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German Pages 404 Year 2017
Schriften zur Rechtstheorie Band 288
Richterliche Rechtsfortbildung in Deutschland und der Schweiz Plädoyer für ein methodisches Vorgehen auf Grundlage des Legitimitätsgedankens
Von Anke Schmidt
Duncker & Humblot · Berlin
ANKE SCHMIDT
Richterliche Rechtsfortbildung in Deutschland und der Schweiz
Schriften zur Rechtstheorie Band 288
Richterliche Rechtsfortbildung in Deutschland und der Schweiz Plädoyer für ein methodisches Vorgehen auf Grundlage des Legitimitätsgedankens
Von Anke Schmidt
Duncker & Humblot · Berlin
Gedruckt mit Unterstützung der Juristischen Fakultät der Universität Genf.
Die Juristische Fakultät der Universität Genf hat diese Arbeit im Jahre 2016 als Dissertation angenommen.
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Für Jan
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2016 von der Juristischen Fakultät der Universität Genf als Dissertation angenommen. Literatur und Rechtsprechung konnten bis zum 31. Mai 2016 berücksichtigt werden. Die Idee zu der Arbeit ist in meiner Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Genf entstanden. Ausgangspunkt war mein besonderes Interesse für Rechtsphilosophie und Zivilrecht und die Frage, an welchem Punkt sich beide Gebiete berühren. Ein solcher Berührungspunkt liegt vor, wenn Lücken im Recht bestehen, der Richter dennoch Recht sprechen muss und so Rechtsfortbildung betreibt. In diesem Moment sieht sich der rechtsfortbildende Richter mit der Frage nach der Legitimation seiner Entscheidung konfrontiert, die in letzter Konsequenz eine rechtsphilosophische Frage ist. Aus diesen Vorüberlegungen entstand mit Hilfe meines Doktorvaters, Prof. Dr. Bénédict Winiger, die Idee, zivilrechtliche höchstrichterliche Urteile aus Deutschland und der Schweiz hinsichtlich ihres Umganges mit dem Legitimitätsproblem bei der Lückenfüllung zu analysieren. Da die Art und Weise richterlichen Vorgehens bei der Rechtsfortbildung aber eine Frage der Methodik ist, ist daraus schließlich eine Arbeit zur juristischen Methodenlehre mit rechtsphilosophischer Grundlage geworden. Mein besonderer Dank gilt zunächst meinem bereits erwähnten Doktorvater, der mich mit seiner freundlichen und zugewandten Art stets motiviert hat, an mich selbst und an das Projekt zu glauben. Besonders geschätzt habe ich, dass er mir bei der Ausarbeitung der Arbeit alle Freiheiten gelassen hat, gleichzeitig aber bei Problemen und Fragen immer kurzfristig ansprechbar war. Einen besseren Doktorvater hätte ich mir nicht vorstellen können. Weiterer Dank gilt meinem Zweitkorrektor, Prof. Dr. Thomas Kadner Graziano, der mit seiner Kritik und wertvollen Hinweisen wesentlich zum Gelingen der Arbeit beigetragen hat. Ebenfalls bedanken möchte ich mich bei den weiteren Mitgliedern der Prüfungskommission, Prof. Dr. Corinne Zellweger-Gutknecht, schweiz. Bundesrichter a.D. Prof. Dr. Hans Peter Walter und Prof. Dr. Christian Fischer. Jeder/jede von ihnen hat mir aus seiner/ihrer Sicht Hinweise gegeben, die die Arbeit besser und kompletter gemacht haben. Schließlich möchte ich mich bei der Juristischen Fakultät der Universität Genf und bei der Fondation Ernst et Lucie Schmidheiny für die von ihnen geleisteten
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Vorwort
Zuschüsse zu den Druckkosten bedanken. Diese finanzielle Hilfe hat die Publikation der Arbeit erst möglich gemacht. Besonderer Dank gilt auch meinen Eltern, die mich zu einem selbständig und kritisch denkenden Menschen erzogen und so die Grundlagen für das Gelingen des Projektes gelegt haben. Nicht zuletzt danke ich meinem Freund und Partner Jan Gehlhoff für seine Zuwendung, seine unendliche Geduld und sein stetes Bemühen, mir das Leben angenehmer zu machen, u. a. durch regelmäßige Bereitstellung von Nervennahrung. Ohne ihn hätte ich die Arbeit nicht schreiben können. Berlin, im Juli 2017
Anke Schmidt
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 B. Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 I. Rechtsphilosophische Legitimation von Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 II. Legitimes Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1. Gesetzesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 a) Gesetzesbindung der Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 b) Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 aa) Auslegungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 bb) Ziel der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 (1) Darstellung des Streits zwischen objektiver und subjektiver Theorie 36 (2) Argumentation und eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 (a) Allgemeine Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 (b) Abgrenzung von Auslegung und Rechtsfortbildung . . . . . . . . . 39 (c) Ergebnis: Entscheidung für die objektive Theorie mit der Wortlautgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2. Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 a) Vertragsauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 b) Vertragliche Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3. Gewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 4. Richterrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 a) Legitimität von Richterrecht an sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 b) Richterrecht als Gewohnheitsrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 c) Anwendbarkeit von Richterrecht bei der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . 50 d) Präjudizienbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 e) Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 5. Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 6. Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 7. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 III. Grenzen des legitimen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 1. Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 a) Wortlautgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
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Inhaltsverzeichnis b) Lückenbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 aa) Planwidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 bb) Lückenarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 (1) Lücken intra legem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 (2) Offene und verdeckte Lücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 c) Grenze der Analogie (zweite Grenze) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2. Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 a) Gesetzesnahe Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 aa) Analogie und teleologische Reduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 bb) Annex-Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 cc) Rechtsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 dd) Sonstige systematische und teleologische Argumente . . . . . . . . . . . . . 68 b) Gesetzesunabhängige Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 aa) Rechtsphilosophisch legitimierte außerrechtliche Argumente: Die Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 bb) Gesetzesunabhängige Rechtsfortbildung an sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 IV. Rechtsverweigerungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 1. Rechtsfreier Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 2. Rechtslücke oder rechtsfreier Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 V. Lückenfüllungsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 1. Anleitung zur Lückenfüllung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 a) Der Entwurf der Kommission vom 22. Juni 1874 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 b) Art. 20 III GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 c) § 242 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 aa) Am Wortlaut orientiertes Verständnis von § 242 BGB . . . . . . . . . . . . . 81 bb) Erweitertes Verständnis von § 242 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2. Art. 1 ZGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 a) Entstehungsgeschichte und Bekenntnis zur Lückenhaftigkeit . . . . . . . . . . . 87 b) Die Analogie wird zur Auslegung gezählt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 c) Inhalt und Bedeutung der Gesetzgebungslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 aa) Verhältnis Analogie – Gesetzgebungslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 bb) Inhalt der Gesetzgebungslösung im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 (1) Methodische Anweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 (2) Inhaltliches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 d) Was bedeutet „bewährte Lehre und Überlieferung“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 aa) Bewährte Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 bb) Bewährte Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 e) Anwendbarkeit von Art. 1 ZGB im öffentlichen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . 96 3. Legitimität durch die Lückenfüllungsnorm selbst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
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VI. Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 1. Urteilsauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2. Vorgehensweise bei den Urteilsanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 3. Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 C. Rechtsfortbildung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 I. Urteilsanalysen Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 1. Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb . . . . . . . . . . . . . . . . 102 a) RGZ 56, 271 – Vorsichtige Anerkennung des Rechts am Gewerbebetrieb (Urteil vom 14. Dezember 1902) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 b) BGHZ 36, 252 – Subsidiarität des Rechts am Gewerbebetrieb gegenüber Wettbewerbsrecht (Urteil vom 22. Dezember 1961) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 c) BGHZ 69, 128 – Abwendung vom Grundsatz der Subsidiarität (Urteil vom 16. Juni 1977) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 2. Rechtsscheinvollmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 a) RGZ 65, 292 – Annahme des Grundsatzes der Anscheinsvollmacht ohne Begründung (Urteil vom 14. März 1907) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 b) RGZ 117, 164 – Bestätigung des Grundsatzes der Rechtsscheinvollmacht unter Bezugnahme auf Vorentscheidungen (Urteil vom 27. Mai 1927) . . . 117 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
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Inhaltsverzeichnis c) BGH MDR 1953, 345 – Verfestigung der Rechtsprechung zur Anscheinsvollmacht: „anerkannter Rechtsgrundsatz“ (Urteil vom 10. März 1953) . . 121 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 d) BGHZ 65, 13 – Vergleichbarer Fall: Abhandengekommene Vollmachtsurkunde (Urteil vom 30. Mai 1975) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 3. Culpa in contrahendo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 a) RGZ 95, 58 – Herleitung der culpa in contrahendo über Bekräftigungen und Treu und Glauben, obwohl eine Rechtsanalogie angedacht wird (Urteil vom 24. September 1918) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 4. Positive Vertragsverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 a) RGZ 106, 22 – Ableitung der PVV aus dem Gesetzesrecht (§ 276 BGB) (Urteil vom 29. November 1922) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 b) BGHZ 11, 80 – Herleitung der PVV aus einer Analogie zu den §§ 325, 326 BGB a.F. in Verbindung mit § 242 BGB (Urteil vom 13. November 1953) 140 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 5. Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 a) RGZ 127, 218 – Herleitung der Schutzwirkung mit Hilfe von Vertragsauslegung über einen Vertrag zugunsten Dritter (§ 328 BGB) (Urteil vom 10. Februar 1930) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
Inhaltsverzeichnis
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b) BGHZ 56, 269 – Herleitung der Schutzwirkung alternativ über Vertragsauslegung oder Gesetzesrecht (§ 242 BGB) (Urteil vom 15. Juni 1971) . . 152 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 6. Verwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 a) RGZ 144, 22 – Ablehnung einer allgemeinen Geltung der Verwirkung wegen fehlender Rechtssicherheit (Urteil vom 17. April 1934) . . . . . . . . . 155 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 b) RGZ 155, 148 – Annahme einer allgemeinen Geltung der Verwirkung unter Rückgriff auf Treu und Glauben (§ 242 BGB) (Urteil vom 4. Juni 1937) 159 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 7. Ausschluss eines GmbH-Gesellschafters aus wichtigem Grund . . . . . . . . . . . 163 a) BGHZ 9, 157 – Zulässigkeit des Ausschlusses: Begründung über eine Rechtsanalogie oder ein allgemeines Prinzip? (Urteil vom 1. April 1953) 164 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 8. Kontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) – Haftungsausschluss beim Kaufvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 a) BGHZ 22, 90 – Nachbesserungsrecht des Käufers: Begründung über eine Interessenabwägung unter Rückgriff auf § 242 BGB (Urteil vom 29. Oktober 1956) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 9. Produzentenhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 a) BGHZ 51, 91 – Grundsatzentscheidung zur Produzentenhaftung mit Hilfe einer Kombinationsbegründung (Urteil vom 26. November 1968) . . . . . . . 177 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
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Inhaltsverzeichnis dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 10. Leasingvertrag – Einwendungsdurchgriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 a) BGHZ 97, 135 – Bejahung eines Einwendungsdurchgriffes mit scheinbarer Vertragsauslegung (Urteil vom 19. Februar 1986) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 11. Ausgleich zwischen zwei Sicherungsgebern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 a) BGHZ 108, 179 – Bejahung des Ausgleichs über eine Analogie zu den Gesamtschuldregeln; letzte Begründung ist aber § 242 BGB (Urteil vom 29. Juni 1989) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 12. Nichteheliche Lebensgemeinschaft – Eintrittsrecht in den Mietvertrag . . . . . . 195 a) BGH NJW 1993, 999 – Bejahung des Eintrittsrechts über eine Analogie zu der Regelung für Familienangehörige (§ 569a II BGB a.F.) (Beschluss vom 13. Januar 1993) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 II. Ergebnisse Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 1. Bewusstsein des Legitimitätsproblems in der Lücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 a) Hinweis auf die Lücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 aa) Die Lücke wird erwähnt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 bb) Die Lücke wird nicht erwähnt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 b) Bewusstsein des Legitimitätsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 aa) Erkennen des Legitimitätsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 bb) Vernachlässigen des Legitimitätsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 (1) Die Anwendung von konkretem Gesetzesrecht wird zugunsten von durch Rechtsfortbildung gefundenen Lösungen offen gelassen . . . 208 (2) Die Reihenfolge von Auslegungs- und Lückenfüllungsargumenten wird nicht eingehalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 (3) Einhalten der Reihenfolge von gesetzesnahen und nicht gesetzesnahen Methoden bei der Lückenfüllung am Beispiel von BGH NJW 1993, 999 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 cc) Lückenfüllende Begründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
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2. Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 a) Überdehnen materiellen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 aa) Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 (1) Anwendung von konkretem Gesetzesrecht in der Lücke . . . . . . . . 211 (2) § 242 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 (a) Begründung nur aus § 242 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 (b) Ergänzendes Heranziehen von § 242 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . 212 bb) Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 b) Zurückschieben der Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 c) Zutreffende Bestimmung der Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . 214 d) Die Grenzen der Auslegung werden ohne besonderen Grund nicht bestimmt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 3. Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 a) Verdecken der zweiten Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 aa) Überdehnen der Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 bb) Verdecken durch ergänzende Argumente, mit denen Legitimität suggeriert wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 (1) Leerformeln und andere scheinlegitime Methoden . . . . . . . . . . . . . 217 (2) Pauschalverweise auf Präjudizien und Literaturmeinungen . . . . . . 217 (3) Deduktion statt Induktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 b) Zurückschieben der zweiten Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 c) Rechtsfortbildung contra legem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 d) Kombinationsbegründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 e) Dem Legitimitätsgedanken entsprechende Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . 220 aa) Analogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 bb) Ablehnung der Lückenfüllung mit zulässigen Argumenten . . . . . . . . . 221 cc) Sonderfall: Unvermeidbare eigene Wertung des Richters . . . . . . . . . . . 221 4. Gesamtergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 a) Wirkungen der Erwähnung der Lücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 b) Vorgehensweise bei der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 aa) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 bb) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 (1) Scheinbare Legitimität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 (2) Rechtsprechungsentwicklungen contra legem . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 (3) Restliche Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 (4) Unvermeidbare eigene Wertung des Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 c) Bewusstsein des Legitimitätsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 d) Endergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
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D. Rechtsfortbildung in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 I. Urteilsanalysen Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 1. Rechtsscheinvollmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 a) BGE 31 II 667 – Annahme des Grundsatzes der Rechtsscheinvollmacht unter Bezugnahme auf deutsche Literatur (Urteil vom 1. Dezember 1905) 230 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 b) BGE 74 II 149 – Bestätigung des Grundsatzes der Anscheinsvollmacht für das schweizerische Recht unter Bezugnahme auf BGE 31 II 667 (Urteil vom 2. November 1948) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 c) BGE 120 II 197 – Herleitung der Rechtsscheinvollmacht über Art. 33 Abs. 3 OR i.V.m. dem Vertrauensprinzip (Urteil vom 21. Juni 1994) . . . . . 237 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 2. Selbstkontrahieren des Vertreters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 a) BGE 39 II 561 – Aufstellen einer Regel zum Selbstkontrahieren mit Hilfe einer Kombinationsbegründung (Urteil vom 2. Oktober 1913) . . . . . . . . . . 243 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 3. Abstraktions- oder Kausalitätsprinzip beim Eigentumserwerb . . . . . . . . . . . . 248 a) BGE 55 II 302 – Entscheidung für das Kausalitätsprinzip über eine Kombinationsbegründung mit ausführlichem Gesetzgebervorgehen (Urteil vom 29. November 1929) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
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4. Gesetzlicher Übergang von Grundpfandrechten im Rahmen eines Kauf- und Schuldübernahmevertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 a) BGE 60 II 179 – Bejahung der Subrogation mit Hilfe von Analogie, ohne es so zu nennen (Urteil vom 23. März 1934) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 5. Culpa in contrahendo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 a) BGE 77 II 135 – Herleitung der culpa in contrahendo mit Hilfe einer Kombinationsbegründung (Urteil vom 6. Juni 1951) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 6. Entschädigung bei einer Duldungspflicht von Immissionen, die durch notwendige Baumaßnahmen an einem Nachbargrundstück entstehen . . . . . . . . . 266 a) BGE 83 II 375 – Begründung einer Entschädigung mit dem Gesetzesrecht (Urteil vom 19. September 1957) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 b) BGE 91 II 100 – Annahme einer Entschädigungspflicht mit Hilfe einer Kombinationsbegründung (Urteil vom 28. Januar 1965) . . . . . . . . . . . . . . . 268 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 c) BGE 114 II 230 – Annahme einer Entschädigungspflicht mit Hilfe einer Rechtsanalogie (Urteil vom 19. Mai 1988) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 7. Kündigung von Dauerschuldverhältnissen ohne zeitliche Begrenzung („ewige Verträge“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 a) BGE 97 II 390 – Begründung der Kündbarkeit eines „ewigen Vertrages“ mit Hilfe von Vertragsauslegung (Urteil vom 7. Dezember 1971) . . . . . . . 277 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
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Inhaltsverzeichnis cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 8. Legalzession der Gewährleistungsansprüche der einzelnen Stockwerkeigentümer an die Stockwerkeigentümergemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 a) BGE 114 II 239 – Ablehnung der Legalzession mit Hilfe einer Kombinationsbegründung wegen eines qualifizierten Schweigens (Urteil vom 11. Oktober 1988) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 9. Kündigung eines Franchisevertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 a) BGE 118 II 157 – Lösung des Problems über eine allgemeine Analogie zum arbeitsrechtlichen Kündigungsschutz und eine Contra-legem-Entscheidung hinsichtlich der konkret anzuwendenden Regelung (Urteil vom 26. März 1992) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 10. Sozialversicherungsrecht: Reisekostenerstattung bei Heilbehandlungen im Ausland im Zusammenhang mit Eingliederungsmaßnahmen nach dem IVG 298 a) BGE 119 V 250 – Herleitung der Reisekostenerstattung über einen AnnexSchluss (Urteil vom 17. November 1993) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 11. Haftung aus erwecktem Konzernvertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 a) BGE 120 II 331 – Herleitung der Haftung aus erwecktem Konzernvertrauen über eine Kombinationsbegründung (Urteil vom 15. November 1994) . . . . 306 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 12. Richterliche Vertragsanpassung bei Übervorteilung nach Art. 21 OR . . . . . . . 311 a) BGE 123 III 292 – Herleitung der richterlichen Vertragsanpassung über eine Kombinationsbegründung (Urteil vom 26. Juni 1997) . . . . . . . . . . . . . 311 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
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13. Sozialversicherungsrecht: Zugrunde zu legender Verdienst eines Schnupperlehrlings bei der Berechnung der Invalidenrente in der Unfallversicherung 319 a) BGE 124 V 301 – Bestimmung des Verdienstes mit Hilfe einer Kombinationsbegründung unter Heranziehung von Art. 26 Abs. 1 IVV (Urteil vom 30. Juni 1998) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 14. Schuldbetreibungsrecht: Zeitpunkt der Geltung der alten oder neuen Privilegienordnung des Art. 219 SchKG im Rahmen des Nachlassverfahrens nach dem SchKG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 a) BGE 125 III 154 – Festlegen des Zeitpunktes der Bewilligung der Nachlassstundung mit Hilfe von Analogie (Urteil vom 15. Dezember 1998) . . . 326 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 15. Frage nach der Geltung der nationalen oder der internationalen Erschöpfung im Patentrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 a) BGE 126 III 129 – Entscheidung für die nationale Erschöpfung über eine Kombinationsbegründung mit ausführlichem Gesetzgebervorgehen (Urteil vom 7. Dezember 1999) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 16. Sozialversicherungsrecht: Zeitpunkt des Krankenversicherungswechsels bei verspäteter Mitteilung des neuen Versicherers im Rahmen von Art. 7 Abs. 5 KVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 a) BGE 127 V 38 – Lösung des Problems in reinem Gesetzgebervorgehen (Urteil vom 9. Januar 2001) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 aa) Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 bb) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 cc) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 II. Ergebnisse Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 1. Bewusstsein des Legitimitätsproblems in der Lücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 a) Hinweis auf die Lücke und auf Art. 1 ZGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 aa) Die Lücke und Art. 1 ZGB werden erwähnt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 bb) Die Lücke und Art. 1 ZGB werden nicht erwähnt . . . . . . . . . . . . . . . . 349
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Inhaltsverzeichnis b) Bewusstsein des Legitimitätsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 aa) Umgang mit der Gesetzgebungslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 bb) Vernachlässigen des Legitimitätsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 cc) Lückenfüllende Begründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 2. Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 a) Überdehnen materiellen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 aa) Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 (1) Anwendung von konkretem Gesetzesrecht in der Lücke . . . . . . . . 353 (a) Tatsächliche Anwendung von Gesetzesrecht . . . . . . . . . . . . . . . 354 (b) Die Analogie wird zur Auslegung gezählt . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 (2) Art. 2 Abs. 1 ZGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 bb) Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 b) Zurückschieben der Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 c) Zutreffende Bestimmung der Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 d) Die Grenzen der Auslegung werden ohne besonderen Grund nicht bestimmt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 3. Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 a) Verdecken der zweiten Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 aa) Überdehnen der Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 bb) Verdecken durch ergänzende Argumente, mit denen Legitimität suggeriert wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 b) Zurückschieben der zweiten Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 c) Rechtsfortbildung contra legem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 d) Kombinationsbegründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 aa) Vertragsauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 bb) Präjudizien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 cc) Leerformeln und eigene Wertungen des Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 dd) Gesetzgebervorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 e) Dem Legitimitätsgedanken entsprechende Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . 364 aa) Analogie und ähnliche Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 bb) Sonderfall: Unvermeidbares Gesetzgebervorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . 365 4. Gesamtergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 a) Wirkungen von Art. 1 ZGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 aa) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 bb) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 b) Vorgehensweise bei der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 aa) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 bb) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 (1) Kombinationsbegründungen und vollständig gesetzesnahe Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369
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(2) Rechtsprechungsentwicklungen contra legem . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 (3) Restliche Tendenzen: Scheinbare Legitimität . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 (4) Unvermeidbare eigene Wertung des Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 c) Bewusstsein des Legitimitätsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 d) Endergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 E. Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 I. Vergleich der Ergebnisse der Urteilsanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 1. Haupttendenzen bei der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 a) Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 b) Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 aa) Haupttendenzen bei der Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 (1) Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 (2) Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 (3) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 bb) Rechtsfortbildung contra legem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 cc) Unvermeidbare eigene Wertung des Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 2. Nebenbei auftretende Phänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 a) Erwähnung der Lücke bzw. von Art. 1 ZGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 b) Bewusstsein des Legitimitätsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 3. Abgleich der Ergebnisse mit den Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 II. Vorschlag einer Lückenfüllungsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 1. Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 2. Normtext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398
Abkürzungsverzeichnis a.A. aAktG aBV AcP a.E. a.F. AFG AGB AGBG AJP Anm. aOR Art. AS AT ATF ATSG Aufl. aUWG BBl. Bd. bearb. v. Begr. begr. v. ber. BG BGB BGBl. BGE BGer BGG BGH BGHZ
andere Ansicht/andere Ansichten Gesetz über Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien vom 30. Januar 1937 (deutsch) Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874 Archiv für die civilistische Praxis (deutsch) am Ende alte Fassung Arbeitsförderungsgesetz vom 25. Juni 1969 (deutsch) Allgemeine Geschäftsbedingungen Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen vom 9. Dezember 1976, aufgehoben durch Art. 6 SMG vom 26. November 2001 (deutsch) Aktuelle juristische Praxis (schweiz.) Anmerkung Bundesgesetz über das Obligationenrecht vom 14. Juni 1881 (schweiz.) Artikel Amtliche Sammlung des Bundesrechts (schweiz.) Allgemeiner Teil Arrêts du Tribunal fédéral = BGE (schweiz.) Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000 (SR 830.1; schweiz.) Auflage Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vom 7. Juni 1909 (deutsch) Bundesblatt (schweiz.) Band bearbeitet von Begründer begründet von berichtigt Bundesgesetz (schweiz.) Bürgerliches Gesetzbuch vom 18. August 1896 in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002 (Schönfelder Nr. 20; deutsch) Bundesgesetzblatt (deutsch) Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts Bundesgericht (schweiz.) Bundesgesetz über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz) vom 17. Juni 2005 (SR 173.110; schweiz.) Bundesgerichtshof (deutsch) Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen (deutsch)
Abkürzungsverzeichnis BK BSHG BSK BT BV BVerfG BVerfGE bzw. Chap. CHK c.i.c. CO CR ders. d. h. Diss. dt. Recht E. Einf Einl. EntG Erl. f./ff. FamRZ FS gem. GenG GenG a.F. GewO GewO a.F. GG GmbH GmbHG GmbH-Rdsch. GVG Habil. HGB h.L.
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Berner Kommentar (schweiz.) Bundessozialhilfegesetz vom 30. Juni 1961 in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. Januar 1987 (deutsch) Basler Kommentar (schweiz.) Besonderer Teil Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999, in Kraft getreten am 1. Januar 2000 (SR 101) Bundesverfassungsgericht (deutsch) Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (deutsch) beziehungsweise Chapitre = Kapitel Handkommentar zum Schweizer Privatrecht culpa in contrahendo Code des obligations = OR (schweiz.) Commentaire romand (schweiz.) derselbe (Autor) das heißt Dissertation deutsches Recht Erwägung Einführung Einleitung Bundesgesetz über die Enteignung vom 20. Juni 1930 (SR 711; schweiz.) Erläuterung und folgende (Seite/Seiten) FamRZ – Zeitschrift für das gesamte Familienrecht (deutsch) Festschrift gemäß Gesetz betreffend die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften vom 1. Mai 1889 in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. Oktober 2006 (Schönfelder Nr. 53; deutsch) Gesetz, betreffend die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften vom 1. Mai 1889 (deutsch) Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869 in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Februar 1999 (Sartorius Nr. 800; deutsch) Gewerbeordnung für das Deutsche Reich vom 21. Juni 1869 in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. Juli 1900 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (Sartorius Nr. 1) Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung vom 20. April 1892 (Schönfelder Nr. 52; deutsch) Rundschau für GmbH, später GmbH-Rundschau (deutsch) Gerichtsverfassungsgesetz vom 12. September 1950 in der Fassung der Bekanntmachung vom 9. Mai 1975 (Schönfelder Nr. 95; deutsch) Habilitation Handelsgesetzbuch vom 10. Mai 1897 (Schönfelder Nr. 50; deutsch) herrschende Lehre
24 h.M. Hrsg. hrsg. v. i.E. Intro i.S.v. ital. ius.full IV IVG i.V.m. IVV JW JZ Kap. KG KUVG KVG LG lit. LM LN LPartG LZ MarkenG m.a.W. m. Bespr. MDR m.N. MüKo m.w.N. Neubearb. n.F. N.F. NJW Nr. österreich. OHG OR
Abkürzungsverzeichnis herrschende Meinung Herausgeber herausgegeben von im Ergebnis Introduction = Einleitung im Sinne von italienisch ius.full: Forum für juristische Bildung (schweiz. Zeitschrift) Invalidenversicherung (schweiz.) Bundesgesetz über die Invalidenversicherung vom 19. Juni 1959 (SR 831.20; schweiz.) in Verbindung mit Verordnung über die Invalidenversicherung vom 17. Januar 1961 (SR 831.201; schweiz.) Juristische Wochenschrift (deutsch) Juristenzeitung (deutsch) Kapitel Kammergericht (Oberlandesgericht von Berlin) Bundesgesetz über die Kranken- und Unfallversicherung vom 13. Juni 1911 (schweiz.), aufgehoben durch das KVG Bundesgesetz über die Krankenversicherung vom 18. März 1994 (SR 832.10; schweiz.) Leasinggeber litera = Buchstabe Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen, hrsg. v. Lindenmaier und Möhring Leasingnehmer Gesetz über die Eingetragene Lebenspartnerschaft vom 16. Februar 2001 (Schönfelder Nr. 43; deutsch) Leipziger Zeitschrift für Deutsches Recht Gesetz über den Schutz von Marken und sonstigen Kennzeichen vom 25. Oktober 1994 (Schönfelder Nr. 72; deutsch) mit anderen Worten mit Besprechung Monatsschrift für deutsches Recht mit Nachweisen Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch (deutsch) mit weiteren Nachweisen Neubearbeitung neue Fassung neue Folge Neue juristische Wochenschrift (deutsch) Nummer österreichisch offene Handelsgesellschaft (deutsch) Obligationenrecht; Bundesgesetz betreffend die Ergänzung des schweizerischen Zivilgesetzbuches (Fünfter Teil: Obligationenrecht) vom 30. März 1911 (SR 220)
Abkürzungsverzeichnis PatG portugies. ProdHaftG PVV recht RG RGBl. RGRK RGZ RiWG Rn. ROHGE s. S. Sartorius ScheckG SchKG SchlT Schönfelder schweiz. sic! SMG s. o. Sp. span. SPR SR StenBullNR StGB StVG s. u. Syst. Teil SZS
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Bundesgesetz vom 25. Juni 1954 über die Erfindungspatente (SR 232.14; schweiz.) portugiesisch Gesetz über die Haftung für fehlerhafte Produkte vom 15. Dezember 1989 (Schönfelder Nr. 27) Positive Vertragsverletzung recht – Zeitschrift für juristische Weiterbildung und Praxis (schweiz.) Reichsgericht (deutsch) Reichsgesetzblatt (deutsch) Reichsgerichtsrätekommentar, später nur RGRK (deutsch) Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen (deutsch) Richterwahlgesetz vom 25. August 1950 (Sartorius Nr. 610; deutsch) Randnummer Entscheidungen des Reichs-Oberhandelsgerichts (deutsch) siehe Seite Sartorius, Verfassungs- und Verwaltungsgesetze – Textsammlung, begr. v. Carl Sartorius Scheckgesetz vom 14. August 1933 (Schönfelder Nr. 56) Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs vom 11. April 1889 (SR 281.1; schweiz.) Schlusstitel Schönfelder, Deutsche Gesetze – Sammlung des Zivil-, Straf- und Verfahrensrechts, begr. v. Heinrich Schönfelder schweizerisch sic! – Zeitschrift für Immaterialgüter-, Informations- und Wettbewerbsrecht (schweiz.) Schuldrechtsmodernisierungsgesetz vom 26. November 2001, in Kraft seit 1. Januar 2002 (deutsch); Vorschriften des BGB vor dem SMG abgedruckt in Schönfelder, Ergänzungsband Nr. 20 siehe oben Spalte (bei einigen älteren deutschen Zeitschriften sind die Seiten jeweils in zwei Spalten aufgeteilt; die Spalten sind fortlaufend nummeriert) spanisch Schweizerisches Privatrecht Systematische Sammlung des Bundesrechts (Systematische Rechtssammlung; schweiz.); zugänglich über www.admin.ch Amtliches Bulletin der Bundesversammlung, Nationalrat (schweiz.; 1907 – 1962: Amtliches stenographisches Bulletin der Bundesversammlung) Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871 in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (Schönfelder Nr. 85) Straßenverkehrsgesetz vom 3. Mai 1909 in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. März 2003 (Schönfelder Nr. 35; deutsch) siehe unten Systematischer Teil Schweizerische Zeitschrift für Sozialversicherung und berufliche Vorsorge
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Abkürzungsverzeichnis
SZW Schweizerische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht TRIPs-Abkommen Abkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte an geistigem Eigentum im Rahmen des Abkommens zur Errichtung der Welthandelsorganisation vom 15. April 1994 (Schweiz: SR 0.632.20, Anhang 1C) TVG Tarifvertragsgesetz vom 9. April 1949 in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. August 1969 (Schönfelder, Ergänzungsband Nr. 81; deutsch) u. und u. a. unter anderem, und andere Überbl Überblick Urt. v. Urteil vom UVG Bundesgesetz über die Unfallversicherung vom 20. März 1981 (SR 832.20; schweiz.) UVV Verordnung über die Unfallversicherung vom 20. Dezember 1982 (SR 832.202; schweiz.) UWG Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vom 3. Juli 2004 (deutsch) v vor V Verordnung (schweiz.) Verf. Verfasserin VersR Versicherungsrecht – Zeitschrift für Versicherungsrecht, Haftungs- und Schadensrecht (deutsch) vgl. vergleiche Vol. Volume = Band Vorbem. Vorbemerkungen WG Wechselgesetz vom 21. Juni 1933 (Schönfelder, Ergänzungsband Nr. 54) z. B. zum Beispiel ZBJV Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins (schweiz.) ZGB Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 (SR 210) Ziff. Ziffer ZIP ZIP – Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (deutsch) ZK Zürcher Kommentar (schweiz.) ZPO Zivilprozessordnung vom 30. Januar 1877 in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. Dezember 2005 (Schönfelder Nr. 100; deutsch) ZSR Zeitschrift für Schweizerisches Recht zugl. zugleich z. Zt. zur Zeit
A. Einleitung Diese Arbeit soll sich der Frage widmen, wie Rechtsfortbildung in der Schweiz und in Deutschland betrieben wird. Da das Recht vor allem dann fortgebildet werden muss, wenn keine einschlägige Regel existiert, soll es in dieser Arbeit um das Vorgehen der Richter in der Regelungslücke gehen. Dort stellt sich das Problem, dass die Richter entscheiden müssen, obwohl kein demokratisch legitimiertes Recht vorhanden ist. In der Arbeit wird untersucht, wie die Richter mit diesem Problem umgehen. Gleichzeitig wird ein Vorschlag gemacht, wie eine methodisch genaue und am Legitimitätsgedanken orientierte Lückenfüllung aussehen könnte. Legitimität wird in dieser Untersuchung zwar als rechtsphilosophischer Begriff verstanden. In der Demokratie kann man jedoch rechtsphilosophische Legitimität mit demokratischer Legitimität gleichsetzen. Der rechtsphilosophische Ansatz ist dennoch wichtig, da nur so die Bedeutung von Legitimität vollständig erklärt werden kann. Legitimität kann man in der Rechtsphilosophie als Geltung in dem Sinne beschreiben, dass das Recht für den einzelnen nicht durch Zwang, sondern aufgrund seiner eigenen Gewissensentscheidung verpflichtend ist. In der Demokratie drückt sich das so aus, dass der einzelne über die parlamentarischen Repräsentanten darüber mitentscheidet, was für ihn gelten soll und so selbst- statt fremdbestimmt ist. Stellt man diesen Gedanken der Selbstbestimmung und damit der Freiheit in den Vordergrund, wird erklärlich, warum Legitimität von Recht so wichtig ist. Sie bedeutet, dass Recht im Staat nicht durch Zwang und Fremdbestimmung gesetzt wird. In der Regelungslücke gibt es nun zwangsläufig ein Legitimitätsdefizit, weil dort das Gesetzesrecht an seine Grenzen gelangt. Um dort dennoch ein größtmögliches Maß an Selbstbestimmung zu gewährleisten, muss auch bei der Rechtsfortbildung der Legitimitätsgedanke im Vordergrund stehen. Aus diesem Grund wird in dieser Arbeit aus dem Legitimitätsgedanken eine Methode entwickelt, die der Richter bei der Rechtsfortbildung anwenden kann. Ob er diese Methode auch anwendet oder ihr zumindest nahekommt, soll in Analysen überwiegend zivilrechtlicher rechtsfortbildender Entscheidungen geklärt werden. Dabei wird die Vorgehensweise der Richter in je zwanzig deutschen und schweizerischen Urteilen untersucht, in denen sich ein Rechtsfortbildungsproblem stellt. Der Vergleich von Deutschland und der Schweiz wird unternommen, weil es in der Schweiz im Gegensatz zu Deutschland mit Art. 1 ZGB1 eine Lückenfüllungs1 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 (AS 24, 233), aktuelle Fassung abgedruckt in SR 210.
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A. Einleitung
norm gibt, die eine bei der Lückenfüllung zu beachtende Methode vorschreibt. Dies legt nahe, dass es in beiden Ländern Unterschiede in der Rechtsfortbildung gibt, die den Vergleich interessant machen. Insbesondere stellt sich die Frage, wie sich die Existenz von Art. 1 ZGB auf die Qualität der lückenfüllenden Begründungen und die Beachtung des Legitimitätsgedankens auswirkt. Schließlich sollen die theoretischen Erwägungen über eine ideale, dem Legitimitätsprinzip entsprechende Lückenfüllung in Kombination mit den aus den Urteilsanalysen gewonnenen Erkenntnissen dazu genutzt werden, einen Vorschlag für eine Lückenfüllungsnorm zu machen, die in besonderer Weise zu einer am Legitimitätsgedanken orientierten Lückenfüllung anleitet. Um methodisch genaue und dem Legitimitätsgedanken entsprechende Lückenfüllung zu betreiben, braucht man jedoch nicht zwingend eine Lückenfüllungsnorm. Dies ist vor allem für Deutschland wichtig, da ungewiss ist, ob dort eine Lückenfüllungsnorm eingeführt werden wird. Die in dieser Arbeit erläuterte Methode kann man aber auch ohne Lückenfüllungsnorm anwenden. Dafür können Richter auf den theoretischen Teil der Arbeit zurückgreifen, aber auch auf die Urteilsanalysen selbst. Diese enthalten immer Vorschläge, wie man die jeweilige Regelungslücke nach hier vertretener Methode füllen kann.
B. Theoretische Grundlagen In diesem Abschnitt sollen die theoretischen Grundlagen der Arbeit dargelegt werden. Zunächst wird erklärt, wie sich Recht grundsätzlich aus philosophischer Sicht legitimiert und wie die philosophische Legitimation von Recht im Staat erfolgt. Im Folgenden wird ausgeführt, welches Recht von diesem Standpunkt aus als legitim bezeichnet werden kann. Sodann werden die bei der Lückenfüllung auftretenden Grenzen der Legitimität erläutert und es werden Vorschläge für eine am Legitimitätsgedanken orientierte Lückenfüllung gemacht. Aus dem Legitimitätsprinzip ergibt sich so die bei der Lückenfüllung zu beachtende Methode. Als Voraussetzung jeder Lückenfüllung wird außerdem auf das Rechtsverweigerungsverbot eingegangen und es werden die zur Lückenfüllung herangezogenen oder bestimmten Normen, insbesondere § 242 BGB1 und Art. 1 ZGB, vorgestellt. Aus der dargelegten Methode der am Legitimitätsgedanken orientierten Lückenfüllung wird sodann die Vorgehensweise bei den Urteilsanalysen entwickelt und erklärt. Aus der Tatsache, dass es in Deutschland keine Lückenfüllungsnorm gibt und stattdessen § 242 BGB als Grundlage der richterlichen Rechtsfortbildung genutzt wird, sowie aus der Existenz von Art. 1 ZGB und dessen spezifischen Inhalts werden schließlich zwei Thesen dahingehend abgeleitet, wie die Lückenfüllung im Hinblick auf den Legitimitätsgedanken in beiden Ländern aussehen könnte.
I. Rechtsphilosophische Legitimation von Recht Aus rechtsphilosophischer Sicht kann man das Recht als eine Sollensordnung verstehen.2 Sollensordnung bedeutet zum einen, dass es sich dabei um ein System von Imperativen handelt, also von vorschreibenden statt von beschreibenden Sätzen.3 Zum anderen kann man mit dem Begriff des „Sollens“ aber auch die rechtsphilosophische Urfrage4 nach dem „richtigen“ im Sinne von „gerechten“ Recht ver1
Bürgerliches Gesetzbuch vom 18. August 1896 in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002 (BGBl. I S. 42, ber. S. 2909 und BGBl. I 2003, S. 738), aktuelle Fassung abgedruckt in Schönfelder, Deutsche Gesetze, Nr. 20. 2 Hofmann, Rechtsphilosophie, § 1 I. (S. 3); Hinweis auf Autoren, die diese These vertreten bei Seelmann/Demko, Rechtsphilosophie, § 2 4. b) Rn. 46 und vorhergehende Randnummern (S. 48 f.). 3 Hofmann, Rechtsphilosophie, § 1 I. (S. 3); Seelmann/Demko, Rechtsphilosophie, § 2 4. b) Rn. 44 (S. 48). 4 Hofmann, Rechtsphilosophie, § 1 I. (S. 4).
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B. Theoretische Grundlagen
knüpfen. Diese Verbindung kann man am besten mit folgendem Satz ausdrücken: Wenn etwas „richtig“ ist, dann „soll“ es so sein.5 Das „Sollen“ ist also Ausdruck der Wertung, dass eine Handlung oder eine rechtliche Anordnung gut oder „richtig“ ist.6 Daraus ergibt sich die Frage, wie man ein solches „richtiges“ Recht herleiten kann. Die Naturrechtstradition7 wollte in der Welt eine unveränderliche Ordnung erkennen, aus der sich das „richtige“ Recht ergeben sollte.8 Das lief darauf hinaus, aus dem „Seienden“ (der Welt als Natur der Sache oder Natur des Menschen) einen Maßstab für das „Richtige“, das „Gesollte“ abzuleiten.9 Dagegen spricht, dass es nicht möglich ist, aus einem „Sein“ ein „Sollen“ logisch abzuleiten.10 Enthält der Obersatz eine Aussage, kann im logischen Schluss nicht plötzlich ein Sollenssatz stehen.11 Nichts ist schon deshalb richtig, weil es ist oder weil es war – oder auch, weil es sein wird.12 Dieser Gegensatz von Sein und Sollen ist vor allem von Kant herausgearbeitet13 und von der neukantianischen Philosophie vertieft worden14. Er wird als Methodendualismus bezeichnet.15 Ist es also nicht möglich, aus der Natur der Sache oder der Natur des Menschen ein objektiv geltendes „richtiges“ Recht abzuleiten, so muss der einzelne Mensch für sich entscheiden, was ihm subjektiv richtig erscheint.16 Dies ist der Ansatz, den Kant verfolgt.17 Er geht zwar davon aus, dass sich das richtige Handeln an dem obersten Grundsatz der Vernunft, dem kategorischen Imperativ, orientieren muss.18 Gleichzeitig meint er aber, dass sich jeder Mensch in ethischen Dingen nur selbst ver5
Radbruch, Rechtsphilosophie (Studienausgabe), § 2 (S. 13). Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademieausgabe, Bd. IV, S. 385 ff. (S. 413); dazu Hofmann, Rechtsphilosophie, § 2 I. (S. 11). 7 Dazu Zippelius, Rechtsphilosophie, § 12 (S. 72 ff.), und Seelmann/Demko, Rechtsphilosophie, § 8 (S. 155 ff.). 8 Mahlmann, Rechtsphilosophie, § 21 I. 1. Rn. 3 (S. 255). 9 Zippelius, Rechtsphilosophie, § 12 I. (S. 72). 10 Hofmann, Rechtsphilosophie, § 2 I. (S. 12). Ein Beispiel dazu findet sich bei den Erwägungen zur Natur der Sache unter B. III. 2. b) bb). 11 Hofmann, Rechtsphilosophie, § 2 I (S. 12). 12 Radbruch, Rechtsphilosophie (Studienausgabe), § 2 (S. 13). 13 Kant, Kritik der reinen Vernunft, Akademieausgabe, Bd. III, S. 1 ff. (S. 249 u. 371 f.); dazu Hofmann, Rechtsphilosophie, § 2 I (S. 11), und Zippelius, Rechtsphilosophie, § 15 I. 1. (S. 84). 14 Dazu Zippelius, Rechtsphilosophie, § 3 II. (S. 10 ff.) mit Nachweisen zu neukantianischen Rechtstheorien. 15 Kaufmann/Hassemer/Neumann, Rechtsphilosophie, C. 3.3.3 (S. 201); Radbruch, Rechtsphilosophie (Studienausgabe), § 2 (S. 13). 16 Zippelius, Staatslehre, § 16 I. 3. (S. 96). 17 Kaufmann/Hassemer/Neumann, Rechtsphilosophie, B. 2.2.3.3.2 (S. 61); Zippelius, Staatslehre, § 17 III. (S. 105 f.). 18 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademieausgabe, Bd. IV, S. 385 ff. (S. 420 f.). 6
I. Rechtsphilosophische Legitimation von Recht
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pflichten kann.19 Der Mensch entscheidet also selbst darüber, was ihm richtig erscheint. Das für den Einzelnen Richtige nennt Kant die Moral, die für den einzelnen Menschen innerlich verbindlich ist.20 Grund für diese Sichtweise bei Kant ist das Menschenbild eines freien, selbstbestimmten Menschen, der in Bezug auf Moralvorstellungen autonom und im Bereich der Moral sein eigener Gesetzgeber ist.21 Ein Sollen entsteht bei dieser Herangehensweise nicht dadurch, dass man – wie beim Naturrecht – ein objektiv richtiges Recht annimmt. Es kommt vielmehr dadurch zustande, dass der einzelne etwas für sich als richtig anerkennt und sich dadurch selbst verpflichtet. Radbruch beschreibt die Tatsache, dass sich der Mensch in ethischen Dingen nur selbst verpflichten kann, so: „Ein Wollen kann ein Müssen hervorbringen, wenn es von der Macht zu zwingen begleitet ist, aber niemals ein Sollen“.22 Fordert man nun vom Recht im Sinne einer rechtsphilosophischen Herangehensweise, dass es „richtig“ bzw. „gesollt“ sein soll, kann es das nur sein, wenn es mit der subjektiven Moral übereinstimmt. Diesen Schritt ist Radbruch gegangen. Er sagt dazu, dass von Rechtspflichten erst die Rede sein könne, wenn der rechtliche Imperativ vom Einzelgewissen mit moralischer Verpflichtungskraft ausgestattet werde.23 Nur die Moral vermöge die verpflichtende Kraft des Rechts zu begründen.24 In diesem Zusammenhang wird denn auch von „moralischer Geltung des Rechts“25 gesprochen. In diesem Sinne soll der Begriff der Legitimität in der vorliegenden Untersuchung verstanden werden: Legitimität bedeutet moralische Geltung. Überlässt man es aber dem Einzelnen, zu entscheiden, was seinem Gewissen nach „richtiges“ Recht ist, muss er letzten Endes dem Recht, das für ihn moralisch gelten soll, zustimmen. Dies ist der Grundgedanke der Vertragstheorien, die von Thomas Hobbes, John Locke, Jean-Jacques Rousseau und Kant entwickelt wurden.26 Wenn der einzelne im Rahmen eines Vertrages bestimmten Rechten und Pflichten zustimmt, erkennt er sie für sich an und es geschieht ihm kein Unrecht (volenti non fit iniuria).27 19 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademieausgabe, Bd. IV, S. 385 ff. (S. 432 f.); dazu Röhl/Röhl, Rechtslehre, § 35 III. (S. 295). 20 Kant, Die Metaphysik der Sitten, Akademieausgabe, Bd. VI, S. 203 ff. (S. 214); dazu Mahlmann, Rechtsphilosophie, § 5 IV. Rn. 16 (S. 101). 21 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademieausgabe, Bd. IV., S. 385 ff. (S. 446 f. u. 452 f.); dazu Mahlmann, Rechtsphilosophie, § 5 III. Rn. 13 (S. 100), und Seelmann/Demko, Rechtsphilosophie, § 2 7. b) Rn. 76 (S. 64). 22 Radbruch, Rechtsphilosophie (Studienausgabe), § 5 (S. 46). 23 Radbruch, Rechtsphilosophie (Studienausgabe), § 5 (S. 47). 24 s. o. 25 Zippelius, Rechtsphilosophie, § 5 II. (S. 20 f.); Hofmann, Rechtsphilosophie, § 10 (S. 46). 26 Röhl/Röhl, Rechtslehre, § 37 V. (S. 320). 27 Röhl/Röhl, Rechtslehre, § 37 V. (S. 320); Hofmann, Rechtsphilosophie, § 13 I. (S. 60).
