziele im Richtlinienbereich zu setzen. Ob diese Kompetenz tatsächlich nicht mehr besteht und ob deshalb die Judikative korrigierend eingreifen kann, ist zu untersuchen. Zudem wurde bei der Begründung der Vermutung für die ordnungsgemäße Richtlinienumsetzung des Gesetzgebers auf das Problem der Entstehung von Schutzlücken aufmerksam gemacht. Zu prüfen ist daher, in welchen Fällen Schutzlücken entstehen und ob diese nur mit Hilfe eines (fingierten) Umsetzungswillens zu schließen sind. 360 Vgl. Schlachter, ZfA 2007, 249, 260: „Ob der Gesetzgeber bei Schaffung des Umsetzungsgesetzes tatsächlich die Ziele der Richtlinie verwirklichen wollte, ist zwar oft nicht sicher feststellbar, auf dieser Auslegungsstufe aber auch nicht entscheidend. Maßgeblich ist vielmehr, dass der Gesetzgeber auf die Umsetzung verpflichtet ist, ein widersprechendes Regelungsziel daher gar nicht verfolgen darf. Innerhalb des Wortsinns des Umsetzungsgesetzes ergibt sich dessen Regelungszweck mithin aus dem Richtlinienziel.“ 361 Der vollständige Funktionsverlust bildet eine Grenze: Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 53. Der vollständige Funktionsverlust bildet keine Grenze: Roth, EWS 2005, 385, 395. 362 Grundmann, JuS 2002, 768, 771; Schlachter, ZfA 2007, 249, 261; Herlinghaus, Bedeutung und Reichweite, S. 84.
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Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien
III. Die Lösung des Konflikts zwischen Richtlinie und nationalem Recht (auch) auf Normebene Schließlich stellt sich die Frage, ob der Konflikt zwischen Richtlinie und nationalem Recht auch auf Normebene gelöst werden kann, indem unionsrechtswidriges nationales Recht durch die Richtlinie als lex superior verdrängt wird. Diese Möglichkeit wird vor allem dann relevant, wenn der Konflikt nicht durch bloße Gesetzesanwendung nach traditionellnationalen Methoden im Interesse des Unionsrechts gelöst werden kann, weil sich beispielsweise der Gesetzgeber bei dem Erlass der Norm eindeutig gegen die Richtlinie gewendet hat. 1. Vorgehen und Methode Als Kriterien der Lösung eines Konfliktes mit Hilfe des Lex-superiorGrundsatzes auf Normebene wurden im Einebenensystem drei Voraussetzungen herausgearbeitet363: Die Existenz, Geltung und Anwendbarkeit der konfligierenden Normen innerhalb einer Rechtsordnung, die inhaltliche Kollision bei gleichem Adressaten und das Vorliegen von Normen unterschiedlichen Ranges. Die Rechtsfolge des Lex-superior-Grundsatzes war schließlich die Verdrängung des niederrangigen Rechts bei gleichzeitiger Anwendung des höherrangigen Rechts. Nach den Anhängern eines Lexsuperior-Ansatzes liegen die genannten Voraussetzungen weitgehend auch im Verhältnis von Richtlinie zu nationalem Recht vor. a) Die Richtlinie als unmittelbar geltende, höherrangige Norm Voraussetzung für die Lösung des Konflikts auf Normebene ist, dass die Richtlinie im nationalen Bereich unmittelbar gilt. Anders als bei einer Transformation der Richtlinie in nationales Recht, bei der die Inhalte der Richtlinie mit nationalem Geltungsgrund in der nationalen Rechtsordnung erneut gesetzt werden und es so nur zu einem Konflikt im Einebenensystem kommen kann, ist ein Konflikt zwischen der Richtlinie und dem nationalen Recht (Zweiebenensystem) nur möglich, wenn die Richtlinie unmittelbar in der nationalen Rechtsordnung gilt. Ansonsten wäre die Richtlinie lediglich Teil der fremden Unionsrechtsordnung und hätte folglich keine Verbindlichkeit in der nationalen Rechtsordnung. Dementsprechend gehen die Vertreter, die eine Lösung des Konflikts zwischen Richtlinie und nationalem Recht auf Normebene befürworten, davon aus, dass die Richtlinie mit ihrem Inkrafttreten unmittelbar auch in der nationalen Rechtsordnung gilt. Dies entspricht den bereits dargestellten Ansätzen vom europäischen
363
Dazu oben Teil 1, B.III., S. 73 ff.
B. Meinungen zum Konflikt von Richtlinie und nationalem Recht
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Bundesstaat364 bzw. der völkerrechtlichen Theorie365. Im Ergebnis steht jeweils die Annahme eines normenhierarchischen Vorrangs der Richtlinie vor dem nationalen Recht366. Aufgrund dieser unmittelbaren Geltung der Richtlinie dränge sie auf ihre Anwendung im konkreten Einzelfall.367 Sie könne folglich normative Wirkungen für den Bürger entfalten, indem sie ihm Pflichten auferlege oder Rechte einräume. Wirke sie somit wie ein Gesetz (im engeren Sinne), so sei sie auch kollisionsfähig..368 Im Fall von richtlinienwidrigem nationalem Recht lägen dann wenigstens zwei Normen vor, die auf den Sachverhalt angewendet werden wollen. Es komme zu einer klassischen Normenkollision, die es aufzulösen gelte, wofür eine Kollisionsregel erforderlich werde. Als Kollisionsregel komme der Satz von der lex superior in Betracht. Wendete man die Kollisionsregel jedoch ohne Einschränkung an, würde der Unterschied zwischen Verordnungen und Richtlinien vollständig aufgehoben, obwohl nur Verordnungen unmittelbar geltendes und anwendbares Recht für den einzelnen Marktbürger enthalten. Demgegenüber ist die Richtlinie auf eine Umsetzung durch die Mitgliedstaaten ausgerichtet. Aufgrund dessen wird eine uneingeschränkte normative Wirkung der Richtlinie im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH369 nur im Vertikalverhältnis anerkannt. Für eine Richtlinienwirkung im Horizontalverhältnis werden, aufgrund der auf Umsetzung angelegten Struktur der Richtlinie und um den Unterschied zur Verordnung aufrechtzuerhalten, weitere Einschränkungen für die Anwendbarkeit der Richtlinie formuliert: b) Einschränkungen der Anwendbarkeit der Richtlinie im Horizontalverhältnis (1) Zeitliche Einschränkung: Ablauf der Umsetzungsfrist Eine erste Einschränkung wird in zeitlicher Hinsicht vorgenommen. Sie verdeutliche den Unterschied zur Verordnung. Die Richtlinie könne nämlich nur dann Wirkungen entfalten, wenn die zur Umsetzung vorgesehene Frist abgelaufen sei.370 Vorher beschränke die Richtlinie selbst ihre Wir364
Dazu oben Teil 1, A.I.1.a), S. 10 ff. Dazu oben Teil 1, A.I.1.b), S. 12 ff. 366 Bleckmann, RIW 1984, 774, 777; Grabitz, EuR 1971, 1, 21; Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 263 ff., Rn. 10 ff., S. 287 ff., Rn. 55 ff.; Wölker, EuR 2007, 32, 43; Zuleeg, VVDStRL 1994, 154, 161. 367 Klein, Unmittelbare Geltung, S. 8 f. 368 Langenfeld, DÖV 1992, 955, 956 f. 369 Dazu oben Teil 1, A.II., S. 17 ff. 370 Grabitz, EuR 1971, 1, 20; Hartley, Foundations, S. 223; Kreße, ZGS 2007, 215, 216; Langenfeld, DÖV 1992, 955, 956 f.; Mörsdorf, EuR 2009, 219, 232; Zuleeg in: 365
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Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien
kungen und dürfe nicht als höherrangiger Maßstab bei der Gesetzesanwendung herangezogen werden. (2) Methodische Einschränkung: Gesetzesanwendung vor Verwerfung der nationalen Norm Eine weitere Einschränkung der Anwendbarkeit der Richtlinie liege in der Subsidiarität der Verdrängung des nationalen Rechts.371 Erst wenn eine traditionelle Auslegung bzw. eine richtlinienkonforme Rechtsfindung durch Verwerfung einzelner Auslegungskriterien nicht mehr möglich sei, sei die nationale Norm insgesamt zu verwerfen. (a) 1. Stufe: Anwendung des nationalen Rechts nach den traditionellen Methoden Das nationale Recht sei stets anhand der Vorgaben der Richtlinie zu prüfen. Diese sei als geltende „objektive“ Rechtsnorm372 geeignet, als Maßstab der nationalen Normen zu dienen. Das bedeute, dass die nationalen Gerichte das gesamte nationale Recht am Maßstab der höherrangigen Richtlinie kontrollieren müssten373 (Prinzip des „legal review“374). Sei das nationale Recht aber bereits nach nationalen Auslegungskriterien richtlinienkonform auslegbar, sei dieses Ergebnis vorrangig375 und es müsse nicht auf die folgenden Stufen zurückgegriffen werden. Es bleibt also bei den traditionellen nationalen Methoden.
Auslegung europäischen Privatrechts, 1999, 163, 170; Zuleeg, ZGR 1980, 466, 475. Andere Ansicht: Wölker, EuR 2007, 32, 43 f.; Schlussantrag GA Tizzano., C-144/04, Slg. 2005, I-9981 (Mangold), Rn. 115 ff.; Schlussantrag GA Kokott, C-212/04, Slg. 2006, I6057 (Adeneler), Rn. 51, 52; Schlussantrag GA Kokott, C-313/02, Slg. 2004, I-9483 (Wippel), Rn. 59, 60. 371 Bach, JZ 1990, 1108, 1113; Klein in: FS Everling I, 1995, 641, 648. 372 Langenfeld, DÖV 1992, 955, 957, 964; Zuleeg, ZGR 1980, 466, 475 ff., 478, Klein, Unmittelbare Geltung, S. 13, 16. 373 Bach, JZ 1990, 1108, 1112 f., 1116; Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 326 ff.; Grabitz, EuR 1971, 1, 19; Langenfeld, DÖV 1992, 955, 957, 964; Schlussantrag GA Léger, C-287/98, Slg. 2000, I-6920 (Berthe Linster), Rn. 81 f.; Lutter, JZ 1992, 593, 604 mit Fn. 135; Schlussantrag GA Saggio, C-240/98, Slg. 2000 I-4943 (Océano Grupo Editorial und Salvat Editores), Rn. 30 ff.; Wöhlermann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 102 f. 374 Timmermans, C.M.L.Rev. 16 (1979), S. 533, 549 ff. 375 Davon wird häufig auch unausgesprochen ausgegangen. Ausdrücklich aber Bach, JZ 1990, 1108, 1113; Klein in: FS Everling I, 1995, 641, 648.
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(b) 2. Stufe: Die Verwerfung von richtlinienwidrigen Auslegungskriterien als richtlinienkonforme Rechtsfindung Ergebe sich bei dieser Kontrolle hingegen ein nach nationalen Regeln nicht korrigierbarer Verstoß des nationalen Rechts gegen die Richtlinie, dürften entgegenstehende Auslegungskriterien nicht angewendet werden.376 Das gelte unabhängig davon, ob es sich bei dem beeinträchtigenden Verhalten des Mitgliedstaates um Unterlassungen (Ausbleiben der fristgerechten Umsetzung der Richtlinie) oder um positive Handlungen (Erlass abweichender nationaler Vorschriften) handele.377 Sofern ein richtlinienkonformes Auslegungskriterium verbliebe, würde das nationale Recht mit dem Ergebnis dieses Kriteriums angewendet und es bestünde kein Bedürfnis für die Anwendung des Lex-superior-Satzes. Im Rahmen des noch möglichen Wortsinns könne die Richtlinie so eine „unmittelbar wirkende Auslegung“378 des nationalen Rechts oder eine „indirekte“379 Direktwirkung herbeiführen. Dies sei als „weit verstandenes Konzept der horizontalen Wirkung“380, durch das der Richtlinie eine „abgeschwächte horizontale unmittelbare Wirkung“381 zuteilwerde, zulässig. Mit diesem Modell kann jedes beliebige, der Richtlinie entgegenstehende Auslegungskriterium im nationalen Recht verdrängt werden. Damit bildet weder der Wortlaut der Norm382, noch der Wille des nationalen Ge376 Inkonsequent vor dem Hintergrund dieser Methode Klein in: FS Everling I, 1995, 641, 646 in Fn. 28, der dennoch auf nationale Grenzen abstellt. 377 Schlussantrag GA Saggio, C-240/98, Slg. 2000 I-4943 (Océano Grupo Editorial und Salvat Editores), Rn. 37; Stögmüller in: Münchner Anwaltshandbuch, Teil 5. Internationale Bezüge des IT-Rechts einschließlich Internationales Privatrecht, Rn. 69; Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 58; Jarass, Grundfragen, S. 100 ff.; Schlussantrag GA Léger, C-287/98, Slg. 2000, I-6920 (Berthe Linster), 68; Timmermans, C.M.L.Rev. 16 (1979), S. 533, 550; auch Grabitz, EuR 1971, 1, 21; Wölker, EuR 2007, 32, 41 unter Berufung auf den EuGH, Nachweise in Fn. 54, 55. 378 Dendrinos, Direktwirkung, S. 200, 283, 290. Auf S. 289 schreibt er diesbezüglich: „Das Eigentümliche der richtlinienkonformen Auslegung ist ihre gemeinschaftsrechtliche Provenienz. Sie stellt einen Eingriff in die nationalen Auslegungsmethoden dar, indem sie sie für den Ausgangsfall im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens überlagert und verdrängt. Denn das aufgrund der Richtlinie innerstaatlich ergangene nationale Recht ist zwar nach wie vor nationales Recht, die Auslegung bezieht sich also auf eine nationale Norm. Andererseits beruht es auf einem bindenden Gemeinschaftsrechtsbefehl an den jeweiligen nationalen Gesetzgeber. Dieser Rechtsbefehl ist Auslöser der innerstaatlichen Gesetzgebung, sodass sein Inhalt für die Auslegung maßgeblich sein muss. Daraus ergibt sich, dass der Gemeinschaftsbefehl seinerseits als Hintergrund der nationalen Norm ausgelegt werden muss.“ Vgl. auch Müller-Graff, NJW 1993, 13, 21. 379 Reich, EuZW 1991, 203, 209. 380 Dendrinos, Direktwirkung, S. 200, 290. 381 Dendrinos, Direktwirkung, S. 198 ff., 288, 290 ff. 382 Wöhlermann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 136, 142, eine Ausnahme sei aber, wenn die Norm dergestalt contra legem interpretiert werde, dass es zu einem Sys-
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setzgebers eine Grenze der so verstandenen richtlinienkonformen Rechtsfindung. Das nationale Recht könne auch contra legem ausgelegt werden, um ein richtlinienkonformes Ergebnis zu erzielen.383 Der gesetzgeberische Wille bleibe nur maßgebend, wenn noch keine Pflicht zur Richtlinienkonformität bestehe, wenn also die Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen sei.384 In diesem Fall könne der Richter die Richtlinie berücksichtigen, wenn dies nicht zur Nichtanwendung einer nationalen Norm führen würde. Denn die Entscheidungshoheit liege vor Ablauf der Umsetzungsfrist beim nationalen Gesetzgeber – setze er nicht um, verbleibe es bei den nationalen Vorschriften.385 Sei die Richtlinie hingegen vor Fristablauf umgesetzt, sei so vorzugehen, als wäre die Frist bereits abgelaufen, wenn der Gesetzgeber nicht ausnahmsweise bis zum Fristablauf eine unterhalb der Schwelle der Richtlinie liegende Regelung vorgesehen habe.386 Begründet werden die Möglichkeit der Derogation ganzer Auslegungskriterien und die damit einhergehende Verschiebung der Contra-legemGrenze mit dem normenhierarchischen Vorrang der Richtlinie vor dem nationalen Recht.387 Aufgrund der unmittelbaren Geltung der Richtlinie bilde sich im Verhältnis des nationalen Rechts zur Richtlinie eine Normenhierarchie, bei der die Richtlinie einen höheren normativen Rang einnehme. Als höherrangiges Recht beherrsche die Richtlinie aber auch die Auslegung des rangniederen (nationalen) Rechts.388 Deshalb sei der Antembruch komme. Häufig werde der Wortsinn der Norm irreführend als Grenze der Auslegung beschrieben. Nicht eingegangen werde dann aber auf die Möglichkeit der Rechtsfortbildung, die bereits nach traditionellen Maßstäben zulässig sei, Dendrinos, Direktwirkung, S. 105; Salzwedel in: UTR 7, 1989, 65, 65. 383 Lutter, JZ 1992, 593, 607; Lutter, Europäisches Unternehmensrecht, S. 28: „selfexecuting-Bedeutung [der Richtlinie] mindestens im Rahmen der Auslegung der nationalen Texte“; Wöhlermann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 141 f.; Müller-Graff, NJW 1993, 13, 21 f.; Streinz, Europarecht 2008, S. 161, Rn. 456. Früher wohl auch Steindorff in: EG-Richtlinien und Illusionen, 1995, 1455, 1463, der meinte „wenn nur der Wortlaut eines nationalen Gesetzes eine richtlinienkonforme Auslegung erlaubt, dann sind entgegenstehender Wille und Zweck des nationalen Gesetzes durch das Ziel der Richtlinie zu ersetzen“, später aber betont, dass Konformauslegung ausscheide, wenn erkennbar sei, dass der Staat bei der Umsetzung von den Richtlinienanforderungen abweichen wolle oder die Konformauslegung zu Widersprüchlichkeiten oder Inkohärenz staatlichen Rechts führe, Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, S. 452. Eine andere Ansicht vertritt Salzwedel in: UTR 7, 1989, 65, 69, der auf die Ähnlichkeit zur verfassungskonformen Auslegung abstellt. Dieser Ansatz wurde von Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 200 f. hinreichend kritisiert, worauf hier verwiesen wird. 384 Lutter, JZ 1992, 593, 605. 385 Lutter, JZ 1992, 593, 605. 386 Lutter, JZ 1992, 593, 605. 387 Müller-Graff, NJW 1993, 13, 21; Grabitz, Gemeinschaftsrecht, S. 118; Wölker, EuR 2007, 32, 43 m.w.N. in Fn. 67 f. 388 Müller-Graff, NJW 1993, 13, 21.
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wendung einer „harten“ Kollisionsregel mit der damit verbundenen Suspendierung einer nationalen Norm die schonendere Möglichkeit der Normerhaltung durch Vermeidung des Normwiderspruchs vorzuziehen.389 Nach anderer, von dem Modell des europäischen Bundesstaates geprägter, Ansicht müssen wie im Bundesstaat niederrangige landesrechtliche Bestimmungen anhand der höherrangigen bundesrechtlichen Vorschriften „bundesrechtskonform“ ausgelegt werden. Entsprechend müsste auch das niederrangige nationale Recht richtlinienkonform ausgelegt werden.390 (c) 3. Stufe: Die Verwerfung der gesamten nationalen Norm Nur notfalls sei die nationale Norm komplett zu verwerfen. Es greife der Gedanke, die Richtlinie sei lex superior, welches nach der Regel „lex superior derogat legi inferiori“ die niederrangigen Normen des nationalen Rechts verdränge.391 Das verbleibende (richtlinienkonform auslegbare) nationale Recht lebe in diesem Fall in seiner Anwendbarkeit wieder auf und stehe als Instrument zur Richtlinienumsetzung zur Verfügung. 392 Ob im Einzelfall eine richtlinienkonforme Reduktion oder eine Verwerfung erfolge, hänge davon ab, ob der nationalen Norm nach ihrem Wortlaut ein richtlinienkonformer Anwendungsbereich verbleibe.393 (3) Inhaltliche Einschränkungen bei der Wirkung der Richtlinie Kommt es aber in bestimmten Konstellationen zur Verwerfung des nationalen Rechts, stellt sich die Frage, was statt des nationalen Rechts anzuwenden ist. Ob in diesem Fall die Richtlinie unmittelbar positiv angewendet werden kann (dazu a.) oder ob es bei der bloßen negativen Verwerfung des nationalen Rechts verbleiben muss (dazu b.), wurde von den Vertretern des normenhierarchischen Vorrangs der Richtlinie unterschiedlich beurteilt. Eine positive Wirkung liegt vor, wenn die Richtlinie im Einzelfall normative Wirkungen entfaltet und Rechte und Pflichten des Marktbürgers regelt. Von einer negativen Wirkung spricht man dann, wenn die Anwendung der Richtlinie zur bloßen Verdrängung des nationalen Rechts führt, ohne dass die Richtlinie selbst das Rechtsverhältnis regelt.394 Teilweise 389
Wölker, EuR 2007, 32, 42 f.; vgl. auch Lutter, JZ 1992, 593, 604 mit Fn. 135. Salzwedel in: UTR 7, 1989, 65, 69. 391 Wöhlermann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 136 ff., 141, 165 ff. 392 Götz in: FS Ress, 2005, 485, 492 f. spricht insofern von einer Schlüsselposition der richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts. 393 Streinz, Europarecht, S. 178, Rn. 500. 394 Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 34, spricht bildlich bei der positiv wirkenden Norm von einem Schwert, mit welcher Recht eingefordert werde; bei der negativ wirkenden Norm von einem Schild, mit der Pflichten abgewehrt werden könnten. Auch Lenz, E.L.Rev. 2000, 509, 516. 390
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werden auch die Begriffe der Gestaltungswirkung und Verbotswirkung395 bzw. der Ersetzungswirkung und Ausschlusswirkung396 verwendet.397 (a) Die Theorie von den positiven Richtlinienwirkungen (i) Vorgehen bei der Gesetzesanwendung In einigen älteren Urteilen398 und Stellungnahmen399 wurde teilweise versucht, den Konflikt zwischen Richtlinie und nationalem Recht ähnlich dem Lex-superior-Grundsatz mit der Verdrängung des nationalen und der positiven Anwendung des Richtlinienrechts zu lösen. Sei der Konflikt zwischen Richtlinie und nationalem Recht nicht durch traditionelle Auslegung oder Verwerfung einzelner Auslegungskriterien auflösbar, sei notfalls das nationale Recht aufzuheben und durch die Richtlinie zu ersetzen. Dabei soll der Richtlinie Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht zukom-
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So Wank, RdA 2004, 246, 250 f. So Schlussantrag GA Léger, C-287/98, Slg. 2000, I-6920 (Berthe Linster), Rn. 57; Schlussantrag GA Saggio, C-240/98, Slg. 2000 I-4943 (Océano Grupo Editorial und Salvat Editores), Rn. 38. 397 Nicht eingegangen werden kann auf die Fülle weiterer Differenzierungskriterien der Literatur, die vor allem für den Bereich der Dreieckskonstellationen, d.h. im BürgerStaat-Bürger-Verhältnis (so Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 64 m.w.N.) entwickelt wurden, aber letztlich auch auf (reine) Horizontalverhältnisse übertragen werden können. Vorgeschlagen wird beispielsweise die Abgrenzung nach Art des Nachteils, sodass eine unmittelbare Wirkung bei echten Rechtspflichten unzulässig, bei faktischen oder nur mittelbaren Nachteilen aber zulässig sei (Classen, EuZW 1993, 83, 85). Weiter wird danach differenziert, ob die Richtlinie nur allgemeine Verbote suspendiere, durch die nicht in die Rechte und Pflichten Privater eingegriffen werde, sondern die nur als Vorfrage relevant würden, in welchem Fall die unmittelbare Wirkung zulässig wäre (Epiney, NVwZ 2002, 1429, 1429 mit Fn. 1). Schließlich wird danach differenziert, ob subjektive Rechte entzogen werden oder nicht. Nur in letzterem Fall sei die unmittelbare Wirkung zulässig (Nettesheim in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 288 AEUV, Rn. 149, 157 ff.; ähnlich auch Gundel, EuZW 2001, 143, 143 f., 149). Ähnlichkeiten weist auch das Kriterium des wesentlichen Verfahrensverstoßes des Mitgliedstaates auf (in Abgrenzung zur Begründung von Rechten und Pflichten als Folge des Inhalts der Richtlinie), bei denen eine unmittelbare Wirkung bejaht wird (Jarass/Beljin, EuR 2004, 714, 722 ff.). Allen Abgrenzungskriterien ist gemein, dass die Abgrenzung im Einzelfall bisweilen Schwierigkeiten bereitet und daher zu Rechtsunsicherheiten führt. Genauer zu den jeweiligen Kriterien und zur Kritik bei Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 64 ff.; Jarass/Beljin, EuR 2004, 714, 719 ff. 398 OLG Celle EuZW 1990, 550, 550. 399 Arnull, I.C.L.Q. 35 (1986), S. 939, 944 f.; Dendrinos, Direktwirkung, S. 203 ff.; Nicolaysen, EuR 1984, 380, 386 f.; Winter, DVBl 1991, 657, 665. Dem Grunde nach wohl auch Nicolaysen, Europarecht I, S. 338; Müller-Graff, NJW 1993, 13, 20 f.; Spetzler, RIW 1990, 286, 290. 396
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men.400 Diese These wird, soweit ersichtlich, heute nicht mehr vertreten. Abgelöst wurde die Theorie durch diejenige von den negativen Richtlinienwirkungen, die eine weitere Einschränkung im Hinblick auf die Wirkungen der Richtlinie vornimmt (dazu sogleich). (ii) Begründung Die These, dass im Horizontal- wie im Vertikalverhältnis die Richtlinie positiv zur Anwendung gelangen könne, wurde – neben der Tatsache, dass zwischen Verordnungen und Richtlinien Unterschiede verbleiben, weil die Anwendung der Richtlinie subsidiär zur nationalen Rechtsanwendung401 und zeitlich erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist anwendbar sei402 – mit einem Vergleich zum Primärrecht und einem Gerechtigkeitsargument begründet. Die Anhänger dieser These vertreten den Standpunkt, dass sowohl Primärrecht als auch Richtlinienrecht an den Mitgliedstaat gerichtetes Recht ist. Vom EuGH werde zwar die unmittelbare Wirkung einzelner primärrechtlicher Vorschriften anerkannt, nicht aber eine unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Horizontalverhältnis. Die Differenzierung, obwohl es sich in beiden Fällen um an den Mitgliedstaat gerichtetes Recht handele, sei nicht erklärbar.403 Die Rechtsmissbrauchsratio, nach der der Mitgliedstaat keinen Vorteil aus der eigenen fehlenden oder fehlerhaften Umsetzung der Richtlinie ziehen dürfe, könne eine unmittelbare Belastung Privater durch die Richtlinie nicht ausschließen. Es sei nicht einzusehen, warum die mitgliedstaatlichen Gerichte als Träger öffentlicher Gewalt nach Ablauf der Umsetzungsfrist nicht an Richtlinienvorschriften auch im Privatrechtsverhältnis gebunden sein sollten.404 Die Begründung anhand des Treuwidrigkeitsgedankens sei „fragwürdig“ und „zur Begründung der Direktwirkung weder entscheidend noch notwendig“ 405. Der Gerichtshof habe diese Erwägung nur herangezogen, um seine Rechtsprechung gegenüber der des französischen Conseil d’Etat (Cohn-Bendit-Rechtsprechung) und dem BFH (Kloppenburg) abzusichern.406
400 Niedobitek, VerwArch 2001, 58, 63 f., 66 ff. Andere Ansicht nur Fuß in: GS Sasse, 1981, 187 ff. 401 Dazu s. Teil 2, B.III.1.b)(2), S. 158 ff. 402 Dazu s. Teil 2, B.III.1.b)(1), S. 157 ff. 403 Vgl. Gellermann, Beeinflussung, S. 141 m.w.N. 404 Müller-Graff, NJW 1993, 13, 20; Nicolaysen, EuR 1984, 380, 386 f.;Winter, DVBl 1991, 657, 665. 405 Müller-Graff, NJW 1993, 13, 20. 406 Dazu Gellermann, Beeinflussung, S. 141 m.w.N.
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Da aufgrund des Erlasses immer detaillierterer Richtlinien der Unterschied zwischen Verordnungen und Richtlinien ohnehin verwischt sei407, sei daher ein einheitliches Konzept der unmittelbaren Wirkung vorzuziehen. Denn der Mitgliedstaat könne nicht einerseits den gemeinsamen Markt vorantreiben, andererseits aber den Schutz der vom Unionsrecht bevorzugten Marktbürger vernachlässigen.408 Deshalb müsse man die Individualwirksamkeit der Richtlinie anerkennen. Nur indem alle mit der unionsrechtswidrigen Vorschrift unvereinbaren innerstaatlichen Maßnahmen unanwendbar werden und stattdessen auf die Richtlinie selbst oder zumindest ihre inhaltlichen Ziele zurückgegriffen wird, würden die von der Richtlinie mit Rechten ausgestatteten Marktbürger unmittelbar und sofort geschützt.409 Ein weiteres Argument der Anhänger der positiven Richtlinienwirkung ist das Gerechtigkeitsargument: Das uneinheitliche Konzept der unmittelbaren Wirkung im Vertikal- und Horizontalverhältnis führe zu ungerechten Ergebnissen. Es hänge von Zufälligkeiten ab, ob der Vertragspartner eines Marktbürgers beispielsweise ein Staatsunternehmen sei (Vertikalverhältnis) oder nicht (Horizontalverhältnis) – im einen Fall könne sich der Einzelne auf die Bestimmungen der Richtlinie berufen, im anderen nicht. Es werde dem Einzelnen die Prüfung zugemutet, ob und wenn ja, zu welchem Teil ein Staat als Vertragspartner beteiligt sei.410 Zudem komme es zu Unterschieden von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat. Habe Mitgliedstaat A die Richtlinie ordnungsgemäß umgesetzt, Mitgliedstaat B aber nicht, könne die Richtlinie in Mitgliedstaat B zwischen zwei Privaten nicht angewendet werden, in Mitgliedstaat A hingegen schon.411 (b) Die Theorie von den negativen Richtlinienwirkungen (i) Vorgehen bei der Gesetzesanwendung In der öffentlich-rechtlich-geprägten Literatur werden in jüngerer Zeit statt der Annahme positiver Wirkungen regelmäßig (nur) negative Wirkungen der Richtlinie befürwortet.412 Die Anwendung der Richtlinie soll lediglich 407
68.
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Zumindest für das Gewässerschutzrecht so auch Salzwedel in: UTR 7, 1989, 65,
In diesem Sinne wohl Reich, EuZW 1991, 203, 210. Grabitz, EuR 1971, 1, 21. 410 Manger, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 54. 411 Ähnlich Manger, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 54. 412 Bach, JZ 1990, 1108, 1114 f.; Classen, EuZW 1993, 83, 87; Jarass/Beljin, EuR 2004, 714, 717 f.; Kreße, ZGS 2007, 215, 216; Langenfeld, DÖV 1992, 955, 963, 964 f.; Schlussantrag GA Léger, C-287/98, Slg. 2000, I-6920 (Berthe Linster), Rn. 69 ff.; Lenz, E.L.Rev. 2000, 509, 516; Müggenborg/Duikers, NVwZ 2007, 623, 624; Nyssens/Lackhoff, E.L.Rev. 1998, 397, 404; Reich/Rörig, EuZW 2002, 87, 88 f.; Reich/Rörig, EuZW 409
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die Verwerfung des nationalen Rechts (oder bestimmter Auslegungskriterien) ermöglichen. Die Richtlinie begründe nicht selbst (positiv) Rechte und Pflichten des Marktbürgers, sondern verdränge lediglich negativ bestimmte richtlinienwidrige Auslegungskriterien oder das nationale Recht. Da die Richtlinie eine Rechtsgestaltung durch die Mitgliedstaaten vorsehe, könne vor ihrer Umsetzung nicht auf sie Bezug genommen werden, denn die Gestaltung stehe noch aus und diese sei dem Gesetzgeber vorbehalten.413 Die Richtlinie positiv als Alternativnormierung im Horizontalverhältnis anzuwenden, sei deshalb nicht möglich.414 Nichtsdestotrotz würden auch die nationalen Organe Verantwortung für die ordnungsgemäße Umsetzung der Richtlinie tragen415, sodass sie verpflichtet seien, kein unionsrechtswidriges nationales Recht anzuwenden.416 Vorteil bei einer bloß negativen Verwerfungswirkung sei insbesondere, dass sie auch dann möglich sei, wenn aufgrund der fehlenden Bestimmtheit oder Unbedingtheit der Richtlinie oder bei Vorliegen eines Ermessensspielraums des Mitgliedstaates417 eine Ersetzungswirkung ohnehin ausscheiden müsse.418 Für eine negative Wirkung sei es ausreichend zu erkennen, welche Rechtsfolgen an welche Tatbestandsvoraussetzungen geknüpft würden.419 Es müsse klar sein, welche Rechtssätze des nationalen Rechts 2006, 69, 70 ff.; ebenso. Schlussantrag GA Saggio, C-240/98, Slg. 2000 I-4943 (Océano Grupo Editorial und Salvat Editores), Rn. 28 ff.; Steindorff in: EG-Richtlinien und Illusionen, 1995, 1455, 1460 f.; Streinz, Europarecht, S. 173 ff., Rn. 492, 494; Timmermans, C.M.L.Rev. 16 (1979), S. 533, 549 ff.; wohl auch Stögmüller in: Münchner Anwaltshandbuch, Teil 5. Internationale Bezüge des IT-Rechts einschließlich Internationales Privatrecht, Rn. 68, 69. Einschränkend für den Fall des Bestehens eines Gestaltungsspielraums Wank, RdA 2004, 246, 251. Auch Götz in: FS Ress, 2005, 485, 486, 492, der aber differenziert danach, ob trotz Unanwendbarkeit des nationalen Rechts noch richtlinienkonform auslegbare Normen bestehen bleiben (dann negative Wirkung zulässig) oder ob keine nationalen Normen mehr verbleiben (dann negative Wirkung unzulässig). 413 Wank, RdA 2004, 246, 250; Schlussantrag GA Léger, C-287/98, Slg. 2000, I-6920 (Berthe Linster), Rn. 64, 72; vgl. auch Götz in: FS Ress, 2005, 485, 488. 414 Nyssens/Lackhoff, E.L.Rev. 1998, 397, 404. Der Begriff der Alternativnormierung stammt von Grabitz, EuR 1971, 1, 21, wird in diesem Zusammenhang aber ebenfalls verwendet, vgl. auch Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 60. 415 Wölker, EuR 2007, 32, 39 m.w.N. in Fn. 48-50. Daraus folgt auch, dass das Vorliegen einer Richtlinie von Amts wegen zu beachten ist. 416 Bach, JZ 1990, 1108, 1109, 1111; Timmermans, C.M.L.Rev. 16 (1979), S. 533, 545 ff. 417 Zu letzterem s. Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 50 ff. 418 Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 48 f.; Zuleeg, ZGR 1980, 466, 480; Wölker, EuR 2007, 32, 43. 419 Prechal, C.M.L.Rev. 37 (2000), S. 1047, 1064; ihr folgend Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 52; Schlussantrag GA Léger, C-287/98, Slg. 2000, I-6920 (Berthe Linster), Rn. 74; Langenfeld, DÖV 1992, 955, 962 f.
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nicht angewendet werden dürften.420 Anders als bei der positiven Wirkung der Richtlinie, die nur in Frage komme, wenn sich Tatbestand und Rechtsfolge klar ergebe, sei daher der Inhalt eines Verbots leichter feststellbar. Lasse sich hiernach ein Verstoß des nationalen Rechtsaktes gegen die Richtlinienbestimmung feststellen, müsse der Richter auch in diesem Fall tätig werden und das richtlinienwidrige nationale Recht unangewendet lassen.421 (ii) Begründung Zur Begründung der These der unmittelbar negativen Wirkungen der Richtlinie wird zunächst auf die Effektivität des Unionsrechts verwiesen, die zumindest eine negative Wirkung des Richtlinienprogramms fordere. Die Wirksamkeit des Unionsrechts könne Schaden nehmen, wenn ein nationales Gericht im Geltungsbereich einer nicht umgesetzten Richtlinie zu entscheiden habe und dabei aufgrund ihres Vorrangs die Richtlinie anwenden müsse, hieran aber durch den Verzug der zuständigen Stellen bei der Umsetzung in nationales Recht gehindert werde. 422 In diesem Fall komme dem nationalen Gericht die Aufgabe zu, die Ziele der Richtlinie für den Einzelnen sicherzustellen und die abweichende nationale Norm „auszusondern“423. Ansonsten bleibe der bezweckte Integrationseffekt temporär aus und führe zur Abschwächung des effet utile. 424 Die Harmonisierungsfunktion von Richtlinien würde durch das einseitige Verhalten eines Mitgliedstaates beeinträchtigt. Insbesondere könne es nicht der Mitgliedstaat allein in der Hand haben, den Eintritt der von der Richtlinie beabsichtigten Rechtswirkungen hinauszuzögern oder ganz zu vereiteln, indem er mit der Umsetzung der Richtlinie abwarte.425 In Abgrenzung zur These der positiven Richtlinienwirkungen begründen die Vertreter der negativen Richtlinienwirkung ihre Theorie weiterhin damit, dass durch die Beschränkung auf negative Wirkungen ausreichende Unterschiede zwischen Verordnungen und Richtlinien verbleiben. Die Richtlinie begründe in keinem Fall unmittelbare Verpflichtungen für den Einzelnen, sodass die Rechtsprechung zur unmittelbaren Wirkung respek420
Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 53, 59. Prechal, C.M.L.Rev. 37 (2000), S. 1047, 1062 f.; ihr folgend Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 52. 422 Schlussantrag GA Léger, C-287/98, Slg. 2000, I-6920 (Berthe Linster), Rn. 26; Stögmüller in: Münchner Anwaltshandbuch, Teil 5. Internationale Bezüge des IT-Rechts einschließlich Internationales Privatrecht, Rn. 68, 69. 423 Schlussantrag GA Saggio, C-240/98, Slg. 2000 I-4943 (Océano Grupo Editorial und Salvat Editores), Rn. 30, 37. 424 Grabitz, EuR 1971, 1, 11. 425 Groß, JuS 1990, 522, 525. 421
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tiert werde.426 Dies entspreche nicht nur dem Sanktionsgedanken, wonach es den Mitgliedstaaten verwehrt sein soll, den durch die Richtlinie begünstigten Bürgern die unionsrechtswidrige Nichtumsetzung entgegenzuhalten. Vielmehr würden zudem auch die rechtsstaatlichen Bedenken gegen die unmittelbare Belastung des Einzelnen durch die Richtlinie ausgeräumt.427 Letztverbindliche materielle Grundlage der Verpflichtung des Einzelnen sei nämlich nicht die Richtlinie, sondern das nationale Recht.428 Deshalb bleibe auch die Kompetenz zur Bestimmung des „ob“ und „wie“ der Konformauslegung bei den nationalen Gerichten.429 Allerdings verschleiert diese Formulierung folgende Problematik: Der Richter ist nach diesem Ansatz zu einer Verwerfung der richtlinienwidrigen Auslegungskriterien oder der gesamten Norm verpflichtet. Bei einer konsequenten Anwendung der Theorie der negativen Wirkungen entscheidet der Richter damit nicht über das „ob“, sondern allenfalls über das „wie“ der richtlinienkonformen Rechtsfindung. Dies ist wiederum auch nur dann der Fall, wenn zwei oder mehr Auslegungsergebnisse richtlinienkonform sind, dann verbleibt dem Richter die Möglichkeit, diesen Gestaltungsspielraum zu nutzen. Sofern dieses Problem thematisiert wird, wird darauf verwiesen, dass der Gesetzgeber im Richtlinienkontext überhaupt keinen anderen Willen mehr haben dürfe als denjenigen, den die Unionsorgane mit der Richtlinie verbunden hätten. Damit könne die Regelungsabsicht dieser Organe gleich an die Stelle der nationalen treten.430 Die Berufung auf den Umsetzungswillen des Gesetzgebers sei ein „gekünsteltes Konstrukt“.431 Es sei nicht einzusehen, warum die Gerichte in diesem Fall an den Willen des nationalen Gesetzgebers gebunden sein müssten, insbesondere, da die richtlinienkonforme Gesetzesanwendung vorwiegend dann Bedeutung erlange, wenn eine legislative Umsetzung fehle bzw. nicht der Richtlinie entspreche.432 (iii) Probleme (aa) Widerspruch zur Rechtsprechung des EuGH Die Anhänger der Theorie von den negativen Richtlinienwirkungen gehen davon aus, dass die Richtlinie unmittelbar gilt, sodass sie im Einzelfall angewendet werden kann. Der Richtlinie komme dabei aber nur negative 426
Langenfeld, DÖV 1992, 955, 965. Streinz, Europarecht, S. 171 f., Rn. 488. 428 Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 80. 429 Langenfeld, DÖV 1992, 955, 965. 430 Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 141; Lutter, Europäisches Unternehmensrecht, S. 23. 431 Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 141. 432 Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 140 f. 427
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Verdrängungswirkung zu. Zu berücksichtigen ist, dass auch die Verdrängung des nationalen Rechts eine Anwendung der Richtlinie, eben nur mit negativen Wirkungen, darstellt.433 Dies gerät aber in Konflikt mit der Rechtsprechung des EuGH, der eine unmittelbare Anwendung von Richtlinien im Horizontalverhältnis in ständiger Rechtsprechung ablehnt. Die Vertreter der negativen Richtlinienwirkungen haben dieses Problem erkannt und versuchen, anhand von ausgewählten EuGH-Entscheidungen zu zeigen, dass der Gerichtshof unmittelbar negative Wirkungen von Richtlinien befürwortet. Soweit die Richtlinie nur dazu führe, dass richtlinienwidriges nationales Recht vom Richter nicht angewendet werde, sei dies zulässig.434 Rekurriert wird insbesondere auf die bereits dargestellten Entscheidungen des EuGH Unilever Italia435, Mangold436 und Pfeiffer437. In dieser Rechtsprechung rückt der Gerichtshof aber nicht von seiner ausdrücklichen Ablehnung der unmittelbaren Anwendung von Richtlinien im Horizontalverhältnis ab. Mit diesem Problem hat sich ausführlich C. Herrmann beschäftigt. Er will den Begriff des Horizontalverhältnisses modifizieren. Dazu diene die Überlegung, dass sich „auch das privatrechtliche Rechtsverhältnis in der Prozeßsituation als Dreieckskonstellation verstehen [lässt], in der jeder Anwendung eines Rechtssatzes jeweils eine Doppelwirkung zukommt, welche für die eine Partei günstig, für die andere ungünstig ist. In diesem Sinne bedeutet die Anwendung eines Rechtssatzes durch ein Gericht ein ‚auf die Seite des durch den Rechtssatz Begünstigten treten‘. Aus der Dreieckskonstellation wird jeweils eine vertikale, in der das Gericht (und eine Prozeßpartei) der anderen Prozesspartei gegenübertreten.“438 Da die Gerichte als Träger öffentlicher Gewalt dem Mitgliedstaat zuzurechnen seien, würden auch in dem so verstandenen Prozessverhältnis die Grundsätze des Vertikalverhältnisses gelten. Der Bürger könne die Anwendung einer richtlinienwidrigen nationalen Norm abwehren (vertikale Wirkung), das Gericht könne ihm aber auch keine nicht umgesetzte Richtlinie entgegenhalten (Verbot der umgekehrt vertikalen Wirkung). Der wesentliche Unterschied dieser Konstellationen zur einfachen vertikalen Situation liege darin, dass der Bürger zwar Rechte gegenüber 433 Wohl auch Schürnbrand, JZ 2007, 910, 911: „Durch die eine wie durch die andere Art der Direktwirkung wird in Privatrechtsverhältnissen nämlich entgegen dem Regelungskonzept der Richtlinie im Ergebnis einem Beteiligten eine Verpflichtung auferlegt oder ein Recht entzogen.“ 434 Streinz, Europarecht, S. 171 f., Rn. 488; Streinz/Herrmann, RdA 2007, 165, 167; Wölker, EuR 2007, 32, 44 m.w.N. in Fn. 76; Wank, RdA 2004, 246, 251. 435 EuGH, Rs. 443/98, Slg. 2000, I-7535 (Unilever Italia), v.a. Rn. 50. 436 EuGH, Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981 (Mangold), v.a. Rn. 77. 437 EuGH, verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01, Slg. 2004, I-8835 (Pfeiffer), v.a. Rn. 116 ff. 438 Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 80 f.