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B. Theoretische Grundlagen
So ein Vertrag wird nach den Vertragstheoretikern in einer Gesellschaft geschlossen (Gesellschaftsvertrag) und dient dazu, staatliche Autorität und daraus hervorgehende staatliche Gesetze zu legitimieren.28 Die philosophische Legitimation des Rechts über die Moral des Einzelgewissens wird hier also über die Zustimmung zu einer staatlichen Ordnung zur staatstheoretischen Legitimation. Ist die Gewissensentscheidung des Einzelnen aber die einzige moralische Instanz, muss die Gewissensentscheidung jedes Menschen gleichviel gelten.29 Auf den Staat übertragen führt das dazu, dass jeder im Staat in gleicher Weise mitbestimmen dürfen muss30, und damit letztlich zum Demokratieprinzip. Dieses wurde von Rousseau in einer idealen Form vertreten.31 Er wollte eine Gesellschaftsform konstruieren, in der jeder nur sich selbst gehorcht und dadurch so frei bleibt wie vorher32, und vertrat damit das demokratische Prinzip einer politischen Selbstbestimmung des Volkes. Die moralische Selbstbestimmung Kants findet sich also bei Rousseau als politische Selbstbestimmung wieder.33 Damit kann man den Autonomiegedanken Kants nicht nur allgemein zur staatstheoretischen Legitimation, sondern insbesondere zur philosophischen Begründung von Demokratie heranziehen.34 Die Demokratie ist diejenige Staatsform, die es der individuellen Autonomie am besten ermöglicht, sich auch in den politischen Bereich hinein zu entfalten.35 Die philosophisch-moralische Legitimation von Recht, wie sie Radbruch unter Bezugnahme auf Kant vertritt, geschieht also im Staat über eine politische Selbstbestimmung, die man demokratische Legitimation von Recht nennt. Damit kann man im Staat die moralische und die demokratische Legitimität von Recht im Idealfall gleichsetzen. Dagegen spricht natürlich, dass in einer praktisch funktionierenden Demokratie, die auf Repräsentativsystem und Mehrheitsentscheidungen angewiesen ist, nie der Willen aller berücksichtigt werden kann und so eine ideale Selbstbestimmung jedes einzelnen nicht zu verwirklichen ist.36 Dafür, das Recht dennoch über ein demokratisches System als legitimiert anzusehen, spricht jedoch, dass das Mehrheitsprinzip dem Ideal der Selbstbestimmung aller so nahe kommt, wie die Realitäten es erlauben.37 Mit dem Mehrheitsprinzip wird das Höchstmaß bürgerlicher Selbstbe28
Mahlmann, Rechtsphilosohie, § 3 I. Rn. 1 (S. 70); Hofmann, Rechtsphilosophie, § 13 I. (S. 60). 29 Zippelius, Staatslehre, § 16 I. 3. (S. 96). 30 Zippelius, Staatslehre, § 16 I. 3. (S. 96). 31 Dazu Zippelius, Staatslehre, § 17 III. 2. (S. 107 f.). 32 Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, I 6 (S. 17); dazu Zippelius, Staatslehre, § 17 III. 2. (S. 107). 33 Zippelius, Staatslehre, § 17 III. (S. 106). 34 Kaufmann/Hassemer/Neumann, Rechtsphilosophie, C. 3.1.9.1 (S. 157); Zippelius, Staatslehre, § 17 III. 4. (S. 110). 35 Zippelius, Staatslehre, § 17 III. 3. (S. 109). 36 Zippelius, Staatslehre, § 17 III. 3. (S. 109). 37 Zippelius, Staatslehre, § 16 I. 3. (S. 96).
II. Legitimes Recht
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stimmung respektiert.38 Die Demokratie ist damit die beste Möglichkeit, Recht auch aus philosophischer Sicht zu legitimieren. Zudem ist das Demokratieprinzip gegebene Realität in Europa und findet sich in Art. 20 I und II GG39 und der Präambel der Schweizerischen Bundesverfassung40. In der Schweiz gibt es zudem mit den Regelungen über Volksabstimmungen in den Art. 138 ff. BV weitreichende direktdemokratische Elemente. Die schweizerische Bundesverfassung kommt daher dem Prinzip der freien Selbstbestimmung der Bürger näher als das Grundgesetz. Aus diesen Gründen soll hier das demokratisch legitimierte Recht auch als rechtsphilosophisch legitimiertes Recht betrachtet werden.
II. Legitimes Recht Legitimes Recht ergibt sich also aus der Zustimmung der Bürger und sei es nur über eine demokratische Staatsform mit Repräsentativsystem und Mehrheitsentscheidungen. Dieses Einverständnis wird im Folgenden als subjektive Legitimation von Recht bezeichnet. Recht, das diese Zustimmung erfahren hat, ist eine legitime Rechtsquelle. In diesem Sinn werden verschiedene Arten von Recht, die bei der Rechtsfortbildung zum Tragen kommen, auf ihren Rechtsquellencharakter hin untersucht. Behandelt werden das Gesetzesrecht, das Vertragsrecht, das Gewohnheitsrecht, das Richterrecht, die rechtswissenschaftliche Lehre und das Heranziehen rechtsvergleichender Argumente.
1. Gesetzesrecht Gesetzesrecht erfährt die Zustimmung der Bürger in der Demokratie über den formalisierten Weg von Wahlen oder Volksabstimmungen und ist somit als legitime Rechtsquelle zu betrachten. Gesetzesrecht ist für die Richter verbindlich (Gesetzesbindung der Richter) und bedarf zu seiner Anwendbarkeit der Auslegung. a) Gesetzesbindung der Richter Vom hier vertretenen rechtsphilosophischen Standpunkt aus ergibt sich eine Bindung der Richter an das Gesetz schon daraus, dass nur das Recht, das die Zu38
Zippelius, Staastlehre, § 17 III. 4. (S. 110). Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (BGBl. 1949, S. 1), aktuelle Fassung abgedruckt in Sartorius, Verfassungs- und Verwaltungsgesetze, Nr. 1. 40 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV), in Kraft getreten am 1. Januar 2000 (AS 1999, 2556), aktuelle Fassung abgedruckt in SR 101. 39
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B. Theoretische Grundlagen
stimmung der Bürger erfahren hat, legitimes Recht sein kann. Nur dieses kann der Richter also anwenden. Wenn er das nicht täte, würde er selbst Recht setzen, dem die Bürger nicht zugestimmt hätten. Wendet man den rechtsphilosophischen Gedanken der Zustimmung auf den Staat an, ergibt sich daraus – wie oben erwähnt – das Demokratieprinzip. Dieses enthält den Grundsatz, dass alle Gewalt vom Volk auszugehen hat.41 Das Volk entscheidet also selbst über die es bindenden Regeln. Daraus folgt, dass nur demokratisch legitimierte Institutionen wie die Legislative Recht setzen können. Die anderen Gewalten – Exekutive und Judikative42 – haben sich daran zu halten. Aus dem Demokratieprinzip ergibt sich so die Gewaltenteilung und als deren Bestandteil die strenge Gesetzesbindung des Richters.43 Dementsprechend ist das Prinzip der Gesetzesbindung der Richter in den demokratischen Systemen Schweiz und Deutschland in der jeweiligen Verfassung festgeschrieben. In Deutschland ist es in Art. 20 III GG enthalten, in dem gesagt wird, dass die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden sind. In der Schweiz enthält Art. 5 Abs. 1 BV die Aussage, dass Grundlage und Schranke staatlichen Handelns das Recht sei. Das bedeutet, dass staatliche Organe nur auf rechtlicher Basis handeln dürfen. Da die Gerichte staatliche Organe sind, sind sie Adressaten dieser Regel.44 Die Vorschrift des Art. 5 Abs. 1 BV enthält damit die Gesetzesbindung der Richter.45 In der Schweiz wiederholt Art. 1 Abs. 1 ZGB zudem diese Regel für das Zivilrecht.46 Dort wird gesagt, das Gesetz finde auf alle Rechtsfragen Anwendung, für die es nach Wortlaut oder Auslegung eine Bestimmung enthalte. Sofern das Recht den in Frage stehenden Sachverhalt regelt, muss es also angewandt werden. Aus der Gesetzesbindung ergibt sich selbstverständlich, dass die Gerichte nicht gegen das Gesetz (contra legem) entscheiden dürfen47.
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Sachs-Sachs Art. 20 Rn. 11 f.; Zippelius, Staatslehre, § 17 III. 1. (S. 106). Zur geringen demokratischen Legitimation der Richter ausführlicher unten B. II. 4. a). 43 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 22 A. II. 2. b) (Rn. 708). 44 Steinauer, Le Titre préliminaire du Code civil (Traité de droit privé suisse Vol. II Tome 1), § 2 I. A. (Rn. 29). 45 Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 12; Rhinow/Schefer, Verfassungsrecht, § 28 III. a. (Rn. 2882). 46 Steinauer, Le Titre préliminaire du Code civil (Traité de droit privé suisse Vol. II Tome 1), § 2 I. A. (Rn. 28 f.); Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 2; BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 34 u. 36. 47 So in Bezug auf Art. 1 ZGB auch BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 36. 42
II. Legitimes Recht
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b) Auslegung Die Anwendung von Gesetzesrecht schließt dessen Auslegung ein. Man kann unterscheiden zwischen verschiedenen Auslegungsmethoden und dem Ziel der Auslegung. aa) Auslegungsmethoden Im Anschluss an Savigny48 sind vier Auslegungsmethoden allgemein anerkannt, und zwar die grammatikalische, die systematische, die historische und die teleologische Auslegung.49 Bei der grammatikalischen Auslegung geht es um die Ermittlung des möglichen Wortsinnes einer Regelung nach allgemeinem oder juristischtechnischem Sprachgebrauch und der Grammatik.50 Die Untersuchung des Wortlautes ist der Beginn jeder Interpretation.51 Die systematische Auslegung verlangt die Beachtung des Kontextes einer Regelung mit dem übrigen Gesetz, einem Teilrechtsgebiet und der gesamten Rechtsordnung und diesbezüglich eine möglichst widerspruchsfreie Interpretation.52 Die historische Auslegung versucht, unter Konsultation der Gesetzesmaterialien herauszuarbeiten, wie der historische Gesetzgeber eine Norm verstanden wissen wollte.53 Es geht also darum, den Inhalt eines Gesetzes anhand seiner Entstehungsgeschichte zu klären.54 Die teleologische Auslegung schließlich fragt nach dem legislativpolitischen Zweck einer Vorschrift, nach der ratio legis.55 bb) Ziel der Auslegung Hier soll zunächst der Inhalt des Streites zwischen objektiver und subjektiver Theorie, den es hinsichtlich des Zieles der Auslegung gibt, sowie dessen Bedeutung für die gesamte Untersuchung deutlich gemacht werden. In einem zweiten Schritt werden die wesentlichen Argumente für die eine oder die andere Theorie gegeneinander abgewogen, um zu einer eigenen Stellungnahme zu kommen. 48
Savigny, System I, § 33 A. (S. 213 f.). Staudinger-Honsell Einl zum BGB Rn. 138; BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 179. 50 BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 9; Staudinger-Honsell Einl zum BGB Rn. 139. 51 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 4 2. a) (S. 141); BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 184. 52 BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 10; Kramer, Methodenlehre, II. 2. c) aa) (S. 88 f.); BKMeier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 188; Staudinger-Honsell Einl zum BGB Rn. 143 f. 53 BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 9; Kramer, Methodenlehre, II. 2. d) ee) (3) (S. 141 ff.); BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 215 f. 54 Kramer, Methodenlehre, II. 2. d) ee) (3) (S. 141); Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 22 F. II. (Rn. 780). 55 Kramer, Methodenlehre, II. 2. e) aa) (1) (S. 152 f.); MüKo-Säcker Einl. zum BGB Rn. 143; Staudinger-Honsell Einl zum BGB Rn. 149. 49
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B. Theoretische Grundlagen
(1) Darstellung des Streits zwischen objektiver und subjektiver Theorie Bezüglich des Zieles der Auslegung gibt es einen grundsätzlichen Theorienstreit zwischen der sogenannten „subjektiven“ und der „objektiven“ Theorie.56 Die subjektive Theorie bestimmt als Ziel der Auslegung die Herausarbeitung der Absicht des historischen Gesetzgebers und des sich daraus ergebenden historischen Normzwecks.57 Die objektive Theorie demgegenüber konzentriert sich auf den sich aus dem Wortlaut und der Systematik heute vernünftigerweise ergebenden Sinn des Gesetzes.58 Sie geht davon aus, dass das Gesetz einen eigenen, vom historischen Gesetzgeber losgelösten Willen haben könne.59 Mit anderen Worten: Das Gesetz könne klüger sein als der Gesetzgeber.60 Da die subjektive Theorie mit der Auslegung den historischen Zweck des Gesetzes herausarbeiten möchte, während die objektive Theorie die aktuelle Bedeutung des Gesetzes in den Vordergrund rückt, kann man diesbezüglich auch von entstehungszeitlicher und geltungszeitlicher Auslegung sprechen.61 Vertreter der subjektiven Theorie sind unter anderen Rüthers/Fischer/ Birk62, Säcker63 und Meier-Hayoz64. Die objektive Theorie vertreten z. B. Larenz/ Canaris65, Kramer66 und Emmenegger/Tschentscher67. Die Unterscheidung zwischen beiden Ansätzen wirkt sich unter anderem auf die Rangfolge der Auslegungsmethoden aus.68 So muss die subjektive Theorie der 56 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 4 1. b) (S. 137) mit Hinweis auf älteres Schrifttum; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 22 G. I. (Rn. 796 f.) mit Hinweis auf ältere und neuere Vertreter; Kramer, Methodenlehre, II. d) aa) (1) (S. 121), ausführlicher und mit zahlreichen Nachweisen unter II. d) bb) (S. 123 ff.); ausführlich auch BK-Emmenegger/ Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 166 ff. m.w.N. 57 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 4 1. b) (S. 137); Kramer, Methodenlehre, II. d) aa) (1) (S. 121); Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 22 G. I. (Rn. 796). 58 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 4 1. b) (S. 137); Kramer, Methodenlehre, II. d) aa) (1) (S. 121). 59 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 4 1. b) (S. 138); BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 174. 60 Radbruch, Rechtsphilosophie (Studienausgabe), § 15 (S. 107 a.E.); dazu Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 22 B I. (Rn. 722) und G. I. (Rn. 797), und Kramer, Methodenlehre, II. 2. d) dd) (2) (S. 133), beide m.w.N. 61 Kramer, Methodenlehre, II. d) aa) (1) (S. 121); Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 22 F. III. 1. (Rn. 784). 62 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 22 B. (Rn. 717 ff.), F. III. (Rn. 784 ff.) und G. III. (Rn. 806 ff.). 63 MüKo-Säcker Einl. zum BGB Rn. 80 und 124 ff. 64 BK-Meier-Hayoz Art. 1 Rn. 151 ff. 65 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 4 1. b) (S. 137 ff.) und 2. f) (S. 163 ff., am deutlichsten auf S. 166 f.). 66 Kramer, Methodenlehre, II. 2. d) ee) (S. 138 ff.) und f) (S. 179 ff.). 67 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 173 ff. 68 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 166.
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historischen Auslegung Vorrang vor den anderen Auslegungsmethoden gewähren, weil das Ziel der Auslegung die Ermittlung des historischen Zwecks des Gesetzes ist.69 Das bedeutet im Ergebnis auch, dass die historische Auslegung dem Wortlaut einer Norm vorgeht.70 Die objektive Theorie hingegen sieht die historische Auslegung nicht als vorrangig gegenüber den anderen Auslegungskriterien an.71 Sie vertritt eine grundsätzliche – im Einzelnen mehr oder weniger stark ausgeprägte – Gleichrangigkeit der Auslegungsmethoden72, deren Grenze der Wortlaut bildet73. Die Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Theorie sowie das sich daraus ergebende Problem der Rangfolge der Auslegungsmethoden spiegeln sich nicht direkt in den unter C. und D. vorgenommenen Urteilsanalysen wieder. Da das Ziel der Arbeit die Untersuchung der richterlichen Rechtsfortbildung im Lückenbereich ist, wurden die Urteile so ausgewählt, dass entweder eine Regelungslücke vorliegt oder die Frage nach einer solchen zumindest im Raum steht. Da es so darum geht, ein Problem mit Lückenfüllung zu lösen, kommt es in den Urteilen nicht zu originären Auslegungsproblemen und der Frage, welcher Auslegungstheorie man folgt. Eine wichtige Voraussetzung der Lückenfüllung ist jedoch die Bestimmung der Grenzen der Auslegung.74 Bevor man diese in den Urteilsanalysen konkret bestimmt, muss man die Vorfrage klären, wo diese Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung verlaufen soll. Diese Frage wird von objektiver und subjektiver Theorie unterschiedlich beantwortet.75 Zudem spielt die Unterscheidung für den dieser Arbeit zugrundeliegenden Gedanken der Legitimität von Recht eine Rolle. Insbesondere stellt sich die Frage, ob nur die subjektive Auslegung, die den Willen des historischen Gesetzgebers erforscht, für sich beanspruchen kann, der Gesetzesbindung des Richters und damit dem Legitimitätsprinzip zu entsprechen.76 (2) Argumentation und eigene Stellungnahme Hier sollen zunächst allgemeine Argumente für und gegen die objektive und die subjektive Theorie dargestellt werden. Diese werden dann im Rahmen einer vertieften Untersuchung anhand der Frage, wie die beiden Theorien Auslegung und Rechtsfortbildung abgrenzen, noch einmal überprüft. Auf dieser Grundlage erfolgt 69
So Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 22 B. II. (Rn. 725 ff.). So MüKo-Säcker Einl. zum BGB Rn. 119 a.E., 124 und 139. 71 So BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 179 f. 72 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 201 ff.; Kramer, Methodenlehre, II. 2. f) (S. 179 ff.); Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 4 2. f) (S. 163 ff., Zusammenfassung auf S. 166 f.). 73 Deutlich Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 4 II. a) (S. 143). 74 Dazu auch unten B. III. 1. 75 Dazu näher unten (2) (b). 76 Dazu näher unten (2). 70
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B. Theoretische Grundlagen
schließlich eine Entscheidung für die objektive Theorie und die von ihr vertretene Wortlautgrenze. (a) Allgemeine Argumentation Für die subjektive Theorie spricht zunächst, dass sie in besonderer Weise die Gesetzesbindung des Richters berücksichtigt, da sie sich am Willen des historischen Gesetzgebers orientiert.77 Wenn man hingegen – wie die objektive Theorie – nicht in erster Linie die Absichten des historischen Gesetzgebers ermitteln will, bedeutet dies, dass der Interpret eigene Wertungen in die Auslegung einfließen lässt. Auslegung kann nur die Wertentscheidungen zu Tag fördern, die vom Gesetzgeber in die Norm eingelegt worden sind.78 Geht man darüber hinaus, heißt das, den Willen des Interpreten einzubringen.79 Das bedeutet, dass die Gesetzesbindung des Richters bei Anwendung der objektiven Theorie weniger stark verwirklicht wird.80 Damit scheint die subjektive Theorie zunächst eher dem Demokratie- und damit dem Legitimitätsprinzip zu entsprechen. Für die objektive Theorie kann man hingegen als wesentliches Argument ins Feld führen, dass sie einer Erstarrung des Rechts vorbeugt, indem sie Anpassungen an geänderte Verhältnisse ermöglicht.81 In die gleiche Richtung geht das Vertrauensargument, das besagt, dass die Bürger eine Norm im Sinne ihres aktuellen Sprachverständnisses verstehen und darauf vertrauen, dass die Norm auch von den Gerichten so angewandt wird82. Schließlich kann man für die objektive Theorie anführen, dass auch der Gesetzgeber selbst wollte, dass die Gesetze nicht versteinert, sondern aktualisiert angewandt werden.83 Besonders deutlich wird das bei Generalklauseln, die als Einfallstore für geänderte gesellschaftliche Wertvorstellungen dienen.84 Damit scheint das wesentliche Argument für die subjektive Theorie die strenge Einhaltung der Gesetzesbindung und die Orientierung am Legitimitätsprinzip zu sein, während für die objektive Theorie der Vertrauensschutz und die Anpassung an geänderte Verhältnisse sprechen.
77 So BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 152, und Kramer, Methodenlehre, II. 2. d) dd) (3) (S. 134). 78 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 22 B. I. 1. (Rn. 722) und § 22 G. I. (Rn. 797). 79 MüKo-Säcker Einl. zum BGB Rn. 80; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 22 B. I. 1. (Rn. 722) und § 22 G. I. (Rn. 797). 80 Dazu Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 22 G. III. 2. (Rn. 810 ff.). 81 Kramer, Methodenlehre, II. 2. d) dd) (5) (S. 136); BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 175. 82 Kramer, Methodenlehre, II. 2. d) dd) (4) (S. 135). 83 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 174. 84 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 174, und kurz Kramer, Methodenlehre, II. 2. d) ee) (2) (S. 140). Zu Generalklauseln auch unten B. III. 1. b) bb) (1).
II. Legitimes Recht
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(b) Abgrenzung von Auslegung und Rechtsfortbildung Ein anderes Bild ergibt sich aber, wenn man den Bereich der Rechtsfortbildung in die Argumentation hineinnimmt und untersucht, wie die beiden Theorien Auslegung und Rechtsfortbildung abgrenzen. Da die subjektive Theorie den historischen Normzweck als Ziel der Auslegung definiert, betrachtet sie alles, was über diesen Normzweck hinausgeht, als Rechtsfortbildung.85 Das bedeutet, sie zieht die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung beim historischen Normzweck86 und nicht beim Wortlaut der Norm87. Die objektive Theorie hingegen stellt von vornherein auf den Wortlaut der Norm ab88 und kann so die Wortlautgrenze als Trennlinie zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung annehmen89. Fraglich ist nun, welche Auswirkungen diese verschiedenen Abgrenzungen auf die oben unter (a) gemachten vorläufigen Annahmen haben. Zunächst wird klar, dass auch die subjektive Theorie Abweichungen vom historischen Normzweck zulässt. Diese werden bloß nicht mehr als Auslegung, sondern als Rechtsfortbildung bezeichnet. Das Argument, nur die objektive Theorie lasse Anpassungen an veränderte Verhältnisse zu, stimmt also so nicht mehr. Wie ist es aber mit dem Argument, die subjektive Theorie entspreche eher dem Prinzip der Gesetzesbindung und dem Legitimitätsgedanken? Wenn man die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung beim historischen Normzweck und nicht beim Wortlaut zieht, bedeutet das zunächst, es kann Rechtsfortbildung innerhalb des Wortlautes geben.90 Dies ist dann der Fall, wenn der Wortlaut weiter ist – also mehr Interpretationen zulässt –, als es die Absicht des historischen Gesetzgebers erlaubt. Interpretationen, die sich innerhalb des Wortlautes halten, aber über die Absicht des historischen Gesetzgebers hinausgehen, als Rechtsfortbildung zu bezeichnen, bedeutet eine besondere Bindung an den Legitimitätsgedanken und eine besondere Methodenehrlichkeit. Denn damit werden Eigenwertungen, die bei der Abweichung vom historischen Gesetzeszweck zwangsläufig in die Rechtsanwendung einfließen, besonders gekennzeichnet. Die objektive Theorie hingegen nimmt diese Trennung zwischen originärer Auslegung und eigenen Wertungen des Interpreten nicht vor. Sie deklariert vielmehr Eigenwertungen, die innerhalb des Wortlautes vorgenommen werden, als Auslegung und hat so die Möglichkeit, Eigenwertungen zu verschleiern91 85 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 22 F. III. 2. (Rn. 788); BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 154 ff. 86 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 22 F. III. 3. (Rn. 793). 87 MüKo-Säcker Einl. zum BGB Rn. 119 f. 88 Kramer, Methodenlehre, II. d) aa) (1) (S. 121). 89 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 4 II. a) (S. 143 f.); Kramer, Methodenlehre, II. 1. (S. 55); BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 239 ff. 90 MüKo-Säcker Einl. zum BGB Rn. 120. 91 Kramer, Methodenlehre, II. 2. d) dd) (2) (S. 133 f.).
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B. Theoretische Grundlagen
und unter dem Deckmantel der Auslegung neues Recht zu schaffen92. Damit scheint sich die Annahme, die subjektive Theorie entspreche eher dem Legitimitätsprinzip, zunächst zu bestätigen. Etwas anderes ergibt sich aber, wenn man sich das Abstellen auf den historischen Gesetzeszweck bei der subjektiven Theorie etwas näher anschaut. Wenn man nämlich den historischen Gesetzeszweck als Abgrenzungskriterium zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung heranzieht, dann gibt es nicht nur Rechtsfortbildungen innerhalb des Wortlautes, sondern auch Auslegung außerhalb des Wortlautes93. Denn der historische Zweck kann auch nicht mit dem Wortlaut einer Norm übereinstimmen. Diese Situation besteht bei Analogie und teleologischer Reduktion. Im ersten Fall ist der Zweck der Norm weiter als deren Wortlaut, im zweiten Fall ist er enger. Da man bei Analogie und teleologischer Reduktion aber auf den Zweck der Norm abstellt und die Zweckbestimmung bei der subjektiven Theorie immer Auslegung ist, muss die subjektive Theorie, wenn sie folgerichtig argumentieren will, Analogie und teleologische Reduktion zu einer – dem Wortlaut widersprechenden – Auslegung zählen.94 Dies führt dazu, dass auch die subjektive Theorie Eigenwertungen bei der Auslegung zulassen muss. Denn eine Zweckbestimmung, die über den Wortlaut hinausgeht (Analogie) oder diesen einschränkt (teleologische Reduktion), lässt sich ohne eigene Wertung des Rechtsanwenders nicht durchführen.95 Bei der Analogie und der teleologischen Reduktion muss man entscheiden, ob zwei Sachverhalte als gleich oder ungleich zu betrachten sind.96 Gleichheit oder Ungleichheit kann man aber immer nur in Bezug auf einen bestimmten Maßstab feststellen. Bei der Analogie erhält man diesen Maßstab, indem man aus der analog anzuwendenden Norm eine allgemeinere Regel induziert. Da der Induktionsschluss aber ein Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine ist, kommt er ohne eigene Wertung des Rechtsanwenders nicht aus. Bei der teleologischen Reduktion erhält man den Maßstab durch Einschränkung des Wortlautes der zu reduzierenden Norm. Auch diese Einschränkung ergibt sich aber nicht aus dem Wortlaut der Norm, sondern wird mit Hilfe eigener Wertungen des Rechtsanwenders durchgeführt. Aus Sicht der subjektiven Theorie lässt sich dagegen argumentieren, dass die jeweiligen Normzwecke mit Hilfe historischer Auslegung aus den Gesetzgebungsmaterialien ermittelt werden können, so dass Induktion oder Reduktion nicht nötig 92
Dazu Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 22 G. III. 1. (Rn. 806 ff.). MüKo-Säcker Einl. zum BGB Rn. 139. 94 Ähnlich beschreibt dies BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 240; Rüthers/ Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 23 D. II. 4. (Rn. 903 a.E.) und § 24 A. I. 2. (Rn. 939 a.E.) bezeichnen die teleologische Reduktion als Auslegung, die Analogie jedoch nicht (s. § 23 D. II. 1., Rn. 889 ff.). 95 Für die Analogie anschaulich Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 23 D. II. 1. c) (Rn. 893 ff.). 96 Ausführlicher zu Analogie und teleologischer Reduktion m.N. unten B. III. 2. a) aa). 93
II. Legitimes Recht
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sind. Das mag zwar im Einzelfall möglich sein, oft werden aber auch gar keine oder keine ergiebigen Materialien vorhanden sein97, um eindeutige, über den Wortlaut hinausgehende Normzwecke zu ermitteln. Damit bleibt es dabei, dass die Ermittlung eines über den Wortlaut hinausgehenden Normzweckes oft eine eigene Wertung des Rechtsanwenders erfordert. Der Auslegungsbegriff der subjektiven Theorie umfasst im Ergebnis also auch Fälle, wo es zu Eigenwertungen kommen kann, nämlich die der Analogie und der teleologischen Reduktion. Bezüglich dieser Fälle ist sogar die objektive Theorie methodenehrlicher, weil sie die eigentliche Auslegung und die mit Eigenwertungen behaftete Rechtsfortbildung über Analogie und teleologische Reduktion anhand der Wortlautgrenze klar voneinander abgrenzt.98 Da somit subjektive wie objektive Theorie Eigenwertungen im Rahmen der Auslegung zulassen, garantieren beide keine vollständige Gesetzesbindung und entsprechen beide nicht uneingeschränkt dem Legitimitätsprinzip. Im Ergebnis ermöglichen beide Theorien also eine gewisse Flexibilität bei der Anpassung an neue Verhältnisse und beide Theorien weisen Legitimitätsdefizite auf. (c) Ergebnis: Entscheidung für die objektive Theorie mit der Wortlautgrenze Entscheiden soll daher die bessere Handhabbarkeit der einen oder anderen Theorie bei der Abgrenzung von Auslegung und Rechtsfortbildung. Die von der objektiven Theorie vertretene Wortlautgrenze hat eine besondere Klarheit und den Vorteil, dass man den Wortlaut einer Norm immer vorliegen hat. Den historischen Zweck einer Norm muss man hingegen erst mit Hilfe von Recherche ermitteln und oft werden die entsprechenden historischen Materialien nicht vorhanden oder nicht ergiebig sein99. Die Wortlautgrenze ermöglicht außerdem die besondere Sensibilisierung für Legitimitätsdefizite im Lückenbereich, da bei ihr Analogie und teleologische Reduktion der Rechtsfortbildung zugeordnet werden.100 Eigenwertungen innerhalb des Wortlautes einer Norm berücksichtigt die objektive Theorie hingegen nicht. Damit besteht die Gefahr, dass unter dem Deckmantel der Auslegung neues Recht geschaffen wird. Diese Gefahr kann man aber mindern, indem man für die objektive Theorie eine strikte Bindung an den Wortlaut sowie eine besondere Klarstellungs- und Begründungspflicht fordert, wenn vom historischen Zweck abgewichen wird. Im Ergebnis wird hier also ein verantwortungsvoller Umgang mit der objektiven Theorie vertreten, der die Abgrenzung von Auslegung und Lückenfüllung durch Analogie und teleologische Reduktion ermöglicht und gleichzeitig Auswüchse verdeckter Rechtsfortbildungen im Rahmen der Auslegung verhindert. 97
Kramer, Methodenlehre, II. 2. d) ee) (3) (S. 143). So z. B. BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 229. 99 s. o. Fn. 97. 100 Dazu ausführlicher unten B. III. 1. a). 98
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B. Theoretische Grundlagen
2. Vertragsrecht Eine noch direktere subjektive Legitimation als beim Gesetzesrecht ergibt sich über den Vertrag. Dort haben beide Parteien tatsächlich konkret einer Verpflichtung zugestimmt. Der Richter ist daher an vertraglich vereinbarte Regeln gebunden. Auch ein Vertrag muss aber unter Umständen ausgelegt werden und Lücken im Vertrag müssen eventuell gefüllt werden. a) Vertragsauslegung Ziel der Vertragsauslegung ist es, den übereinstimmenden wirklichen Willen der Parteien eines Vertrages zu ermitteln (§ 133 BGB und Art. 18 Abs. 1 OR101).102 Ergibt sich aus der Auslegung, dass ein übereinstimmender Wille nicht vorgelegen hat, weil der Erklärungsempfänger den Geschäftswillen des Erklärenden nicht verstanden hat, ist auf den Empfängerhorizont abzustellen.103 Es gilt das als Inhalt der Willenserklärung, was eine in der Situation des Erklärungsempfängers befindliche vernünftige Person bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt nach Treu und Glauben verstanden hätte.104 Die Bezugnahme auf eine „vernünftige“ Person, die „erforderliche“ Sorgfalt und „Treu und Glauben“ erlaubt es dem Richter, seine – subjektiven – aber in Bezug auf den Vertrag objektiven, weil von außen kommenden, Wertungen einzubringen. In Deutschland wird diese Vorgehensweise über § 157 BGB begründet.105 Nach dieser Vorschrift sind Verträge so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern. Damit erlaubt § 157 BGB die Heranziehung objektiver Maßstäbe bei der Vertragsauslegung.106 Im Gegensatz zu der unten unter b) gemachten Aussage zur vertraglichen Lückenfüllung ist bei der eigentlichen Vertragsauslegung die Bezugnahme auf objektive Maßstäbe aber vertretbar.107 Der Richter schafft nicht eine im Vertrag bisher nicht enthaltene neue Regel, sondern interpretiert eine vorhandene, um einen Interessenausgleich zwischen Erklärendem und Erklärungsempfänger zu erlangen. Mit der Aussage des
101 Bundesgesetz betreffend die Ergänzung des schweizerischen Zivilgesetzbuches (Fünfter Teil: Obligationenrecht) vom 30. März 1911 (AS 27, 317), aktuelle Fassung abgedruckt in SR 220. 102 MüKo-Säcker Einl. zum BGB Rn. 155; Schwenzer, OR AT, § 33 I. (Rn. 33.02); CR CO I-Winiger Art. 18 Rn. 14; BSK OR I-Wiegand Art. 18 Rn. 7 f. 103 MüKo-Säcker Einl. zum BGB Rn. 160 f.; Schwenzer, OR AT, § 33 I. (Rn. 33.02); Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 3 4. b) (S. 120); Kramer, Methodenlehre, II. 2. d) gg) (1) (S. 149 f.); CR CO I-Winiger Art. 18 Rn. 139. 104 MüKo-Säcker Einl. zum BGB Rn. 160 f.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 3 4. b) (S. 120); CR CO I-Winiger Art. 18 Rn. 139. 105 MüKo-Busche § 157 Rn. 12. 106 MüKo-Busche § 157 Rn. 2. 107 Zu objektiven Maßstäben bei der Gesetzesauslegung vgl. oben B. II. 1. b) bb).
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Erklärenden hat er eine Basis für seine Interpretation. Sein eigener wertender Beitrag und damit die Einflussnahme objektiver Kriterien bleiben dabei relativ gering. b) Vertragliche Lückenfüllung Ist demgegenüber eine bestimmte Frage in einem Vertrag überhaupt nicht geregelt worden, besteht also eine Vertragslücke, ist der Vertrag diesbezüglich zu ergänzen.108 Kann eine Vertragslücke nach dem Sinn des Vertragsganzen interessengerecht durch dispositives Gesetzesrecht geschlossen werden, kann man dieses anwenden.109 Eignet sich das dispositive Gesetzesrecht wegen der Atypik oder Individualität des Vertrages nicht zur Vertragsergänzung, ist auf den hypothetischen Parteiwillen abzustellen.110 Fraglich ist nun, wie man diesen hypothetischen Parteiwillen ermitteln sollte. Eine Orientierung am hypothetischen Parteiwillen bedeutet zunächst, herauszuarbeiten, was die Vertragspartner vereinbart hätten, wenn sie im Zeitpunkt des Vertragsschlusses die ungeregelt gebliebene Frage bedacht hätten. Dies kann man tun, indem man den Sinnzusammenhang des Vertrages, den Vertragszweck sowie den im Vertrag geregelten Interessenausgleich heranzieht.111 Dies sind alles Kriterien, die sich aus dem bereits geschlossenen Vertrag ergeben und somit dem subjektiven Willen der Parteien entsprechen. Man würde hier also ähnlich der Lückenfüllung beim Gesetzesrecht über eine Art Analogie zum bereits bestehenden Vertrag vorgehen.112 Es ist jedoch allgemeine Meinung, dass in die vertragliche Lückenfüllung auch objektive Gesichtspunkte einfließen sollen. Für eine in Deutschland und der Schweiz anerkannte Definition des hypothetischen Parteiwillens kommt es darauf an, was redliche Parteien in der Situation der Vertragspartner nach Treu und Glauben vereinbart hätten, wenn sie im Zeitpunkt des Vertragsschlusses die ungeregelt gebliebene Frage bedacht hätten.113 Die Forderung nach „Redlichkeit“ und die Bezugnahme auf „Treu und Glauben“ erlauben es dem Richter wieder, von außen seine – subjektiven – aber in Bezug auf den Vertrag objektiven Wertvorstellungen in diesen hineinzutragen.114 108
MüKo-Säcker, Einl zum BGB Rn. 156; Schwenzer, OR AT, § 34 I. (Rn. 34.01); Larenz/ Canaris, Methodenlehre, Kapitel 3 4. b) (S. 120 f.); BSK OR I-Wiegand Art. 18 Rn. 61. 109 MüKo-Säcker, Einl zum BGB Rn. 157; ähnlich Schwenzer, OR AT, § 34 II. (Rn. 34.06); Kramer, Methodenlehre, II. 2. d) gg) (4) (S. 151); BSK OR I-Wiegand Art. 18 Rn. 81. 110 MüKo-Säcker Einl. zum BGB Rn. 156 f.; Schwenzer, OR AT, § 34 II. (Rn. 34.06); Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 3 4. b) (S. 121 f.). 111 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 3 4. b) (S. 121); CR CO I-Winiger Art. 18 Rn. 164, 175 u. 178. 112 Dazu BK-Kramer Art. 18 OR Rn. 222 mit Beispielen. 113 MüKo-Busche § 157 Rn. 47 m.w.N.; Schwenzer, OR AT, § 34 II. (Rn. 34.04); BSK ZGB I-Honsell Art. 2 Rn. 15 m.w.N. 114 So auch BSK OR I-Wiegand Art. 18 Rn. 77 a.E.
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B. Theoretische Grundlagen
Möchte der Richter den hypothetischen Parteiwillen anhand objektiver Kriterien bestimmen, um die Vertragslücke zu füllen, schafft er also Vertragsrecht aufgrund eigener Wertung. Die von ihm so gefundenen Regeln können wesentlich vom tatsächlichen Parteiwillen abweichen. Mit der Anknüpfung an den Parteiwillen kann der Richter aber unter dem Deckmantel der Vertragsauslegung vorgehen. Nimmt er in diesem Fall beispielsweise eine stillschweigende Willenserklärung an, kann er besonders einfach eigenes Vertragsrecht unter dem Deckmantel der Vertragsauslegung schaffen.115 Bei einem solchen Vorgehen muss der Richter außerdem die von ihm benutzten objektiven Wertungen nicht mehr begründen, hat er das Ergebnis doch scheinbar mit Vertragsauslegung gefunden. Einschränkend zum Einfließen objektiver Gesichtspunkte in die vertragliche Lückenfüllung äußern sich so auch Larenz/Canaris, Kramer und Wiegand. Nach Larenz/Canaris darf der Richter nicht seine eigenen Wertungsmaßstäbe an die Stelle derjenigen der Vertragspartner setzen.116 Nach Kramer ist eine Vertragsergänzung über den hypothetischen Parteiwillen nur zulässig, wenn sich dieser verlässlich und ohne Zuhilfenahme von Fiktionen aus der konkreten Interessenlage, namentlich aus analogen vertraglichen Regelungen der Kontrahenten, ableiten lässt.117 Nach Wiegand ist der objektive Maßstab vernünftig handelnder Vertragsparteien lediglich anzulegen, sofern sich für den hypothetischen Parteiwillen keine Anknüpfungspunkte im Vertrag selbst ergeben.118 Es kann tatsächlich sein, dass der Vertrag selbst keine Anhaltspunkte für die Schließung einer Vertragslücke enthält. Dann kann man auch eine von außen kommende – objektive – Wertung vornehmen, um die Lücke zu füllen. Nur darf man dann nicht von Vertragsauslegung sprechen. Diese objektive Wertung muss man vielmehr eigenständig begründen, etwa über eine Analogie zum vorhandenen Gesetzesrecht. Hier wird somit vertreten, dass es sich bei der vertraglichen Lückenfüllung mit Hilfe objektiver Kriterien nicht mehr um Vertragsauslegung handelt. Schon die weiter oben erwähnte Lückenfüllung über eine Art Analogie zum bestehenden Vertrag ist nicht mehr eigentliche Vertragsauslegung. Dort knüpft man aber immerhin noch an den im Vertrag ausgedrückten tatsächlichen Parteiwillen an. Dieser Ansicht steht auch nicht § 157 BGB entgegen. Diese Norm erlaubt es zwar, objektive Aspekte in die Vertragsauslegung hineinzutragen. Sie bezieht sich nach ihrem Wortlaut jedoch nur auf die Vertragsauslegung. Sieht man die vertragliche
115 So auch BK-Kramer Art. 18 OR Rn. 221 a.E. Als Beispiel für ein solches Vorgehen s. u. die Analyse von RGZ 127, 218 unter bb) [C. I. 5. a)]. 116 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 3 4. b) (S. 121). 117 BK-Kramer Art. 19 – 20 OR Rn. 70. 118 BSK OR I-Wiegand Art. 18 Rn. 78 f.
II. Legitimes Recht
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Lückenfüllung anhand objektiver Kriterien nicht mehr als Auslegung an, ist § 157 BGB nicht anwendbar.119 In Deutschland wird die vertragliche Lückenfüllung zwar als ergänzende Vertragsauslegung bezeichnet.120 Es ist aber umstritten, ob die ergänzende Auslegung überhaupt noch als Auslegung zu qualifizieren ist.121 In der Schweiz wird durchgängig nur von Vertragsergänzung gesprochen.122 Damit gibt es in Deutschland und in der Schweiz Meinungen, die die vertragliche Lückenfüllung – etwa über den hypothetischen Parteiwillen – nicht als Auslegung bezeichnen. In beiden Ländern wird aber vertreten, dass der hypothetische Parteiwille anhand objektiver Kriterien bestimmt werden soll.123 Dies bedeutet, dass bei der vertraglichen Lückenfüllung objektive Elemente in etwas einfließen, das eigentlich nur subjektiv bestimmt werden kann, nämlich in den hypothetischen Parteiwillen. Vom hypothetischen Parteiwillen aus ist es dann nur noch ein kleiner Schritt für den Richter, statt von vertraglicher Lückenfüllung, davon zu sprechen, seine Lösung direkt aus dem Vertrag abgeleitet zu haben. Damit besteht in beiden Rechtsordnungen die Gefahr, dass objektive Elemente unter die Vertragsauslegung gefasst werden.124 Hier wird vertreten, die vertragliche Lückenfüllung anhand objektiver Kriterien ganz vom Parteiwillen loszulösen, um deutlich zu machen, dass der Richter selbst wertet, und ihn aufzufordern, diese Wertung zu begründen.
3. Gewohnheitsrecht Gewohnheitsrecht entsteht durch eine längere Zeit andauernde Übung (longa consuetudo), die auf einer Rechtsüberzeugung der beteiligten Rechtsgenossen beruht (opinio iuris oder necessitatis).125 Damit haben die beteiligten Personen jedenfalls stillschweigend der entsprechenden Regel zugestimmt, so dass eine gewisse subjektive Legitimation entsteht. Gewohnheitsrecht kann man also im hier verstandenen 119
So auch MüKo-Busche § 157 Rn. 28. MüKo-Busche § 157 Rn. 26; Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 3 4. b) (S. 120 f.). 121 MüKo-Busche § 157 Rn. 27 mit Nachweisen zum Streitstand in Fn. 76. 122 Schwenzer, OR AT, § 34 (Rn. 34.01); Kramer, Methodenlehre, II. 2. d) gg) (4) (S. 151); BSK OR I-Wiegand Art. 18 Rn. 57; CR CO I-Winiger Art. 18 Rn. 158. 123 s. o. Fn. 113. 124 Beispiele dafür finden sich in den Analysen von RGZ 127, 218 [C. I. 5. b)] unter bb), BGHZ 56, 269 [C. I. 5. b)] unter bb), BGHZ 97, 135 [C. I. 10. a)] unter bb), BGE 97 II 390 [D. I. 7. a)] unter bb) und BGE 123 III 292 [D. I. 12. a)] unter cc). 125 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 6 B. VII. (Rn. 232); Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 4 4. b) (S. 176); MüKo-Säcker Einl. zum BGB Rn. 93; Staudinger-Honsell, Einl zum BGB Rn. 234; BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 233; BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 20; Steinauer, Le Titre préliminaire du Code civil (Traité de droit privé suisse Vol. II Tome 1), § 5 II. (Rn. 394 ff.); Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 32; BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 418. 120
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B. Theoretische Grundlagen
Sinn als legitime Rechtsquelle betrachten und auch, wie in Art. 1 Abs. 2 ZGB gefordert, zur Lückenfüllung heranziehen. Zum Gewohnheitsrecht ist jedoch zu sagen, dass es in heutiger Zeit sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland nur noch geringe Bedeutung hat.126 In einer komplexen, pluralistischen Industriegesellschaft ist eine Bildung von Gewohnheitsrecht durch spontane, mit Rechtsüberzeugung befolgte Übung der Bürgerinnen und Bürger „von unten“ herauf praktisch gar nicht mehr denkbar.127 Zudem ist die Bildung eines einheitlichen Gewohnheitsrechts in den Proportionen des Flächenstaates mit einer viele Millionen zählenden Bevölkerung schwer vorstellbar.128 In der Schweiz sucht man daher vergeblich nach Entscheidungen, in denen eine Lücke gem. Art. 1 Abs. 2 ZGB mit Hilfe von Gewohnheitsrecht gefüllt wird.129 Dies bestätigt sich für die Schweiz und Deutschland auch in den in dieser Arbeit vorgenommenen Urteilsanalysen.130 In keinem der analysierten Urteile wird Gewohnheitsrecht auch nur erwähnt. Dieses Ergebnis sei hier vorweggenommen, da klargestellt werden soll, dass das Gewohnheitsrecht als solches für diese Arbeit keine Rolle mehr spielen wird. Es wird daher auch in den am Schluss der Arbeit gemachten Vorschlag einer Lückenfüllungsnorm131 nicht aufgenommen. Man kann jedoch diskutieren, ob nicht eventuell Richterrecht zu Gewohnheitsrecht werden kann.132
4. Richterrecht Unter Richterrecht werden nur die Entscheidungen der obersten Gerichte verstanden, da diese die Rechtsfragen mit letzter Verbindlichkeit entscheiden. Im Folgenden soll untersucht werden, ob man Richterrecht an sich als legitime Rechtsquelle betrachten oder ob man es eventuell dem Gewohnheitsrecht zuordnen kann. Beides wird hier verneint. Die Anwendung von Richterrecht bei der Rechtsfortbildung ist jedoch selbstverständlich möglich. In welcher Art und Weise die Richter darauf zurückgreifen können, wird hier dargelegt. In diesem Zusammenhang 126
Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 6 B. VII. (Rn. 232); Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 4 4. b) (S. 177); Staudinger-Honsell Einl zum BGB Rn. 234; BK-MeierHayoz Art. 1 ZGB Rn. 242; BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 21; Steinauer, Le Titre préliminaire du Code civil (Traité de droit privé suisse Vol. II Tome 1), § 2 A. 2. (Rn. 99); Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 35. 127 Kramer, Methodenlehre, III. 5. c) cc) (S. 223); ähnlich BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 431. 128 Staudinger-Honsell, Einl zum BGB Rn. 234. 129 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 432. 130 Unten C. und D. 131 s. u. E. II. 132 Vgl. dazu die Ausführungen unten unter B. II. 4. b).