B. Meinungen zum Konflikt von Richtlinie und nationalem Recht
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dem Staat geltend machen könne, er aber keinen Anspruch auf staatliche Hilfe bei der Geltendmachung von Rechten gegenüber einem Dritten habe. Er kann dem Staat allerdings die Nichtumsetzung der Richtlinie entgegenhalten. „Die verpflichtende Wirkung der Richtlinie verbietet somit dem Staat in der Gestalt der Gerichte, im Einzelfall dem zum ‚Unrecht‘ zu verhelfen, der sich auf richtlinienwidrige nationale Vorschriften beruft. Der Grundsatz des Vertrauensschutzes bzw. das estoppel-Prinzip verbieten es andererseits, zu Lasten eines einzelnen im Prozeß eine Richtlinienbestimmung positiv anzuwenden, da sich damit der Staat in Form des Gerichts gleichsam auf eine Vorschrift berufen würde, die er selbst nicht umgesetzt hat.“439 C. Herrmann versteht das private Prozessverhältnis also als Dreieckskonstellation, in der das nationale Gericht durch Anwendung eines bestimmten Rechtssatzes auf die Seite einer Prozesspartei trete. Damit werde aus der Dreieckskonstellation eine vertikale Konstellation zu Lasten der unterliegenden Partei. Die Gerichte als Träger öffentlicher Gewalt dürften dann kein Recht entgegen der Richtlinie schaffen und müssten deshalb entgegenstehende nationale Vorschriften unangewendet lassen.440 Dieser Argumentation steht allerdings entgegen, dass es sich um eine bloße Umdefinition eines typischen Horizontalverhältnisses in ein Vertikalverhältnis handelt. Nur aus dem Grund, dass die Parteien zu Gericht gehen, also Rechtsschutz suchen, soll die Richtlinie plötzlich für sie unmittelbar wirksam werden und die bisher bestehende Rechtslage ändern. Dies würde letztlich bedeuten, dass die auf das nationale Recht vertrauende Partei ihre Rechte dadurch verlieren kann, dass sie Rechtsschutz vor den nationalen Gerichten sucht. Denn mit dem Eintritt in den Prozess würde das Horizontalverhältnis zu einem Vertikalverhältnis und das Gericht dürfte richtlinienwidriges nationales Recht nicht anwenden. Diese Sichtweise führt zu einem Verstoß gegen den Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes im Sinne von Art. 19 IV GG, weil ein außergerichtlich bestehendes Recht (dort befindet man sich noch im Horizontalverhältnis) durch das Suchen von Rechtsschutz beseitigt wird. Zwar verpflichtet auch Art. 288 III AEUV die nationalen Gerichte zur Umsetzung der Richtlinie. Die Zuständigkeitsverteilung des nationalen Rechts berührt diese Vorschrift nicht, sodass die Gerichte nur im Rahmen ihrer Kompetenzen zur Richtlinienumsetzung verpflichtet sind. Im Rechtsverhältnis zwischen zwei Bürgern, d.h. nach herkömmlichem Verständnis im Horizontalverhältnis (in der Prozesssituation), muss das Gericht aber lediglich im Rahmen der Gesetzesanwendung sein Möglichstes tun, um ein richtlinienkonformes Ergebnis zu erreichen. Eine Contra-legem-Ausle-
439 440
Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 81, Hervorhebung im Original. Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 80 f.
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Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien
gung, zu der die Derogation von nationalem Recht oder bestimmten Auslegungskriterien aber führen kann, wird nicht gefordert. (bb) Nichtvorhandensein von richtlinienkonformem nationalem Recht Probleme bereiten den Anhängern der These von den negativen Wirkungen der Richtlinie vor allem die Konstellationen, bei denen die Verdrängung des richtlinienwidrigen nationalen Rechts zur Folge hat, dass die nationale Rechtsordnung keine zur Umsetzung der Richtlinie geeigneten Normen bereithält. Entsprechendes gilt für die Situation, dass von vornherein kein richtlinienwidriges, aber auch kein richtlinienkonformes nationales Recht vorhanden ist. In diesen Konstellationen führt die Suspendierung einer nationalen Norm zu Problemen, können doch erhebliche Rechtslücken entstehen, wenn weder die Richtlinie selbst, noch eine nationale Norm angewendet werden kann.441 Mit diesem Problem hat sich ausführlich R. Wank beschäftigt, der letztlich eine vermittelnde Stellung zwischen den Vertretern der positiven und negativen Richtlinienwirkung einnimmt, in manchen Fällen aber auch eine bloß negative Wirkung ablehnt. Um der Schwierigkeit der Entstehung von Rechtslücken zu begegnen, differenziert er zwischen bestimmten Arten von Verboten und Gestaltungen 442: Verbiete die Richtlinie ein bestimmtes Verhalten alternativlos, entstehe auch bei Suspension des nationalen Rechts keine Lücke. 443 Ein Eingriff in das Äquivalenzgefüge unter Privaten sei dann nicht zu erkennen, wären doch die Privaten bei ordnungsgemäßer Umsetzung ohnehin von diesen eindeutigen und für den Mitgliedstaat verbindlichen Festsetzungen der Richtlinie betroffen gewesen.444 Das Gleiche gelte für die Konstellation, bei der „nur ein Verbot aus der Richtlinie vollzogen wird und nur eine bestimmte Art der Befolgung des Verbots rechtlich zulässig ist, etwa wenn die Richtlinie bestimmte Mindeststandards festlegt, die zu unterschreiten sie verbietet“.445 In dem Fall gelte dann der Mindeststandard der Richtlinie. Zur Erläuterung der Verbotswirkungen der Richtlinie und zum Vergleich wird 441
Dieses Problem sehen auch Jarass, Grundfragen, S. 104 m.w.N. in Fn. 187; Langenfeld, DÖV 1992, 955, 963; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 911; Canaris in: FS Schmidt, 2006, 41, 44; Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 82; Scherzberg, Jura 1993, 225, 229; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 53. 442 Wank, RdA 2004, 246, 251 f. Andere Vertreter lehnen in dieser zweiten Konstellation eine unmittelbar negative Wirkung gänzlich ab, z.B. Götz in: FS Ress, 2005, 485, 492. 443 Wank, RdA 2004, 246, 251. 444 Wank, RdA 2004, 246, 251. 445 Wank, RdA 2004, 246, 251, ähnlich Schlussantrag GA Léger, C-287/98, Slg. 2000, I-6920 (Berthe Linster), Rn. 56 ff., 73; Schlussantrag GA Saggio, C-240/98, Slg. 2000 I4943 (Océano Grupo Editorial und Salvat Editores), Rn. 30 ff., 38 f.; Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 78 f.
B. Meinungen zum Konflikt von Richtlinie und nationalem Recht
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von R. Wank die Problematik des Verstoßes gegen den Gleichheitssatz herangezogen. Auch der Gleichheitssatz verbiete nur eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung, sage aber nichts über eine Neugestaltung aus. Bei einem Verstoß gegen den Gleichheitssatz stehe so nur fest, dass die bestehende Regelung keinen Bestand haben dürfe. Wie eine Lückenschließung zu erfolgen habe, wird vom Gleichheitssatz nicht gesagt. Auch hier müsse unterschieden werden: Bestehe ein Gestaltungsspielraum (z.B. Abbau der Privilegien bisheriger Begünstigter oder Leistungen auch an bisher Benachteiligte), so müsse dieser erhalten bleiben. Sei hingegen nur eine Konsequenz rechtlich zulässig (z.B. konkrete Anhebung der Leistungen an bisher Benachteiligte), verbinde sich der Ausspruch der Nichtigkeit (Verbotswirkung) mit einer bestimmten Vorgabe für die Neuregelung (Gestaltungswirkung). Da es an einem Gestaltungsspielraum für den Gesetzgeber ohnehin fehle, könne auch das Gericht die Nichtigkeit der Vorgabe aussprechen. Entsprechendes gelte, wenn die Richtlinie nur Mindeststandards festlege, die zu unterschreiten sie verbiete. Die Mindestvorgaben habe der Gesetzgeber ohnehin zu übernehmen, ohne dass diesbezüglich eine Gestaltung denkbar sei. In diesem Fall könnten die Mindestvorgaben der Richtlinie die durch die Unanwendbarkeit des nationalen Rechts entstandenen Lücken schließen.446 Nach R. Wank sind folglich trotz fehlender oder fehlerhafter Umsetzung zumindest eindeutige Verbote sowie die in der Richtlinie gesetzten Mindeststandards auch im Horizontalverhältnis zu gewährleisten.447 Bestehe hingegen für den Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum, könne das nationale Gericht nicht die vom Gesetzgeber zu treffende Wertung ersetzen, sodass hier ausnahmsweise eine unmittelbar negative Wirkung der Richtlinie ausscheiden müsse.448 Das Problem dieser Ansicht von R. Wank liegt darin, dass in manchen Fällen die Nichtanwendung des richtlinienwidrigen Rechts geradezu kontraproduktiv ist. Als Beispiel wurde in der Literatur der Fall genannt, dass eine Richtlinie die Anforderungen an den Umweltschutz im Vergleich zum nationalen Recht erhöht, ein Wegfall der nationalen Regelung jedoch zu einem völligen Verlust jeglicher Anforderungen führen würde.449 Wenn man in den Fällen, in denen ein bestimmtes Verhalten alternativlos verboten ist oder die Richtlinie nur Mindeststandards vorsieht, deren Unterschreitung ohnehin unzulässig ist, die Richtlinie positiv anwendet, ergibt sich wiederum das Problem der juristisch nicht zu rechtfertigenden Einebnung des Unterschieds zwischen Richtlinien und Verordnungen und der 446
Den Vergleich zieht Wank, RdA 2004, 246, 251. Wank, RdA 2004, 246, 252. 448 Wank, RdA 2004, 246, 251; Langenfeld, DÖV 1992, 955, 963. 449 Jarass, Grundfragen, S. 104 m.w.N. in Fn. 188; Vgl. auch Scherzberg, Jura 1993, 225, 229. 447
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Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien
positiven Anwendung der Richtlinie, ohne dass eine solche Anwendung unionsrechtlich gefordert wäre. Außerdem ergibt sich eine Kompetenzverschiebung zu Lasten der nationalen Legislative. Lässt man es nämlich zu, dass der Richter richtlinienwidrige Auslegungskriterien oder notfalls sogar die gesamte Norm verwerfen kann, wird der Regelungswille des Gesetzgebers missachtet. Das nationale Recht wird, sofern nicht ausnahmsweise eine Rechtsfindung nach rein nationalen Methoden möglich ist, contra legem ausgelegt. (cc) Methodische Probleme Schließlich weist die These der unmittelbar negativen Wirkung der Richtlinie im Hinblick auf ihre Methoden Probleme auf. Die negative Anwendung der Richtlinie wirkt auch in vergleichbarem Maße wie eine positive Wirkung auf die Rechtspositionen Privater ein, wenn dem Privaten Rechte allein aufgrund des Vorhandenseins der Richtlinie entzogen werden.450 Aus der Sicht der Unionsbürger ist es unerheblich, ob die Belastung aus der Auferlegung einer Leistungspflicht durch die unmittelbare Anwendung der Richtlinie oder der (negativ wirkenden) Suspendierung einer Ausnahme von dieser Pflicht herrührt.451 „Durch die eine wie durch die andere Art der Direktwirkung wird in Privatrechtsverhältnissen nämlich entgegen dem Regelungskonzept der Richtlinie im Ergebnis einem Beteiligten eine Verpflichtung auferlegt oder ein Recht entzogen.“452 Letztlich wird damit die Richtlinie angewendet, was nach der Rechtsprechung des EuGH im Horizontalverhältnis gerade nicht von den nationalen Gerichten gefordert wird. 2. Fazit Die Analyse dieses normenhierarchischen Ansatzes bestätigt zunächst, dass die Problematik des Konflikts zwischen Richtlinienvorgabe und nationalem Recht eng mit der Frage der unmittelbaren Geltung der Richtlinie verknüpft ist. Der hier vorgestellte Ansatz trägt nur, wenn man die unmittelbare Geltung der Richtlinie in der nationalen Rechtsordnung bejaht. Nur so entsteht eine Normenkollision, zu deren Auflösung der Lex-superiorGrundsatz (gegebenenfalls mit Einschränkungen) herangezogen werden kann. Wie bereits näher ausgeführt453, müssen die Vorgaben der Richtlinie für ihre innerstaatliche Geltung in nationales Recht überführt werden; an450
Vgl. Kreße, ZGS 2007, 215, 217. S. auch Schlachter, ZfA 2007, 249, 271; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 911; Kreße, ZGS 2007, 215, 217. 452 Schürnbrand, JZ 2007, 910, 911; s. auch Schlussantrag GA Mazak, C-411/05, Slg. 2007, I-8531 (Palacios de la Villa), Rn. 126 f. 453 S. oben Teil 1, A.III., S. 24 ff. 451
B. Meinungen zum Konflikt von Richtlinie und nationalem Recht
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ders als bei Primärrecht, welches durch den nationalen Zustimmungsakt bereits innerstaatlich gilt. Die Richtlinie gilt folglich nicht automatisch mit ihrem Erlass in der nationalen Rechtsordnung. Jedenfalls fehlte es an einer tatsächlichen Kollision, weil Richtlinie und nationales Recht sich auf einen unterschiedlichen Adressaten beziehen, was von den Vertretern eines normenhierarchischen Vorrangs verkannt wird. Das privatrechtswirksame nationale Recht richtet sich an den einzelnen Bürger und etabliert für ihn bestimmte Verhaltenspflichten oder sanktioniert unerwünschte Verhaltensweisen mit Schadensersatzpflichten oder einem Erfüllungszwang. Im konkreten Einzelfall berechtigt und verpflichtet es unmittelbar den Bürger. Die Richtlinie richtet sich, vermittelt über den primärrechtlichen Umsetzungsbefehl des Art. 288 III AEUV aber an die Mitgliedstaaten (und die mitgliedstaatlichen Organe) und verpflichtet sie, die Richtlinie ordnungsgemäß in nationales Recht umzusetzen. Es fehlt damit an den Voraussetzungen einer Normenkollision. Die Vertreter eines normenhierarchischen Ansatzes gehen weiter davon aus, dass die positive oder negative Anwendung der Richtlinie subsidiär zu einer möglichen richtlinienkonformen Rechtsfindung ist. Wenn auch die richtlinienkonforme Rechtsfindung nach nationalen Methoden vorrangig sein soll, können bei einem Widerspruch des nationalen Rechts zur Richtlinie ganze Auslegungskriterien, insbesondere auch der Gesetzgeberwille, oder sogar die gesamte Norm verdrängt werden. Das nationale Recht wird in diesen Konstellationen so angewendet, wie es nach nationalen Methoden nicht zulässig gewesen wäre, nämlich contra legem. Ist der Richter aber zur Contra-legem-Auslegung des nationalen Rechts verpflichtet, wird in das Kompetenzgefüge zwischen nationaler Rechtsprechung und Legislative eingegriffen. Der Richter kann und muss die nationale Gesetzgeberentscheidung zugunsten der Richtlinie ignorieren. Zu klären ist, ob eine solche Kompetenzverschiebung zu Lasten der Legislative zulässig ist. Weiterhin wird von den Vertretern einer positiven Richtlinienwirkung auf das entstehende Gerechtigkeitsproblem hingewiesen, dass durch die ungleiche Behandlung von Richtlinien im Horizontal- und Vertikalverhältnis entsteht. Je nachdem, welchen Vertragspartner der Bürger habe (Staat oder Privat), könne er sich auf die Richtlinie berufen oder nicht. Fraglich ist daher, ob dieses Gerechtigkeitsargument eine weitergehende Richtlinienwirkung rechtfertigen kann.
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Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien
C. Die Ansätze in der deutschen Rechtsprechung zur Ausgestaltung der richtlinienkonformen Rechtsfindung C. Rechtsprechung zur Ausgestaltung richtlinienkonformer Rechtsfindung
Der Konflikt zwischen Richtlinie und nationalem Recht hat auch die deutschen Gerichte befasst, die bezogen auf den konkreten Einzelfall Lösungen für die Problematik entwickelt haben. Aufgegriffen werden an dieser Stelle drei neuere Entscheidungen des BGH und eine des BAG, die eine Tendenz zur These des Willensvorrangs454 zeigen. Zudem wurden zwei Entscheidungen des BVerfG ausgewählt, die ein widersprüchliches Bild bezüglich der Lösung des Konflikts zwischen Richtlinie und nationalem Recht bieten. I. Die Ansicht des Bundesgerichtshofs In älteren Entscheidungen sprach der BGH in Bezug auf das Erfordernis der Umsetzung von Richtlinien stets von richtlinienkonformer Auslegung, womit eine Rechtsfindung im Rahmen des noch möglichen Wortsinns der nationalen Norm gemeint war.455 Mit der Heininger-Entscheidung des BGH im Jahr 2002456 (1.) war dann aber der Anstoß gegeben für eine neue Ära der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Hinblick auf die Überlagerung des nationalen Rechts durch Richtlinien, die allerdings erst mit den Entscheidungen Quelle im Jahr 2008 (2.) und Weber von 2011 (3.) vollends zum Durchbruch gelangte.457 Seit der Quelle-Entscheidung lässt der BGH ausdrücklich auch eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung zu. 1. Der Fall Heininger (BGHZ 150, 248-263) a) Sachverhalt und Problemstellung Der XI. Senat des BGH hatte 2002 die Frage zu entscheiden, ob ein Kreditvertrag zur Finanzierung eines Immobilienerwerbs, abgesichert durch Bestellung einer Grundschuld (Realkreditvertrag), nach dem damaligen Haustürwiderrufsgesetz widerrufen werden konnte, wenn der Abschluss des Vertrages durch eine Haustürsituation veranlasst wurde. Im zugrundeliegenden Sachverhalt hatte das Ehepaar Heininger bei der Bank ein Darlehen zur Finanzierung einer Eigentumswohnung aufgenommen und es durch eine Grundschuld abgesichert. Der Abschluss des Vertrages erfolgte schließlich in den Geschäftsräumen der Bank, wobei diesem Vertrags454
Dazu oben Teil 2, B.II.2., S. 146 ff. BGHZ 63, 261, 264 f.; 150, 248, 256; NJW 1993, 1594, 1595. Zur deutschen Rechtsprechung ausführlich auch Krieger, Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, S. 135 ff. 456 BGHZ 150, 248-263. 457 Vgl. auch Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 95: „Paradigmenwechsel“. 455
C. Rechtsprechung zur Ausgestaltung richtlinienkonformer Rechtsfindung
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schluss unaufgeforderte Besuche in der Wohnung des Ehepaares durch einen für die Bank tätigen Immobilienmakler vorausgegangen waren. Zwar unterlag dieser Sachverhalt nicht der Haustürwiderrufsrichtlinie458, da diese nur die Konstellationen erfasst, bei denen sich der Verbraucher in der Haustürsituation verbindlich zum Vertragsschluss entscheidet.459 Der deutsche Gesetzgeber hatte sich aber für eine überschießende Umsetzung der Richtlinie dahingehend entschieden, dass es nach dem damaligen § 1 HWiG460 für eine Haustürsituation ausreichte, wenn der Verbraucher hierdurch zum Vertragsschluss „bestimmt worden ist“. Somit hätte dem Ehepaar Heininger an sich ein Widerrufsrecht zugestanden, wenn nicht § 5 II HWiG461 das Widerrufsrecht für Geschäfte nach dem Verbraucherkreditgesetz nur diesem unterstellt hätte und dieses nicht das in § 7 VerbrKrG462 vorgesehene Widerrufsrecht bei Absicherung des Kredits durch ein Grundpfandrecht nach § 3 II Nr. 2 VerbrKrG463 ausgeschlossen hätte. Es stellte sich daher die Frage, ob der Ausschluss des Widerrufsrechts bei Realkreditverträgen im deutschen Recht der Haustürwiderrufsrichtlinie entgegensteht. Noch im Vorlagebeschluss464 hatte der BGH festgestellt, dass ein Widerruf nach § 1 HWiG nach rein nationaler Gesetzesinterpretation an der Vorrangregelung des § 5 II HWiG scheitert.465 Der Senat legte die Norm zunächst aus: Der Wortlaut von § 5 II HWiG sieht ausdrücklich vor, dass 458
Richtlinie 1985/577/EWG des Rates vom 20. Dezember 1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen. 459 Durch Abschluss des Verbrauchervertrags in der Haustürsituation oder durch Abgabe eines verbindlichen Angebots. Siehe dazu Art. 1 Abs. 1, 3, und 4 der Richtlinie 1985/577/EWG. 460 Nunmehr aufgegangen in § 312 BGB. 461 Der § 5 II HWiG in der Fassung bis zum 1.1.2002: „Erfüllt ein Geschäft im Sinne des § 1 Abs. 1 zugleich die Voraussetzungen eines Geschäfts nach dem Verbraucherkreditgesetz, […], so sind nur die Vorschriften dieser Gesetze anzuwenden.“ 462 Der § 7 I 1 VerbrKrG in der Fassung bis zum 1.1.2002: „Dem Verbraucher steht ein Widerrufsrecht nach § 361a des Bürgerlichen Gesetzbuchs zu.“ 463 Der § 3 II VerbrKrG in der Fassung bis zum 1.1.2002: Keine Anwendung finden ferner […], Nr. 2: § 4 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 Buchstabe b und die §§ 7, 9 und 11 bis 13 auf Kreditverträge, nach denen der Kredit von der Sicherung durch ein Grundpfandrecht abhängig gemacht und zu für grundpfandrechtlich abgesicherte Kredite und deren Zwischenfinanzierung üblichen Bedingungen gewährt wird […]. 464 BGH WM 2000, 26 ff., Rn. 12 ff. 465 Ebenso: OLG Bamberg, WM 2002, 537; LG München I, WM 2002, 285. In der Literatur Habersack/Mayer, WM 2002, 253, 257; Hochleitner/Wolf, WM 2002, 529, 532; Piekenbrock/Schulze, WM 2002, 521, 524. Andere Ansicht: OLG München WM 2000, 1336,1338f. und in der Literatur Spickhoff/Petershagen, BB 1999, 165, 169 f.; Stüsser, NJW 1999, 1586, 1589. Nach der Entscheidung des EuGH haben sich angeschlossen: Reich/Rörig, EuZW 2002, 87, 88; Hoffmann, ZIP 2002, 145, 149; Staudinger, NJW 2002, 653, 655.
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ausschließlich das Verbraucherkreditgesetz anzuwenden ist, wenn die Voraussetzungen eines solchen Verbraucherkreditgeschäfts vorliegen. 466 Diese grammatikalische Auslegung harmoniere auch mit dem Willen des Gesetzgebers. Der Gesetzgeber habe bei grundpfandrechtlich gesicherten Krediten wegen deren Besonderheiten, vor allem der Warnfunktion der Grundpfandbestellung und der taggenauen Refinanzierung vieler Kredite, bewusst ein Widerrufsrecht vermeiden wollen.467 Raum für eine richtlinienkonforme Auslegung oder Rechtsfortbildung war damit auf der Grundlage der traditionellen subjektiven oder objektiven Theorie aufgrund dieser klaren Vorgaben nicht. Trotz des scheinbar eindeutigen Auslegungsergebnisses legte der Senat dem EuGH aufgrund seiner Zweifel an der Richtlinienkonformität des fehlenden Widerrufsrechts vor. Der EuGH bestätigt diese Zweifel und entscheidet, dass ein Verbraucher, der einen derartigen Realkreditvertrag abschließt, über das Widerrufsrecht der Haustürgeschäfterichtlinie verfügt.468 Demzufolge widersprachen sich das nationale Recht und die Forderungen der Richtlinie, sodass ein Umsetzungsdefizit vorlag. b) Lösung des BGH Der BGH entschied sich aufgrund dieses Umsetzungsdefizits für eine richtlinienkonforme Anwendung des nationalen Rechts mit Hilfe einer Einschränkung des § 5 II HWiG469: „Der Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung gebietet es in Verbindung mit der vom Senat eingeholten Vorabentscheidung des EuGH, die maßgeblichen nationalen Vorschriften, soweit ein Auslegungsspielraum besteht, dahin gehend auszulegen, dass dem Verbraucher, der einen in den Anwendungsbereich der Haustürgeschäfte-Richtlinie fallenden Realkreditvertrag geschlossen hat, ein Art. 5 der Richtlinie entsprechendes Widerrufsrecht zusteht. Dies hat zur Folge, dass § 5 Abs. 2 HWiG unter Beachtung der für die nationalen Gerichte bindenden Auslegung des EuGH richtlinienkonform einschränkend auszulegen ist. Kreditverträge gehören danach insoweit nicht zu den Geschäften, die i.S. des § 5 Abs. 2 HWiG ‚die Voraussetzungen eines Geschäfts nach dem VerbrKrG‘ erfüllen, als das VerbrKrG kein gleich weit reichendes Widerrufsrecht wie das HWiG einräumt.“470
466
BGH WM 2000, 26 ff., Rn. 12 ff. BGH WM 2000, 26 ff., Rn. 16 unter Verweis auf BT-Drucks. 11/5462, S. 12, 18, 35; BT-Drucks. 11/8274, S. 5 f., 20. 468 EuGH, Rs. C-481/99, Slg. 2001, I-9945 (Heininger), 1. Leitsatz, Rn. 40. 469 Der BGH ist hier zu Recht dafür kritisiert worden, dass er von einer richtlinienkonformen Auslegung spricht, obwohl sich diese mit dem Wortlaut (objektive Theorie) bzw. mit der gesetzgeberischen Regelungsentscheidung (subjektive Theorie) nicht vereinbaren lässt. Methodisch handelt es sich bei der Gesetzesanwendung des BGH um eine Rechtsfortbildung. 470 BGHZ 150 248, 253. 467
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Der BGH schränkt hier also den Wortlaut und Zweck der nationalen Norm ein, um ein richtlinienkonformes Ergebnis zu erreichen. Wie er sich über beide Auslegungskriterien, die für das gegenteilige Ergebnis zu sprechen scheinen, hinwegsetzt, bedarf näherer Betrachtung. (1) Grammatikalische Interpretation Der Wortlaut von § 5 II HWiG in der Fassung bis zum 1.1.2002 lautete: „Erfüllt ein Geschäft im Sinne des § 1 Abs. 1 zugleich die Voraussetzungen eines Geschäfts nach dem Verbraucherkreditgesetz, […], so sind nur die Vorschriften dieser Gesetze anzuwenden.“ Anders als noch im Vorlagebeschluss geht nunmehr der BGH davon aus, dass der Wortlaut dieser Norm doch nicht eindeutig sei.471 Stattdessen wird der Wortlaut mit dem angeblichen Sinn und Zweck von § 5 II HWiG überwunden. Die Norm müsse nämlich nicht so verstanden werden, dass das HWiG bei Vorliegen von Realkrediten vollständig verdrängt werde, sondern lasse sich auch so verstehen, dass eine Verdrängung dann nicht stattfinde, wenn ein Kreditvertrag nur in Teilen dem VerbrKrG unterfalle oder das VerbrKrG dem Verbraucher keinen gleichsam effektiven Schutz gewähre.472 Gerade bei Realkreditverträgen sei daher eine Einschränkung der Subsidiaritätsklausel erforderlich, weil wegen § 3 II Nr. 2 VerbrKrG das Widerrufsrecht ausgeschlossen und so kein gleich effektiver Schutz des Verbrauchers gegeben sei. Der § 5 II HWiG sei daher richtlinienkonform auszulegen, sodass die „Subsidiaritätsklausel bezüglich der Widerrufsvorschriften nur dann greift, wenn im konkreten Fall auch das Verbraucherkreditgesetz ein Widerrufsrecht gewährt“, ansonsten verbleibe es bei der Anwendbarkeit von § 1 HWiG.473 Der BGH spricht hier zwar von einer „richtlinienkonformen Auslegung“, führt aber im Ergebnis eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung durch, indem er eine Regelungslücke daraus ableitet, dass der Wortlaut der Norm dem Verbraucher keinen effektiven Rechtsschutz (im Sinne der Richtlinie) gewährleistet. (2) Genetische Interpretation Der BGH prüft weiterhin, ob der Wille des Gesetzgebers der richtlinienkonformen Auslegung entgegensteht. Damit prüft er letztlich, ob die Rechtsfortbildung contra legem wäre, weil er an die legislative Vorgabe gebunden ist. Er verneint das allerdings: „Dem Gesetzgeber kann aber nicht unterstellt werden, er habe bei der Konkurrenzregel des § 5 II HWiG sehenden Auges einen Richtlinienverstoß in Kauf nehmen wollen; der 471
BGHZ 150 248, 254. BGHZ 150 248, 254 mit Verweis auf Reich/Rörig, EuZW 2002, 87, 88. 473 BGHZ 150 248, 256. 472
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Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien
Privilegierung von Realkreditverträgen in einer Haustürsituation lag vielmehr die Annahme zu Grunde, sie sei richtlinienkonform. […] Der Gesetzgeber des HWiG war davon ausgegangen, mit diesem Gesetz die europarechtlichen Vorgaben der seinerzeit kurz vor dem Erlass stehenden Haustürgeschäfte-Richtlinie bereits umgesetzt zu haben […] Die Übereinstimmung von nationalem Recht und Richtlinieninhalt entsprach danach seinem Willen.“474
Der BGH stellt in dieser Passage darauf ab, dass der Gesetzgeber – hätte er den Richtlinienverstoß gekannt – den Richtlinienverstoß nicht in Kauf genommen hätte, d.h. die Norm des § 5 II HWiG nicht in dieser Form erlassen hätte. Er rekurriert damit auf einen hypothetischen Willen des Gesetzgebers, die Vorgaben der Richtlinie stets korrekt umzusetzen. Anders ausgedrückt fingiert er damit bereits in der Entscheidung Heininger einen generellen Umsetzungswillen des Gesetzgebers bei unbewussten Umsetzungsverstößen. Dieser Verweis auf einen fiktiven Umsetzungswillen des Gesetzgebers ist für den BGH aber auch nötig, um das gewünschte Ergebnis zu begründen. Wie der BGH nämlich bereits im Vorlagebeschluss zur Sache Heininger475 begründet hatte, ging der ausdrückliche materielle Regelungswille des Gesetzgebers dahin, ein Widerrufsrecht bei Realkrediten nicht zu gewähren.476 Indem der BGH auf den generellen Umsetzungswillen zurückgreift, stellt er einen fiktiven Willen, nämlich den generellen Willen zur ordnungsgemäßen Richtlinienumsetzung, über die eigentliche Regelungsentscheidung des Gesetzgebers. Ein Motiv wird zu einem vorrangigen Auslegungskriterium aufgewertet. Ein solches gesetzgeberisches Motiv kann nach traditionellen Methoden zwar im Rahmen der genetischen Auslegung Berücksichtigung finden, der materiellen Regelungsentscheidung vorrangig ist es jedoch nicht. Demzufolge modifiziert der BGH die nationalen Methoden und verschiebt damit gleichzeitig die traditionelle Contralegem-Grenze, die eine Gesetzesanwendung gegen die im Wortlaut ausgedrückte, noch aktuelle Regelungsentscheidung des Gesetzgebers nicht zulässt. Auf die Frage der Verschiebung der Contra-legem-Grenze durch die Fiktion eines Umsetzungswillens geht der BGH allerdings im Fall Heininger nicht ein. Der richtlinienwidrige Zustand wurde nunmehr durch § 312 ff. BGB (unter Aufhebung des HWiG und des späteren § 312a BGB, der auch nach der Schuldrechtsmodernisierung noch die Subsidiaritätsklausel aus dem Haustürwiderrufsgesetz wiederholte) und §§ 491 ff. BGB (unter Aufhebung des VerbrKrG) vom Gesetzgeber behoben. 474
BGHZ 150 248, 257. BGH WM 2000, 26 ff. 476 Ausführlicher dazu: Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 278 f.; Felke, MDR 2002, 225, 227 f.; Hochleitner/Wolf, WM 2002, 529, 531. 475
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c) Fazit Mit der Feststellung des EuGH, dass ein Umsetzungsdefizit besteht, „mutiert ein Normtext, der aus innerstaatlicher Perspektive nach den relevanten Auslegungskriterien (insbesondere Wortlaut und Gesetzeszweck) einen klaren und eindeutigen Regelungsinhalt hat, dann – und schon dann – zu einer mehrdeutigen Aussage, wenn dieser verlässlich ermittelte Regelungsinhalt einer EG-Richtlinie widerspricht“477, auf diese Weise beschreibt es treffend M. Herdegen. Die Richtlinie wäre damit in der Lage, sich selbst die für die Rechtsfortbildung erforderliche Lücke in der nationalen Rechtsordnung zu schaffen. Dazu ist nach der Heininger-Rechtsprechung des BGH nicht einmal erforderlich, dass der gesetzgeberische Irrtum sich in den Materialien nachweisen lässt. Es scheint stattdessen auszureichen, dass der Gesetzgeber sich nicht ausdrücklich gegen die Richtlinie ausgesprochen hat, sodass ein Wille zur ordnungsgemäßen Umsetzung der Richtlinie fingiert werden kann. Dies entspricht letztlich der These vom Vorrang des (generellen) Umsetzungswillens.478 Wenn aber entgegenstehende Richtlinienvorgaben trotz entgegenstehender Regelungsabsichten des Gesetzgebers eine Lücke im nationalen Recht aufwerfen und eine Rechtsfortbildung zulassen, verschiebt dies nicht nur methodisch die Contra-legem-Grenze, sondern auch die Kompetenzverteilung im nationalen Recht. Eine aktuelle, legislative Entscheidung wird zugunsten der Richtlinie nicht respektiert. Es ist zu klären, ob dies zulässig ist. 2. Der Fall Quelle (BGHZ 179, 27-43) a) Sachverhalt und Problemstellung Der Quelle-Fall des BGH479 wurde bereits eingangs480 dargestellt. Er warf die rechtliche Frage auf, ob ein Verkäufer von einem Verbraucherkäufer Nutzungsersatz für die Nutzung einer mangelhaften Sache verlangen kann. Mangels der zum Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht existierenden Norm des § 474 II BGB war der Verweis in §§ 439 IV BGB 481 auf die Regelungen des Nutzungsersatzes nach § 346 I, II 1 Nr. 1 BGB nach seinem
477
Herdegen, WM 2005, 1921, 1922. Dazu s. v.a. Teil 2, B.II.2.b)(3)(a), S. 151 ff. 479 BGH NJW 2009, 427 ff. 480 S. oben Einleitung, S. 1. 481 Der § 439 IV BGB: Liefert der Verkäufer zum Zwecke der Nacherfüllung eine mangelfreie Sache, so kann er vom Käufer Rückgewähr der mangelhaften Sache nach Maßgabe der §§ 346 bis 348 verlangen. 478
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Wortlaut nicht beschränkt auf Unternehmergeschäfte.482 Daher hätte unter rein nationaler Perspektive auch der Verbraucher dem Verkäufer etwaige Nutzungen bei Austausch der Sache erstatten müssen. Mit der Frage befasst, entschied der EuGH jedoch, dass ein solcher Nutzungsersatzanspruch des Verkäufers gegenüber dem Verbraucher nach der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie unzulässig ist.483 Was das nationale Recht betraf, war der BGH allerdings im Vorlagebeschluss davon ausgegangen, dass gemäß §§ 439 IV, 346 I, II 1 Nr. 1 BGB dem Verkäufer ein Nutzungsanspruch zusteht. Der BGH erkennt zwar die mögliche Richtlinienwidrigkeit, sieht aber „keine Möglichkeit, die unangemessene gesetzliche Regelung im Wege der Auslegung zu korrigieren. Dem steht neben dem eindeutigen Wortlaut insbesondere der in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck gebrachte eindeutige Wille des Gesetzgebers entgegen.“ 484
Und weiter sogar: „Eine einschränkende Auslegung des § 439 Abs. 4 BGB dahin, dass die Verweisung auf die Rücktrittsvorschriften nicht auch einen Anspruch des Verkäufers auf Nutzungsvergütung begründet, widerspräche somit dem Wortlaut und dem eindeutig erklärten Willen des Gesetzgebers. Eine solche Auslegung ist unter Berücksichtigung der Bindung der Rechtsprechung an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht zulässig (BVerfGE 71, 81, 105; 95, 64, 93). Die Möglichkeit der Auslegung endet dort, wo sie mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde (BVerfGE 18, 97, 111; 98, 17, 45; 101, 312, 319).“485
Der BGH erkennt in dieser Passage seine verfassungsrechtliche Bindung an Recht und Gesetz und damit die Unzulässigkeit einer Rechtsfindung contra legem. Damit stand an sich als Ergebnis der Gesetzesanwendung fest, dass der Verkäufer einen Nutzungsanspruch gegen den Verbraucherverkäufer geltend machen kann. Der BGH erörterte nicht, ob in Fällen der Richtlinienwidrigkeit des nationalen Rechts die traditionelle Contra-legemGrenze nicht eingreift bzw. ob sie zu verschieben ist. Ginge der BGH jedoch davon aus, dass es bei der traditionellen Contra-legem-Grenze verbliebe, wäre eine Vorlage entbehrlich gewesen, denn das nationale Recht wurde als eindeutig charakterisiert. Dementsprechend scheint der BGH davon auszugehen, dass der Erlass der Richtlinie oder die der nationalen Gesetzgeberentscheidung entgegenstehende Interpretation der Richtlinie durch den EuGH das nationale Recht verändert und zu einer Modifikation der Contra-legem-Grenze führen kann.
482 Die Problematik war aber vor Entscheidung des BGH sehr umstritten, Nachweise bei Möllers/Möhring, JZ 2008, 919, 920 in Fn. 15. 483 EuGH, Rs. C-404/06, NJW 2008, 1433 ff. (Quelle), Leitsatz, Rn. 43. 484 BGH EuZW 2007, 286 ff., Rn. 12. 485 BGH EuZW 2007, 286 ff., Rn. 15.
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Der Gerichtshof entschied auf die Vorlage des BGH, dass nach der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie dem Verkäufer ein Nutzungsersatzanspruch gegen den Verbraucherkäufer nicht zustehen könne, da die Nachbesserung dann nicht mehr „unentgeltlich“ im Sinne von Art. 3 III der Richtlinie wäre.486 Das nationale Recht widersprach daher der Richtlinie. b) Die Lösung des BGH Der BGH entschied sich schließlich für eine Anpassung des nationalen Rechts an die Richtlinienvorgaben und urteilte, dass die in § 439 IV BGB Bezug genommenen Vorschriften über den Rücktritt (§§ 346-348 BGB) nur für die Rückgewähr der mangelhaften Sache selbst, nicht auch für einen Anspruch des Verkäufers gegen den Verbraucherkäufer auf Herausgabe der Nutzungen bzw. Wertersatz für die Nutzungen der mangelhaften Sache gelten.487 Diese Korrektur soll mit Hilfe einer „Rechtsfortbildung im Wege der teleologischen Reduktion“ 488 möglich sein. (1) Grammatikalische Interpretation Anders als im Fall Heininger489 hält der BGH im Fall Quelle hingegen an seiner Wortlautinterpretation des Vorlagebeschlusses fest, sodass er eine richtlinienkonforme Auslegung des § 439 IV BGB für nicht möglich erachtet. Der Wortlaut des § 439 IV BGB sei in seiner uneingeschränkten Verweisung auf die §§ 346-348 BGB eindeutig.490 Allerdings sei bei einer richtlinienkonformen Auslegung nicht stehen zu bleiben, sondern es sei auch die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung (hier durch teleologische Reduktion) in Betracht zu ziehen.491 Diese Aussage trifft sowohl nach objektiver als auch nach subjektiver Auslegungstheorie zu (sofern nicht ausnahmsweise der Wortlaut z.B. durch konkrete Zahlenangaben o.ä. eindeutig ist). Bei der Gesetzesanwendung wird nach beiden Ansichten stets auch eine den Wortlaut übersteigende Rechtsfindung in Betracht gezogen. Die Voraussetzung einer solchen Rechtsfortbildung definiert der BGH wie nach traditioneller Methode als (verdeckte) Regelungslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes.492 Insofern hält sich der BGH an anerkannte methodische Regeln.
486
EuGH, Rs. C-404/06, NJW 2008, 1433 ff. (Quelle), Leitsatz, Rn. 43. BGH NJW 2009, 427 ff., 3. Leitsatz. 488 BGH NJW 2009, 427 ff., Rn. 22. 489 Dazu oben Teil 2, C.I.1., S. 174 ff. 490 BGH NJW 2009, 427 ff., Rn. 20. 491 BGH NJW 2009, 427 ff., erster Leitsatz, Rn. 21. 492 BGH NJW 2009, 427 ff., Rn. 22. 487
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Die Unvollständigkeit leitet der BGH aus einem Vergleich des Wortlauts von § 439 IV BGB mit der Richtlinie her: „Es liegt eine verdeckte Regelungslücke […] vor, weil die Verweisung in § 439 Abs. 4 BGB keine Einschränkung für den Anwendungsbereich der Richtlinie enthält und deshalb mit dieser nicht im Einklang steht.“493
(2) Genetische Interpretation Begrenzt wird die Rechtsfortbildung nach traditionellen Methoden allerdings durch die Contra-legem-Grenze, die subjektiv anhand des aktuellen Gesetzgeberwillens, objektiv anhand des Gleichlaufs von Wortsinn und Gesetzgeberentscheidung definiert wird. Steht also ein (im Wortlaut ausgedrückter) Gesetzgeberwille entgegen, wäre eine anderweitige Rechtsfindung unzulässig. Auf den in den Gesetzesmaterialien ausgedrückten Willen des Gesetzgebers geht der BGH auch ein, indem er die Begründung des Koalitionsentwurfs zum Schuldrechtsmodernisierungsgesetz zu § 439 IV BGB zitiert: „[…] dem Verkäufer [steht] ein Rückgewähranspruch nach den Vorschriften über den Rücktritt zu. Deshalb muss der Käufer […] auch die Nutzungen, also gem. § 100 auch die Gebrauchsvorteile, herausgeben. Das rechtfertigt sich daraus, dass der Käufer mit der Nachlieferung eine neue Sache erhält und nicht einzusehen ist, dass er die zurückzugebende Sache in dem Zeitraum davor unentgeltlich nutzen können soll und so noch Vorteile aus der Mangelhaftigkeit ziehen können soll. Mit der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie ist eine derartige Verpflichtung des Verbrauchers (Käufers) vereinbar. Zwar bestimmt deren Artikel 3 Abs. 2 ausdrücklich den Anspruch des Verbrauchers auf eine „unentgeltliche“ Herstellung des vertragsgemäßen Zustands. […] Der vertragsgemäße Zustand wird indes durch die Lieferung der neuen Ersatzsache hergestellt. […] Zu den Kosten kann aber nicht die Herausgabe von Nutzungen der vom Verbraucher benutzten mangelhaften Sache gezählt werden.“494
Diese im Urteil zitierte Passage der Gesetzesmaterialien soll zeigen, dass der Gesetzgeberwille zwiegespalten war. Dies ermöglichte dem BGH, die „Planwidrigkeit“ der Unvollständigkeit des nationalen Gesetzes zu bejahen: „Dass diese Unvollständigkeit des Gesetzes planwidrig ist, ergibt sich daraus, dass der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung ausdrücklich seine Absicht bekundet hat, auch und gerade hinsichtlich des Nutzungsersatzes eine richtlinienkonforme Regelung zu schaffen. Somit steht die konkrete Regelungsabsicht hinsichtlich des Nutzungsersatzes nicht lediglich im Widerspruch zu einem generellen, allgemein formulierten Umsetzungswillen […]. Vielmehr besteht ein Widerspruch zur konkret geäußerten, von der Annahme der Richtlinienkonformität getragenen Umsetzungsabsicht des Gesetzgebers. Deshalb ist auszuschließen, dass der Gesetzgeber § 439 Abs. 4 BGB in gleicher Weise
493 494
BGH NJW 2009, 427 ff., Rn. 25. BT-Drucks. 14/6040, S. 232 f., vgl. BGH NJW 2009, 427 ff., Rn. 23.
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erlassen hätte, wenn ihm bekannt gewesen wäre, dass die Vorschrift nicht im Einklang mit der Richtlinie steht.“495
Zum einen sei es also die Absicht des Gesetzgebers gewesen, dem Verkäufer für den Fall der Ersatzlieferung einen Anspruch auf Herausgabe der vom Käufer gezogenen Nutzungen zu geben. Diese gesetzgeberische Sachentscheidung stelle sich nach der Entscheidung des EuGH nun als fehlerhaft heraus. Zum anderen sollte aber nach dem Willen des Gesetzgebers gleichzeitig eine richtlinienkonforme Regelung geschaffen werden. 496 Der Gesetzgeberwille war daher insofern planwidrig, als eine konkrete Sachregelung geschaffen wurde, die richtlinienwidrig war, obwohl der Gesetzgeber bekundet hatte, die Richtlinie ordnungsgemäß umsetzen zu wollen. Aufgrund dieser konkreten Äußerung zur Umsetzungsabsicht musste der BGH die Frage nicht entscheiden, ob auch die Richtlinie selbst eine planwidrige Unvollständigkeit des nationalen Rechts begründet.497 Der BGH stellt den konkret geäußerten Umsetzungswillen des Gesetzgebers auf eine Stufe mit der eigentlichen gesetzgeberischen Regelungsentscheidung. Zwar wird auch nach traditionellen Methoden das Motiv zur Schaffung einer Regelung (hier die Umsetzung der Richtlinie) bei der genetischen Auslegung berücksichtigt. Allerdings kommt der konkreten getroffenen Regelungsentscheidung des Gesetzgebers ein größeres Gewicht zu. Insbesondere bildet die aktuelle Regelungsentscheidung (nach objektiver Theorie gemeinsam mit dem Wortlaut) die Contra-legem-Grenze. Dementsprechend modifiziert der BGH an dieser Stelle die nationalen Methoden, indem er den Willen zur ordnungsgemäßen Richtlinienumsetzung auf eine Stufe stellt mit dem Willen einer konkreten Regelungsentscheidung. Durch die Gleichstellung von konkreter Regelungsentscheidung und Umsetzungswille stand der BGH schließlich vor dem Problem, wie eine Kollision zwischen der Absicht zu einer konkreten Sachregelung mit der „konkret geäußerten, von der Annahme der Richtlinienkonformität getragenen Umsetzungsabsicht des Gesetzgebers“498 zu lösen ist. Der BGH entschied sich für den Vorrang der konkret geäußerten Umsetzungsabsicht, die die konkrete Sachentscheidung überlagern soll. Die Regelungslücke aufgrund des zu weitreichenden Wortlauts des § 439 IV BGB konnte so mittels Reduktion auf den Umsetzungswillen, d.h. einen mit Art. 3 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie zu vereinbarenden Inhalt, geschlossen werden.499 495
BGH NJW 2009, 427 ff., Rn. 25. BGH NJW 2009, 427 ff., Rn. 24. 497 Zu dieser Frage Gebauer, GPR 2009, 82, 84. 498 BGH NJW 2009, 427 ff., Rn. 25. 499 BGH NJW 2009, 427 ff., 2. Und 3. Leitsatz, Rn. 21 ff., 26. 496
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(3) Reichweite der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung Im Fall Quelle nimmt der BGH zudem zur Reichweite der richtlinienkonformen Rechtsfindung Stellung, was weitere Rückschlüsse auf seine Vorstellungen zur Methode der Rechtsfindung erlaubt: Der Verbraucherbegriff des deutschen Rechts nach § 13 BGB ist weiter gefasst als der Verbraucherbegriff nach Art. 1 II a der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie.500 Eine Regelungslücke bestehe deshalb nur im Bereich des Verbraucherbegriffs der Richtlinie. Dennoch müsse eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung auch dann stattfinden, wenn ein Verbraucher im Sinne der Definition des nationalen Rechts beteiligt sei, weil insofern ein Einheitlichkeitswille des Gesetzgebers in Bezug auf den Verbraucherbegriff bestehe. Der Gerichtshof stützt die Regelungslücke also das eine Mal auf die fehlende Richtlinienkonformität, das andere Mal auf den Willen des nationalen Gesetzgebers.501 Den Einheitlichkeitswillen sieht der BGH allerdings dann nicht mehr für gegeben an, wenn weder ein Verbraucher im Sinne des nationalen Rechts, noch im Sinne der Richtlinie vorliegt, d.h. wenn sich zwei Unternehmer gegenüberstünden. Diese Fälle lägen außerhalb des Regelungsbereichs der Richtlinie und würden damit keine planwidrige Regelungslücke im nationalen Recht aufwerfen.502 Daraus lässt sich schlussfolgern, dass sich im Richtlinienbereich offenbar die planwidrige Unvollständigkeit des nationalen Rechts (allein) aus der fehlenden Richtlinienkonformität ergeben kann.503 Nur außerhalb dieses Bereichs, z.B. bei überschießender Umsetzung der Richtlinie, scheint für den BGH die Notwendigkeit zu bestehen, auf andere Argumente wie den Einheitlichkeitswillen zurückzugreifen. c) Rechtfertigung des Lösungsansatzes Die Folge dieser Methode ist, dass eine nach traditionellen Methoden eindeutige Gesetzesaussage allein durch den Vergleich zur Richtlinie lückenhaft wird, wenn das ausgelegte nationale Recht der Richtlinie widerspricht. Die Planwidrigkeit des nationalen Rechts ergibt sich nicht aus der nach traditionellen Methoden maßgebenden Gesetzgeberentscheidung, sondern aus der Tatsache, dass der Gesetzgeber ordnungsgemäß umsetzen wollte, ihm aber ein Irrtum unterlaufen ist. Mit diesem Vorgehen kann eine kon500
Vgl. BGH NJW 2009, 427 ff., Rn. 27. Ist nur ein Verbraucher im Sinne des nationalen Rechts beteiligt, liegt der Grund der Rechtsfortbildung daher nicht in der Richtlinie, sondern beim Willen des nationalen Gesetzgebers. Herresthal, NJW 2008, 2475, 2477 spricht daher von „richtlinienbezogener Rechtsfortbildung“. 502 BGH NJW 2009, 427 ff., Rn. 28. 503 Gebauer, GPR 2009, 82, 84. 501
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krete, im Wortlaut zum Ausdruck kommende Zwecksetzung des Gesetzgebers im Wege der Rechtsfortbildung stets hinter eine konkret geäußerte Absicht zu richtlinienkonformer Umsetzung zurücktreten.504 Letztlich wird eine Regelungslücke kreiert, obwohl gar keine Lücke der konkreten Regelungsentscheidung besteht.505 Die damit einhergehende Veränderung der Contra-legem-Grenze führt zu einer Verschiebung der Kompetenzen zwischen Legislative und Judikative, denn ein aktueller Gesetzgeberwille wird missachtet. Dies bedarf vor dem Hintergrund des Art. 20 III GG einer Begründung. Die Grenze der Bindung der Gerichte an Recht und Gesetz nach Art. 20 III GG erkennt der BGH zwar; sie sei aber durch dieses Vorgehen nicht verletzt. Zwar dürften die Gerichte nicht eindeutige Entscheidungen des Gesetzgebers aus eigener rechtspolitischer Vorstellung ändern.506 Diese tue das Gericht aber dann nicht, wenn eine „konkrete Absicht des Gesetzgebers […] eine richtlinienkonforme Regelung zu schaffen“507 vorliege. In diesem Fall sei der Gesetzgeberwille lückenhaft und lasse eine Rechtsfortbildung zu. Zudem sei der Gesichtspunkt der Rechtssicherheit, insbesondere des Vertrauensschutzes, nicht verletzt. Die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung halte sich im Rahmen vorhersehbarer Entwicklung, sodass der auf das nationale Recht Vertrauende nicht schutzwürdig sei.508 d) Fazit Anders als noch im Fall Heininger erkennt der BGH erstmals eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung ausdrücklich an. Methodisch geht er allerdings weniger weit als im Fall Heininger, denn dort ließ sich aus den Gesetzesmaterialien kein konkreter Umsetzungswille herauslesen, sondern wurde generell vermutet. Im Fall Quelle konnte der BGH hingegen auf die Zwiespältigkeit der Materialien und damit des Gesetzgeberwillens abstellen. Er löst den sich ergebenden Konflikt zwischen dem konkreten Umsetzungswillen und der materiellen Regelungsentscheidung zugunsten des Umsetzungswillens auf und verschiebt damit die Contra-legem-Grenze, indem er das gesetzgeberische Motiv maßgeblich berücksichtigt. Diese Verschiebung hält er für gerechtfertigt, weil der Richter keine eigene Regelungsentscheidung setze und nur dem anderen, richtlinienkonformen Gesetzgeberwillen zur Wirksamkeit verhelfe. Der BGH scheint damit da504
Grosche/Höft, NJOZ 2009, 2294, 2297. Freitag, EuR 2009, 796, 799. 506 BGH NJW 2009, 427 ff., Rn. 31. 507 BGH NJW 2009, 427 ff., Rn. 31 unter Berufung auf Herresthal, NJW 2008, 2475, 2477. Vgl. auch Fischinger, EuZW 2008, 312, 312 ff. 508 BGH NJW 2009, 427 ff., Rn. 33. 505
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von auszugehen, dass die Gewaltenteilung nicht betroffen ist, wenn sich die Judikative (allein) am gesetzgeberischen Motiv und damit der Richtlinie orientiert. Ausdrücklich verneint der BGH das Vorliegen von Vertrauensschutz. Fraglich ist allerdings, ob sich die vom BGH praktizierte Form der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung im Wege der teleologischen Reduktion tatsächlich im Rahmen vorhersehbarer Entwicklung bewegt. Nicht eingegangen wird insbesondere auf den Gesichtspunkt, dass das Risiko der fehlerhaften Richtlinienumsetzung allein auf den Bürger verlagert wird.509 Man muss nämlich auch vor dem Gesichtspunkt von Rechtssicherheit erkennen, dass die Absicht, eine Richtlinie umzusetzen, regelmäßig nicht im Gesetzeswortlaut deutlich wird.510 3. Der Fall Weber (BGH NJW 2012, 1073 ff.) a) Sachverhalt und Problemstellung Hintergrund des Falles Weber 511 war ein Kaufvertrag über Fliesen zwischen einem Verbraucher und einem Baustoffhandel. Die Fliesen hatte Letzterer von einem italienischen Unternehmen bezogen und ohne stichprobenartige Untersuchung weiterverkauft. Nachdem der Verbraucherkäufer die Fliesen von einem dritten Unternehmen hatte verlegen lassen, zeigten sich auf ihnen Schattierungen, die mit bloßem Auge erkennbar waren und wie Schmutzflecken aussahen. Ein Sachverständiger stellte fest, dass es sich um Mikroschleifspuren auf der Fliesenoberfläche handelte und Abhilfe nur durch Austausch der Fliesen möglich war. Der Baustoffhandel wies die erhobene Mängelrüge zurück und lehnte jegliche Art der Nacherfüllung ab. Jedenfalls berief er sich hilfsweise auf Unverhältnismäßigkeit der Nacherfüllung. Die Fliesen hatten im Baumarkt ca. 1400 Euro gekostet. Die Kosten für den kompletten Austausch (Aus- und Einbau) beliefen sich auf ca. 5800 Euro. Der BGH hatte zwei Fragen zu entscheiden: zum einen die Frage, was zum Pflichtenprogramm des Verkäufers bei der Nacherfüllung nach § 439 I BGB gehört. Es war zu klären, ob der Käufer nur die Lieferung neuer Fliesen schuldet oder zusätzlich auch den Ausbau der alten Fliesen 509
Vgl. Freitag, EuR 2009, 796, 800. Grosche/Höft, NJOZ 2009, 2294, 2308; Freitag, EuR 2009, 796, 800. Insofern ist auch der vom BGH erörterte Ausschluss eines Vertrauensschutzes fraglich, s. BGH NJW 2009, 427 ff., Rn. 32 ff. 511 BGH NJW 2012, 1073 ff., Rn. 1 ff. Ähnliche Sachverhalte lagen den Entscheidungen des BGH NJW 2008, 2837 (Parkettstäbe) und NJW 1983, 1479 (Dachziegel) zu Grunde. Auch das AG Schorndorf hatte in ähnlicher Sache dem EuGH vorgelegt, Beschluss vom 25.2.2009, Az.: 2 C 818/08 – BeckRS 2009, 88603. Zum Reisevertragsrecht s. BGH WM 2012, 368 ff., Rn. 18 ff. 510
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übernehmen muss. Wäre auch der Ausbau Teil des Pflichtenprogramms des Verkäufers, stünde dieser einem Werkunternehmer gleich, selbst dann, wenn ihn kein Verschulden an der mangelhaften Lieferung träfe. Würde der Ausbau jedoch nicht dem Verkäufer aufgebürdet, dann würden den Käufer die doppelten Einbau- sowie die Ausbaukosten treffen, obwohl auch ihn kein Verschulden trifft. Diese Problematik löste der BGH bis zu der Entscheidung Weber stets dahingehend auf, dass der Verkäufer nach § 439 I BGB „nicht weniger, aber auch nicht mehr“512 als nach § 433 I BGB schulde. Er schuldete also lediglich die Herstellung des ursprünglich geschuldeten Erfolgs und damit die Bereitstellung einer mangelfreien Sache. Zum anderen stellte sich die Frage, ob der Verkäufer den Ausbau der Fliesen wegen absoluter Unverhältnismäßigkeit gem. § 439 III BGB verweigern kann. Nach dieser Vorschrift kann der Verkäufer nicht nur die vom Käufer gewählte Art der Nacherfüllung verweigern, wenn diese im Vergleich zu der anderen Art der Nacherfüllung unverhältnismäßig ist (relative Unverhältnismäßigkeit), sondern auch, wenn die vom Käufer gewählte oder die einzig mögliche Art der Nacherfüllung für sich allein unverhältnismäßige Kosten verursachen würde (absolute Unverhältnismäßigkeit), § 439 III 2.Hs. BGB. Da die Nachbesserung der Fliesen technisch ausgeschlossen war, musste der BGH klären, ob ein Fall der absoluten Unverhältnismäßigkeit gegeben war. In beiden Fällen kommen dem BGH Zweifel an der Richtlinienwidrigkeit des nationalen Gesetzes, denn Art. 3 II und III der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie sehen vor, dass die Nachbesserung des Verbrauchsguts unentgeltlich erfolgen soll und eine Nacherfüllung verweigert werden kann, wenn sie im Vergleich zur alternativen Abhilfemöglichkeit unverhältnismäßig ist. Auf die entsprechende Vorlage des BGH stellte der EuGH die Richtlinienwidrigkeit des deutschen Rechts fest. Art. 3 II, III der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie fordere vom Verkäufer bei Lieferung eines vertragswidrigen Verbrauchsguts, das vom Verbraucher eingebaut wurde, den Ausbau bzw. die Kosten hierfür zu tragen. Diese Kosten seien nach Art. 3 III der Richtlinie auch zu übernehmen, wenn sie unverhältnismäßig hoch sind. Sie können allerdings auf einen angemessenen Betrag beschränkt werden.513
512
BGHZ 177, 224 ff., Rn. 18; Vgl. auch BGH JZ 2011, 1015, 1020, Rn. 49. EuGH, Rs. C-65/09 und C-87/09, NJW 2011, 2269 ff. (Gebrüder Weber), v.a. 1. und 2. Leitsatz. 513
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b) Lösung des BGH zum 1. Problemkomplex Bei der Frage, ob der Verkäufer auch den Ausbau der gelieferten, mangelhaften Sache schuldet, wenn die Sache ihrer Bestimmung gemäß beim Käufer eingebaut wurde, sah sich der BGH aufgrund der Entscheidung des EuGH, der eine Verpflichtung des Verkäufers zum Ausbau bzw. der Kostentragung hierfür bejaht hatte514, zu einer Korrektur seiner ursprünglichen Rechtsprechung gezwungen. Er führt aus „§ 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB [ist] richtlinienkonform dahin auszulegen, dass die dort genannte Nacherfüllungsvariante ‚Lieferung einer mangelfreien Sache‘ auch den Ausbau und den Abtransport der mangelhaften Kaufsache – hier der von der Beklagten gelieferten mangelhaften Bodenfliesen – umfasst.“515
Die Auslegung des Begriffs „Lieferung einer mangelfreien Sache“ in § 439 I 2.Alt. BGB decke von seinem Wortlaut auch den Fall des Ausbaus der mangelfreien Sache ab.516 Zwar verstehe man im nationalen Recht den Begriff der Lieferung als das „Bringen“ oder „Übergeben“ einer bestellten Sache, allerdings sei der Begriff ausfüllungsfähig. Der Gesetzgeber habe den Begriff der „Ersatzlieferung“, der in der Richtlinie verwendet werde, mehrfach dem nationalen Begriff der Lieferung gleichgesetzt. Der Begriff der Ersatzlieferung lasse aber gerade die Auslegung zu, dass der Verkäufer verpflichtet sei, zu ersetzen, d.h. auszutauschen. Gestützt werde dies durch eine systematische Betrachtung: Der § 439 IV BGB verweise nämlich auf § 346 I BGB, wonach der Verkäufer die Rückgewähr der mangelhaften Sache verlangen könne, sodass damit dem § 439 BGB ein gewisses (Aus)Tauschelement innewohne.517 Diese Argumentation genügt dem BGH, um eine richtlinienkonforme Auslegung im Rahmen des noch möglichen Wortsinns vorzunehmen. Problematisch ist an der Auslegung des BGH, dass er den vom nationalen Gesetzgeber geprägten Begriff der „Lieferung“ mit dem in der Richtlinie verwendeten Begriff der „Ersatzlieferung“ auslegt. Ohne dass der BGH dies als solche bezeichnet, ließe sich diese Auslegung aber als genetische Auslegung auffassen, denn der BGH hat bei der Entwicklung der deutschen Norm den Richtlinientext offenbar zugrunde gelegt. Dies stützt der BGH mit einem weiteren systematischen Argument. Da insofern das Gesetz mehrdeutig erscheint, stützt sich der BGH im Wege der richtlinienkonformen Auslegung auf das richtlinienkonforme Ergebnis. 514
EuGH, Rs. C-65/09 und C-87/09, NJW 2011, 2269 ff. (Gebrüder Weber), 1. Leitsatz, Rn. 46 ff. 515 BGH NJW 2012, 1073 ff., Rn. 25. 516 BGH NJW 2012, 1073 ff., Rn. 26 m.w.N. zu in der Literatur vertretenen Ansichten. 517 BGH NJW 2012, 1073 ff., Rn. 26 m.w.N.
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c) Lösung des BGH zum 2. Problemkomplex (1) Grammatikalische Interpretation Bezüglich der Frage der Verweigerung der Nacherfüllung wegen absoluter Unverhältnismäßigkeit hatte der EuGH entschieden, dass nach Art. 3 III der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie eine Verweigerung der Kostenübernahme durch den Verkäufer nicht in Betracht komme. Diese könne allenfalls auf einen angemessenen Betrag beschränkt werden.518 Der BGH hält eine Konformauslegung im Rahmen des noch möglichen Wortsinns (systematisch gestützt durch die Norm des § 440 S. 1 BGB) nicht für vertretbar, sodass eine richtlinienkonforme Auslegung des § 439 III BGB nicht in Betracht komme. § 439 III 2.Hs. BGB könne nur so verstanden werden, dass beide Formen der Nacherfüllung wegen unverhältnismäßiger Kosten verweigert werden können.519 Stattdessen fordert der BGH daher eine „richtlinienkonforme[n] Rechtsfortbildung durch teleologische Reduktion des § 439 Abs. 3 BGB auf einen mit Art. 3 der Richtlinie zu vereinbarenden Inhalt.“ 520
Die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung setzt, wie nach nationalen Methoden, die planwidrige Unvollständigkeit des nationalen Rechts voraus. Ebenso wie im Fall Quelle521 ergibt sich für den BGH die Regelungslücke aus dem Vergleich der Richtlinie mit dem zu weitreichenden Wortlaut des § 439 III BGB, der auch die absolute Unverhältnismäßigkeit umfasst. (2) Genetische Interpretation Im Hinblick auf die Planwidrigkeit der nationalen Norm greift der BGH auf den Gesetzgeberwillen zurück. Er prüft zur Ermittlung des Gesetzgeberwillens die Gesetzesmaterialien, die unter anderem Folgendes vorsehen: „die Interessenlage des Käufers gebietet es nicht, ihm den Nacherfüllungsanspruch auch dann zu geben, wenn sie vom Verkäufer unverhältnismäßige Anstrengungen erfordert. Der Käufer wird hier auf seine Ansprüche auf Rücktritt und Minderung (sowie ggf. Schadensersatz) verwiesen. […] Die in § 439 Abs. 3 Satz 1 RE vorgesehene Verhältnismäßigkeitsprüfung bezieht sich allein auf die vom Käufer gewählte Art der Nacherfüllung. Ist sie zu Recht von dem Verkäufer verweigert worden, so hat dies nicht einen Ausschluss des Nacherfüllungsanspruchs des Käufers insgesamt zur Folge. Vielmehr beschränkt sich der Nacherfüllungsanspruch dann auf die andere Art der Nacherfüllung, wenn der Verkäufer nicht auch sie
518 EuGH, Rs. C-65/09 und C-87/09, NJW 2011, 2269 ff. (Gebrüder Weber), 2. Leitsatz, Rn. 67 ff. 519 BGH NJW 2012, 1073 ff., Rn. 28, 29. 520 BGH NJW 2012, 1073 ff., Rn. 30. 521 BGH NJW 2009, 427 ff., dazu s. oben Teil 2, C.I.2., S. 179 ff.
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verweigern kann. Erst dann kann der Käufer zurücktreten oder mindern, ggf. Schadensersatz statt der Leistung verlangen.“522
Der Gesetzgeber ging davon aus, dass bei Unverhältnismäßigkeit einer Art der Nacherfüllung, diese verweigert werden kann. Außerdem kann aber auch die andere Art der Nacherfüllung dann verweigert werden, wenn beide unverhältnismäßig sind. Die Einrede ist also absolut ausgestaltet, was auch der BGH erkennt. Allerdings habe sich der Gesetzgeber geirrt in dem Glauben, dass die Richtlinie auch die absolute Unverhältnismäßigkeit erfasse.523 Art. 3 III der Richtlinie sei nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nämlich so zu verstehen, dass dem Käufer die einzig mögliche Art der Nacherfüllung nicht genommen werden könne. Ein Anspruch des Verbrauchers auf Erstattung der Kosten für den Ausbau könne nur auf einen angemessenen Betrag beschränkt werden.524 Deshalb stehe das nationale Gesetz in § 439 III 3 BGB „in Widerspruch zu dem mit dem Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts verfolgten Grundanliegen, die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie bis zum Ablauf des 31. Dezember 2001 ordnungsgemäß umzusetzen (vgl. hierzu auch BT-Drucks. 14/6040, S. 1).“ 525
Allerdings findet der BGH nicht wie im Fall Quelle einen ausdrücklichen Hinweis in den Gesetzesmaterialien auf den Willen, die Richtlinie ordnungsgemäß umzusetzen. Vielmehr begründet der Gesetzgeber stattdessen nur, warum er die absolute Verweigerung bei Unverhältnismäßigkeit für erforderlich hält. Dementsprechend muss der BGH auf „das mit dem Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts verfolgte Grundanliegen“ zurückgreifen, die Richtlinie ordnungsgemäß umzusetzen. Der BGH stellt damit einen generellen Willen zur ordnungsgemäßen Richtlinienumsetzung einer konkreten Sachregelung gegenüber. Diesen Widerspruch lässt er genügen, um die für die Rechtsfortbildung erforderliche planwidrige Gesetzeslücke zu begründen. Diese Rechtsprechung grenzt er zu derjenigen in der Quelle-Entscheidung ab: „Dass der Gesetzgeber sich – anders als bei der Schaffung des § 439 Abs. 4 BGB – nicht explizit mit der Frage der Richtlinienkonformität des § 439 Abs. 3 Satz 3 BGB auseinandergesetzt, sondern diese stillschweigend vorausgesetzt hat, ändert an der Planwidrigkeit der nunmehr aufgetretenen Regelungslücke nichts […]. Maßgebend ist, dass das ausdrücklich angestrebte Ziel einer richtlinienkonformen Umsetzung durch die Regelung des § 439 Abs. 3 Satz 3 BGB nicht erreicht worden ist und ausgeschlossen werden kann, dass
522
BT-Drucks. 14/6040, S. 232. BGH NJW 2012, 1073 ff., Rn. 32, 33. 524 BGH NJW 2012, 1073 ff., Rn. 33. 525 BGH NJW 2012, 1073 ff., Rn. 33. 523
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der Gesetzgeber § 439 Abs. 3 Satz 3 BGB in gleicher Weise erlassen hätte, wenn ihm bekannt gewesen wäre, dass die Vorschrift nicht richtlinienkonform ist.“ 526
Der BGH bekräftigt damit ausdrücklich, dass auch eine stillschweigende und damit letztlich fingierte Umsetzungsabsicht des Gesetzgebers ausreicht, um eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung zu begründen. Er entwickelt damit seine Quelle-Rechtsprechung weiter. Im Ergebnis führte dieses Vorgehen dazu, dass dem Käufer ein Anspruch auf Erstattung der Ausbaukosten nach § 439 I BGB zustand, der bis zu einer angemessenen Höhe auch geltend gemacht werden konnte, § 439 III BGB. 527 d) Fazit In Fortentwicklung der Quelle-Rechtsprechung stellt der BGH in der Weber-Entscheidung der konkreten Regelungsentscheidung des Gesetzgebers einen generellen Umsetzungswillen gegenüber. Auch dieser fingierte Wille ermöglicht eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung, indem vorrangig auf diesen Umsetzungswillen abgestellt wird und im Vergleich hierzu das nach traditionellen Methoden ausgelegte Gesetz fortbildungsbedürftig erscheint. Es treten in Zusammenhang mit der Weber-Entscheidung dieselben Probleme, die sich bereits im Zusammenhang mit dem Fall Quelle stellten. Beide Probleme werden allerdings verschärft: Der Gesetzgeberwille zur ordnungsgemäßen Richtlinienumsetzung wird einfach unterstellt und nicht konkret nachgewiesen, sodass die Voraussetzungen eines Übergehens des Gesetzgeberwillens leichter werden. Ein Verschieben der Contra-legem-Grenze ist damit bereits dann zulässig, wenn ein genereller Umsetzungswille des Gesetzgebers fingiert werden kann. Damit erhält die Judikative größere Kompetenzen zur Korrektur des nationalen Rechts zu Lasten der konkreten Gesetzgeberentscheidung. Diese Kompetenzverschiebung könne auch nicht durch den Vertrauensschutzgrundsatz kompensiert werden; auch die Weber-Entscheidung halte sich nämlich im Rahmen vorhersehbarer Entwicklung.528 Der auf das nationale Recht vertrauende Bürger wird allerdings durch das Abstellen auf einen generellen Umsetzungswillen stärker enttäuscht, wenn dieser in den Gesetzesmaterialien keinen Hinweis auf den Willen des Gesetzgebers finden konnte, die Richtlinie ordnungsgemäß umzusetzen.
526
BGH NJW 2012, 1073 ff., Rn. 34. BGH NJW 2012, 1073 ff., 3. Leitsatz, Rn. 35 f. 528 BGH NJW 2012, 1073 ff., Rn. 46 f. 527
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4. Zusammenfassung Hatte der BGH im Fall Heininger529 noch eine richtlinienkonforme Reduktion mit dem Terminus der richtlinienkonformen Auslegung verdeckt, so bekennt er sich seit der Quelle-Entscheidung530 2008 offen zu einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung unter der Voraussetzung einer planwidrigen Regelungslücke. Der Begriff des gesetzgeberischen Planes wird dabei aber nicht nach rein nationalen Gesichtspunkten verstanden, sondern er wird faktisch durch den konkreten, im Zweifel aber auch generellen Umsetzungswillen des Gesetzgebers zur ordnungsgemäßen Richtlinienumsetzung ersetzt.531 Damit ist es dem nationalen Richter möglich, eine richtlinienkonforme Rechtsfindung auch gegen den eigentlichen Plan des Gesetzgebers in der Sache vorzunehmen. Eine Grenze scheint erst dann erreicht – auch wenn sich der BGH dazu noch nicht geäußert hat –, wenn der nationale Gesetzgeber sich ausdrücklich gegen die Richtlinie wendet. Dieser Fall ist praktisch ausgeschlossen. II. Die Ansicht des Bundesarbeitsgerichts im Fall Urlaubsabgeltung Das BAG hatte im März 2009 den Fall Urlaubsabgeltung532 zu entscheiden. 1. Sachverhalt und Problemdarstellung Das BAG hatte zu entscheiden, ob ein wegen Krankheit nicht genommener Jahresurlaub abzugelten ist. Die im Jahr 1978 geborene Klägerin war im Zeitraum von August 2005 bis Ende Januar 2007 bei einer von einer Kirche getragenen Ganztagsgrundschule als Erzieherin beschäftigt. Laut Arbeitsvertrag standen ihr 26 Tage Urlaub zu, der nach der dort geltenden kirchlichen Arbeits- und Vergütungsordnung am 30. Juni des Folgejahres verfallen sollte. Anfang Juni 2006 erlitt die Klägerin einen Schlaganfall. Hinzu kam später eine weitere Krankheit, sodass sie von Juni 2006 bis August 2007 ununterbrochen arbeitsunfähig war. Das Arbeitsverhältnis endete aufgrund einer wirksamen Kündigung zum 31.01.2007. Das BAG hatte zu entscheiden, ob der Klägerin ein Anspruch auf die Abgeltung des wegen Krankheit nicht genommenen Jahresurlaubs von neun Tagen für das Jahr 2005 und 26 Tagen für das Jahr 2006 zusteht. Nach § 7 III BUrlG muss der Urlaub grundsätzlich „im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung des Urlaubs 529
BGHZ 150, 248. BGH NJW 2009, 427 ff. 531 Faust, JuS 2012, 456, 459 spricht diesbezüglich von einem „wesentlichen Fortschritt“ in methodischer Hinsicht. 532 BAG NJW 2009, 2238 ff.; vorgehend LAG Köln BeckRS 2008, 53857 ff. 530
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auf das nächste Kalenderjahr ist nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muss der Urlaub in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahrs gewährt und genommen werden.“ Im Fall der Erkrankung des Arbeitnehmers konnte der Urlaub daher allenfalls bis zum 31. März des Folgejahres übertragen werden (bei anderweitiger vertraglicher Vereinbarung natürlich länger; im Fall des BAG bis zum 30. Juni des Folgejahres). Wurde der Urlaub auch in diesem Zeitraum nicht genommen, verfiel er. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des BAG galt dies auch dann, wenn es einem Arbeitnehmer infolge einer Langzeiterkrankung überhaupt nicht möglich war, den Urlaub zu nehmen.533 Dem Arbeitnehmer blieb nur die Möglichkeit, vor Ablauf des Kalenderjahres bzw. des Übertragungszeitraums rechtzeitig eine Freistellung zu verlangen und damit den Arbeitgeber in Verzug zu setzen. Dann hatte er bei Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses einen Ersatzurlaubsanspruch oder konnte bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses Schadensersatz in Geld verlangen.534 Soweit die Urlaubsgewährung an den Arbeitnehmer aber aufgrund einer Arbeitsunfähigkeit unmöglich war, schied auch ein Verzug des Arbeitgebers aus. Der Urlaubsanspruch erlosch dann mit Ende des Übertragungszeitraums, ohne dass ein Ersatzurlaubsanspruch entstand.535 Der § 7 BUrlG unterfiel jedoch dem Regelungsbereich von Art. 7 I, II der Arbeitszeitrichtlinie536, die der EuGH in einem Vorlagebeschluss, herbeigeführt durch das LAG Düsseldorf537, bereits dahingehend konkretisiert hatte, dass dem Arbeitnehmer ein Anspruch auf Urlaubsabgeltung auch dann zusteht, wenn dieser seinen Urlaub aufgrund von Krankheit nicht nehmen kann.538 Das nationale Recht in seiner Anwendung durch das BAG stand damit in Konflikt zur Arbeitszeitrichtlinie.
533 BAG NZA 1994, 802 ff., 3. Leitsatz, Rn. 17 ff., 24; BAG NZA 1996, 594 ff., Leitsatz, Rn. 21 ff. m.w.N. 534 BAG NZA 2007, 56 ff., Leitsätze 2, 4, 5; s. auch Bauer/Arnold, NJW 2009, 631, 631; Gallner in: Erfurter Kommentar, § 7 BUrlG, Rn. 40. 535 So zumindest das BAG in ständiger Rechtsprechung: BAG NZA 1994, 802 ff., Rn. 17; BAG NZA 2006, 232 ff., Rn. 15; s. auch Gallner in: Erfurter Kommentar, § 7 BUrlG, Rn. 45. 536 Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (sog. Arbeitszeitrichtlinie). 537 LAG Düsseldorf, BeckRS 2009, 53750. 538 In EuGH, Rs. C-350/06 und C-520/06, Slg. 2009, I-179 (Schultz-Hoff), 2. und 3. Leitsatz, Rn. 44 ff., 52. An diese Rechtsprechung sieht sich das BAG gebunden: BAG NJW 2009, 2238 ff., Rn. 47.
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2. Lösung des BAG In der Folge gab das BAG in der Entscheidung Urlaubsabgeltung539 seine frühere Rechtsprechung auf und verwirklichte die durch den EuGH konkretisierten Vorgaben der Richtlinie. a) Die richtlinienkonforme Auslegung Vor Beginn der Prüfung der Rechtsfortbildung bestimmt das BAG zunächst die Ausgangslage bei der richtlinienkonformen Rechtsfindung: „Die nationalen Gerichte haben wegen Art. 249 Abs. 3 EG [nunmehr Art. 288 III AEUV] davon auszugehen, dass der Mitgliedstaat den Verpflichtungen, die sich aus der Richtlinie ergeben, in vollem Umfang nachkommen wollte. […] Die von ihm begründete Verpflichtung verlangt vielmehr, dass die nationalen Gerichte das gesamte innerstaatliche Recht berücksichtigen, um zu beurteilen, inwieweit es angewandt werden kann, damit kein der Richtlinie widersprechendes Ergebnis herbeigeführt wird. Ermöglicht es das nationale Recht durch Anwendung seiner Auslegungsmethoden, eine innerstaatliche Bestimmung so auszulegen, dass eine Kollision mit einer anderen Norm innerstaatlichen Rechts vermieden wird, sind die nationalen Gerichte gehalten, die gleichen Methoden anzuwenden, um das von der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen.“540
Das BAG unterstellt also, dass der Mitgliedstaat, gemeint ist vor allem die Legislative, seinen unionsrechtlichen Verpflichtungen in vollem Umfang nachkommen wollte. Zudem sollen die im nationalen Recht möglichen Kollisionsvermeidungsmechanismen auch im Hinblick auf die Richtlinie angewendet werden. Deshalb seien „§ 7 Abs. 3 und 4 BUrlG so zu verstehen, dass gesetzliche Urlaubsabgeltungsansprüche nicht erlöschen, wenn Arbeitnehmer bis zum Ende des Urlaubsjahres und/oder des Übertragungszeitraums erkrankt und deswegen arbeitsunfähig sind. Das entspricht Wortlaut, Systematik und Zweck der innerstaatlichen Regelungen, wenn die Ziele des Art. 7 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2003/88/EG und der regelmäßig anzunehmende Wille des nationalen Gesetzgebers zur ordnungsgemäßen Umsetzung von Richtlinien berücksichtigt werden“541
Bei der richtlinienkonformen Auslegung zieht das BAG daher alle denkbaren Auslegungskriterien heran. Insbesondere sei der „regelmäßig anzunehmende Wille des nationalen Gesetzgebers zur ordnungsgemäßen Umsetzung von Richtlinien“ zu berücksichtigen. Zwar können gesetzgeberische Motive grundsätzlich im Rahmen der genetischen Auslegung berücksichtigt werden. Allerdings scheint in diesem Zusammenhang das Abstellen auf das Motiv zur ordnungsgemäßen Richtlinienumsetzung problematisch, da § 7 III BUrlG nicht aufgrund der Arbeitszeitrichtlinie vom No539
BAG NJW 2009, 2238 ff. BAG NJW 2009, 2238 ff., Rn. 56. 541 BAG NJW 2009, 2238 ff., Rn. 59. 540
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vember 2003 ergangen ist, sondern bereits seit Erlass des BUrlG 1963 unverändert besteht.542 Der Umsetzungswille des Gesetzgebers wird also durch das BAG fingiert, da bei Erlass des BUrlG die Richtlinie nicht berücksichtigt werden konnte, da sie noch nicht bestand. Warum aber ein Umsetzungswille bei Anwendung von Altrecht zu fingieren sein soll, wird vom BAG nicht erläutert. Stattdessen setzt das BAG den Schwerpunkt der Betrachtung auf den Wortlaut von § 7 III BUrlG, den es für nicht eindeutig hält. Ein „Erfordernis der Erfüllbarkeit der Freistellung, der Verfall des Urlaubsanspruchs und der Surrogationscharakter des Abgeltungsanspruch sind im Gesetzeswortlaut nicht ausdrücklich angelegt“543. Dass der Wortlaut auf verschiedene Art und Weise interpretiert werden könne, zeige auch die frühere Rechtsprechung des Fünften Senats des BAG bis 1982. Dort ging man davon aus, dass der Urlaubsabgeltungsanspruch bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit zum Ende des Übertragungszeitraums nicht verfiel.544 Deshalb hält das BAG bereits eine „einschränkende Gesetzesauslegung im engeren Sinn“545 für möglich. Die Konsequenz des Vorgehens des BAG wäre daher, dass im Rahmen des noch möglichen Wortsinns, wohl aufgrund der Umsetzungsverpflichtung von Art. 288 III AEUV, ein genereller Umsetzungswille der Legislative zu fingieren ist. b) Die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung Ob eine richtlinienkonforme Auslegung im Ergebnis durchgreift, lässt das BAG aber offen, da zumindest eine „richtlinienkonforme Rechtsfortbildung durch teleologische Reduktion der zeitlichen Grenzen des § 7 Abs. 3 Satz 1, 3 und 4 BUrlG“546 denkbar sei. Erforderlich für die Reduktion sei eine „verdeckte Regelungslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes“547. Auf die Unvollständigkeit des Gesetzes geht das BAG nicht ein, da es eine richtlinienkonforme Auslegung für möglich hält. Wenn man aber die richtlinienkonforme Auslegung ablehnt, scheint für das BAG automatisch das nationale Recht auch unvollständig, da das nationale Recht dann den Zielen der Richtlinie widerspricht. Die Planwidrigkeit der Regelungslücke leitet das BAG aus der letzten Gesetzesänderung von § 7 I BUrlG ab, bei
542
BGBl. vom 8.1.1963, S. 2. BAG NJW 2009, 2238 ff., Rn. 544 BAG NJW 2009, 2238 ff., Rn. 545 BAG NJW 2009, 2238 ff., Rn. 546 BAG NJW 2009, 2238 ff., Rn. 547 BAG NJW 2009, 2238 ff., Rn. 543
62. 62 m.w.N. zur früheren Rechtsprechung. 60. 64. 66.