II. Legitimes Recht
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wird außerdem auf die Frage der Präjudizienbindung eingegangen. Schließlich werden die Ergebnisse der Ausführungen in einer kurzen Schlussbetrachtung zusammengefasst. a) Legitimität von Richterrecht an sich Aus dem Legitimitätsprinzip ergibt sich – wie mehrfach erwähnt –, dass legitimes Recht nur entsteht, wenn die Bürger eines Staates ihm auf die eine oder die andere Weise zugestimmt haben. Eine solche Zustimmung erfolgt in einer repräsentativen Demokratie über die Wahl von Volksvertretern. Richter sind jedoch in der Regel keine Volksvertreter. Die Bundesrichter werden in Deutschland und der Schweiz jedenfalls nicht vom Volk bestimmt. In der Schweiz werden die Bundesrichter gem. Art. 5 Abs. 1 BGG133 von der Bundesversammlung gewählt. Darin liegt jedoch nur eine mittelbare demokratische Legitimation.134 In Deutschland erfolgt die Berufung von Bundesrichtern nach § 1 Abs. 1 RiWG135 durch den zuständigen Bundesminister gemeinsam mit dem Richterwahlausschuss. Der Richterwahlausschuss setzt sich nach § 2 ff. RiWG zusammen aus den Landesministern, zu deren Geschäftsbereich die dem jeweiligen obersten Gerichtshof im Instanzenzug untergeordnete Gerichte des Landes gehören, sowie von Mitgliedern gleicher Anzahl, die vom Bundestag gewählt werden. Der Richterwahlausschuss besteht also aus Mitgliedern der Exekutive sowie aus solchen, die von der Legislative bestimmt werden. Die Legislative hat damit nur einen sehr kleinen Einfluss auf die Richterwahl. In Deutschland ist die demokratische Legitimation der Richter also noch geringer als in der Schweiz. Aus dieser schwachen demokratischen Legitimation der Richter ergibt sich der Grundsatz, dass dem Gesetzgeber aufgrund des Gewaltenteilungsgrundsatzes eine Gesetzgebungsprärogative zukommen muss.136 Gesetze soll nur derjenige machen, der über die stärkste demokratische Legitimation verfügt. Die anderen Gewalten müssen sich an die Gesetze halten.137
133 Bundesgesetz über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz) vom 17. Juni 2005, in Kraft getreten am 1. Januar 2007, aktuelle Fassung abgedruckt in SR 173.110; vorher Bundesgesetz vom 16. Dezember 1943 über die Organisation der Bundesrechtspflege (Bundesrechtspflegegesetz, OG). 134 Kramer, Methodenlehre, IV. 7. b) (S. 299). 135 Richterwahlgesetz vom 25. August 1950 (BGBl. I S. 368), aktuelle Fassung abgedruckt in Sartorius, Verfassungs- und Verwaltungsgesetze Nr. 610. 136 Kramer, Methodenlehre, IV. 7. b) (S. 298 Fn. 999). 137 Zum Demokratieprinzip und der Gesetzesbindung der Richter s. auch oben B. II. 1. a).
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B. Theoretische Grundlagen
Da den Richtern die starke demokratische Legitimation fehlt, hat Richterrecht vorwiegend „oligarchischen“ Charakter.138 Die Bürger haben die Richter nicht beauftragt, für sie verbindlich Recht zu schaffen. Aus diesem Grund wird hier das Richterrecht nicht als Rechtsquelle betrachtet. In der schweizerischen und deutschen Literatur ist der Rechtsquellencharakter von Richterrecht umstritten.139 In Deutschland wird er von der h.L. verneint.140 Für eine Rechtsquelle wird teilweise ins Feld geführt, dass das Richterrecht eine faktische Geltung141 habe, indem sich die Instanzgerichte und der Rechtsverkehr unverzüglich darauf einstellten142 und das Richterrecht so gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern rechtliche Relevanz entfalte143. Diese faktische Geltung des Richterrechts soll hier nicht bestritten werden. Sie ändert jedoch nichts daran, dass der Richter zur Rechtssetzung nicht demokratisch legitimiert ist. Es bleibt dabei, dass dem Richterrecht keine normative Geltung im Sinne eines Sollen zukommt und es in diesem Sinne keine Rechtsquelle ist.144 b) Richterrecht als Gewohnheitsrecht? Man könnte sich jedoch fragen, ob Richterrecht zu Gewohnheitsrecht werden und über diesen Weg zu einer legitimen Rechtsquelle werden kann. Wie oben unter B. II. 3. festgestellt, verfügt Gewohnheitsrecht über eine gewisse subjektive Legitimation und kann somit als Rechtsquelle betrachtet werden. In der deutschen Literatur wird von der herrschenden Meinung vertreten, dass eine ständige höchstrichterliche Rechtsprechung Gewohnheitsrecht begründen könne.145 Dabei tritt neben die Rechtsüberzeugung an die Stelle der dauerhaften längeren Übung der längere Gerichtsgebrauch.146 Das bedeutet, dass ein Urteil über einen längeren Zeitraum durch andere Urteile und gegebenenfalls durch eine Ak138
Kramer, Methodenlehre, IV. 7. b) (S. 299); Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 22 A. II. 3. (Rn. 713). 139 Dafür Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 6 B. VIII. 3. (Rn. 243 f.), und Kramer, Methodenlehre, IV. 2. (S. 247 f.), Letzterer spricht von einer subsidiären Rechtsquelle oder einer Rechtsquelle sui generis; dagegen Steinauer, Le Titre préliminaire du Code civil (Traité de droit privé suisse Vol. II Tome 1), § 5 III. A. (Rn. 401), und Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 5. (S. 255). 140 Zum Meinungsstand in Deutschland Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 6 B. VIII. 2. (Rn. 236 ff.). 141 Zur faktischen Geltung Staudinger-Honsell Einl zum BGB Rn. 224, und Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 270. 142 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 6 B. VIII. 3. (Rn. 243 f.). 143 Kramer, Methodenlehre, IV. 2. (S. 247 f.). 144 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 5. (S. 255). 145 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 6 B. VIII. 2. a) Rn. 238. 146 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 6 B. VIII. 2. a) Rn. 238; Staudinger-Honsell Einl zum BGB Rn. 232.
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zeptanz in der rechtswissenschaftlichen Literatur bestätigt werden muss.147 Larenz/ Canaris sehen als entscheidendes Kriterium eine Akzeptanz in den beteiligten Kreisen, also nicht nur unter Juristen, an.148 In der Schweiz ist es herrschende Lehre, dass selbst eine langjährige, ununterbrochene und anerkannte Rechtsprechung per se kein Gewohnheitsrecht bildet.149 Gegen die Einordnung des Richterrechts als Gewohnheitsrecht wird ins Feld geführt, dass es nicht aus einem kollektiven Verhalten und der Rechtsüberzeugung der Bevölkerung erwachse, sondern von Richtern gesetztes Spezialistenrecht sei.150 Weiterhin liege die Kraft des Richterrechts nicht so sehr in dem zeitlichen Aspekt der häufigen Wiederholung, sondern eher in der Qualität der von den Richtern angeführten Argumente.151 Schließlich hätten die Richter immer die Möglichkeit, auch eine lang dauernde Rechtsprechungspraxis wieder zu ändern152. Dies sei auch wünschenswert, da gerade das abänderbare Richterrecht Flexibilität garantiere und eine Einordnung als Gewohnheitsrecht zu einer Erstarrung führen könne.153 Insgesamt lasse sich die Kategorie des Gewohnheitsrechts zur Erklärung des Richterrechts nicht heranziehen.154 Das Richterrecht sei ein eigenständiges Phänomen.155 Die schweizerischen Argumente sind durchweg überzeugend, so dass auch hier die Ansicht vertreten wird, dass man Richterrecht nicht als Gewohnheitsrecht betrachten kann. Selbst wenn man aber mit der deutschen Auffassung für bestimmte lange bestehende und anerkannte Rechtsinstitute wie die Sicherungsübereignung oder die culpa in contrahendo Gewohnheitsrecht annehmen will156, muss sich der Richter auch ausdrücklich auf Gewohnheitsrecht berufen, sofern er seine Entscheidung darauf stützt. Nur die entsprechenden Präjudizien zu zitieren, genügt dann nicht.
147
Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 6 B. VIII. 2. a) Rn. 238. Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 5. (S. 258). 149 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 423 m.w.N. 150 Kramer, Methodenlehre, IV. 2. (S. 245); Staudinger-Honsell Einl zum BGB Rn. 233. 151 BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 250; Staudinger-Honsell Einl zum BGB Rn. 233. 152 Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 37; BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 23; Staudinger-Honsell, Einl zum BGB Rn. 233. 153 Kramer, Methodenlehre, IV. 2. (S. 245 f.); Staudinger-Honsell Einl zum BGB Rn. 233. 154 Staudinger-Honsell, Einl zum BGB Rn. 233. 155 s. o. 156 Beispiele für die Annahme von Gewohnheitsrecht aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung bei Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 6 B. VIII. 2. a) (Rn. 238), und Larenz/ Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 5. (S. 258 f.). 148
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B. Theoretische Grundlagen
c) Anwendbarkeit von Richterrecht bei der Rechtsfortbildung Daraus, dass es sich beim Richterrecht nicht um eine Rechtsquelle handelt, folgt jedoch nicht, dass man es im Rahmen der Rechtsfortbildung nicht heranziehen darf. Im Gegenteil: Es kann und soll vielmehr bei Auslegung und Lückenfüllung als Hilfsmittel dienen. In der Schweiz wird das aus Art. 1 Abs. 3 ZGB abgeleitet.157 Genauso wie die Lehre ist es dabei lediglich Medium rechtlicher und außerrechtlicher Argumente.158 Nicht das Präjudiz als solches bindet, sondern allein die darin richtig ausgelegte oder konkretisierte Norm.159 Sieht man das Richterrecht in diesem Sinne als Hilfsmittel und nicht als Rechtsquelle, bedeutet das, dass man seine eigene Entscheidung nicht mit einem Pauschalverweis auf die Lösungen einer oder mehrerer Vorentscheidungen stützen darf.160 Es muss vielmehr auf die Begründungen der Vorentscheidungen Bezug genommen werden und diese müssen entweder hinsichtlich Auslegung und Lückenfüllung für die eigene Begründung fruchtbar gemacht oder aber durch eine bessere Begründung ersetzt werden. Ob die in einem Präjudiz vorgenommene Gesetzesauslegung oder Rechtsfortbildung nach dem geltenden Recht zutreffend ist, soll im Prinzip von jedem Richter erneut entschieden werden.161 Damit kann verhindert werden, dass sich fehlerhafte Entscheidungen oder auch nur fehlerhafte Begründungen über eine sogenannte „Rechtsprechungskette“ fortsetzen und dauerhaft das Gesetz untergraben.162 Setzt man sich hingegen mit Vorentscheidungen auseinander, gibt es die Chance, eine positive Rechtsprechungsentwicklung herbeizuführen, bei der die Ergebnisse und Begründungen mit der Zeit immer besser werden.163 d) Präjudizienbindung Gegen die Auseinandersetzung mit Vorentscheidungen spricht auch nicht die Annahme einer gewissen Präjudizienbindung im Sinne einer beschränkten Befolgungspflicht164 einer bestehenden gerichtlichen Praxis. Aus den Prinzipien der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes und der Rechtsgleichheit wird gefolgert, 157 Kramer, Methodenlehre, IV. 2. (S. 244); Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 49; BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 23. 158 Zur Lehre s. u. B. II. 5. 159 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 5. (S. 254). 160 So auch Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 5. (S. 254). 161 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 5. (S. 254). 162 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 5. (S. 254) mit Hinweis auf Germann. 163 Beispiele dafür sind die deutschen Urteile zur PVV [vgl. die Analysen unter C. I. 4. und dort insbesondere die Ausführungen in der Analyse von BGHZ 11, 80 unter cc)] und die schweizerischen Urteile zur Duldungspflicht von Immissionen, die durch notwenige Baumaßnahmen hervorgerufen werden (vgl. die Analysen unter D. I. 6.). 164 Für eine beschränkte Befolgungspflicht BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 500 m.w.N., Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 50, und ausführlich BK-MeierHayoz Art. 1 ZGB Rn. 474 ff.
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dass der Richter nicht ohne ernsthafte sachliche Gründe von einer bisherigen Rechtsprechung abweichen soll.165 Daraus ergibt sich eine Vermutung der sachlichen Richtigkeit von Präjudizien166, die der Richter oder die betroffene Partei erst durch entsprechende Argumentation entkräften müssen. Larenz/Canaris sprechen in diesem Zusammenhang von einer Umkehr der Argumentationslast.167 Diese Vermutung der sachlichen Richtigkeit kann jedoch widerlegt werden.168 Sie muss widerlegt werden, wenn der Richter zu der Überzeugung gelangt, dass die Vorentscheidung eine unrichtige Auslegung oder eine nicht hinreichend begründete Gesetzesfortbildung enthält.169 Die für die Befolgung von Präjudizien sprechenden Gesichtspunkte – vor allem die Wahrung der Rechtssicherheit – müssen dann hinter dem Gedanken der materiellen Entscheidungsrichtigkeit zurücktreten.170 Insgesamt hindert die beschränkte Befolgungspflicht den Richter nicht daran, sich mit den Begründungen der Vorentscheidungen auseinanderzusetzen und auf diese Bezug zu nehmen. Möchte er vom Ergebnis einer Vorentscheidung abweichen, wird zwar ein höherer Begründungsaufwand verlangt. Völlig unproblematisch ist es hingegen, wenn er nur die Begründung einer Auslegung oder Lückenfüllung in einer Vorentscheidung in Zweifel zieht, das Ergebnis aber gleich bleibt. e) Schlussbetrachtung Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass Richterrecht wegen der fehlenden demokratischen Legitimation keine normative Geltung hat und daher hier nicht als Rechtsquelle betrachtet wird. Damit stellt ein Pauschalverweis auf die Lösung von Vorentscheidungen keine am Legitimitätsgedanken orientierte Lückenfüllungsmöglichkeit dar. Die Begründungen von Vorentscheidungen können hingegen selbstverständlich zur Unterstützung der eigenen Argumentation herangezogen werden.
5. Lehre Auch für die Lehre gilt, dass legitimes Recht nur entsteht, wenn die Bürger eines Staates ihm auf die eine oder die andere Weise zugestimmt haben. Eine solche 165 Für das schweizerische Recht BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 489 u. 500, Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 56 f., und BSK-ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 39; für das deutsche Recht Staudinger-Honsell Einl zum BGB Rn. 230. 166 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 489 u. 500; Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 5. (S. 254 a.E.). 167 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 5. (S. 257). 168 MüKo-Schubert § 242 Rn. 38. 169 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 5. (S. 254). 170 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 5. (S. 254); Kramer, Methodenlehre, IV. 6. b) (S. 289 u. 292).
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Zustimmung ist bei in der Rechtswissenschaft vertretenen Lehrmeinungen nicht erfolgt. Es handelt sich um die Rechtsansichten eines oder mehrerer Rechtslehrer ohne demokratische Legitimation.171 Insofern stellt die Lehre kein legitimes Recht dar. Die Lehre ist keine Rechtsquelle.172 Dies bedeutet jedoch nicht, dass man die Lehre bei der Rechtsfortbildung nicht heranziehen darf. Im Gegenteil: Die Lehre kann die rechtlich denkbaren Entscheidungsalternativen aufarbeiten und die sich aus dem Rechtssystem ergebenden Wertungen aufzeigen.173 Damit kann sie den Richter bei Auslegung und Lückenfüllung unterstützen. Sie ist also keine Rechtsquelle, sondern ein Hilfsmittel der richterlichen Rechtsfindung.174 Die Lehre ist nur Medium primärer Inspirationsquellen, die da rechtliche und außerrechtliche Argumente sind.175 Aufgrund dieser rechtlichen oder außerrechtlichen Argumente muss der Richter eine Entscheidung treffen. Ein bloßer Hinweis auf die Lehre ohne eigene Begründung genügt daher nicht.176 Stützt der Richter sich nämlich auf eine Lehrmeinung, ohne deren Argumentation zu erörtern und eventuell für die eigene Begründung fruchtbar zu machen, behandelt er die Lehre wie eine Rechtsquelle. Da die Lehre aber keine Rechtsquelle ist, stellt ein solches Vorgehen keine am Legitimitätsgedanken orientierte Lückenfüllung dar. Wie bei der Rechtsprechung gilt jedoch, dass die Begründungen der Lehre selbstverständlich zur Unterstützung der eigenen Argumentation herangezogen werden können.
6. Rechtsvergleichung Zur rechtsvergleichenden Methode ist zu sagen, dass dem ausländischen Recht im innerstaatlichen Bereich zunächst keine Legitimität zukommt.177 Regelungen fremder Rechtsordnungen haben die Bürger des eigenen Staates nicht zugestimmt. Daraus ergibt sich, dass das innerstaatliche Recht dem ausländischen Recht immer vorzugehen hat. Besonders deutlich wird dies im Contra-legem-Bereich. Ein Richter kann eine ausländische Regel nicht an die Stelle einer innerstaatlichen Regel setzen. Rechtsvergleichung ist keine Rechtsquelle. 171
Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 6 B. IX. (Rn. 259 f.). Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 6 B. IX. (Rn. 261); MüKo-Säcker Einl. zum BGB Rn. 102 a.E.; BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 480; BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 444 f. 173 MüKo-Säcker Einl. zum BGB Rn. 102. Ausführlich zur Unterstützungsfunktion der Lehre für die Rechtsprechung auch Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 1 5. (S. 55 ff.). 174 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 480; Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 275; BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 442. 175 Kramer, Methodenlehre, IV. 3. c) bb) (S. 256 f.). 176 BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 442. 177 So auch Kadner Graziano RIW 2014, S. 473 ff. (S. 479 und 486). 172
II. Legitimes Recht
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Dies spricht jedoch nicht dagegen, sich der rechtsvergleichenden Methode als Hilfsmittel bei der Auslegung zu bedienen. Dort befindet man sich nämlich innerhalb des nationalen Rechts, das die Legitimität garantiert. Solange die Auslegung mit Hilfe der rechtsvergleichenden Methode nicht dazu führt, dass man die Wortlautgrenze überschreitet und in den Contra-legem-Bereich gelangt, ist gegen eine solche Anwendung der Rechtsvergleichung aus Legitimitätsgesichtspunkten nichts einzuwenden. Fraglich ist jedoch, welche Rolle der Rechtsvergleichung im Lückenbereich zukommen kann. Da dort keine nationale gesetzliche Regel existiert, ist die Legitimität richterlichen Handelns problematisch. Da das ausländische Recht im innerstaatlichen Bereich aber keine Legitimität besitzt, kann es dieses Problem auch nicht lösen. Eine gewisse Legitimität kann man nur mittels einer gesetzesnahen Lückenfüllung über eine Analogie oder ähnliche Methoden erreichen178. Sind diese Methoden nicht zielführend, kann der Richter nur noch mit außerrechtlichen Argumenten arbeiten179. In diese Vorgehensweise hat sich die Rechtsvergleichung einzureihen. Bei der Verwendung von Analogie kann sie nur in eingeschränkter Form als Hilfsmittel zum Einsatz kommen, da es dort vor allem um die Ableitung von Wertungen aus der eigenen Rechtsordnung geht. Zu denken ist etwa an die Kontrastfunktion180 der Rechtsvergleichung, die die in der eigenen Rechtsordnung enthaltenen Wertungen klarer zu Tage treten lässt. Zur Grundlage seiner Entscheidung machen kann der Richter eine ausländische Lösung nur dann, wenn es keine nationale gesetzesnahe Lückenfüllungsmöglichkeit mehr gibt. Da ausländisches Recht im Inland keine Legitimität besitzt, ist eine nationale gesetzesnahe Lückenfüllung gegenüber aus der Rechtsvergleichung abgeleiteten Lösungen vorrangig. In der Schweiz wird die Rechtsvergleichung dann auch der Gesetzgebungslösung des Art. 1 Abs. 2 ZGB zugeschlagen181, die ihrerseits erst jenseits der gesetzesnahen Lückenfüllung zur Anwendung kommt182. Die Rechtsvergleichung kann jedoch bei der freien Rechtsfindung im Lückenbereich besonders hilfreich sein, da man sich dabei ja auf Recht bezieht, wenn auch nicht auf das eigene. Sofern keine gesetzesnahe Lückenfüllung mehr möglich ist, muss der Richter aufgrund eigener Wertung entscheiden. Diese Wertung kann ihm auch die Rechtsvergleichung nicht abnehmen. Sie kann aber insofern als Verobjektivierungsfaktor183 dienen, als sie seine Entscheidung auf eine breitere Basis stellt. In ihrer Informationsfunktion ermöglicht sie es dem Richter, seinen juristischen 178
Zur gesetzesnahen Lückenfüllung s. u. B. III. 2. a). Zur gesetzesunabhängigen Rechtsfortbildung s. u. B. III. 2. b) bb). 180 Kadner Graziano RIW 2014, S. 473 ff. (S. 482 f.). 181 BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 368; BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 36; Steinauer, Le Titre préliminaire du Code civil (Traité de droit privé suisse Vol. II Tome ), § 5 III. C. (Rn. 408). 182 Dazu unten B. V. 2. c) aa). 183 Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 271; BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 365. 179
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B. Theoretische Grundlagen
Horizont zu erweitern, indem sie das Spektrum möglicher Lösungsmöglichkeiten vergrößert.184 Des Weiteren kann sie bei der Folgenabschätzung einer bestimmten Lösung unterstützen, da sie sich ja auf ausländische Regelungen bezieht, die bereits in Kraft sind.185 Damit hilft die Rechtsvergleichung dem Richter, den Qualitätsanforderungen, die an seine Begründung im Rahmen der Gesetzgebungslösung186 und insgesamt im Bereich jenseits der gesetzesnahen Lückenfüllung gestellt werden, besser gerecht zu werden. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Rechtsvergleichung im innerstaatlichen Bereich nicht als Rechtsquelle zu betrachten ist, jedoch wie die Rechtsprechung und Lehre als Hilfsmittel bei Auslegung und Lückenfüllung zum Einsatz kommen kann.
7. Ergebnis Da das Gewohnheitsrecht heute praktisch bedeutungslos ist, sind die Rechtsquellen, auf die man sich im Sinne einer am Legitimitätsgedanken orientierten Methode berufen kann, das Gesetzes- und das Vertragsrecht. Da auch Verträge zu einem großen Teil dem Gesetzesrecht unterworfen sind, lässt sich vereinfachend sagen, dass das Gesetzesrecht die wichtigste Rechtsquelle einer dem Legitimitätsprinzip entsprechenden Rechtsanwendung ist. Richterrecht, Lehre und Rechtsvergleichung sind Hilfsmittel, um den Gesetzesinhalt und die gesetzlichen Wertungen klarer zu Tage treten zu lassen. Rechtsvergleichung hilft zusätzlich bei eigenen Wertungen des Richters. Daraus ergibt sich der einfache Grundsatz, dass die Grundlage einer auf dem Legitimitätsgedanken basierenden Methode die Anwendung des Gesetzesrechts ist.187
III. Grenzen des legitimen Rechts Rechtsfortbildung geschieht aber in der Regel in einem Bereich, wo kein Gesetzesrecht mehr vorhanden ist, das den Fall lösen könnte. Da ein Gesetzgeber nicht alle in Frage kommenden Fälle im Voraus bedenken kann, ist das Gesetz notwendigerweise lückenhaft.188 In solchen Regelungslücken besteht zunächst keine sub184
Kadner Graziano RIW 2014, S. 473 ff. (S. 482). Kadner Graziano RIW 2014, S. 473 ff. (S. 483 f.). 186 Zu den Anforderungen an die Begründung im Rahmen der Gesetzgebungslösung vgl. unten B. V. 2. c) bb) (2). 187 Ähnlich Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 22 A. II. 2. a) (Rn. 706). Zu den Konsequenzen dieser Ansicht für die Lückenfüllung vgl. unten B. II. 2. 188 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 1. (S. 187). 185
III. Grenzen des legitimen Rechts
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jektive Legitimation. Fraglich ist nun, wie der Richter bei der Lückenfüllung eine sich am Legitimitätsgedanken orientierende Methode beachten kann. Zunächst muss er die Reichweite des Gesetzesrechts genau bestimmen, d. h. er muss klären, dass der in Frage stehende Fall tatsächlich nicht mehr mit Gesetzesrecht zu lösen ist. Im zweiten Schritt gilt es, bei der Lückenfüllung möglichst gesetzesnah vorzugehen, d. h. sich möglichst am Gesetzesrecht zu orientieren, um einer subjektiven Legitimation zumindest nahe zu kommen. Im Folgenden werden daher die Bestimmung der Grenzen der Auslegung sowie die Vorgehensweise bei der Lückenfüllung behandelt.
1. Grenzen der Auslegung Um die Reichweite des Gesetzesrechts zu bestimmen, muss man es auslegen.189 In dem Moment, wo man mit der Auslegung nicht mehr weiterkommt, hat man die Grenzen der Auslegung erreicht. Die Grenzen der Auslegung zu bestimmen, ist deshalb besonders wichtig, weil jenseits des Gesetzesrechts – im Lückenbereich – die Legitimität einer richterlichen Entscheidung problematisch ist. Aus staatsrechtlicher Sicht könnte man sagen, dass der Richter bei der Auslegung noch die ihm von der Gewaltenteilung zugedachte Funktion der Gesetzesanwendung erfüllt, während er bei der Rechtsfortbildung beginnt, Funktionen der Legislative wahrzunehmen.190 Ein Schweigen des Gesetzes als Lücke offen zu legen, ist zudem ein Gebot richterlicher Methodenehrlichkeit.191 Neben dem Erreichen der Grenzen der Auslegung ist Voraussetzung der Lückenfüllung das Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke. Nach einer Definition der Grenze der Auslegung als Wortlautgrenze wird deswegen erklärt, was unter einer planwidrigen Regelungslücke zu verstehen ist. Schließlich soll hier noch kurz auf die Grenze der Analogie eingegangen werden, da es sich dort wie bei den Grenzen der Auslegung um eine Legitimitätsgrenze handelt. a) Wortlautgrenze Als Grenze der Auslegung wird hier der mögliche Wortsinn einer Norm verstanden.192 Grund dafür ist wieder der Legitimitätsgedanke. Es kann zwar auch innerhalb des Wortlautes einer Norm zu Eigenwertungen durch den Rechtsanwender und damit zu Abweichungen vom Legitimitätsprinzip kommen.193 Besonders au189 190 191 192 193
Zu den Auslegungsmethoden vgl. oben B. II. 1. b) aa). Diesen Ansatz verfolgen Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 22 E. V. 1. (Rn. 755b). Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 22 B. I. 2. (Rn. 724 a.E.). Vgl. auch die Ausführungen oben unter B. II. 1. b) bb) (2) (c). Dazu oben B. II. 1. b) bb) (2).
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B. Theoretische Grundlagen
genfällig wird dies aber bei der Unterscheidung zwischen direkter und analoger Anwendung eines Gesetzes im Lückenbereich. Wendet man ein Gesetz analog an, ist die subjektive Legitimation geringer194, da die Analogie immer mit Eigenwertungen behaftet ist. Um diese Legitimitätsdefizite im Lückenbereich deutlich zu machen, wird hier die Wortlautgrenze als Abgrenzungskriterium von Auslegung und Analogie vertreten.195 Die Wortlautgrenze markiert diese Schwelle zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung besonders klar und fördert so ein methodenbewusstes und methodenehrliches Vorgehen.196 Natürlich kann man argumentieren, dass die Grenzen zwischen Auslegung und Lückenfüllung fließend seien197 und dass es nur einen graduellen Unterschied198 gebe. Ein Argument dafür ist – wie bereits oben erwähnt –, dass auch die Auslegung nie reine Gesetzesanwendung ist, sondern dass auch bei ihr eigene Wertungen des Richters mit einfließen. Die Wortlautgrenze ist aber dennoch sinnvoll, weil sie den Richter für die zunächst fehlende subjektive Legitimation im Lückenbereich sensibilisiert.199 Zudem überwiegen in der Praxis die Rechtsfindungsprobleme, die klar dem einen oder dem anderen Bereich zuzuordnen sind.200
b) Lückenbegriff Hat man die Grenzen der Auslegung erreicht, gilt es festzustellen, ob eine Regelungslücke besteht. Eine Lücke soll hier zunächst entsprechend der Definition von Canaris201 als planwidrige Unvollständigkeit des positiven Rechts betrachtet werden. Für die Schweiz folgen diesem Lückenbegriff u. a. Kramer202, Honsell203 und Emmenegger/Tschentscher204. Canaris bleibt jedoch nicht bei dieser Definition, sondern erweitert sie folgendermaßen: „Eine Lücke ist eine planwidrige Unvollständigkeit innerhalb des posi194
Zur Begrenztheit der Analogie vgl. unten B. III. 1. c). So für Deutschland statt vieler auch Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 4 2. a) (S. 143 ff.) m.w.N. in Fn. 23; für die Schweiz umfangreiche Nachweise zu dieser Meinung bei BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 158 Fn. 431. 196 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 159. 197 Dazu Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 4 2. a) (S. 143 f.), und Kramer, Methodenlehre, II. 1. (S. 57 f.); weitere Kritikpunkte aufgeführt bei BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 232 ff. 198 Erklärend dazu BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 139. 199 Ähnlich Kramer, Methodenlehre, II. 1. (S. 56 f.). 200 Kramer, Methodenlehre, II. 1. (S. 56). 201 Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, § 19 (S. 30). 202 Kramer, Methodenlehre, III. 3. a) (S. 191). 203 BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 27. 204 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 344 m.w.N. in Fn. 885. 195
III. Grenzen des legitimen Rechts
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tiven Rechts gemessen am Maßstab der gesamten Rechtsordnung“.205 Mit anderen Worten: „Eine Lücke liegt vor, wenn das Gesetz innerhalb der Grenzen seines möglichen Wortsinns […] eine Regelung nicht [enthält], obwohl die Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit eine solche fordert“.206 Fraglich ist dabei, was mit der gesamten Rechtsordnung gemeint ist. Canaris meint damit auch außergesetzliche Maßstäbe, die er aber nicht als außerrechtliche sieht.207 Er leitet vielmehr aus der Formulierung „Gesetz und Recht“ des Art. 20 III GG her, dass es rechtliche Bewertungsgrundlagen gibt, die außerhalb der Teleologie des Gesetzes stehen.208 Als Beispiel führt er allgemeine Rechtsprinzipien und übergesetzliche Werte an.209 Hinsichtlich der allgemeinen Rechtsprinzipien ist schon deren eigenständige Bedeutung fraglich. Rechtsprinzipien sind entweder direkt in einer einfachgesetzlichen oder einer Verfassungsbestimmung positiviert oder aber man leitet sie per Rechtsanalogie aus mehreren Gesetzesbestimmungen ab.210 In diesen Fällen handelt es sich um Prinzipien, die sich aus der Teleologie des Gesetzes ergeben, also gesetzliche sind. Möchte man die Prinzipien nicht aus dem Gesetzesrecht ableiten, sind es übergesetzliche Prinzipien, die sich nicht von den von Canaris genannten übergesetzlichen Werten unterscheiden. Nach hier vertretener Ansicht kann die Rechtsordnung nur aus dem demokratisch legitimierten einfachgesetzlichen sowie dem Verfassungsrecht bestehen. Übergesetzliche Wertungen könnten nur dann von Bedeutung sein, wenn sie mit dem positiven Recht in Konflikt treten. Dies ist jedoch unter der Herrschaft des Grundgesetzes schwer denkbar, da dort die wesentlichen Gerechtigkeitsvorstellungen verwirklich sind.211 Unter diesen Voraussetzungen bleibt für außergesetzliche Wertungen nur ein sehr kleiner Anwendungsbereich bei der Rechtfortbildung, nämlich dann, wenn eine Lückenfüllung in gesetzesnaher Weise nicht mehr möglich ist.212 Für die Lückendefinition sind sie damit nicht von Bedeutung. Nach hier vertretener Ansicht ist eine Bezugnahme auf die Rechtsordnung als Ganzes bei der Lückendefinition sinnvoll, da das positive Recht ein System bildet, aus dessen Gesamtzusammenhang man am besten auf das Vorliegen einer Lücke schließen kann. Unter dem Begriff Rechtsordnung wird hier aber im Gegensatz zur Vorgehensweise bei Canaris aus oben genannten Gründen nur das positive Recht verstanden.
205 206 207 208 209 210 211 212
Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, § 29 (S. 39). s. o. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, § 28 (S. 37). s. o.; zu Art. 20 III GG näher unten B. V. 1. b). s. o. Dazu näher unten B. III. 2. a) cc). Dazu näher unten B. V. 1. b) zu Art. 20 III GG. Dazu unten B. III. 2. b) aa).
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B. Theoretische Grundlagen
Kernpunkt der Lückendefinition bleibt jedoch die planwidrige Unvollständigkeit. Die Unvollständigkeit hat man dann festgestellt, wenn man zu dem Ergebnis gekommen ist, dass der in Frage stehende Fall mit Auslegung nicht zu lösen ist. Die oben unter B. III. 1. a) dargestellte Bestimmung der Grenzen der Auslegung ist also eine Voraussetzung des Vorliegens einer Regelungslücke. Als weitere Voraussetzung kommt die Planwidrigkeit hinzu. Planwidrigkeit bedeutet, dass kein qualifiziertes Schweigen des Gesetzes vorliegt.213 Auf der Grundlage dieser Definition kann man verschiedene Lückenarten unterscheiden. aa) Planwidrigkeit Ein beredtes oder qualifiziertes Schweigen bedeutet, dass der Gesetzgeber eine bestimmte Frage bewusst nicht geregelt hat.214 Er wollte diese Frage durch die Nichtregelung negativ beantworten, etwa in dem Sinne, dass ein Anspruch für eine gewissen Personengruppe nicht bestehen oder eine bestimmte Art von Sachen der rechtlichen Normierung nicht unterworfen sein sollte.215 Möchte man eine Regelungslücke feststellen, muss man vorher prüfen, ob nicht ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzes vorliegt.216 Dies kann man auf verschiedene Art und Weise tun. Zunächst kann man mit Hilfe der historischen Auslegung versuchen, herauszufinden, ob der Gesetzgeber die Regelung einer bestimmten Frage bewusst unterlassen oder ob er sie nur übersehen hat.217 Ist diese Bezugnahme auf die Entstehungsgeschichte des Gesetzes nicht aufschlussreich, muss man sich an das Gesetz selbst halten. Dort kommen zwei einander entgegenstehende Schlussformen in Betracht, um ein qualifiziertes Schweigen entweder zu bejahen oder abzulehnen, nämlich der Umkehrschluss (argumentum e contrario) und der Analogieschluss.218 Beide orientieren sich an der Teleologie des Gesetzes.219 Entspricht der zu beurteilende Sachverhalt wertungsmäßig nicht den gesetzlich geregelten Sachverhalten, so folgt daraus zwingend der Umkehrschluss.220 Eine planwidrige Regelungslücke ist dann zu verneinen. Gibt es aber diese wertungsmäßige Entsprechung, ist der Analogieschluss anzuwenden.221 Dann liegt eine planwidrige Regelungslücke vor. Mit der Anwendung der Analogie betreibt man 213
BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 348. Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 23 B. I. 2. c) (Rn. 838); Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. a) (S. 191); BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 32. 215 BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 255. 216 Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 223. 217 BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 33. 218 Kramer, Methodenlehre, III. 5. a) ii) (S. 212 f.). 219 Kramer, Methodenlehre, III. 5. a) ii) (S. 213). 220 s. o. und Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. b) (S. 209 f.). 221 s. o. 214
III. Grenzen des legitimen Rechts
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jedoch auch bereits Lückenfüllung. Der Analogieschluss hat also einen doppelten Effekt: Zum einen schließt er ein qualifiziertes Schweigen aus und zum anderen dient er der Lückenfüllung. Der Umkehrschluss dient zwar nicht der Lückenfüllung, da seine Bejahung immer zur Feststellung eines qualifizierten Schweigens führt222 und seine Verneinung lediglich zur Feststellung einer planwidrigen Regelungslücke. Er ist als Pendant des Analogieschlusses aber immer im Zusammenhang mit diesem zu prüfen. Um diese Argumentation nicht auseinanderzureißen, wird der Umkehrschluss in dem den Urteilsanalysen zugrundliegenden Schema223 der Lückenfüllung zugeschlagen, auch wenn er im Ergebnis nicht der Lückenfüllung dient.224 Aus dem Ganzen folgt, dass man eine Aussage über das qualifizierte Schweigen zum einen mit einer Auslegungsmethode (historische Auslegung) und zum anderen im Rahmen der Lückenfüllung mit Analogie oder Umkehrschluss machen kann. Die Bestimmung des qualifizierten Schweigens lässt sich so nicht eindeutig in die für die Urteilsanalysen verwandten Kategorien „Grenzen der Auslegung“ und „Lückenfüllung“ einordnen.225 Bei den Urteilsanalysen wird daher folgendermaßen vorgegangen: Wird das qualifizierte Schweigen mit Hilfe der historischen Auslegung bestimmt, wird es unter dem Punkt „Grenzen der Auslegung“ abgehandelt. Wird die Frage nach dem qualifizierten Schweigens hingegen mit Analogie oder Umkehrschluss beantwortet, wird es unter dem Punkt „Lückenfüllung“ besprochen. bb) Lückenarten In der Literatur werden zahlreiche Lückenarten aufgezählt, deren Unterscheidung zum großen Teil praktisch nicht bedeutsam ist.226 Hier sollen daher nur diejenigen Lückenarten unterschieden werden, die auch zu einer unterschiedlichen methodischen Vorgehensweise bei der Lückenfüllung führen. Diese Lückenarten können so zum Verständnis der jeweiligen Lückenfüllungsmethode beitragen. Dabei soll der Einteilung von Kramer227 gefolgt werden, der als wesentliche Kategorien die Lücken intra legem, die offenen Lücken und die verdeckten Lücken oder Ausnahmelücken nennt. 222
Kramer, Methodenlehre, III. 5. a) ii) (S. 212 f.); Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. b) (S. 209 f.). 223 Vgl. unten B. VI. 2. 224 Für eine Zuordnung des Umkehrschlusses zur Auslegung BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 256. 225 Zu den Kategorien der Urteilsanalysen s. u. B. VI. 2. 226 Kramer, Methodenlehre, III. 4. a) (S. 193); BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 29 m.w.N.; BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 297 ff. m.w.N.; Darstellung weniger relevanter Lückenarten außerdem bei BK-Emmenegger-Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 354 ff., und Rüthers/Fischer/ Birk, Rechtstheorie, § 23 B. II. (Rn. 841 ff.). 227 Kramer, Methodenlehre, III. 4. (S. 193 ff.).
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B. Theoretische Grundlagen
(1) Lücken intra legem Als Lücken intra legem oder Delegationslücken228 werden die Fälle verstanden, in denen das Gesetz so unbestimmt ist, dass sich mit Auslegung kein Ergebnis erzielen lässt.229 Es handelt sich um generalklauselhafte Regelungen oder Verweisungen auf richterliches Ermessen, in denen zwar formal eine gesetzliche Regel vorliegt, die rechtliche Bewertung eines Problems aber bewusst an die Gerichte delegiert wird.230 In diesem Sinne geht es zwar nicht um eine planwidrige Unvollständigkeit, sondern um eine planmäßige Offenheit des Gesetzes.231 Da der Gesetzgeber hier aber bewusst Kompetenzen an die Gerichte abgibt, besteht erst recht eine Befugnis zur Lückenfüllung. Ein wichtiges Beispiel dafür sind die Generalklauseln des § 242 BGB und des Art. 2 Abs. 1 ZGB mit ihrem Hinweis auf Treu und Glauben. Fraglich ist, wie diese Delegationslücken zu füllen sind. Bei den Delegationslücken ist zwar formal eine gesetzliche Regelung vorhanden. Diese ist jedoch so unbestimmt, dass der Richter eine eigene Wertung vornehmen muss, um zu einem konkreten Ergebnis zu kommen. In diesem Sinne ist keine gesetzliche Regelung vorhanden und es besteht ein Legitimitätsdefizit.232 Sofern dies möglich ist, ist daher auch bei dieser Art von Lücken in der unten unter B. III. 2. a) beschriebenen Weise gesetzesnah vorzugehen. Gibt es diese Möglichkeit nicht, ist eine eigene Wertung des Richters aber zulässig. Generalklauseln und unbestimmt formulierte Begriffe erlauben die eigene Wertung des Richters immer nur in begrenzter Art und Weise, nämlich im Rahmen der jeweiligen gesetzlichen Regelung. Das Gesetz gibt Hinweise, wie eine bestimmte Frage zu behandeln ist, ohne sie vollständig zu lösen.233 So erlaubt der Verweis auf „Treu und Glauben“ in § 242 BGB und Art. 2 Abs. 1 ZGB nur die Beurteilung des Verhaltens der Beteiligten an einem Schuld- oder Rechtsverhältnis.234 Das „sonstige Recht“ in § 823 I BGB muss ein absolutes Recht sein, da es in einem Zug mit anderen absoluten Recht genannt wird.235 Für die Möglichkeit der eigenen Wertung des Richters im Rahmen von Generalklauseln spricht zudem, dass
228 BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 262; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 23 B. II. 5. (Rn. 860 a.E.); Nachweise zu dieser Bezeichnung außerdem bei BK-Emmenegger/ Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 367 in Fn. 923. 229 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 367. 230 Kramer, Methodenlehre, III. 4. c) (S. 195). 231 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 370. 232 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 370 sprechen von verfassungsrechtlichen Grenzen, Kramer, Methodenlehre, II. 2. b) dd) (2) (S. 72 f.) von einem Spannungsverhältnis zum staatsrechtlichen Gewaltenteilungsmodell. Zur Legitimität aufgrund gesetzlicher Ermächtigung zur Lückenfüllung vgl. unten B. V. 3. 233 BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 263. 234 Zur Notwendigkeit der Besinnung auf den Wortlaut von § 242 BGB vgl. die Ausführungen unter B. V. 1. c) aa). 235 Vgl. dazu die Analyse von RGZ 56, 271 [C. I. 1. a)] unter bb).
III. Grenzen des legitimen Rechts
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Generalklauseln eine gewisse Flexibilität und Anpassungsfähigkeit des Rechts an veränderte gesellschaftliche Werte bewirken.236 Hier wird daher vertreten, dass man diese eigene Wertung des Richters in den Grenzen der jeweiligen Norm zugunsten einer Flexibilität des Rechts trotz des Legitimitätsdefizits in Kauf nehmen sollte. (2) Offene und verdeckte Lücken Statt von offenen und verdeckten Lücken wird in der traditionellen Methodenlehre von echten und unechten Lücken gesprochen.237 Da diese Terminologie aber den Anschein erweckt, die „unechten“ Lücken hätten lediglich Scheinqualität, wird diese Begrifflichkeit von vielen abgelehnt.238 Larenz/Canaris sprechen von offenen und verdeckten Lücken.239 Kramer spricht statt von verdeckten Lücken von Ausnahmelücken.240 Hier soll im Folgenden von offenen und verdeckten Lücken gesprochen werden, da dadurch das Spiegelbildliche241 beider Lückenarten am besten deutlich wird. Die Beschreibung der offenen Lücke entspricht der oben unter B. III. 1. b) angeführten Lückendefinition. Eine offene Lücke liegt damit vor, wenn das bis zur Grenze des möglichen Wortsinns interpretierte Gesetz planwidrig eine gewisse Rechtsfrage nicht regelt.242 Dabei ist es jedoch keinesfalls immer offensichtlich, dass eine offene Lücke vorliegt.243 In vielen Fällen muss das Fehlen einer positiven gesetzlichen Anordnung erst mit Hilfe teleologischer Erwägungen festgestellt werden.244 Da nach dem hier zugrunde gelegten Lückenbegriff eine planwidrige Unvollständigkeit unter Bezugnahme auf die Rechtsordnung als Ganzes vorliegen muss245, kann man für diese teleologischen Erwägungen auf Grundsätze zurückgreifen, die die gesamte Rechtsordnung beherrschen. Dazu gehört auch der in Deutschland in Art. 3 GG und in der Schweiz in Art. 8 BV geregelte Gleichheitssatz. Wendet man den Gleichheitssatz bei der Lückenfeststellung an, ergibt sich Folgendes: Sofern ein nicht geregelter Fall einem geregelten Fall wertungsmäßig ent236
Kramer, Methodenlehre, II. 2. b) dd) (2) (S. 74 f.). Kramer, Methodenlehre, III. 4. d) (S. 196) mit Nachweisen in Fn. 593; außerdem BKMeier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 271 ff. 238 Kramer, Methodenlehre, III. 4. d) (S. 196) mit Nachweisen in Fn. 595. 239 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. a) (S. 198). 240 Kramer, Methodenlehre, III. 4. e) (S. 199 ff.). 241 Kramer, Methodenlehre, III. 4. e) (S. 200 oben). 242 Kramer, Methodenlehre, III. 4. d) (S. 197); Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. a) (S. 198); BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 274; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 23 B. II. 2. (Rn. 847) 243 Kramer, Methodenlehre, III. 4. d) (S. 199). 244 s. o. 245 Vgl. oben B. III. 1. b) a.E. 237
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B. Theoretische Grundlagen
spricht, folgt aus dem Grundsatz der Gleichbehandlung des Gleichartigen, dass dieser Fall entsprechend geregelt sein müsste.246 Da dies nicht der Fall ist, besteht eine Gesetzeslücke.247 Aus der vorangegangenen Argumentation ergibt sich auch, wie offene Lücken idealerweise zu füllen sind. Entspricht ein nicht geregelter Fall wertungsmäßig einem geregelten Fall, ist die Regelung des Letzteren auf den Ersteren analog anzuwenden. Offene Lücken sind also vorrangig durch Analogie zu füllen.248 Eine verdeckte Lücke liegt vor, wenn ein Fall vom klaren Wortlaut einer Norm erfasst wird, nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift und nach dem negativen Gleichheitssatz, dass Ungleiches ungleich behandelt werden sollte, aber nicht erfasst sein sollte.249 Die verdeckte Lücke verhält sich so spiegelbildlich zur offenen Lücke.250 Ist bei der offenen Lücke der Wortlaut einer Norm gemessen am Sinn und Zweck des Gesetzes zu eng, so ist er bei der verdeckten Lücke zu weit.251 Man kann auch davon sprechen, dass bei der verdeckten Lücke eine Einschränkung des gesetzlichen Wortlautes fehlt.252 Verdeckte Lücken werden daher so gefüllt, dass der Wortlaut der betroffenen Norm entsprechend ihrem Sinn und Zweck eingeschränkt (reduziert) wird.253 Diese Vorgehensweise bezeichnet man als teleologische Reduktion.254 Wie die offene und die verdeckte Lücke verhalten sich auch die Analogie und die teleologische Reduktion spiegelbildlich zueinander.255 Bei der Analogie wird der Wortlaut einer Norm entsprechend ihrem Sinn und Zweck ausgedehnt, bei der teleologischen Reduktion wird er auf diese Weise eingeschränkt. c) Grenze der Analogie (zweite Grenze) Bei der Rechtsfortbildung ist neben der eigentlichen Grenze der Auslegung, die oben unter B. III. 1. a) als Wortlautgrenze definiert wurde, noch eine zweite Legitimitätsgrenze zu beachten. Dem Legitimitätsgedanken entspricht als wichtigste 246
Kramer, Methodenlehre, III. 4. d) (S. 199); Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. a) (S. 195 a.E.). 247 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. a) (S. 195 a.E.). Ein Beispiel für diese Art der Lückenfeststellung findet sich in der Analyse von RGZ 127, 128 [C. I. 5. a)] unter bb) a.E. 248 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. b) (S. 202); Kramer, Methodenlehre, III. 5. a) aa) (S. 203); ausführlicher zur gesetzesnahen Lückenfüllung unten B. III. 2. a). 249 Kramer, Methodenlehre, III. 4. e) (S. 200); Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. a) (S. 198); Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 23 B. II. 2. (Rn. 848). 250 Kramer, Methodenlehre, III. 4. e) (S. 199 f.). 251 Kramer, Methodenlehre, III. 4. e) (S. 199 f.); BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 17. 252 Kramer, Methodenlehre, III. 4. e) (S. 200 f.); Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. a) (S. 198); Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 23 B. II. 2. (Rn. 848). 253 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. c) (S. 210 f.). 254 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. c) (S. 210 f.); eingehender zur teleologischen Reduktion unten B. III. 2. a) aa). 255 BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 17.
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gesetzesnahe Lückenfüllungsmethode am ehesten die Analogie.256 Analogie ist aber keine Gesetzesanwendung, keine Subsumtion. Der nicht geregelte Fall und der geregelte Fall stimmen nur in einigen Hinsichten überein, in anderen nicht.257 Beide Fälle sind nur vergleichbar und nicht gleich. Damit schafft eine Vorgehensweise über eine Analogie keine vollständig legitimierte Entscheidung. Die Analogie ist also in ihrer legitimitätsstiftenden Funktion begrenzt. Diese Grenze der Analogie gilt es im Sinne einer methodenehrlichen Vorgehensweise offen zu legen.
2. Lückenfüllung Bereits oben unter B. II. 7. wurde festgestellt, dass Grundlage jeder am Legitimitätsgedanken orientierten Methode das Gesetzesrecht ist. Dies gilt grundsätzlich auch für das Vorgehen im Lückenbereich. Dort gibt es zwar kein Gesetzesrecht, das man direkt anwenden könnte. Es gilt aber stattdessen, dass Methoden der Lückenfüllung angewandt werden müssen, die sich möglichst nah am Gesetzesrecht orientieren. Erst wenn sich mit Hilfe dieser gesetzesnahen Methoden kein Ergebnis erzielen lässt, kann man auf andere, gesetzesunabhängige Methoden zurückgreifen. a) Gesetzesnahe Methoden Als gesetzesnahe Methoden kommen die Analogie und die teleologische Reduktion, ein Annex-Schluss, die Bezugnahme auf Rechtsprinzipien sowie sonstige systematische und teleologische Argumente in Betracht. aa) Analogie und teleologische Reduktion Bei der Analogie wird eine gesetzliche Wertentscheidung auf einen nicht geregelten Fall angewandt. Damit handelt es sich um eine gesetzesnahe Methode der Lückenfüllung. Sieht man das Gesetzesrecht als Grundlage einer dem Legitimitätsprinzip entsprechenden Methode, ergibt sich die Notwendigkeit, Analogie anzuwenden, schon aus dem Legitimitätsgedanken. Innerhalb der Rechtsordnung hat der Analogieschluss seine Grundlage im positiven Gleichheitssatz.258 Dieser ist in Deutschland in Art. 3 GG und in der Schweiz in Art. 8 BV geregelt. Aus diesem Gebot, Gleiches gleich zu behandeln, ergibt sich nicht nur die Möglichkeit, Analogie anzuwenden, sondern der Richter ist grund-
256
Ausführlicher zur Analogie unten B. III. 2. a) aa). Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. b) (S. 202). 258 Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 204; Kramer, Methodenlehre, III. 5. a) cc) (S. 206); Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. b) (S. 202); BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 348; vgl. dazu auch schon oben B. III. 1. b) bb) (2). 257
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B. Theoretische Grundlagen
sätzlich zur Analogie verpflichtet, wenn deren Voraussetzungen vorliegen.259 Es besteht ein Analogiegebot.260 Voraussetzung der Analogie ist die wertungsmäßige Entsprechung des nicht geregelten mit dem geregelten Tatbestand, d. h. der nicht geregelten Fall muss von der ratio legis des geregelten Falles erfasst werden.261 Um diese wertungsmäßige Entsprechung herauszuarbeiten, bedarf es einer Vorgehensweise, die Induktion und Deduktion kombiniert.262 Über die Induktion wird eine verallgemeinerte ratio legis, ein höheres Prinzip der in Frage stehenden Norm bzw. mehrerer Normen herausgearbeitet.263 Über die Deduktion wird dieses höhere Prinzip auf Fälle angewandt, die vom Wortsinn der Normen nicht erfasst sind, aber von dieser verallgemeinerten ratio.264 Auf diese Art und Weise geht man bei zwei verschiedenen Formen der Analogie vor. Man unterscheidet klassischerweise zwischen der Einzelanalogie oder Gesetzesanalogie und der Gesamtanalogie oder Rechtsanalogie.265 Bei der Einzelanalogie wird eine einzelne Gesetzesnorm auf einen von ihr nicht geregelten Sachverhalt entsprechend angewandt.266 Bei der Gesamtanalogie wird aus mehreren gesetzlichen Vorschriften ein allgemeiner Rechtsgedanke oder ein allgemeines Rechtsprinzip induziert und dann auf vergleichbare Fälle angewandt.267 Am Beispiel der Gesamtanalogie wird damit die oben beschriebene Vorgehensweise über Induktion und Deduktion am besten deutlich.268 Bei der Einzelanalogie hingegen wird zwar kein allgemeiner Rechtsgrundsatz aufgestellt, der Geltung für eine Vielzahl von Fallgestaltungen beanspruchen kann.269 Auch hier muss man aber im Wege der Induktion die höhere gesetzliche Wertentscheidung herausarbeiten, die über den Wortsinn der Norm hinaus gilt und so ähnliche Fälle erfasst270. Nur anhand dieser Wertentschei-
259
Kramer, Methodenlehre, III. 5. a) dd) (S. 207); BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 348. Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 204; Kramer, Methodenlehre, III. 5. a) dd) (S. 207). 261 BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 13 a.E.; Kramer, Methodenlehre, III. 5. a) cc) (S. 206); Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. b) (S. 202 f.). 262 BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 34; Kramer, Methodenlehre, III. 5. a) gg) (S. 210). 263 Kramer, Methodenlehre, III. 5. a) gg) (S. 210). 264 s. o. 265 Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 209; Kramer, Methodenlehre, III. 5. a) ff) (S. 208); Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. b) (S. 204). 266 Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 209; Kramer, Methodenlehre, III. 5. a) ff) (S. 208); Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. b) (S. 204). 267 Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 209; Kramer, Methodenlehre, III. 5. a) ff) (S. 209); Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. b) (S. 204). 268 Kramer, Methodenlehre, III. 5. a) gg) (S. 210). 269 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. b) (S. 205). 270 Kramer, Methodenlehre, III. 5. a) gg) (S. 210); Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. b) (S. 205). 260
III. Grenzen des legitimen Rechts
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dung kann man einen Vergleich von geregeltem und nicht geregeltem Fall vornehmen.271 Ein von alters her in Rechtsprechung und Lehre tradierter Grundsatz besagt außerdem, dass Ausnahmevorschriften nicht analog angewandt werden dürfen: singularia non sunt extendenda.272 Aber auch die Ausnahmevorschrift wurde aus einem bestimmten Grund erlassen, hat also einen bestimmten Sinn und Zweck. Liegt dieser Sinn und Zweck auch in anderen Situationen vor, muss die Ausnahmevorschrift analog angewendet werden. Der Wortsinn einer Ausnahmevorschrift kann die ihr zugrundeliegende ratio ebenfalls in zu enger Weise ausdrücken, so dass sich eine analoge Anwendung aufdrängt.273 Das setzt natürlich voraus, dass es sich bei dem durch Analogie entwickelten Fall wieder um eine Ausnahmeregelung handelt. Die Analogie darf nicht soweit ausgedehnt werden, dass das vom Gesetzgeber vorgegebene Regel-Ausnahme-Verhältnis umgekehrt wird. Ausnahmevorschriften sind aber grundsätzlich der Analogie zugänglich.274 Die teleologische Reduktion verhält sich spiegelbildlich zur Analogie.275 Bei ihr wird ein verglichen mit der Teleologie des Gesetzes zu weit gefasster Wortlaut auf den Anwendungsbereich reduziert, der der ratio legis entspricht.276 Bei solchen zu weit gefassten Normen, werden Sachverhalte dadurch als gleichwertig betrachtet, dass sie von der Norm erfasst werden und so derselben Regelung unterworfen sind. Aus der Sicht der ratio legis sind diese Sachverhalte jedoch unterschiedlich zu bewerten. Grundlage der teleologischen Reduktion ist damit der negative Gleichheitssatz, dass Ungleiches ungleich zu behandeln ist.277 In der schweizerischen privatrechtlichen Lehre und Rechtsprechung wurde die Figur der teleologischen Reduktion lange Zeit mit dem Argument abgelehnt, dass die Rechtsfindung nicht gegen den klaren Wortlaut einer Norm verstoßen dürfe.278 Eine Korrektur könne nur in Ausnahmefällen über das Rechtsmissbrauchsverbot des Art. 2 Abs. 2 ZGB erfolgen.279 In neuester Zeit scheint sich die teleologische Re-
271
Kramer, Methodenlehre, III. 5. a) gg) (S. 210 f.); BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 34. Zur Erklärung dieses Grundsatzes Kramer, Methodenlehre, III. 5. a) jj) (S. 216 ff.) m.w.N., und BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 353. 273 Kramer, Methodenlehre, III. 5. a) jj) (S. 217 f.); Staudinger-Honsell Einl zum BGB Rn. 148; für die Analogie auch BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 353. 274 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 353; BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 191 a.E. 275 BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 17. 276 Kramer, Methodenlehre, III. 6. a) (S. 224 f.); Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. c) (S. 210 f.); zur teleologischen Reduktion auch schon oben B. III. 1. b) bb) (2) a.E. 277 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. c) (S. 211). 278 Kramer, Methodenlehre, III. 6. c) (S. 227 f.) m.N. zu Lehre und Rechtsprechung. 279 Kramer, Methodenlehre, III. 6. c) (S. 228) m.N. in Fn. 722; neuere Nachweise bei BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 17. 272
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B. Theoretische Grundlagen
duktion jedoch trotz einzelner ablehnender Meinungen in Literatur und Rechtsprechung durchzusetzen.280 Möglich ist auch eine Kombination aus Analogie und teleologischer Reduktion281 in dem Sinne, dass man eine teleologische Reduktion über eine Analogie zu einer anderen Vorschrift vornimmt.282 Bei der teleologischen Reduktion im eigentlichen Sinne erfolgt eine Einschränkung einer Vorschrift über deren eigene ratio. Bei der teleologischen Reduktion über eine Analogie erfolgt die Einschränkung über die ratio einer anderen Vorschrift. Genauer gesagt erfährt die eine Norm eine Einschränkung durch die Ausdehnung des Wortlautes einer anderen Norm über eine Analogie. Dies funktioniert jedoch nur, sofern der Sinn und Zweck der ausgedehnten Norm gegenüber demjenigen der eingeschränkten Norm als vorrangig zu betrachten ist.283 Beispielsweise ist dies der Fall, wenn die auszudehnende Vorschrift im Verhältnis zu der eingeschränkten Regel spezieller ist.284 Ist jedoch der Sinn und Zweck der eventuell einzuschränkenden Norm vorrangig, schließt das die Ausdehnung der anderen Norm über eine Analogie aus. bb) Annex-Schluss Als zusätzliche Methode der Lückenfüllung wird in Deutschland die sogenannte teleologische Extension genannt.285 Dabei geht es darum, den Wortlaut einer Vorschrift anhand ihres Zweckes zu erweitern, ohne dass die Voraussetzungen der Analogie vorliegen.286 Es fehlt an der Vergleichbarkeit des geregelten und des nicht geregelten Falles.287 Der Zweck einer Norm kann aber nur dadurch vollständig erreicht werden, dass der nicht geregelte Fall in einer bestimmten Weise geregelt wird.288 Die Bezeichnung „teleologische Extension“ ist dabei allerdings insofern problematisch, als damit der Eindruck erweckt wird, es handele sich um das Gegenstück zur teleologischen Reduktion. Gegenstück zur teleologischen Reduktion ist aber die Analogie289. Hier wird daher statt von „teleologischer Extension“ von „Annex280
Kramer, Methodenlehre, III. 6. c) (S. 229 f.) m.w.N.; Nachweise zu zustimmenden Meinungen auch bei BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 17. 281 Für eine solche Kombination Hüffer AcP 171 (1971), S. 470 ff. (S. 478) m.w.N., und Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. c) (S. 214 f.) mit Beispielen. 282 Beispiele, die diese Vorgehensweise anschaulich machen, finden sich in den Analysen von BGHZ 51, 91 [C. I. 9. a)] und von BGE 119 V 250 [D. I. 10. a)] jeweils unter bb). 283 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. c) (S. 211). 284 Ein Beispiel dafür findet sich in der Analyse von BGHZ 51, 91 [C. I. 9. a)] unter bb). 285 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. d) (S. 216 ff.). 286 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. d) (S. 216). 287 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. d) (S. 217 a.E.). 288 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. d) (S. 217 f.). 289 Dazu oben B. II. 2. a) aa).
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Schluss“ gesprochen. Annex-Schluss deswegen, weil der nicht geregelte Fall so mit der eigentlichen Regelung in Zusammenhang steht, dass deren Sinn und Zweck ohne eine entsprechende Regelung des nicht geregelten Falles nicht voll oder überhaupt nicht verwirklicht werden kann. Der nicht geregelte Fall gehört zu der eigentlichen Regelung. Er bildet deren Annex. Ein Annex-Schluss ist dabei in zwei verschiedenen Abstufungen denkbar. Der extremere und damit stärker aus dem bestehenden Gesetzesrecht legitimierte Fall ist derjenige, in dem eine gesetzliche Regelung komplett leer liefe, wenn nicht ein mit ihr zusammenhängender Sachverhalt in einer bestimmten Art und Weise geregelt würde. Ein Beispiel dafür findet sich in der Analyse von BGE 119 V 250290 unter cc). Der weniger starke Fall ist derjenige, in dem sich der Sinn und Zweck einer Norm oder eines Normgefüges nur teilweise verwirklichen ließe, wenn ein bestimmter Sachverhalt nicht entsprechend geregelt würde. Ein Beispiel hierfür findet sich in der Analyse von BGE 126 III 129291 unter cc). Insgesamt gilt, dass der Annex-Schluss wie die Analogie dazu dient, die gesetzliche Teleologie zu verwirklichen. Damit handelt es sich ebenfalls um eine gesetzesnahe Lückenfüllungsmethode. cc) Rechtsprinzipien Rechtsprinzipien können in allgemein gefassten Normen wie Verfassungsbestimmungen oder einfachgesetzlichen Generalklauseln enthalten sein.292 Diese Grundsätze sind aufgrund ihrer Allgemeinheit nicht unmittelbar subsumtionsfähig und müssen durch den Richter konkretisiert werden.293 Dabei kann es passieren, dass die Bestimmung so allgemein gefasst ist, dass der Richter jedenfalls teilweise lückenfüllend tätig werden muss.294 Die Konkretisierung des Prinzips erfolgt jedoch immer auch anhand der in der Norm enthaltenen Wertung.295 Damit bleibt es dabei, dass es um die Anwendung einer gesetzlichen Regel und der in ihr enthaltenen Wertung geht. Bei solchen Rechtsprinzipien handelt es sich folglich um die Anwendung von Gesetzesrecht. Des Weiteren können Rechtsprinzipien durch Abstraktion aus einfachgesetzlichen Vorschriften gewonnen werden.296 Dasselbe Verfahren wendet man aber bei der Analogie an. Bei der Rechtsanalogie wird das besonders deutlich, da dabei, wie oben 290 291 292
Recht. 293
D. I. 10. a). D. I. 15. a). Kramer, Methodenlehre, IV. 3. c) cc) (S. 263 f.) mit Beispielen für das schweizerische
Kramer, Methodenlehre, IV. 3. c) cc) (S. 264). Problem der Lücke intra legem, vgl. dazu oben B. III. 1. b) bb) (1). 295 Kramer, Methodenlehre, IV. 3. c) cc) (S. 264). 296 BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 410; BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 97. 294
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B. Theoretische Grundlagen
unter B. III. 2. a) aa) beschrieben, aus mehreren Vorschriften ein allgemeines Prinzip induziert wird. Aber auch über eine Einzelanalogie arbeitet man eine höhere gesetzliche Wertentscheidung heraus.297 Ist diese von besonderer Tragweite und Allgemeinheit, kann man auch hier von einem Rechtsprinzip sprechen.298 Daraus folgt, dass die Herleitung von Rechtsprinzipien, die nicht bereits direkt gesetzlich normiert sind, der Analogie entspricht.299 Insofern haben die Rechtsprinzipien aus methodischer Sicht bei der Lückenfüllung keine eigenständige Bedeutung. Bei den unter C. und D. folgenden Urteilsanalysen wird denn auch nur in einer Entscheidung auf einen Rechtsgrundsatz zurückgegriffen und dieser lässt sich über eine Rechtsanalogie herleiten.300 Teilweise werden auch überpositive Prinzipien als Rechtsprinzipien verstanden.301 Möchte man für diese Prinzipien Legitimität erreichen, muss man jedoch auf überpositive rechtsphilosophische Argumente zurückgreifen.302 Die überpositiven Prinzipien unterscheiden sich also in der Art und Weise ihrer Legitimation grundlegend von den aus dem Gesetzesrecht gewonnenen Prinzipien. Aus diesem Grund wird hier vertreten, sie nicht zu den Rechtsprinzipien im engeren Sinn zu zählen, sondern sie als eigenständige Methode der Lückenfüllung zu behandeln.303 dd) Sonstige systematische und teleologische Argumente Zuletzt sind zur gesetzesnahen Lückenfüllung noch systematische und teleologische Argumente zu nennen, die nicht unter die Kategorien Analogie oder AnnexSchluss fallen. Da auch in der Systematik eines Gesetzes dessen Wertentscheidungen zum Ausdruck kommen, orientieren sich letztlich beide an gesetzlichen Wertungen. Als systematische Argumente sollen aber im Folgenden diejenigen Begründungen verstanden werden, die sich am Zusammenspiel gesetzlicher Normen – am System des Gesetzes – orientieren. Bei den rein teleologischen Argumenten geht es darum, den Sinn und Zweck einer oder mehrerer Normen für die rechtsfortbildende Begründung fruchtbar zu machen. Von der Analogie bzw. dem Annex-Schluss grenzen sich die teleologischen Argumente dadurch ab, dass es nicht um die direkte Vergleichbarkeit zweier Fälle
297
Dazu oben B. III. 2. a) aa). Zur Einzelanalogie bei der Herausarbeitung von Rechtsprinzipien BK-Emmenegger/ Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 101 f.; zur Herleitung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes über die Einzel- und die Gesamtanalogie Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. b) (S. 207). 299 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 387. 300 Vgl. die Analyse von BGE 119 V 250 (D. 10.) unter cc) und dd). 301 BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 412 f. mit Verweis auf Esser; BK-Emmenegger/ Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 97. 302 Dazu unten B. III. 2. b) aa). 303 s. o. 298
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geht bzw. kein zwingendes Bedürfnis besteht, einen Sachverhalt im Anschluss an eine gesetzliche Regelung in einer bestimmten Art und Weise zu regeln. Bei den systematischen Argumenten geht es ohnehin nicht um die Vergleichbarkeit. Bei ihnen kann aber wie beim Annex-Schluss die Argumentation auftreten, dass eine bestimmte Norm leer liefe, wenn ein anderer Sachverhalt nicht in einer bestimmten Art und Weise geregelt wird. Der Unterschied liegt jedoch darin, dass bei dem systematischen Argument der zu regelnde Sachverhalt von seinem Inhalt her kein Anhängsel, kein Annex, dieser Norm bildet. Von einem Annex kann man nur sprechen, wenn es eine Norm von grundsätzlicher Bedeutung gibt sowie eine inhaltlich beschränktere Norm, die mit der Ersteren in Zusammenhang steht. Bei der systematischen Argumentation ist es jedoch umgekehrt. Der zu regelnde Sachverhalt ist von grundsätzlicher Bedeutung und die Norm, die ohne diese Regelung leer liefe, ist von ihrer Bedeutung her beschränkter.304 Den teleologischen und systematischen Argumenten ist so gemein, dass sie weniger stark legitimiert sind als Analogie und Annex-Schluss. Sie eignen sich daher weniger zur primären gesetzesnahen Lückenfüllung, sondern vor allem zur Ergänzung von Analogie und Annex-Schluss. Beispiele für ergänzende teleologische Argumente finden sich in den Analysen von BGE 60 II 179 [D. I. 4. a)] und BGE 127 V 38 [D. I. 16. a)] jeweils unter cc). Beispiele für ergänzende systematische Argumente finden sich in den Analysen von BGHZ 108, 197 [C. I. 11. a)], BGE 55 II 302 [D. I. 3. a)], BGE 97 II 390 [D. I. 7. a)], BGE 123 III 292 [D. I. 12. a)], BGE 124 V 301 [D. I. 13. a)], BGE 125 III 154 [D. I. 14. a)] und BGE 127 V 38 [D. I. 16. a)] jeweils unter cc). b) Gesetzesunabhängige Rechtsfortbildung In diesem Abschnitt soll es um diejenige lückenfüllende Vorgehensweise gehen, die anzuwenden ist, wenn die oben unter B. III. 2. a) aufgeführten Lückenfüllungsmethoden nicht zielführend sind. Von Larenz/Canaris und von Kramer wird dies als „gesetzesübersteigende“ Rechtsfortbildung bezeichnet.305 Hier wird der Begriff der „gesetzesunabhängigen“ Rechtsfortbildung vorgezogen, um besser deutlich zu machen, dass es um den Bereich geht, wo sich mit gesetzlichen Wertungen keine Lösung mehr finden lässt. Die gesetzesunabhängige Rechtsfortbildung ist nach hier vertretener Ansicht als ultima ratio zu verstehen, da es für sie zunächst keine Legitimation gibt. Eine gewisse Legitimation lässt aber möglicherweise über rechtsphilosophische Erwägungen erreichen.
304
Beispiele dafür in den Analysen von BGE 55 II 302 [D. I. 3. a)], BGE 125 III 154 [D. I. 14. a)] und BGE 127 V 38 [D. I. 16. a)] jeweils unter cc). 305 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 4. (S. 232); Kramer, Methodenlehre, IV. (S. 239).
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B. Theoretische Grundlagen
Vor der grundsätzlichen Behandlung der gesetzesunabhängigen Rechtsfortbildung soll deshalb dem rechtsphilosophischen Argument der Rechtssicherheit ein besonderer Abschnitt gewidmet werden. aa) Rechtsphilosophisch legitimierte außerrechtliche Argumente: Die Rechtssicherheit Es ist grundsätzlich möglich, über eine rechtsphilosophische Theorie bestimmte Grundannahmen richtigen Rechts zu entwickeln, die bei einer Lückenfüllung jenseits von gesetzesnahen Methoden helfen können. Es würde hier allerdings zu weit führen, zu erklären, welche Theorien wie eingesetzt werden können, um welche konkreten rechtlichen Lösungen zu unterstützen. Aus diesem Grund soll hier nur auf den Grundsatz der Rechtssicherheit eingegangen werden, der als formaler Grundsatz bei jeder Lückenfüllung zum Einsatz kommen kann. Rechtssicherheit bedeutet, dass man weiß, welches Verhalten von einem selbst gefordert wird und welches Verhalten man von anderen zu erwarten hat (Orientierungssicherheit) sowie, dass man sich darauf verlassen kann, dass die bestehenden Normen beachtet und gegebenenfalls gerichtlich durchgesetzt werden (Realisierungssicherheit).306 Insgesamt heißt das, dass gerichtliche Entscheidungen vorhersehbar und nachprüfbar werden.307 Da es sich bei der Rechtssicherheit um ein formales Prinzip handelt308, das keine konkrete rechtliche Lösung vorgibt, besitzt es eine gewisse Überparteilichkeit309 und Universalität. Aus diesem Grund kann man – wie Radbruch310 – dazu kommen, dass die Rechtssicherheit einen Bestandteil der Rechtsidee bildet und sie als überpositiven Grundsatz verstehen. Jeder noch so formale Grundsatz enthält aber auch immer einen Inhalt. Diesen kann man in letzter Konsequenz nicht rechtsphilosophisch begründen. Es bleibt also bei der Behauptung, dass man den Grundsatz der Rechtssicherheit für „richtig“ und erstrebenswert hält. Da der Grundsatz der Rechtssicherheit aber allgemein anerkannt ist, soll er hier im Sinne Radbruchs als zulässiges überpositives Argument betrachtet werden, an dem sich jede Lückenfüllung messen lassen muss. Positivrechtlich kann man das Prinzip der Rechtssicherheit zudem aus dem Rechtsstaatsprinzip ableiten.311 Dieses ist in Art. 20 III GG sowie in Art. 5 BV enthalten. Rechtsstaatlichkeit bedeutet die Verpflichtung des Staates in all seinen 306 307 308 309 310 311
Zippelius, Rechtsphilosophie, § 23 II. (S. 132 f.). Kaufmann/Hassemer/Neumann, Rechtsphilosophie, C. 5.2.2.1 (S. 255). Seelmann, Rechtsphilosophie, § 7 2. Rn. 16 (S. 154). Radbruch, Rechtsphilosophie (Studienausgabe), § 9 (S. 74). Radbruch, Rechtsphilosophie (Studienausgabe), § 9 (S. 73). Von Münch/Kunig-Schnapp Art. 20 Rn. 32.
III. Grenzen des legitimen Rechts
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Erscheinungsformen auf das Recht, um den Bürger vor Willkür zu schützen.312 Dieser Schutz ist nur dann effektiv, wenn das Recht „sicher“ ist, d. h. wenn für den Bürger vorhersehbar und nachprüfbar ist, wie gerichtliche Entscheidungen ausfallen werden. Man kann das Prinzip der Rechtssicherheit somit auch als formalen verfassungsrechtlichen Grundsatz werten, der als solcher bei der Lückenfüllung zu beachten ist.313 bb) Gesetzesunabhängige Rechtsfortbildung an sich Als gesetzesunabhängige Rechtsfortbildung wird hier der Bereich verstanden, in dem der Richter mit Hilfe von gesetzesnahen Methoden nicht mehr zum Ziel gelangt, weil die Analogie oder mit ihr verwandte Argumente nicht greifen.314 Beispiele dafür finden sich in den Analysen von BGHZ 22, 90315 unter bb) und BGE 127 V 38316 unter cc). Zur gesetzesunabhängigen oder gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung sollen die Ansichten von Kramer317 und Larenz/Canaris318 als wichtige Stimmen der schweizerischen und der deutschen Methodenlehre gegenübergestellt und mit der hier vertretenen Ansicht verglichen werden. Zur gesetzesunabhängigen Rechtsfortbildung ermächtigt ausdrücklich Art. 1 Abs. 2 ZGB, da er es dem Richter erlaubt, bei der Lückenfüllung wie ein Gesetzgeber vorzugehen.319 Kramer320 bezeichnet als gesetzesübersteigendes Richterrecht eine richterliche Rechtsfortbildung, für die das lückenhaft geltende Recht keine oder doch keine konkreten Orientierungsgesichtspunkte zur Verfügung stellt. Dies entspricht der hier vertretenen Ansicht. Larenz/Canaris321 zählen zur gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung auch den Fall, in dem Rechtsfortbildung betrieben wird, obwohl keine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes vorliegt.322 Nach hier vertretener Ansicht handelt es sich dabei um Rechtsfortbildung contra legem. Sie sprechen jedoch von einer Rechtsfortbildung zwar „extra legem“ aber „intra ius“.323 Sie möchten auch im Bereich des gesetzesübersteigenden Richterrechts auf spezifisch rechtliche Er312
Rhinow/Schefer, Verfassungsrecht, § 26 I. a. (Rn. 2590). Ein Beispiel für die Anwendung des Grundsatzes der Rechtssicherheit bei der Lückenfüllung findet sich in der Analyse von BGH NJW 1993, 999 [C. I. 12. a)] unter cc). 314 Zu diesem Bereich auch BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 390 m.w.N. 315 C. I. 8. a). 316 D. I. 16. a). 317 Kramer, Methodenlehre, IV. (S. 239 ff.). 318 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 4. (S. 232 ff.). 319 Zur Vorgehensweise bei der Gesetzgebungslösung vgl. unten B. V. 2. c) bb) (2). 320 Kramer, Methodenlehre, IV. 1. (S. 239). 321 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 4. (S. 233 oben) und 4. d) (S. 246). 322 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 4. (S. 232). 323 s. o. 313
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B. Theoretische Grundlagen
wägungen, wie allgemeine Rechtsprinzipien oder -werte zurückgreifen.324 Das bedeutet, dass Larenz/Canaris sich insgesamt doch an den Wertungen der Rechtsordnung orientieren wollen. Wenn keine Lücke vorliegt, ist das jedoch nur denkbar, wenn ein dem einfachen Recht übergeordnetes Prinzip, wie etwa ein Verfassungsgrundsatz, zur Anwendung kommt. Andernfalls ist es schwer vorstellbar, wie eine Rechtsfortbildung contra legem mit rechtlichen Erwägungen begründet werden soll. Für den Lückenbereich bedeutet die Tatsache, aus dem Recht Wertungen abzuleiten, eine gesetzesnahe Vorgehensweise. Dies wäre nach hier vertretener Ansicht keine gesetzesunabhängige oder gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung. Larenz/ Canaris scheinen so den Bereich, in dem keine gesetzlichen Wertungen herangezogen werden können, nicht zu behandeln. Dafür spricht auch die Aussage, dass der Richter eine Rechtsfortbildung, die sich nur mit rechtspolitischen Zweckmäßigkeitsbegründungen begründen lasse, zu unterlassen habe.325 Ein differenzierteres Bild ergibt sich aber, wenn man die Methoden vergleicht, die Larenz/Canaris und Kramer im Bereich der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung angewandt wissen wollen. Kramer326 kann in diesem Bereich auf die Gesetzgebungslösung des Art. 1 Abs. 2 ZGB zurückgreifen. Der Richter hat dementsprechend im Bereich der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung wie ein Gesetzgeber zu agieren und sich dabei inhaltlich vor allem an außerrechtlichen Gesichtspunkten zu orientieren sowie aufgrund eigener Wertung rechtspolitisch zu entscheiden.327 Methodisch nicht eindeutig hingegen argumentieren Larenz/Canaris. Im Bereich des gesetzesübersteigenden Richterrechts sprechen sie von Rechtsfortbildung mit Rücksicht auf die Bedürfnisse des Rechtsverkehrs, Rechtsfortbildung mit Rücksicht auf die „Natur der Sache“ und Rechtsfortbildung mit Rücksicht auf ein rechtsethisches Prinzip.328 Die Bedürfnisse des Rechtsverkehrs stellen außerrechtliche Argumente dar. Berücksichtigt man sie, entscheidet man rechtspolitisch und nach Zweckmäßigkeit wie ein Gesetzgeber. Etwas weiter geht das Argument der „Natur der Sache“.329 Dieses impliziert, dass sich aus der Natur einer Tat-„Sache“ ein Rückschluss auf eine rechtliche Wertung 324
Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 4. (S. 232 f.). Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 4. d) (S. 247). 326 Kramer, Methodenlehre, IV. 1. (S. 239). 327 Kramer, Methodenlehre, IV. 3. (S. 249 ff.); eingehender zur Vorgehensweise bei der Gesetzgebungslösung vgl. unten B. V. 2. c) bb). 328 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 4. a)-c) (S. 233 ff.). 329 Nachweise zum Schrifttum über die „Natur der Sache“ bei Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 4. b) (S. 236) in Fn. 120, Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 23 F. II. (Rn. 919) in Fn. 1253, Kramer, Methodenlehre, II. 2. e) cc) (2) (S. 176) in Fn. 520, und BKMeier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 397. 325
III. Grenzen des legitimen Rechts
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ziehen lässt.330 Mit anderen Worten: Ein Schluss vom Sein auf das Sollen wird möglich.331 Ein solcher Schluss vom Sein auf das Sollen ist aber aus rechtsphilosophischer Sicht nicht denkbar.332 Auch Larenz/Canaris sehen dieses Problem, wollen die „Natur der Sache“ aber dennoch als Orientierungshilfe zulassen und führen zahlreiche Beispiele auf, wo sich ihrer Ansicht nach aus der Natur eines Sachverhaltes rechtliche Wertungen ableiten lassen.333 Dass das nicht möglich ist, sei an einem Beispiel erklärt, das Larenz/Canaris im Rahmen der Erörterung der „Natur der Sache“ nennen.334 Sie sagen, aus der naturgegebenen Hilfsbedürftigkeit des Kindes ergebe sich die Notwendigkeit, Recht und Pflicht der Fürsorge für Kinder zu regeln. Diese Notwendigkeit der Fürsorge ergibt sich jedoch nicht aus der Hilfsbedürftigkeit der Kinder, sondern aus der Wertung, dass wir es richtig und wichtig finden, dass für hilfsbedürftige Menschen gesorgt wird. In dem Argument der „Natur der Sache“ ist also immer eine Wertung enthalten, die uns bloß oft nicht weiter auffällt, weil sie in unserer Gesellschaft selbstverständlicher Konsens ist. Das Argument der „Natur der Sache“ eignet sich aber nicht nur dazu, konsensfähige Wertungen vorzunehmen, sondern der Richter kann damit jede von ihm favorisierte Wertung begründen.335 Um ein Scheinargument handelt es sich bei der „Natur der Sache“ insofern, als suggeriert wird, solch eine eigene Wertung des Richters sei nicht notwendig.336 Das Ergebnis ergebe sich vielmehr „aus der Sache“. In der deutschen wie in der schweizerischen Literatur gibt es denn auch viele kritische Stimmen.337 Letztlich bleibt der Rückgriff auf ein rechtsethisches Prinzip. Larenz/Canaris verstehen darunter Rechtsprinzipien mit materiellem Gerechtigkeitsgehalt, die in Verfassungs- oder einfachgesetzlichen Normen enthalten sein können.338 Es geht hier also um Wertungen, die sich im Gesetzesrecht finden. Nach hier vertretener Ansicht handelt es sich dabei um gesetzesnahe Lückenfüllung. Die gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung bei Larenz/Canaris ist damit eine Mischung aus außerrechtlichen Argumenten, der Verdeckung einer eigenen Wertung über die „Natur der Sache“ und rechtlichen Argumenten. Der Forderung nach einer gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung mit spezifisch rechtlichen Erwägungen bleiben sie daher nur teilweise treu. So löst sich der oben beschriebene Widerspruch, 330
Dazu ausführlich BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 400. Dazu Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 23 F. II. 2. (Rn. 926) m.w.N. 332 Kramer, Methodenlehre, IV. 3. c) ee) (3) (S. 275); zur rechtsphilosophischen Begründung s. auch oben B. I. 333 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 4. b) (S. 236 ff.). 334 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 4. b) (S. 237). 335 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 23 F. II. (Rn. 920) und II. 2. (Rn. 926 f. mit historischen Beispielen). 336 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 23 F. II. 2. (Rn. 923 und 928 f.). 337 Ausführlich Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 23 F. II. 2. (Rn. 922 ff.) m.w.N.; kurz Kramer, Methodenlehre, IV. 3. c) ee) (1) (S. 273), und BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 403. 338 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 4. c) (S. 240 f.). 331
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B. Theoretische Grundlagen
eine Rechtsfortbildung ohne planwidrige Unvollständigkeit mit rechtlichen Erwägungen begründen zu wollen. Die Argumente, die Larenz/Canaris in diesem Fall zulassen, sind nämlich zum Teil keine rechtlichen. So wird eine Rechtsfortbildung contra legem möglich. Für den Lückenbereich bedeutet dies, dass Larenz/Canaris eine außerrechtliche Argumentation erlauben, auch wenn sie es nicht so bezeichnen. Damit behandeln sie auch den Bereich, in dem sich keine Lösung mit gesetzesnahen Methoden finden lässt. In diesem Bereich sollte man aber nicht vorgeben, mit rechtlichen Argumenten etwas ausrichten zu können. Jenseits der oben unter B. III. 1. a) behandelten Grenzen der Auslegung gelangt man in den weniger legitimierten Bereich der gesetzesnahen Lückenfüllung. Jenseits der gesetzesnahen Lückenfüllung erstreckt sich der überhaupt nicht mehr legitimierte Bereich der gesetzesunabhängigen Rechtsfortbildung. Um diese Legitimitätsdefizite deutlich zu machen, ist in dem einen wie in dem anderen Bereich eine offene und methodenehrliche Vorgehensweise notwendig.339 Das heißt für den Bereich der gesetzesunabhängigen Rechtsfortbildung, im Sinne der in Art. 1 Abs. 2 ZGB enthaltenen Gesetzgebungslösung offen zu außerrechtlichen Argumenten sowie zu eigenen Wertungen und rechtspolitischen Entscheidungen zu stehen.340 Auch für Deutschland wird daher hier vertreten, dass man dort, wo keine rechtliche Legitimation mehr möglich ist, offen wie ein Gesetzgeber vorgehen sollte. Scheinargumente wie dasjenige der „Natur der Sache“, die eigene Wertungen verschleiern, sollten dabei nicht zum Einsatz kommen. Auch die Berufung auf allgemeine Rechtsprinzipien oder rechtsethische Prinzipien kann als Scheinargument dienen341, z. B. wenn man sich nicht auf ein konkretes Prinzip bezieht, aus dem man eine konkrete Wertung ableitet. Statt sich auf Scheinbegründungen zu berufen, ist es vielmehr wichtig, dass der Richter im nicht legitimierten Bereich besonders umfassend und sorgfältig begründet.
IV. Rechtsverweigerungsverbot Die Frage nach der Legitimität einer richterlichen Entscheidung in der Lücke setzt voraus, dass der Richter in dieser Lücke trotz fehlender gesetzlicher Anordnung entscheiden muss. Müsste er nicht entscheiden, bestünde auch kein Legitimitätsproblem. Die Pflicht zur Entscheidung ergibt sich aus dem allgemein anerkannten 339
Für eine offene Rechtsfortbildung ohne Scheinbegründungen auch Meier-Hayoz, Richter als Gesetzgeber, § 41 VII. (S. 272 f.). 340 Zur Vorgehensweise bei der Gesetzgebungslösung vgl. unten B. V. 2. c) bb). 341 Kramer, Methodenlehre, IV. 3. c) cc) (S. 264); Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 22 E. V. 2. (Rn. 756c).
IV. Rechtsverweigerungsverbot
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Rechtsverweigerungsverbot.342 In der Schweiz ist das Rechtsverweigerungsverbot in Art. 29 Abs. 1 BV positiviert.343 Unter der Geltung der alten Bundesverfassung wurde es aus Art. 4 aBV344 abgeleitet.345 Im deutschen Grundgesetz346 ist das Rechtsverweigerungsverbot nicht direkt geregelt. In Deutschland gibt es aber die gegenüber der öffentlichen Gewalt geltende Rechtsweggarantie des Art. 19 IV GG sowie einen allgemeinen, auch zwischen privaten geltenden Justizgewährungsanspruch, der aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 III GG abgeleitet wird347. Beide beinhalten das Gebot des effektiven Rechtsschutzes.348 Dieses wiederum fordert eine vollständige Sach- und Rechtsprüfung sowie eine verbindliche und vollstreckbare Entscheidung.349 In dem Moment, wo eine Entscheidung gefordert wird, wird aber eine Rechtsverweigerung untersagt. Auch aus dem deutschen Grundgesetz lässt sich somit ein Rechtsverweigerungsverbot ableiten. Untersucht man die Frage, wann das Rechtsverweigerungsverbot Anwendung findet, kann man zwei Bereiche unterscheiden, und zwar den rechtsfreien Raum und die sogenannte Rechtslücke oder den rechtsfreien Bereich.
1. Rechtsfreier Raum Das Rechtsverweigerungsverbot gilt, solange man sich innerhalb des rechtlich geregelten Bereichs befindet. Der Richter in seiner Funktion als Rechtsanwender kann nur dann eingreifen, wenn ein Bereich Teil des Rechts ist. In einem Gebiet, das dem Recht nicht unterworfen ist, bestehen keine Rechte und Pflichten, so dass auch kein Recht verweigert werden kann. Dieser Bereich wird traditionell als „rechtsfreier Raum“ bezeichnet.350 Damit ist ein Gebiet gemeint, das rechtlicher Regelung nicht zugänglich und nicht bedürftig ist wie etwa Fragen der Sitte, Moral oder Religion.351 342 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 14; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 23 A. I. 1. (Rn. 823). 343 Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 12; Steinauer, Le Titre préliminaire du Code civil (Traité de droit privé suisse Vol. II Tome 1), § 2 III. B. (Rn. 102); EhrenzellerSteinmann Art. 29 Rn. 18. 344 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874 (AS 1, 1). 345 BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 314; Biaggini, BV Kommentar, Art. 29 Rn. 7. 346 s. o. Fn. 39. 347 Sachs-Sachs Art. 20 Rn. 162 ff. 348 Sachs-Sachs Art. 19 Rn. 143 und Art. 20 Rn. 162. 349 Sachs-Sachs Art. 19 Rn. 145 ff. und Art. 20 Rn. 164. 350 Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 I. 2. a) (S. 192); BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 260. 351 Ausführlich dazu Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 I. 2. a) (S. 192); kurz BKMeier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 260.
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B. Theoretische Grundlagen
2. Rechtslücke oder rechtsfreier Bereich Es gibt jedoch auch das Phänomen, dass die Gesetzgebung umfangreiche Bereiche, die rechtlicher Regelung zugänglich sind, ungeregelt lässt.352 Dies geschieht etwa, weil durch technische oder ökonomische Entwicklungen neue, ungeregelte Problemfelder entstehen353 oder weil die Gesetzgebung aus anderen Gründen regelungsbedürftige Bereiche nicht rechtzeitig oder gar nicht regelt354. Solche Bereiche werden in der Literatur im Gegensatz zur Gesetzeslücke als Rechts- oder Gebietslücken bezeichnet.355 Dies allerdings mit dem Zusatz, dass die Bezeichnung „Lücke“ eigentlich nicht passe, da man bei der Rechtslücke nicht von einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes ausgehen könne.356 Unvollständig sei hier nämlich nicht das Gesetz, sondern die Rechtsordnung als Ganzes und diese habe keinen Gesamtplan, an dem man die Unvollständigkeit messen könne.357 Hinzu kommt, dass in der Rechtslücke auch die primären, gesetzesnahen Lückenfüllungsmöglichkeiten wie Analogie und teleologische Reduktion nicht greifen, da für ein ganzes Gebiet keine Regelungen vorliegen und man so nicht auf Wertungen aus vorhandenem Gesetzesrecht zurückgreifen kann.358 Daraus folgt, dass bei der Rechtslücke weder die Voraussetzungen einer Lücke – wie sie weiter oben359 für die Gesetzeslücke definiert wurden – noch die Folgen in Form der Anwendbarkeit bestimmter Lückenfüllungsmethoden360 gegeben sind. Daher wird auch hier vertreten, dass der Begriff der Rechtslücke eigentlich nicht passt. Da es sich bei der Rechtslücke um einen größeren ungeregelten Bereich handelt, soll stattdessen von „rechtsfreiem Bereich“ gesprochen werden. Wichtiger als die Bezeichnung ist jedoch die Frage, ob der Richter in einem solchen Fall überhaupt entscheiden darf. Dagegen spricht, dass er in diesem Bereich in sehr weitreichendem Maße Kompetenzen des Gesetzgebers wahrnehmen würde, da er sich nicht an vorhandenen gesetzgeberischen Wertungen orientieren kann und so aufgrund eigener Wertung entscheiden muss.361 Im rechtsfreien Bereich trifft der Richter also grundsätzlich nicht legitimierte Entscheidungen. Für eine Pflicht zur Entscheidung spricht jedoch das Rechtsverweigerungsverbot. Dieses gilt, sobald ein Bereich dem Recht zugänglich ist. Dies ist beim rechtsfreien Bereich der Fall. Das 352
Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 23 D. III. (Rn. 906). Larenz, Methodenlehre (6. Aufl. 1991), II. Kapitel 5 2. a) (S. 376). 354 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 23 D. III. (Rn. 906) mit Beispielen. 355 Larenz, Methodenlehre (6. Aufl. 1991), II. Kapitel 5 2. a) (S. 375 a.E.); Rüthers/Fischer/ Birk, Rechtstheorie, § 23 B. II. 4. (Rn. 855) und § 23 D. III. (Rn. 906). 356 Larenz, Methodenlehre (6. Aufl. 1991), II. Kapitel 5 2. a) (S. 376). 357 Larenz, Methodenlehre (6. Aufl. 1991), II. Kapitel 5 2. a) (S. 376 f.). 358 Dazu Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 23 D. III. (Rn. 908). 359 B. III. 1. b). 360 s. o. B. III. 2. a). 361 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 23 D. III. (Rn. 907 u. 909); zum Gewaltenteilungsproblem auch Larenz, Methodenlehre (6. Aufl. 1991), II. Kapitel 5 2. a) (S. 376). 353
V. Lückenfüllungsnormen
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bedeutet, dass dort der Richter dem Bürger eine Entscheidung nicht verweigern kann. Hinzu kommt, dass es ja auch bei der Füllung von Gesetzeslücken zu nicht legitimierten Entscheidungen kommen kann, nämlich dann, wenn sich über gesetzesnahe Methoden keine Lösung finden lässt.362 Daher wird hier die Ansicht vertreten, dass der Richter auch im rechtsfreien Bereich entscheiden muss.363 Für den rechtsfreien Bereich gilt dann genauso wie für die gesetzesunabhängige Rechtsfortbildung bei der Gesetzeslücke, dass der Richter hier besonders umfassend und sorgfältig begründen muss364.
V. Lückenfüllungsnormen In diesem Abschnitt sollen gesetzliche Vorschriften behandelt werden, die eine Anleitung zur Lückenfüllung in Deutschland enthalten könnten. Zudem soll die ausdrückliche Lückenfüllungsnorm des Art. 1 ZGB ausführlich erläutert werden. Methodennormen, die Auslegung und Lückenfüllung regeln, findet sich in Westund Mitteleuropa außerdem in §§ 6, 7 österreich. ABGB, in Art. 3, 4 span. Código civil, in Art 9, 10 portugies. Código civil und in Art. 12 ital. Codice civile. In die neuen Zivilgesetzbücher Osteuropas wurden überwiegend die Auslegung und Rechtsfortbildung betreffende Methodennormen eingefügt.365 Keine Methodennorm enthalten der französische Code civil und das niederländische neue Burgerlijk Wetboek.366 Auch in den skandinavischen Rechtsordnungen finden sich wenige Methodennormen.367 Die Methode wird dort überwiegend durch die Praxis geregelt.368 Die Vorschrift des Art. 10 Abs. 3 portugies. Código civil enthält außerdem eine der schweizerischen Gesetzgebungslösung des Art. 1 Abs. 2 ZGB sehr ähnliche Formulierung.369 Zudem wurde das schweizerische Zivilgesetzbuch von der Türkei übernommen.370 Das türkische Zivilgesetzbuch enthält somit ebenfalls die Gesetzgebungslösung des Art. 1 Abs. 2 ZGB.