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der Satz 2 der heutigen Regelung eingefügt wurde.548 Diese Norm zeigt ein gesundheitspolitisches Anliegen des nationalen Gesetzgebers, weil Urlaub nach einer medizinischen Vorsorge- oder Rehabilitationsmaßnahme stets zu gewähren sei. Demzufolge decken sich die Anliegen des Gesetzgebers und des Richtliniengebers. Da der Plan des nationalen Gesetzgebers nicht der Richtlinie widerspreche, sei die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung möglich. Der in § 7 I 2 BUrlG gefundene Zweck wird systematisch auf § 7 III 3 BUrlG übertragen und letztere Norm teleologisch reduziert. Sofern bei diesem Vorgehen lediglich auf die gesetzgeberische Entscheidung zu § 7 I 2 BUrlG abgestellt wird, handelt es sich um eine systematische Rechtsfindung, die zwar durch die Richtlinie veranlasst ist, aber auch aus rein nationalen Gesichtspunkten denkbar erscheint. Im Hinblick auf die Planwidrigkeit ist daher keine Veränderung der nationalen Methoden möglich. Wie der BGH geht auch das BAG auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes ein. Allerdings überschreite die Rechtsprechung nicht den Rahmen vorhersehbarer Entwicklung. Der Anspruch des Arbeitnehmers auf Urlaubsabgeltung bei Krankheit sei stets, auch in der Rechtsprechung, umstritten gewesen. Mit Bekanntwerden der Vorlageentscheidung des LAG Düsseldorf in der Sache Schultz-Hoff549 zu dieser Problematik sei eine Zäsur in der Rechtsprechungsentwicklung eingetreten, nach der man damit rechnen musste, dass der EuGH die Vorgaben der Richtlinie anders als das BAG interpretiert. Dementsprechend hätte mit einer abweichenden Entscheidung gerechnet werden können. 3. Fazit Bemerkenswert an der Entscheidung Urlaubsabgeltung des BAG ist, dass auf einen Umsetzungswillen des Gesetzgebers auch dann abgestellt wird, wenn es sich bei dem nationalen Recht nicht um ein Umsetzungsgesetz handelt. Der Umsetzungswille wird hier fingiert, obwohl der Gesetzgeber bei Erlass der Norm die Richtlinie überhaupt nicht berücksichtigen konnte, weil sie noch nicht existierte. Dem Gesetzgeber wird also ein Motiv unterstellt, das er nicht haben konnte. Dies ermöglicht die Kompetenzverschiebung zwischen Legislative und Judikative, indem nicht auf die konkreten Regelungsentscheidungen des Gesetzgebers abgestellt wird und die Bindung hieran gelockert wird. Die Contra-legem-Grenze kann folglich verschoben werden. Ob dies, insbesondere bei Altrecht, zulässig ist, wird zu klären sein. 548
Satz 2 von § 7 I BUrlG lautet: „Der Urlaub ist zu gewähren, wenn der Arbeitnehmer dies im Anschluss an eine Maßnahme der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation verlangt.“ 549 LAG Düsseldorf, BeckRS 2009, 53750.
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Die Rechtsfortbildung wird durch das BAG auf Grundlage der nationalen systematischen Rechtsfindung gelöst, sodass sich hier keine weiteren Modifikationen ergeben. Auch das BAG sieht die Problematik des Vertrauensschutzes, geht aber davon aus, dass sich die Rechtsprechung im Rahmen der vorhersehbaren Entwicklung hält. Ob dies der Fall ist, insbesondere wenn bei der richtlinienkonformen Auslegung des § 7 III BUrlG auf einen Umsetzungswillen abgestellt wird, der bei Erlass der Norm nicht vorhanden sein konnte, ist allerdings klärungsbedürftig. III. Die Rechtsprechung des BVerfG Das BVerfG ist keine Superrevisionsinstanz. Seine Aufgabe ist die Überprüfung von Rechtsakten auf ihre Übereinstimmung mit der Verfassung. 1. Honeywell (BVerfGE 126, 286 ff.) a) Sachverhalt und Problemstellung im nationalen Recht Gegenstand des Beschlusses in Sachen Honeywell550 war eine zulässige Verfassungsbeschwerde des Automobilzulieferers Honeywell gegen ein Urteil des BAG.551 Das Urteil des BAG gab der Entfristungsklage eines 53-jährigen Arbeitnehmers gegen die auf § 14 III TzBfG a.F. gestützte sachgrundlose Befristung seines Arbeitsvertrages statt. Die Regelung im TzBfG erlaubte bei Arbeitnehmern, die das 52. Lebensjahr vollendet hatten, eine sachgrundlose Befristung (es sei denn, es bestand zu einem vorhergehenden unbefristeten Arbeitsvertrag mit demselben Arbeitgeber ein sachlicher Zusammenhang). Diese Norm wendete das BAG nicht an. Hintergrund der Entscheidung des BAG war das Mangold-Urteil des EuGH552, das feststellte, dass Art. 6 der RL 2000/78/EG der nationalen Regelung des § 14 III 4 TzBfG entgegensteht. Obwohl die Umsetzungsfrist für die Richtlinie noch nicht abgelaufen war, stellte der Gerichtshof die Unionsrechtswidrigkeit des nationalen Rechts fest und berief sich hierauf neben der Richtlinie auf das primärrechtliche Verbot der Diskriminierung wegen des Alters. Das BVerfG, das für die Feststellung eines Kompetenzverstoßes der europäischen Organe ein offensichtlich kompetenzwidriges Handeln und eine strukturell bedeutsame Verschiebung im Kompetenzgefüge zu Lasten der Mitgliedstaaten fordert, hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. 550
BVerfGE NZA 2010, 995 ff. BAG NZA 2006, 1162 ff. 552 EuGH, Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981 ff. (Mangold). Zu dieser Entscheidung bereits oben Teil 2, A.II.6., S. 99 ff. 551
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b) Lösung des BVerfG Das BVerfG bejahte in der Entscheidung zunächst seine Kontrollmöglichkeit für Rechtsakte der Union auf Wahrung ihrer Kompetenzen und nahm zum Umfang der ultra-vires-Kontrolle Stellung.553 Die Union verstehe sich als Rechtsgemeinschaft und sei an das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die Grundrechte gebunden; sie achte die Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten.554 Auf der anderen Seite seien vom BVerfG die ihm zustehenden Kontrollbefugnisse zurückhaltend auszuüben und die Unanwendbarkeit von Unionsrechtsakten nur bei einem hinreichend qualifizierten Kompetenzverstoß zu bejahen. Dies erfordere, dass „das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und Union im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die rechtsstaatliche Gesetzesbindung erheblich ins Gewicht fällt.“555 Für kompetenzgedeckt hält das BVerfG die „Rechtsfortbildung im Wege methodisch gebundener Rechtsprechung“556 durch den EuGH. Eine Grenze der Rechtsfortbildung liege vor, wenn sie „deutlich erkennbare, möglicherweise sogar ausdrücklich im Wortlaut dokumentierte (vertrags-)gesetzliche Entscheidungen abändert oder ohne ausreichende Rückbindung an gesetzliche Aussagen neue Regelungen schafft“.557 Außerdem sei die Grenze überschritten, wenn das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung übergangen werde.558 Allerdings habe der Gerichtshof einen „Anspruch auf Fehlertoleranz“559. Auf dieser Grundlage stellte das BVerfG fest, dass die in der MangoldEntscheidung des EuGH getroffenen Feststellungen zur „negativen Wirkung von Richtlinien“560, d.h. zur Möglichkeit einer nicht umgesetzten Richtlinie das nationale Recht zu verwerfen ohne eine eigene Neugestaltung zu treffen, als „Effektuierung bestehender Rechtspflichten“ 561 nicht – im Sinne einer ultra-vires-Kontrolle – ausbrechend sind.562 Ein hinreichend qualifizierter Verstoß oder eine strukturell bedeutsame Kompetenzverschiebung lägen nicht vor.563 553
BVerfG NZA 2010, 995 ff., Rn. 55 ff. BVerfG NZA 2010, 995 ff., Rn. 59. 555 BVerfG NZA 2010, 995 ff., Rn. 61. 556 BVerfG NZA 2010, 995 ff., Rn. 62 m.w.N. 557 BVerfG NZA 2010, 995 ff., Rn. 64. 558 BVerfG NZA 2010, 995 ff., Rn. 65. 559 BVerfG NZA 2010, 995 ff., Rn. 66. 560 So das BVerfG NZA 2010, 995 ff., Rn. 77. 561 So das BVerfG NZA 2010, 995 ff., Rn. 77. 562 BVerfG NZA 2010, 995 ff., Rn. 68 ff. 563 BVerfG NZA 2010, 995 ff., Rn. 71 und ff. 554
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„Denn zu einem ersichtlichen Verstoß im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung würde auch eine unterstellte, rechtsmethodisch nicht mehr vertretbare Rechtsfortbildung des Gerichtshofs erst dann, wenn sie auch praktisch kompetenzbegründend wirkte […]. Dies wäre nur dann der Fall, wenn ohne den Erlass eines - hier als vorwirkend angesehenen - Sekundärrechtsaktes nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten von Bürgern durch Rechtsfortbildung begründet würden, die sich sowohl als Grundrechtseingriffe als auch als Kompetenzverschiebung zulasten der Mitgliedstaaten erweisen würden.“564
Damit scheint das BVerfG eine unmittelbare, wenn auch nur negative Wirkung von Richtlinien für kompetenzgedeckt, zumindest aber nicht für einen hinreichend qualifizierten Kompetenzverstoß der Union zu halten. Allerdings sei es möglich, in Konstellationen der rückwirkenden Nichtanwendbarkeit eines Gesetzes infolge einer Entscheidung des Gerichtshofs Ersatz des Schadens zu gewähren, der dadurch entsteht, dass ein Betroffener auf die gesetzliche Regelung vertraut hat und in diesem Vertrauen Dispositionen getroffen hat.565 c) Fazit Das BVerfG hielt im Fall Honeywell eine das nationale Recht kassierende (negative) Wirkung der Gleichbehandlungsrichtlinie566 für zulässig, jedenfalls nicht für einen ausbrechenden Rechtsakt im Sinne einer ultra-viresKontrolle.567 Problematisch an dieser Ansicht ist, dass eine negative Wirkung der Richtlinie nur möglich ist, wenn die Richtlinie auch unmittelbar in der nationalen Rechtsordnung gilt. Nur dann könnten nationales Recht und Richtlinie in einen Normenkonflikt treten, bei dem eine Norm vorrangig angewendet würde. Eine solche unmittelbare Geltung hat die Richtlinie jedoch gerade nicht, wie sich aus einer Auslegung von Art. 288 AEUV ergab. Damit sind Richtlinie und nationales Recht Normen unterschiedlicher Rechtsordnungen, die nicht miteinander konfligieren. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, der in ständiger Rechtsprechung die unmittelbare Wirkung (und Geltung) von Richtlinien im Horizontalverhältnis ablehnt, ergibt sich dieselbe Schlussfolgerung.568 Daher spricht viel dafür, die Rechtsprechung des BVerfG nicht so zu verstehen, dass hiermit eine unmittelbare Wirkung und Geltung von Richtlinien auch im Horizontalverhältnis anerkannt werden sollte. Die eigentliche Stütze der Rechtsprechung des EuGH, die vom BVerfG überprüft wurde, lag in der unmittelbaren Wirkung des primärrechtlichen Verbots der 564
BVerfG NZA 2010, 995 ff., Rn. 78. BVerfG NZA 2010, 995 ff., Rn. 85. 566 Richtlinie 2000/78/EG. 567 So das BVerfG NZA 2010, 995 ff., Rn. 77. 568 Zu dieser Rechtsprechung s. oben Teil 1, A.II., S. 17 ff. 565
200
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Diskriminierung wegen des Alters, das die Richtlinie nur konkretisierte.569 Primärrechtliche Bestimmungen sind jedoch aufgrund ihrer Übernahme in die deutsche Rechtsordnung mit Hilfe der Zustimmungsgesetze zu den Unionsverträgen ohnehin innerstaatlich geltendes Recht. Sie können daher auch mit nationalem Recht kollidieren und es gegebenenfalls auch kassieren. Liegt im Fall Honeywell also die Stütze im Primärrecht, ist auch die Annahme der Gerichte zur innerstaatlichen Geltung und negativen Wirkung des allgemeinen Prinzips des Unionsrechts (nicht der Richtlinie) gerechtfertigt. Für diese Sichtweise spricht zudem, dass für die Gleichbehandlungsrichtlinie noch nicht einmal die Umsetzungsfrist abgelaufen war, der EuGH aber in ständiger Rechtsprechung davon ausgeht, dass Richtlinien erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist verbindliche Wirkungen haben.570 Zudem hält das BVerfG in dieser Entscheidung eine Rechtsprechung des EuGH nur dann für kompetenzgedeckt, wenn es sich um „Rechtsfortbildung im Wege methodisch gebundener Rechtsprechung“571 handelt. Zudem verweist es auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, nach dem der Union nur begrenzte Hoheitsrechte zustünden.572 Dies lässt, im Hinblick auf obige Auslegung von Art. 288 AEUV, darauf schließen, dass das BVerfG nicht von den Grundsätzen der fehlenden unmittelbaren Geltung und Wirkung von Richtlinien im Horizontalverhältnis abrücken wollte. Sollte die Entscheidung des BVerfG hingegen so zu verstehen sein, dass nunmehr auch eine unmittelbare Geltung und (negative) Wirkung von Richtlinien im Horizontalverhältnis anzuerkennen wäre, dann wäre diese Rechtsprechung mangels primärrechtlicher Stütze und nicht kompetenzgedeckter Rechtsfortbildung abzulehnen. § 14 TzBfG wäre dann „ohne verfassungsrechtlich tragfähigen Grund unangewendet gelassen“573 und es würde gegen die richterliche Gesetzesbindung verstoßen.574 2. Beschluss Haustürwiderrufsgesetz (BVerfGE NJW 2012, 669 ff.) Nunmehr hat sich das BVerfG in einem Nichtannahmebeschluss vom 26. September 2011575 ausführlich mit der Problematik der richtlinienkonformen Auslegung und Rechtsfortbildung beschäftigt. Problematik und Sach569
Dazu bereits oben Teil 2, A.II.6., S. 99 ff. EuGH, Rs. C-212/04, Slg. 2006, I-6057 (Adeneler), Rn. 115; EuGH, Rs. C-129/96, Slg. 1997, I-7411 (Inter Environnement Wallonie), Rn. 45. 571 BVerfG NZA 2010, 995 ff., Rn. 62 m.w.N. 572 BVerfG NZA 2010, 995 ff., Rn. 65. 573 Sondervotum des Richters Landau NZA 2010, 1001 ff., Rn. 94. 574 Ausführlich zur verfassungsrechtlichen Seite s. Sondervotum des Richters Landau NZA 2010, 1001 ff., Rn. 94 ff. 575 BVerfG, NJW 2012, 669 ff. 570
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verhalt sind vergleichbar mit dem der Heininger-Entscheidung des BGH.576 Aufgrund dieser Rechtsprechung wurde durch den BGH einmal die Annahme einer Revision verweigert und zum anderen die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision zurückgewiesen. Hiergegen wendete sich die Beschwerdeführerin, eine Bank, mit der Verfassungsbeschwerde. Diese wird vom BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen. Dennoch macht es Ausführungen zur Frage der Verletzung der Beschwerdeführerin in ihren Rechten aus dem Art. 2 I in Verbindung mit dem Art. 20 II 2, III GG. a) Lösung des BVerfG Das BVerfG prüft nicht umfassend die Wahl der Methode durch die Instanzgerichte, sondern untersucht nur, ob die Entscheidung die grundlegenden gesetzgeberischen Wertungen respektiert und von anerkannten Methoden in vertretbarer Weise Gebrauch gemacht wurde.577 Zunächst rekurriert das BVerfG auf das Gewaltenteilungsprinzip, nach dem sich die Judikative nicht zum Gesetzgeber aufschwingen dürfe.578 Möglich sei aber die richterliche Rechtsfortbildung „insbesondere dort, wo Programme ausgefüllt, Lücken geschlossen, Wertungswidersprüche aufgelöst werden oder besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung getragen wird. […] Richterliche Rechtsfortbildung darf nicht dazu führen, dass der Richter seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzt […]. Ein Richterspruch setzt sich über die aus Art. 20 III GG folgende Gesetzesbindung hinweg, wenn die vom Gericht zur Begründung seiner Entscheidung angestellten Erwägungen eindeutig erkennen lassen, dass es sich aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben hat, also objektiv nicht bereit war, sich Recht und Gesetz zu unterwerfen.“579
Das BVerfG stellt damit deutlich die Grenzen einer richterlichen Rechtsfortbildung heraus, die es in der richterlichen Gesetzesbindung des Art. 20 III GG sieht. Zudem erkennt das BVerfG die unionsrechtliche Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung an580, sieht die Grenzen aber „an dem nach innerstaatlicher Rechtstradition methodisch Erlaubten“581. Es schließt sich ausdrücklich der Rechtsprechung des EuGH an, nach dem eine richtlinienkonforme Gesetzesanwendung contra legem unzulässig ist.582 Weiter heißt es: 576
Zu Sachverhalt und Entscheidung des BGH s. oben Teil 2, C.I.1.a), S. 174 ff. BVerfG NJW 2012, 669 ff., Rn. 43. 578 BVerfG NJW 2012, 669 ff., Rn. 44. 579 BVerfG NJW 2012, 669 ff., Rn. 45. 580 BVerfG NJW 2012, 669 ff., Rn. 46. 581 BVerfG NJW 2012, 669 ff., Rn. 47. 582 BVerfG NJW 2012, 669 ff., Rn. 47 m.w.N. zur EuGH-Rechtsprechung. 577
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Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien
„Da der EuGH danach nationales Recht weder anwenden noch auslegen kann, darf er auch nicht feststellen, ob innerstaatlich ein entsprechender Auslegungsspielraum besteht. […] Sowohl die Identifizierung als auch die Wahrnehmung methodischer Spielräume des nationalen Rechts obliegt – auch bei durch Richtlinien determiniertem nationalem Recht – den nationalen Stellen in den Grenzen des Verfassungsrechts.“583
Die Ablehnung der Revision bzw. der Nichtzulassungsbeschwerde des BGH und damit seine Rechtsprechung in Sachen Heininger hält das BVerfG dann allerdings für methodisch vertretbar. Denn „Der Besonderheit, dass das nationale Recht unter Umständen unionsrechtlich determiniert ist, etwa weil es sich um ein Umsetzungsgesetz zu einem unionalen Rechtsakt wie einer Richtlinie handelt, kann innerstaatlich durch die Annahme Rechnung getragen werden, dass der mitgliedstaatliche Gesetzgeber im Zweifel nicht gegen seine Pflicht aus Art. 288 Abs. 3 AEUV, das Ziel der Richtlinie fristgemäß umzusetzen, verstoßen wollte.“584
Damit stützt das BVerfG die Vermutung der ordnungsgemäßen Richtlinienumsetzung durch den nationalen Gesetzgeber, wenn „Zweifel“ vorliegen. Diese Zweifel seien gegeben, da unklar sei, ob die Regel des § 5 II HWiG die Anwendbarkeit des Haustürwiderrufsgesetzes auch dann verhindern soll, wenn das Verbraucherkreditgesetz dem Verbraucher nicht den gleichen effektiven Schutz gewähre.585 Der Vertrauensschutz sei nicht gefährdet, weil neben einer Auslegung anhand des eindeutigen Wortlauts auch die Möglichkeit einer teleologischen Interpretation des Gesetzes in Betracht zu ziehen sei und sich die Rechtsprechung im Rahmen vorhersehbarer Entwicklung halte.586 b) Fazit Das BVerfG nimmt in diesem Beschluss ausführlich zur richtlinienkonformen Rechtsfindung Stellung. Wichtig ist vor allem die Aussage, „im Zweifel“ könne angenommen werden, dass der Gesetzgeber seine unionsrechtlichen Verpflichtungen erfüllen werde. Dies entspricht letztlich der Vermutung der Richtlinienkonformität des nationalen Rechts. Allerdings geht das BVerfG – anders als der BGH in seiner Vorlage-Entscheidung587 – davon aus, dass das nationale Recht von vornherein auslegungsbedürftig war, die Auslegungsbedürftigkeit also nicht erst im Richtlinienkontext entsteht. Dementsprechend ist zweifelhaft, ob das BVerfG mit seiner Auslegungsregel lediglich der genetischen Auslegung großes Gewicht zusprechen wollte oder ob es die 583
BVerfG NJW 2012, 669 ff., Rn. 48. BVerfG NJW 2012, 669 ff., Rn. 51. 585 BVerfG NJW 2012, 669 ff., Rn. 52. 586 BVerfG NJW 2012, 669 ff., Rn. 63 ff. 587 BGH WM 2000, 26 ff., Rn. 12 ff. 584
D. Zusammenfassung und Zwischenergebnis
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Verschiebung der traditionellen Contra-legem-Grenze befürwortet, indem die materielle Regelungsentscheidung des Gesetzgebers gegenüber dem Umsetzungswillen zurücktreten soll. Im Hinblick auf den Vertrauensschutzgrundsatz folgt es dem BGH und sieht die Rechtsfortbildung als vorhersehbare Entwicklung. 3. Zusammenfassung Das BVerfG scheint auf den ersten Blick einen weitgehenden Ansatz zu vertreten, indem negative Wirkungen von Richtlinien oder die Vermutung der ordnungsgemäßen Richtlinienumsetzung berücksichtigt werden. Allerdings ist zu beachten, dass der Fall Honeywell, in dem das BVerfG negative Wirkungen anerkannte, letztlich eine Entscheidung zur Geltung von allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts, also Primärrecht, war. Bei Vermutung der ordnungsgemäßen Richtlinienumsetzung wird nicht klar herausgearbeitet, ob die Vermutung auch bei einer eindeutigen Gesetzgeberentscheidung greifen soll. Ist das Gesetz mehrdeutig, muss gemäß Art. 288 III AEUV ohnehin ein vertretbares richtlinienkonformes Auslegungsergebnis gewählt werden.
D. Zusammenfassung und Zwischenergebnis D. Zusammenfassung und Zwischenergebnis Die Darstellung in Abschnitt A. konnte zeigen, dass der Gerichtshof zwar Vorgaben für die richtlinienkonforme Rechtsfindung des nationalen Rechts macht, aber dennoch die nationale Contra-legem-Grenze anerkennt und respektiert.588 Nichtsdestoweniger werden in der Literatur stets die traditionellen Methoden bei der Gesetzesanwendung im Richtlinienbereich verändert. Die am wenigsten in das nationale (Verfassungs-)Recht einschneidende Modifikation erfolgte durch die These vom Ergebnisvorrang. Das nationale Recht sollte hiernach zunächst ohne Berücksichtigung der Richtlinie ausgelegt werden. Nur wenn das nationale Recht nach dieser Auslegung mehrdeutig ist oder Lücken bestehen, wird eine richtlinienkonforme Auslegung oder Rechtsfortbildung vorgenommen. Dazu wird im Falle der richtlinienkonformen Auslegung das richtlinienkonforme, den anderen Auslegungsergebnissen vorgezogen. Im Falle der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung wird die bereits nach nationalen Maßstäben bestehende Lücke des Gesetzes mit Hilfe der Vorgaben der Richtlinie gefüllt, da insofern der Umsetzungsbefehl die nationalen Gerichte auf die Ziele der Richtlinie verpflichtet. Diese Art der richtlinienkonformen Rechtsfindung ver588
S. oben Teil 2, A., insbesondere A.III., S. 101 ff.
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Teil 2: Gesetzesanwendung im Einwirkungsbereich von Richtlinien
schiebt die nationale Contra-legem-Grenze nicht, denn das richtlinienkonforme Auslegungs- oder Fortbildungsergebnis wäre bereits im rein nationalen Kontext eine von mehreren Optionen gewesen, sodass das Ergebnis sich im Rahmen des nach traditionellen Methoden Möglichen bewegt. Die These vom interpretatorischen Vorrang legt das nationale Recht zunächst unabhängig von der Richtlinie aus. Sofern ein eindeutiger Wortlaut oder der Gleichlauf von Gesetzgeberwille und Wortsinn einer richtlinienkonformen Rechtsfindung entgegensteht, kann auch die These des interpretatorischen Vorrangs keine Richtlinienkonformität herstellen, wenn nicht mit C.-W. Canaris erneut unter Berücksichtigung der Richtlinie in die Auslegung eingetreten wird und so die vorher gefundenen Ergebnisse im Lichte der Richtlinie verändert werden. Indem aber die Richtlinie bei der Rechtsfindung bereits Berücksichtigung findet, werden die nationalen Auslegungsmöglichkeiten im Hinblick auf die Richtlinie ausgedehnt. Die traditionelle Contra-legem-Grenze wird folglich verändert, wenn man mit C.-W. Canaris die Auslegungskriterien im Lichte der Richtlinie betrachtet. Auf einer zweiten Stufe ist nach der These vom interpretatorischen Vorrang eine richtlinienkonforme Auslegung bzw. Fortbildung möglich, wenn eine interpretatorische Vorrangregel auf zweiter Stufe nicht greift, d.h. der Gesetzgeberwille und Wortsinn nicht einheitlich auf ein Auslegungsergebnis deuten. Dann werden die Richtlinienvorgaben als objektiv-teleologisches Kriterium bei der Rechtsfindung einbezogen. Die Richtlinie wird hier wiederum bereits bei der Rechtsfindung berücksichtigt. Die Richtlinie ist damit in der Lage, sich selbst eine Lücke im nationalen Recht unabhängig von dem vorgefundenen nationalen Recht zu schaffen. Eine richtlinienkonforme Rechtsfindung ist daher auch außerhalb des traditionellen Gesamtplans der Rechtsordnung und damit contra legem möglich. C. Herresthal verfolgt ein eigenes Modell der Gesetzesanwendung im Richtlinienbereich, das er auf eine Veränderung der nationalen Verfassung durch die Öffnung der nationalen Rechtsordnung durch Art. 23 GG stützt. Aufgrund dieser Verfassungsänderung habe die Richtlinie Beachtungsvorrang in der nationalen Rechtsordnung und sei damit durch die nationalen Gerichte bei der Rechtsfindung zu berücksichtigen. Die Berücksichtigung erfolgt derart, dass die Richtlinie ein Regelungsdefizit in der nationalen Rechtsordnung aufwerfe, wenn das nationale Recht ihr entgegensteht. Dieses Regelungsdefizit muss dann anhand der Vorgaben der Richtlinie, die aufgrund der Öffnung der Rechtsordnung Teil dieser geworden sind, geschlossen werden. Nach diesem Ansatz wird die Richtlinie bei der Rechtsfindung berücksichtigt, indem eine Lücke immer dann entsteht, wenn das nationale Recht den Vorgaben der Richtlinie entgegensteht. Kann sich aber die Richtlinie selbst eine Lücke im nationalen Recht schaffen, kann damit die traditionelle Contra-legem-Grenze verschoben werden.
D. Zusammenfassung und Zwischenergebnis
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Die These vom Vorrang des Umsetzungswillens, der die Rechtsprechung weitestgehend gefolgt zu sein scheint, geht einen anderen Weg zur Modifikation der nationalen Methoden. Sie stellt den Willen zur korrekten Richtlinienumsetzung als bloßes Motiv des Gesetzgebers über die eigentliche materielle Regelungsentscheidung. Dies erfolgt insbesondere, wenn der Gesetzgeber in den Gesetzesmaterialien mitteilt, er wollte die Richtlinie ordnungsgemäß umsetzen. Aber auch wenn er einen solchen Willen nicht in den Gesetzesmaterialien formuliert, wird ihm dieser Wille unterstellt. Diese Veränderung erfordert nicht, dass die Richtlinienvorgaben in der nationalen Rechtsordnung gelten, da allein auf den Willen des Gesetzgebers abgestellt wird. Allerdings werden auch hiermit die traditionellen Methoden und damit die Contra-legem-Grenze verändert, indem ein gesetzgeberisches Motiv über die eigentliche Regelungsentscheidung gestellt wird. Die These der Vertreter eines normenhierarchischen Vorrangs von Richtlinien beruht auf der unmittelbaren Geltung der Richtlinie in der nationalen Rechtsordnung, sodass die Richtlinie das nationale Recht bzw. Auslegungskriterien, wie bei einer Normenkollision, verdrängen könne. Dass der Richtlinie aber gerade keine unmittelbare Geltung zukommt, wurde bereits oben dargelegt589 und bedarf im Folgenden keiner weiteren Vertiefung. Die Vertreter eines normenhierarchischen Vorrangs der Richtlinie beachten die traditionelle Contra-legem-Grenze nicht, denn die Richtlinie setzt sich gegenüber entgegenstehendem nationalem Recht stets durch. Nach alldem lässt sich festhalten, dass letztlich nur die Methode des Ergebnisvorrangs die traditionelle Contra-legem-Grenze nicht verändert. Genau dieser Theorie wird aber vorgeworfen, dass sie – aus unionsrechtlicher Sicht – Schutzlücken entstehen lässt, weil der Bürger nicht stets seine Rechte aus Richtlinien erfolgversprechend vor den nationalen Gerichten einklagen kann. Deshalb erscheint die Modifikation der nationalen Methoden notwendig. Sofern aber die nationalen Methoden modifiziert werden, führt dies zu einer Veränderung der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung. Die nationale Contra-legem-Grenze als Grenze der zulässigen Auslegung und Rechtsfortbildung der Gerichte dient der Absicherung der verfassungsrechtlich vorgegeben Kompetenzverteilung zwischen Legislative und Judikative. Hiermit soll sichergestellt werden, dass sich die Judikative nicht im Wege des Rechtsfindungsvorganges über die gesetzgeberischen Entscheidungen der Legislative hinwegsetzt und damit selbst legislative Kompetenzen für sich in Anspruch nimmt. Es stellt sich demzufolge bei einer Modifikation der traditionellen Methoden, die zu einer Verschiebung der Contra-legem-Grenze führen (egal welche Art der Modifikation), stets die Frage ihrer verfassungsrechtlichen Zulässigkeit. 589
S. oben Teil 1, A.III., S. 24 ff.
1 2 3 Teil 3
Zulässigkeit und Notwendigkeit der Veränderung traditioneller Methoden im Kontext der Richtlinie Teil 3: Zulässigkeit und Notwendigkeit der Veränderung von Methoden
Wie sich bereits bei der Betrachtung der traditionellen Methoden in Teil 1 zeigte, sind Methodenfragen untrennbar mit der Verfassung verknüpft.1 Auch bei der Frage der Bewertung der methodischen Ansätze der richtlinienkonformen Rechtsfindung bestätigte sich dieser Grundsatz. In Teil 2 kristallisierte sich heraus, dass die Ansätze, die einen flächendeckenden Rechtsschutz für den Bürger aus der Richtlinie gewährleisten (und damit alle Schutzlücken schließen), eine Verschiebung der traditionellen Contralegem-Grenze vornehmen. Verfassungsrechtlich unzulässig wäre diese Verschiebung der Contra-legem-Grenze nur, wenn damit tatsächlich eine aus der Perspektive des Gewaltenteilungs- und Demokratieprinzips relevante Kompetenzverschiebung von der Legislative auf die Judikative verbunden wäre und, sofern dies der Fall ist, sich die Kompetenzverschiebung verfassungsrechtlich nicht rechtfertigen ließe. Diese Fragen werden in Abschnitt A. geklärt. Da alle Ansichten mit Ausnahme der These vom Ergebnisvorrang zu einer Verschiebung der traditionellen Contra-legem-Grenze führen, muss nicht erneut jede Ansicht einzeln aufgeführt werden. Vielmehr können lediglich die einzelnen Argumente analysiert und bewertet werden, mit der die Verschiebung der Contra-legem-Grenze versucht wird zu rechtfertigen. Wenn anschließend geklärt ist, welche Methode der richtlinienkonformen Rechtsfindung verfassungsrechtlich zulässig ist, muss überprüft werden, ob bei Anwendung dieser Methode weiterhin aus unionsrechtlicher Perspektive Schutzlücken verbleiben (B.). Sollten auch unter Berücksichtigung der Staatshaftung weiterhin Schutzlücken verbleiben, muss untersucht werden, ob noch andere Möglichkeiten bestehen, diese zu schließen. Denkbar ist insbesondere eine Modifikation der Voraussetzungen einer Staatshaftung (C.).
1
Nachweise s. Teil 1, Fn. 139.
A. Zulässigkeit der Modifikation traditioneller Rechtsfindungsmethoden
207
A. Zulässigkeit der Modifikation traditioneller Rechtsfindungsmethoden A. Zulässigkeit der Modifikation traditioneller Rechtsfindungsmethoden Zur Frage, ob die Verschiebung der Contra-legem-Grenze und damit die Veränderung der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung im Richtlinienbereich gerechtfertigt werden kann, lassen sich aus den in Teil 2 dargestellten Theorien zwei Argumentationsstränge ableiten: zum einen die Rechtfertigung anhand des Unionsrechts mit dem Argument, die Verschiebung der Contra-legem-Grenze würde zwar in die (traditionelle) nationale Kompetenzverteilung zwischen Judikative und Legislative eingreifen, dieser Eingriff sei aber durch die Zustimmung zu den Verträgen und damit zu Art. 288 AEUV konsentiert und gerechtfertigt (I.); zum anderen der Argumentationsansatz über die autonom-nationale Verfassungsentscheidung für eine Kompetenzverschiebung zugunsten der Legislative im Richtlinienbereich (II.). I. Rechtfertigung der mit der Modifikation traditioneller Rechtsfindungsmethoden verbundenen Kompetenzverschiebung auf der Grundlage eines unveränderten Verfassungsverständnisses Wie die obige Darstellung der in der Literatur vertretenen Ansichten gezeigt hat, wird mehrheitlich, wenn auch mit unterschiedlicher Argumentation, eine Verschiebung der Contra-legem-Grenze und damit eine Kompetenzverschiebung zwischen Legislative und Judikative für zulässig erachtet. Diese Kompetenzverschiebung wird im Wesentlichen mit zwei Argumentationssträngen zu rechtfertigen versucht, die sich letztlich darauf zurückführen lassen, dass die von der Contra-legem-Grenze geschützten Staatsstrukturprinzipien nicht bzw. nicht in ihrem Kern betroffen sind. Zum einen wird argumentiert, dass den Unionsorganen die materielle Regelungskompetenz im Richtlinienbereich zusteht, sodass es nicht darauf ankomme, welches nationale Organ etwaige Vorgaben umsetze (1.). Die Entscheidung der Judikative wird damit als gewaltenteilungsneutral eingestuft. In eine ähnliche Richtung weist ein weiteres Argument, nach dem vermutet wird, die Umsetzung der Vorgaben der Richtlinie durch die Judikative liege im Interesse und Willen des nationalen Gesetzgebers (2.). 1. Die Kompetenz zur Setzung von materiellen Regelungszielen a) Argumente Um die Zulässigkeit der Verschiebung der Contra-legem-Grenze und die Neutralität im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Gewaltenteilung dieser Modifikation zu rechtfertigen, werden vor allem zwei Argumente herangezogen:
208
Teil 3: Zulässigkeit und Notwendigkeit der Veränderung von Methoden
(1) Der nationale Gesetzgeber hat die Kompetenz zu materieller Entscheidung im Richtlinienbereich verloren Sowohl die Vertreter eines interpretatorischen Vorrangs als auch C. Herresthal argumentieren, dass der Gesetzgeber ohnehin seine Kompetenz zur Setzung von verbindlichen Regelungszielen im Richtlinienbereich an den Unionsgesetzgeber verloren habe. Der Gesetzgeber könne nicht mehr seine eigene Regelungsentscheidung verfolgen, sondern müsse sich an dem Regelungsziel der Richtlinie orientieren. Könne aber der nationale Gesetzgeber im Richtlinienbereich keine materielle Regelungsentscheidung mehr treffen, sei die Umsetzung der Richtlinienvorgabe durch die Judikative keine verfassungsrechtlich relevante Kompetenzbeschneidung der Legislative. Mangels materieller Regelungskompetenz des Gesetzgebers werde der Gesetzgeberwille allenfalls der Form nach, nicht aber in der Sache verletzt. Die vertretenen Modifikationen der nationalen Rechtsfindungsmethode würden deshalb die Gewaltenteilung zwischen Judikative und Legislative nicht verletzen.2 (2) Die Judikative trifft keine eigene rechtspolitische Entscheidung, sondern führt nur den Willen des Unionsgesetzgebers aus Dieses erste Argument wird häufig mit folgendem Gedankengang kombiniert: Der Richter, der das nationale Recht unter Berufung auf eine Richtlinie einschränke, schwinge sich nicht vom Rechtsanwender zum Rechtssetzer auf. Er korrigiere nicht eine als rechtspolitisch unbefriedigend empfundene Vorschrift mit Hilfe außerrechtlicher Vorstellungen, sondern setze lediglich eine vom Unionsgesetzgeber zwingend zu realisierende Vorgabe um. Damit stelle er nicht seine eigenen rechtspolitischen Vorstellungen über die gesetzgeberische Wertentscheidung, sondern vollziehe nur den demokratisch legitimierten Willen des europäischen Gesetzgebers.3 Damit werde die Kompetenz der Judikative faktisch nicht derart ausgeweitet, dass eine verfassungsrechtlich relevante Strukturveränderung vorliege. b) Stellungnahme Zur Beurteilung der Frage, ob die Verschiebung der Contra-legem-Grenze verfassungsrechtlich zulässig ist, ist zunächst zu überprüfen, ob es bei Ausdehnung der richtlinienkonformen Rechtsfindung überhaupt zu einer Kompetenzverschiebung zwischen Judikative und Legislative käme oder ob diese nicht gewaltenteilungsneutral ist (1). Wenn mit richtlinienkonformer Rechtsfindung außerhalb der traditionellen Contra-legem-Grenze 2 3
Nachweise unter Teil 2, B.II.1.a)(3), S. 126 ff. und B.II.1.b)(1)(b), S. 131 ff. Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 312 f.
A. Zulässigkeit der Modifikation traditioneller Rechtsfindungsmethoden
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tatsächlich eine Kompetenzverschiebung einhergeht, ist zu prüfen, ob diese gegebenenfalls gerechtfertigt werden kann (2). (1) Vorliegen einer verfassungsrechtlich relevanten Kompetenzverschiebung durch die Modifikation der traditionellen Methoden Würde man eine Verschiebung der traditionellen Contra-legem-Grenze im Richtlinienbereich zulassen, ließe sich eine der Richtlinie entgegenstehende materielle Regelungsentscheidung des Gesetzgebers überwinden. Damit könnte die Entscheidung der Legislative durch diejenige der Judikative ersetzt werden. Bei Beachtung der traditionellen Kompetenzverteilung ist ein solches Handeln der Judikative allerdings grundsätzlich ausgeschlossen, denn die Judikative wendet die Gesetze nur an und schafft sie grundsätzlich nicht selbst. Stattdessen entscheidet der demokratisch legitimierte Gesetzgeber, welche Inhalte Teil der nationalen Rechtsordnung sind.4 Die Judikative hat also keine kreative Rechtssetzungsfunktion, sondern überführt die abstrakten Vorgaben des Gesetzes auf den Einzelfall. An eine eindeutige und aktuelle materielle Regelungsentscheidung ist der Richter daher gebunden, ansonsten schwingt er sich ungerechtfertigt zum Gesetzgeber auf.5 Ausnahmsweise stehen aber auch der Judikative Befugnisse zur Rechtssetzung zu, wenn sie ansonsten gegen das Rechtsverweigerungsverbot6 verstieße. Das heißt, der Richter darf dem Bürger nicht sein Recht verweigern, wenn er keine gesetzgeberische Regelung vorfindet, sondern muss die gesetzgeberische Lücke gestaltend schließen. Hierbei hat er sich an vergleichbaren, bereits gesetzlich geregelten Fällen oder rechtsinternen Wertungen und Prinzipien zu orientieren. Im Übrigen bleibt es aber bei der Gesetzesbindung des Art. 20 III GG. Würde man nun der Judikative im Richtlinienbereich die Kompetenz zusprechen, verbindlich Richterrecht zu setzen, wäre die Legislative nicht mehr in der Lage, eine unionsrechtliche Richtlinienvorgabe unter Inkaufnahme eines Vertragsverletzungsverfahrens – auch ohne ausdrückliche Umsetzungsverweigerung – abzulehnen. Das Parlament könnte sich mit seinem Mittel, dem Gesetz, nicht mehr gegen Judikative und Exekutive
4
Eine Ausnahme bilden allenfalls höhere Werte und Prinzipien, wie das Prinzip der materiellen Gerechtigkeit, an das der Richter stets gebunden ist. Vgl. auch Art. 20 IV GG. 5 Jarass, Grundfragen, S. 94; Jarass, EuR 1991, 211, 218 spricht von der Gefahr verfassungsnonkonformer Übergriffe der Judikative auf die Legislative. 6 Ausführlich zum Rechtsverweigerungsverbot Schumann, ZZP 1968, 79, 79 ff.