362
s. o. B. III. 2. b) bb). So auch Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 23 B. II. 4. (Rn. 855 a.E.); a.A. Larenz, Methodenlehre (6. Aufl. 1991), II. Kapitel 5 2. a) (S. 376). 364 B. III. 2. b) bb) a.E. 365 Ausführlich Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, C. IX. (S. 180 ff., 189). 366 Dazu Staudinger-Honsell Einl zum BGB Rn. 202. 367 Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, C. X. 1. (S. 191). 368 s. o. 369 Dazu Kramer, Methodenlehre, IV. 3. a) (S. 249). 370 Rumpf, Einführung in das türkische Recht (1. Aufl. 2004), § 12 I. Rn. 1 (S. 112); BKEmmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 72 ff. mit weiteren Informationen und Nachweisen zu Hintergrund und Folgen der Rezeption. 363
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B. Theoretische Grundlagen
1. Anleitung zur Lückenfüllung in Deutschland Im deutschen BGB gibt es im Gegensatz zu Art. 1 ZGB in der Schweiz keine Lückenfüllungsnorm. Der erste Entwurf zum BGB, der von einer am 22. Juni 1874 eingesetzten ersten Kommission erarbeitet wurde und 1887 veröffentlicht wurde371, enthielt allerdings noch eine solche Norm. Des Weiteren kann man sich fragen, ob Art. 20 III GG nicht eine gewisse Aussage zur richterlichen Rechtsfortbildung enthält. Schließlich soll in diesem Abschnitt § 242 BGB vorgestellt werden. Diese Vorschrift enthält zwar keine Anleitung zur Lückenfüllung. Sie wird jedoch in Deutschland als Grundlage der Rechtsfortbildung betrachtet und dementsprechend bei rechtsfortbildenden Entscheidungen sehr häufig herangezogen.372 a) Der Entwurf der Kommission vom 22. Juni 1874 Der erste Entwurf zum BGB, der von einer am 22. Juni 1874 eingesetzten ersten Kommission erarbeitet und 1887 veröffentlicht wurde373, enthielt eine Lückenfüllungsnorm in seinem § 1. Der erste Abschnitt des Allgemeinen Teils des BGB sollte laut dem Entwurf den Titel „Rechtsnormen“ tragen und § 1 des Entwurfes374 lautete wie folgt: §1 Auf Verhältnisse, für welche das Gesetz keine Vorschrift enthält, finden die für rechtsähnliche Verhältnisses gegebenen Vorschriften entsprechende Anwendung. In Ermangelung solcher Vorschriften sind die aus dem Geiste der Rechtsordnung sich ergebenden Grundsätze maßgebend.
Der erste Satz dieses Paragraphen sagt, dass in der Lücke Vorschriften, die rechtsähnliche Verhältnisse regeln, entsprechende Anwendung finden sollen. Dieser erste Satz enthält damit die Aufforderung zur Gesetzesanalogie. Der zweite Satz bezieht sich auf aus dem Geist der Rechtsordnung sich ergebende Grundsätze. Damit können Rechtsprinzipien gemeint sein. Wie oben unter B. III. 2. a) cc) festgestellt wurde, werden Prinzipien aber vorwiegend mit Hilfe einer Rechtsanalogie ermittelt, sofern sie nicht ausdrücklich in einer Norm positiviert sind. Da die Gesetzesanalogie schon im ersten Satz des § 1 enthalten ist, kann man daher davon ausgehen, dass sich der zweite Satz auf die Rechtsanalogie bezieht. Diese Interpretation wird auch in den 1888 veröffentlichen Motiven zu diesem Entwurf bestätigt.375 371 Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, ausgearbeitet von der in Folge des Beschlusses des Bundesrathes vom 22. Juni1874 eingesetzten Kommission. Erste Lesung, Berlin 1887. 372 Vgl. dazu die Ergebnisse der deutschen Urteilsanalysen unter C. II. 2. a) aa) (2). 373 s. o. Fn. 371. 374 § 1 des Entwurfes ebenfalls abgedruckt bei Jakobs/Schubert, Beratung des BGB, §§ 1 – 240, 2. Teilband, Anhang I: §§ 1, 2 E I (S. 1192). 375 Motive zum BGB, Bd. I, Allgemeiner Theil, Erstes Buch, Erster Abschnitt, A. III. 3. (S. 16).
V. Lückenfüllungsnormen
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Über den Bereich, wo die Analogie nicht zu einer Lösung führt und der in der Schweiz der Gesetzgebungslösung des Art. 1 Abs. 2 ZGB zuzuordnen ist376, macht § 1 des Entwurfes zwar keine Aussage. Er erkennt aber die Lücke ausdrücklich an und enthält mit der Analogie eine gesetzesnahe Lückenfüllungsmöglichkeit. Damit gehen die Verfasser des BGB nicht von einer Lückenlosigkeit der Kodifikation aus, wie auch die Ausführungen in den Motiven377 zeigen. Mit der Bezugnahme auf die Analogie orientieren sie sich zudem am Prinzip einer dem Legitimitätsgedanken entsprechenden Lückenfüllung. Auch wenn es heute schwer vorstellbar ist, dass im BGB noch einmal eine Lückenfüllungsnorm eingeführt wird, zeigt die Existenz dieser Vorschrift des ersten Entwurfs doch, dass der Gedanke an eine solche Norm im BGB nicht abwegig ist. Die am 4. Dezember 1890 eingesetzte zweite Kommission beschloss, den § 1 des ersten Entwurfes als selbstverständlich zu streichen.378 Damit war zwar beschlossen, dass das BGB keine Lückenfüllungsnorm enthalten sollte. Indem die zweite Kommission den Inhalt von § 1 des ersten Entwurfes als selbstverständlich bezeichnete, stimmte aber auch sie dessen Aussagen zu.379 Ob das Zurückgreifen auf die Analogie in der Regelungslücke tatsächlich selbstverständlich ist, werden die unter C. folgenden Urteilsanalysen zeigen. b) Art. 20 III GG Die Vorschrift des Art. 20 III GG enthält den Halbsatz, dass die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an „Gesetz und Recht“ gebunden sind. Fraglich ist, was dabei unter „Recht“ zu verstehen ist und ob dieser Begriff eine Aussage über die richterliche Rechtsfortbildung enthält. Teilweise wird vertreten, der Hinweis auf „Gesetz und Recht“ sei lediglich tautologischer Natur.380 In diesem Falle gesteht man dem Begriff „Recht“ keine eigenständige Bedeutung zu. Dagegen steht eine Ansicht, die mit dem Begriff „Recht“ in Art. 20 III GG überpositive materielle Gerechtigkeitsvorstellungen verbindet381. Sie sieht jedoch
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Dazu oben B. III. 2. b) bb). Motive zum BGB, Bd. I, Allgemeiner Theil, Erstes Buch, Erster Abschnitt, A. III. 3. (S. 16). 378 Protokolle der 2. Kommission in Auszügen abgedruckt bei Jakobs/Schubert, Beratung des BGB, §§ 1 – 240, 2. Teilband, Anhang I: §§ 1, 2 E I (S. 1199 f.). 379 s. o. 380 Dazu Jarass/Pieroth-Jarass Art. 20 Rn. 52 m.w.N.; von Münch/Kunig-Schnapp Art. 20 Rn. 61 m.w.N. 381 Sachs-Sachs Art. 20 Rn. 103 m.w.N.; Staudinger-Honsell Einl zum BGB Rn. 210; für einen außerpositiven Inhalt auch Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 22 A. II. 3. (Rn. 711). 377
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B. Theoretische Grundlagen
die zentralen Gerechtigkeitsvorstellungen bereits im Grundgesetz verwirklicht.382 Da die Inhalte des Grundgesetzes für das einfache Gesetz verbindlich seien, sei ein Konflikt zwischen Gesetz und Recht unter der Herrschaft des Grundgesetzes schwer denkbar.383 In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, wenn man die grundlegenden Prinzipien der Rechtsordnung384 bzw. die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanenten Wertvorstellungen385 als „Recht“ i.S.v. Art. 20 III GG bezeichnet. Es sind quasi diejenigen Gerechtigkeitsvorstellungen, die in der Rechtsordnung enthalten sind. Nach allgemeiner Auffassung kann man zudem das Gewohnheitsrecht als außergesetzliche Rechtsquelle zum „Recht“ i.S.v. Art. 20 III GG zählen.386 Insgesamt bleibt der Begriff des „Rechts“ in Art. 20 III GG damit vieldeutig.387 Meint man damit die grundlegenden Prinzipien der Rechtsordnung und das Gewohnheitsrecht, sind das zwei Inhalte, die bei der Lückenfüllung zum Einsatz kommen können.388 Honsell geht sogar so weit, aus Art. 20 III GG eine Ermächtigung zur Lückenfüllung und Rechtsfortbildung abzuleiten.389 Die Formel von der Bindung an Gesetz und Recht enthalte einen Hinweis auf die materielle Gerechtigkeit und eine gerechte Rechtsanwendung schließe die Lückenfüllung mit ein.390 Unabhängig davon, ob man dem zustimmen will oder nicht, ist es aber so, dass Art. 20 III GG keine Anweisungen enthält, wie man im Lückenfall vorzugehen hat. Diese Vorschrift enthält vielleicht einen gewissen Hinweis auf die Zulässigkeit von Rechtsfortbildung. Sie enthält aber keine Anleitung zur Lückenfüllung. Dasselbe gilt für § 132 IV GVG391, der die Rechtsfortbildungskompetenz des BGH anerkennt. c) § 242 BGB Bei § 242 BGB stellt sich das Problem, dass sich in Rechtsprechung und Lehre ein Verständnis dieser Norm durchgesetzt hat, das deren eigentlichem Wortlaut nicht 382
Sachs-Sachs Art. 20 Rn. 103 mit zahlreichen Nachweisen in Fn. 459. Sachs-Sachs Art. 20 Rn. 104 mit zahlreichen Nachweisen in Fn. 463; ein Nachweis auch bei Staudinger-Honsell Einl zum BGB Rn. 210 Fn. 451. 384 Sachs-Sachs Art. 20 Rn. 106. 385 BVerfGE 34, 269 (287) – Soraya. 386 Sachs-Sachs Art. 20 Rn. 106; Jarass/Pieroth-Jarass Art. 20 Rn. 53; Rüthers/Fischer/ Birk, Rechtstheorie, § 22 A. II. 3. (Rn. 711). 387 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 22 A. II. 3. (Rn. 711) 388 Zu den Rechtsprinzipien vgl. oben B. III. 2. a) cc); zum Gewohnheitsrecht s. o. B. II. 3. 389 Staudinger-Honsell Einl zum BGB Rn. 211. 390 s. o. 391 Gerichtsverfassungsgesetz vom 12. September 1950 in der Fassung der Bekanntmachung vom 9. Mai 1975 (BGBl. I S. 1077), aktuelle Fassung abgedruckt in Schönfelder, Deutsche Gesetz, Nr. 95. 383
V. Lückenfüllungsnormen
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mehr entspricht. Hier wird vertreten, dass man sich am Wortlaut der Norm orientieren sollte. aa) Am Wortlaut orientiertes Verständnis von § 242 BGB Die Vorschrift des § 242 BGB sagt, dass der Schuldner verpflichtet sei, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern. Nach seinem Wortlaut setzt § 242 BGB also ein Schuldverhältnis voraus, in dem Leistungspflichten bestehen. Diese Leistungspflichten müssen nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte erfüllt werden. In § 242 BGB ist also nur die Art und Weise, „wie“ eine Leistung zu erbringen ist, geregelt.392 Es ist jedoch eine doppelt analoge Anwendbarkeit von § 242 BGB auf Fälle denkbar, in denen es darum geht, „ob“ ein Gläubiger eine Leistung fordern darf.393 Aus § 242 BGB kann man den allgemeineren Grundsatz ableiten, dass die Parteien eines Schuldverhältnisses sich hinsichtlich der Rechte und Pflichten aus demselben redlich zu verhalten haben. Wenn die Pflicht zur Redlichkeit den Schuldner bei der Ausübung seiner Pflichten trifft, muss sie ebenso für den Gläubiger bei der Geltendmachung seiner Rechte gelten, da der Gläubiger auch Partei des Schuldverhältnisses ist (erste Analogie). Wenn man redliches Verhalten hinsichtlich des „Wie“ einer Leistung fordert, muss dies auch hinsichtlich des „Ob“ der Leistung gelten, da beides in unmittelbarem Zusammenhang mit der Leistungspflicht steht (zweite Analogie). Als Maßstab, der an eine Leistung anzulegen ist, nennt § 242 BGB „Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte“. Der Begriff der Verkehrssitte verweist auf die in einer Gesellschaft oder deren Teilbereichen tatsächlich geltende Verhaltensordnung und ist empirisch festzustellen.394 Sie unterscheidet sich durch das Fehlen der opinio iuris vom Gewohnheitsrecht395 und wird daher hier nicht als Rechtsquelle betrachtet. Bei der Anwendung von § 242 BGB hat sie außerdem seit langem keine Bedeutung mehr.396 Entscheidend für die Anwendung von § 242 BGB ist hingegen die Formulierung „Treu und Glauben“. Der inhaltliche Maßstab dafür soll sich aus außerrechtlichen sozialen Geboten und ethischen Prinzipien ergeben, die der ganzen Rechtsordnung zugrunde liegen, auch wenn sie im Recht nicht oder nur partiell positiviert sind.397 Damit handelt es sich zunächst weitgehend um außerrechtliche Wertmaßstäbe. Mit 392
Palandt-Grüneberg § 242 Rn. 1. Beispiele dafür finden sich in den Analysen von RGZ 144, 22 [C. I. 6. a)], BGHZ 97, 135 [C. I. 10. a)] und BGHZ 108, 179 [C. I. 11. a)] jeweils unter cc). 394 MüKo-Schubert § 242 Rn. 12 u. 14. 395 MüKo-Schubert § 242 Rn. 12. 396 MüKo-Schubert § 242 Rn. 2 u. 14. 397 MüKo-Schubert § 242 Rn. 11. 393
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B. Theoretische Grundlagen
dieser Formulierung wird zudem suggeriert, der Richter entscheide innerhalb des § 242 BGB nach objektiven Wertmaßstäben.398 Eindeutig feststellbare objektive Wertmaßstäbe gibt es jedoch nicht.399 Für die sozialen Gebote beispielsweise gilt, dass das in der Gesellschaft vorfindbare Wertverständnis in heutiger Zeit heterogen ist.400 Eindeutige soziale Gebote lassen sich unter Umständen also gar nicht ermitteln. Dasselbe gilt für sogenannte „ethische Prinzipien“. Was richtig und was falsch ist, kann jeder Mensch nur für sich selbst entscheiden.401 Der Richter entscheidet also bei der Anwendung des § 242 BGB selbst darüber, an welchen Wertungen er sich orientieren will. Er legt seine eigenen Wertmaßstäbe an.402 Solche Wertmaßstäbe sind zudem in der Regel allgemeiner Natur und sagen nichts über die Lösung eines konkreten Interessenkonfliktes aus. Möchte der Richter einen konkreten Fall, der sich innerhalb des § 242 BGB stellt, lösen, muss er also wieder selbst werten. Insgesamt ergibt sich, dass die Formel „Treu und Glauben“ keinerlei Inhalt hat, an dem sich der Richter orientieren kann. Sie fordert ihn vielmehr dazu auf, so zu entscheiden, wie er es für richtig und gerecht hält. Sie erlaubt eine eigene Wertung.403 Eine eigene Wertung des Richters bedeutet aber, dass dieser an Stelle des Gesetzgebers Recht schafft. Da der Richter dazu demokratisch nicht legitimiert ist, ist eine solche eigene Wertung vom Standpunkt eines legitimen Rechts aus problematisch. Daraus folgt, dass der Richter eine Entscheidung, die er auf § 242 BGB stützt, genauso wie eine überhaupt nicht legitimierte Entscheidung404 besonders umfassend und sorgfältig begründen muss. Zudem ergibt sich die wichtige Konsequenz, dass die Möglichkeit solcher eigener Wertungen des Richters begrenzt werden sollte. Für § 242 BGB bedeutet das, dass nur die Ausübung von Rechten und Pflichten in einem Schuldverhältnis der Bewertung durch den Richter unterliegen sollte. Dieses Verständnis hatten auch die Redaktionskommissionen des BGB, die die Norm geschaffen haben.405 bb) Erweitertes Verständnis von § 242 BGB In der deutschen Rechtsprechung und Literatur hat sich aber im Laufe der Zeit ein vollkommen anderes Verständnis von § 242 BGB durchgesetzt.406
398
Vgl. MüKo-Schubert § 242 Rn. 34. Dazu oben B. I. 400 MüKo-Schubert § 242 Rn. 36. 401 Dazu oben B. I. 402 MüKo-Schubert § 242 Rn. 34 gesteht subjektiven Wertungen einen Einfluss auf die Rechtsfindung zu. 403 Ähnlich MüKo-Schubert § 242 Rn. 16. 404 Dazu oben B. III. 2. b) bb). 405 MüKo-Schubert § 242 Rn. 19 f. 406 MüKo-Schubert § 242 Rn. 24. 399
V. Lückenfüllungsnormen
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Insbesondere wird dem Wortlaut für die Erkenntnis und die Handhabung der Norm kaum Bedeutung beigemessen.407 Die tatbestandliche Beschreibung des Anwendungsbereichs hat keine begrenzende Wirkung.408 Die sprachlich eindeutigen Schranken des Wortlautes sind durchbrochen und der Anwendungsbereich von § 242 BGB ist deutlich erweitert.409 Das bedeutet konkret, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen wie „Schuldner“ und „Art und Weise der Leistungsbewirkung“ nicht maßgeblich sind.410 Es muss kein Rechtsverhältnis im engeren Sinne bestehen.411 Vielmehr werden Rechtsverhältnisse auf der Grundlage von § 242 BGB erst begründet.412 Allgemein wird gesagt, dass für die Anwendbarkeit von § 242 BGB ein qualifizierter sozialer Kontakt genüge.413 Das gleiche Bild ergibt sich bei den Rechtsfolgen. Nach seinem Wortlaut sagt § 242 BGB nur etwas über die Art und Weise der Leistungsbewirkung aus. Es geht also um eine Konkretisierung von Rechten und Pflichten414. Andere Rechtsfolgen kann man aus § 242 BGB nicht ableiten. Es wird aber vertreten, dass das Spektrum der Rechtsfolgen, die sich aus § 242 BGB ableiten lassen, die gesamte Palette der im Privatrecht angebotenen Rechtsfolgen umfasse415. Diese Durchbrechung des Wortlautes führt dazu, dass § 242 BGB als Grundlage für die richterliche Rechtsfortbildung genutzt wird.416 Es wird sogar vertreten, dass § 242 BGB der Gesetzgebungslösung in Art. 1 ZGB entspreche.417 Interpretiert man § 242 BGB so, wie vorstehend gezeigt, entsteht tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit zur Gesetzgebungslösung des Art. 1 Abs. 2 ZGB. Denn § 242 BGB wird durch dieses erweiterte Verständnis frei von rechtlichen Vorgaben. Die Voraussetzungen der Norm gelten nicht. Es muss insbesondere kein Schuldverhältnis mit Leistungspflichten vorliegen. Demgegenüber genügt ein qualifizierter sozialer Kontrakt. Was ein qualifizierter sozialer Kontakt ist, entscheidet aber wiederum der Richter. Auch die Wahl der Rechtsfolgen ist beliebig. Es bleibt also nur die Bezugnahme auf „Treu und Glauben“, die aber, wie weiter oben gezeigt, auf eine eigene Wertung des Richters hinausläuft. Es handelt sich also um vollkommen freie richterliche Rechtsfortbildung ohne rechtliche Anhaltspunkte. In diesem Sinne besteht
407 408 409 410 411 412 413 414 415 416 417
MüKo-Schubert § 242 Rn. 16. s. o. MüKo-Schubert § 242 Rn. 33. MüKo-Schubert § 242 Rn. 92. MüKo-Schubert § 242 Rn. 93. s. o. MüKo-Schubert § 242 Rn. 95. Dazu MüKo-Schubert § 242 Rn. 83 u. 140 ff. MüKo-Schubert § 242 Rn. 82. MüKo-Schubert § 242 Rn. 24. s. o.
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B. Theoretische Grundlagen
eine Vergleichbarkeit mit Art. 1 Abs. 2 ZGB, der eine freie richterliche Rechtsfindung nach Art des Gesetzgebers erlaubt418. Die Vorschrift des Art. 1 ZGB beschreibt jedoch durch ihren Charakter als Methodennorm im Gegensatz zu § 242 BGB Anwendungsbereich und Art und Weise zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung. Die Vorschrift des Art. 1 ZGB enthält außerdem lediglich formelle methodische Anweisungen zur Rechtsfortbildung. Durch die Anwendung einer reinen Methodennorm entsteht aber keine Legitimität für eine materielle rechtsfortbildende Entscheidung.419 Anders ist es bei § 242 BGB. Diese Vorschrift ist keine Methodennorm, sondern eine materielle Norm, die als solche grundsätzlich geeignet ist, eine Entscheidung zu legitimieren. Aus allem ergeben sich verschiedene Konsequenzen, die § 242 BGB wesentlich von Art. 1 ZGB unterscheiden. Zum einen beschränkt § 242 BGB die Rechtsfortbildung nicht wie Art. 1 ZGB auf den Lückenbereich. Daraus folgt, dass sich aus dem erweiterten Verständnis von § 242 BGB auch eine Rechtsfortbildung contra legem rechtfertigen lässt. Es wird vertreten, dass Regelungen, die „Treu und Glauben“ widersprechen, korrigiert werden können.420 Das bedeutet, dass der Richter aufgrund eigener Wertung entscheidet, ob eine bestehende Regel geändert oder aufgehoben wird. Zur Abänderung bestehenden Rechts ist jedoch nur der Gesetzgeber legitimiert. Der Richter besitzt dazu keine Legitimation und ist daher gem. Art. 20 III GG an Gesetz und Recht gebunden.421 Des Weiteren ist die freie richterliche Rechtsfortbildung im Rahmen von Art. 1 ZGB wegen der fehlenden Legitimität nur als letztes Mittel zu verstehen.422 Die Vorschrift des § 242 BGB würde diese Vorgehensweise aber bei jeder Rechtsfortbildung sofort gestatten. Insgesamt enthält § 242 BGB keine methodischen Anweisungen zur Rechtsfortbildung. Diese Vorschrift würde so eine Rechtsfortbildung ermöglichen, die sich an keinerlei methodischen Kriterien orientiert. Außerdem erlaubt Art. 1 ZGB ausdrücklich das freie richterliche Vorgehen im Rahmen der Gesetzgebungslösung. Diese Erlaubnis, das Recht in nicht legitimierter Weise fortzubilden, fordert den Richter zu einer besonderen Begründung seiner Entscheidung auf. Ganz anders ist es bei § 242 BGB. Diese Vorschrift ist als materielle Norm geeignet, die Entscheidung des Richters zu legitimieren. Wendet man § 242 BGB in der Lücke an, wird suggeriert, man befinde sich noch im Rahmen des Gesetzesrechts. Dadurch besteht die Gefahr, dass sich der Richter mit der Bezug418 Zur inhaltlichen Vorgehensweise im Rahmen der Gesetzgebungslösung vgl. unten B. V. 2. c) bb) (2). 419 Dazu genauer unten B. V. 3. 420 MüKo-Schubert § 242 Rn. 24 m.w.N. in Fn. 56. 421 Zur Gesetzesbindung der Richter vgl. oben B. II. 1. a). 422 Dazu unten B. V. 2. c) aa).
V. Lückenfüllungsnormen
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nahme auf § 242 BGB begnügt und seine Rechtsfortbildung ansonsten nicht mehr begründet. Zusammenfassend kann man sagen, dass § 242 BGB keine Methodennorm ist und somit auch nicht mit Art. 1 ZGB verglichen werden kann. Die Vorschrift des § 242 BGB erlaubt vielmehr in ihrem erweiterten Verständnis eine freie richterliche Wertung, die nicht auf den Lückenbereich beschränkt ist und nicht als letztes Mittel anzuwenden ist. Damit wird § 242 BGB zu einer allgemeinen Gerechtigkeitsnorm, die eine freie Wertung ohne jegliche Einschränkung erlaubt. Eine solche Sicht ist aber weder mit dem Legitimitätsprinzip noch mit dem Demokratieprinzip vereinbar und widerspricht letztlich Art. 20 III GG. Hinzu kommt, dass der Rückgriff auf § 242 BGB im Lückenbereich suggeriert, man wende dort noch Gesetzesrecht an. Dies kann dazu führen, dass die Lücke gar nicht erst offengelegt wird. Damit werden ein methodenehrliches Vorgehen und eine gute rechtsfortbildende Begründung in der Lücke wesentlich erschwert. Dass man § 242 BGB dennoch als Ausgangspunkt der richterlichen Rechtsfortbildung sieht, legt die Vermutung nahe, dass in Deutschland weniger gut rechtsfortbildend begründet wird als in der Schweiz.423 Nicht zuletzt widerspricht das erweiterte Verständnis von § 242 BGB seinem Wortlaut und stellt daher an sich schon eine Rechtsfortbildung contra legem dar. Diese Ausdehnung des Anwendungsbereichs von § 242 BGB kann man nicht legitim begründen. Insgesamt ist das erweiterte Verständnis von § 242 BGB daher abzulehnen. Die Vorschrift sollte ihrem Wortlaut entsprechend angewandt werden, so dass die eigene Wertung des Richters auf die Beurteilung von Rechten und Pflichten im Schuldverhältnis beschränkt bleibt. Wenn man eine Methodennorm zur Rechtsfortbildung benötigt, sollte der Gesetzgeber eine solche schaffen. Die Deutung von § 242 BGB als allgemeine Grundlage richterlicher Rechtsfortbildung aus Billigkeitsgründen begegnet denn auch im Schrifttum immer noch nachdrücklichem Widerspruch.424
2. Art. 1 ZGB In der Schweiz enthält Art. 1 ZGB Anweisungen dazu, wie das Gesetz anzuwenden und wie im Lückenfall vorzugehen ist. In seinem ersten Absatz sagt diese Vorschrift, dass das Gesetz auf alle Rechtsfragen Anwendung finde, für die es nach Wortlaut oder Auslegung eine Bestimmung enthalte. Der zweite Absatz ordnet an, dass, wenn dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden könne, das Gericht nach 423 424
Vgl. die Thesen unten unter B. VI. 3. Müko-Schubert § 242 Rn. 30 m.N. in Fn. 68.
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B. Theoretische Grundlagen
Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehle, nach der Regel entscheiden solle, die es als Gesetzgeber aufstellen würde (Rechtsfortbildung modo legislatoris425, im Folgenden bezeichnet als Gesetzgebungslösung). Der dritte Absatz beinhaltet, dass das Gericht dabei bewährter Lehre und Überlieferung folge. Teile der Anordnungen von Art. 1 ZGB sind bereits im aktuellen schweizerischen Verfassungsrecht enthalten. Die in Art. 1 Abs. 1 ZGB enthaltene Bindung der Gerichte an das Gesetz ergibt sich ausdrücklich aus Art. 5 Abs. 1 BV und hat ihre Grundlage zudem im Gewaltenteilungsprinzip sowie im Willkürverbot des Art. 9 BV.426 Die Pflicht zur Gesetzesergänzung lässt sich zudem aus dem in Art. 29 Abs. 1 BV enthaltenen Rechtsverweigerungsverbot ableiten.427 Aus diesen Gründen wird vertreten, dass Art. 1 ZGB nichts anordne, was heute nicht von Verfassungs wegen ohnehin gelte, so dass für die Verankerung methodischer Anweisungen auf Gesetzesstufe keine Notwendigkeit mehr bestehe428. Dazu lässt sich sagen, dass man aus der Bundesverfassung zwar ableiten kann, dass der Richter in der Lücke entscheiden muss, jedoch nicht, welche Methoden er bei dieser Entscheidung anzuwenden hat. Insbesondere die in Art. 1 Abs. 2 und 3 enthaltene Gesetzgebungslösung unter Berücksichtigung von bewährter Lehre und Überlieferung lässt sich aus dem Verfassungsrecht nicht ableiten. Die Vorschrift des Art. 1 ZGB ist somit als eine die Lückenfüllung regelnde Methodennorm nicht verzichtbar. Ob sich ihre Existenz im Gegensatz zum deutschen Recht, das auf eine Lückenfüllungsnorm verzichtet, auf die Qualität der lückenfüllenden Begründungen auswirkt, werden die unter C. und D. durchgeführten Urteilsanalysen zeigen. Im Folgenden soll nach einer kurzen historischen Einführung der wesentliche Inhalt von Art. 1 ZGB erläutert werden, und zwar unter Bezugnahme auf die hier vertretene und unter B. III. erläuterte ideale Vorgehensweise bei einer dem Legitimitätsgedanken entsprechenden Lückenfüllung. Dabei soll herausgearbeitet werden, inwiefern Art. 1 ZGB die Beachtung des Legitimitätsprinzips einerseits fördern und wo es andererseits Probleme geben könnte. Diese Erörterungen sollen zusammen mit den vorstehenden Ausführungen zu § 242 BGB unter B. V. 1. c) die Grundlage für die unter B. VI. 3. formulierten Thesen liefern. Dabei wird das Problem behandelt, dass Art. 1 ZGB die Analogie zur Auslegung zählt, und Inhalt und Bedeutung der Gesetzgebungslösung sowie von bewährter Lehre und Überlieferung werden erklärt. Aufgrund der bereits unter B. II. 3. festgestellten geringen Bedeutung des Gewohnheitsrechts in der Schweiz wird auf den in Art. 1 Abs. 2 ZGB enthaltenen Verweis auf das Gewohnheitsrecht nicht mehr eingegangen. 425
BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 317; Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 7; BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 435; BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 34; Kramer, Methodenlehre, IV. 1. (S. 239). 426 Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 12. 427 Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 12. 428 Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 12.
V. Lückenfüllungsnormen
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Da die unter D. I. folgende Analyse der schweizerischen Urteile auch drei Entscheidungen zum Sozialversicherungsrecht und ein Urteil zum Konkursrecht enthält, soll zusätzlich geklärt werden, ob Art. 1 ZGB im öffentlichen Recht analog angewandt werden kann. a) Entstehungsgeschichte und Bekenntnis zur Lückenhaftigkeit Die Regelung des Lückenproblems war eine Idee von Eugen Huber429, dem Schöpfer des schweizerischen Zivilgesetzbuches vom 10. Dezember 1907430, und hat über einen Vorentwurf und einen Entwurf des Bundesrates in Art. 1 ZGB ihren Niederschlag gefunden431. Von wem Eugen Huber bei der Abfassung dieser Vorschrift beeinflusst war, bleibt unklar.432 Ob insbesondere Art. 1 Abs. 2 ZGB auf die Methodenlehre von François Gény zurückgeht, ist umstritten.433 Auch Rudolph Stammler, Max Rümelin und Adolph von Vangerow wird ein Einfluss auf die Abfassung von Art. 1 ZGB zugeschrieben.434 Die Anweisung in Art. 1 Abs. 2 ZGB erinnert zudem an den Kant’schen kategorischen Imperativ und findet sich schon in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles.435 Eine Beeinflussung Eugen Hubers durch Aristoteles ist jedoch ebenfalls nicht nachzuweisen.436 Tatsache ist, dass Art. 1 ZGB die Lückenhaftigkeit des Gesetzes zugibt437 und durch diesen Inhalt zur Zeit seines Erlasses weltweit Aufsehen erregte438. Dieses in Art. 1 Abs. 2 ZGB enthaltene Bekenntnis zur Lückenhaftigkeit verbunden mit der 429
BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 5. Ausführlicher zur Rolle Eugen Hubers Tuor/Schnyder/Schmid/Rumo-Jungo, Zivilgesetzbuch, § 2 I. (S. 7 ff.). 431 Zu den Vorentwürfen BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 2 ff., und BK-Emmenegger/ Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 3 ff. 432 Zu den verschiedenen möglichen Einflüssen ausführlich Huwiler Beiheft 16 zur ZSR 1994, S. 57 ff. (S. 83 f. Fn. 131 f.). 433 Dafür BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 5; unsicher BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 13; ausführliche Nachweise zum Streitstand bei BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 22 Fn. 61. 434 Für Stammler und Vangerow BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 5 m.w.N.; für Vangerow, Stammler und Rümelin BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 12 u. 14 m.w.N.; für Stammler BKEmmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 22 mit einem Nachweis. 435 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch V Kapitel XIV 1137b (S. 189); zum Ganzen BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 34. 436 So BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 11; dazu, dass Eugen Huber die einschlägige Stelle in der Nikomachischen Ethik gekannt hat, Huwiler Beiheft 16 zur ZSR 1994, S. 57 ff. (S. 83 f. Fn. 131). 437 Steinauer, Le Titre préliminaire du Code civil (Traité de droit privé suisse Vol. II Tome 1), § 2 III. A. 1. (Rn. 98); weiterführende Nachweise zu Art. 1 Abs. 2 ZGB als Eingeständnis der Lückenhaftigkeit bei BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 25 a.E. 438 BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 35 und Rn. 288 mit Darstellung des historischen Kontextes; Kramer, Methodenlehre, IV. 1. (S. 240) mit Hinweis auf die Reaktion von Gény in Fn. 767. 430
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B. Theoretische Grundlagen
offenen Aufforderung zur Lückenfüllung an den Richter nach Art des Gesetzgebers soll interpretatorischen Scheinbegründungen vorbeugen.439 Die ausdrückliche Anordnung des Gesetzgebervorgehens fordert den Richter dazu auf, bewusst autonom zu begründen und damit methodenehrlich vorzugehen.440 In der Tat sprechen ein Bekenntnis zur Lückenhaftigkeit und eine Erlaubnis zur Rechtsfortbildung dafür, dass der Richter nicht um jeden Preis versucht, die Lösung aus dem Gesetz abzuleiten, auch wenn das nicht mehr möglich ist. Aus diesem Grund kann man vermuten, dass die Lücken im Gesetz eher auf- als zugedeckt werden. Das würde zunächst bedeuten, dass die Grenzen der Auslegung korrekt gezogen werden. Hat man eine Lücke aber einmal als solche definiert, geht man auch bei der lückenfüllenden Begründung sorgfältiger vor. Es ist insbesondere zu vermuten, dass die ausdrückliche Erlaubnis, wie ein Gesetzgeber vorzugehen, dazu führt, dass im Rahmen der Lückenfüllung weniger auf Scheinbegründungen zurückgegriffen wird. Die sich aus dem Bekenntnis der Lückenhaftigkeit und der Gesetzgebungslösung des Art. 1 Abs. 2 ZGB ergebende Vermutung lautet also zunächst, dass die Lückenfüllung methodisch genauer und mit weniger Scheinbegründungen durchgeführt wird als beispielsweise in Deutschland, wo auf eine Bekenntnis zur Lückenhaftigkeit verzichtet wird.441 b) Die Analogie wird zur Auslegung gezählt In Art. 1 ZGB wird die Analogie nicht erwähnt. Das liegt daran, dass Eugen Huber die Analogie zur Auslegung nach Art. 1 Abs. 1 ZGB gerechnet hatte.442 Für ihn lag eine nach Art. 1 Abs. 2 und 3 ZGB zu behandelnde Lücke erst vor, wenn eine Analogie nicht möglich war.443 Auch heute noch gibt es Stimmen in der Literatur, die die Analogie dem ersten Absatz zurechnen.444 Andere, die die Auslegung enger
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Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 45 f.; BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 336. 440 Kramer, Methodenlehre, IV. 3. b) cc) (S. 252). 441 Vgl. die Thesen unten unter B. VI. 3. 442 Huber, Erläuterungen zum Vorentwurf, Einl. V. 1. (S. 36 f.); dazu BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 35, BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 22 a.E. und Rn. 160, Kramer, Methodenlehre, III. 5. a) aa) (S. 203 f.), und Steinauer, Le Titre préliminaire du Code civil (Traité de droit privé suisse Vol. II Tome 1), § 5 I. F. 1. (Rn. 383). 443 Huber, Recht und Rechtsverwirklichung, Dritte Abteilung III. 2. (S. 354); dazu BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 35, und Kramer, Methodenlehre, III. 5. a) aa) (S. 203 f.). 444 Nachweise bei BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 161 Fn. 434 und Rn. 377 Fn. 951, eigener Standpunkt in Rn. 388; Nachweise außerdem bei Kramer, Methodenlehre, III. 5. a) aa) (S. 204) in Fn. 621; außerdem Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 203. Nach Steinauer, Le Titre préliminaire du Code civil (Traité de droit privé suisse Vol. II Tome 1), § 5 I. F. 1. (Rn. 383) soll die Analogie geprüft werden, bevor eine Lücke festgestellt wird; dort außerdem umfangreiche Nachweise zum Meinungsstand in Fn. 34.
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verstehen, müssen die Analogie zur Gesetzesergänzung modo legislatoris des zweiten Absatzes zählen.445 Hier wird die Auffassung vertreten, dass die Grenze der Auslegung die Wortlautgrenze ist und die Analogie somit keine Auslegungs-, sondern eine Lückenfüllungsmethode darstellt.446 Zählt man die Analogie zur Auslegung, würde man nach hier vertretener Auffassung die Grenzen der Auslegung überdehnen. Neben der oben beschriebenen Historie legt jedoch auch der Wortlaut von Art. 1 ZGB nahe, dass er die Analogie zur Auslegung zählt.447 Beim Wortlaut geht es vor allem um die Formulierung in Abs. 2 „kann dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden“, die auf die Gesetzesanwendung und -auslegung in Abs. 1 Bezug nimmt. Da man bei der Analogie noch das Gesetz heranzieht, kann man zu dem Ergebnis kommen, dass diese Formulierung auch die Analogie umfasst und diese somit zur Auslegung im Sinne von Abs. 1 zu zählen ist. Dadurch besteht die Gefahr, dass auch die rechtsfortbildende Rechtsprechung die Analogie zur Auslegung zählt und somit die Grenzen der Auslegung überdehnt. c) Inhalt und Bedeutung der Gesetzgebungslösung Der zweite Absatz von Art. 1 ZGB ordnet an, dass das Gericht, wenn dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden könne, nach Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehle, nach der Regel entscheiden solle, die es als Gesetzgeber aufstellen würde. Die folgende Erörterung lässt das Gewohnheitsrecht aus, da dieses bei der schweizerischen Rechtsfortbildung keine praktische Relevanz hat (s. o. B. II. 3.). Die folgende Darstellung soll sich also auf die Gesetzgebungslösung beschränken. Dabei stellt sich vor allem die Frage, wie sich die Gesetzgebungslösung zum Ziel der dem Legitimitätsprinzip entsprechenden Lückenfüllung über gesetzesnahe Methoden verhält. Als Weiterführung der oben unter b) gemachten Ausführungen zum Verhältnis von Analogie und Auslegung im Rahmen von Art. 1 ZGB soll hier das Verhältnis von Analogie und Gesetzgebungslösung geklärt werden. Es geht also um die Stellung der Gesetzgebungslösung in der Rangfolge der Lückenfüllungsmethoden. Zudem wird gefragt, ob Art. 1 ZGB darauf hinwirkt, dass diese Rangfolge vom rechtsfortbildenden Richter auch eingehalten wird. In diesem Zusammenhang kommt der Tatsache besondere Bedeutung zu, dass die Analogie als Lückenfüllungsmöglichkeit in Art. 1 Abs. 2 ZGB keine Erwähnung findet. Um ein Vorgehen im Sinne der Gesetzgebungslösung in den unter D. folgenden Urteilsanalysen identifizieren zu können, soll zudem der Inhalt der Gesetzgebungslösung erklärt werden. Dabei geht es um die methodischen Anweisungen, die 445 Nachweise bei BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 377 Fn. 952; außerdem BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 12 und 35. 446 Vgl. oben B. II. 1. b) bb) (2) (c), B. III. 1. a) und B. III. 2. a) aa). 447 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 441.
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B. Theoretische Grundlagen
sich aus der Pflicht zu einem Gesetzgebervorgehen ableiten lassen, und um die inhaltlichen Erwägungen, die der Richter als Ersatzgesetzgeber anstellen darf. Im Rahmen des inhaltlichen Aspektes wird noch einmal kurz auf die rechtsvergleichende Methode eingegangen. aa) Verhältnis Analogie – Gesetzgebungslösung Wie bereits oben unter B. II. 1. b) bb) (2) (c), B. III. 1. a) und B. III. 2. a) aa) dargelegt wurde, wird die Analogie in dieser Untersuchung nicht als Auslegungsmethode, sondern als wesentliche Methode der gesetzesnahen und damit am Legitimitätsgedanken orientierten Lückenfüllung betrachtet. Dies wird auch von einem Teil der schweizerischen Literatur vertreten.448 Sieht man die Analogie als Lückenfüllungsmethode, muss man bei einer Untersuchung von Art. 1 Abs. 2 ZGB aber ihr Verhältnis zur Gesetzgebungslösung klären. Hat man eine Rangfolge festgestellt, bleibt zu fragen, ob Art. 1 Abs. 2 ZGB auch so formuliert ist, dass die Gerichte diese Rangfolge einhalten werden. In der Literatur wird vertreten, dass die Gesetzgebungslösung erst dann zur Anwendung kommen solle, wenn alle gesetzlichen Möglichkeiten, namentlich die Analogie, ausgeschöpft seien.449 Die Lückenfüllung solle also primär auf dem Wege der Analogie erfolgen.450 Es sei unumstritten, dass die Gesetzgebungslösung letztes Mittel der Rechtsanwendung sei.451 Dies entspricht auch der hier vertretenen Auffassung. Aus dem Legitimitätsgedanken ergibt sich, dass einer gesetzesnahen Rechtsfortbildungsmethode – wie der Analogie – der Vorzug vor einer Methode zu geben ist, die sich – wie die Gesetzgebungslösung – aus außerrechtlichen Argumenten speist452. Die Frage ist jedoch, ob Art. 1 Abs. 2 ZGB auch so formuliert ist, dass die Rechtsprechung aufgefordert wird, das Primat der Analogie zu beachten und die Gesetzgebungslösung als letztes Mittel zu betrachten. Es ist zunächst möglich, den Wortlaut von Art. 1 Abs. 2 ZGB so auszulegen, dass die Analogie zur Lückenfüllung gehört. Man kann die Aussage „kann dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden“ nämlich – anders als unter B. V. 2. b) angedacht – auch enger interpretieren. Geht man davon aus, dass mit dieser Aussage nur die direkte und nicht die analoge Gesetzesanwendung gemeint ist, muss man die Analogie nicht mehr der Auslegung, sondern der Lückenfüllung zurechnen. Damit besteht zwar weiterhin die unter B. V. 2. b) formulierte Gefahr, dass die Analogie zur Auslegung gezählt wird. Es ist aber
448
Nachweise oben in Fn. 445. BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 435 u. 442; Kramer, Methodenlehre, IV. 1. (S. 239). 450 BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 346. 451 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 156. 452 Zum Inhalt der Gesetzgebungslösung vgl. unten B. V. 2. c) bb) (2). 449
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ebenso möglich, dass die Gerichte die Analogie als im Rahmen von Art. 1 Abs. 2 ZGB anwendbare Lückenfüllungsmethode verstehen.453 Problematisch wird es jedoch, was die Rangfolge der Lückenfüllungsmethoden angeht. Dadurch dass Art. 1 Abs. 2 ZGB die Analogie nicht erwähnt, sondern – abgesehen vom Gewohnheitsrecht – nur die Gesetzgebungslösung enthält, macht er keine Aussage zur Rangfolge der Lückenfüllungsmethoden. Das sich aus dem Legitimitätsprinzip ergebende Primat der Analogie vor der Gesetzgebungslösung lässt sich Art. 1 Abs. 2 ZGB nicht entnehmen. Damit besteht grundsätzlich die Gefahr, dass die Analogie bei der richterlichen Rechtsfortbildung nicht als primäre Lückenfüllungsmöglichkeit angewandt wird. Genauso wenig ist gesagt, dass die Gesetzgebungslösung erst nach der Analogie als letztes Mittel zum Einsatz kommt. Damit bleibt es bei der unter B. V. 2. a) formulierten Vermutung, dass die Lückenfüllung in der Schweiz methodisch genauer und mit weniger Scheinbegründungen durchgeführt wird als in Deutschland. Es schließt sich jedoch eine zweite Vermutung an, dass sich auch die schweizerische Lückenfüllung nicht unbedingt am Legitimitätsprinzip orientiert, da Art. 1 Abs. 2 ZGB den Vorrang gesetzesnaher Lückenfüllungsmöglichkeiten wie der Analogie vor einer außerrechtlichen Lückenfüllung nicht enthält.454 bb) Inhalt der Gesetzgebungslösung im Besonderen Hinsichtlich des Inhaltes der Gesetzgebungslösung soll auf die methodischen Anweisungen eingegangen werden, die sich aus der Pflicht zu einem Gesetzgebervorgehen ableiten lassen, sowie auf die inhaltlichen Erwägungen, die der Richter als Ersatzgesetzgeber anstellen darf. (1) Methodische Anweisungen In Art. 1 Abs. 2 ZGB ist die Anweisung enthalten, das Gericht solle nach der Regel entscheiden, die es als Gesetzgeber aufstellen würde. Wenn es wie ein Gesetzgeber entscheiden soll, bedeutet das aber, dass es auch die Methoden anwenden muss, derer sich ein Gesetzgeber bedient. Ein Gesetzgeber entscheidet im Gegensatz zum Richter keinen Einzelfall, sondern stellt allgemeine Regeln auf, die für eine Vielzahl von Fällen gelten. Das bedeutet für die richterliche Lückenfüllung modo legislatoris, dass der Richter dabei eine objektive, über den konkreten Streitgegenstand hinausgehende Betrachtungsweise an den Tag legen muss.455 Er muss also die für den zu entscheidenden Fall typische generell-abstrakte Interessenlage heraus453
Zur uneinheitlichen Praxis des Bundesgerichts zu dieser Frage BK-Emmenegger/ Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 162 f., 379 u. 439 ff. jeweils mit Beispielen (Rn. 439 ff. speziell zur Anwendung der Analogie im Rahmen von Art. 1 Abs. 2 ZGB). 454 Vgl. die Thesen unten unter B. VI. 3. 455 Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 44.