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Teil 3: Zulässigkeit und Notwendigkeit der Veränderung von Methoden
durchsetzen.7 Das würde die Gewaltenteilung im Richtlinienbereich zugunsten der Judikative (nahezu8) aufheben. Eine judikative Rechtsfindung contra legem ist damit auch im Richtlinienbereich nicht gewaltenteilungsneutral. (2) Rechtfertigung der Verschiebung der verfassungsrechtlichen Kompetenzen Der Versuch der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der Verschiebung der nationalen Contra-legem-Grenze und der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung kann mit drei Argumenten unternommen werden: (a) Die materielle Regelungsentscheidung im Richtlinienbereich Argumentiert wird zum einen, dass die Verschiebung der Entscheidungskompetenz von der Legislative auf die Judikative deshalb möglich ist, weil im Richtlinienbereich ohnehin dem Unionsgesetzgeber die materielle Regelungskompetenz zukäme. Wäre dies zutreffend und der Legislative käme tatsächlich keine materielle Entscheidungskompetenz mehr zu, würden der Legislative keine Kompetenzen genommen, wenn die Judikative umsetzte. Ob und wenn ja, welche Kompetenzen an die Union übertragen wurden, ist durch Auslegung des Primärrechts zu untersuchen. Der Mitgliedstaat ist gegenüber der Union verpflichtet, die Ziele der Richtlinie in nationales Recht umzusetzen, Art. 288 III AEUV. Diese Pflicht des Mitgliedstaates bzw. seiner Organe ist eine unbedingte und mit dem Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 263 AEUV sanktioniert. Außerdem hat der Gerichtshof das Institut der Staatshaftung entwickelt, das bei Verstößen gegen diese unbedingte Pflicht eingreift. Insofern steht gegenüber dem Mitgliedstaat der Union die Kompetenz, materielle Zielvorgaben zu machen (im Folgenden Zielsetzungskompetenz), im Richtlinienbereich zu. Die Zielsetzungskompetenz der Union führt allerdings allein nicht zu einer verbindlichen und durchsetzbaren Rechtsnorm. Damit die Richtlinie im nationalen Recht für den Marktbürger verbindlich gilt, ist eine Umsetzungsentscheidung des nationalen Gesetzgebers erforderlich. Auf eine ausdrückliche Umsetzungsentscheidung des nationalen Gesetzge7 Di Fabio, NJW 1990, 947, 952. Piekenbrock/Schulze, WM 2002, 521, 527 spricht von einer „Entmündigung des Gesetzgebers bei Offenbarwerden seiner Irrtümer im Bereich des europäisch induzierten Privatrechts“. 8 Eine vollständige Aufhebung findet nach den Vertretern einer unmittelbar positiven und negativen Wirkung statt, denn hier wird das richtlinienwidrige Gesetz verdrängt. Nach den Ansichten vom interpretatorischen Vorrang der Richtlinie, nach C. Herresthal und nach den Vertretern eines Willensvorrangs bleiben zumindest bei einer ausdrücklichen Umsetzungsverweigerung des Gesetzgebers das nationale Gesetz und die gesetzgeberische Regelungsentscheidung erhalten.
A. Zulässigkeit der Modifikation traditioneller Rechtsfindungsmethoden
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bers kann allenfalls im Vertikal-, nicht aber im hier interessierenden Horizontalverhältnis verzichtet werden.9 Erforderlich ist daher die Vermittlung der unionsrechtlichen Vorgaben für den Marktbürger. Mit anderen Worten: Art. 288 III AEUV kann nur die Mitgliedstaaten verpflichten, im Horizontalverhältnis aber nicht unmittelbar die Marktbürger. Geht es jedoch um privatrechtswirksame Rechte im Horizontalverhältnis, dann ist eine materielle Entscheidung des nationalen Gesetzgebers erforderlich. Damit verbleibt die Kompetenz, verbindliche Rechtsvorschriften im nationalen Recht aufzustellen, beim nationalen Gesetzgeber. Dass die materielle Entscheidungskompetenz zur verbindlichen Setzung von Normen beim nationalen Gesetzgeber verblieben ist, wird außerdem damit bewiesen, dass für den Fall des gesetzgeberischen Irrtums und der Auflehnung des Mitgliedstaates Vorkehrungen des Unionsrechts getroffen wurden, um eine Umsetzung des Mitgliedstaates dennoch durchzusetzen. Dies wäre nicht notwendig gewesen, wenn die Union ihre materielle Regelungsentscheidung ohnehin in jedem Fall durchsetzen könnte. Da sie das aber gerade nicht kann, weil die Kompetenz, verbindliche Vorgaben im nationalen Recht zu setzen, beim nationalen Gesetzgeber verblieben ist, wurden die Sanktionsinstrumente des Vertragsverletzungsverfahrens und der Staatshaftung geschaffen: Der Zweck des Vertragsverletzungsverfahrens ist es, Verstöße der Vertragsstaaten zu sanktionieren. Wichtig ist dies insbesondere im Richtlinienbereich, denn dort kommt es aufgrund der Notwendigkeit einer Umsetzung in nationales Recht häufig zu Fehlern. Der Sanktionszweck würde aufgehoben, wenn die Contra-legem-Grenze verschoben würde und sich im Richtlinienbereich die Richtlinie stets gegen entgegenstehendes nationales Recht durchsetzte. In dem Fall könnte nämlich der Bürger ohnehin seine unionsrechtlichen Rechte vor den nationalen Gerichten einklagen. Das Sanktionsinstrument des Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258 f. AEUV wäre somit im Richtlinienbereich, der ganz zentrale Politikfelder wie Vertragsrecht, Gesellschaftsrecht und Arbeitsrecht betrifft, überflüssig. Zudem hat der Gerichtshof das Institut der Staatshaftung entwickelt, um Umsetzungsverstöße zu sanktionieren. Auch dies wäre nicht notwendig gewesen, könnte sich der Bürger unmittelbar auf die Richtlinie berufen. Die Existenz der Institute zeigt damit, dass auch das Unionsrecht nicht davon ausgeht, selbst bereits die volle Kompetenz zur Setzung verbindlicher Regelungsziele im nationalen Recht ausüben zu können. Vielmehr ist stets eine Umsetzungsentscheidung des Gesetzgebers mit der Aufnahme der materiellen Vorgaben der Richtlinie notwendig, sodass die Letztentscheidungskompetenz beim nationalen Gesetzgeber verbleibt. 9
Dazu oben Teil 1, A.III., S. 24 ff.
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Teil 3: Zulässigkeit und Notwendigkeit der Veränderung von Methoden
Dass die materielle Entscheidungskompetenz beim nationalen Gesetzgeber verblieben ist, wird letztlich auch von der großen Mehrheit der Befürworter der richtlinienkonformen Rechtsfindung außerhalb der nationalen Methoden anerkannt, indem von der richtlinienkonformen Rechtsfindung im Falle der ausdrücklichen Umsetzungsverweigerung Abstand genommen wird. In den Fällen der Umsetzungsverweigerung kommt der nationalen Gesetzgeberentscheidung dann doch maßgebliche Bedeutung zu. (b) Rechtfertigung der Kompetenzverschiebung, wenn Verordnungserlass möglich Als Rechtfertigung für die Kompetenzverschiebung zwischen Judikative und Legislative ließe sich zudem vorbringen, der Unionsgesetzgeber hätte in den meisten Fällen ebenso gut eine Verordnung erlassen können und somit die nationale Contra-legem-Grenze durch Setzung eigenen Rechts ohnehin übergehen können. Tatsächlich besteht allerdings in vielen Bereichen lediglich eine Kompetenz zum Erlass von Richtlinien, beispielsweise in Art. 50, 59, 115, 116, 153 II AEUV.10 Um in diesen Bereichen eine Verordnung zu schaffen, müsste ein einstimmiger Beschluss des Rates nach Art. 352 AEUV gefasst werden.11 Selbst bei einem solchen Beschluss ist die Schaffung von Verordnungen nicht unbedenklich, weil so der ausdifferenzierte Katalog der im Vertrag vorgesehenen Einzelermächtigungen ausgehöhlt zu werden droht12, der vorsieht, wann eine Richtlinie, wann eine Verordnung das richtige Mittel zur Verwirklichung der Union ist. Jedenfalls hat der Unionsgesetzgeber die notwendige Einstimmigkeit für eine Verordnung gerade nicht erreicht und kann seine Vorgaben folglich nur im Rahmen einer Richtlinie, und damit in Kooperation mit dem nationalen Gesetzgeber durchsetzen, sodass ein Übergehen der nationalen Contra-legem-Grenze durch den Unionsgesetzgeber mit Hilfe des Erlasses einer Verordnung gerade nicht möglich wäre. Aber auch in den Bereichen, in denen eine Kompetenz zum Erlass von Verordnung und Richtlinie bestand, der Unionsgesetzgeber aber das Instrument der Richtlinie wählte, muss er sich an seiner Wahl festhalten lassen. Hat er sich für die schonendere Maßnahme der Richtlinie entschieden, hielt er gerade eine Angleichung an das nationale Recht für erforderlich oder die Handlungsform der Verordnung fand schlicht keine politische Mehrheit. Dann kann aber auch das Übergehen der nationalen Gesetzge10
Anders nur in den Art. 43, 91, 103 AEUV. Schürnbrand, JZ 2007, 910, 914 m.w.N. in Fn. 52. 12 Schürnbrand, JZ 2007, 910, 914. Teilweise wird daher aus dem Unionsrecht abgeleitet, dass ein Vorrang des Instruments der Richtlinie vor der Verordnung besteht, dazu Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 100. 11
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berentscheidung, was nach der Dogmatik der Richtlinie nicht zulässig ist, nicht gerechtfertigt sein.13 (c) Rechtfertigung, weil sich die Legislative ihre Kompetenz zurückholen kann Schließlich wird eingewandt, dass der Kompetenzverlust der Legislative hinzunehmen sei; sie könne jederzeit die Initiative ergreifen und im Rahmen der Richtlinie abweichend von den richterlichen Wertungen die Materie regeln.14 Würde man dies annehmen, käme aber im Ergebnis die Letztentscheidungskompetenz der Judikative und nicht dem nationalen Gesetzgeber zu; die Kernkompetenz des Gesetzgebers zur materiellen Regelungsentscheidung wäre im Richtlinienbereich ausgehebelt. Würde nämlich der Gesetzgeber eine materielle Regelungsentscheidung treffen, die wiederum nicht den Richtlinienvorgaben entspräche, ohne aber ausdrücklich die Umsetzung zu verweigern, könnte die Judikative die Entscheidung korrigieren. Es käme zu einem Kreislauf, bei dem sich die Judikative mit einer richtlinienkonformen Entscheidung durchsetzte. Dem Gesetzgeber bliebe allenfalls die ausdrückliche Umsetzungsverweigerung mit der praktischen Konsequenz der Provokation des Vertragsverletzungsverfahrens und der Staatshaftung. Die Contra-legem-Grenze würde damit der Sache nach aufgegeben.15 2. Vermutete Entsprechung des judikativen Ergebnisses mit dem Gesetzgeberwillen a) Argumente (1) Die Vermutung des Gesetzgeberwillens zur korrekten Umsetzung Setzt der nationale Gesetzgeber die Richtlinie fehlerhaft um, wird häufig auf eine Vermutung rekurriert, der Gesetzgeber habe die Richtlinie ordnungsgemäß umsetzen wollen (konkreter Umsetzungswille). Teilweise wird auch ohne Umsetzung der Richtlinie durch den nationalen Gesetzgeber auf einen generellen Willen des Gesetzgebers zur korrekten Richtlinienumsetzung auch für Altrecht abgestellt (genereller Umsetzungswille). Der vermutete Umsetzungswille, sei er konkret oder generell, erhält, sofern er im Widerspruch zur materiellen Regelungsentscheidung des Gesetzgebers steht, Vorrang vor Letzterer. Damit wird die nationale Contra-legemGrenze, die ein Judizieren außerhalb der aktuellen materiellen Gesetzgeberentscheidung nicht vorsieht, überschritten. Für die These eines Vor13
Vgl. auch Schürnbrand, JZ 2007, 910, 914. Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 323. 15 Vgl. Schürnbrand, JZ 2007, 910, 916; Grosche/Höft, NJOZ 2009, 2294, 2308 f. 14
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Teil 3: Zulässigkeit und Notwendigkeit der Veränderung von Methoden
rangs des Umsetzungswillens wird angeführt, dass der nationale Gesetzgeber, hätte er den Richtlinienverstoß gekannt, sich für eine andere, richtlinienkonforme Umsetzung entschieden hätte. Eine richterliche Entscheidung werde im Regelfall seinen Interessen entsprechen und eine strikte Orientierung an der materiellen Regelungsentscheidung liefe seinen Interessen zuwider, zumal dann mit einem Vertragsverletzungsverfahren oder Staatshaftungsansprüchen gegen den Staat zu rechnen sei.16 Die Judikative führe damit nur den (fingierten) Willen des Gesetzgebers aus, was nur unerheblich in die nationale Kompetenzverteilung eingreifen soll. (2) Die Alterung des nationalen Gesetzes allein durch die Richtlinie In eine ähnliche Richtung weist das Argument von C. Herresthal, der davon ausgeht, das nationale Recht sei mit Erlass der Richtlinie oder einer vom nationalen Recht abweichenden Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur Auslegung der Richtlinie veraltet. Habe der Gesetzgeber die Richtlinie umgesetzt, fehle der Umsetzungsnorm die Aktualität, wenn sie auf einem nicht (mehr) zutreffenden Verständnis der Vorgabe beruhe, beispielsweise weil der Gerichtshof die Richtlinie nach Umsetzung anders als der nationale Gesetzgeber ausgelegt habe.17 Im Falle der fehlenden Aktualität bestünde ein Regelungsdefizit, was die Judikative anhand der Richtlinie schließen könne. Mangels (aktueller) Gesetzgeberentscheidung ersetze die Judikative nicht die Legislativentscheidung, sondern fülle nur die Lücke aus, sodass das Gewaltenteilungsprinzip nicht betroffen sei. b) Stellungnahme Fraglich ist, ob die Vermutung der Gesetzgeber habe die Richtlinie ordnungsgemäß umsetzen wollen sowie der Vorrang dieses (vermuteten) Gesetzgeberwillens vor der materiellen Regelungsentscheidung des Gesetzgebers, verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden können. Denn auch hier wird die Contra-legem-Grenze verändert, da es nicht mehr allein auf die materielle Sachregelung des Gesetzgebers ankommen soll. (1) Gleichwertigkeit von Umsetzungswillen und materieller Regelungsentscheidung Fraglich ist, ob der Umsetzungswille der materiellen Regelungsentscheidung gleichsteht oder dieser sogar der eigentlich maßgebende Gesetzgeberwille für den Richter ist. Allerdings handelt es sich nicht um einen nach 16 Roth in: Europäische Methodenlehre, § 14 Die richtlinienkonforme Auslegung, Rn. 53b und c; Schulte-Nölke, ZGS 2006, 321, 321. 17 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 326 ff.
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nationaler Gesetzesanwendungsmethodik maßgeblichen Willen, sondern um ein bloß vorgelagertes Motiv des Gesetzgebers für eine konkrete Regelungsentscheidung.18 Erst Letztere stellt die eigentliche Entscheidung in der Sache und einen verbindlichen Regelungswillen dar. J. Schürnbrand beschreibt dies wie folgt: „bei Lichte besehen erfüllt der nationale Gesetzgeber mit der Richtlinienumsetzung nur seinen Rechtsetzungsauftrag und legt für das von ihm geschaffene Gesetz ein bestimmtes Verständnis von deren Vorgaben und den ihm verbleibenden Gestaltungsspielräumen zugrunde, schafft im Zuge dessen aber ein eigenständiges Regelungsgebäude.“19
Der Wille zu einer konkreten Sachregelung hat den konkreten Lebenssachverhalt im Blick und damit gleichzeitig die Wirkung einer Regelung für die Normadressaten.20 Hingegen bezieht sich der Umsetzungswille auf die Vereinbarkeit einer konkreten Regelung mit einer höherrangigen normativen Vorgabe. Dass sich der Gesetzgeber über den Inhalt der normativen Vorgabe Klarheit verschafft, ist nur eine Vorfrage, die der Bildung einer konkreten Regelungsabsicht vorausgeht und sich nur indirekt auf die Wirkung einer konkreten Regelung auf die Normadressaten bezieht.21 Die Absicht bzw. das Motiv für eine konkrete Sachregelung kann daher nicht mit dieser selbst gleichgesetzt werden. Der innere Wille des Gesetzgebers allein ersetzt nämlich nicht die für ein Gesetz erforderliche äußere Form. Mit anderen Worten: Die Intention, die Richtlinie (richtig) umzusetzen, ist zu trennen von dem materiellen Willen des Gesetzgebers, eine konkrete Sachregelung zu treffen. Der Gesetzgeber kann zwar durch eine Richtlinie zur Schaffung einer konkreten Regelung motiviert werden, jedoch ist die bloße Absicht der Umsetzung nicht mit der tatsächlichen Ausführung gleichzusetzen.22 Wenn die Judikative also dennoch das Motiv über die konkrete Regelungsentscheidung stellt, um damit die Möglichkeit zu haben, die Vorgaben der Richtlinie an die Stelle der gesetzgeberischen Regelungsentscheidung zu setzen, dann wird sie legislativ tätig, sodass die traditionelle Kompetenzverteilung verschoben wird.
18 Herdegen, WM 2005, 1921, 1923: „abstrakte rechtspolitische Intention des Gesetzgebers“. 19 Schürnbrand, JZ 2007, 910, 913. 20 Grosche/Höft, NJOZ 2009, 2294, 2306. 21 Grosche/Höft, NJOZ 2009, 2294, 2306 f. 22 Vgl. Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 99; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 917; Franzen, JZ 2003, 321, 324; Piekenbrock/Schulze, WM 2002, 521, 525.
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(2) Keine Rechtfertigung der Vermutung der ordnungsgemäßen Richtlinienumsetzung Es kommt hinzu, dass für die generelle Annahme eines Willens des Gesetzgebers zur ordnungsgemäßen Umsetzung der Richtlinie keine hinreichende Tatsachengrundlage besteht. (a) Umkehrung des festgestellten Auslegungsergebnisses Eine richtlinienorientierte Auslegung scheidet aus und eine Verschiebung der traditionellen Contra-legem-Grenze wird notwendig in den Konstellationen, in denen eine eindeutige und aktuelle materielle Gesetzgeberentscheidung vorliegt, die der Richtlinie entgegensteht. In genau diesen Fällen der eindeutigen Regelungsentscheidung des Gesetzgebers soll nun eine Vermutung der korrekten Richtlinienumsetzung eingreifen. Diese Aussage der Vertreter der Umsetzungsvermutung ist damit bereits in sich widersprüchlich: Warum muss ein Wille vermutet werden, wenn doch durch (u.a. auch genetische) Auslegung ein gegenteiliges, eindeutiges Auslegungsergebnis bereits feststeht? Liegt ein eindeutiges Auslegungsergebnis vor, dann geht die tatsächliche Auslegung einer Auslegungsregel (der Vermutung der Richtlinienkonformität) vor.23 Eine richtlinienkonforme Auslegung scheidet mangels Mehrdeutigkeit des nationalen Rechts aus.24 Außerdem sind die Rechtsnormen, die richtlinienkonform ausgelegt werden müssen, regelmäßig an der Grenze zur Richtlinienwidrigkeit, sodass eine etwaige Vermutung in diesen Konstellationen gerade nicht sinnvoll erscheint.25 In diesen Fällen eine Vermutung annehmen zu wollen, hat nur den Zweck, die Contra-legem-Grenze aufgrund der entgegenstehenden Richtlinienvorgabe aufzuheben. Dies führt zu einer Kompetenzverschiebung zu Lasten der Legislative, die nicht gerechtfertigt erscheint. Deutlich wird dies besonders bei einer generellen Umsetzungsvermutung bei Altrecht. Das Altrecht mit in den Willen des Gesetzgebers einzubeziehen, selbst wenn der Gesetzgeber es völlig unverändert gelassen hat, bedeutet eine reine Fiktion eines Umsetzungswillens.26 Gleiches gilt, wenn der nationale Gesetzgeber den Inhalt der Richtlinie falsch verstanden hat und sich dieser Irrtum nachweisen lässt. Ein Wille zur ordnungsgemäßen Richtlinienumsetzung hilft in dieser Konstellation nicht weiter, wird er doch durch den nachweisbaren Irrtum des Gesetzgebers gerade widerlegt.27 23
Ähnlich auch Witt, NJW 2006, 3322, 3324. Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 80; Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 275. 25 Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 79; Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 255 f. 26 Canaris in: FS Bydlinski, 2002, 47, 50; Höpfner, JZ 2009, 403, 404; Grosche/Höft, NJOZ 2009, 2294, 2306. 27 Wohl auch Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 274. 24
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Zu einer Verschiebung der traditionellen Contra-legem-Grenze und damit der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung führt auch das Gegenbegriffspaar, welches der BGH in der Entscheidung Quelle bildet: Er stellt die „konkrete Regelungsabsicht“ einer „konkret geäußerten, von der Annahme der Richtlinienkonformität getragenen Umsetzungsabsicht des Gesetzgebers“28 gegenüber. Will das Gericht hier einen Mittelweg zwischen der Ablehnung eines generellen Umsetzungswillens und eines konkreten Regelungswillens wählen29, ist das gewählte Kriterium der konkreten Umsetzungsabsicht der falsche Weg.30 Ausgeklammert werden damit nämlich die Fälle, in denen sich ein konkreter Umsetzungswille nicht feststellen lässt. Beispiele sind u.a. die Fälle, in denen die Gesetzesmaterialien keine Hinweise zur Richtlinienkonformität liefern, weil Zweifel an der Richtlinienwidrigkeit gar nicht erst aufkamen oder weil der Gesetzgeber schlicht keinen Anlass sah, seine Europarechtstreue ausdrücklich zu untermauern.31 M. Gebauer stellt dazu die Formel auf, „[j]e selbstverständlicher den Verfassern von Gesetzesmaterialien die Richtlinienkonformität einer bestimmten Regelung erscheint, desto eher werden sie auf Ausführungen dazu ganz verzichten.“32 In problematischen Fällen, in denen sich auch der Gesetzgeber der Richtlinienkonformität nicht immer ganz sicher war, wäre eine Konformauslegung hingegen zulässig. Die Bekräftigung des Gesetzgebers, die Richtlinie ordnungsgemäß umsetzen zu wollen, zeigt gerade, dass der Gesetzgeber die Regelung für begründungsbedürftig hält.33 Je schwächer also der Konformitätswille ausgeprägt ist, desto eher wäre eine richtlinienkonforme Rechtsfindung vorzunehmen. Dies kann so nicht gewollt sein. Jedenfalls würde mit der Überlegung, der Gesetzgeber habe nicht gegen die Richtlinie verstoßen wollen, die materielle Regelungsentscheidung des Gesetzgebers obsolet. Das nationale Gesetz würde auslegungsbedürftig oder lückenhaft bereits dadurch, dass der Gesetzgeber neben einem konkreten Regelungswillen auch die Richtlinie umsetzen wollte (bei Annahme eines konkreten Umsetzungswillens) oder sogar dann, wenn die Richtlinie nur existiert (und deshalb die generelle Vermutung eines Umsetzungswillens greift). Es entsteht der Eindruck, dass der nationale Gesetzgeber in Übereinstimmung mit den Richtlinienvorgaben steht. Dieser Eindruck ist falsch34, denn die Regelungsentscheidung in der Sache wird vollständig 28
BGH NJW 2009, 427 ff., Rn. 25. Davon gehen Bauerschmidt/Harnos, ZGS 2010, 202, 205 aus. 30 Im Ergebnis so auch Gsell, JZ 2009, 522, 523. 31 Gsell, JZ 2009, 522, 523 mit Fn. 14. 32 Gebauer, GPR 2009, 82, 84. 33 Gebauer, GPR 2009, 82, 84. 34 Vgl. Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 258. 29
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durch den Umsetzungswillen verdrängt. Entgegenstehende systematische oder historische Erwägungen geraten dann auch nicht mehr in den Blick oder sind nicht in der Lage, den Umsetzungswillen zu erschüttern.35 Damit wird zum einen jeglicher methodische Anspruch bei der Gesetzesinterpretation aufgegeben.36 Zum anderen ist dieses Vorgehen methodenunehrlich, da es auf die an sich maßgebende Regelungsentscheidung des Gesetzgebers nicht mehr ankommt und stattdessen auf ein bloßes Motiv zurückgegriffen wird.37 Das Sich-Klarheit-Verschaffen über die Richtlinienvorgabe betrifft nämlich lediglich eine Vorfrage, die sich gerade nicht in der konkreten Regelung wiederfindet.38 Zur unmittelbaren Anwendbarkeit der Richtlinie im Horizontalverhältnis besteht dann nur noch ein rechtstechnischer Unterschied.39 Die Vermutung der korrekten Umsetzung der Richtlinie würde zu einem dynamischen Verweis auf die Richtlinie führen.40 Entscheidend ist bei dieser Methode nicht mehr, was der Gesetzgeber wollte, sondern was er nach der Richtlinienvorschrift bei richtiger Auslegung gewollt haben sollte. Der Richter, der derartiges festlegt, schwingt sich zum Gesetzgeber auf.41 Die Judikative würde in die Kompetenzen der Legislative eingreifen und die nationale Kompetenzverteilung würde verändert. (b) Keine empirische Beweisbarkeit der Vermutung Ebenso wenig lässt sich die Vermutung für die korrekte Richtlinienumsetzung des nationalen Gesetzgebers empirisch belegen, wie dies C. Höpfner anhand von Datenmaterial zur fehlenden oder fehlerhaften Umsetzung von Richtlinien nachgewiesen hat.42 35 Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 258; Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 315. 36 Herdegen, WM 2005, 1921, 1924. 37 Grosche/Höft, NJOZ 2009, 2294, 2306 f.; Piekenbrock/Schulze, WM 2002, 521, 525, 527; Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 315: „Scheinlegitimation“. 38 Grosche/Höft, NJOZ 2009, 2294, 2306 f. 39 Vgl. Habersack/Mayer, WM 2002, 253, 256; Schulze, GPR 2008, 128, 131; Franzen, JZ 2003, 321, 327; Danwitz, JZ 2007, 697, 702 ff., Schürnbrand, JZ 2007, 910, 916; Gsell, JZ 2009, 522, 524. Vgl. auch Jarass, Grundfragen, S. 94; Jarass, EuR 1991, 211, 218. 40 Grosche/Höft, NJOZ 2009, 2294, 2306; Höpfner, JZ 2009, 403, 404 f.; Gsell, JZ 2009, 522, 524 m.w.N. in Fn. 26; Herdegen, WM 2005, 1921, 1923. Vgl. auch Witt, NJW 2006, 3322, 3324; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 913. 41 Dänzer-Vanotti, RIW 1991, 754, 754. 42 Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 255 f.; Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 79. Derzeit sind nach Auskunft der EU 1590 Vertragsverletzungsverfahren anhängig (Stichtag: 26. April 2012), davon 68 in Deutschland (Stichtag: 3. Mai 2012, BTDrucks. 17/9537, S. 2). Hiervon beziehen sich 32 auf die fehlende oder fehlerhafte Umsetzung von Richtlinien (BT-Drucks. 17/9537, S. 3). Eine ordnungsgemäße Umsetzung erfolgt folglich gerade nur in einem Teil der Fälle, in anderen erfolgt die Umsetzung
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Außerdem spricht es gegen die Vermutung eines Umsetzungswillens, dass der Gesetzgeber bei der Richtlinienumsetzung die Möglichkeit hatte, eine näher an die Richtlinie angelehnte, engere Formulierung zu wählen – dies aber nicht getan hat.43 Dies deutet darauf hin, dass ihm gerade die konkrete Sachregelung wichtiger war als eine genaue Anlehnung an die Vorgaben der Richtlinie. Der Einwand, dass sich die Wertentscheidung der Richtlinie und der Wille zu ihrer Umsetzung in unvollkommener Form in der umgesetzten Norm wiederfindet44, greift nicht. Dass der Gesetzgeber die Wertentscheidung einer Richtlinie in ihrer Gesamtheit aufgenommen hat, gerade wenn er auch eine anderweitige konkrete Regelung getroffen hat, ist bloße Unterstellung. Der Gesetzgeber legt vielmehr mit Umsetzung der Richtlinie ein bestimmtes Verständnis von ihren Vorgaben und den ihm verbleibenden Gestaltungsspielräumen zugrunde. Damit schafft er ein eigenständiges Regelungsgebäude.45 Die Gleichstellung des in der Regel allgemein gehaltenen, pauschalen Willens zur ordnungsgemäßen Richtlinienumsetzung mit der regelmäßig ausführlich begründeten Sachregelungsentscheidung, lässt sich deshalb nicht rechtfertigen. Vielmehr wird zumeist der konkrete Regelungswille vor dem bloß abstrakten Umsetzungswillen hervortreten.46 Im Gegenteil kann das Abstellen auf einen Umsetzungswillen gerade auf eine verdeckte Missachtung der Richtlinie hindeuten.47 Hat der Gesetzgeber erkannt, dass die Vereinbarkeit seiner Regelung mit der Richtlinie zweifelhaft ist, sich aber gleichwohl zu dieser konkreten Regelung entschlossen, könnte man dem Gesetzgeber unterstellen, dass er das Risiko einer abweichenden Auslegung der Richtlinie durch den EuGH kannte und bewusst in Kauf genommen hat.48 Demzufolge ist die Vermutung für die korrekte Richtlinienumsetzung vor dem Hintergrund des nationalen Rechts nicht zu beweisen. (3) Keine Alterung des nationalen Gesetzes Soweit die Alterung des Gesetzes sich nicht aus dem nationalen Recht ergibt, sondern allein mit der Richtlinie begründet wird, wirft die Richtliüberhaupt nicht oder nur mangelhaft. Eine Vermutung dafür, dass der Gesetzgeber Richtlinien stets ordnungsgemäß umsetzen wollte, lässt sich daher nicht belegen. 43 Nettesheim, AöR 1994, 261, 267. 44 So Möllers, EuR 1998, 20, 45. 45 Schürnbrand, JZ 2007, 910, 913 m.w.N. in Fn. 42. Dies trifft zumindest dann zu, wenn der Gesetzgeber die Richtlinie nicht Eins-zu-eins übernimmt. Allein in diesem Fall kann man überlegen, ob eine Fortwirkung der Richtlinienregelung in der jeweiligen Auslegung durch den EuGH in Betracht kommt. 46 Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S. 274. 47 Dazu Gsell, JZ 2009, 522, 523. 48 Gsell, JZ 2009, 522, 523.
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nie allein eine Lücke im nationalen Recht auf, die durch sie zu schließen ist. Dies führt zu einem dynamischen Verweis auf die Richtlinie, ohne dass eine gesetzgeberische Entscheidung im Hinblick auf die Vorgaben der Richtlinie ergangen wäre. Dies konfligiert wiederum mit der Gewaltenteilung, weil die Judikative eine nach nationalen Maßstäben aktuelle und eindeutige Wertentscheidung unberücksichtigt lässt, an die sie aber gebunden ist. Wenn der Gesetzgeber nach Erlass der Richtlinie eine nationale Norm setzt, trifft er eine aktuelle Wertentscheidung – und zwar unabhängig davon, ob er die Vorgaben der Richtlinie korrekt interpretiert, sich irrt oder sich keine Gedanken hierüber macht. Würde nämlich ein Irrtum des Gesetzgebers über den Richtlinieninhalt zum Altern des nationalen Gesetzes führen, dann wäre die nationale Norm entweder sofort mit ihrem Erlass (wenn die Umsetzungsfrist bereits abgelaufen ist oder gerade abläuft), spätestens aber mit Ablauf der Umsetzungsfrist veraltet. Lässt man dies zu, würde man der gesetzgeberischen Entscheidung letztlich von Beginn an die Anerkennung versagen, sofern nur ein Irrtum des Gesetzgebers vorliegt. Dies widerspricht wiederum Art. 20 III GG, der Bindung an Gesetz und Recht.49 Außerdem spricht als Teil des Rechtsstaatsprinzips auch der Vertrauensschutzgrundsatz gegen ein Altern des nationalen Gesetzes allein aufgrund der Richtlinie. Kontinuität und Stabilität der Gesetze sowie der Rechtsprechung stellen im Rechtsstaat einen Eigenwert dar50, sodass die Veränderung der Rechtsprechung einer Rechtfertigung bedarf. Allein die Richtlinie kann diese Rechtfertigung jedoch nicht bieten, denn sie gilt nicht unmittelbar für den Bürger. Stattdessen könnte nur die Aufnahme der Richtlinienvorgaben durch den Gesetzgeber eine veränderte Rechtsprechung rechtfertigen oder ein Altern des Gesetzes bereits unter nationalen Gesichtspunkten. Eine Entscheidung, ob die Gesetzgeberentscheidung noch aktuell ist, muss folglich nach traditionellen Maßstäben und unabhängig der Richtlinie getroffen werden. 3. Zwischenergebnis Setzt im Richtlinienbereich die Judikative die Richtlinienvorgaben um, ohne dass das nationale Recht eine solche Umsetzung auch autonom zuließe, wird also die traditionelle Contra-legem-Grenze verändert, ist dies gewaltenteilungsrelevant. Im rein nationalen Kontext kommt der Judikative nämlich keine Rechtssetzungsfunktion, sondern nur Rechtsanwendungs49 50
Im Ergebnis ebenso Herber, EuZW 1991, 401, 404. So Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 120.
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funktion zu. Diese Kompetenzverschiebung kann auch nicht damit gerechtfertigt werden, dass dem nationalen Gesetzgeber die Regelungskompetenz im Richtlinienbereich nicht mehr zukommt, denn ihm steht die Möglichkeit weiterhin zu, die Umsetzung von Richtlinienvorgaben in das nationale Recht zu verweigern und ihm wird auch ein Gestaltungsspielraum durch Unionsrecht zugestanden. Dasselbe gilt für Modifikationen, die im rein national-methodischen Kontext vorgenommen werden, denn die Vermutung eines Willens zur Richtlinienkonformität und ein Vorrang dieses Willens vor der materiellen Sachregelungsentscheidung lassen sich nicht begründen. II. Rechtfertigung der mit der Modifikation traditioneller Rechtsfindungsmethoden verbundenen Kompetenzverschiebung durch Aufwertung von Art. 23 GG als Staatsstrukturprinzip 1. Argument: Veränderung der Verfassungsstruktur und der nationalen Methoden durch das Staatsstrukturprinzip der integrierten Staatlichkeit Zu untersuchen ist die These von C. Herresthal, der argumentiert, es habe sich die verfassungsrechtliche Struktur und damit die Kompetenzverteilung aufgrund der Einfügung von Art. 23 GG als neues Staatsstrukturprinzip der integrierten (Verfassungs-)Staatlichkeit geändert. 51 Im Gegensatz zu einem bloßen Staatsziel, das den Staat auf bestimmte Aufgaben und Ziele verpflichtet, ohne seine Organisationsstruktur unmittelbar zu beeinflussen, habe das Prinzip der integrierten (Verfassungs-)Staatlichkeit konstitutive Bedeutung für die nationale Verfassungsstruktur.52 Dieses trete mit den übrigen Verfassungsstrukturprinzipien in Beziehung und modifiziere die traditionelle Staatsstruktur. Diese Änderungen der Verfassungsstruktur und der Gewaltenzuordnung wirken auf die nationale Methode zurück. Daher sei die nationale Methode zu modifizieren und die traditionelle Contralegem-Grenze könne überschritten werden. 2. Stellungnahme Klärungsbedürftig ist, ob dieser neue Ansatz von C. Herresthal, die nationale Verfassungsstruktur habe sich aufgrund einer autonomen Entscheidung des Mitgliedstaates mit Einfügung des Art. 23 GG geändert, haltbar ist.
51 52
Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 137. Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 124 ff.
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a) Der Ansatz über die Veränderung der nationalen Verfassungsstruktur Der Ansatz C. Herresthals über die Veränderung der nationalen Verfassungsstruktur und Kompetenzverteilung zur Veränderung der Methoden ist konsequent. Die traditionellen Methodengrenzen werden hier nicht allein deshalb verschoben, weil die Einwirkungen von Richtlinien bzw. des Normsetzungsbefehls neutral im Hinblick auf die traditionelle Kompetenzverteilung erscheinen. Stattdessen wird erkannt, dass die Modifikation der nationalen Methoden einer verfassungsrechtlichen Legitimation bedarf. Ausgangspunkt des Ansatzes von C. Herresthal ist daher die These, das nationale Kompetenzgefüge habe sich durch Art. 23 GG geändert. b) Vorliegen einer Veränderung der nationalen Verfassungsstruktur Fraglich ist allerdings, ob das behauptete neue Verfassungsstrukturprinzip tatsächlich besteht. C. Herresthal begründet dies mit einer Auslegung von Art. 23 GG, die ergebe, dass es sich um ein Staatsstrukturprinzip handele.53 Wäre dies der Fall, würde das Staatsstrukturprinzip der integrierten Staatlichkeit zu den übrigen Staatsstrukturprinzipien in praktische Konkordanz treten. Es könnte in Randbereichen das Rechtsstaats- und Demokratieprinzip verdrängen, sodass eine Veränderung der Contra-legemGrenze, die die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Judikative schützt, für den Richtlinienbereich aufgrund einer veränderten Verfassungsstruktur in Erwägung zu ziehen ist. Demzufolge muss überprüft werden, ob Art. 23 GG ein Staatsstrukturprinzip oder lediglich ein Staatsziel darstellt. Letzteres würde die traditionellen Kompetenzgrenzen unberührt lassen. (1) Auslegung von Art. 23 GG (a) Wortlaut Betrachtet man zunächst den Wortlaut, auf den C. Herresthal nicht eingeht, fällt die zurückhaltende Formulierung von Art. 23 GG auf. Danach „wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit“. Die Verwendung der Worte „Mitwirkung“ bei der „Entwicklung“ der Union deutet auf eine bloße zielorientierte Ausrichtung der Vorschrift hin. Dies gilt insbesondere im systematischen Vergleich mit anerkannten Verfassungsstrukturprinzipien. Beispielsweise legt Art. 20 I GG fest: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ Es wäre durchaus möglich gewesen, in Art. 23 I GG eine entsprechende staatsstrukturorientierte Formulierung zu wählen wie beispielsweise „die Bundesrepublik Deutschland ist ein integrierter Verfas53
Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 126 ff.
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sungsstaat“ oder sie „integriert sich in die Europäische Union“. Die gewählte handlungsorientierte Formulierung deutet stattdessen auf das Vorliegen einer Staatszielbestimmung hin. (b) Genetische Auslegung Weiterhin sprechen die Gesetzesmaterialien zu dieser Norm gegen ein Verständnis von Art. 23 GG als Staatsstrukturprinzip. Von den am Normsetzungsprozess beteiligten Organen wird die europäische Integration als Staatsziel bezeichnet.54 Hierbei handelt es sich jedoch nicht lediglich um eine „tendenziell untechnische Begriffsverwendung“, wie es C. Herresthal behauptet.55 Stattdessen liegt der gegenteilige Schluss nahe. Diese verfassungsrechtliche Terminologie wurde nämlich von der Gemeinsamen Verfassungskommission56, dem Sonderausschuss „Europäische Union (Vertrag von Maastricht)“57 und in der Regierungsbegründung58 gewählt. Es ist davon auszugehen, dass den jeweiligen Entscheidungsträgern die Bedeutung des Unterschiedes zwischen Staatsstrukturprinzip und Staatsziel bekannt war. (c) Systematisch-teleologische Auslegung Untypisch für eine Staatszielbestimmung ist, dass Art. 23 GG eine hohe Regelungskomplexität aufweist.59 Das Verfahren der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Union unter der Mitwirkung von Bundesrat und Bundestag wird in Art. 23 II-VI GG ausführlich geregelt. Die Erfordernisse der Mitwirkung an der Europäischen Union bewirken also in der Tat eine Verschiebung im Gewaltengefüge; beispielsweise werden die Aufgaben der Exekutive ausgedehnt, die in der Kommission die Rechtsakte der Union mit aushandelt (vgl. Art. 23 III 1 GG). Eine gewisse Strukturrelevanz lässt sich Art. 23 GG mit dem Verfahren zur Übertragung von Hoheitsrechten daher nicht absprechen. Dass Art. 23 GG aber auch außerhalb des von der Norm geregelten Bereiches Kompetenzen verändern will, ist damit nicht begründet. Es werden nämlich lediglich die aufgelisteten Kompetenzen verschoben, wie dies beispielsweise auch bei den übrigen unionsbedingten Änderungen des Grundgesetzes (Art. 28 I 3, 45, 52 IIIa, 88 S.2, GG) der Fall ist. Hieraus kann geschlussfolgert werden, dass auch nur diese aus54
BT-Drucks. 12/6000, S. 20. Dies erkennt auch C. Herresthal, der die Aussagekraft allerdings für sehr begrenzt hält, Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 126 f. 55 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 127. 56 BT-Drucks. 12/6000, S. 20. 57 Bericht des Sonderausschusses „Europäische Union (Vertrag von Maastricht)“, BTDrucks. 12/3896, S. 17; Berichte der GVK, Zur Sache 5/93, 40. 58 Begr. Reg. Entw. BT-Drucks. 12/3338 S. 6 re.Sp. 59 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 127 und 129.