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B. Theoretische Grundlagen
arbeiten und eine Regel bilden, die vergleichbaren künftigen Sachverhalten Rechnung trägt.456 Aus Art. 1 Abs. 2 ZGB folgt damit das Generalisierungsgebot, eine allgemeine und abstrakte Regel zu bilden.457 Zweck dieses Gebotes ist es, durch eine allgemeingültige Regel Rechtssicherheit zu schaffen.458 Der Richter soll zwar wie ein Gesetzgeber vorgehen, es gibt aber auch Unterschiede zwischen dem rechtsfortbildenden Richter und dem Gesetzgeber, die sich in der bei der Rechtsfortbildung zu beachtenden Methode niederschlagen. Bei der richterlichen Lückenfüllung handelt es sich immer um das Einfügen eines Rechtssatzes in ein bestehendes Ganzes, während der Gesetzgeber ein Ganzes vollständig neu schaffen oder bestehende Vorschriften abändern kann.459 Das bestehende Gesetzesrecht ist also für den Richter eine bestehende, unabänderliche Größe.460 Das bedeutet, dass sich eine im Gesetzgebervorgehen entwickelte Regel widerspruchsfrei in das vorhandene Recht einfügen muss.461 Zusätzlich könnte man sich fragen, ob sich aus dem Gebot des Sich-Einfügens nicht eine Verpflichtung ableitet, bei der Lückenfüllung Analogie anzuwenden. Denn jede über eine Analogie entwickelte Lösung orientiert sich an den im Gesetzesrecht enthaltenen Wertungen und fügt sich somit ein. Meier-Hayoz formuliert denn auch für die Rechtsanalogie, nur wenn der Richter aus dem [über eine Rechtsanalogie] ermittelten Geist der Rechtsordnung heraus die Lückenfüllung vornehme, sei die Garantie vorhanden, dass die Gesetzesergänzung sich harmonisch in den bestehenden Rechtsstoff einfüge.462 Wenn man aber allgemein gesprochen sagt, nur bei einer Anwendung von Analogie sei ein Sich-Einfügen garantiert, bedeutet das, dass ein Sich-Einfügen zwingend die Anwendung von Analogie fordert. Damit hätte man aus der Gesetzgebungslösung ein Analogiegebot abgeleitet. Diese Annahme ist jedoch nicht zutreffend. Wie oben ausgeführt, garantiert zwar jede Analogie ein Sich-Einfügen, nicht jede Lösung, die sich einfügt, muss aber zwingend über eine Analogie gefunden werden. Wenn man z. B. dort, wo die Möglichkeit einer Analogie nicht besteht, eine Lösung im Gesetzgebervorgehen sucht, kann sich diese ebenso gut in das vorhandene Recht einfügen, sofern der Richter darauf achtet. Aus dem Gebot des Sich-Einfügens folgt also keine Verpflichtung zur Analogie. Ein Analogiegebot lässt sich aus der Gesetzgebungslösung somit nicht ableiten. 456
Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 44; Steinauer, Le Titre préliminaire du Code civil (Traité de droit privé suisse Vol. II Tome 1), § 5 III. B. (Rn. 403). 457 Kramer, Methodenlehre, IV. 3. b. (S. 250 f.); BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 318. 458 Steinauer, Le Titre préliminaire du Code civil (Traité de droit privé suisse Vol. II Tome 1), § 5 III. B. (Rn. 404). 459 BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 344. 460 s. o. 461 BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 345; Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 44; Steinauer, Le Titre préliminaire du Code civil (Traité de droit privé suisse Vol. II Tome 1), § 5 III. C. (Rn. 407); BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 457 f.; BSKHonsell Art. 1 Rn. 36. 462 BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 352.
V. Lückenfüllungsnormen
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(2) Inhaltliches Vorgehen Auch hinsichtlich der inhaltlichen Erwägungen, die ein Richter im Rahmen des Gesetzgebervorgehens anzustellen hat, geht es darum, sich an der Vorgehensweise des tatsächlichen Gesetzgebers zu orientieren. Ein Gesetzgeber, der Recht schafft, versucht nicht, das neue Recht aus dem bestehenden abzuleiten, sondern er beleuchtet mit Hilfe außerrechtlicher Erwägungen einen zu regelnden Sachverhalt möglichst genau, um eine Grundlage für seine Entscheidung zu erhalten. Die Entscheidung, wie ein Sachverhalt zu regeln ist, trifft er dann aufgrund eigener Wertung. Genauso muss der Richter vorgehen, wenn er über ein Gesetzgebervorgehen eine Lücke füllen will. Die außerrechtlichen Erwägungen, die er dabei heranziehen kann, können sich aus anderen Wissenschaftsbereichen ableiten, wie etwa den Wirtschaftswissenschaften (ökonomische Argumente)463, der Psychologie, der Kunsttheorie, der Demoskopie464 oder der Soziologie465. Für diese außerrechtlichen Argumente gilt jedoch, dass aus ihnen niemals unmittelbar Wertungen abgeleitet werden können – der Schluss vom Sein auf das Sollen ist nicht möglich.466 Sie können daher nur als Reflexionsanreiz dienen, indem sie den sozialen und ökonomischen Kontext der angestrebten rechtlichen Regelung offen legen.467 Die Regelung stellt der Richter aufgrund eigener Wertung auf. Die außerrechtlichen Argumente können zudem dabei helfen, die von einer zu findenden Regelung betroffenen Interessen zu identifizieren und näher zu beleuchten. Der Richter muss dann im Rahmen seiner Rechtsfindung die Interessen gegeneinander abwägen468 und zu einer Entscheidung kommen. Diese Entscheidung beruht dann wieder auf seiner eigenen Wertung. Indem die oben erwähnten außerrechtlichen Argumente den tatsächlichen Kontext einer angestrebten Regelung veranschaulichen, dienen sie gleichzeitig als Grundlage dafür, die Folgen einer solchen Regelung kenntlich zu machen. Eine solche Folgenanalyse ermöglicht es dem Richter wie ein Gesetzgeber die Praktikabilität469 und Zweckmäßigkeit470 einer zu findenden Regelung zu prüfen. Welcher 463
Kramer, Methodenlehre, IV. 3. c) ee) (1) (S. 269 ff.). Kramer, Methodenlehre, IV. 3. c) ee) (2) (S. 273 f.). 465 Steinauer, Le Titre préliminaire du Code civil (Traité de droit privé suisse Vol. II Tome 1), § 5 III. C. (Rn. 408). 466 Kramer, Methodenlehre, IV. 3. c) ee) (3) (S. 274 f.); MüKo-Säcker Einl. zum BGB Rn. 103; dazu außerdem oben B. I. 467 Kramer, Methodenlehre, IV. 3. c) ee) (3) (S. 274). 468 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 456; BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 319 ff. 469 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 451 und 462; Steinauer, Le Titre préliminaire du Code civil (Traité de droit privé suisse Vol. II Tome 1), § 5 III. B. (Rn. 404); Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 187. 464
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B. Theoretische Grundlagen
Zweck ihm dabei verfolgenswert erscheint, bewertet er jedoch wieder selbst. Mit Hilfe der Folgenanalyse trifft der Richter – wie der Gesetzgeber – eine rechtspolitische Entscheidung.471 Teilweise wird vertreten, dass der Richter im Rahmen des Gesetzgebervorgehens Gerechtigkeitserwägungen anstellen solle.472 Diese sind jedoch schwer fassbar473 und münden immer in eine eigene Wertung des Richters, da sich nicht in allgemeinverbindlicher Weise festlegen lässt, was objektiv gerecht ist474. Wie oben beschrieben, muss der Richter aber im Rahmen der Gesetzgebungslösung ohnehin selbst werten. Die Forderung, Gerechtigkeitserwägungen anzustellen, hat daher keinen eigenen Inhalt und wird somit hier abgelehnt. Schließlich kann der Richter vorgesehene Gesetzesänderungen bei seiner Regelbildung berücksichtigen.475 Dies ist ein Weg, Systemkonformität mit zukünftigen Regelungen herzustellen, und kann als Ergänzung dazu verstanden werden, dass sich durch richterliche Rechtsfortbildung geschaffene Regelungen in das bestehende Recht einfügen müssen.476 Da laufende gesetzgeberische Revisionsvorhaben noch kein geltendes Recht darstellen, kann man eine Bezugnahme darauf ebenfalls als außerrechtliche Argumentation bezeichnen. Insgesamt gilt, dass der Richter im Bereich der Gesetzgebungslösung offen und methodenehrlich vorgehen und bewusst autonom begründen sollte477, um deutlich zu machen, dass er sich im nicht legitimierten Bereich befindet. In diesem nicht legitimierten Bereich ist dann ein besonderer Anspruch an die Qualität der Begründungen zu stellen. Diese Qualität der Begründungen kann durch rechtsvergleichende Erwägungen unterstützt werden, die ein zulässiges Hilfsmittel zur Lückenfüllung jenseits gesetzesnaher Methoden darstellen.478 Die rechtsvergleichende Methode kann daher im Rahmen der Gesetzgebungslösung des Art. 1 Abs. 2 ZGB Anwendung finden.479 470 Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 203 a.E.; BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 324. 471 Kramer, Methodenlehre, IV. 3. b) cc) (S. 253 f.). 472 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 451; Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 203 a.E. 473 Kramer, Methodenlehre, IV. 3. c) ee) (1) (S. 273). 474 Dazu oben B. I. 475 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 459; Steinauer, Le Titre préliminaire du Code civil (Traité de droit privé suisse Vol. II Tome 1), § 5 III. C. (Rn. 408); Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 193. 476 Zu Letzterem vgl. oben B. V. 2. c) bb) (1); zum Ganzen BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 459. 477 Kramer, Methodenlehre, IV. 3. b) cc) (S. 252). 478 Dazu ausführlich oben B. II. 6. 479 BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 368; BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 36; Steinauer, Le Titre préliminaire du Code civil (Traité de droit privé suisse Vol. II Tome 1), § 5 III. C. (Rn. 408).
V. Lückenfüllungsnormen
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Dort gehört sie insofern zu den oben erwähnten außerrechtlichen Argumenten, als es sich dabei nicht um nationales Recht handelt. Weiterhin kann der Richter Lehre und Rechtsprechung als Hilfsmittel heranziehen.480 d) Was bedeutet „bewährte Lehre und Überlieferung“? Der dritte Absatz von Art. 1 ZGB ordnet an, dass das Gericht bewährter Lehre und Überlieferung folge. Um Art. 1 ZGB in seiner Gesamtheit zu verstehen, soll im Folgenden erklärt werden, was unter bewährter Lehre und Überlieferung zu verstehen ist. aa) Bewährte Lehre Mit Lehre ist in Art. 1 Abs. 3 ZGB die Rechtswissenschaft gemeint.481 Dabei unterscheidet sich das Verständnis von Lehre im Rahmen von Art. 1 Abs. 3 ZGB nicht von den allgemeinen Aussagen, die oben zur Lehre unter B. II. 5. gemacht wurden. Die Lehre wird auch im Rahmen von Art. 1 Abs. 3 ZGB nicht als Rechtsquelle, sondern als Hilfsmittel der Rechtsanwendung betrachtet.482 Der Richter muss selbständig begründen und darf sich nicht nur auf eine Lehrmeinung berufen.483 Er hat keine Befolgungs-, sondern nur eine Berücksichtigungs- und Auseinandersetzungspflicht.484 Diese Pflicht zur kritischen Auseinandersetzung mit der Lehre ergibt sich aus dem Erfordernis der Bewährtheit.485 Bewährtheit bedeutet sachliche Überzeugungskraft oder Richtigkeit einer Literaturmeinung.486 Ob der Richter eine Meinung für richtig und überzeugend hält, hängt zwar von seiner subjektiven Rechtsauffassung ab. Zu einer Entscheidung kann er aber nur kommen, wenn er sich mit den Argumenten der Lehre kritisch auseinandersetzt.
480
s. u. B. V. 2. d). BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 475; BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 428. 482 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 480 mit Hinweisen zu Eugen Huber, der die Lehre noch als bedingte Rechtsquelle betrachtet hat; Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 270; BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 442. 483 BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 442. 484 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 480; Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 275. 485 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 479. 486 Kramer, Methodenlehre, IV. 3. c) bb) (S. 259 f.); Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 272; BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 435 f. 481
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B. Theoretische Grundlagen
bb) Bewährte Überlieferung Unter Überlieferung im Sinne von Art. 1 Abs. 3 ZGB werden die Rechtsprechung und die Praxis der Verwaltungsbehörden verstanden.487 In erster Linie geht es aber um die Gerichtspraxis und dabei insbesondere um die Entscheidungen des Bundesgerichts.488 Wie bereits oben unter B. II. 4. c) erwähnt, wird das Richterrecht auch im Rahmen von Art. 1 Abs. 3 ZGB nicht als Rechtsquelle, sondern als Hilfsmittel der richterlichen Urteilsfindung betrachtet.489 Für Richterrecht wird zwar eine gewisse Präjudizienbindung im Sinne einer beschränkten Befolgungspflicht angenommen.490 Wie bei der Lehre meint aber Bewährtheit die Richtigkeit und Überzeugungskraft der Argumente einer Vorentscheidung.491 Diese Überzeugungskraft kann nur festgestellt werden, wenn man sich mit der Vorentscheidung kritisch auseinandersetzt.492 Die Vorschrift des Art. 1 Abs. 3 ZGB enthält also auch in Bezug auf die Rechtsprechung eine Pflicht zur kritischen Auseinandersetzung. e) Anwendbarkeit von Art. 1 ZGB im öffentlichen Recht Die Frage nach der Anwendbarkeit von Art. 1 ZGB im öffentlichen Recht ist deshalb von Bedeutung, weil die unter D. folgende Analyse der schweizerischen Urteile drei Urteile zum Sozialversicherungsrecht493 sowie ein Urteil zum Konkursrecht494 enthält. Das Sozialversicherungsrecht ist in der Schweiz zum großen Teil öffentlich-rechtlich geregelt.495 Auch das Konkursrecht als Teil des Schuldbetrei-
487 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 483; Steinauer, Le Titre préliminaire du Code civil (Traité de droit privé suisse Vol. II Tome 1), § 7 III. A. (Rn. 448); Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 270; BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 468. 488 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 484; BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 39; Steinauer, Le Titre préliminaire du Code civil (Traité de droit privé suisse Vol. II Tome 1), § 7 III. A. (Rn. 449). 489 Kramer, Methodenlehre, IV. 2. (S. 244); Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 270; BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 23. Zur Rechtsquellenqualität von Richterrecht insgesamt vgl. die ausführlichen Ausführungen unter B. II. 4. 490 Dazu ausführlich oben B. II. 4. d) m.N. 491 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 487; BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 472. 492 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 487; Steinauer, Le Titre préliminaire du Code civil (Traité de droit privé suisse Vol. II Tome 1), § 7 III. A. (Rn. 453). 493 BGE 119 V 250 [D. I. 10. a)], BGE 124 V 301 [D. I. 13. a)] und BGE 127 V 38 [D. I. 16. a)]. 494 BGE 125 III 154 [D. I. 14. a)]. 495 Scartazzini/Hürzeler, Bundessozialversicherungsrecht, § 2 D. III. Rn. 14 (S. 15); Meyer, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht, Bd. 14, Soziale Sicherheit (3. Aufl. 2016), A § 11 (Rn. 48 ff.).
V. Lückenfüllungsnormen
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bungsrechts496 wird im schweizerischen Recht dem öffentlichen Recht zugeschlagen.497 In der schweizerischen Rechtsprechung und Lehre ist es unbestritten, dass Art. 1 ZGB auch im öffentlichen Recht Anwendung findet.498 Streit besteht lediglich darüber, ob diese Vorschrift unmittelbare oder analoge Anwendung findet.499 Nach einer Ansicht folgt aus der Behandlung von Art. 1 ZGB als allgemeinem Rechtsgrundsatz, dass dieser unmittelbar in allen Rechtsgebieten gelte.500 Nach einer anderen Meinung ändere die Qualifizierung als allgemeiner Rechtsgrundsatz nichts an der Notwendigkeit einer Analogie.501 Eine dritte Meinung möchte die Frage in Bezug auf den Anknüpfungspunkt beantworten502 : Als Gesetzesnorm komme Art. 1 ZGB in den Gebieten außerhalb des Bundesprivatrechts analog zur Anwendung. Die darin ausgedrückten allgemeinen Rechtsgrundsätze hingegen hätten allgemeine Geltung. Zur letztgenannten Auffassung ist zu sagen, dass sich der allgemeine Rechtsgrundsatz, der in Art. 1 ZGB enthalten ist, nur durch Induktion aus dieser Vorschrift ableiten lässt. Ansonsten kann nicht erklärt werden, woher der Rechtsgrundsatz in der schweizerischen Rechtsordnung kommen soll. Es scheint daher nicht hilfreich, zwischen der gesetzlichen Vorschrift des Art. 1 ZGB und dem in ihr enthaltenen Grundsatz zu unterscheiden. Hinsichtlich der ersten beiden Auffassungen ist fraglich, ob überhaupt ein Unterschied besteht zwischen der Anwendung eines in Art. 1 ZGB enthaltenen Rechtsgrundsatzes und der analogen Anwendung dieser Vorschrift. Oben unter B. III. 2. a) cc) wurde bereits dargelegt, dass die Herausarbeitung von Rechtsprinzipien aus einfachgesetzlichen Normen und deren Anwendung einen Analogieschluss darstellen. Aus einer oder mehreren Normen wird ein allgemeines Prinzip induziert und dieses wird auf einen wertungsmäßig vergleichbaren Fall angewandt. In Bezug auf Art. 1 ZGB ergibt sich dementsprechend folgende Argumentation: Einen allgemeinen Rechtsgrundsatz muss man aus Art. 1 ZGB nicht induzieren, weil die Grundsätze der Gesetzesanwendung und Rechtsfortbildung direkt enthalten sind. Die Notwendigkeit der Induktion folgt vielmehr aus der Tatsache, dass Art. 1 ZGB 496 Selbständiger Teil des schweizerischen Zwangsvollstreckungsrechts zur Vollstreckung von Geldforderungen, zur weiteren Erklärung s. Amonn/Walther, Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, § 1 III. Rn. 12 ff. (S. 3 ff.), und BSK SchKG I-Acocella Art. 38 Rn. 4 ff. 497 Amonn/Walther, Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, § 1 III. Rn. 19 (S. 4); Gilliéron, Poursuite pour dettes, Titre I Chap. VI § 5 (Rn. 112). 498 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 93; Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Art. 1 Rn. 12; BSK ZGB I-Honsell Art. 1 Rn. 8. 499 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 93; Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Vorbem zu Art. 1 – 10 Rn. 18 f. 500 Nachweise bei BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 94 in Fn. 304; ein Nachweis bei Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Vorbem zu Art. 1 – 10 Rn. 19 in Fn. 11. 501 Nachweise bei BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 94 in Fn. 305. 502 BK-Emmenegger/Tschentscher Art. 1 ZGB Rn. 95, 102 und 104.
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B. Theoretische Grundlagen
im Zivilgesetzbuch geregelt ist und daher zunächst nur für das Privatrecht gilt. Damit enthält Art. 1 ZGB die Aussage: „So ist die Gesetzesanwendung und Rechtsfortbildung im Privatrecht vorzunehmen.“ Die allgemeinere Aussage, die man daraus induzieren kann, wäre dann folgende: „So ist die Gesetzesanwendung und Rechtsfortbildung im gesamten Recht vorzunehmen.“ Damit entzieht man die Norm über eine Induktion dem privatrechtlichen Kontext und hebt sie auf eine höhere Ebene. Man wendet sie dann auf wertungsmäßig vergleichbare Fälle – beispielsweise eine Lückenfüllung im öffentlichen Recht – an. Hier wird noch einmal deutlich, dass Herausarbeitung und Anwendung eines allgemeinen Rechtsprinzips Teile des Analogieschlusses sind. Hausheer/Jaun stellen so auch die Voraussetzungen für die Anwendung von allgemeinen Rechtsgrundsätzen denjenigen der Analogie gleich.503 Wenn man von der unmittelbaren Anwendung eines in Art. 1 ZGB enthaltenen Rechtsprinzips spricht, kann man also genauso gut von einem Analogieschluss sprechen. Insgesamt ist der Meinungsstreit damit nach hier vertretener Auffassung aus methodischer Sicht obsolet. Im Folgenden wird daher nur noch von einer analogen Anwendung von Art. 1 ZGB im öffentlichen Recht gesprochen.
3. Legitimität durch die Lückenfüllungsnorm selbst? Bei Vorhandensein einer Lückenfüllungsnorm könnte man argumentieren, dass die Rechtsordnung die richterliche Rechtsfortbildung ausdrücklich erlaube und dass dadurch Legitimität für die rechtsfortbildende Entscheidung entstehe. Da z. B. Art. 1 Abs. 2 ZGB dem Richter gestattet, wie ein Gesetzgeber zu handeln, könnte man meinen, dass die richterliche Entscheidung bereits dadurch legitimiert sei. Um Legitimität zu begründen, die sich aus der Lückenfüllungsnorm selbst ergibt, gibt es zwei Ansatzpunkte. Zum einen könnte man vertreten, der demokratisch legitimierte Gesetzgeber habe seine Kompetenz an den Richter delegiert und damit auch die Legitimation weitergegeben. Fraglich ist aber, ob der Gesetzgeber seine Legitimation weitergeben kann. Vertretbar ist dies, wenn die Kompetenz nur teilweise delegiert wird, wie etwa an einen Verordnungsgeber. Dieser muss sich ja immer noch an das übergeordnete Gesetz halten. Bei der Gesetzgebungslösung des Art. 1 Abs. 2 ZGB aber delegiert der Gesetzgeber für den Lückenbereich seine gesamte Kompetenz. Der Richter darf in der Lücke wie ein Gesetzgeber handeln. Damit erhält eine nicht demokratisch legitimierte Instanz504 für einen eingeschränkten Bereich die gesamte Gesetzgebungskompetenz. Legitimes Recht kann jedoch im Staat nur entstehen, wenn es von einer demokratisch legitimierten Einrichtung geschaffen wurde.505 Diese zur Ge503 504 505
Hausheer/Jaun, Einleitungsartikel, Vorbem. Art. 1 – 10 Rn. 19. Zur geringen demokratischen Legitimation der Richter s. o. B. II. 4. a). Dazu oben B. II. 1. a).
VI. Fragestellung
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setzgebung notwendige demokratische Legitimation kann man nicht weitergeben. Sie kann allein vom Volk über die entsprechenden Wahlen geschaffen werden. Daran ändert auch eine Lückenfüllungsnorm wie Art. 1 ZGB nichts. Über die Delegation der Gesetzgebungskompetenz entsteht folglich aus demokratietheoretischer und damit rechtsphilosophischer Sicht keine Legitimität. Eine weitere Möglichkeit wäre, über den Inhalt der Lückenfüllungsnorm Legitimität zu erreichen. Man könnte vertreten, durch die Anwendung der Lückenfüllungsnorm liege eine gesetzliche Grundlage für eine bestimmte lückenfüllende Entscheidung vor. In einer Lückenfüllungsnorm geht es jedoch immer nur um die Art und Weise der Lückenfüllung. Sie enthält formelle methodische Anweisungen. Aus einer formellen Anweisung lassen sich aber keine Inhalte ableiten, wie eine etwaige Lücke materiell zu füllen ist. Sie kann also nicht als materielle gesetzliche Grundlage für eine bestimmte lückenfüllende Entscheidung dienen. Über den Inhalt einer Lückenfüllungsnorm lässt sich damit ebenfalls keine Legitimität erreichen. Damit ergibt sich, dass die Existenz einer Lückenfüllungsnorm keine Legitimation aus demokratietheoretischer und damit rechtsphilosophischer Sicht schafft. Es bleibt dabei, dass man sich im Sinne der unter B. III. 2. vorgeschlagenen Art und Weise um Legitimität bei der Lückenfüllung bemühen muss.
VI. Fragestellung In diesem Abschnitt sollen kurz die Urteilsauswahl sowie die Vorgehensweise bei den Urteilsanalysen erklärt werden, um dann zu erläutern, welche Thesen den Urteilsanalysen vorangestellt werden.
1. Urteilsauswahl In den unter C. und D. folgenden Urteilsanalysen werden zwanzig deutsche und zwanzig schweizerische überwiegend zivilrechtliche Entscheidungen untersucht, in denen es zu einem Rechtsfortbildungsproblem kommt, da entweder eine Regelungslücke vorliegt oder die Frage nach einer solchen zumindest im Raum steht. Die Urteile wurden zum einen ausgewählt, indem die Literatur zur Methodenlehre nach Beispielen für richterliche Rechtsfortbildung durchgesehen wurde. Zum anderen wurden Entscheidungen aufgenommen, in denen prominente zivilrechtliche Rechtsfiguren durch richterliche Rechtsfortbildung entwickelt worden sind. Da es in Deutschland weniger Beispiele in der Literatur zur Methodenlehre gibt, wurde dort vor allem in letzterer Art und Weise vorgegangen. In der Schweiz hingegen gibt es zahlreiche Beispiele für richterliche Rechtsfortbildung in der Literatur zu Art. 1 ZGB. Da diese Beispiele nicht immer dem Zivilrecht entstammen, aber dennoch interessant sind, wurden in die schweizerischen Urteilsanalysen auch drei Urteile
100
B. Theoretische Grundlagen
zum Sozialversicherungsrecht und ein Urteil zum Konkursrecht bzw. Schuldbetreibungsrecht506 aufgenommen. Welche Urteile zu den jeweiligen Rechtsfiguren ausgewählt wurden, richtete sich danach, ob die Entscheidung eine Argumentation dazu enthielt, wie die Rechtsfigur entwickelt und begründet wurde. Urteile, die diesbezüglich nur auf Vorentscheidungen verweisen, eigneten sich beispielsweise nicht für eine Analyse. Da einige prominente Rechtsfiguren schon sehr lange existieren und vor allem in frühen Entscheidungen begründet wurden, war teilweise der Rückgriff auf sehr alte Entscheidungen notwendig. Insgesamt erstrecken sich die analysierten Urteile über das gesamte 20. und den Beginn des 21. Jahrhunderts.
2. Vorgehensweise bei den Urteilsanalysen Die Urteile werden einer kritischen Würdigung dahingehend unterzogen, ob sie sich an dem vorstehend unter B. I.-IV. dargestellten Prinzip einer dem Legitimitätsgedanken entsprechenden Lückenfüllung und damit letztlich am Gesetzesrecht orientieren. In Anlehnung an die unter B. III. vorgestellte Methode werden die Urteilsanalysen daher nach einer kurzen Darstellung der im Urteil behandelten Rechtsfrage in die Abschnitte „Grenzen der Auslegung“ und „Lückenfüllung“ unterteilt. Am Ende folgt eine Zusammenfassung der jeweiligen Analyse als Ergebnis. Da die Urteile so an einem Idealschema einer dem Legitimitätsprinzip entsprechenden Methode gemessen werden, ergibt sich eine kritische Sicht auf fast alle Urteile. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es sich in der Sache um schlechte Urteile handelt. So werden die in den Urteilen gefundenen materiellen Lösungen zum überwiegenden Teil gutgeheißen. Die Kritik bezieht sich lediglich auf die Art und Weise der Begründung und möchte einen Vorschlag machen, wie man die Begründungen im Sinne einer am Legitimitätsgedanken orientierten Lückenfüllung verbessern könnte.
3. Thesen Die Tatsache, dass es in Deutschland keine Lückenfüllungsnorm gibt und stattdessen § 242 BGB zur Rechtsfortbildung herangezogen wird, sowie die Existenz von Art. 1 ZGB in der Schweiz mit dem ihm eigenen Inhalt lassen auf bestimmte Vor- und Nachteile bei der Rechtsfortbildung schließen. Diese wurden bereits oben in den
506
s. o. Fn. 496.
VI. Fragestellung
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Abschnitten zu § 242 BGB sowie zu Art. 1 ZGB dargestellt507 und sollen hier noch einmal in Form von Thesen den Urteilsanalysen vorangestellt werden. Erste These Durch das Bekenntnis zur Lückenhaftigkeit und die methodische Anleitung zur Lückenfüllung in Art. 1 ZGB wird in den schweizerischen Entscheidungen methodisch genauer und mit weniger Scheinbegründungen Recht fortgebildet als in den deutschen Urteilen, da in Deutschland ein Bekenntnis zur Lückenhaftigkeit fehlt und das erweiterte Verständnis von § 242 BGB zu Scheinbegründungen einlädt.
Zweite These Auch die schweizerische Rechtsfortbildung orientiert bei der Lückenfüllung nicht vollständig am Legitimitätsprinzip, weil Art. 1 Abs. 2 ZGB den Vorrang gesetzesnaher Lückenfüllungsmethoden vor einer außerrechtlichen Lückenfüllung im Gesetzgebervorgehen nicht enthält.
507
s. o. B. V. 1. c) bb), B. V. 2. a) und B. V. 2. c) aa).
C. Rechtsfortbildung in Deutschland In diesem Abschnitt wird zunächst anhand von Urteilsanalysen untersucht, wie die deutsche Rechtsprechung bei der Rechtsfortbildung methodisch vorgeht und ob sie sich dabei am Legitimitätsprinzip orientiert.1 Um einen Überblick über die rechtsfortbildende Vorgehensweise der deutschen Rechtsprechung zu erhalten, werden die aus den Urteilsanalysen gewonnenen Erkenntnisse in einem zweiten Schritt systematisiert und in Form von Ergebnissen zusammengefasst.
I. Urteilsanalysen Deutschland Es werden ein oder mehrere Urteile zu folgenden Rechtsinstituten bzw. Rechtsfragen analysiert: Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, Rechtsscheinvollmacht, culpa in contrahendo, positive Vertragsverletzung, Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter, Verwirkung, Ausschluss eines GmbH-Gesellschafters aus wichtigem Grund, Kontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) – Haftungsausschluss beim Kaufvertrag, Produzentenhaftung, Leasingvertrag – Einwendungsdurchgriff, Ausgleich zwischen zwei Sicherungsgebern, nichteheliche Lebensgemeinschaft – Eintrittsrecht in den Mietvertrag.
1. Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb In der frühen Entscheidung RGZ 56, 271 vom 14. Dezember 1902 erkennt das Reichsgericht ein im Rahmen des § 823 I BGB existierendes Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb vorsichtig an und legt damit die Grundlage für eine Annahme dieses Rechts in späteren Entscheidungen. In BGHZ 36, 252 vom 22. Dezember 1961 wird die Subsidiarität des Rechts am Gewerbebetrieb gegenüber Wettbewerbsrecht festgestellt. Die Entscheidung BGHZ 69, 128 vom 16. Juni 1977 wendet sich schließlich wieder von der Subsidiarität ab.
1
Zur Vorgehensweise bei den Urteilsanalysen s. o. B. VI. 2.
I. Urteilsanalysen Deutschland
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a) RGZ 56, 271 – Vorsichtige Anerkennung des Rechts am Gewerbebetrieb (Urteil vom 14. Dezember 1902) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, ob und auf welcher Rechtsgrundlage ein Verlagsbuchhändler Schadensersatz dafür verlangen kann, dass er von einem Buchhändlerverein zu Unrecht als „Schleuderer“ (Verkauf von Büchern unter dem vom Verleger festgesetzten Ladenpreis) bezeichnet und mit Sanktionen belegt wurde. Es geht also um die Frage der Störung des Gewerbebetriebes des Buchhändlers und der eventuell daraus resultierenden Schadensersatzansprüche. bb) Grenzen der Auslegung Vorschriften, die den Gewerbebetrieb schützen können, finden sich in den §§ 823 II BGB i.V.m. strafrechtlichen Vorschriften über Ehrverletzung und Kreditgefährdung (§§ 185 ff. StGB2), 824 und 826 BGB sowie zu der damaligen Zeit in § 6 des Gesetzes zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs vom 27. Mai 18963. Die Formulierung „sonstiges Recht“ in § 823 I BGB ist demgegenüber nicht geeignet, ein Recht am Gewerbebetrieb zu begründen. Fraglich ist zunächst, wie ein solches „sonstiges Recht“ beschaffen sein soll. Ein Anhaltspunkt dafür lässt sich nur aus den übrigen in § 823 I BGB aufgezählten Rechtsgütern gewinnen. Es muss sich also ähnlich der aufgezählten Rechtsgüter Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit und Eigentum um ein absolutes Recht handeln.4 Dieses kennzeichnet sich durch die Zuordnungs- und die Ausschlussfunktion.5 Die Zuordnungsfunktion lässt sich jedoch genauso für einen schuldrechtlichen Anspruch bejahen; die Ausschlussfunktion ist dann problematisch, wenn sie nicht ausdrücklich gesetzlich angeordnet ist.6 Damit lässt sich nicht eindeutig festlegen, wann ein absolutes Recht und damit ein „sonstiges Recht“ im Sinne von § 823 I BGB vorliegt. Man kann das „sonstige Recht“ jedoch insofern negativ bestimmen, als reine Vermögensschäden ausgenommen sein sollen.7 Das Vermögen ist kein absolutes Recht und gehört damit nicht zu den „sonstigen Rechten“ des § 823 I BGB.8 2
Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871 (RGBl. S. 127). Zurzeit gültig ist das Strafgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322), aktuelle Fassung abgedruckt in Schönfelder, Deutsche Gesetze, Nr. 85: die Tatbestände der §§ 185 – 187 StGB wurden im Verhältnis zur ersten Fassung nicht wesentlich verändert. 3 RGBl. S. 145. 4 MüKo-Wagner § 823 Rn. 205, und Larenz/Canaris, Schuldrecht BT2, § 76 II. 4. a) (S. 392). 5 s. o. 6 MüKo-Wagner § 823 Rn. 205 f. 7 MüKo-Wagner § 823 Rn. 207.
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C. Rechtsfortbildung in Deutschland
Beim Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb geht es aber um wirtschaftliche Nachteile für den Gewerbebetrieb und damit um Vermögensschäden.9 Aus diesem Grund kann man den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb nicht unter das „sonstige Recht“ des § 823 I BGB fassen.10 Tut man dies dennoch, entscheidet man contra legem. Möchte man die Grenzen der Auslegung bestimmen, müsste man also überprüfen, ob die Fragen der Störung des Gewerbebetriebes durch die weiter oben genannten Vorschriften der §§ 823 II BGB i.V.m. strafrechtlichen Vorschriften, 824 und 826 BGB sowie des § 6 des Gesetzes vom 27. Mai 1896 abgedeckt sind. Die Entscheidung sagt dazu auf S. 276, dass diese Vorschriften gegen unberechtigte Schädigungen oder Störungen anderer in Ausübung des Gewerbebetriebes „in ausreichendem Maße“ Schutz gewährten. Damit schließt sie eigentlich ein selbständiges Recht am Gewerbebetrieb, das im Rahmen des § 823 I BGB bestehen könnte, aus und sagt, dass diese Vorschriften alle Fallgruppen der Schädigung des Gewerbebetriebes abdecken. Bereits vorher, auf S. 275, hatte die Entscheidung aber zögernd anerkannt, dass es ein solches Recht am Gewerbebetrieb im Rahmen des § 823 I BGB geben könnte. Sie sagt dort, ein bestehender selbständiger Gewerbebetrieb möge, wenigstens insoweit, als er durch positive Gesetzesvorschrift, namentlich durch das Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs vom 27. Mai 1896, besonders geschützt sei, als ein wohlerworbenes Recht anzusehen sein. Weiterhin führt sie aus, allein damit sei noch nicht gegeben, dass jede Störung oder Beeinträchtigung eines anderen in diesem Gewerbebetrieb sich als rechtswidrige, unter § 823 I BGB fallende Rechtsverletzung darstelle. Mit der Formulierung im ersten Satz, „wenigstens insoweit“ Wettbewerbsrecht den Gewerbebetrieb schütze, sagt die Entscheidung, dass jedenfalls ein Recht am Gewerbebetrieb besteht, wenn dieser wettbewerbsrechtlich geschützt ist. Gleichzeitig wird mit dieser Aussage jedoch nicht ausgeschlossen, dass auch in anderen Fällen ein Recht am Gewerbebetrieb bestehen kann. Die Bezugnahme auf § 823 I BGB erfolgt dann im zweiten Satz. Indem gesagt wird, dass nicht jede Störung des Gewerbebetriebes eine rechtswidrige, unter § 823 I BGB fallende Rechtsverletzung sei, stellt die Entscheidung klar, dass es Störungen des Gewerbebetriebes gibt, die eine rechtswidrige, unter § 823 I BGB fallende Rechtsverletzung darstellen. Damit wird ein Recht am Gewerbebetrieb zwar nicht ausdrücklich, aber konkludent anerkannt. Die Entscheidung enthält also eine widersprüchliche Argumentation zur Existenz eines Rechts am Gewerbebetrieb jenseits des Wettbewerbsrechts und der §§ 823 II, 824 und 826 BGB. Zum einen möchte sie das Problem mit den gesetzlichen Vorschriften lösen, zum anderen nimmt sie ein selbständiges Recht am Gewerbebetrieb, 8
Larenz/Canaris, Schuldrecht BT2, § 76 II. 4. a) (S. 392). Larenz/Canaris, Schuldrecht BT2, § 81 I. 1. b) (S. 539). 10 Ausführlich dazu Larenz/Canaris, Schuldrecht BT2, § 81 II. 1. (S. 544 f.). 9
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das unter § 823 I BGB fällt, an. Die Grenzen der Auslegung werden damit nicht bestimmt. Jedoch lässt die Entscheidung eine Tendenz erkennen, dem vorhandenen Gesetzesrecht eine besondere Wichtigkeit beizumessen. Dies ist in der Aussage von S. 276 zu erkennen, die die gesetzlichen Vorschriften für ausreichend erachtet, aber auch in dem ersten hier wiedergegebenen Satz von S. 275. Ein Recht am Gewerbebetrieb sei nur insoweit anzuerkennen, als es durch „positive Gesetzesvorschrift“ besonders geschützt sei. Im konkreten Fall ist dann eine Bestimmung der Grenzen der Auslegung nicht mehr nötig. Die §§ 823 II BGB i.V.m. §§ 185, 186, 187 StGB und § 7 des Gesetzes zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs, § 6 des Gesetzes zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs und § 826 BGB werden auf den S. 276 ff. ausführlich geprüft. Der Fall wird dann auf S. 283 ff. überzeugend über § 824 BGB – Kreditgefährdung – gelöst. cc) Lückenfüllung Eine lückenfüllende Begründung für das Recht am Gewerbebetrieb, das hier zögernd anerkannt wird, liefert das Urteil nicht. Das ist in dieser Entscheidung auch nicht erforderlich, da das Problem über § 824 BGB gelöst wird. Dennoch legt das Urteil einen Grundstein, den weitere Entscheidungen aufgreifen können. So die Juteplüsch-Entscheidung RGZ 58, 24 von 1904, ein grundlegendes Urteil zum Recht am Gewerbebetrieb.11 Diese Entscheidung nimmt ein Recht am Gewerbebetrieb, das sich aus § 823 I BGB ergibt, uneingeschränkt an.12 Sie bezieht sich dazu auf Vorentscheidungen, unter anderem auf die hier analysierte Entscheidung.13 Später setzt sie sich dann konkret mit dem hier untersuchten Urteil auseinander, das nicht verneine, dass ein Eingriff in den Gewerbebetrieb eine rechtswidrige, unter § 823 I BGB fallende Rechtsverletzung darstellen könne.14 Damit bezieht sie sich auf die in dieser Entscheidung enthaltene zögernde Anerkennung des Rechts am Gewerbebetrieb. Aus einer vorsichtigen Annäherung an ein Recht am Gewerbebetrieb in einer früheren Entscheidung wird also dessen ausdrückliche Anerkennung in einem späteren Urteil. Einzige zusätzliche Begründung der Juteplüsch-Entscheidung ist die Aussage, dass es sich beim bestehenden selbständigen Gewerbebetrieb nicht um die freie Willensbetätigung des Gewerbetreibenden handele, sondern dass dieser Wille im Gewerbebetrieb bereits seine gegenständliche Verkörperung gefunden habe.15 Solange es sich aber nicht um Eigentum handelt, ist auch der „gegenständlich verkörperte Wille“ nur Vermögen und als solches nicht von § 823 I BGB geschützt. Die Juteplüsch-Entscheidung enthält also auch keine überzeugende eigene Be11 12 13 14 15
Larenz/Canaris, Schuldrecht BT2, § 81 I. 1. a) (S. 538). RGZ 58, 24 (30). RGZ 58, 24 (29). RGZ 58, 24 (30). RGZ 58, 24 (29).
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gründung. Das Recht am Gewerbebetrieb entsteht vielmehr aus einer Rechtsprechungsentwicklung. Diese Entwicklung mündet in die Entscheidung des Großen Senats in Zivilsachen vom 15. Juli 2005.16 Der I. Zivilsenat hatte dem Großen Senat die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob eine unbegründete Verwarnung aus einem Kennzeichenrecht als rechtswidriger Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb gem. § 823 I BGB zum Schadensersatz verpflichte oder ob sich eine Schadensersatzpflicht nur aus dem Recht des unlauteren Wettbewerbs (§§ 3, 4 Nr. 1, 8 und 10, § 9 UWG17) ergebe. Der BGH sagt jedoch nur, dass es ständiger, auf das Reichsgericht zurückgehender Rechtsprechung des BGH entspreche, dass die unberechtigte Schutzrechtsverwarnung einen rechtswidrigen Eingriff in eine nach § 823 I BGB geschützte Rechtsposition darstellen könne und bezieht sich dazu auf die Juteplüsch-Entscheidung RGZ 58, 29.18 Auf die vom I. Zivilsenat gestellte Frage, ob nicht auf diesen Fall ausschließlich Wettbewerbsrecht Anwendung finde, geht der BGH nicht ein. Dabei ließe sich dieser Fall nach heutiger Rechtslage relativ unproblematisch mit Wettbewerbsrecht lösen.19 Diese Entscheidung zeigt, wie sich aus einer kleinen, zögernden Anerkennung eines Rechts am Gewerbegebiet in der hier analysierten Entscheidung eine mächtige Rechtsfigur entwickeln kann, die sogar neuen gesetzlichen Regelungen trotzt. Fraglich ist jedoch, ob sich ein Recht am Gewerbebetrieb überhaupt in lückenfüllender Weise überzeugend begründen lässt. Damit man Lückenfüllung betreiben darf, müsste nämlich zunächst eine planwidrige Regelungslücke vorliegen. Das setzt voraus, dass kein qualifiziertes Schweigen einer oder mehrerer Regelungen existiert. Beim Recht am Gewerbebetrieb geht es um fahrlässig verursachte Vermögensschäden. Hinsichtlich solcher Schäden ergibt sich jedoch ein qualifiziertes Schweigen aus den §§ 823 und 826 BGB. In § 823 BGB werden auch fahrlässig verursachte Schäden ersetzt. Dies jedoch nur, soweit sie auf der Verletzung eines der in Abs. 1 aufgezählten Rechtsgüter oder gem. Abs. 2 auf dem Verstoß gegen ein Schutzgesetz beruhen. Vermögensschäden wiederum werden von § 826 BGB umfasst. Dies jedoch nur, soweit sie vorsätzlich verursacht wurden. Das BGB enthält also sowohl eine Regelung für den Ersatz fahrlässig verursachter Schäden als auch für den Ersatz von Vermögensschäden. Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine Regelung für fahrlässig verursachte Vermögensschäden vergessen worden ist. Eine solche Haftung ist vielmehr vom BGB nicht gewollt.20
16
Faust.
BGHZ 164, 1 = NJW 2005, 3141 m. Bespr. Wagner/Thole 3470 = JZ 2006, 362 m. Bespr.
17 Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vom 3. Juli 2004 (BGBl. I S. 1414). Zurzeit gültig ist das UWG in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. März 2010 (BGBl. I S. 254). 18 BGHZ 164, 1 (2 ff.). 19 Ausführlich Wagner/Thole NJW 2005, S. 3470 ff. (S. 3471). 20 Dazu auch MüKo-Wagner § 823 Rn. 252; a.A. Soergel-Beater § 823 Anh V Rn. 8.
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Bejaht man jedoch ein qualifiziertes Schweigen des BGB für fahrlässig verursachte Vermögensschäden, ergibt sich, dass die Annahme einer deliktsrechtlichen Haftung aus § 823 I BGB bei einem Eingriff in das Recht am Gewerbebetrieb contra legem erfolgt. Dass man das Recht am Gewerbebetrieb schon nach dem Inhalt der Vorschrift nicht unter das „sonstige Recht“ in § 823 I BGB fassen kann, wurde bereits oben unter bb) festgestellt. Canaris spricht in diesem Zusammenhang von einem Verstoß gegen die Bindung der Gerichte an Gesetz und Recht gemäß Art. 20 III GG21 und von einer Rechtsfigur, durch welche die Struktur und eine Grundwertung der §§ 823 ff. BGB durchbrochen würden und die daher nicht zu legitimieren sei22. Brüggemeier bezeichnet das Recht am Gewerbebetrieb als „illegitim“.23 Davon abgesehen, lassen sich die Fallgruppen, für die das Recht am Gewerbebetrieb bemüht wurde, – jedenfalls nach heutiger Rechtslage – mit Hilfe des Deliktsund des Wettbewerbsrechts lösen.24 Auch von Gewohnheitsrecht kann angesichts der fortdauernden gewichtigen Kritik beim Recht am Gewerbebetrieb nicht gesprochen werden.25 dd) Ergebnis Die Grenzen der Auslegung werden in der Entscheidung nicht direkt bestimmt. Es werden aber ausdrücklich die Vorschriften genannt, deren Grenzen man hätte feststellen müssen und diesen Vorschriften wird auch besondere Wichtigkeit beigemessen. Damit hält sich die Entscheidung einerseits an die gesetzlichen Vorschriften, andererseits wird aber ein selbständiges Recht am Gewerbebetrieb, das unter § 823 I BGB fällt, zögernd anerkannt, und zwar ohne eigentliche Begründung. Diese widersprüchliche Argumentation der Entscheidung zeigt zum einen die Tendenz der Rechtsfortbildung in Deutschland, sich auf ein Gesetzesrecht zu beziehen, das nicht mehr ausreicht. Zum anderen findet eine richterliche Rechtsfortbildung im Contralegem-Bereich ohne Begründung statt. Im konkreten Fall müssen zwar die Grenzen der Auslegung nicht bestimmt werden und ein selbständiges Recht am Gewerbebetrieb, das unter § 823 I BGB fällt, kommt nicht zur Anwendung. Indem die Entscheidung ein solches aber vorsichtig annimmt, legt sie den Grundstein für eine weitere Rechtsprechungsentwicklung, die u. a. die Juteplüsch-Entscheidung RGZ 58, 24 und schließlich die Entscheidung des Großen Senats in Zivilsachen vom 15. Juli 2005 (BGHZ 164, 1) hervorbringt. 21
Larenz/Canaris, Schuldrecht BT2, § 81 II. 2. (S. 545). Canaris VersR 2005, S. 577 ff. (S. 582). 23 Brüggemeier, Haftungsrecht, Zweiter Teil § 5 D II. (S. 362). 24 Ausführlich Larenz/Canaris, Schuldrecht BT2, § 81 III. u. IV. (S. 546 ff.); Sack VersR 2006, S. 1001 ff. (S. 1005 ff.); MüKo-Wagner § 823 Rn. 254; a.A. Staudinger-Hager § 823 Rn. D 5; Soergel-Beater § 823 Anh V Rn. 11. 25 Erman-Schiemann § 823 Rn. 50; Staudinger-Hager § 823 Rn. D 5; Sack, Recht am Gewerbebetrieb, Kap. 3 II. 1. (S. 177). 22
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Dennoch fällt auf, dass die Entscheidung bei der Anerkennung des Rechts am Gewerbebetrieb als „sonstiges Recht“ i.S.v. § 823 I BGB sehr vorsichtig vorgeht, den gesetzlichen Rahmen ausdrücklich nennt und diesen nur zögernd verlässt. Das könnte man zunächst als legitimitätstechnisch begrüßenswertes Vorgehen bewerten. Dagegen ist aber zu sagen, dass man sich ja, wie oben festgestellt, vom Inhalt des § 823 I BGB her und wegen des qualifizierten Schweigens des BGB im Contralegem-Bereich befindet. Das Vorgehen des Reichsgerichts, das bei einer Lückenfüllung begrüßenswert wäre, ist in diesem Urteil also Ausdruck einer problematischen Vorgehensweise. Auch ist es bemerkenswert, dass das Reichsgericht überhaupt den Weg einer Rechtsfortbildung contra legem beschreitet. b) BGHZ 36, 252 – Subsidiarität des Rechts am Gewerbebetrieb gegenüber Wettbewerbsrecht (Urteil vom 22. Dezember 1961) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, ob bei einem Verstoß gegen Wettbewerbsrecht, der gleichzeitig einen Eingriff in das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb nach § 823 I BGB darstellte, die kurze Verjährung des damaligen § 21 aUWG26 eingreifen sollte oder aber § 852 BGB a.F.27, der eine dreijährige Verjährungsfrist vorsah. Die Vorschrift des § 852 BGB a.F. kommt nur zu Anwendung, wenn man bei einem Verstoß gegen Wettbewerbsrecht auch einen Anspruch aus dem Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb nach § 823 I BGB zulässt. In diesem Fall würde § 21 aUWG ausgehebelt, da der deliktsrechtliche Anspruch aus dem Recht am Gewerbebetrieb länger geltend gemacht werden kann. Damit stellt sich die allgemeine Frage, ob bei einem Verstoß gegen Wettbewerbsrecht das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb Anwendung finden soll. bb) Grenzen der Auslegung Das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb nach § 823 I BGB wird in dieser Entscheidung nicht herausgearbeitet, sondern bereits als bestehend vorausgesetzt. Die Entscheidung sagt auf S. 256, dieses Recht sei von der Rechtsprechung entwickelt worden.