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drücklich bezeichneten Strukturänderungen angestrebt waren und nicht eine ungeschriebene Kompetenzveränderung durch die Definition von Art. 23 GG als Staatsstrukturprinzip. (d) Fazit Eine Gesamtschau von Wortlaut, Genese sowie Sinn und Zweck von Art. 23 GG führen zu dem Ergebnis, dass in der derzeitigen Fassung diese Norm nicht als Staatsstrukturprinzip zu verstehen ist, sondern lediglich eine Staatszielbestimmung.60 (2) Jedenfalls keine Reduktion auf Null Selbst wenn man aber davon ausginge, dass Art. 23 GG nicht wie dargelegt als Staatsziel, sondern als Staatsstrukturprinzip zu werten wäre, kann dies nicht dazu führen, dass eine erhebliche Zurückdrängung bis zu einer „Reduktion auf Null“ der traditionellen Strukturprinzipien erfolgt. Unter Anwendung der Methode von C. Herresthal würde die legislative Umsetzung der Richtlinie zu einer Formalie verkommen. Die Judikative würde sich mit der Umsetzung von Richtlinienvorgaben praktisch in jedem Fall durchsetzen, es sei denn, es tritt der unwahrscheinliche Fall ein, dass der Gesetzgeber ausdrücklich die korrekte Richtlinienumsetzung verweigert. Die Judikative könnte damit in großen, politisch brisanten Bereichen wie dem Kauf- und Arbeitsrecht eigene Regelungsentscheidungen setzen (und die materielle Gesetzgeberentscheidung verdrängen), sofern diese richtlinienkonform sind. Der Judikative fehlt für diese Entscheidung jedoch regelmäßig die Beurteilungsgrundlage, da die Folgen nicht in ähnlichem Maße wie in einem Gesetzgebungsverfahren ermittelt werden können.61 G. Hager hat diesbezüglich darauf hingewiesen, dass der Richter bei der Rechtsfortbildung wie der Gesetzgeber agiere und ihm deshalb auch die Aufgabe zufalle, die Auswirkungen seiner Rechtsfortbildung zu reflektieren und zu prognostizieren.62 Deshalb solle der Richter Rechtsfortbildungen meiden, die allgemeine, rechtspolitische und kollektive Ziele voranbringe, bei der ihm die erforderliche Einsicht bzw. der notwendige Weitblick fehle.63 „Je zutreffender ein Gericht die Auswirkungen einer Entscheidung prognostizieren kann, desto eher kommt eine Rechtsfortbil60 Im Ergebnis ebenso Pernice in: Grundgesetz: Kommentar, Art. 23 GG, Rn. 2. Schon zu Art. 24 GG Mosler in: § 175 Die Übertragung von Hoheitsgewalt, 1992, 599, 603, Rn. 8. 61 Andere Ansicht: Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 205 f. 62 Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 198, 203. Darauf stellen auch Piekenbrock/ Schulze, WM 2002, 521, 523 ab. 63 Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 314.
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dung in Betracht. Umgekehrt hat diese zu unterbleiben, wenn eine Folgenanalyse durch den Richter seriöser Weise gar nicht mehr vorgenommen werden kann.“64 Dies gilt im nationalen Bereich wie auch im Richtlinienbereich. Außerdem gerät der Grundsatz des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit unter Anwendung der Methode von C. Herresthal überhaupt nicht in den Blick. Mangels unmittelbarer Geltung der Richtlinie ist im Richtlinienbereich das nationale Recht für die Gerichte und damit auch für den Bürger verbindlich, Art. 20 III GG. Wird aber in den Rechtsfindungsprozess bei den Gerichten bereits die Richtlinie einbezogen, wie C. Herresthal es vorschlägt, wird im Ergebnis stets das Ergebnis der Richtlinie erreicht, da sich die Richtlinie selbst die Lücke schafft, in die sie dann eintritt (es sei denn, der Gesetzgeber hat die Richtlinie korrekt verstanden und verweigert mit diesem Verständnis ausdrücklich die Umsetzung). Mit dieser Methode wird das nationale (Umsetzungs-)Gesetz bloßes Blankett für das Programm der Richtlinie. Der Bürger kann sich folglich nicht mehr auf den nationalen Gesetzestext verlassen, wäre also stets gezwungen zu prüfen, ob die für seine Rechtsbeziehungen maßgeblichen Rechtsnormen mit Richtlinien konfligieren. Wäre dies der Fall, müsste er ein (sicher umfangreiches) Rechtsgutachten dazu einholen, ob eine richtlinienkonforme Rechtsfindung möglich ist oder eben nicht doch eine der seltenen Ausnahmefälle (wie beispielsweise die Rechtsverweigerung des nationalen Gesetzgebers) vorliegt. Dies würde Rechtsunsicherheit hervorrufen und wäre für den Bürger nicht tragbar. Eine derart weitreichende Einschränkung der genannten Staatsstrukturprinzipien durch ein neues Prinzip der „integrierten Staatlichkeit“ kann daher nicht angenommen werden. Die von C. Herresthal befürwortete Neuzuordnung der Gewalten ist in dieser Tragweite folglich abzulehnen. III. Zwischenergebnis Die richtlinienkonforme Auslegung oder Rechtsfortbildung außerhalb der nationalen Methoden greift in die verfassungsrechtliche Kompetenzverteilung ein. Dieser Eingriff lässt sich weder unionsrechtlich, noch verfassungsrechtlich rechtfertigen.
64
Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 314.
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B. Schutzlücken bei richtlinienkonformer Rechtsfindung im Sinne eines Ergebnisvorrangs B. Schutzlücken bei Rechtsfindung im Sinne eines Ergebnisvorrangs Scheidet aufgrund des Ergebnisses des vorhergehenden Abschnitts eine richtlinienkonforme Rechtsfindung durch die Verschiebung der traditionellen Contra-legem-Grenze aus, bleibt nur, die Gesetzesanwendung unter Beachtung dieser Grenze durchzuführen. Genutzt werden kann die Methode des Ergebnisvorrangs, denn hier wird unter bereits nach nationalem Recht zulässigen Auslegungsergebnissen lediglich das richtlinienkonforme zwingend ausgewählt oder ohnehin bestehende Lücken geschlossen. Probleme ergeben sich jedoch daraus, dass aus unionsrechtlicher Sicht Schutzlücken denkbar sind.65 Es stellt sich daher die Frage, welche verfassungsrechtlich zulässigen Möglichkeiten dem nationalen Richter verbleiben, Schutzlücken zu schließen (I.). Sind alle Möglichkeiten aufgezeigt, können im Anschluss durch Anwendung der herausgearbeiteten Konfliktlösungsmechanismen die Fallgruppen erarbeitet werden, in denen Schutzlücken verbleiben (II.). Für diese Konstellationen stellt sich die Frage, ob die verbleibenden Schutzlücken offen gelassen werden können oder ob und warum es notwendig ist, die Schutzlücken zu schließen (III.). I. Verfassungskonforme Konfliktlösungsmechanismen für den Konflikt zwischen Richtlinie und nationalem Recht Schutzlücken im Zusammenhang mit Umsetzungsverstößen des Mitgliedstaates liegen vor, wenn kein unionsrechtliches oder nationales Institut es ermöglicht, dass der von der Richtlinie begünstigte Bürger so gestellt wird, als wäre die Richtlinie korrekt umgesetzt worden. Es wirkt die Richtlinie also weder unmittelbar, noch greift die richtlinienkonforme Rechtsfindung, noch die Staatshaftung, noch ein anderes Institut. Vor dem Hintergrund dieser Definition der Schutzlücke ist fraglich, welche Methoden im Horizontalverhältnis angewendet werden können, um solche Schutzlücken zu vermeiden. Eine unmittelbare Wirkung der Richtlinie scheidet im Horizontalverhältnis mangels unmittelbarer Geltung der Richtlinie aus.66 Eine Ausdehnung der richtlinienkonformen Rechtsfindung auf die Fälle, in denen sonst Schutzlücken entstehen würden67, muss wie gesehen68 ausscheiden, da die Contra-legem-Grenze unzulässig ausdehnt und damit die ver65 Vgl. zu diesem Argument Schulte-Nölke/Busch in: FS Canaris II, 2007, 795, 806; Gsell, JZ 2009, 522, 524; Fischinger, EuZW 2008, 312, 313; Möllers, EuR 1998, 20, 44; Steindorff in: EG-Richtlinien und Illusionen, 1995, 1455, 1458 f. 66 Dazu oben Teil 1, A.II., S. 17 ff. und A.III. S. 24 ff. 67 Colneric, ZEuP 2005, 225, 233; Metallinos, Europarechtskonforme Auslegung, S. 49 f. mit Fn. 133. 68 S. oben Teil 3, A., S. 207 ff.
B. Schutzlücken bei Rechtsfindung im Sinne eines Ergebnisvorrangs
227
fassungsrechtlichen Kompetenzgrenzen überschritten werden. Es bleiben die richtlinienkonforme Rechtsfindung im Sinne eines Ergebnisvorrangs (1.) und das Institut der Staatshaftung (2.).69 1. Die richtlinienkonforme Rechtsfindung im Sinne eines Ergebnisvorrangs Eine richtlinienkonforme Rechtsfindung ohne Verschiebung der traditionellen Contra-legem-Grenze und damit ohne Eingriff in die verfassungsrechtliche Kompetenzverteilung ist nur möglich, wenn das nationale Recht bereits aus sich heraus, also auch ohne Berücksichtigung der Richtlinie, auslegungsbedürftig wäre oder Lücken für eine Rechtsfortbildung bestünden. Das nationale Recht muss folglich zunächst nach traditionellen Methoden (objektiv oder subjektiv70) ausgelegt werden.71 Ergibt sich nach der 69 Zwei weitere Konzepte, die in Sonderkonstellationen ebenfalls den Konflikt zwischen Richtlinie und nationalem Recht zugunsten der Richtlinienvorgaben auflösen, können in dieser Arbeit nicht ausführlich dargestellt werden. Es handelt sich um die Ausdehnung des Staatsbegriffes und die Verweisung auf Grundrechte mit Richtlinieninhalt. In ersterem Fall schlägt der Gerichtshof vor, möglichst viele Konstellationen als vertikale einzuordnen. Deshalb werden teilweise auch solche Unternehmen als „Staat“ eingeordnet, die Leistungen im öffentlichen Interesse erbringen, vgl. EuGH, Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651 (Johnston), Rn. 56; EuGH, Rs. 103/88, Slg. 1989, 1839 (Fratelli Costanzo), Rn. 31; EuGH, Rs. C-188/89, Slg. 1990, I-3313 (Foster/British Gas), Rn. 20; EuGH, C152/84, Slg. 1986, 723 (Marshall I), Rn. 49 ff., s. dazu auch Haltern, Europarecht, S. 352 ff., Rn. 704, 708; Dougan, C.L.J. 2000, 586, 590; Wiedmann in: Gebauer/ Wiedmann, Kapitel 2: Die Anwendung des europäischen Rechts, Rn. 34. Als weitere Strategie verweist der EuGH auf allgemeine Grundsätze des Unionsrechts und Grundrechte mit Richtlinieninhalt. Dabei findet er zunächst einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts auf, der seinen Ursprung in völkerrechtlichen Verträgen und den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten hat. Anschließend stellt er fest, dass dieser Grundsatz den gleichen Inhalt wie die Richtlinienbestimmung hat. Daraus zieht er den Schluss, dass das nationale Gericht – um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu garantieren – entgegenstehende Bestimmungen des nationalen Rechts unangewendet lassen muss, EuGH, Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981 (Mangold), Rn. 77; EuGH, Rs. C555/07, Slg. 2010, I-365 (Kücükdeveci), 2. Leitsatz, Rn. 51. Gestützt wird die unmittelbare Wirkung so letztlich auf den primärrechtlichen Grundsatz, der nur durch die Richtlinie weiter ausgeprägt ist. Es handelt sich also nicht um ein Konzept der Richtlinienwirkung, sondern eine unmittelbare Wirkung von Primärrecht, näher dazu auch Haltern, Europarecht, S. 378, Rn. 767; Mörsdorf, EuR 2009, 219, 232 ff.; Mörsdorf, JZ 2010, 759, 763 ff.; Schinkels, JZ 2011, 394, 394 ff. 70 Eine Entscheidung, welche der beiden Auslegungsmethoden „die richtige“ ist, ist nicht Aufgabe dieser Arbeit. Die objektive Theorie wird jedoch vor allem deswegen kritisiert, weil sie dem Rechtsanwender aufgrund der hohen Abstraktionsebene der Prinzipien (z.B. Rechtsidee, Gerechtigkeit), die bei der Rechtsgewinnung Berücksichtigung finden, einen großen Spielraum für eigene Wertungen eröffnet. Der Wille des (historischen) Gesetzgebers kann, sofern er vage, nicht mehr aktuell oder nicht in Übereinstimmung mit dem Wortlaut ist, durch objektiv-teleologische Gesichtspunkte ersetzt werden. Es geraten Regelungsziele des Gesetzgebers, die nicht eindeutig im Sinne einer Contra-
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Teil 3: Zulässigkeit und Notwendigkeit der Veränderung von Methoden
Interpretation ein richtlinienkonformes Ergebnis, ist dieses Ergebnis anderen Auslegungsergebnissen vorzuziehen (richtlinienkonforme Auslegung im Sinne eines Ergebnisvorrangs). Ist das nationale Recht bereits unabhängig von der Richtlinie lückenhaft, müssen diese Lücken anhand der Vorgaben der Richtlinie gefüllt werden (richtlinienkonforme Rechtsfortbildung im Sinne eines Ergebnisvorrangs). Ist eine solche richtlinienkonforme Rechtsfindung möglich, entstehen keine Schutzlücken für den auf die Richtlinie vertrauenden Bürger und er kann seine Richtlinienrechte vor den nationalen Gerichten erfolgreich durchsetzen. 2. Die unionsrechtliche Staatshaftung Eine weitere Möglichkeit, um den Bürger zumindest im wirtschaftlichen Ergebnis so zu stellen, als wäre die Richtlinie ordnungsgemäß umgesetzt worden, ist das Institut der Staatshaftung. Es bietet eine Möglichkeit, auf legem-Grenze (Vorrangregel auf zweiter Stufe) fixiert sind, nicht in den Blick, was aufgrund der Bindung an Recht und Gesetz gemäß Art. 20 III und Art. 97 I GG problematisch sein kann. Dazu Canaris in: FS Medicus, 1999, 25, 39; Looschelders/Roth, Juristische Methoden, S. 195; Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 83; Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 504 ff., Rn. 806 ff., S. 548, Rn. 877, S. 568, Rn. 913 ff.; Rüthers, JZ 2008, 446, 449; Rüthers, JZ 2002, 365, 368; Rüthers, JZ 2006, 53, 58. B. Rüthers weist auf die nationalsozialistische deutsche Vergangenheit hin, in der die meisten Gesetze erhalten blieben und nur ein nationalsozialistischer Zeitgeist hineininterpretiert wurde. Ähnliches geschah in der DDR, dazu Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 505 ff., Rn. 808 ff., S. 548, Rn. 877; Rüthers, JZ 2008, 446, 450; Rüthers, unbegrenzte Auslegung, S. 117 ff., 178 ff., 191 ff., 214 ff., 262, 322 ff. Zudem wird eine Abwägung verschiedener gesetzgeberischer Zwecke von vornherein unterbunden: Für die Vertreter der objektiven Theorie ist Ziel der Auslegung nicht dasjenige Textverständnis, das zum Zeitpunkt der Normsetzung bestanden hat, sondern jenes, was zum Auslegungszeitpunkt besteht. Die Auslegung kann aber „nur solche Wertentscheidungen aus einer Rechtsnorm […] entnehmen, die der Normautor durch die Norm entschieden hat“ (Zitat von Schreiber, Geltung, S. 257). Wenn aber das Gesetz für einen konkreten Fall keine Antwort enthalte, dann könnten auch die Vertreter der objektiven Theorie eine solche nicht aus dem Gesetz heraus – also mit Hilfe der Auslegung – erfinden, dazu Rüthers, NJW 2005, 2759, 2761; Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 508, Rn. 813; Gern, VerwArch 1989, 415, 421. Die These „das Gesetz ist klüger als der Gesetzgeber“ (Hirsch, JZ 2007, 853, 855; Günter Hirsch, Der Richter im Spannungsverhältnis von Erster und Dritter Gewalt, abgedruckt in: DIE ZEIT Nr. 41/2003, teilweise abgedruckt bei Rüthers, JZ 2006, 53, 57) fingiere einen eigenen objektivierten (vernünftigen) Willen des Gesetzes, den der Interpret in das Gesetz hineinlesen könne. Dazu noch Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 508, Rn. 814; Rüthers, JZ 2006, 53, 57 f.; Engisch, Einheit der Rechtsordnung, S. 88 f. Damit mangele es der objektiven Theorie an Kontrollierbarkeit und Methodenklarheit, dazu Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, S. 509, Rn. 815; Rüthers, JZ 2002, 365, 368; Hassemer, ZRP 2007, 213, 216; Fischer, Verdeckte Rechtsfortbildungen, S. 531, 522 ff. 71 Zu diesen Methoden oben Teil 1, B.II., S. 40 ff.
B. Schutzlücken bei Rechtsfindung im Sinne eines Ergebnisvorrangs
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zweitem Wege, dem Bürger zumindest im wirtschaftlichen Ergebnis einen Schaden zu ersetzen, der entsteht, wenn ihm seine unionsrechtlichen Rechte versagt werden. Es stellt damit eine Klagemöglichkeit des Bürgers bereit. Damit in Abschnitt II ermittelt werden kann, in welchen Fallgruppen über eine kombinierte Anwendung der Institute der Staatshaftung und der richtlinienkonformen Rechtsfindung im Sinne eines Ergebnisvorranges Schutzlücken verhindert werden können, muss das Institut der Staatshaftung, auf das im Rahmen dieser Arbeit noch nicht eingegangen wurde, näher untersucht werden. Dazu wird auf die Entwicklung des Instituts (a.) und die Anspruchsvoraussetzungen (b.) eingegangen. a) Hintergründe für die Entwicklung des Instituts der unionsrechtlichen Staatshaftung Ausdrücklich geregelt ist die Haftungsfrage nur in Art. 340 AEUV bei einem Verstoß der Bediensteten der Union gegen das Unionsrecht. Eine Haftung der Mitgliedstaaten wird hingegen nicht geregelt. Aufgrund dieser Regelungslücke72 hat der EuGH im Urteil Francovich73 1991 – im Vergleich zur Entwicklung des Instituts der richtlinienkonformen Rechtsfindung verhältnismäßig spät – die Haftung der Mitgliedstaaten für Verstöße gegen das Unionsrecht etabliert. Er stützt seine Rechtsprechung auf das Effektivitätsprinzip: die Mitgliedstaaten seien nach Art. 4 III EUV verpflichtet, zur Effektivität des Unionsrechts beizutragen und die Folgen von Unionsrechtsverstößen zu beseitigen.74 Ein wirksamer Schutz der Rechte des Einzelnen sei mit dem Institut der Staatshaftung zu erreichen.75 Für die Durchsetzung der Haftung der Bundesrepublik Deutschland werden im Hinblick auf die Haftungsgrundlage zwei Auffassungen vertreten. Einige Stimmen aus Literatur und nationaler Rechtsprechung76 gehen 72 Der EuGH betrachtet die Haftung der Staaten für Verstöße gegen Rechtsvorschriften als allgemeinen Rechtsgrundsatz der Mitgliedstaaten und Grundsatz des Völkerrechts, sodass keine Analogie zu Art. 340 AEUV gebildet wird, sondern der EuGH die Vertragslücke aufgrund seiner Kompetenz aus Art. 19 I 2 EUV ausfüllt, dazu Schroeder, Europarecht, S. 182, § 10, Rn. 19; Böhm in: Europarecht: Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, § 12 Haftung, Rn. 2. Kling, Jura 2005, 298, 299 spricht von ‚freier Rechtsschöpfung‘ des EuGH. Zu methodischer Kritik bei Streinz, ZEuS 2004, 387, 393 ff. 73 EuGH, Rs. C-6/90, Slg. 1991, I-1631 (Francovich), Leitsätze 3 und 4, Rn. 33 ff. Siehe auch EuGH, Rs. C-91/92, Slg. 1994, I-3325 (Faccini Dori), Rn. 27; EuGH, Rs. C192/94, Slg. 1996, I-1281 (El Corte Inglés), Rn. 22. Weitere Nachweise bei Nettesheim, WM 2006, 457, 457. 74 EuGH, Rs. C-6/90, Slg. 1991, I-1631 (Francovich), Rn. 33, 36. Vgl. Schroeder, Europarecht, S. 182, § 10, Rn. 19; Frenz, Europarecht, S. 52, Rn. 175; Fischer, Europarecht, S. 114, Rn. 288. 75 EuGH, Rs. C-6/90, Slg. 1991, I-1631 (Francovich), 31 ff. 76 Bogandy/Jacob in: Recht der Europäischen Union, Art. 340 AEUV, Rn. 130.
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Teil 3: Zulässigkeit und Notwendigkeit der Veränderung von Methoden
davon aus, dass sich aus dem Europarecht ein eigener, originärer Staatshaftungsanspruch herleitet. Nach anderer Auffassung ist § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG zu modifizieren, indem insbesondere auf das Verschuldenserfordernis verzichtet wird.77 Unabhängig welcher Auffassung man sich anschließt, werden jedenfalls die vom EuGH definierten Voraussetzungen der Staatshaftung bei Umsetzungsdefiziten des Mitgliedstaates herangezogen: b) Die Voraussetzungen der Staatshaftung Die vom EuGH mit seinem Francovich-Urteil begründete Rechtsprechung zur Staatshaftung wurde 1994 im Urteil Faccini Dori78 fortgeführt und den Voraussetzungen der Staatshaftung wurden Konturen verliehen. Der EuGH nennt dort drei Voraussetzungen: „Für den Fall, daß das von der Richtlinie vorgeschriebene Ziel nicht im Wege der Auslegung erreicht werden kann, ist außerdem darauf hinzuweisen, daß das Gemeinschaftsrecht […] die Mitgliedstaaten zum Ersatz der den Bürgern durch die Nichtumsetzung einer Richtlinie verursachten Schäden verpflichtet, sofern drei Voraussetzungen vorliegen. Zunächst muß Ziel der Richtlinie die Verleihung von Rechten an Bürger sein. Sodann muß der Inhalt dieser Rechte auf der Grundlage der Richtlinie bestimmt werden können. Schließlich muß ein Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat auferlegte Verpflichtung und dem entstandenen Schaden bestehen.“79
Bei Vorliegen eines objektiven Verstoßes gegen eine individualschützende Norm des Unionsrechts würde damit automatisch die Staatshaftung eingreifen, wenn nur ein kausaler Schaden entsteht. Ein Verschulden ist nicht erforderlich80, sodass es sich letztlich um eine Gefährdungshaftung des Staates handelt. Diesen weiten Haftungstatbestand hat der EuGH aber bereits zwei Jahre später in der Rechtssache Brasserie du Pêcheur81 eingegrenzt. Der Gerichtshof erkennt damit nur einen Entschädigungsanspruch an, „sofern drei Voraussetzungen erfüllt sind, nämlich daß die Rechtsnorm, gegen die verstoßen worden ist, bezweckt, dem einzelnen Rechte zu verleihen, daß der Verstoß hinreichend qualifiziert ist und schließlich daß zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat
77
Papier in: Münchner Kommentar, § 839 BGB, Rn. 103; Nettesheim, WM 2006, 457, 461. 78 EuGH, Rs. C-91/92, Slg. 1994, I-3325 (Faccini Dori), Rn. 27 ff. 79 EuGH, Rs. C-91/92, Slg. 1994, I-3325 (Faccini Dori), Rn. 27. 80 Schroeder, Europarecht, S. 182, § 10, Rn. 20, 186, § 10, Rn. 29; Kling, Jura 2005, 298, 301; Ukrow, NJW 1994, 2469, 2470. 81 EuGH, C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029 (Brasserie du Pêcheur ), v.a. Rn. 42 ff.
B. Schutzlücken bei Rechtsfindung im Sinne eines Ergebnisvorrangs
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obliegende Verpflichtung und dem den geschädigten Personen entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht.“82
Vor dem Hintergrund dieser Entscheidung des EuGH ist ein Staatshaftungsanspruch des Bürgers dann gegeben, wenn der Mitgliedstaat eine individualschützende Unionsnorm verletzt hat und dies zu einem kausalen Schaden führt.83 Auf ein Verschulden des Mitgliedstaats kommt es auch weiterhin nicht an. Damit es aber nicht zu einer Ausuferung der Haftung des Staates kommt, fordert der EuGH – statt eines Verschuldenskriteriums – einen qualifizierten Umsetzungsverstoß. c) Die Qualifikation des Umsetzungsverstoßes (1) Hintergrund für das Erfordernis der Qualifikation des Umsetzungsverstoßes Die Voraussetzung des qualifizierten Verstoßes wird zudem vom Europäischen Gerichtshof durch einen systematischen Vergleich zur außervertraglichen Haftung der Union nach Art. 340 AEUV gestützt, der bei der Staatshaftung der Unionsorgane einen qualifizierten Verstoß fordert. Grundsätzlich sollte das Fehlverhalten von unionsrechtlichen und mitgliedstaatlichen Organen nicht unterschiedlich streng beurteilt werden, denn auch eine Haftung der Union verlangt eine „hinreichend qualifizierte Verletzung einer höherrangigen, dem Schutz der Einzelnen dienenden Rechtsnorm“.84 Diese strenge Voraussetzung sollte daher auch für die Haftung der Mitgliedstaaten gelten.85 Harmonisiert werden mit der Rechtsprechung zum qualifizierten Verstoß zum einen (in vertikaler Richtung) die Haftungsvoraussetzungen von Union und Mitgliedstaaten bei Verstößen gegen das Unionsrecht, zum anderen (in horizontaler Richtung) die Angleichung der Haftungsvoraussetzungen unter den Mitgliedstaaten.86 Ein Aufbrechen der Parallelität im Richtlinienbereich würde diese Harmonisierung teilweise aufheben. Aufgrund des Gleichlaufs der Haftungsvoraussetzungen und der Ablehnung von Zufälligkeiten bei der Haftung wird eine unterschiedliche Behandlung 82 EuGH, C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029 (Brasserie du Pêcheur ), Rn. 51, Hervorhebung der Verfasserin. 83 EuGH, C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029 (Brasserie du Pêcheur ), Rn. 51. Vgl. Fischer, Europarecht, S. 114 ff., Rn. 289 ff.; Husmann, NZS 2010, 655, 661 f. Zur Frage der Verjährung des Staatshaftungsanspruchs s. Armbrüster/Kämmerer, NJW 2009, 3601, 3601 ff. 84 EuGH, Rs. 5/71, Slg. 1971, 975 (Schöppenstedt), Rn. 11; EuGH, Rs. C-152/88, Slg. 1990, I-2477 (Sofrimport), Rn. 25. 85 EuGH, Rs. C-352/98 Slg. 2000, I-5291 (Bergaderm), Rn. 41. 86 Bogandy/Jacob in: Recht der Europäischen Union, Art. 340 AEUV, Rn. 5; Van Gerven, I.C.L.Q. 45 (1996), S. 507, 517 ff.
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von unionsrechtlicher und mitgliedstaatlicher Haftung regelmäßig abgelehnt.87 (2) Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs Die „hinreichende Qualifikation“ des Umsetzungsverstoßes ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der zunächst definiert und dann anhand abstrakter Indizien konkretisiert werden muss. Allgemein wird ein Verstoß dann als hinreichend qualifiziert charakterisiert, wenn ein mitgliedstaatliches Organ die Grenzen, die ihm das Unionsrecht bei der Ausübung seiner Befugnisse setzt, offenkundig und erheblich überschritten hat.88 (a) Das Ob der Umsetzung Ein offenkundiger und erheblicher Verstoß wird stets bejaht, wenn die Rechtspflicht des Mitgliedstaates eine unbedingte war, ihm also keine Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen gestalterischen Maßnahmen zukam.89 Dies ist insbesondere im Hinblick auf die Frage der Fall, ob der nationale Gesetzgeber die Richtlinie umsetzen muss. Unbedingt ist die Pflicht, weil Art. 288 III AEUV den Mitgliedstaaten (und ihren Organen) keine andere Möglichkeit lässt, als die Richtlinie in nationales Recht zu überführen, ohne sich der Vorgabe rechtswidrig zu verweigern. Eine Gestaltungsmöglichkeit besteht bei der Umsetzung nur im Hinblick auf das Wie der Umsetzung, nicht auch für das Ob. Diese unbedingte Pflicht zur Umsetzung der Richtlinie trifft die nationale Legislative. Der Gerichtshof hat in Konkretisierung von Art. 288 III AEUV entschieden, dass sie unabhängig davon besteht, ob das nationale Recht bereits richtlinienkonform war. Aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit muss auch in diesen Fällen der Gesetzgeber die Umsetzung der Richtlinie kenntlich machen, z.B. durch Einfügung eines Vermerks oder einer Fußnote, dass dieses Recht nunmehr auf der Richtlinie basieren soll.90 Selbst eine richtlinienkonforme Rechtsfindung der nationalen Gerichte reicht nicht aus, um die Umsetzungspflicht des Gesetzgebers zu erfüllen, weil diese nicht die „Klarheit und Bestimmtheit aufweisen kann, die notwendig ist, um dem
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Bogandy/Jacob in: Recht der Europäischen Union, Art. 340 AEUV, Rn. 6; Fischer, Europarecht, S. 116, Rn. 293. 88 Fischer, Europarecht, S. 116, Rn. 293; Hobe, Europarecht, S. 156, § 12, Rn. 226; EuGH, C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029 (Brasserie du Pêcheur ), Rn. 45. 89 EuGH, C-178/94, C-179/94, C-188/94, C-189/94, C-190/94, Slg. 1996 I-4845 (Dillenkofer u.a. ), Rn. 25; EuGH Rs. C-5/94, Slg. 1996 I-2553 (Hedley Lomas), Rn. 28. Vgl. Fischer, Europarecht, S. 116, Rn. 293; Hobe, Europarecht, S. 156 f., § 12, Rn. 227. 90 Nachweise s. Teil 1, Fn. 135.
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Erfordernis der Rechtssicherheit zu genügen.“91 Wenn der Mitgliedstaat nach Ablauf der Umsetzungsfrist also die unbedingte Pflicht zur Richtlinienumsetzung unterlässt, überschreitet er seine Befugnisse offenkundig und erheblich; ein qualifizierter Verstoß gegen seine Umsetzungspflicht liegt dann vor.92 Die Verantwortung für die legislative Umsetzung und das einhergehende Risiko von Irrtümern oder Fehlern ist damit letzten Endes dem nationalen Gesetzgeber zugeordnet.93 (b) Das Wie der Umsetzung Hat der Gesetzgeber die Richtlinie umgesetzt und damit seine Umsetzungspflicht grundsätzlich erfüllt, kann ein offenkundiger und erheblicher Verstoß allenfalls aus anderen Kriterien hergeleitet werden. Als Kriterien hierfür werden beispielsweise das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschriften, der Umfang des Gestaltungsspielraums, den die verletzte Vorschrift den nationalen Stellen belässt, die Vorsätzlichkeit des Rechtsverstoßes, die Entschuldbarkeit eines Rechtsirrtums oder auch der Umstand herangezogen, dass Stellungnahmen der Unionsorgane zu den nationalen Maßnahmen oder Praktiken beigetragen oder sie aufrechterhalten haben.94 Diese Kriterien können in einer Abwägung einen qualifizierten Verstoß begründen oder aber nicht. d) Fazit Ein Staatshaftungsanspruch ist demnach dann gegeben, wenn der Mitgliedstaat seiner Umsetzungspflicht bei einer Norm, die bezweckt, dem einzelnen Bürger Rechte zu verleihen, nicht nachgekommen ist. Der Verstoß muss hinreichend qualifiziert sein und zwischen dem Verstoß und dem Schaden muss ein kausaler Zusammenhang bestehen. Sind diese Voraus-
91 EuGH, Rs. C-144/99, Slg. 2001, I-3541 (Kommission/Niederlande), Rn. 21. Vgl. auch Schürnbrand, JZ 2007, 910, 914 m.w.N.; Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 100; Nettesheim, AöR 1994, 261, 283 ff., 285; König in: Europarecht: Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, § 2 Gesetzgebung, Rn. 53; Schinkels, JZ 2011, 394, 395 f. m.w.N. in Fn. 20. 92 Fischer, Europarecht, S. 116, Rn. 293; Schroeder, Europarecht, S. 186, § 10, Rn. 27; EuGH, C-178/94, C-179/94, C-188/94, C-189/94, C-190/94, Slg. 1996 I-4845 (Dillenkofer u.a. ), Rn. 25, 29; EuGH, Rs. C-6/90, Slg. 1991, I-1631 (Francovich), Rn. 39. 93 Grosche/Höft, NJOZ 2009, 2294, 2307. 94 Fischer, Europarecht, S. 116 f., Rn. 294; Schroeder, Europarecht, S. 185, § 10, Rn. 25; Mankowski in: Handbuch des Rechtsschutzes, § 37, Rn. 112; Papier in: Münchner Kommentar, § 839 BGB, Rn. 100 b; Nettesheim, WM 2006, 457, 461 mit Nachweisen zur Rechtsprechung in Fn. 62.
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setzungen gegeben, kann der Bürger vor den nationalen Gerichten einen Staatshaftungsanspruch geltend machen. II. Bestimmung der Schutzlücken durch Anwendung der verfassungskonformen Konfliktlösungsmechanismen Zur Klärung der Frage, ob Schutzlücken für den Bürger entstehen, muss nun untersucht werden, ob bei fehlender oder fehlerhafter Richtlinienumsetzung das Institut der Staatshaftung und die richtlinienkonforme Rechtsfindung im Sinne eines Ergebnisvorrangs so zusammenwirken, dass im Ergebnis in allen Fällen den unionsrechtlichen Vorgaben Genüge getan wird. Hierfür müssen alle Konstellationen untersucht werden, die bei einem Konflikt zwischen Richtlinie und nationalem Recht auftreten können. Eine Differenzierung bietet sich danach an, ob der Gesetzgeber zur Umsetzung überhaupt nicht tätig wurde (a.) oder er im Hinblick auf die Vorgaben der Richtlinie gehandelt hat, seine Umsetzung aber fehlerhaft war (b.). 1. Der Gesetzgeber hat die Richtlinie nicht umgesetzt (Altrecht) Hat der Gesetzgeber die Richtlinie nicht umgesetzt, kann dies aus zwei Gründen erfolgt sein: Entweder hat der Gesetzgeber von der Richtlinienwidrigkeit des nationalen Rechts gewusst, wollte aber die Richtlinie nicht in nationales Recht übernehmen (a.), oder der Gesetzgeber hat sich keine Gedanken über die Umsetzung gemacht und deshalb das nationale Recht unverändert gelassen (b.). a) Bewusste Untätigkeit des Gesetzgebers Ein Fall der bewussten Untätigkeit des Gesetzgebers liegt vor, wenn eine Richtlinie erlassen wurde, der Gesetzgeber hiervon Kenntnis genommen hat und er dennoch (nachweisbar) keine richtlinienkonforme Regelung schaffen will. Ein solcher (seltener) Fall der bewussten Umsetzungsverweigerung liegt beispielsweise vor, wenn die bewusste Weigerung des Gesetzgebers in anderen Gesetzesmaterialien oder Bundestagsprotokollen nachgewiesen werden kann. (1) Reichweite der richtlinienkonformen Rechtsfindung im Sinne eines Ergebnisvorrangs Lässt sich ein aktueller Gesetzgeberwille mit einer Entscheidung gegen die Richtlinie nachweisen, lehnt der nationale Gesetzgeber die Übernahme der Richtlinienvorgaben in nationales Recht ab. Nach subjektiver Theorie ist bereits aus diesem Grund eine richtlinienkonforme Rechtsfindung nicht denkbar, denn der Regelungsabsicht des Gesetzgebers stehen die Vorgaben
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der Richtlinie entgegen. Aber auch nach objektiver Theorie lässt sich in den Fällen der bewussten Untätigkeit des Gesetzgebers regelmäßig kein richtlinienkonformes Ergebnis erzielen, denn die Regelungsabsicht im Rahmen des möglichen Wortsinns bildet auch nach objektiver Theorie die Grenze der Rechtsfindung. Nur ausnahmsweise kann nach objektiver Theorie ein richtlinienkonformes Ergebnis hergestellt werden, wenn die aktuelle Gesetzgeberentscheidung außerhalb des Wortsinns der Norm liegt und so kein Gleichlauf von Wortsinn und Regelungsentscheidung besteht. Dann griffe nach objektiver Theorie die Contra-legem-Grenze nicht und es wäre eine Rechtsfindung anhand (rein nationaler) objektiv-teleologischer Kriterien denkbar, die aufgrund ihrer Weite regelmäßig eine richtlinienkonforme Rechtsfindung ermöglichen werden. (2) Reichweite der Staatshaftung Allerdings könnte das Institut der Staatshaftung in diesen Fällen Abhilfe schaffen, wenn ein qualifizierter Verstoß im Sinne einer offenkundigen und erheblichen Überschreitung der mitgliedstaatlichen Befugnisse bejaht werden kann. Ein offenkundiger und erheblicher Verstoß wird stets dann bejaht, wenn eine unbedingte Pflicht durch den Mitgliedstaat verletzt wird.95 Als eine solche Pflicht wurde die legislative Pflicht zur Umsetzung von Richtlinien beschrieben. Diese Pflicht kann auch nicht durch die judikative Umsetzung ersetzt werden, denn die Gebote von Rechtssicherheit und Rechtsklarheit fordern eine gesetzgeberische Umsetzungsentscheidung, wenn auch nur in einer amtlichen Fußnote zu einem bereits bestehenden Gesetz. Im Fall der bewusst unterlassenen Umsetzung ist daher stets die Staatshaftung möglich. Wenn der Gesetzgeber die Vorgaben der Richtlinie erkannt hat und dennoch das nationale Recht nicht ändert, nimmt er sehenden Auges einen Richtlinienverstoß in Kauf und verletzt damit seine Umsetzungspflicht sogar vorsätzlich. Ein qualifizierter Verstoß liegt damit vor. b) Unbewusste Untätigkeit des Gesetzgebers Ein Fall der unbewussten Untätigkeit des Gesetzgebers liegt vor, wenn die Legislative den Erlass der Richtlinie nicht berücksichtigt oder schlicht vergessen hat. Das nationale Recht blieb dann unverändert, ohne dass sich eine gesetzgeberische Absicht zur bewussten Nichtumsetzung nachweisen ließe.
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Nachweise in Abschnitt B.I.2.c)(1) dieses Teils, S. 231 ff.