26 Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vom 7. Juni 1909 (RGBl. S. 499). Im Urteil anwendbare Fassung von § 21 aUWG ist nachzulesen in vorgenannter Fundstelle im RGBl. oder in Beck’sche Textausgaben, Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (Kartellgesetz), Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb usw., 3. Aufl., München Berlin 1963. 27 Vorschriften des BGB vor dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz (SMG vom 26. November 2001, BGBl. I S. 3138, in Kraft seit 1. Januar 2002) s. Schönfelder, Deutsche Gesetze, Ergänzungsband Nr. 20.
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Dennoch enthält die Entscheidung Erwägungen, die die Grenzen der Auslegung betreffen. Dies jedoch nicht im Zusammenhang mit der Frage, ob es eines lückenfüllenden Vorgehens bedarf, sondern über eine Einschränkung einer bereits vorgenommenen „Lückenfüllung“, nämlich des Rechts am Gewerbebetrieb. Die Entscheidung sagt auf S. 257, dass weitgehend eine Überschneidung der wettbewerbsrechtlichen Sondervorschriften mit dem Schutzbereich des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb stattfände. Bei solchen Überschneidungen aber seien bei Handlungen zu Zwecken des Wettbewerbs die Rechtsfolgen auf sachlichrechtlichem Gebiet grundsätzlich den wettbewerbsrechtlichen Sondervorschriften zu entnehmen, denen gegenüber das Recht am eingerichteten Gewerbebetrieb nur lückenausfüllenden Charakter habe. Der BGH statuiert hier also die Subsidiarität des Rechts am Gewerbebetrieb gegenüber wettbewerbsrechtlichen Vorschriften.28 Damit leitet er dazu an, zunächst zu prüfen, ob sich ein Sachverhalt mit wettbewerbsrechtlichen Vorschriften lösen lässt, und erst, wenn dies verneint wird, auf das Recht am Gewerbebetrieb zurückzugreifen. Er schränkt also nachträglich den Anwendungsbereich des Rechts am Gewerbebetrieb ein und fordert dazu auf, bei dessen Anwendung zunächst auf das Gesetzesrecht zurückzugreifen und damit die Grenzen der Auslegung zu prüfen. Interessant ist dabei, dass der BGH in diesem Zusammenhang von dem „lückenausfüllenden“ Charakter des Rechts am Gewerbebetrieb spricht und damit ein eventuelles Lückenproblem ausdrücklich anspricht. cc) Lückenfüllung Diese Erkenntnis, dass es sich bei dem Recht am Gewerbebetrieb, wenn überhaupt, dann um eine Lückenfüllung handeln kann, setzt sich leider nicht hinsichtlich der Begründung des Rechts am Gewerbebetrieb fort. Wie oben gesagt, übernimmt die Entscheidung vielmehr das Recht am Gewerbebetrieb als eine von der Rechtsprechung entwickelte Rechtsfigur. Da in diesem Urteil letzten Endes Wettbewerbsrecht zur Anwendung kommt, ist es auch nicht zwingend, dass das Recht am Gewerbebetrieb selbst noch einmal begründet wird. Wenn die Entscheidung das Recht am Gewerbebetrieb anführt, hätte sie jedoch ihren hinsichtlich der Bestimmung der Grenzen der Auslegung überzeugenden Ansatz im Rahmen der Begründung des Rechts am Gewerbebetrieb fortführen können. Wie bereits in der Analyse von RGZ 56, 271 unter cc) gesagt29, lässt sich ein Recht am Gewerbebetrieb im Rahmen des BGB nicht begründen, weil hinsichtlich des Ersatzes von fahrlässig verursachten Vermögensschäden ein qualifiziertes Schweigen vorliegt. Hat das Recht am Gewerbebetrieb aber in Bezug auf das Wettbewerbsrecht lückenausfüllenden Charakter, wie die Entscheidung auf S. 256 f. mehrfach betont, dann muss man sich zumindest die Frage stellen, ob man es im 28 29
Larenz/Canaris, Schuldrecht BT2, § 81 I. 4. a) (S. 543). C. I. 1. a) cc).
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Rahmen des Wettbewerbsrechts lückenfüllend begründen kann. Das würde natürlich auf eine Einschränkung dahingehend hinauslaufen, dass nur Handlungen in Wettbewerbsabsicht erfasst wären. Indem sich die Entscheidung diese Frage nicht stellt, bleibt sie hinsichtlich der Möglichkeit einer zutreffenden Begründung des Rechts am Gewerbebetrieb auf halbem Weg stehen. Der Grund dafür ist auch in dieser Entscheidung die Behandlung des Richterrechts als Rechtsquelle, die zu einer Rechtsprechungsentwicklung führt, indem das Recht am Gewerbebetrieb aus Vorentscheidungen übernommen und die Frage nach einer überzeugenden Begründung nicht gestellt wird. dd) Ergebnis Indem die Entscheidung die Subsidiarität des Rechts am Gewerbebetrieb feststellt, verweist sie dieses auf den Bereich, der gesetzlich nicht geregelt ist, und fordert so zur Bestimmung der Grenzen der Auslegung auf. Damit schränkt sie das Recht am Gewerbebetrieb gegenüber der bisherigen Rechtsprechung, die auf die JuteplüschEntscheidung (RGZ 58, 24) zurückgeht, überzeugend auf eine rein lückenfüllende Funktion ein. Daraus zieht sie jedoch nicht den Schluss, zu versuchen, das Recht am Gewerbebetrieb noch einmal neu in lückenfüllender Weise im Rahmen des Wettbewerbsrechts zu begründen. Die Rechtsprechungsentwicklung führt hier also dazu, dass eine Rechtsfigur auch dann noch übernommen wird, wenn die Entscheidung schon Ansätze einer zutreffenden Vorgehensweise enthält. Hervorzuheben ist aber, dass die Entscheidung diese überzeugenden Ansätze einer Reduzierung des Rechts am Gewerbebetrieb auf den Bereich jenseits des Wettbewerbsrechts enthält. Sie erklären sich hier aber auch aus der praktischen Erwägung, dass, wenn man ein Recht am Gewerbebetrieb neben dem Wettbewerbsrecht annimmt, dieses in Fällen der Wettbewerbsrechtsverletzung i. d. R. auch eröffnet ist und so die Verjährung des § 21 aUWG immer durch § 852 BGB a.F. ausgehebelt würde. c) BGHZ 69, 128 – Abwendung vom Grundsatz der Subsidiarität (Urteil vom 16. Juni 1977) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil geht es um Amtshaftungsansprüche eines Reiseunternehmens gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen eines Streiks von Fluglotsen. Die Frage war insbesondere, ob sich eine Amtspflichtverletzung der streikenden Fluglotsen aus einem Eingriff in den Gewerbebetrieb des Reiseunternehmens ergab. Der Fluglotsenstreik war ein sogenannter „Bummelstreik“ mit vielen Krankmeldungen zu bestimmten Stichtagen („go sick“) und einer Herabsetzungen der Arbeitsleistung über einen längeren Zeitraum („go slow“).
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bb) Grenzen der Auslegung Wie schon in BGHZ 36, 252, wird auch in dieser Entscheidung das Recht am Gewerbebetrieb nicht entwickelt, sondern mit dem Verweis auf Vorentscheidungen als bestehend vorausgesetzt (S. 138 f.). Wie BGHZ 36, 252 beschäftigt sich diese Entscheidung jedoch mit dem Verhältnis von Gesetzesrecht und dem Recht am Gewerbebetrieb und macht eine Aussage dazu, wann auf Gesetzesrecht und wann auf das Recht am Gewerbebetrieb zurückzugreifen ist. Da es sich in diesem Urteil um einen Amtshaftungsanspruch aus Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGB handelte, war zunächst die Frage, ob die von dem Reiseunternehmen geltend gemachten Vermögensinteressen in den Schutzbereich der Amtspflichten der Fluglotsen fielen. Diese Frage erörtert die Entscheidung auf S. 137 f. und stellt fest, dass vieles dafür spreche, dass die im vorliegenden Rechtsstreit von der Klägerin geltend gemachten Vermögensinteressen auch in den Schutzbereich der den Flugleitern insoweit obliegenden Amtspflichten fielen. Als wesentliches Argument führt sie auf S. 138 an, dass eine zügig arbeitende Flugsicherung regelmäßig sowohl Gefahren abwehren als auch einen wirtschaftlichen Flugbetrieb gewährleisten werde und eine Aufspaltung dieses einheitlichen Ordnungsbereichs der Lebenswirklichkeit widersprechen würde. Damit wäre es für die Entscheidung eigentlich unproblematisch, die Vermögensinteressen des Reiseunternehmens, die sich ja aus einem Interesse an einem wirtschaftlichen Flugbetrieb ergeben, als in den Schutzbereich der Amtspflichten der Fluglotsen einbezogen zu betrachten. Dennoch kommt sie diesbezüglich nicht zu einer abschließenden Feststellung, sondern sagt auf S. 138, dass diese Frage keiner abschließenden Erörterung bedürfe, weil sich das Begehren der Klägerin (des Reiseunternehmens) aus einer anderen Überlegung rechtfertige. Diese andere Überlegung wird auf S. 138 ff. erörtert und ist eine Amtspflichtverletzung aufgrund deliktischen Handelns, und zwar wegen eines Eingriffs in das Recht am Gewerbebetrieb des Unternehmens nach § 823 I BGB. Die Entscheidung begibt sich hier also in den nicht legitimierten und – wie in der Analyse von RGZ 56, 271 festgestellt worden ist30 – sogar in den Contra-Legem-Bereich, obwohl eine Amtspflichtverletzung auch ohne Bezugnahme auf das Deliktsrecht überzeugend zu begründen gewesen wäre. In diesem Zusammenhang kommen auch noch Erwägungen in Betracht, die die Entscheidung im Rahmen der Prüfung der Rechtswidrigkeit des Eingriffs in den Gewerbebetrieb auf S. 141 f. anführt. Die Flugsicherung sei dem Staat als hoheitliche Aufgabe zugewiesen, auf die die Reiseunternehmen keinen Einfluss nehmen könnten, die aber im Gegenzug besonders eng mit ihrem unternehmerischen Zweck verbunden und deren Nutzung für sie alternativlos sei. Sind die Reiseunternehmen in diesem Maße auf die staatliche Leistung angewiesen, müssen sich aber auch die Amtspflichten der Fluglotsen auf ihre Vermögensinteressen erstrecken. 30
C. I. 1. a) cc).
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Die Entscheidung nutzt hier also unter Rückgriff auf eine problematische richterliche Rechtsfortbildung ihre Begründungsmöglichkeiten nicht aus. Das bedeutet, dass sie der Frage, ob sich das Recht am Gewerbebetrieb dem Legitimitätsprinzip entsprechend herleiten lässt, keine Wichtigkeit beimisst und auch insgesamt nicht versucht, ihre Entscheidung unter Rückgriff auf das Gesetzesrecht zu begründen. Die Entscheidung schlägt jedoch noch eine weitere Möglichkeit aus, den Fall mit Hilfe von Gesetzesrecht zu lösen. Leitet man eine Amtspflichtverletzung aus deliktischem Handeln her, käme bei einem rechtswidrigen Streik außerdem § 826 BGB in Betracht. Greift man auf den in BGHZ 36, 252 entwickelten Grundsatz der Subsidiarität des Rechts am Gewerbebetrieb zurück, müsste man § 826 BGB vor diesem prüfen und ihn auch anwenden, wenn die Voraussetzungen vorliegen. Ein solches Vorgehen wäre nach Legitimitätsgesichtspunkten korrekt, weil man erst das Gesetzesrecht ausschöpfen würde, bevor man auf Rechtsfortbildung zurückgreift. Die Entscheidung legt jedoch auf S. 138 f. dar, warum dies nicht notwendig ist und man § 823 I BGB bei vorsätzlichem Eingriff in den fremden Gewerbebetrieb auch dann anwenden kann, wenn andere Bestimmungen zutreffen. Sie sagt, auf eine Prüfung der strengeren Voraussetzungen des § 826 BGB könne bei einem solchen Sachverhalt verzichtet werden. Der BGH lässt es hier also offen, ob § 826 BGB anwendbar ist, und geht gleich über § 823 I BGB und das Recht am Gewerbebetrieb vor. Auch die Begründung, die die Entscheidung für diese Vorgehensweise anführt, überzeugt nicht.31 Auf S. 138 f. sagt der BGH zunächst, das Recht am Gewerbebetrieb sei ein Auffangtatbestand, der nur zur Anwendung komme, wenn andere Vorschriften nicht durchgriffen, und verweist dazu unter anderem auf BGHZ 36, 252. Auf S. 139 wird dann aber weiter argumentiert, dieser Auffassung stünde eine Anwendung des § 823 I BGB nicht aus dem Grunde entgegen, weil möglicherweise die Voraussetzungen des § 826 BGB vorlägen. Das Recht am Gewerbebetrieb als „sonstiges Recht“ im Sinne von § 823 I BGB sei deshalb eingeführt worden, weil die Bestimmung des § 826 BGB, insbesondere im Hinblick auf das Erfordernis eines vorsätzlichen Handelns, den Bedürfnissen der Praxis nicht genüge und so namentlich gegenüber fahrlässigen Eingriffen in den Gewerbebetrieb keinen Schutz gewähre. Diese Argumentation steht aber einer Subsidiarität des Rechts am Gewerbebetrieb nicht entgegen. Bei vorsätzlichen Eingriffen wendet man § 826 BGB an und bei fahrlässigen Eingriffen § 823 I BGB.32 Im vorliegenden Fall liegt mit dem Streik der Fluglotsen, wie die Entscheidung selbst auf S. 140 feststellt, auch ein vorsätzlicher Eingriff vor. Die einzige Frage wäre gewesen, ob der Streik auch gem. § 826 BGB sittenwidrig war. Auch das hätte die Entscheidung aber zumindest prüfen müssen, bevor sie auf das Recht am Gewerbebetrieb zurückgreift.
31 32
So auch Sack VersR 2006, S. 1001 ff. (S. 1004). s. o.
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Eine Entscheidung des VI. Zivilsenates des BGH, bei der wegen desselben Streiks die Bundesrepublik Deutschland gegen den Verband Deutscher Flugleiter auf Schadensersatz klagt, tut dies und bejaht die Sittenwidrigkeit und damit die Haftung aus § 826 BGB in überzeugender Weise.33 Als wesentliche Gründe für die Sittenwidrigkeit des Streiks führt diese Entscheidung die Tatsache an, dass die vielen Krankmeldungen zu bestimmten Stichtagen („go sick“) sowie die Herabsetzung der Arbeitsleistung über einen längeren Zeitraum („go slow“) dem Dienstherren der Flutlotsen kaum Möglichkeiten zu Gegenmaßnahmen ließen, weil die Fluglotsen sich nicht zu Kampfmaßnahmen eines Kollektivs „offen“ bekannten.34 Weiterhin stehe die Aktion außer Verhältnis zu dem von ihr verfolgten Ziel, weil sie die Begrenzung der nachteiligen Folgen für das „bestreikte“ Unternehmen über das gebotene Maß hinaus erschwere sowie weit über das mit Streiks sonst verbundene Maß zur Benachteiligung und Belastung von Unbeteiligten führe.35 Erfüllt die Aktion der Flugleiter aber die Voraussetzungen des § 826 BGB, so liegt auch unproblematisch eine Amtspflichtverletzung gegenüber dem hier betroffenen Reiseunternehmen vor. Die Entscheidung greift also auf das Recht am Gewerbebetrieb zurück, obwohl der Fall über § 826 BGB zu lösen gewesen wäre, und setzt sich damit über das von der Rechtsprechung in BGHZ 36, 252 statuierte Subsidiaritätsprinzip hinweg. Auch dies zeigt, dass dem Legitimitätsproblem keine Beachtung geschenkt wird. Grund dafür könnte sein, dass der Eingriff in das Recht am Gewerbebetrieb vom Bundesarbeitsgericht als Zentralkriterium für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Streiks herangezogen wird.36 Möchte man das Recht am Gewerbebetrieb aufgeben, macht das einen Umbau der arbeitskampfrechtlichen Dogmatik erforderlich37, der aber möglich ist38. cc) Lückenfüllung Lückenfüllung erfolgt nicht. Das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb wird nicht begründet, sondern es wird nur angeführt, dass dieses Recht von der Rechtsprechung entwickelt worden sei (S. 138).
33
BGHZ 70, 277 (279 ff.). BGHZ 70, 277 (280 f.). So allgemein für den Bummelstreik auch Zöllner/Loritz/Hergenröder, ArbeitsR, § 44 VI. 5. a) Rn. 77 (S. 578). 35 BGHZ 70, 277 (281 f.). 36 Zöllner/Loritz/Hergenröder, ArbeitsR, § 44 IV. 1. a) Rn. 33 (S. 567) m.N. 37 Larenz/Canaris, SchuldR BT2, § 81 III. 6. a) (S. 559). 38 Vorschläge bei Larenz/Canaris, SchuldR BT2, § 81 III. 6. b) (S. 559 f.), und Zöllner/ Loritz/Hergenröder, ArbeitsR, § 44 IV. 1. c) und 2. Rn. 35 ff. (S. 567 f.). 34
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dd) Ergebnis Diese Entscheidung geht hinsichtlich der Grenzen der Auslegung hinter BGHZ 36, 252 zurück. Sie wendet sich vom Subsidiaritätsprinzip ab und greift auf das Recht am Gewerbebetrieb zurück, obwohl sie zwei überzeugende gesetzliche Begründungsmöglichkeiten gehabt hätte. Indem sie sich zu schnell in den nicht legitimierten Bereich begibt, werden die Grenzen der Auslegung zurückgeschoben. Insgesamt vernachlässigt diese Entscheidung das Legitimitätsprinzip in mehrerer Hinsicht. Sie greift nicht nur auf eine Rechtsfigur zurück, die contra legem entwickelt wurde39, sondern tut dies auch, obwohl es eigentlich eine gesetzliche Begründungsmöglichkeit gibt. Auch wenn es sich hier um eine Ausnahmeentscheidung40 handelt, so wird an ihr doch deutlich, welche Kraft Richterrecht bezüglich der Verdrängung von Gesetzesrecht entfalten kann. Umso wichtiger ist eine überzeugende Begründung von der Rechtsprechung entwickelter Rechtsfiguren.
2. Rechtsscheinvollmacht In der frühen Entscheidung RGZ 65, 292 vom 14. März 1907 wird der Grundsatz der Anscheinsvollmacht ohne Begründung angenommen. Die etwas spätere Entscheidung RGZ 117, 164 vom 27. Mai 1927 bestätigt den Grundsatz der Rechtsscheinvollmacht allgemein und nimmt dazu unter anderem auf RGZ 65, 292 Bezug. In BGH MDR 1953, 345 vom 10. März 1953 ist eine Verfestigung der Rechtsprechung festzustellen. Dort handelt es sich bei der Anscheinsvollmacht bereits um einen ”anerkannten Rechtsgrundsatz“. Schließlich soll noch BGHZ 65, 13 vom 30. Mai 1975 analysiert werden. Dort geht es um das Problem der abhandengekommenen Urkunde. Dieser Fall ist deswegen interessant, weil er mit der Anscheinsvollmacht vergleichbar ist, vom BGH aber anders entschieden wird. a) RGZ 65, 292 – Annahme des Grundsatzes der Anscheinsvollmacht ohne Begründung (Urteil vom 14. März 1907) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, ob ein Kassierer einer Genossenschaft, der zum Abschluss von Darlehensverträgen für die Genossenschaft nicht berechtigt war, wirksam Gelder für die Genossenschaft entgegennehmen konnte, wenn er das in der
39 40
Vgl. die Analyse von RGZ 56, 271 [C. I. 1. a)] unter cc). Sack, Recht am Gewerbebetrieb, Kap. 3 II. 1. (S. 177 f.).
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Vergangenheit gegenüber dem betroffenen Darlehensgeber schon öfter getan hat. Es geht also um die Frage der Rechtsscheinvollmacht. bb) Grenzen der Auslegung Bei der Bestimmung der Grenzen der Auslegung wäre die Frage, ob der Fall mit den Regeln über die Stellvertretung zu lösen ist. Hier liegt keine gegenüber dem Vertreter oder gegenüber dem Dritten gem. § 167 I BGB ausdrücklich erteilte Vollmacht vor, sondern es handelt sich um eine Rechtsscheinvollmacht. Es stellt sich jedoch bei der Rechtsscheinvollmacht immer die Frage, ob die Vollmacht eventuell stillschweigend erteilt worden ist. Diese Frage wird vom Reichsgericht auf S. 295 ausdrücklich offen gelassen. Das Reichsgericht sagt, es käme nicht darauf an, ob der Vorstand des verklagten Vereins den Willen gehabt habe, den Kassierer zukünftig als Vertreter handeln zu lassen. Zurückgegriffen wird vielmehr auf den Grundsatz der Anscheinsvollmacht, d. h. es wird die Frage gestellt, ob die Mitglieder des Vorstandes des Vereins das Verhalten des Kassierers wahrnehmen mussten und ob dieses Verhalten von seinem Geschäftsgegner nach Treu und Glauben so aufgefasst werden konnte, dass Vertretungsmacht bestand. Damit wird unbeantwortet gelassen, ob man die Vollmacht noch über § 167 I BGB als stillschweigende erteilte Vollmacht gesetzlich begründen kann, und stattdessen auf die Anscheinsvollmacht zurückgegriffen, die sich jedenfalls nicht direkt aus dem Gesetz ableiten lässt. Auch wenn es hier darum geht, ein konkretes Verhalten unter eine gesetzliche Norm zu subsumieren oder nicht, und nicht darum, ob sich die Anscheinsvollmacht als ein abstraktes Problem gesetzlich begründen lässt, wird klar, dass es das Reichsgericht für nicht wichtig erachtet, ob es sich im legitimierten oder im nicht legitimierten Bereich befindet. cc) Lückenfüllung Das Reichsgericht begründet den Rückgriff auf die Anscheinsvollmacht mit Grundsätzen, die für den Verkehr mit Kaufleuten gelten, da nach § 17 II GenG41 Genossenschaften Kaufleute im Sinne des Handelsgesetzbuches sind (S. 295). Danach sei die Frage, ob ein Kaufmann seinem Angestellten Vollmacht erteilt habe, sowie der Umfang der Vollmacht nach dem in die äußere Erscheinung getretenen Verhalten des Kaufmannes zu beurteilen. Diese Aussage lässt schon die Entwicklung hin zu einem Rechtsscheintatbestand erkennen, ist aber mehrdeutig. Mit dem „in die 41
Gesetz, betreffend die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften (GenG) vom 1. Mai 1889 (RGBl. S. 55). Zurzeit gültig ist das Gesetz betreffend die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften (Genossenschaftsgesetz – GenG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. Oktober 2006 (BGBl. I S. 2230), aktuelle Version abgedruckt in Schönfelder, Deutsche Gesetze, Nr. 53.
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äußere Erscheinung getretenen Verhalten“ kann sowohl eine konkludente Vollmachterteilung gegenüber dem Dritten als auch eine Rechtsscheinvollmacht gemeint sein. Zudem enthält diese Aussage noch keine Definition der Voraussetzungen der Rechtsscheinvollmacht und unterscheidet insbesondere nicht zwischen Anscheinsund Duldungsvollmacht. Diese Problematik zeigt sich auch an mehreren Vorentscheidungen, die das Reichsgericht in diesem Zusammenhang auf S. 295 zitiert. In ROHGE 12, 277 geht es um die stillschweigende Genehmigung eines Rechtsgeschäftes, das ein Vertreter in Überschreitung seiner Handlungsvollmacht vorgenommen hat. Diese Entscheidung behandelt also das Problem der Rechtsscheinvollmacht überhaupt nicht. In ROHGE 10, 142 handelt es sich um eine Duldungsvollmacht. In RGZ 1, 8 ist nicht eindeutig, ob der Vertretene vom Handeln des Vertreters Kenntnis hatte. Die Argumentation geht hier in Richtung Anscheinsvollmacht, allerdings ohne diesen Grundsatz selbst näher zu begründen. In Bolze, Praxis des RG’s Bd. 3 Nr. 436 geht es schließlich wieder um eine Duldungsvollmacht. Insgesamt enthalten die Entscheidungen damit keine Argumentation, die zur Begründung der Anscheinsvollmacht dienen könnte. Dennoch formuliert die vorliegende Entscheidung den Grundsatz der Anscheinsvollmacht. Sie sagt auf S. 295, auf eine Kenntnis des Vertretenen vom Handeln des Vertreters komme es nicht an, es genüge vielmehr, dass das Handeln des Vertreters unter solchen Umständen stattfand, dass der Vertretene es wahrnehmen musste. Damit stellt das Reichsgericht den Grundsatz der Anscheinsvollmacht fest, ohne ihn in Anlehnung an das Gesetzesrecht oder anderweitig zu begründen. Das ist ein Beispiel dafür, wie Richterrecht selbständig und ohne Begründung geschaffen wird. Da es sich jedoch um eine handelsrechtliche Entscheidung handelt, ist zunächst zu fragen, ob sich der Grundsatz der Anscheinsvollmacht im Handelsrecht begründen lässt. Im Handelsrecht gibt es typisierte Erklärungsformen, die, anders als im Zivilrecht, auch bei Fehlen des Erklärungsbewusstseins zu einer Bindung an den Vertrag führen.42 Hier genügt vielmehr – wie bei der Anscheinsvollmacht – der zurechenbar erweckte Rechtsschein.43 Zu nennen sind dabei die §§ 54 III, 55, 56 und 91 HGB im Vertretungsrecht, die zu einer wirksamen Vertretungsmacht kommen, ohne dass der Vertretene Kenntnis vom Handeln des Vertreters hat.44 In diesem Zusammenhang kann man außerdem den § 362 HGB45 nennen, bei dem ein Schweigen eines Kaufmannes als Annahme eines Antrages gilt. Auch hier kommt es ohne ein bewusstes Handeln des Kaufmannes zu einer Bindung an den Vertrag. Aus diesen Vorschriften kann man im Rahmen einer Rechtsanalogie die Geltung der
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Canaris, Vertrauenshaftung, § 5 IV. (S. 52). Medicus, BGB AT, § 58 I. 3. (Rn. 972). Wolf/Neuner, BGB AT, § 50 V. 3. b) Rn. 99 (S. 629). Medicus, BGB AT, § 58 I. 3. (Rn. 972).
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Anscheinsvollmacht für das Handelsrecht ableiten.46 Das Reichsgericht nutzt diese sich anbietende Begründungsmöglichkeit jedoch nicht. dd) Ergebnis Die Entscheidung betrachtet den Grundsatz der Anscheinsvollmacht als Rechtsgrundlage und versucht daher nicht, den Fall über eine stillschweigende Vollmachtserteilung nach § 167 I BGB mit dem Gesetzesrecht zu lösen. Dies spricht für ein geringes Bewusstsein des Legitimitätsproblems im Lückenbereich. Der Grundsatz der Anscheinsvollmacht wird nicht begründet, sondern festgestellt. Es werden zwar Vorentscheidungen angeführt, doch diese enthalten ebenfalls keine Begründung der Anscheinsvollmacht. Im Übrigen wird auf den Inhalt der Vorentscheidungen auch nicht eingegangen. Es handelt sich also um einen weitreichenden Fall richterlicher Rechtsfortbildung ohne Ausrichtung am Legitimitätsgedanken. Da es in der Entscheidung um ein handelsrechtliches Problem geht, läge es nahe, die Anscheinsvollmacht über eine Rechtsanalogie zu den §§ 54 III, 55, 56, 91 und 362 HBG zu entwickeln. Diese Begründungsmöglichkeit nutzt die Entscheidung jedoch nicht. b) RGZ 117, 164 – Bestätigung des Grundsatzes der Rechtsscheinvollmacht unter Bezugnahme auf Vorentscheidungen (Urteil vom 27. Mai 1927) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil geht es um die Frage nach der Bevollmächtigung eines kaufmännischen Angestellten zum Akzept eines Wechsels, der dazu nicht ausdrücklich ermächtigt, aber in anderen Fällen mehrmals an Wechselverbindlichkeiten beteiligt war. Es handelt sich also wieder um das Problem der Rechtsscheinvollmacht. bb) Grenzen der Auslegung Die Frage nach den Grenzen der Auslegung stellt sich im vorliegenden Fall in Form der Abgrenzung zwischen stillschweigender Vollmachterteilung, die unter § 167 I BGB zu fassen ist, und Rechtsscheinvollmacht, die gesetzlich nicht geregelt ist.
46 Anders ist hinsichtlich der Geltung der Anscheinsvollmacht für das allgemeine Zivilrecht zu entscheiden. Siehe dazu unten die Analyse von BGH MDR 1953, 345 [C. I. 2. c)] unter cc).
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Auf den S. 165 – 167 bezeichnet die Entscheidung jedoch die Rechtsscheinvollmacht, sei es Duldungs- oder Anscheinsvollmacht, als stillschweigende Vollmachterteilung. Damit wird der Wortlaut des § 167 I BGB überdehnt, auch wenn diese Vorschrift in der Entscheidung nicht erwähnt wird. Nach § 167 I BGB erfolgt die Erteilung der Vollmacht durch Erklärung gegenüber dem zu Bevollmächtigenden oder dem Dritten, dem gegenüber die Vertretung stattfinden soll. Da es bei der Rechtsscheinvollmacht darum geht, wie der Dritte die Situation versteht, stellt sich die Frage, ob es sich bei der Rechtsscheinvollmacht um eine stillschweigende Vollmachterteilung gegenüber einem Dritten handeln könnte. Bei einer Vollmachterteilung gegenüber einem Dritten muss diesem gegenüber entsprechend der Anordnung in § 167 I BGB eine Willenserklärung abgegeben werden. Dafür braucht es normalerweise das Erklärungsbewusstsein des Vollmachtgebers. Willenserklärungen sind jedoch nach dem Empfängerhorizont auszulegen, sofern der wirkliche Wille des Erklärenden nicht zu ermitteln ist.47 Es liegt also auch dann eine Willenserklärung vor, wenn der Vertretene zwar keine Vollmacht erteilen will, der Dritte das Verhalten des Vertretenen aber als das Rechtsgeschäft einer ihm gegenüber erteilten Vollmacht selbst verstehen darf.48 Das ist bei einer Rechtsscheinvollmacht aber nicht der Fall. Hier wird lediglich der Rechtsschein erweckt, es habe eine Vollmachterteilung im Innenverhältnis zwischen Vertreter und Vertretenem gegeben.49 Als Willenserklärung dem Dritten gegenüber ist das Verhalten des Vertretenen nicht zu deuten. Eine Rechtsscheinvollmacht ist also keine stillschweigende Vollmachterteilung gegenüber einem Dritten. Die Entscheidung versucht auch nicht, im vorliegenden Fall eine Willenserklärung des Vertretenen darzulegen. Indem die Entscheidung die Rechtsscheinvollmacht als stillschweigende Vollmachterteilung bezeichnet, überdehnt sie somit die Grenzen der Auslegung des § 167 I BGB. cc) Lückenfüllung Zur Begründung der Rechtsscheinvollmacht nimmt das Reichsgericht auf S. 165 unter anderem auf die Entscheidung RGZ 65, 29250 Bezug und sagt, dass sich der Umfang der Vollmacht nach dem in die äußere Erscheinung getretenen Verhalten des Kaufmannes richte. Weiterhin wird der Grundsatz der Anscheinsvollmacht (im Urteil bezeichnet als stillschweigende Vollmachterteilung) unter Bezugnahme auf die Vorentscheidung 47
Brox, BGB AT, § 6 I. 2. b) Rn. 135 f. Larenz/Wolf, BGB AT (9. Aufl. 2004), § 48 III. Rn. 21 (S. 894). 49 So auch Canaris, Vertrauenshaftung, § 5 II. 1. (S. 41), und Schmidt-Rimpler, Anm. zum RG, JW 1927, S. 1249 Nr. 5. 50 Vgl. die Analyse unter C. I. 2. a). 48
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RG JW 1927, 1249 Nr. 5, die wiederum u. a. auf RGZ 65, 292 verweist und deren Inhalt fast wörtlich übernommen wird, formuliert. Im Unterschied zur heutigen Definition, die einen vom Vertretenen zurechenbar gesetzten Rechtsschein fordert, wird dabei aber zunächst auf die Sicht des Dritten abgestellt. Es komme darauf an, dass der Dritte das Verhalten des Vertretenen so habe verstehen dürfen, dass diesem bei Anwendung der im Verkehr üblichen Sorgfalt das Verhalten des Vertreters nicht habe verborgen bleiben können.51 Ein Verschulden des Vertretenen wird erst am Ende der Entscheidung auf S. 167 a.E. gefordert, wo es um die „Duldung infolge Fahrlässigkeit“ geht. Eine Begründung für diesen Grundsatz der Rechtsscheinvollmacht enthält die Entscheidung jedoch, genau wie RGZ 65, 292, nicht. Im Folgenden – auf S. 165 f. – sagt die Entscheidung dann, es käme nicht auf eine Kenntnis des Vertretenen vom Handeln des Vertreters an. Damit macht das Reichsgericht keinen Unterschied zwischen Duldungs- und Anscheinsvollmacht, denn diese beiden Formen der Rechtsscheinvollmacht unterscheiden sich dadurch, dass der Vertretene bei der Duldungsvollmacht Kenntnis vom Handeln des Vertreters hat. Wichtig sei laut der Entscheidung nur, wie das Verhalten des Vertretenen gegenüber den Handlungen des Vertreters von einem Dritten aufgefasst werden könne und ob es nach Treu und Glauben dahin gedeutet werden könne, dass das Verhalten des Vertreters dem Vertretenen nicht habe verborgen bleiben können. In der Anwendung dieser Grundsätze auf den konkreten Fall lässt es das Reichsgericht auf S. 166 folgerichtig offen, ob der Vertretene Kenntnis vom Handeln des Vertreters gehabt hat, obwohl der Sachverhalt Anhaltspunkte dafür enthält, dass eine solche Kenntnis vorlag. Auf S. 166 wird davon gesprochen, dass der Vertreter innerhalb eines Zeitraums von zwei Jahren in zehn Fällen Kundenwechsel giriert habe, und dass ein Teil dieser Wechsel nach Vollziehung des Giros an die Geschäftsleitung der Hauptniederlassung, und damit den Vertretenen, gelangt sei. Hier hätte die Entscheidung prüfen müssen, ob eine Kenntnis des Vertretenen vom Handeln des Vertreters vorlag, da man bei der Bejahung dieser Frage von einer Duldungsvollmacht ausgehen kann. Indem es das nicht tut, nimmt das Reichsgericht die Möglichkeit, das Problem über eine Duldungsvollmacht zu lösen, nicht wahr und greift zu schnell auf die Anscheinsvollmacht zurück. Eine Duldungsvollmacht wäre deshalb vorzugswürdig, weil diese sich über eine Analogie zu den §§ 170 – 172 BGB herleiten lässt52, während die Begründung der Anscheinsvollmacht – jedenfalls außerhalb des Handelsrechts – problematisch ist53. Bei den §§ 170 – 172 BGB geht es darum, dass der Rechtsschein einer bestehenden Vollmacht durch eine bewusste Handlung des
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Genauso in RG JW 1927, 1249 Nr. 5 mit Anm. Schmidt-Rimpler. Larenz/Wolf, BGB AT (9. Aufl. 2004), § 48 III. 1. Rn. 24 (S. 894) für Analogie zu § 171 BGB; a.A. MüKo-Schramm (6. Aufl. 2012) § 167 Rn. 51, und MüKo-Schubert § 167 Rn. 94 a.E. 53 Vgl. die Analyse von BGH MDR 1953, 345 [C. I. 2. c)] unter cc). 52
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Vertretenen gegenüber einem Dritten gesetzt wird.54 Die Vorschrift des § 171 I BGB, der in seinem Wortlaut der Duldungsvollmacht am nächsten kommt, fordert eine besondere Mitteilung des Vertretenen gegenüber dem Dritten. Bei der Duldungsvollmacht handelt es sich zwar nicht um eine besondere Mitteilung, jedoch auch um das bewusste Setzen eines Rechtsscheins. Da bei den §§ 170 – 172 BGB und bei der Duldungsvollmacht eine bewusste Handlung gegenüber dem Dritten notwendig ist55, ist eine Analogie möglich. Bei dieser Kritik ist jedoch zu berücksichtigen, dass zum damaligen Zeitpunkt die Abgrenzung zwischen Duldungs- und Anscheinsvollmacht noch nicht herausgearbeitet war. Duldungs- und Anscheinsvollmacht wurden vielmehr beide als „Vollmacht kraft Duldung“ bezeichnet, bei der die Duldung infolge fahrlässiger Unkenntnis genügen sollte.56 Das bedeutet, dass sowohl eine Duldung ohne Kenntnis vom Handeln des Vertreters (heute: Anscheinsvollmacht) als auch eine Duldung mit Kenntnis (heute: Duldungsvollmacht) von dieser Definition der Rechtsscheinvollmacht umfasst war. Diese Behandlung von Anscheins- und Duldungsvollmacht als Alternativen eines Tatbestandes wird in dem Urteil auf S. 167 a.E. deutlich. Eine Rechtsscheinvollmacht wird damit begründet, dass der Vertretene das Handeln des Vertreters „wissentlich oder infolge von Fahrlässigkeit duldet“. Zudem handelt es sich im vorliegenden Fall um einen Sachverhalt unter Kaufleuten, so dass Handelsrecht Anwendung findet. Im Handelsrecht ist aber die Herleitung der Anscheinsvollmacht über eine Rechtsanalogie zu den §§ 54 III, 55, 56, 91 und 362 HGB möglich.57 Diese Begründungsmöglichkeit nutzt die Entscheidung jedoch nicht. dd) Ergebnis Im Gegensatz zu RGZ 65, 292, wo das Reichsgericht zwar offen lässt, ob der Fall unter § 167 I BGB zu subsumieren ist, und stattdessen gleich auf die Anscheinsvollmacht abhebt, aber doch zwischen beiden Alternativen trennt, wird hier die Rechtsscheinvollmacht als stillschweigende Vollmachterteilung bezeichnet. Damit wird das Gesetzesrecht überdehnt und die Grenzen der Auslegung werden nicht zutreffend bestimmt. Folglich ist im Rahmen der Bezeichnung eine Tendenz zu erkennen, den Fall möglichst unter das Gesetzesrecht zu fassen. Die Annahme des Grundsatzes der Rechtsscheinvollmacht erfolgt, wie in RGZ 65, 292, ohne Begründung. Es wird lediglich auf Vorentscheidungen verwiesen. Die Bezugnahme auf die Lösungen von Vorentscheidungen ohne begründende Argu54
Näher zum Inhalt der §§ 170 – 172 BGB die Analyse von BGH MDR 1953, 345 [C. I. 2. c)] unter cc). 55 Wolf/Neuner, BGB AT, § 50 V. 2. b) Rn. 89 (S. 627). 56 Krause, Schweigen im Rechtsverkehr, II. Kap. § 2 II. (S. 34) m.w.N. zum damaligen Stand der Lehre. 57 Vgl. die Analyse von RGZ 65, 292 [C. I. 2. a)] unter cc).
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mentation stellt jedoch keine am Legitimitätsprinzip orientierte Lückenfüllung dar. Hier zeigt sich erneut, wie sich ein nicht begründeter Grundsatz in der Rechtsprechung entwickelt. Zudem ergibt sich eine Vermischung von Duldungs- und Anscheinsvollmacht, wobei die Entscheidung auf die gesetznähere Begründung über eine Duldungsvollmacht verzichtet. Dies ist aber insoweit verständlich, als zur Zeit der Entscheidung die genaue Abgrenzung dieser beiden Rechtsscheintatbestände noch nicht herausgearbeitet war. c) BGH MDR 1953, 345 – Verfestigung der Rechtsprechung zur Anscheinsvollmacht: „anerkannter Rechtsgrundsatz“ (Urteil vom 10. März 1953) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil handelt es sich um einen Fall des Auftretens eines Vertreters ohne Vertretungsmacht, bei dem sich die Frage stellt, ob eventuell eine Anscheinsvollmacht angenommen werden kann. bb) Grenzen der Auslegung Auf das Problem, dass die Rechtsscheinvollmacht gesetzlich nicht geregelt ist, geht der BGH nicht ein. Er beruft sich vielmehr zur Rechtfertigung der Anscheinsvollmacht auf „anerkannte Rechtsgrundsätze“ und zieht zwei Vorentscheidungen und eine Literaturmeinung heran (S. 345). Die Entwicklung des Rechtsinstitutes der Rechtsscheinvollmacht in der Rechtsprechung führt hier dazu, dass die Grenzen der Auslegung nicht erwähnt werden. Ähnlich wie das Reichsgericht in RGZ 117, 16458 behandelt der BGH außerdem die Duldungsvollmacht als stillschweigende Vollmachterteilung. Auch hier gilt, dass bei der Duldungsvollmacht das Verhalten des Vertretenen nicht als Willenserklärung und damit Vollmachterteilung gegenüber dem Dritten gem. § 167 I BGB zu deuten ist. Es wird lediglich der Rechtsschein erweckt, es habe im Innenverhältnis zwischen Vertretenem und Vertreter eine Vollmachterteilung gegeben. Es besteht also hinsichtlich der Duldungsvollmacht eine Tendenz, die Grenzen der Auslegung des § 167 I BGB zu überdehnen. Letztlich geht es in dieser Entscheidung aber nicht um eine Duldungs-, sondern um eine Anscheinsvollmacht.
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Vgl. die Analyse unter C. I. 2. b).
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cc) Lückenfüllung In der Begründung der Anscheinsvollmacht durch den BGH auf S. 345 lässt sich im Gegensatz zu den Entscheidungen des Reichsgerichts (RGZ 65, 292 und RGZ 117, 164) eine gewisse Verfestigung der Rechtsprechung feststellen. Neben dem Verweis auf zwei Vorentscheidungen und eine Literaturmeinung spricht der BGH von „anerkannten Rechtsgrundsätzen“. „Anerkannte Rechtsgrundsätze“ stellen jedoch keine am Legitimitätsprinzip orientierte Begründungsmöglichkeit in der Lücke dar. Sollte es sich um Richterrecht handeln, wie der Verweis auf die Vorentscheidungen nahe legt, ist es keine Rechtsquelle. Auch eine Literaturansicht ist keine Rechtsquelle. Hinsichtlich der Existenz von Gewohnheitsrecht fehlen die Anhaltspunkte. Gewohnheitsrecht ist zudem fragwürdig, weil die Rechtsprechung bis heute nicht ohne Widerstand geblieben ist.59 Die Entscheidung wirft die Frage nach dem Gewohnheitsrecht denn auch nicht auf. Auf S. 346 liefert der BGH dann eine zusätzliche Begründung der Anscheinsvollmacht, die darlegen soll, warum diese Grundsätze allgemeine Bedeutung haben und nicht nur für den Verkehr unter Kaufleuten gelten. Die Anscheinsvollmacht sei aus den Rechtsgedanken der §§ 177 ff. BGB i.V.m. § 242 BGB abzuleiten. In den §§ 177 ff. BGB geht es aber um den Vertreter ohne Vertretungsmacht. Dabei hängt die Wirksamkeit des Vertrages von der Genehmigung des Vertretenen ab (§ 177 I BGB). Genehmigt dieser nicht, muss der Vertreter dem Vertragspartner nach dessen Wahl gem. § 179 BGB Erfüllung oder Schadensersatz leisten. Die Bindung des Vertretenen an den Vertrag, wie sie bei der Anscheinsvollmacht angenommen wird, ist damit bei diesen Regelungen gerade nicht gegeben. Es lässt sich somit nicht erkennen, wie die §§ 177 ff. BGB zur Begründung der Anscheinsvollmacht herangezogen werden können. Aus § 242 BGB lassen sich die Grundsätze über die Rechtsscheinvollmacht ebenfalls nicht ableiten. Zunächst gilt § 242 BGB nach seinem Wortlaut nur im Rahmen eines Schuldverhältnisses und nicht, wenn es noch um die Frage geht, ob jemand überhaupt rechtlich gebunden sein soll. Die Vorschrift ist von ihrem Inhalt her keine Rechtsschöpfungsnorm, sondern bezieht sich auf die Pflichten aus einem bestehenden Schuldverhältnis.60 Zudem ist der Grundsatz von Treu und Glauben zu allgemein, um aus ihm eine konkrete Regel wie die der Anscheinsvollmacht abzuleiten. Es handelt sich daher um eine eigene Wertung des Richters, wenn dieser den Grundsatz der Anscheinsvollmacht annimmt. Diese Begründung des BGH hinsichtlich der Anscheinsvollmacht ist also nicht überzeugend.
59 MüKo-Schramm (6. Aufl. 2012) § 167 Rn. 56, und MüKo-Schubert § 167 Rn. 92, beide m.w.N.; Flume, BGB AT, § 49 4. (S. 833). 60 Dazu näher oben B. V. 1. c).