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Teil 3: Zulässigkeit und Notwendigkeit der Veränderung von Methoden
(1) Reichweite der richtlinienkonformen Rechtsfindung im Sinne eines Ergebnisvorrangs Blieb der Gesetzgeber unbewusst untätig, ist genau zu untersuchen, ob die traditionellen Rechtsfindungsmethoden ein richtlinienkonformes Ergebnis ermöglichen oder nicht. In dieser Fallgruppe sind vielfältige Fallgestaltungen denkbar, die je nach Ausgestaltung des nationalen Altrechts variieren können. Waren die Vorgaben der Richtlinie bereits im nationalen Recht angelegt oder war das nationale Recht ohnehin lückenhaft, ist eine richtlinienkonforme Rechtsfindung denkbar, im Übrigen muss sie ausscheiden. Wann das nationale Recht auslegungsfähig oder lückenhaft ist, ist wie für die Methoden im rein nationalen Kontext beschrieben96, vorzugehen. Zu beachten ist, dass nicht argumentiert werden kann, dass das nationale Gesetz mit Erlass der Richtlinie veraltet ist. Könnte allein der Erlass der Richtlinie oder die Veränderung der Interpretation der Richtlinie durch den EuGH zu einer Alterung des nationalen Gesetzes führen, könnte sich die Richtlinie selbst die erforderliche Lücke in der nationalen Rechtsordnung schaffen. Stattdessen wäre eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung aufgrund einer Lücke durch Alterung des nationalen Gesetzes nur möglich, wenn das nationale Recht bereits aus sich heraus veraltet erscheint, beispielsweise weil sich die gesellschaftlichen oder rechtlichen Verhältnisse geändert haben. (2) Reichweite der Staatshaftung Allerdings liegt auch im Fall der unbewussten Untätigkeit des Gesetzgebers ein offenkundiger und erheblicher Verstoß gegen die (unbedingte) Umsetzungspflicht vor, sodass die Staatshaftung greift. 97 Zwar erfolgt die Nichtumsetzung des Staates in dieser Konstellation nicht vorsätzlich. Auf ein Verschulden des Gesetzgebers kommt es aber nach Rechtsprechung des Gerichtshofs auch nicht an, stattdessen wird der Verstoß bereits dadurch qualifiziert, dass die Pflicht des Mitgliedstaates eine unbedingte war, gegen die er verstoßen hat. Die Umsetzungspflicht ist, anders als beispielsweise die Ausgestaltung der nationalen Regelung selbst, eine unbedingte Pflicht. Wenn der Gesetzgeber also jegliches Tätigwerden im Hinblick auf die Richtlinie unterlässt und auch keinen amtlichen Vermerk in das nationale Altrecht einfügt, dass dieses auf der Richtlinie basieren soll, dann kommt er dieser Pflicht nicht nach.98 Im Übrigen kann der Legislative in 96
S. oben unter Teil 1,B.II., S. 40 ff. und B.II.2., S. 66 ff. Nachweise in Abschnitt B.I.2.c)(1) dieses Teils, S. 231 ff. 98 EuGH, C-178/94, C-179/94, C-188/94, C-189/94, C-190/94, Slg. 1996 I-4845 (Dillenkofer u.a. ), Rn. 25, 29; EuGH Rs. C-5/94, Slg. 1996 I-2553 (Hedley Lomas), Rn. 28. 97
B. Schutzlücken bei Rechtsfindung im Sinne eines Ergebnisvorrangs
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dieser Fallgruppe zumindest auch Fahrlässigkeit vorgeworfen werden, denn sie hat die Richtlinie einfach nicht beachtet. Ein qualifizierter Verstoß liegt vor und für den auf die Richtlinie vertrauenden Bürger besteht die Möglichkeit, einen wirtschaftlichen Ausgleich im Wege der Staatshaftung zu erlangen. 2. Der Gesetzgeber hat die Richtlinie fehlerhaft umgesetzt Wenn der Gesetzgeber die Richtlinie zwar umgesetzt hat, ihm bei der Umsetzung aber Fehler unterlaufen sind, bestehen wie auch bei der Nichtumsetzung zwei Möglichkeiten: Der Gesetzgeber hat die Richtlinie entweder bewusst fehlerhaft in das nationale Recht umgesetzt (a.) oder er hat sich über den Inhalt der Richtlinie geirrt, die Richtlinie also unbewusst fehlerhaft umgesetzt (b.). Problematisch ist allerdings die Entscheidung, wann der eine, wann der andere Fall vorliegt (c.). a) Bewusst fehlerhafte Umsetzung des nationalen Gesetzgebers Hat der Gesetzgeber die Richtlinie bewusst fehlerhaft in nationales Recht umgesetzt (und lässt sich dies nachweisen, dazu sogleich unter c.), scheidet eine richtlinienkonforme Rechtsfindung aus. Der Gesetzgeber hat sich ja gerade bewusst und aktuell gegen die Richtlinie entschieden, sodass die Contra-legem-Grenze sowohl nach subjektiver als auch nach objektiver Theorie eingreift. Zwar ist nach objektiver Theorie die theoretische Möglichkeit denkbar, dass der Gesetzgeber seinen Willen gegen die Richtlinie im Wortsinn der Norm nicht hinreichend zum Ausdruck bringt und der interpretatorische Vorrang von Gesetzgeberentscheidung und Wortsinn entfällt; dann wäre eine richtlinienkonforme Rechtsfindung anhand nationaler objektiv-teleologischer Kriterien möglich. Allerdings wird der Gesetzgeber, der bewusst die Richtlinie ablehnt, seine Ablehnung regelmäßig im Wortlaut der Norm ausdrücken. Allerdings ist eine Staatshaftung möglich, da ein qualifizierter Umsetzungsverstoß vorliegt. Hier erfolgt der Umsetzungsverstoß des nationalen Gesetzgebers vorsätzlich, womit der Gesetzgeber offensichtlich und erheblich gegen seine Pflichten verstößt. Der Gesetzgeber nimmt in diesem Fall bewusst in Kauf, dass ihn ein Vertragsverletzungsverfahren und die Staatshaftung treffen. b) Unbewusst fehlerhafte Umsetzung des nationalen Gesetzgebers Hat der Gesetzgeber die Richtlinie in nationales Recht überführt, ist ihm dabei aber ein Fehler unterlaufen, weil er sich über bestimmte Vorgaben der Richtlinie keine Gedanken gemacht oder die Richtlinie falsch verstanden hat, liegt ein Fall der unbewusst fehlerhaften Richtlinienumsetzung vor
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Teil 3: Zulässigkeit und Notwendigkeit der Veränderung von Methoden
(1). Ebenfalls dieser Fallgruppe zugeordnet werden kann der Fall, in dem der Gesetzgeber das Altrecht unverändert gelassen hat, dennoch aber einen Vermerk in das Gesetz eingefügt hat, dass das Altrecht nunmehr auch zur Umsetzung der Richtlinie dient und er sich über die Richtlinienkonformität des Altrechts irrte (2). (1) Der Gesetzgeber hat das nationale Recht zur Umsetzung der Richtlinie verändert Hat der Gesetzgeber das nationale Recht aufgrund der Vorgaben der Richtlinie verändert, sind ihm dabei aber Fehler unterlaufen, stellt sich die Frage, ob eine Lösung der Problematik mit den traditionellen Methoden der Rechtsfindung und der Staatshaftung erfolgen kann. (a) Reichweite der traditionellen Rechtsfindungsmethoden (i) Rechtsfindung nach subjektiver Theorie Nach der subjektiven Theorie ist zunächst der Gesetzgeberwille anhand der Auslegungskriterien von Wortsinn, Systematik und Historie zu ermitteln. Bei dieser Auslegung in der Fallgruppe der unbewusst fehlerhaften Richtlinienumsetzung kann der genetischen Auslegung große Bedeutung zukommen. Lässt sich nämlich nachweisen, dass der Gesetzgeber die Richtlinie ordnungsgemäß umsetzen wollte, ist dieses gesetzgeberische Motiv bzw. die Absicht als ein zentrales Auslegungskriterium zu berücksichtigen. Allerdings darf hier die gesetzgeberische Absicht zur Richtlinienumsetzung nicht gleichgestellt werden mit der materiellen Regelungsentscheidung in der Sache. Nach subjektiver Theorie muss der Gesetzgeberwille ermittelt werden, wofür das genetische Auslegungskriterium ein Indiz sein kann. Bei einem Widerspruch von nachweisbarer eindeutiger Regelungsentscheidung und nachweisbarem Willen zur ordnungsgemäßen Umsetzung setzt sich daher die materielle Regelungsentscheidung im Zweifel durch. Wenn aber die materielle Regelungsentscheidung nicht eindeutig auf ein konkretes Auslegungsergebnis verweist, lässt sich nach subjektiver Theorie in dem Fall der unbewusst fehlerhaften Richtlinienumsetzung eine richtlinienkonforme Rechtsfindung vornehmen. Die genetische Auslegung wird dann nämlich darauf hindeuten, dass es der Gesetzgeberwille war, den Vorgaben der Richtlinie zu entsprechen, insbesondere wenn sich der Gesetzgeber mit den Vorgaben der Richtlinie auseinandergesetzt hat. Auch wenn andere Auslegungskriterien in eine andere Richtung deuten, ist der Gesetzgeberwille dann zumindest mehrdeutig. Wenn aber zwei Deutungsmöglichkeiten denkbar sind, dann ist der Richter aufgrund seiner Umset-
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zungsverpflichtung aus Art. 288 III AEUV auf die Wahl der richtlinienkonformen Deutungsmöglichkeit determiniert. Denkbar wäre noch eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung, die bei anfänglichen oder nachträglichen Lücken der Gesetzgeberentscheidung eingreifen würde. In seltenen Fällen kann es vorkommen, dass bei der Umsetzung der Richtlinie ein regelungsbedürftiger Fall vergessen wurde. Sollte dies einmal der Fall sein und es lassen sich keine gesetzgeberischen Regelungsentscheidungen für diesen Fall feststellen, muss die bestehende Lücke anhand der Vorgaben der Richtlinie geschlossen werden, Art. 288 III AEUV. Eine nachträgliche Lücke besteht nach subjektiver Theorie, wenn das nationale Recht einem rechtlichen, technischen oder gesellschaftlichen Wandel unterlag, was allerdings selten der Fall sein dürfte, da es sich bei Umsetzungsgesetzen häufig um solche neueren Datums handelt. Zu beachten ist insbesondere, dass nicht allein eine von der nationalen Interpretation der Richtlinie abweichende Auslegung der Richtlinie durch den EuGH dazu führen kann, dass das nationale Umsetzungsgesetz als veraltet angesehen wird. In diesem Fall würde allein die Richtlinie (in der Auslegung durch den EuGH) eine Lücke im nationalen Recht aufwerfen und man würde bereits außerhalb der traditionellen Contra-legem-Grenze arbeiten. Nach subjektiver Theorie ist eine richtlinienkonforme Rechtsfindung im Falle der unbewusst fehlerhaften Umsetzung zwar denkbar, wird aber nicht stets gelingen. Steht eine eindeutige und aktuelle materielle Regelungsentscheidung des Gesetzgebers fest, lässt sich diese nicht anhand eines nachweisbaren Umsetzungswillens erschüttern. Ebenfalls denkbar ist eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung, wenn das nationale Recht bereits aus sich heraus anfänglich oder nachträglich lückenhaft ist. Aber auch in diesem Fall steht eine eindeutige und aktuelle materielle Gesetzgeberentscheidung (gegen die Richtlinie) der richtlinienkonformen Rechtsfindung entgegen. (ii) Die Rechtsfindung nach objektiver Theorie Nach der objektiven Theorie der Rechtsfindung müsste zunächst der Wortsinn der nationalen Norm bestimmt werden. In Ausnahmefällen, beispielsweise wenn konkrete Zahlenangaben oder Richtwerte im nationalen Gesetz angegeben sind, kann der Wortlaut eindeutig sein, sodass die übrigen Auslegungskriterien nicht in den Blick geraten und eine Vorrangregel auf erster Stufe greift. Steht das Auslegungsergebnis der Richtlinie entgegen, müsste eine richtlinienkonforme Rechtsfindung nach traditionellen Methoden ausscheiden. Greift die Vorrangregel auf erster Stufe nicht, muss auf zweiter Stufe der Gesetzgeberwille überprüft werden. Hierbei kann im Rahmen der gene-
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Teil 3: Zulässigkeit und Notwendigkeit der Veränderung von Methoden
tischen Auslegung auf gesetzgeberische Motive und Absichten in den Parlamentsprotokollen und Gesetzgebungsmaterialien zurückgegriffen werden und damit ist ein Rückgriff auf einen nachweisbaren Umsetzungswillen des Gesetzgebers denkbar. Ergibt sich eine eindeutig der Richtlinie entgegenstehende materielle Regelungsentscheidung, geht diese (soweit sie im Rahmen des Wortsinns der Norm liegt) vor und die Vorrangregel auf zweiter Stufe greift. Ein richtlinienkonformes Ergebnis kann in diesem Fall nicht erreicht werden. Ist die materielle Regelungsentscheidung des Gesetzgebers mehrdeutig, greift die Vorrangregel auf zweiter Stufe nicht ein und die richtlinienkonforme Rechtsfindung bleibt möglich. Soweit die Gesetzgeberentscheidung nicht eindeutig ist oder außerhalb des möglichen Wortsinns liegt, also eine interpretatorische Vorrangregel auf zweiter Stufe nicht eingreift, kann im Rahmen einer interpretatorischen Vorrangregel auf dritter Stufe ein richtlinienkonformes Auslegungsergebnis erreicht werden, indem die heranzuziehenden national-rechtlichen Wertungen von ohnehin großer Abstraktionshöhe in Richtung der Richtlinie interpretiert werden. Sollte ausnahmsweise eine solche Wertung zwingend den Richtlinienvorgaben entgegenstehen, muss eine Konformauslegung nach objektiver Theorie ausscheiden, weil eine interpretatorische Vorrangregel auf dritter Stufe eingreifen würde. Lässt sich kein konkretes nationalrechtliches Prinzip oder eine Wertung feststellen, auf die eine interpretatorische Vorrangregel auf dritter Stufe gestützt werden kann, muss eine Abwägung aller Auslegungskriterien vorgenommen werden. Bei dieser Abwägung ist der Umsetzungswille im Rahmen einer genetischen Auslegung zu berücksichtigen. Ist damit ein richtlinienkonformes Ergebnis denkbar, ist dieses gemäß Art. 288 III AEUV durch den Richter zu wählen. Nach objektiver Theorie lässt sich im Fall des gesetzgeberischen Irrtums im Hinblick auf die Vorgaben der Richtlinie teilweise ein richtlinienkonformes Ergebnis herstellen, teilweise nicht. Die Konformauslegung wird insbesondere dann ausscheiden, wenn eine eindeutige materielle Regelungsentscheidung des Gesetzgebers gegen die Richtlinie getroffen wurde. (b) Reichweite der Staatshaftung Wenn die richtlinienkonforme Rechtsfindung in den Konstellationen einer eindeutigen materiellen Regelungsentscheidung des Gesetzgebers weder nach objektiver noch nach subjektiver Theorie erreicht werden kann, muss überprüft werden, ob in diesen Fällen die Staatshaftung entstehende Schutzlücken verhindern kann. Voraussetzung wäre das Vorliegen eines qualifizierten, d.h. offensichtlichen und erheblichen, Verstoßes des Gesetzgebers gegen seine Umsetzungspflicht. Allerdings liegt ein Verstoß gegen das Ob der Umsetzung als Verstoß gegen eine unbedingte Pflicht nicht vor,
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denn der Gesetzgeber ist zur Umsetzung der Richtlinie tätig geworden. Verstoßen wurde nur gegen das Wie der Umsetzung. Daher kann ein offenkundiger und erheblicher Verstoß allenfalls aus anderen Kriterien hergeleitet werden. Als Kriterien hierfür werden die Klarheit der verletzten Vorschriften, der Umfang des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums für die Umsetzung der verletzten Norm, die Vorsätzlichkeit und Entschuldbarkeit des Rechtsverstoßes und ähnliche Kriterien herangezogen.99 Es ist in einer Einzelfallprüfung mit Hilfe einer Abwägung zu entscheiden, ob ein qualifizierter Verstoß vorliegt oder nicht. Sind die Richtlinienvorgaben nach ihrem Wortlaut und Zweck eindeutig, lässt sich das Vorliegen eines qualifizierten Verstoßes eher begründen. Beispielsweise ist für den Fall Heininger100 durch M. Nettesheim vertreten worden, dass Art. 3 II a der Richtlinie 85/577/EWG101, die keinen Spielraum eröffnet, eindeutig ist. Die Ausschlussklausel der Richtlinie erfasse nur „Verträge über andere Rechte an Immobilien“, hierunter würden aber Kreditverträge zur Finanzierung des Immobilienerwerbs nicht fallen, denn ein solcher Kreditvertrag sei kein „Recht an einer Immobilie“. Demzufolge gebe es im „Lichte einer normbezogenen Betrachtung […] keine Gründe für die Annahme, dass es sich hier nicht um einen qualifizierten Verstoß handeln sollte“.102 Ein qualifizierter Verstoß kann aber nicht stets aufgrund eindeutiger Vorgaben der Richtlinie angenommen werden, insbesondere wenn dem Mitgliedstaat ein weiter Umsetzungsspielraum zukommt, ist er auch berechtigt, diesen zu nutzen. Hat er bei seiner Umsetzung die Richtlinie irrtümlich falsch verstanden, wird in einigen Fällen das Vorliegen eines qualifizierten Verstoßes ausscheiden.103 Ein Staatshaftungsanspruch des Bürgers besteht dann nicht.
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Dazu bereits oben mit Nachweisen in Teil 3, B.I.2.c)(2)(b), S. 233. Zu diesem Fall s. oben Teil 2, C.I.1., S. 174 ff. 101 Richtlinie 85/577/EWG des Rates vom 20. Dezember 1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen. Art. 3 II a der Richtlinie lautet: „Diese Richtlinie gilt nicht für a) Verträge über den Bau, den Verkauf und die Miete von Immobilien sowie Verträge über andere Rechte an Immobilien; Verträge über die Lieferung von Waren und über ihre Einfügung in vorhandene Immobilien oder Verträge über die Reparatur bestehender Immobilien werden von dieser Richtlinie erfasst“ 102 Nettesheim, WM 2006, 457, 461. Andere Ansicht: Staudinger, NJW 2002, 653, 654 f. mit Fn. 19. 103 Vgl. EuGH, Rs. C-392/93, Slg. 1996, I-1631 (British Telecommunications), Rn. 42 ff.; EuGH, verb. Rs. C-283/94, C-291/94 und C-292/94, Slg. 1996 I-5063 (Denkavit ), Rn. 51 ff.; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 48; vgl. auch Hobe, Europarecht, S. 156 f., § 12, Rn. 227. 100
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(2) Der Gesetzgeber hat das nationale Recht unverändert gelassen, aber vermerkt, dass dieses der Umsetzung der Richtlinie dienen soll Hat der Gesetzgeber das nationale Recht dem Grunde nach unverändert gelassen, aber im Rahmen einer Gesetzesänderung vermerkt, dass dieses Recht nunmehr auch der Umsetzung einer Richtlinie dienen soll, wird aufgrund des Vermerks der Umsetzungswille des Gesetzgebers im nationalen Recht deutlich. Ob und wie der Umsetzungswille bei der traditionellen Rechtsfindung berücksichtigt werden kann, ist zu klären. (a) Reichweite der traditionellen Rechtsfindungsmethoden (i) Rechtsfindung nach subjektiver Theorie Unter Zugrundelegung der subjektiven Theorie wäre der tatsächliche Gesetzgeberwille anhand aller Auslegungskriterien, insbesondere von Wortlaut, Systematik, Genese und Historie zu ermitteln. Ergibt sich aus diesen Auslegungskriterien ein der Richtlinie eindeutig entgegenstehender Gesetzgeberwille, ist der Richter bei der Rechtsanwendung hieran gebunden. Können die Auslegungskriterien aber in die eine oder die andere Richtung verstanden werden, lässt sich also der Gesetzgeberwille nicht eindeutig festlegen, muss unter den möglichen Auslegungsergebnissen das richtlinienkonforme gewählt werden (sofern eine richtlinienkonforme Auslegung existiert), Art. 288 III AEUV. An den Gesetzgeberwillen ist der Richter nicht gebunden, wenn der Nachweis erbracht werden kann, dass der anhand der Auslegungskriterien ermittelte Gesetzgeberwille anfänglich oder nachträglich lückenhaft war bzw. geworden ist. Insbesondere kommt eine nachträgliche Lücke in Betracht, die vorliegt, wenn sich die Normsituation gewandelt hat. Ein Wandel der Normsituation tritt in dieser Konstellation aufgrund der späteren Umsetzungsentscheidung des Gesetzgebers ein. Der Gesetzgeber hat einen Wandel der Normsituation (Überlagerung durch Richtlinienrecht) sogar erkannt und wollte das Recht auch entsprechend ändern, wie der Umsetzungsvermerk beweist.104 Dementsprechend ist der ursprüngliche Gesetzgeberwille veraltet, sodass eine nachträgliche Lücke entsteht. Diese Lücke bedeutet für den Richter die Eröffnung eines Spielraums, die er aufgrund des für ihn bindenden Umsetzungsbefehls gemäß Art. 288 III AEUV im Sinne der Richtlinie schließen muss. Er kann sich dazu an nationalrechtlichen Wertungen orientieren, die zu einem richtlinienkonformen Ergebnis führen. Notfalls muss er die Vorgaben der Richtlinie unmittelbar heranziehen. 104 Deshalb ließe sich dieser Fall auch unter der Fallgruppe der unbewusst fehlerhaften Umsetzung der Richtlinie einordnen.
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Da nicht die Richtlinie, sondern die in dem Fußnotenvermerk erkennbare Umsetzungsentscheidung des aktuellen Gesetzgebers zu dem Wandel der Normsituation führt, kann mit Hilfe der traditionellen Methoden Recht fortgebildet und ein richtlinienkonformes Ergebnis erreicht werden. (ii) Rechtsfindung nach objektiver Theorie Greift mangels eines (seltenen) eindeutigen Wortlauts der nationalen Norm nicht bereits eine interpretatorische Vorrangregel auf erster Stufe ein, muss der Wille des Gesetzgebers ermittelt werden. Bei einem Gleichlauf des Gesetzgeberwillens mit dem Wortsinn wäre an sich die Vorrangregel auf zweiter Stufe gegeben und ein entgegenstehendes, richtlinienkonformes Auslegungsergebnis wäre nicht möglich. Allerdings bildet nur eine aktuelle Regelungsentscheidung mit dem Wortsinn die Contra-legem-Grenze, nicht aber ein veralteter Wille. Hat der Gesetzgeber aber vermerkt, dass das nationale Recht nunmehr auf der Richtlinie basieren soll, zeigt sich ein rechtlicher Wandel im Normumfeld, der die ursprüngliche Regelungsentscheidung veralten lässt. Die Vorrangregel auf zweiter Stufe greift dann nicht. In Betracht kommt dann eine Vorrangregel auf dritter Stufe, wenn ein höherrangiger normativer Gesetzeszweck aufgefunden werden kann. Ein solcher wird aber aufgrund seiner großen Abstraktionshöhe kaum einer richtlinienkonformen Rechtsfindung entgegenstehen, sondern diese ermöglichen. Nur wenn die Vorrangregel auf dritter Stufe nicht eingreift, ist das Ergebnis im Rahmen einer Abwägungsentscheidung zu finden. Bei dieser Entscheidung muss die genetische Auslegung, die eine aktuelle Absicht des Gesetzgebers verdeutlicht, die Richtlinie umzusetzen, den anderen Auslegungskriterien gemäß Art. 288 III AEUV vorgehen. Jedenfalls wird nach objektiver Theorie regelmäßig eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung möglich sein. Hat der Gesetzgeber das nationale Recht unverändert gelassen und nur einen Fußnotenvermerk eingefügt, dass das Altrecht zur Umsetzung der Richtlinie dient, ist der Richtlinie entgegenstehendes Recht veraltet. Der Fußnotenvermerk zeigt gerade, dass es einen aktuelleren, nationalen Gesetzgeberwillen gibt, der die Richtlinienvorgaben einschließt. Deshalb besteht eine Regelungslücke, die anhand der Wertungen der Gesamtrechtsordnung, notfalls anhand der Wertungen der Richtlinie, geschlossen werden kann. (b) Reichweite der Staatshaftung Durch den Umsetzungsvermerk ist der Gesetzgeber seiner Pflicht zur Umsetzung der Richtlinie nachgekommen. Der Gesetzgeber ging nämlich davon aus, dass das Altrecht bereits richtlinienkonform sei und hat so eine
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Änderung des nationalen Rechts unterlassen. Ein Tätigwerden und damit das Ob der Umsetzung wird aber aus dem Fußnotenvermerk deutlich. Der Gesetzgeber hat (nur) seinen Gestaltungsspielraum fehlerhaft genutzt, was aber nicht zu einer Verletzung einer unbedingten Pflicht führt. Da dies regelmäßig nicht vorsätzlich geschieht oder aus anderen Gründen eine offenkundige und erhebliche Pflichtwidrigkeit darstellt, muss eine Staatshaftung mangels qualifizierten Verstoßes ausscheiden. Ein qualifizierter Verstoß könnte in dem Fall nur dann angenommen werden, wenn die Richtlinie eindeutig formuliert ist, sodass dem Gesetzgeber letztlich Eventualvorsatz unterstellt werden kann.105 c) Die Unterscheidung zwischen unbewusst und bewusst fehlerhafter Umsetzung Problematisch ist allerdings die Unterscheidung zwischen einer irrtümlichen, fehlerhaften Umsetzung des Gesetzgebers, sodass dem gesetzgeberischen Motiv zur ordnungsgemäßen Umsetzung der Richtlinie starkes Gewicht bei der Auslegung gegeben werden muss und der bewussten Entscheidung des Gesetzgebers gegen die Richtlinie. Es lässt sich selten klar aus den Gesetzesmaterialien entnehmen, ob der Gesetzgeber nun bewusst gegen die Richtlinie entschieden hat oder sich unbewusst irrte. Es lässt sich sogar behaupten, dass der einfallsreiche Gesetzgeber sich viel eher hinter Formulierungen zu verstecken wissen wird (zur Vermeidung eines Vertragsverletzungsverfahrens), je bewusster er sich über die Nichtkonformität seiner Regelungsentscheidung ist. Als Lösung für dieses Problem schlagen H. Schulte-Nölke und C. Busch eine Prüfung anhand des Satzes vor: „Je klarer die Vorgaben der Richtlinie, desto unwahrscheinlicher erscheint es, dass der Gesetzgeber aus bloßem Ungeschick die Richtlinie fehlerhaft umgesetzt hat.“106 Dieser Satz kann m.E. noch ergänzt werden anhand der bereits oben genannten Kriterien für die Qualifikation eines Umsetzungsverstoßes. Es können daher neben dem Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift auch der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum bei Umsetzung der Richtlinie, die Entschuldbarkeit des Rechtsirrtums, Stellungnahmen der Unionsorgane, die zu der fehlerhaften Umsetzung beigetragen haben oder sie aufklären konnten, sowie die Nachfragemöglichkeiten des Mitgliedstaats als Kriterien herangezogen werden.107 Auch ein interpretierendes Urteil des EuGH, nachdem die Vorgaben nunmehr klar feststehen, kann als Kriterium herangezogen werden. Eine bewusste Nichtumsetzung und damit ein qualifizierter Verstoß im 105
Zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs vom „qualifizierten Verstoß“ bereits oben Teil 3, B.I.2.c)(2), S. 231 ff. 106 Schulte-Nölke/Busch in: FS Canaris II, 2007, 795, 810. 107 Nachweise s. Teil 3, Fn. 99.
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Sinne der Staatshaftung liegen daher auch dann vor, wenn entgegen einem Urteil des EuGH an einem Umsetzungsverstoß festgehalten wird.108 Letztlich handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, den der Richter im Prozess prüfen muss. Im Staatshaftungsprozess erfolgt die Prüfung dieser Kriterien dann im Rahmen des Merkmals der hinreichenden Qualifikation des Verstoßes. Im Hauptprozess prüft dies der Richter im Rahmen der genetischen Auslegung. In jedem Fall wird sich entweder ergeben, dass der Gesetzgeber die Richtlinie unbewusst fehlerhaft umgesetzt hat, also ein Irrtum vorlag, oder er bewusst fehlerhaft umgesetzt hat. In ersterem Fall ist die Möglichkeit der richtlinienkonformen Rechtsfindung zu überprüfen, die regelmäßig nur bei eindeutiger und aktueller materieller Regelungsentscheidung nicht gelingt. Eine Staatshaftung wird wegen dem Fehlen eines qualifizierten Verstoßes meist ausscheiden, es sei denn, die Richtlinienvorgabe ist eindeutig und lässt dem Gesetzgeber keinen Spielraum. Ergibt sich hingegen, dass der Gesetzgeber bewusst gegen die Richtlinie verstoßen hat, greift wegen des vorsätzlichen und damit qualifizierten Verstoßes eine Staatshaftung ein. 3. Fazit: Es verbleiben Schutzlücken Können die Unionsrechte durch den Marktbürger nicht mit Hilfe von richtlinienkonformer Rechtsfindung oder Staatshaftung vor den nationalen Gerichten durchgesetzt werden, entstehen aus unionsrechtlicher Sicht Schutzlücken für den Bürger. Es hat sich allerdings gezeigt, dass Schutzlücken nur im Falle der unbewusst fehlerhaften Umsetzung der Richtlinie durch den nationalen Gesetzgeber und dem Bestehen einer eindeutigen und aktuellen materiellen Regelungsentscheidung des Gesetzgebers gegen die Richtlinie entstehen, wenn gleichzeitig in dieser Konstellation eine Staatshaftung ausscheiden muss, weil beispielsweise die Vorgaben mehrdeutig sind oder ein Ermessensspielraum besteht. In dieser Konstellation führt eine richtlinienkonforme Rechtsfindung im Sinne eines Ergebnisvorranges nicht zu einem richtlinienkonformen Ergebnis. Zudem hat der Bürger hier auch keinen Staatshaftungsanspruch. (Nur) für diesen Fall, will man die aus unionsrechtlicher Perspektive bestehende Schutzlücke schließen, bedarf es einer Veränderung der herkömmlichen Lösungsmöglichkeiten für den Konflikt zwischen Richtlinie und nationalem Recht. III. Unzulässigkeit des Offenlassens von Schutzlücken Das Erfordernis eines qualifizierten Verstoßes bei der Staatshaftung und die Ablehnung einer richtlinienkonformen Rechtsfindung außerhalb der 108
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traditionellen Methoden führen dazu, dass Schutzlücken für den Bürger verbleiben. Nun ließe sich, bevor an eine Veränderung der herkömmlichen Lösungsmechanismen gedacht wird, daran denken, die Schutzlücken offen zu lassen. Ein flächendeckendes Schließen der Schutzlücken ist aus unionsrechtlicher Sicht zwar erwünscht, denn das Unionsrecht soll effektiv durch die Bürger vor den nationalen Gerichten eingeklagt werden können. Allerdings können im Richtlinienbereich nicht alle Lücken geschlossen werden. Das zeigt sich beispielsweise im Vertikalverhältnis, bei dem für eine unmittelbare Wirkung der Richtlinie ihre hinreichende Bestimmtheit und Unbedingtheit gefordert werden. Ist die Richtlinie also zu unbestimmt oder bedingt, muss die unmittelbare Wirkung ausscheiden. Ebenso führt das Kriterium des qualifizierten Verstoßes bei der Staatshaftung dazu, dass in Fällen des einfachen Verstoßes ein Staatshaftungsanspruch des Bürgers abzulehnen ist. Fordert das Unionsrecht also keine lückenlose Schließung der Schutzlücken, stellt sich die Frage, ob in den hier interessierenden Konstellationen der unbewusst fehlerhaften Umsetzung bei eindeutiger materieller Regelungsentscheidung Schutzlücken offen bleiben können. Dies wäre dann nicht der Fall, wenn das Offenlassen der Schutzlücken zu Verwerfungen mit zentralen unionsrechtlichen Prinzipien führen würde. 1. Effektive Durchsetzung des Unionsrechts Ließe man Schutzlücken offen, wäre die effektive Durchsetzung des Unionsrechts durch die Marktbürger gefährdet. Eine Grundentscheidung der Europäischen Union war die für das Modell des privaten Staatsanwalts, d.h. der Bürger sollte seine unionalen Rechte selbst vor den nationalen Gerichten einklagen und so selbst für die Einhaltung seiner Rechte sorgen.109 Erst die Klagemöglichkeit des Einzelnen sichert die Wirksamkeit des Unionsrechts, denn „[d]ie Wachsamkeit der an der Wahrung ihrer Rechte interessierten Einzelnen stellt eine wirksame Kontrolle dar, welche die durch die Kommission und die Mitgliedstaaten gemäß den Artikeln 169 und 170 [jetzt Art. 267 AEUV] ausgeübte Kontrolle ergänzt.“ 110
Würden nun die Schutzlücken im Fall der unbewusst fehlerhaften Umsetzung bei eindeutiger materieller Regelungsentscheidung offen bleiben, könnte der auf seine Richtlinienrechte vertrauende Bürger seine unionsrechtlich gesicherten Rechte nicht erfolgreich vor den nationalen Gerichten einklagen. Die effektive Durchsetzung des Unionsrechts sowie damit die Einschaltung des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren und die Fortbil109
Weiler, JCMS 1993, 417, 421 ff.; Haltern, Europarecht, S. 190, Rn. 340; Canivet, Gazette Européenne Recueil Novembre- Décembre 2000, 1971, 1971. S. bereits oben Teil 1, A.III.2.a), S. 29 ff. 110 EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 3 (van Gend & Loos), S. 26.
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dung des Unionsrechts wären in diesen Konstellationen nicht mehr gewährleistet. 2. Ungleichbehandlung der Marktbürger Ließe man die Schutzlücken offen, käme es außerdem in zweierlei Hinsicht zu einer Ungleichbehandlung der Marktbürger. Einerseits würden die Marktbürger, je nachdem, welchen Vertragspartner sie wählten (den Staat oder einen Privaten), unterschiedlich behandelt. Derjenige, der sich den Staat als Vertragspartner aussucht, kann sich bei hinreichend bestimmter und unbedingter Richtlinie wegen der Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Vertikalverhältnis unmittelbar auf die Richtlinie berufen. Im Horizontalverhältnis besteht diese Möglichkeit, wie dargelegt, nicht.111 Scheidet in diesen Fällen neben der unmittelbaren Wirkung auch eine richtlinienkonforme Rechtsfindung aus und scheitert ein Staatshaftungsanspruch am Fehlen eines qualifizierten Verstoßes, ergeben sich im Horizontalverhältnis größere Schutzlücken als im Vertikalverhältnis. Der Bürger kann dann seine Rechte aus der Richtlinie nicht erfolgreich vor den nationalen Gerichten einklagen. Aus der Perspektive des betroffenen Marktbürgers ist diese Differenzierung willkürlich. Andererseits entsteht dasselbe Problem des uneinheitlichen Rechtsschutzes, betrachtet man die Situation in der gesamten Union.112 Lebt man in einem Staat, der die Richtlinie ordnungsgemäß umgesetzt hat, gelten die Vorgaben der Richtlinie für die dort lebenden Marktbürger. Hat der Staat die Richtlinie hingegen unkorrigierbar nicht oder fehlerhaft umgesetzt, gelten für diese Marktbürger im Horizontalverhältnis die Richtlinienvorgaben nicht, da die Möglichkeit der richtlinienkonformen Rechtsfindung verfassungsrechtlich begrenzt ist. Die Problematik könnte ein umsetzungsunwilliger Mitgliedstaat noch dadurch verschärfen, indem er Formulierungen im nationalen Recht verwendet, die eindeutig einer Auslegung oder Fortbildung des nationalen Rechts entgegenstehen.113 Kann dieses Umsetzungsdefizit nicht über das Institut der Staatshaftung ausgeglichen werden, könnte sich der Bürger, je nachdem in welchem Mitgliedstaat er lebt, auf die Richtlinie berufen oder nicht. Anstelle einer Rechtsangleichung in der Union würde das Gegenteil erreicht. U. Haltern fasst dieses Problem wie folgt zusammen:
111
S. oben Teil 1, A.II, S. 17 ff. Steindorff in: EG-Richtlinien und Illusionen, 1995, 1455, 1459; Haltern, Europarecht, S. 350, Rn. 700; Bach, JZ 1990, 1108, 1115. 113 Schlachter, RdA 2005, 115, 118 f. 112
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„Lebt man nämlich in einem Staat, der eine Richtlinie fristgerecht umgesetzt hat, kann man sich auf die durch die Richtlinie verliehenen Rechte sowohl gegenüber dem Staat als auch gegenüber privaten Dritten berufen. Lebt man hingegen in einem Staat, der eine Richtlinie nicht fristgerecht umgesetzt hat, kann man sich nur gegenüber dem Staat auf die durch die Richtlinie verliehenen Rechte berufen; eine Berufung gegenüber privaten Dritten hingegen scheidet aus. Die Intensität des Rechtsschutzes ist damit von mehreren Zufällen abhängig. Hat erstens der Staat, in dem ich lebe, die Richtlinie fristgerecht umgesetzt? Ist zweitens mein Klagegegner der Staat oder ein privater Dritter? Aus der Sicht des betroffenen Individuums ist es gleichgültig, ob derjenige, der seine Rechte verletzt, der Staat oder ein privater Dritter ist. Dennoch hängt hiervon die Antwort auf die Frage ab, ob er sich erfolgreich gegen die Rechtsverletzung wehren kann.“114
Ließe man die Schutzlücken offen, käme es also zu einer willkürlichen, materiellen Ungerechtigkeit aufgrund der Ungleichbehandlung der Marktbürger innerhalb der Union. Dies widerspräche dem Ziel der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur unmittelbaren Wirkung, zur richtlinienkonformen Rechtsfindung und zur Staatshaftung, die allesamt das Ziel haben, die einheitliche und gleiche Wirkung des Unionsrechts sicherzustellen.115 Die Vermeidung der Ungleichbehandlung innerhalb eines Mitgliedstaates und unter den Mitgliedstaaten lässt sich auch normativ anbinden, denn die Union bekennt sich bereits in der Präambel des Vertrages über die Europäische Union zu „Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte“.116 Nach Art. 2 EUV gründet sich die Union u.a. auf die Werte der Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit. Eine willkürliche Ungleichbehandlung der Marktbürger ist vor diesem Hintergrund nicht zulässig. 3. Verantwortungsverlagerung Ließe man die Schutzlücken offen, käme es im Horizontalverhältnis schließlich zu einer Verlagerung der Verantwortung für den Umsetzungsverstoß von den Mitgliedstaaten auf den auf die Richtlinie vertrauenden Bürger. Der auf die Richtlinie vertrauende Bürger könnte seine unionsrechtlich gesicherten Rechte nicht mehr erfolgreich vor den nationalen Gerichten einklagen. Obwohl der Mitgliedstaat für den Umsetzungsfehler verantwortlich ist, wird er auf Kosten desjenigen entlastet, der auf die Richtlinie vertraut hat. Das Verantwortungsprinzip ist zentrales unionsrechtliches Prinzip, das sich im Richtlinienbereich an Art. 288 III AEUV in Verbindung mit Art. 4 III EUV und der interpretierenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs normativ anbinden lässt. Das Verantwortungsprinzip wurde vom EuGH bereits in der Rechtsprechung zur unmittelbaren Wirkung von 114
Haltern, Europarecht, S. 351, Rn. 701; vgl. auch Schlachter, ZfA 2007, 249, 258; Dougan, C.L.J. 2000, 586, 587 f. 115 Vgl. Nettesheim, WM 2006, 457, 459 m.w.N. in Fn. 32. 116 Präambel EUV.
C. Notwendigkeit der Modifikation der Staatshaftungsvoraussetzungen
249
Richtlinien im Vertikalverhältnis entwickelt und in der Rechtsprechung zur Staatshaftung fortgeführt. Neben dem Effektivitätsgedanken stützt der EuGH die Institute auch auf das sog. Rechtsmissbrauchsargument. In einer Entscheidung zur Staatshaftung heißt es, es solle „verhindert werden, dass der Staat aus seiner Nichtbeachtung des Gemeinschaftsrechts Nutzen ziehen kann.“117 Diese Rechtsprechung enthält einerseits den Gedanken, dass der Staat sich nicht rechtsmissbräuchlich auf seine Fehler stützen soll. Andererseits enthält sie aber auch einen Sanktionsgedanken118, indem der Mitgliedstaat für seinen Umsetzungsverstoß zur Verantwortung gezogen wird. Diese Form der Sanktion für den Mitgliedstaat erfolgt durch den Bürger, der gegenüber dem Staat Rechte geltend machen kann (im Wege der unmittelbaren Wirkung im Vertikalverhältnis oder der Staatshaftung). Es lässt sich daher von einem Verantwortungsprinzip sprechen. Der Umsetzungsverstoß soll mit anderen Worten sicher nicht zulasten des Marktbürgers gehen, desjenigen der eigentlich durch das Unionsrecht begünstigt werden sollte und der auch nicht für den Umsetzungsverstoß verantwortlich ist. Stattdessen soll denjenigen die Last eines Umsetzungsverstoßes treffen, der für diesen verantwortlich ist: der Mitgliedstaat. Da nur der Staat für das (unbehebbare) Umsetzungsdefizit im nationalen Recht verantwortlich ist, kann er diese Verantwortung nicht auf einzelne Private übertragen.
C. Notwendigkeit der Modifikation der Staatshaftungsvoraussetzungen C. Notwendigkeit der Modifikation der Staatshaftungsvoraussetzungen Herausgearbeitet wurde, dass die Modifikation nationaler Rechtsfindungsmethoden aus verfassungsrechtlichen Gründen abzulehnen ist. Festgestellt wurde weiter, dass die entstehenden Schutzlücken nicht durch das traditionell verstandene Institut der Staatshaftung aufgefangen werden können, dass aber dennoch das Effektivitäts- und Verantwortungsprinzip sowie der Grundsatz der Gleichbehandlung der Marktbürger untereinander sowie zwischen den Mitgliedstaaten eine Schließung von Schutzlücken gebieten. Es bleibt daher schließlich die Möglichkeit, die Voraussetzungen der Staatshaftung so zu modifizieren, dass sie auch die unbewusst fehlerhafte Umsetzung von Richtlinien bei eindeutiger materieller Regelungsentscheidung erfassen. Vorgeschlagen wird hier, das Kriterium des qualifizierten Verstoßes im Falle der ungerechtfertigten Belastung des auf die 117
EuGH, Rs. C-91/92, Slg. 1994, I-3325 (Faccini Dori), Rn. 22; wiederholt in EuGH, Rs. C-192/94, Slg. 1996, I-1281 (El Corte Inglés), Rn. 16. 118 Freyer, EuZW 1991, 49, 52; Hochleitner/Wolf, WM 2002, 529, 535; Nettesheim, WM 2006, 457, 458 m.w.N. in Fn. 28.
250
Teil 3: Zulässigkeit und Notwendigkeit der Veränderung von Methoden
Richtlinienvorgaben vertrauenden Marktbürgers zugunsten des Mitgliedstaates zu erweitern (dazu unter I.). Im Anschluss daran muss dargelegt werden, warum diese Veränderung notwendig und im Vergleich zu den anderen vorgeschlagenen Alternativen vorzugswürdig ist (II.). Schließlich muss diese Lösung gegenüber Einwänden abgesichert werden (III.). I. Methode Um die vorstehenden Probleme und die Schutzlücke in den oben dargestellten Fallgruppen zu vermeiden, ist die Modifikation des Instituts der Staatshaftung (nur) für die Fallgruppe des unbewussten Umsetzungsverstoßes bei eindeutiger materieller Regelungsentscheidung und fehlender Qualifikation des Umsetzungsverstoßes notwendig.119 Es sollte in diesen eng begrenzten Konstellationen bei Nichtvorliegen eines (nach herkömmlichem Verständnis) qualifizierten Verstoßes das Kriterium des qualifizierten Verstoßes erweitert werden, indem geprüft wird, ob der Umsetzungsverstoß den auf die Richtlinienvorgaben vertrauenden Marktbürger ungerechtfertigt zugunsten des Mitgliedstaates belastet. Eine solche Erweiterung des Staatshaftungsanspruchs lässt sich mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs vereinbaren, denn dieser hat stets die Entwicklungsoffenheit des Staatshaftungsanspruchs anerkannt.120 Nach dem herkömmlichen Verständnis des qualifizierten Verstoßes wurde die Offenkundigkeit und Erheblichkeit des Verstoßes stets aus der Perspektive des pflichtwidrig handelnden Staates definiert. Nicht einbezogen wird die Möglichkeit, dass sich ein qualifizierter Verstoß auch dadurch ergeben kann, dass unionsrechtliche Prinzipien offenkundig und erheblich verletzt werden. In der Fallgruppe der unbewusst fehlerhaften Richtlinienumsetzung bei eindeutiger materieller Regelungsentscheidung des Gesetzgebers gegen die Richtlinie wäre dies der Fall, denn eine richtlinienkonforme Rechtsfindung müsste aus verfassungsrechtlichen Gründen121, eine unmittelbare Wirkung der Richtlinie aus unionsrechtlichen Gründen122 abgelehnt werden. Ließe man die verbleibenden Schutzlücken offen, wäre die effektive Durchsetzung des Richtlinienrechts in diesen Konstellationen gefährdet. Die Marktbürger würden innerhalb eines Mitgliedstaates und unter den Mitgliedstaaten willkürlich ungleich behandelt und die Verant119
Ausdrücklich abgelehnt wird diese Möglichkeit hingegen von Mankowski in: Handbuch des Rechtsschutzes, § 37, Rn. 117; Schulte-Nölke/Busch in: FS Canaris II, 2007, 795, 804 f. Offen für eine Lösung über die Staatshaftung sind hingegen Pötters/Christensen, JZ 2011, 387, 394; Gödicke, WM 2008, 1621, 1625; Nettesheim, WM 2006, 457, 459 ff.; Freitag, EuR 2009, 796, 800; Schinkels, JZ 2011, 394, 398. 120 Nettesheim, WM 2006, 457, 461 und 462. 121 S. oben Teil 3, A., S. 197 ff. 122 S. oben Teil 1, A., S. 24 ff.
C. Notwendigkeit der Modifikation der Staatshaftungsvoraussetzungen
251
wortung für den Umsetzungsverstoß würde ungerechtfertigt vom Staat auf den Bürger übertragen.123 Diese erhebliche Beeinträchtigung unionsrechtlicher Prinzipien führt zu einem offenkundigen und erheblichen Verstoß. Mit anderen Worten ist es die Entlastung des Mitgliedstaates zulasten des Marktbürgers, die qualifiziert gegen Unionsrecht verstößt.124 II. Absicherung der Methode Die vorgeschlagene Modifikation der Methode der Staatshaftung muss schließlich gegenüber Gegenargumenten abgesichert werden. 1. Unzulässigkeit des Offenlassens von Schutzlücken als Rechtfertigung der Ausdehnung der richtlinienkonformen Rechtsfindung In Betracht kommt zunächst der Einwand, dass die in dieser Arbeit aufgezeigte Unzulässigkeit des Offenlassens von Schutzlücken unionsrechtlich die Ausdehnung der richtlinienkonformen Rechtsfindung ebenso fordere und rechtfertige wie eine Modifikation der Staatshaftung. Allerdings ist eine Veränderung der Staatshaftung in der Fallgruppe der unbewusst fehlerhaften Umsetzung bei eindeutiger materieller Regelungsentscheidung des Gesetzgebers einer Ausdehnung der richtlinienkonformen Rechtsfindung vorzuziehen, denn nur die Staatshaftung berücksichtigt zentrale unionsrechtliche Prinzipien hinreichend. a) Vertrauensschutz und Rechtssicherheit Nur der Weg über die Staatshaftung kann bei einer eindeutigen materiellen Regelungsentscheidung des nationalen Gesetzgebers in dem Dreiecksverhältnis125 zwischen Mitgliedstaat und zwei Bürgern dem notwendigen Vertrauensschutz beider Bürger gerecht werden. Eine Ausdehnung der richtlinienkonformen Rechtsfindung würde zwar dazu führen, dass der auf die Richtlinie Vertrauende seine Rechte einklagen kann und sein Vertrauen geschützt wäre. Allerdings würde dies den Bürger, der auf das nationale Recht vertraut, belasten. Aber gerade das Vertrauen des Bürgers in das nationale Recht ist schutzwürdiger als das Vertrauen in die Richtlinie, 123
S. oben Teil 3, B.III., S. 245 ff. In diese Richtung auch Schinkels, JZ 2011, 394, 398: „Zunächst ist nämlich durchaus denkbar, was die Wissenschaft bislang nicht ersichtlich in den Blick genommen hat, wohl weil es auf den ersten Blick auch als paradox erscheinen mag: Die Beeinträchtigung Privater in ihren durch die Richtlinie besonders zugedachten subjektiven Rechten gerade dadurch, dass ein richtlinienwidriger Normwortlaut richtlinienkonform missachtet (fortgebildet) wird.“ 125 Von einem Dreiecksverhältnis spricht in diesem Zusammenhang auch Nettesheim, WM 2006, 457, 457. 124
252
Teil 3: Zulässigkeit und Notwendigkeit der Veränderung von Methoden
denn mangels unmittelbarer Geltung der Richtlinie ist nur das nationale Recht für den Bürger gemäß Art. 20 III GG verbindlich.126 Die nationalen Normen werden im Bundesgesetzblatt verkündet. Der Bürger kann auf den verkündeten und verbindlichen Gesetzestext der Normen vertrauen. Insbesondere kann er (oder ein juristisch geschulter Vertreter) den Wortlaut der Norm feststellen, Gesetzgebungsmaterialien einsehen und Rechtsprechung für den ihn interessierenden Fall finden. Anhand dieser Kriterien lässt sich für ihn das Rechtsfindungsergebnis in einem späteren Rechtsstreit regelmäßig voraussehen oder ein Risiko abschätzen. In den hier interessierenden Konstellationen der unbewusst fehlerhaften Umsetzung der Richtlinie bei eindeutiger, materieller Regelungsentscheidung des Gesetzgebers, die der Richtlinie entgegensteht, besteht für den Bürger sogar ein besonders schützenswertes Vertrauen, denn der Gesetzgeber hat eine eindeutige Regelungsentscheidung getroffen, sodass jedes andere Ergebnis gegen das Verbot des Contra-legem-Judizierens verstoßen würde und der Bürger somit mit einem entgegenstehenden Rechtsfindungsergebnis nicht zu rechnen braucht. Durch eine Modifikation der nationalen Methoden unter Verletzung verfassungsrechtlicher Grundsätze würde er in diesem Vertrauen enttäuscht. Das nationale Gesetzesrecht würde unverlässlich und die Vertrauensgrundlage der Normadressaten wäre entwertet.127 Ist das nationale Recht aus sich heraus hingegen nicht eindeutig, kann der Bürger nur auf ein bestimmtes Spektrum an Auslegungsmöglichkeiten vertrauen. Ist das nationale Recht lückenhaft, dann findet er im nationalen Recht keine Lösung und muss die Entscheidung der Judikative überlassen. In diesem Fall ist der Vertrauensschutz des Bürgers mangels vorhersehbaren Ergebnisses nur betroffen, wenn unvertretbare Auslegungsergebnisse gewählt werden oder Lücken mit externen Prinzipien und Wertungen geschlossen werden. Innerhalb dieser Grenze hingegen kann der Richter die Vorgaben der Richtlinie im Wege der richtlinienkonformen Rechtsfindung einfließen lassen. Innerhalb dieses bereits nach traditionellen Methoden zulässigen Spektrums ist die richtlinienkonforme Rechtsfindung der Staatshaftung vorzuziehen, was zum Beispiel bei einem unbewussten Umsetzungsverstoß des Mitgliedstaates der Fall sein wird, wenn der nationale Gesetzgeber keine eindeutige Regelungsentscheidung gegen die Richtlinie getroffen hat. Zudem entstünden erhebliche Rechtsunsicherheiten, würde man eine richtlinienkonforme Rechtsfindung außerhalb der nationalen Methoden zulassen.128 Von einem Privaten zu fordern, dass er sich stets des Richtlinienrechts bewusst ist und er entsprechend der Richtlinie handelt, wäre 126
Vgl. Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 98; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 912. Vgl. auch Schürnbrand, JZ 2007, 910, 916 f.; Franzen, JZ 2003, 321, 327 f. 128 Heiderhoff in: Interpretation, 2011, 101, 117. 127
C. Notwendigkeit der Modifikation der Staatshaftungsvoraussetzungen
253
unzumutbar129, ist doch die Richtlinie weder Teil der nationalen Rechtsordnung130 noch an den Marktbürger adressiert. Deshalb muss sich der Bürger darauf verlassen können, dass ihn inhaltliche Vorgaben von Richtlinien erst dann treffen, wenn diese von dem demokratisch legitimierten, nationalen Gesetzgeber in das nationale Recht aufgenommen wurden.131 Nur die Umsetzung und Überführung der Richtlinienvorgaben in nationales Recht rechtfertigt den Eingriff in die Rechte des Bürgers. Dass stets eine Umsetzung im nationalen Recht erforderlich ist, zeigt auch die Rechtsprechung des EuGH, wonach eine richtlinienkonforme Auslegung nie Surrogat für die Umsetzung der Richtlinie sein kann.132 Für die Normadressaten muss erkennbar sein, welche Verpflichtungen sie nach einer Vorschrift haben.133 Der Einzelne muss daher mit unionsrechtlichen Belastungen aus Richtlinien nur rechnen, wenn sie sich mit hinreichender Bestimmtheit aus dem innerstaatlichen Recht ergeben. 134 Dies ist nur dann der Fall, wenn die Richtlinie ordnungsgemäß umgesetzt wurde oder das nationale Recht bereits nach nationalen Standards auslegungs- bzw. fortbildungsbedürftig ist. Deutlich wird die Gefährdung des Vertrauens der Bürger und des Rechtssicherheitsgebotes an den Fällen Heininger135 und Weber136. Die Normadressaten sehen sich dort Verhaltensanordnungen gegenüber, die sie bei Vertragsschluss kaum ernsthaft in Betracht gezogen hätten.137 Im Fall Heininger wurde den Bankkunden ein Widerrufsrecht zugestanden, obwohl das nationale deutsche Recht ein Widerrufsrecht bei einem durch ein Grundpfandrecht gesicherten Verbraucherkreditgeschäft gar nicht vorsah. Wie hätte die Bank zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses belehren sollen, wenn das nationale Recht ein Widerrufsrecht nicht kannte? Durch eine richtlinienkonforme Rechtsfindung werden daher Voraussetzungen an die Bank herangetragen, die sie zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses nicht erfüllen konnte. Ähnlich war dies im Fall Weber: Der Verkäufer, der in diesem Fall mangelhafte Fliesen verkauft hatte, sah sich nicht nur der 129
Heiderhoff in: Interpretation, 2011, 101, 117. Dazu s. oben Teil 3, A.III., S. 24 ff. 131 OLG Schleswig, WM 2004, 1959, 1964; Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 278; Herdegen, WM 2005, 1921, 1925; Schlachter, RdA 2005, 115, 117. 132 Nachweise s. Teil 1, Fn. 135. 133 EuGH, C-13/90, C-14/90, C-64/90, NVwZ 1991, 866 ff. (TA-Luft), Rn. 15. 134 Herdegen, WM 2005, 1921, 1927. 135 Zum Sachverhalt s. oben Teil 2, C.I.1.a), S. 164 ff. 136 BGH, NJW 2012, 1073 ff., Sachverhalt s. oben Teil 2, C.I.3.a), S. 186 ff. 137 Für den Fall Heininger (BGHZ 150, 248 ff.) so Herdegen, WM 2005, 1921, 1921 und S. 1924: „Diese Rechtsprechung lässt bei den Anforderungen an die gebotene Widerrufsbelehrung die Normadresaten – rückwirkend – in eine ‚exegetische Falle‘ laufen.“ 130
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Teil 3: Zulässigkeit und Notwendigkeit der Veränderung von Methoden
Nachlieferungspflicht ausgesetzt, sondern musste auch die Kosten für den Ausbau und den erneuten Einbau tragen. Er wurde so durch die Judikative mit zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses für ihn nicht erkennbaren Kosten belastet. Der Vertrauensschutzgrundsatz und das Rechtssicherheitsprinzip werden auch unionsrechtlich anerkannt. Der Gerichtshof verpflichtet die nationalen Gerichte auf die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze der Union, die sich aus der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben.138 Zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören auch der Grundsatz der Rechtssicherheit und der Normenklarheit139 sowie der Vertrauensschutzgrundsatz140. Diese Prinzipien setzen auch der richtlinienkonformen Rechtsfindung Grenzen141 bzw. fordern die Ausdehnung der Staatshaftung. b) Verantwortungsprinzip142 Die Lösung über eine Modifikation der nationalen Methoden und damit die Ermöglichung weitgehender Anpassungen entgegenstehenden nationalen Rechts würde den Staat, der für die Umsetzungsprobleme verantwortlich ist, auf Kosten desjenigen entlasten, der auf das nationale Recht vertraut hat.143 Dasselbe wäre der Fall, wenn das Institut der unmittelbaren Wirkung auf Horizontalverhältnisse ausgedehnt würde. In diesen Konstellationen aber gleichzeitig auf die Ausdehnung der Staatshaftung zu verzichten, würde demgegenüber denjenigen treffen, der durch die Richtlinie begünstigt werden sollte.144 Nur der Weg über die Modifikation der Staatshaftung belastet denjenigen, der für den Umsetzungsverstoß verantwortlich ist: den Mitgliedstaat. 2. Das Effektivitätsprinzip Gegen die Staatshaftung wird weiterhin häufig eingewandt, dass dem Bürger nur in zweiter Reihe zu seinem (unionsrechtlich gesicherten) Recht
138 EuGH, Rs. C-387/02 u.a., Slg. 2005, I-3565 (Berlusconi), Rn. 67 ff.; EuGH, Rs. 80/86, Slg. 1987, 3969 (Kolpinghuis Nijmegen), Rn. 13. 139 EuGH, Rs. C-361/88, Slg. 1991, I-2567 (Kommission/Deutschland), Rn. 21; Franzen, JZ 2003, 321, 327; s. auch Herdegen, WM 2005, 1921, 1927. 140 Zum Vertrauensschutzgrundsatz als Teil der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts: EuGH, verb. Rs. 205-215/82, Slg. 1983, 2633 (Deutsche Milchkontor), Rn. 33. 141 Herdegen, WM 2005, 1921, 1927; Jarass, EuR 1991, 211, 223. 142 Zur Herleitung des Prinzips s. oben Teil 3, B.III.3., S. 248 ff. 143 Freitag, EuR 2009, 796, 800. 144 In diesem Sinne auch Nettesheim, WM 2006, 457, 459.
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verholfen werde und so der Rechtsschutz des Bürgers verringert sei.145 Wird nämlich eine richtlinienkonforme Rechtsfindung abgelehnt, bleibt es bei der Anwendung der traditionellen Methoden und bei der Geltung der einschlägigen nationalen Norm (die der Richtlinie entgegensteht).146 Dem auf die Richtlinie vertrauenden Bürger bleibt dann nur der Weg über die Staatshaftung. Dann sieht er sich allerdings regelmäßig mit zwei Prozessen konfrontiert: zum einen mit dem Hauptprozess, in dem er unterliegen wird, da mangels Zulässigkeit einer richtlinienkonformen Rechtsfindung oder einer unmittelbaren Wirkung das Gericht zu seinen Lasten entscheidet; zum anderen mit dem Staatshaftungsprozess, in dem er seinen Schaden des Erstprozesses vor den nationalen Gerichten gegen den Staat einklagen kann. Trotzdem sprechen drei Aspekte dafür, den Weg über die Staatshaftung dem der Ausdehnung einer richtlinienkonformen Rechtsfindung vorzuziehen: a) Abstufung im Vertrauen aufgrund der Dogmatik der Richtlinie Dargelegt wurde bereits, dass es notwendig ist, das Vertrauen des Marktbürgers in das nationale Recht zu schützen, da dieses gemäß Art. 20 III GG für ihn verbindlich gilt. Diesem verfassungsrechtlich gesicherten Vertrauen steht das aus unionsrechtlicher Sicht schützenswerte Vertrauen des anderen Bürgers auf die Rechte aus der Richtlinie entgegen. Die Dogmatik der Richtlinie zeigt nun, dass das Vertrauen in das nationale Recht schutzwürdiger ist: Die Richtlinie gilt nicht unmittelbar in der nationalen Rechtsordnung. Sie ist daher ohne ordnungsgemäße Umsetzung für die im Privatrechtsverhältnis beteiligten Bürger fremdes Recht. Das Vertrauen auf fremdes Recht ist zumindest weniger schutzwürdig, denn verbindlich für den Bürger sind nur die nationalen Normen.147 Diese Abstufung, dass der auf das nationale Recht vertrauende Bürger schutzwürdiger ist als der auf die Richtlinie vertrauende Bürger, lässt sich nur mit Hilfe der vorgeschlagenen Modifikation der Staatshaftung umsetzen. Im Hauptprozess werden dem auf das nationale Recht Vertrauenden seine Rechte aus dem nationalen Recht zugesprochen. Sein Vertrauen ist das schützenswerteste, sodass er seine Rechte sofort durchsetzen kann. Der auf die Richtlinie vertrauende Bürger ist aus unionsrechtlicher Sicht ebenfalls zu schützen. Er kann aber nur zulasten des Staates geschützt werden, was allerdings gerechtfertigt ist, denn der Staat ist für die fehlerhafte Umsetzung verantwortlich. Dem insofern weniger schützenswerten Bürger 145
Müller-Graff, NJW 1993, 13, 21; Bach, JZ 1990, 1108, 1114. Höpfner in: JhJZW, 2009, 73, 81; Di Fabio, NJW 1990, 947, 953; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 912. 147 Dazu bereits oben Teil 1, A.III., S. 24 ff. 146
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Teil 3: Zulässigkeit und Notwendigkeit der Veränderung von Methoden
wird ein zweiter Prozess zugemutet. Das Risiko, in dem zweiten Aktivprozess zu unterliegen, wird prozessual durch das Mittel der Streitverkündung gem. §§ 72 bis 74 ZPO aufgefangen. b) Effektive Durchsetzung auf zweiter Ebene Außerdem ist durch eine Staatshaftung das Effektivitätsprinzip als wesentliche Säule auch der Staatshaftung nicht gefährdet. Denn der Marktbürger wird zumindest wirtschaftlich so gestellt, als wenn die Richtlinie korrekt umgesetzt worden wäre. Der auf die Richtlinie vertrauende Bürger kann daher seine unionsrechtlichen Rechte vor den nationalen Gerichten effektiv durchsetzen, sodass einem wesentlichen Aspekt des Effektivitätsprinzips Rechnung getragen wird. c) Effektive Umsetzung der Richtlinie Ein weiterer Aspekt des Effektivitätsprinzips sollte allerdings außerdem Berücksichtigung finden. Wichtig ist aus unionsrechtlicher Sicht auch die effektive Umsetzung von Richtlinien in nationales Recht zur Rechtsangleichung unter den Mitgliedstaaten. Unter diesem Aspekt ist die Alternative über die Modifikation des Instituts der Staatshaftung effektiver als der Weg über die Ausdehnung der richtlinienkonformen Rechtsfindung. Durch den Staatshaftungsanspruch wird dem Bürger die Möglichkeit zur Klage gegen den Mitgliedstaat eröffnet, wenn er durch einen Verstoß des Mitgliedstaates gegen Unionsrecht belastet ist. Der Mitgliedstaat muss so für Schäden des Bürgers aufkommen. Gleichzeitig sichert der Einzelne so die effektive Umsetzung des Unionsrechts, indem der Mitgliedstaat unter (finanziellen) Druck gesetzt wird, die Richtlinie tatsächlich auch legislativ fehlerlos in nationales Recht zu übertragen. Dieser Druck ist für den Mitgliedstaat größer als bei einer judikativen Umsetzung im Wege der richtlinienkonformen Rechtsfindung. Würde nämlich im Wege der Rechtsfindung das richtlinienkonforme Ergebnis erreicht, müsste der Gesetzgeber zwar formal dennoch die Richtlinie umsetzen, allerdings wäre bei einem bloß formalen Verstoß ein Vertragsverletzungsverfahren unwahrscheinlich.148 Das hätte zur Folge, dass das Risiko einer wirtschaftlichen Belastung geringer wäre und somit auch der Umsetzungsdruck, der auf den Mit148
Von der Möglichkeit, ein Vertragsverletzungsverfahren anzustrengen, wird nur zurückhaltend Gebrauch gemacht. Dies hat im Wesentlichen drei Gründe: Erstens wäre die Durchführung eines Vertragsverletzungsverfahrens kontraproduktiv, denn dies würde die mitgliedstaatlichen Gerichte eher befremden und gerade keine Atmosphäre der Kooperation fördeRn. Zweitens widerspricht es dem Grundsatz der Unabhängigkeit der Justiz, ein Gericht durch einen Beamtenkörper (Kommission) verfolgen zu lassen. Drittens sollen im Vertragsverletzungsverfahren im Wesentlichen politische Organe verfolgt werden, nicht aber die Judikative. Zum Ganzen Haltern, Europarecht, S. 196, Rn. 356.
C. Notwendigkeit der Modifikation der Staatshaftungsvoraussetzungen
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gliedstaat ausgeübt würde. Der Bürger könnte ein Vertragsverletzungsverfahren nämlich allenfalls anregen. Zur Einleitung des Verfahrens sind lediglich die Kommission (Art. 258 AEUV) oder ein anderer Mitgliedstaat (Art. 259 AEUV) berechtigt. Zwischen dem Zeitpunkt, in dem die Kommission von einer Vertragsverletzung Kenntnis erlangt, und dem Erlass des Urteils des Gerichtshofes vergehen zudem regelmäßig mehrere Jahre.149 Schließlich ist die Kommission nach ständiger Rechtsprechung nicht verpflichtet, ein Vertragsverletzungsverfahren anzustrengen, wenn sie es nicht für erforderlich hält. Die Kommission hat ein eigenständiges Ermessen und der Bürger kein Recht auf eine bestimmte Stellungnahme.150 Ein Erwirken eines Vertragsverletzungsverfahrens ist für den Bürger ohnehin nicht attraktiv, denn ein Ausgleich für die aus der mangelhaften Umsetzung entstehenden Nachteile des Einzelnen ist in diesem Verfahren nicht möglich.151 Der Weg über die Ausdehnung der Staatshaftung bringt für den Bürger zwar das Risiko zweier Prozesse mit sich, er kann aber die Rechte aus der Richtlinie im Staatshaftungsprozess vor den nationalen Gerichten einklagen. Zudem führt die Alternative der Ausdehnung der Staatshaftung dazu, dass ein höherer Umsetzungsdruck auf den Mitgliedstaat ausgeübt wird. 3. Gleichbehandlung der Marktbürger Für die Ausdehnung der richtlinienkonformen Rechtsfindung oder der unmittelbaren Wirkung statt der Modifikation der Staatshaftung ließe sich anführen, dass auch diese Institute die Ungleichbehandlung der Bürger innerhalb der Mitgliedstaaten und unter den Mitgliedstaaten vermeiden können.152 Wo der Bürger sonst im Vertikalverhältnis seine Rechte gegenüber dem Staat durchsetzt, könnte sich der Bürger im Horizontalverhältnis dann auf das richtlinienkonform ausgelegte nationale Recht oder die Richtlinie selbst stützen. Allerdings führt die modifizierte Anwendung der Staatshaftung dazu, dass der Bürger im wirtschaftlichen Ergebnis kompensiert wird. Er wird so gestellt, wie er stünde, wenn ordnungsgemäß umgesetzt worden wäre. Diese dann weiterhin bestehende Ungleichbehandlung der Marktbürger – das eine Mal kann sich der Bürger direkt auf das die Richtlinienvorgaben beinhaltende nationale Recht stützen, das andere Mal ist der Bürger auf die 149
Schlussantrag GA Léger, C-287/98, Slg. 2000, I-6920 (Berthe Linster), 85. Schlussantrag GA Léger, C-287/98, Slg. 2000, I-6920 (Berthe Linster), 85. 151 Zum Ganzen auch Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 48. 152 Haltern, Europarecht, S. Rn. 709 ff.. Vgl. auch Mörsdorf, EuR 2009, 219, 222, der von einer „Ersatzfunktion“ der richtlinienkonformen Auslegung für die unmittelbare Wirkung spricht. Gebauer, AnwBl 2007, 314, 315 nennt es „Kompensation für die fehlende Direktwirkung“ der Richtlinie. 150
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Staatshaftung verwiesen – ist nicht willkürlich und stattdessen aus der Dogmatik der Richtlinie gerechtfertigt. Das Instrument der Richtlinie als staatengerichtetes Sekundärrecht, d.h. Recht, welches eine Transformation in den Mitgliedstaaten erfordert, nimmt verschiedene Wege zur Erreichung des Richtlinienergebnisses in Kauf und damit auch Fehler bei der Umsetzung. Gefordert wird nicht Rechtsvereinheitlichung, sondern Rechtsangleichung. Solange aber zumindest im wirtschaftlichen Ergebnis die Marktbürger gleichgestellt bleiben, ist dieses Ziel dem Grunde nach erreicht. Zwar ist das eigentliche Ziel die Umsetzung der Richtlinienvorgaben in nationales Recht. Wenn dieses Ziel jedoch aufgrund eines Umsetzungsfehlers nicht erreicht werden kann, ist die nächste Stufe, die zumindest wirtschaftliche Gleichheit herstellt, die Ausdehnung der Staatshaftung. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass die richtlinienkonforme Rechtsfindung im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen ihren Wert behält. Eine richtlinienkonforme Rechtsfindung im Sinne eines Ergebnisvorranges ist daher stets der Ausdehnung einer Staatshaftung vorzuziehen. Die Staatshaftung greift nur subsidiär für die Fälle ein, in denen die richtlinienkonforme Rechtsfindung aus national-verfassungsrechtlichen Gründen unzulässig ist. In diesen Konstellationen müssen dann über das Institut der Staatshaftung Ungleichbehandlungen aufgefangen werden. 4. Keine Ausuferung der Staatshaftung Denkbar scheint schließlich der Einwand, die Staatshaftung würde mit dieser Modifikation ausufern.153 Eine Ausuferung der Haftung des Mitgliedstaates ist allerdings nicht zu befürchten. Das Kriterium des qualifizierten Umsetzungsverstoßes wurde geschaffen um zu vermeiden, dass der Staat bei jedem objektiven Verstoß haftet. Folgt man der hier vertretenen Ansicht und dehnt die Staatshaftung nur in der Fallgruppe des unbewussten Umsetzungsverstoßes bei eindeutiger materieller Regelungsentscheidung und fehlender Qualifikation des Umsetzungsverstoßes aus, bleibt die Ausdehnung auf Ausnahmefälle begrenzt. Eine Modifikation der traditionellen Staatshaftung ist nur notwendig, wenn eine richtlinienkonforme Rechtsfindung im Sinne eines Ergebnisvorranges nicht möglich und der Umsetzungsverstoß des Mitgliedstaates nicht qualifiziert ist.
153
Zu diesem Problem Herrler/Tomasic, BB 2008, 1245, 1248 mit Fn. 29.
Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse 1. Eine Analyse von Art. 288 III AEUV hat gezeigt, dass die Richtlinie nicht unmittelbar in der nationalen Rechtsordnung gilt. Damit können die nationalen Gerichte die Richtlinie nicht direkt anwenden. Allerdings ergab die Auslegung von Art. 288 III AEUV, dass diese Norm einen primärrechtlichen Umsetzungsbefehl enthält, der sich an die Mitgliedstaaten und ihre Organe richtet und diese zur ordnungsgemäßen Richtlinienumsetzung verpflichtet. Dieser primärrechtliche Umsetzungsbefehl gilt aufgrund der Zustimmung der Mitgliedstaaten zu den Unionsverträgen in der nationalen Rechtsordnung. Die sekundärrechtlichen Richtlinienvorgaben hingegen gelten in den nationalen Rechtsordnungen nur, wenn und soweit sie durch den nationalen Gesetzgeber umgesetzt wurden. 2. Die Geltung des primärrechtlichen Umsetzungsbefehls führt auf der Ebene der Rechtsfindung zu folgender Veränderung: Der Richter ist in den Grenzen der Verfassung zur richtlinienkonformen Rechtsfindung gehalten. Eine richtlinienkonforme Rechtsfindung ist dabei verfassungsrechtlich nur zulässig, wenn das nationale Gesetz ohne Berücksichtigung der Richtlinie bereits aus sich heraus auslegungsbedürftig oder lückenhaft war. In diesen Fällen zwingt dann der Umsetzungsbefehl aus Art. 288 III AEUV den Richter zur Auswahl des richtlinienkonformen Auslegungsergebnisses oder zur Schließung der Lücke anhand der Vorgaben der Richtlinie (richtlinienkonforme Rechtsfindung im Sinne eines Ergebnisvorrangs). Eine richtlinienorientierte Auslegung ist in vielen Fällen der unbewusst fehlerhaften Umsetzung möglich, weil häufig der Wille des Gesetzgebers, die Richtlinie ordnungsgemäß umzusetzen, deutlich wird. Dann ist dieses gesetzgeberische Motiv ein Indiz zur Bestimmung des Gesetzgeberwillens, der dadurch unklar oder mehrdeutig werden kann (nicht muss). Eine aktuelle, eindeutige materielle Regelungsentscheidung kann der Umsetzungswille jedoch nicht verändern. In den Fällen, in denen sich der Gesetzgeber irrtümlich, aber eindeutig gegen die Richtlinienvorgabe entschieden hat, ist eine richtlinienkonforme Rechtsfindung im Sinne eines Ergebnisvorranges, also unter Beibehaltung der traditionellen Contra-legem-Grenze, nicht möglich. Werden stattdessen die Methoden modifiziert und die Richtlinie bereits in den Rechtsfindungsvorgang einbezogen, wäre die Richtlinie selbst in der Lage, einen
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Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse
mehrdeutigen Gesetzgeberwillen oder eine Lücke im nationalen Recht herbeizuführen (es sei denn, der Gesetzgeber hat die Richtlinie ausdrücklich abgelehnt). Würde sich die Richtlinie die Voraussetzungen für die Auslegung oder Rechtsfortbildung des nationalen Rechts somit selbst schaffen, könnte eine eindeutige gesetzgeberische Regelungsentscheidung eine richtlinienkonforme Rechtsfindung nicht verhindern. Das verstößt jedoch gegen die richterliche Gesetzesbindung des Art. 20 III GG und damit gegen das Gewaltenteilungsprinzip. Der Bürger könnte sich zudem auf ein eindeutiges nationales Gesetz nicht mehr verlassen, sodass auch der Grundsatz des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit eine derartige Modifikation nationaler Rechtsfindungsmethoden verbieten. 3. Eine Kombination der richtlinienkonformen Rechtsfindung im Sinne eines Ergebnisvorranges mit dem unmodifizierten Institut der Staatshaftung kann nicht alle aus unionsrechtlicher Perspektive unerwünschten Schutzlücken schließen. Das Erfordernis eines qualifizierten Verstoßes führt dazu, dass im Richtlinienkontext insbesondere in vielen Fällen der unbewusst fehlerhaften Umsetzung nicht auf eine Staatshaftung zurückgegriffen werden kann. Über das Institut der richtlinienkonformen Rechtsfindung im Sinne eines Ergebnisvorranges kann in diesen Fällen ebenfalls kein richtlinienkonformes Ergebnis hergestellt werden. Es verbleiben damit Schutzlücken, d.h. weder auf der Primärebene noch auf der Sekundärebene setzt sich das Unionsrecht durch. 4. Die Schutzlücken können im Horizontalverhältnis nur sachgerecht durch die Modifikation der Staatshaftung geschlossen werden. Festgestellt wurde, dass das Horizontalverhältnis durch eine Beteiligung von drei Akteuren, dem Mitgliedstaat sowie den beiden Parteien des zivilrechtlichen Rechtsstreits, gekennzeichnet ist und die jeweiligen Interessenlagen auseinander gehen. Im Kern der Auflösung des Interessenwiderstreits stehen der Grundsatz des Vertrauensschutzes sowie das Verantwortungsprinzip. Das unionsrechtlich verankerte Verantwortungsprinzip führte den EuGH zu dem Schluss, dass im Horizontalverhältnis die unmittelbare Wirkung von Richtlinien abzulehnen war. Ansonsten würde das Unionsrecht zulasten des Unionsbürgers durchgesetzt, der auf das nationale Recht vertraut hat. Den Verantwortlichen, den Mitgliedstaat, träfe es nicht. Aus dem gleichen Grund musste daher eine Lösung des Konflikts über eine Modifikation der traditionellen Methoden der Rechtsfindung, welche zudem mit einem Eingriff in das Kompetenzgefüge zwischen Legislative und Judikative verbunden wäre, abgelehnt werden. Die Konsequenz einer Ausdehnung der traditionellen Gesetzesanwendungsmethoden wäre nämlich, dass das verfassungsrechtlich geschützte Vertrauen in das nationale Recht erschüttert würde, ohne dass die Belastung den Verantwortlichen träfe. Einen harmonischen Ausgleich der widerstreitenden Interessen erlaubt allein die Modi-
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fikation der Staatshaftung. Sie belastet denjenigen, der für die fehlerhafte Richtlinienumsetzung verantwortlich ist: den Staat. Nicht belastet wird hingegen der Marktbürger, der auf das eindeutige nationale Gesetz vertraut hat. Auch das Vertrauen in die Richtlinie wird nicht enttäuscht. Zwar setzen sich die Richtlinienvorgaben nicht unmittelbar durch. Allerdings wird der Unionsbürger, der auf die ordnungsgemäße Umsetzung der Richtlinie vertraute, über den modifizierten Staatshaftungsanspruch entschädigt. Gleichzeitig trägt die Lösung über die Modifikation der Staatshaftung dem Ziel der effektiven Um- und Durchsetzung des Unionsrechts Rechnung und führt zu einer Gleichbehandlung zwischen Vertikal- und Horizontalverhältnis sowie zwischen den Mitgliedstaaten. Schließlich harmoniert dieser Ansatz mit der Ratio des Umsetzungserfordernisses der Richtlinie und wahrt und respektiert damit gleichzeitig die Vielgestaltigkeit der nationalen Rechtsordnungen.
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Verzeichnis der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs Verzeichnis der Entscheidungen des EuGH EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 3 ff. (van Gend & Loos) EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1164 ff. (Costa/ ENEL) EuGH, Rs. 57/65, Slg. 1966, 258 ff. (Lütticke) EuGH, Rs. 9/70, Slg. 1970, 825 ff. (Grad) EuGH, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125 ff. (Internationale Handelsgesellschaft)Münch EuGH, Rs. 5/71, Slg. 1971, 975 ff. (Schöppenstedt) EuGH, Rs. 41/74, Slg. 1974, 1337 ff. (van Duyn) EuGH, Rs. 111/75, Slg. 1976, 657 ff. (Mazzalai) EuGH, Rs. 148/78, Slg. 1979, 1629 ff. (Ratti) EuGH, C-8/81, Slg. 1982, 53 ff. (Becker) EuGH, Rs. 270/81, Slg. 1982, 2771 ff. (Felicitas Rickmers-Linie) EuGH, verb. Rs. 205-215/82, Slg. 1983, 2633 ff. (Deutsche Milchkontor) EuGH, Rs. 79/83, Slg. 1984, 1921 ff. (Harz) EuGH, Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891 ff. (von Colson & Kamann) EuGH, C-29/84, Slg. 1985, 1661 ff. (Kommission/Deutschland) EuGH, Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651 ff. (Johnston) EuGH, Rs. 239/85, Slg. 1986, 3645 ff. (Kommission/Belgien) EuGH, C-152/84, Slg. 1986, 723 ff. (Marshall I) EuGH, Rs. 80/86, Slg. 1987, 3969 ff. (Kolpinghuis Nijmegen) EuGH, Rs. 14/86, Slg. 1987, 2545 ff. (Pretore di Salò ) EuGH, verb. Rs. C-372/85 bis 374/85, Slg. 1987, 2141 ff. (Traen u.a.) EuGH, Rs. 103/88, Slg. 1989, 1839 ff. (Fratelli Costanzo) EuGH, C-221/88, Slg. 1990 Seite I-495 ff. (Busseni ) EuGH, Rs. 297/88 und C-197/89, Slg. 1990, I-3763 ff. (Dzodzi) EuGH, Rs. C-188/89, Slg. 1990, I-3313 ff. (Foster/British Gas) EuGH, Rs. C-106/89, Slg. 1990, I-4135 ff. (Marleasing) EuGH, Rs. C-152/88, Slg. 1990, I-2477 ff. (Sofrimport) EuGH, Rs. C-6/90, Slg. 1991, I-1631 ff. (Francovich) EuGH, Rs. C-361/88, Slg. 1991, I-2567 ff. (Kommission/Deutschland) EuGH, C-13/90, C-14/90, C-64/90, NVwZ 1991, 866 ff. ff. (TA-Luft) EuGH, Rs. C-334/92, Slg. 1993, I-6911 ff. (Wagner Miret) EuGH, Rs. C-91/92, Slg. 1994, I-3325 ff. (Faccini Dori) EuGH, Rs. C-421/92, Slg. 1994, I-1657 ff. (Habermann-Beltermann) EuGH, C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029 ff. (Brasserie du Pêcheur ) EuGH, Rs. C-392/93, Slg. 1996, I-1631 ff. (British Telecommunications) EuGH, verb. Rs. C-283/94, C-291/94 und C-292/94, Slg. 1996 I-5063 ff. (Denkavit ) EuGH, C-178/94, C-179/94, C-188/94, C-189/94, C-190/94, Slg. 1996 I-4845 ff. (Dillenkofer u.a. )
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Verzeichnis der Entscheidungen des EuGH
EuGH, Rs. C-192/94, Slg. 1996, I-1281 ff. (El Corte Inglés) EuGH Rs. C-5/94, Slg. 1996 I-2553 ff. (Hedley Lomas) EuGH, Rs. C-129/96, Slg. 1997, I-7411 ff. (Inter Environnement Wallonie) EuGH, Rs. 217/97, Slg. I-5087, 5115 ff. (Kommission/Deutschland) EuGH, Rs. C-352/98 Slg. 2000, I-5291 ff. (Bergaderm) EuGH, Rs. C-365/98, Slg. 2000, I-4619 ff. (Brinkmann/Hauptzollamt Bielefeld) EuGH, Rs. 443/98, Slg. 2000, I-7535 ff. (Unilever Italia) EuGH, Rs. C-481/99, Slg. 2001, I-9945 ff. (Heininger) EuGH, Rs. C-144/99, Slg. 2001, I-3541 ff. (Kommission/Niederlande) EuGH, Rs. C-403/98, Slg. 2001, I-103 ff. (Monte Arcosu) EuGH, Rs. C-371/02, Slg. 2004, I-5791 ff. (Björnekulla Fruktindustrier) EuGH, Rs. C-201/02, Slg. 2004, I-723 ff. (Delena Wells) EuGH, verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01, Slg. 2004, I-8835 ff. (Pfeiffer) EuGH, Rs. C-387/02 u.a., Slg. 2005, I-3565 ff. (Berlusconi) EuGH, Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981 ff. (Mangold) EuGH, Rs. C-105/03, Slg. 2005, I-5285 ff. (Pupino) EuGH, Rs. C-212/04, Slg. 2006, I-6057 ff. (Adeneler) EuGH, Rs. C-80/06, Slg. 2007, I-4473 ff. (Carp) EuGH, C-268/06, Slg. 2008, I-2483 ff. (Impact) EuGH, Rs. C-404/06, NJW 2008, 1433 ff. ff. (Quelle) EuGH, C-364/07, Slg. 2008, I-90 ff. (Vassilakis) EuGH, verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07, Slg. 2009, I-3071 ff. (Angelidaki) EuGH, Rs. C-350/06 und C-520/06, Slg. 2009, I-179 ff. (Schultz-Hoff) EuGH, Rs. C-555/07, Slg. 2010, I-365 ff. (Kücükdeveci) EuGH, Rs. C-65/09 und C-87/09, NJW 2011, 2269 ff. ff. (Gebrüder Weber) EuGH, Rs. C-282/10, EuZW 2012, 342 ff. ff. (Dominguez)
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1 2 3 4 5
Sachverzeichnis Adoptionstheorie 8 Aktuelle Wertentscheidung des Gesetzgebers 142 ff. Alterung des nationalen Gesetzes 50 f., 219 f. Auslegungsmittel 66 f. – Abgrenzung zum Auslegungsziel 66 f.
Justizkonflikt 21
Bindung an das Gesetz 38 f. Bundesstaatsmodell 10 ff.
Lex-fori-Rechtsordnung 8 ff. Lücken – Definition 59 ff. – Feststellung und Schließung 122 f. – primäre bzw. anfängliche 69 – sekundäre bzw. nachträgliche 69 f.
Contra-legem-Grenze 62 ff., 70 f., 102 ff., 124 ff. Dualistische Theorie (des Völkerrechts) 8 f. Effektive Durchsetzung des Unionsrechts 17 ff., 246 f., 254, 256 f. Ergebnisvorrang – Theorie vom 106 ff., 234 ff. – Schutzlücken 226 ff. Estoppel-Prinzip 22 Geltung von Richtlinien 10 ff. Gemischt-objektive Theorie der Gesetzesanwendung 41 ff., 58 ff., 64 ff., 239 f., 243 Gestaltungswirkung der Richtlinie 170 f. Inkorporationstheorie siehe Adoptionstheorie Integrative Verbindung (nach C. Herresthal) 130 f. Interpretatorische Vorrangregel 46 ff. – Unterscheidung zur Abwägungslösung 46 f. – Stufung 47–58 – Richtlinienkonformität als Vorrangregel 116 ff.
Kompetenzverschiebung durch Modifikation nationaler Rechtsanwendungsmethoden 131 ff., 209 ff., 221 ff. Kooperationsverhältnis zwischen nationalen Gerichten und EuGH 31 f.
Motiv zur Umsetzung einer Richtlinie 110 ff. Negative Wirkung der Richtlinie 156 ff., 164 ff. Neuzuordnung der Gewalten 131 ff. Normenkollision – fiktive 96 f. – klassische 73 ff. – Lex-superior-Grundsatz 73, 76 f., 156 ff. Objektiv-teleologische Kriterien 42 ff., 55 ff. Planwidrigkeit des Gesetzes 61 Positive Wirkungen der Richtlinie 161 ff. Primärrechtlicher Umsetzungsbefehl 34 ff. Rangfolge der Auslegungskriterien 44 ff. Rechtsfortbildung – gesetzesimmanente 65 – gesetzesübersteigende 65 Rechtsklarheit 35 Rechtsmissbrauchsratio 21 ff., 114 ff.
282
Sachverzeichnis
Reduktion auf Null 54 Richtlinienorientierte Auslegung 110 ff. Schutzlücken 226 ff., 234 ff., 245 Sperrwirkung bevorstehender Gesetze 144 Staatshaftung 228 ff., 249 ff. Subjektive Theorie der Gesetzesanwendung 66 ff., 238 f., 242 f. Systemwidrige Regelungslücke (nach C. Herresthal) 137 f. Transformationsthese 8, 15 f. Transparenzgebot 35 Umsetzungsbefehl – Adressat 34 ff. – Dynamik 37 f. – Innerstaatliche Geltung 34 Umsetzungsverstoß, qualifizierter 231 ff. Umsetzungswille
– konkret nachweisbarer 148 f. – fehlender bzw. nicht nachweisbarer 151 ff. – genereller 151 ff., 213 – These vom Vorrang des Umsetzungswillens 146 ff. – Widerspruch zur gesetzgeberischen Regelungsentscheidung 149 ff. – Vermutung für Vorliegen, siehe genereller Umsetzungswille Ungleichbehandlung der Unionsbürger 247 f. Verantwortungsverlagerung 248 f., 254 Verbotswirkung der Richtlinie 170 f. Vertrauensschutz 251 ff. Völkerrechtliche Theorie der unmittelbaren Geltung 12 ff. Vollzugstheorie 8 Wortlaut, eindeutiger 48 f., 124