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Fraglich ist, ob sich die Anscheinsvollmacht sonst in gesetzesnaher Weise begründen lässt. Anbieten würde sich zunächst eine Analogie zu den §§ 170 – 172 BGB. Diese Vorschriften schützen den Geschäftsgegner, der auf eine nicht oder nicht mehr bestehende Vollmacht vertraut.61 Bei allen drei Vorschriften handelt es sich jedoch um Situationen, in denen der Vertretene wissentlich zur Entstehung des Rechtsscheins einer gültigen Vollmacht beigetragen hat. Bei § 170 BGB hat der Vertretene die Vollmacht gegenüber dem Dritten erteilt. Bei § 171 BGB hat er dem Dritten durch besondere Mitteilung kundgegeben, dass er einen anderen bevollmächtigt hat, und bei § 172 BGB hat er dem Vertreter eine Vollmachtsurkunde ausgehändigt und weiß, dass dieser sie nach Belieben verwenden kann. Auch bei der Anscheinsvollmacht geht es um einen Rechtsscheintatbestand. Eine Anscheinsvollmacht wird angenommen, wenn der Vertretene das Handeln des Vertreters zwar nicht kennt, er es aber bei Beachtung der pflichtgemäßen Sorgfalt hätte erkennen und verhindern können.62 Damit weiß der Vertretene bei der Anscheinsvollmacht nicht, dass er einen Rechtsschein setzt, er hat das Setzen des Rechtsscheins lediglich nach Verschuldensgesichtspunkten zu vertreten. Fraglich ist daher, ob sich die Anscheinsvollmacht über eine Analogie zu den §§ 170 – 172 BGB herleiten lässt. Bei den §§ 170 – 172 BGB handelt es sich nicht um Willenserklärungen, d. h. die Wirkung der Vollmacht gegenüber dem Dritten folgt nicht aus einem Rechtsgeschäft. Dies kann man wie folgt begründen: Willenserklärungen sind nach dem Empfängerhorizont auszulegen, sofern der wirkliche Wille des Erklärenden nicht zu ermitteln ist.63 Bei der Vollmachterteilung liegt also nur dann eine Willenserklärung vor, wenn der Dritte das Verhalten des Vertretenen als das Rechtsgeschäft einer ihm gegenüber erteilten Vollmacht selbst verstehen darf.64 Bei § 170 BGB geht es aber um das Unterlassen einer Anzeige über das Erlöschen der Vollmacht, bei § 171 BGB um die Kundgabe der Vollmacht über eine besondere Mitteilung und bei § 172 BGB um die tatsächliche Handlung der Aushändigung der Vollmachtsurkunde an den Vertreter. Alle drei Handlungen stellen sich für den Dritten nicht als Vollmachterteilung selbst und damit nicht als Willenserklärung dar. Damit besteht eine Ähnlichkeit zur Anscheinsvollmacht, die auch keine Willenserklärung gegenüber dem Dritten ist, sondern eine Schaffung tatsächlicher Umstände, die auf eine Vollmachterteilung an den Vertreter schließen lassen. Eine Ansicht in der Literatur möchte daher die Anscheinsvollmacht aus einer Analogie zu den §§ 170 – 172 BGB herleiten, da diese Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens der Rechtsscheinhaftung seien.65 Dagegen spricht jedoch, dass die §§ 170 – 172 BGB, wie oben dargelegt, von einer bewussten Handlung des Vertretenen 61
Palandt-Ellenberger § 170 Rn. 1. Palandt-Ellenberger § 172 Rn. 11. 63 Brox, BGB AT, § 6 I. 2. b) Rn. 135 f. 64 Larenz/Wolf, BGB AT (9. Aufl. 2004), § 48 III. Rn. 21 (S. 894). 65 MüKo-Schramm (6. Aufl. 2012) § 167 Rn. 56; Larenz/Wolf, BGB AT (9. Aufl. 2004), § 48 III. Rn. 21 (S. 894). 62
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ausgehen, während sich der Vertretene bei der Anscheinsvollmacht des Setzens des Rechtsscheins nicht bewusst ist.66 Auch wenn die §§ 170 – 172 BGB eine Rechtsscheinhaftung und damit eine Bindung des Vertretenen an den Vertrag unabhängig von einer Willenserklärung des Vertretenen ermöglichen, liegt ihnen doch der Gedanke zu Grunde, dass der Rechtsschein bewusst gesetzt wird. Gegen die Annahme, die §§ 170 – 172 BGB enthielten einen allgemeinen Rechtsgedanken, der über eine Rechtsscheinhaftung auch eine Bindung an den Vertrag bei unbewusstem Handeln des Vertretenen möglich macht, spricht auch die sonstige Konzeption des BGB zum Zustandekommen von Rechtsgeschäften.67 Rechtsgeschäfte kommen durch Willenserklärungen, also durch privatautonomes Handeln, zustande.68 Bei den §§ 170 – 172 BGB geht es zwar, wie oben dargelegt, nicht um Willenserklärungen, dennoch ist das Ergebnis dasselbe, wie wenn es sich um Willenserklärungen handeln würde. Die Vollmacht gilt als wirksam und der Vertretene ist an den Vertrag gebunden. Zudem besteht eine Ähnlichkeit zu rechtsgeschäftlichem Handeln, auch wenn ein solches nicht vorliegt. So bezeichnet z. B. Schramm die Kundgabe durch besondere Mitteilung in § 171 I BGB als geschäftsähnliche Handlung, die von einem Mitteilungsbewusstsein getragen werden muss.69 Handelt es sich bei den §§ 170 – 172 BGB aber um rechtsgeschäftsähnliche Handlungen, müssen die Vorschriften über die Anfechtung von Willenserklärungen auf die Handlungen nach §§ 170 – 172 BGB analog angewandt werden. Bei Willenserklärungen ist jedoch auch die Erklärung ohne Erklärungsbewusstsein nach § 119 I BGB anfechtbar.70 Für § 171 I BGB würde dann entsprechend gelten, dass auch die Mitteilung ohne Mitteilungsbewusstsein anfechtbar wäre. Dies wird wahrscheinlich nicht sehr oft der Fall sein. Interessant wird es aber, wenn man diese Überlegungen auf die Anscheinsvollmacht überträgt, wie es notwendig ist, wenn man diese über eine Analogie zu den §§ 170 – 172 BGB herleiten will. Bei der Anscheinsvollmacht handelt es sich nicht, wie in § 171 BGB, um eine Mitteilung der Bevollmächtigung, auch nicht um eine konkludente Mitteilung, da der Dritte das Auftreten des vermeintlichen Vertreters nicht als Mitteilung des Vertretenen verstehen wird. Es handelt sich um ein tatsächliches Handeln oder Unterlassen des Vertretenen, der den Rechtsschein setzt. Für dieses Setzen des Rechtsscheins wäre dann analog §§ 170 – 172 BGB eine Art „Rechtsscheinbewusstsein“ erforderlich, wie es bei der Duldungsvollmacht vorliegt. Liegt dieses nicht vor, könnte der Vertretene die „Vollmachterteilung“ anfechten und würde lediglich auf das negative Interesse nach § 122 BGB haften.71 Das würde aber bedeuten, dass der Anscheins66 67 68 69 70 71
Staudinger-Schilken § 167 Rn. 31; Wolf/Neuner, BGB AT, § 50 V. 3. b) Rn. 98 (S. 629). Zum Ganzen Canaris, Vertrauenshaftung, § 5 IV (S. 49 ff.). Flume, BGB AT, § 49 4. (S. 835 f.). MüKo-Schramm (6. Aufl. 2012) § 171 Rn. 3a f. MüKo-Armbrüster § 119 Rn. 101. So auch Wolf/Neuner, BGB AT, § 50 V. 3. b) Rn. 98 (S. 629).
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vollmacht fast jede Grundlage entzogen wäre, weil diese voraussetzt, dass der Rechtsschein unbewusst gesetzt wird, und sie daher immer anfechtbar wäre. Die Anscheinsvollmacht lässt sich also nicht aus einer Analogie zu den §§ 170 – 172 BGB herleiten.72 Auch die Tatsache, dass bei der Anscheinsvollmacht ein Verschulden gefordert wird, spricht nicht dagegen, eine grundsätzliche Anfechtbarkeit anzunehmen. Bei den Irrtumsfällen macht das BGB auch keinen Unterschied zwischen verschuldetem und unverschuldetem Irrtum. Auch bei verschuldetem Irrtum kann man den Vertrag anfechten.73 Im Übrigen kann auch im Falle von plötzlich und schuldhaft abgebrochenen Vertragsverhandlungen nur ein Ersatz des Vertrauensschadens aus culpa in contrahendo und nicht der Abschluss des Vertrages verlangt werden. Das Verschuldensprinzip allein kann also keine Bindung an den Vertrag begründen.74 Lehnt man aber die Analogie zu den §§ 170 – 172 BGB ab, muss man im Umkehrschluss folgern, dass sich eine Bindung an den Vertrag im Falle einer Anscheinsvollmacht nicht begründen lässt. Dann bleibt tatsächlich nur noch der Verschuldensgesichtspunkt im vorvertraglichen Verhältnis. Das würde bedeuten, dass in Fällen der Anscheinsvollmacht lediglich eine Haftung aus culpa in contrahendo auf das negative Interesse anzunehmen ist.75 Der Grundsatz der Anscheinsvollmacht lässt sich also im allgemeinen Zivilrecht nicht in gesetzesnaher Weise begründen. Nimmt man eine Bindung an den Vertrag über eine Anscheinsvollmacht dennoch an, entscheidet man contra legem. Hätte die Entscheidung sich mit der analogen Anwendung der §§ 170 – 172 BGB befasst, wäre dieses Problem aufgefallen. Im Ergebnis wird in der Entscheidung aber das Bestehen einer Anscheinsvollmacht abgelehnt. dd) Ergebnis Die Grenzen der Auslegung werden in dieser Entscheidung insofern nicht mehr bestimmt, als sich das Reichsgericht auf die Entwicklung in Rechtsprechung und Literatur bezieht und hinsichtlich der Anscheinsvollmacht von „anerkannten Rechtsgrundsätzen“ spricht. Außerdem werden in Bezug auf die Duldungsvollmacht die Grenzen des § 167 I BGB überdehnt, indem die Entscheidung die Duldungsvollmacht als stillschweigende Vollmachterteilung bezeichnet. 72
Wolf/Neuner, BGB AT, § 50 V. 3. b) Rn. 98 (S. 629) m.w.N. So auch Canaris, Vertrauenshaftung, § 5 IV. (S. 51). 74 RGRK-Steffen § 167 Rn. 12. 75 Flume, BGB AT, § 49 4. (S. 835); Medicus, BGB AT, § 58 I. 2. (Rn. 971); Wolf/Neuner, BGB AT, § 50 V. 3. b) Rn. 98 (S. 629); MüKo-Schubert § 167 Rn. 95 m.w.N. Zur h.M., die eine Anscheinsvollmacht grundsätzlich bejaht, vgl. MüKo-Schramm (6. Aufl. 2012) § 167 Rn. 54 Fn. 163 mit umfangreichen Nachweisen. 73
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Die Bezugnahme auf „anerkannte Rechtsgrundsätze“ unter Verweis auf Vorentscheidungen und eine Literaturmeinung stellt keine am Legitimitätsgedanken orientierte Lückenfüllung dar. Die Frage nach dem Bestehen von Gewohnheitsrecht wirft die Entscheidung nicht auf. Neben den „anerkannten Rechtsgrundsätzen“ enthält sie jedoch einen eigenen Begründungsansatz der Anscheinsvollmacht aus den Rechtsgedanken der §§ 177 ff. i.V.m. § 242 BGB. Diese Begründung kann jedoch nicht überzeugen. Auch wenn eine Rechtsanalogie zu den §§ 177 ff. BGB letztendlich nicht trägt, kommt hier § 242 BGB mit der Tendenz zum Einsatz, die Grenzen der Analogie zu überdecken. Der Versuch einer Begründung über eine Analogie zu den §§ 170 – 172 BGB wird nicht gemacht. So kommt die Entscheidung nicht zu dem Ergebnis, dass sich die Anscheinsvollmacht mit dem geltenden Gesetzesrecht nicht begründen lässt und daher contra legem entwickelt wird. d) BGHZ 65, 13 – Vergleichbarer Fall: Abhandengekommene Vollmachtsurkunde (Urteil vom 30. Mai 1975) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, ob der Vertretene an den Vertrag gebunden ist, wenn er es fahrlässig ermöglicht hatte, dass der Vertreter sich eigenmächtig in den Besitz der Vollmachtsurkunde setzt und durch deren Verwendung den Rechtsschein entsprechender Legitimation hervorruft. bb) Grenzen der Auslegung Die Entscheidung beginnt auf S. 13 f. mit der Frage, ob § 172 I BGB auf den Fall des Abhandenkommens der Vollmachtsurkunde analog anzuwenden ist. Damit geht sie gleich zu einer lückenfüllenden Argumentation über, ohne die Frage zu stellen, ob eine Lücke besteht. Dass der Fall der abhandengekommenen Urkunde mit Auslegung nicht zu lösen ist, ist jedoch eindeutig. Die Vorschrift des § 172 I BGB verlangt nach seinem Wortlaut, dass der Vertretene dem Vertreter die Vollmachtsurkunde „ausgehändigt“ hat. Dies ist nicht der Fall, wenn sich der Vertretene eigenmächtig in den Besitz der Urkunde gesetzt hat. Dass die Grenzen der Auslegung in diesem Fall nicht ausdrücklich bestimmt werden, ist also verständlich. Anschließend stellt sich die Frage, ob der Wortlaut des § 172 I BGB abschließend sein soll, ob er es also ausschließt, dass bei einer abhandengekommenen Urkunde ebenfalls eine Bindung an den Vertrag entsteht. Es geht also um ein qualifiziertes Schweigen des § 172 I BGB.
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Das Problem des qualifizierten Schweigens des § 172 I BGB spricht die Entscheidung auf S. 14 an, und zwar im Zusammenhang mit der Frage, ob die Grundsätze über den verursachten Rechtsschein angewendet werden könnten. Dass kein qualifiziertes Schweigen des § 172 I BGB vorliegt, ist die Voraussetzung dafür, dass man den Fall, wie bei der Anscheinsvollmacht, lückenfüllend über einen zurechenbar gesetzten Rechtsschein lösen kann. Die Entscheidung prüft hier also das Vorliegen eines qualifizierten Schweigens zutreffend als Voraussetzung einer lückenfüllenden Argumentation. Allein aus dem Wortlaut des § 172 I BGB ist die Frage nach dem qualifizierten Schweigen jedoch nicht zu beantworten. Ob das Wort „ausgehändigt“ bedeutet, andere Fälle, wie das Abhandenkommen, sollen nicht zu einer Bindung an den Vertrag führen, oder ob an solche Fälle nur nicht gedacht worden ist, lässt sich aus der Formulierung des § 172 I BGB nicht ableiten. Aus einem Schweigen allein lässt sich keine positive Aussage gewinnen. Der BGH zieht dann auch aus dem Wortlaut des § 172 I BGB keinen eindeutigen Schluss. Er sagt auf S. 14 lediglich, der Wortlaut „lässt zweifeln“, ob bei einer abhandengekommenen Urkunde eine Bindung an den Vertrag angenommen werden kann. cc) Lückenfüllung Im Rahmen der Lückenfüllung lässt sich aber eventuell ein qualifiziertes Schweigen über einen Umkehrschluss aus vorhandenen Regelungen herleiten.76 Der BGH argumentiert in diesem Sinne auf S. 14, eine allgemein gesteigerte Vertrauenshaftung bei Urkunden sei dem geltenden Recht fremd. Die einschlägigen Regeln des Wertpapierrechts seien eine auf der speziellen Funktion der Wertpapiere beruhende Besonderheit und könnten nicht verallgemeinert werden. Hier geht es also darum, eine Analogie zu wertpapierrechtlichen Vorschriften abzulehnen und damit im Umkehrschluss ein qualifiziertes Schweigen der Rechtsordnung zu bejahen. Der BGH geht jedoch nicht auf die einzelnen wertpapierrechtlichen Vorschriften ein. Aus methodischer Sicht vollständig wäre die Argumentation gewesen, wenn der BGH die einschlägigen Vorschriften genannt hätte. Infrage kommen § 794 Abs. 1 BGB i.V.m. § 935 II BGB, die bestimmen, dass der Aussteller aus einer Schuldverschreibung auf den Inhaber auch dann verpflichtet wird, wenn sie ohne seinen Willen in den Verkehr gelangt ist, und dass gutgläubiger Erwerb auch bei Abhandenkommen möglich ist. Außerdem hätte man noch auf Art. 16 II WG77 und Art. 21 ScheckG78 eingehen können, die ebenfalls den gutgläubigen Erwerb bei Abhandenkommen des Wechsels oder des Schecks zulassen. 76
Zu dieser Methode allgemein s. o. B. III. 1. b) aa). Wechselgesetz vom 21. Juni 1933 (RGBl. I S. 399), abgedruckt in Schönfelder, Deutsche Gesetze, Ergänzungsband Nr. 54 (Vorschrift ist aktuell). 78 Scheckgesetz vom 14. August 1933 (RGBl. I S. 597), abgedruckt in Schönfelder, Deutsche Gesetze, Ergänzungsband Nr. 56 (Vorschrift ist aktuell). 77
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Auf S. 14 sagt der BGH weiterhin, dass nach allgemeiner Meinung eine Willenserklärung mangels Begebung noch nicht als solche existent geworden sei. Auf S. 15 führt er dazu aus, dass man dann auch nicht dem Aussteller einer Vollmachtsurkunde das aus ihrer Verwendung im Rechtsverkehr entstandene Risiko aufbürden dürfe, wenn er sich ihrer nicht von sich aus entäußert habe. Hier fordert der BGH letzten Endes einen gewissen Beitrag des Ausstellers, um ihn mit einer Bindung an den mit Hilfe seiner Vollmachtsurkunde geschlossenen Vertrag zu belasten. Zusammen mit der Bezugnahme auf den Wortlaut des § 172 I BGB („ausgehändigt“) geht diese Argumentation in dieselbe Richtung wie diejenige, die schon an einer anderer Stelle dieser Untersuchung zur Ablehnung der Anscheinsvollmacht geführt hat.79 Rechtsgeschäfte kommen im BGB nur durch privatautonomes Handeln zustande. Davon machen auch die §§ 170 – 172 BGB keine Ausnahme, die zwar keine Willenserklärungen, jedoch mindestens ein bewusstes Handeln fordern. Bei dem hier einschlägigen § 172 I BGB muss die Urkunde, wie bereits oben dargelegt, „ausgehändigt“ werden. Daraus folgt wieder im Umkehrschluss, dass nur ein Verschulden im vorvertraglichen Bereich, wie bei der abhandengekommenen Urkunde, nicht zu einer Bindung an den Vertrag, sondern zum Ersatz des Vertrauensschadens führt. Dies spricht dafür, eine Bindung an den Vertrag bei einer abhandengekommenen Urkunde abzulehnen und damit ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzes zu bejahen.80 Aus dieser Argumentation folgt dann ebenfalls, dass man die Anscheinsvollmacht ablehnen muss. Das tut der BGH aber nicht. In einer ausführlicheren Veröffentlichung des Urteils81 kann man lesen, dass der BGH im vorliegenden Fall noch eine Anscheinsvollmacht prüft, diese aber ablehnt, weil der Vertretene nicht habe vorhersehen müssen, welches konkrete Geschäft der „Vertreter“ mithilfe der entwendeten Urkunde vornehmen werde. Diese Argumentation ist problematisch, denn derjenige, der eine Urkunde nicht sorgfältig verwahrt, hat zumindest erkennen müssen, dass sich ein anderer Zugang zu der Urkunde verschafft und die Urkunde benutzt. Welches konkrete Geschäft dieser andere abschließt, ist dann nicht von Bedeutung. Stringenter wäre es hier also gewesen, auch die Anscheinsvollmacht generell abzulehnen, weil bei ihr genauso wie bei der abhandengekommenen Urkunde kein bewusstes Handeln des Vertretenen, sondern nur ein Verschulden vorliegt. Auf S. 14 zeigt der BGH dann noch einen Ansatz, selbst zu werten und sein Ergebnis zu postulieren. Er sagt, es „könne nicht anerkannt werden“, dass im Interesse der Verkehrssicherheit ein so weitgehender Schutz gutgläubiger Dritter erforderlich sei. Dies ist aber der einzige Ansatz einer nicht dem Legitimitätsprinzip entsprechenden Begründung. Insgesamt lehnt der BGH eine Bindung des Vertretenen an den Vertrag bei abhandengekommener Urkunde mit guten Argumenten ab 79 80 81
Vgl. die Analyse von BGH MDR 1953, 345 [C. I. 2. c)] unter cc) m.N. Für die analoge Anwendbarkeit von § 172 I BGB MüKo-Schubert § 172 Rn. 18 a.E. BGH NJW 1975, 2101 (2103).
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und nimmt ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzes an, auch wenn er dies nicht so bezeichnet. Bejaht man ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzes, stellt sich außerdem die Frage, aus welcher gesetzlichen Regelung man den Ersatz des Vertrauensschadens herleitet. Der BGH spricht auf S. 15 nur von „Grundsätzen wie sie zur Haftung auf das negative Interesse entwickelt worden sind“, nennt aber keine Normen, aus denen sich eine solche Haftung ableiten lässt. Eine gesetzesnahe Begründung der Haftung auf das negative Interesse unterbleibt also. Hier könnte sich ein weiteres Lückenproblem stellen. Möglich wäre nämlich die analoge Anwendung von § 122 BGB mit der Argumentation, der Vertretene habe mit der Ausstellung der Urkunde ein unnötiges Risiko geschaffen, für das er einzustehen habe, wenn die Urkunde gegen seinen Willen in den Verkehr gelangt.82 Nach anderer Ansicht83 sei eine Analogie zu § 122 BGB abzulehnen und ein Verschulden des Vertretenen, wie die unsorgfältige Aufbewahrung der Urkunde, notwendig, so dass nur eine Haftung aus culpa in contrahendo – heute nach §§ 280 I, 311 II, 241 II BGB – anzunehmen sei. Je nachdem, ob man eine analoge Anwendung des § 122 BGB bejaht oder verneint, hätte man eine Entscheidung darüber gefällt, ob diese Vorschrift abschließend sein soll oder nicht und damit eine Gesetzeslücke angenommen oder nicht. Indem der BGH keine gesetzliche Grundlage für die Vertrauenshaftung nennt, beantwortet er diese Frage nicht. Eine Analogie zu § 122 BGB ist deshalb zu verneinen, weil der Fall der abhandengekommenen Vollmachtsurkunde nicht mit dem Fall einer abgegebenen, aber mit einem Irrtum behafteten Willenserklärung vergleichbar ist. Im letzteren Fall ist ein nach außen gerichtetes Verhalten erfolgt, dass bei einer abhandengekommenen Urkunde nicht vorliegt.84 Bei einer abhandengekommenen Urkunde hat der Vertretene zwar wie bei einer Willenserklärung ein Risiko geschaffen, indem er die Urkunde ausgestellt hat, nämlich die Gefahr, dass die Urkunde ungewollt in den Verkehr gelangt. Dieses Risiko wird jedoch dadurch gemindert, dass er die Urkunde sorgfältig aufbewahrt und so alles dafür tut, dass sie nicht im Rechtsverkehr verwendet wird. Diese Situation ist der bewussten Abgabe einer Willenserklärung nicht vergleichbar. Eine Haftung des Vertretenen ist daher nur anzunehmen, wenn er die Urkunde nicht sorgfältig aufbewahrt, wenn er also ihr In-den-Verkehr-Gelangen zu vertreten hat. Eine solche verschuldensabhängige Haftung wäre dann eine Haftung aus culpa in contrahendo bzw. aus §§ 280 I, 311 II, 241 II BGB.
82 Canaris, Vertrauenshaftung, § 38 III. 7. (S. 487 f.) und § 44 II. 3. (S. 548); Canaris, Anm. zu diesem Urteil, JZ 1976, S. 132 ff. (S. 134); Wolf/Neuner, BGB AT, § 50 V. 1. c) Rn. 78 (S. 625) m.w.N. 83 Larenz/Wolf, BGB AT, (9. Aufl. 2004) § 48 II. 1. b) Rn. 12 (S. 891); Staudinger-Schilken § 172 Rn. 7 a.E. m.w.N.; Köhler, BGB AT, § 6 II. 3. Rn. 12 (S. 53); Bork, BGB AT, § 34 D. V. 5. (Rn. 1527); MüKo-Schramm (6. Aufl. 2012) § 172 Rn. 5. 84 Bork, BGB AT, § 34 D. V. 5. (Rn. 1527).
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dd) Ergebnis Eine Bestimmung der Grenzen der Auslegung erfolgt nicht, ist aber in diesem Fall auch unproblematisch. Eine Lücke muss nicht gefüllt werden, da die Entscheidung in überzeugender Weise ein qualifiziertes Schweigen bejaht, auch wenn sie es nicht so bezeichnet. Als Begründung lehnt sie eine Analogie zu wertpapierrechtlichen Vorschriften ab und verweist auf die Voraussetzungen der Existenz von Willenserklärungen. Die eigentliche Argumentation, die für die Anscheinsvollmacht genauso gilt wie für die abhandengekommene Vollmachtsurkunde, enthält die Entscheidung aber nicht. Den daraus folgenden Schluss, auch eine Anscheinsvollmacht abzulehnen, zieht die Entscheidung ebenfalls nicht. Im Ergebnis wird jedoch für die abhandengekommene Urkunde eine Bindung an den Vertrag abgelehnt und bis auf einen kleinen Ansatz eines Postulates enthält die Entscheidung gute Begründungen. Die Frage der Rechtsgrundlage der statt Vertragsbindung angenommenen Vertrauenshaftung spricht die Entscheidung nicht an und behandelt damit ein sich daraus ergebendes weiteres Lückenproblem nicht. Dass die Entscheidung die Rechtsgrundlage der Vertrauenshaftung nicht nennt, kann man auch als Anzeichen für ein geringes Bewusstsein des Legitimitätsproblems werten. Insgesamt zeigt das Urteil, dass eine überzeugende Begründung möglich ist, wenn – anders als bei der Anscheinsvollmacht – zu einer Frage keine Rechtsprechungsentwicklung vorliegt. Das Problem der abhandengekommenen Urkunde wird anders betrachtet als die Anscheinsvollmacht, obwohl es sich in beiden Fällen um einen verschuldeten Rechtsschein handelt. Bei der Anscheinsvollmacht nimmt die Rechtsprechung aufgrund einer Rechtsprechungsentwicklung eine Vertragsbindung an, während sie im Fall der abhandengekommenen Urkunde die Vertragsbindung verneint und lediglich eine Haftung auf das negative Interesse fordert.
3. Culpa in contrahendo Hier soll nur die Entscheidung RGZ 95, 58 vom 24. September 1918 besprochen werden, da diese eine ausführliche Argumentation zur Herleitung der culpa in contrahendo enthält. Sie nennt die im Rahmen eine Rechtsanalogie heranzuziehenden Vorschriften, begründet die culpa in contrahendo aber letzten Endes mit Hilfe von Bekräftigungen und Treu und Glauben.
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a) RGZ 95, 58 – Herleitung der culpa in contrahendo über Bekräftigungen und Treu und Glauben, obwohl eine Rechtsanalogie angedacht wird (Urteil vom 24. September 1918) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, ob ein Werkunternehmer Mehrvergütung für sein Werk verlangen kann, wenn er aufgrund fahrlässig falscher Angaben des Bestellers hinsichtlich der Umstände, unter denen das Werk auszuführen war, den Preis für das Werk zu niedrig angesetzt hatte. Es geht also darum, ob den fahrlässig handelnden Besteller eine Haftung aus Verschulden bei Vertragsschluss trifft. bb) Grenzen der Auslegung Auf S. 60 grenzt die Entscheidung zutreffend zum vorhandenen Gesetzesrecht ab, indem sie deliktische Ansprüche ausschließt. Die Vorschrift des § 826 BGB scheide wegen fehlenden Vorsatzes aus und § 823 BGB sei nicht anwendbar, weil weder eine Verletzung eines absoluten Rechts noch ein Verstoß gegen ein Schutzgesetz vorliege. Sodann wird, für eine deutsche Entscheidung ungewöhnlich, auf S. 60 ausdrücklich auf eine Regelungslücke hingewiesen. Der Lückenbegriff wird zwar nicht verwandt, es wird jedoch gesagt, dass das BGB zu dem Problem keine Regelung enthalte: „Das Bürgerliche Gesetzbuch enthält zwar keine allgemeine Vorschrift, wonach ein Vertragsteil für Verschulden beim Vertragsschluss einzustehen hätte.“ cc) Lückenfüllung Im Rahmen der Lückenfüllung hätte man zunächst prüfen können, ob ein qualifiziertes Schweigen des BGB in dem Sinne vorliegt, dass die Regelungen über die Irrtumsanfechtung der §§ 119 ff. BGB den Fall abschließend regeln. Im vorliegenden Fall hätte der Werkunternehmer den Vertrag gem. § 119 II BGB anfechten können, da ein Irrtum hinsichtlich der Ausführungsbedingungen vorlag. Eine Konkurrenz zu einer möglichen culpa in contrahendo ist jedoch nur dann problematisch, wenn mit der culpa in contrahendo dasselbe verlangt werden soll wie mit der Irrtumsanfechtung, nämlich die Aufhebung des Vertrages.85 Hier wurde der Vertrag aber ausgeführt und es geht lediglich um Schadensersatz wegen zu niedrig angesetzter Preise. Dieser Fall ist von der Irrtumsanfechtung nicht erfasst, denn einen Schadensersatzanspruch des Irrenden gegen den Vertragspartner, der den Irrtum fahrlässig verursacht hat, enthalten die Irrtumsregeln nicht. Die Entscheidung stellt auf S. 59 f. auch den Irrtum fest, äußert sich jedoch nicht zur Frage des qualifizierten Schweigens. Da dieses im Ergebnis nicht vorliegt, ist das jedoch kein wesentliches Versäumnis. 85
MüKo-Emmerich (6. Aufl. 2012) § 311 Rn. 89 f. zu diesem Streitstand m.N.
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Auf S. 60 wird sodann bemerkt, dass das BGB eine Haftung aus Verschulden beim Vertragsschluss nicht grundsätzlich ablehne, und es werden Vorschriften aufgezählt, die Schadensersatz in bestimmten Fällen eines Verschuldens bei Vertragsschluss gewähren. Die Entscheidung nennt für den Fall eines ungültigen Vertrages die §§ 179 BGB und 307 und 309 BGB a.F. 86 und für den Fall eines gültigen Vertrages die §§ 463 S. 2 BGB a.F. und 694 BGB. Geht es bei § 179 BGB um die Haftung des Vertreters ohne Vertretungsmacht, so handelt es sich um ein Verhalten des Vertreters bei Vertragsschluss, da die Vertretungsmacht zum wirksamen Vertragsschluss notwendig ist. Die Vorschrift des § 179 BGB greift bei Vorsatz (Abs. 1) und Fahrlässigkeit bzw. keinem Verschulden (Abs. 2) des Vertreters ein. In § 307 BGB a.F. geht es um die Kenntnis oder fahrlässige Unkenntnis der Unmöglichkeit einer Leistung bei Vertragsschluss, in § 309 BGB a.F. entsprechend um die Kenntnis oder fahrlässige Unkenntnis eines gesetzlichen Verbotes, gegen das der Vertrag verstößt, bei Vertragsschluss. Bei § 463 S. 2 BGB a.F. handelt es sich um das arglistige Verschweigen eines Mangels der Kaufsache zur Zeit des Kaufes, also bei Vertragsschluss. Die Vorschrift des § 463 S. 2 BGB a.F. ist allerdings eine gewährleistungsrechtliche Norm, die als Rechtsfolge Schadensersatz wegen Nichterfüllung vorsieht, so dass sie nicht eigentlich eine Regelung der culpa in contrahendo darstellt. Dennoch lässt sich auch aus dieser Vorschrift die Existenz vorvertraglicher Pflichten ableiten. Die Regelung des § 694 BGB statuiert eine Schadensersatzpflicht des Hinterlegers, wenn dem Verwahrer aufgrund der Beschaffenheit der hinterlegten Sache ein Schaden entsteht, es sei denn, dass der Hinterleger die Gefahr drohende Beschaffenheit der Sache bei der Hinterlegung weder kennt noch kennen muss oder dass er sie dem Verwahrer angezeigt oder dieser sie ohne Anzeige gekannt hat. Derjenige, der von der gefährlichen Beschaffenheit weiß oder hätte wissen müssen, entgeht also nur einer Haftung, wenn er diese dem Verwahrer anzeigt. Daraus folgt eine Aufklärungspflicht des Hinterlegers bei Vertragsschluss.87 Verletzt er diese schuldhaft, so haftet er aus einem Verschulden bei Vertragsschluss, da die Pflichtverletzung im vorvertraglichen Bereich liegt. Zusätzlich zu diesen Vorschriften kann man außerdem die §§ 523 I, 524 I, 60088, 66389 und 675 BGB nennen.90 In § 523 I BGB geht es um einen Schadensersatzanspruch wegen des arglistigen Verschweigens eines Rechtsmangels bei einer Schenkung, bei § 524 I um den entsprechenden Fall bei einem Sachmangel. Bei 86
Vorschriften des BGB vor dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz (SMG vom 26. November 2001, BGBl. I S. 3138, in Kraft seit 1. Januar 2002) s. Schönfelder, Deutsche Gesetze, Ergänzungsband Nr. 20. 87 So auch Stoll LZ 1923, Sp. 532 ff. (Sp. 537), und Kruse, Culpa in contrahendo, Abschnitt I B. 2. a) b) (S. 5). 88 Larenz, SchuldR AT, § 9 I. a) (S. 107); Kruse, Culpa in contrahendo, Abschnitt I B. 2. a) c) (S. 5). 89 Staudinger-Löwisch/Feldmann § 311 Rn. 96; Stoll LZ 1923, Sp. 532 ff. (Sp. 537). 90 Schulze, Culpa in contrahendo, II. (S. 4 f.); Stoll LZ 1923, Sp. 532 ff. (Sp. 537) für alle genannten Vorschriften außer § 600 BGB.
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§ 600 BGB handelt es sich um einen Schadensersatzanspruch wegen arglistigen Verschweigens eines Rechts- oder Sachmangels des Verleihers bei einer verliehenen Sache. In § 663 BGB, auf den sich § 675 BGB für die entgeltliche Geschäftsbesorgung bezieht, geht es um eine Anzeigepflicht desjenigen, der zur Besorgung gewisser Geschäfte öffentlich bestellt ist oder sich öffentlich erboten hat, wenn er einen auf solche Geschäfte gerichteten Auftrag nicht annimmt. Die Vorschrift des § 663 BGB sagt zwar nichts über die Rechtsfolgen einer entsprechenden Pflichtverletzung aus, erkennt aber an, dass es Rechtspflichten im Rahmen der Vertragsverhandlungen gibt. Auch § 122 BGB kann man als eine Vorschrift sehen, die ein Verhalten während der Vertragsverhandlungen sanktioniert, nämlich den Irrtum bei einer Willenserklärung und die daraus folgende Anfechtung.91 Diese Vorschrift gehört aber nur im weiteren Sinne zu den Vorschriften über die culpa in contrahendo, weil die Haftung dort kein Verschulden voraussetzt.92 Insgesamt gibt es also eine Vielzahl von Vorschriften im BGB, die Fälle einer culpa in contrahendo regeln und aus denen man im Wege einer Rechtsanalogie eine allgemeine Regel über die culpa in contrahendo ableiten kann. Es wäre nicht überzeugend, nur in Einzelfällen die Haftung für Verschulden bei Vertragsschluss zuzulassen und in anderen vergleichbaren Fällen eine solche Haftung abzulehnen. Ansätze dafür, dass die genannten Regeln über die culpa in contrahendo abschließend sein sollen, ergeben sich nicht. Das Vorhandensein solcher Regelungen in unterschiedlichen Bereichen des BGB spricht vielmehr für die Möglichkeit, eine allgemeine Regel aus ihnen zu entwickeln. Das Reichsgericht geht jedoch nicht im Wege der Rechtsanalogie vor. Es zieht aus der Aufzählung der in Frage kommenden Vorschriften auf S. 60 lediglich den Schluss, dass die Haftung für Verschulden beim Vertragsschluss dem Bürgerlichen Gesetzbuch „keineswegs unbekannt“ sei. Diese Aussage ist aber noch keine lückenfüllende Begründung dahingehend, dass die allgemeine Haftung für die culpa in contrahendo aus den gesetzlichen Vorschriften abgeleitet wird. Die aufgezählten Vorschriften werden hier nur zur Bekräftigung der eigenen Wertung des Reichsgerichts herangezogen. Die eigentliche Begründung des Reichsgerichts auf S. 60 stützt sich auf die „Bedürfnisse des redlichen Verkehrs“ und den das ganze Vertragsrecht beherrschenden Grundsatz von „Treu und Glauben“. Die Bedürfnisse des redlichen Verkehrs sind jedoch tatsächlicher Art und sagen nichts darüber aus, wie die Situation der Vertragsverhandlungen rechtlich zu bewerten ist. Der Grundsatz von Treu und Glauben hingegen ergibt sich aus § 242 BGB und beherrscht, wie die Entscheidung sagt, das ganze Vertragsrecht. Er beherrscht aber auch nur das Vertragsrecht und 91 MüKo-Emmerich § 311 Rn. 37; Stoll LZ 1923, Sp. 532 ff. (Sp. 537); Schulze, Culpa in contrahendo, II. (S. 4). 92 Staudinger-Löwisch/Feldmann § 311 Rn. 96; Larenz, SchuldR AT, § 9 I. a) (S. 107 f.).
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findet nur dann Anwendung, wenn bereits ein Schuldverhältnis besteht.93 Im Bereich der Vertragsverhandlungen besteht aber zunächst kein Rechte und Pflichten begründendes Schuldverhältnis. Zudem enthält § 242 BGB auch nicht die für die culpa in contrahendo notwendige Rechtsfolge des Schadensersatzes. Zur Herleitung der culpa in contrahendo kann § 242 BGB daher für sich allein und in der direkten Anwendung nicht dienen.94 Er wird in der Entscheidung vielmehr dazu eingesetzt, der eigenen Wertung des Richters scheinbar Legitimität zu verleihen. Es folgt eine weitere Bekräftigung des Ergebnisses des Reichsgerichts. Es sei kein stichhaltiger Grund erkennbar, weshalb die Vertragsparteien beim Vertragsabschluss einander zu einer geringeren Sorgfalt verpflichtet sein sollten als nach Vertragsabschluss. Unmittelbar daran schließt sich ein Argument an, dass den Ansatz einer Analogie enthält, ohne diese aber durchzuführen, und daher im Ergebnis ein tatsächliches Argument bleibt: Der Vertragsabschluss und die Vertragsverhandlungen bildeten ein einheitliches Ganzes. Hier wird an die Ähnlichkeit von Vertragsverhandlungen und Vertragsdurchführung angeknüpft. Zu denken wäre daher an die analoge Anwendung der positiven Vertragsverletzung und der §§ 241 II und 242 BGB, wie weiter unten beim Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter vorgeschlagen.95 Bei der culpa in contrahendo ist diese Analogie zu den allgemeinen vertragsrechtlichen Vorschriften aber nicht notwendig, weil es Vorschriften gibt, die die culpa in contrahendo in Einzelfällen direkt regeln. Heute ist sie sowieso in den §§ 280 II, 311 II, 241 II BGB geregelt. Auf S. 60 f. folgt eine weitere Bekräftigung im Zusammenhang mit dem Vertrauensschutzgedanken. Sehe sich ein Vertragspartner in seinem Vertrauen auf das redliche Handeln des anderen Teils durch dessen Verschulden getäuscht, so könne ihm ein Ersatz des dadurch verursachten Schadens nicht versagt werden. Beim Vertrauensschutz stellt sich jedoch immer die Frage, welches Vertrauen rechtlich schützenswert ist. Auch hier kann man auf die vertragsähnliche Situation abstellen. Eine bloße Bekräftigung dahingehend, dass ein Schadensersatz „nicht versagt werden könne“, reicht hingegen nicht aus. Auf S. 61 greift die Entscheidung zudem auf eine Vorentscheidung zurück, die einen ähnlichen Fall entschieden hat. Die vorliegende Entscheidung argumentiert, was für den vorher entschiedenen Fall galt, müsse „gleichmäßig“ auch für den hier zu entscheidenden Fall gelten. Es handelt sich also gleichsam um eine „analoge“ Anwendung der Lösung einer Vorentscheidung. Letztere wird also wie ein Gesetz behandelt. Zusätzlich dazu, dass der Pauschalverweis auf die Lösung einer Vorentscheidung sowieso keine am Legitimitätsgedanken orientierte Begründung dar93
So auch Stoll LZ 1923, Sp. 532 ff. (Sp. 540). So auch Oertmann, Anm. zu diesem Urteil, JW 1919, S. 35; a.A. Palandt-Friesecke (2. Aufl. 1939) § 276 Erl. 6) a). 95 Vgl. die Analyse von RGZ 127, 218 [C. I. 5. a)] unter cc). 94
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stellt, wird hier die Tendenz der deutschen Rechtsprechung deutlich, Vorentscheidungen wie eine Rechtsquelle zu behandeln. dd) Ergebnis Die Grenzen der Auslegung werden zutreffend gezogen und auch auf das Vorhandensein einer Lücke wird hingewiesen. Die lückenfüllende Begründung enthält mit der Aufzählung der im Rahmen einer Rechtsanalogie heranzuziehenden Vorschriften die wesentlichen Argumente. Der Verweis auf Treu und Glauben in Kombination mit Bekräftigungen des Ergebnisses verhindert aber letzten Endes, dass diese Rechtsanalogie auch vorgenommen wird. Das Argument der Ähnlichkeit von Vertragsverhandlungen und Vertragsdurchführung enthält ebenfalls einen Ansatz einer Analogie, die nicht durchgeführt wird. Zudem enthält das Urteil einen Pauschalverweis auf eine Vorentscheidung. Insgesamt mischt die Entscheidung im Sinne einer dem Legitimitätsprinzip entsprechenden Lückenfüllung überzeugende und weniger überzeugende Begründungsansätze. Sie zeigt damit wenig Methodenbewusstsein, obwohl sie nah an der nach hier vertretener Ansicht richtigen Begründung ist. Hier könnte man sich vorstellen, dass eine Lückenfüllungsnorm, die eine methodische Anweisung gibt, zu einer besseren Begründung geführt hätte.
4. Positive Vertragsverletzung In der frühen Entscheidung RGZ 106, 22 vom 29. November 1922 leitet das Reichsgericht die positive Vertragsverletzung direkt aus § 276 BGB und damit aus dem Gesetzesrecht her. Der BGH hingegen nimmt in der Entscheidung BGHZ 11, 80 vom 13. November 1953 eine Analogie zu den §§ 325, 326 BGB a.F.96 an. Letztlich stützt er seine Argumentation aber auf § 242 BGB. a) RGZ 106, 22 – Ableitung der PVV aus dem Gesetzesrecht (§ 276 BGB) (Urteil vom 29. November 1922) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, ob der Käufer eines Grundstücks vom Verkäufer, dessen Bevollmächtigter und Erfüllungsgehilfe es vertragswidrig hintertrieben hat, dass der Käufer das Grundstück mit einer Baugelderhypothek beleihen konnte, 96 Vorschriften des BGB vor dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz (SMG vom 26. November 2001, BGBl. I S. 3138, in Kraft seit 1. Januar 2002) s. Schönfelder, Deutsche Gesetze, Ergänzungsband Nr. 20.
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Schadensersatz verlangen kann. Eine Vereinbarung über die Baugelderhypothek war Bestandteil des Kaufvertrages. Der Bevollmächtigte hatte durch das Verlangen der Erhöhung der Hypothek das Zustandekommen der Beleihung verhindert. Dadurch ist es zur Zwangsversteigerung des Grundstücks gekommen, wodurch dem Käufer ein Schaden entstanden ist. Es geht also um einen Anspruch aus positiver Vertragsverletzung (heute § 280 I BGB) und um die Frage, wie sich ein solcher Anspruch herleitet. bb) Grenzen der Auslegung Das Reichsgericht leitet die positive Vertragsverletzung grundsätzlich aus § 276 BGB ab. Auf S. 25 verweist es dazu auf seine ständige Rechtsprechung und die entsprechenden Urteile. Auf S. 26 wird weiterhin gesagt, der überwiegende Teil der Rechtslehre folge der Ansicht des Reichsgerichts und von dieser Ansicht abzuweichen, bestehe für den erkennenden Senat keine Veranlassung. Das Reichsgericht begründet also nicht selbst, sondern verweist auf Literatur und Vorentscheidungen. Das könnte man deswegen als unproblematisch ansehen, weil es sich nach der Ansicht des Reichsgerichts um Gesetzesanwendung – nämlich des § 276 BGB – handelt und nicht um Lückenfüllung. Die Vorschrift des § 276 BGB enthält nach ihrem Wortlaut jedoch lediglich eine Definition des Verschuldens. Einen Schadensersatzanspruch für verschuldete Vertragsverletzungen enthält § 276 BGB nicht.97 Mit der Anwendung des § 276 BGB werden daher die Grenzen der Auslegung überdehnt. Eine eigene Begründung des Reichsgerichts, warum § 276 BGB Anwendung finden soll, wäre somit wichtig gewesen. Dann wäre die Überdehnung der Grenzen der Auslegung vielleicht deutlich geworden. Die Ansicht, dass sich die positive Vertragsverletzung aus § 276 BGB ableitet, entsprach zwar zur Zeit des Urteils einem Großteil der Lehre.98 Dennoch zeigt sich in dieser Entscheidung die Tendenz der deutschen Rechtsprechung, eine Lösung auch dann aus dem Gesetzesrecht ableiten zu wollen, wenn es nicht möglich ist. Das Reichsgericht zählt auf S. 26 eine weitere Literaturmeinung auf, die die positive Vertragsverletzung unter die zu vertretende Unmöglichkeit des § 280 BGB a.F.99 fassen möchte.100 Weiterhin nennt es die Ansicht von Staub, der die positive
97 Staub, Vertragsverletzungen, Abschnitt I. (S. 7 f.; Neudruck: S. 95) und Anschnitt III. (S. 31 f.; Neudruck: S. 112); weitere Nachweise bei Larenz, SchuldR AT, § 24 I a) (S. 366 Fn. 13). 98 Übersicht bei Freitag, Schlechterfüllung, 5. Kap. b) 2. (S. 43 f.), und Staub, Vertragsverletzungen, Abschnitt III. (S. 31; Neudruck: S. 111 f.); ansonsten RGRK-Michaelis (6. Aufl. 1928) § 276 Erl. 2; in neuerer Zeit noch MüKo-Emmerich (4. Aufl. 2001) Vor § 275 Rn. 204 ff. 99 Vorschriften des BGB vor dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz (SMG vom 26. November 2001, BGBl. I S. 3138, in Kraft seit 1. Januar 2002) s. Schönfelder, Deutsche Gesetze, Ergänzungsband Nr. 20.
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Vertragsverletzung über eine entsprechende Anwendung der §§ 286, 326 BGB a.F. herleiten will.101 Interessant ist, dass das Reichsgericht auf S. 26 diese beiden letzten Meinungen zusammenzieht, mit dem Grundsatz von Treu und Glauben ergänzt und daraus eine weitere gesetzliche Grundlage für die positive Vertragsverletzung begründen möchte. „Übrigens“ böten die von den Vertretern der verschiedenen Meinungen herangezogenen gesetzlichen Bestimmungen im Zusammenhang mit dem das Bürgerliche Gesetzbuch, namentlich in seinem Vertragsrecht, beherrschenden Grundsatz von Treu und Glauben auf alle Fälle eine hinreichende positiv-gesetzliche Grundlage, die den Satz, dass ein Schuldner, der seine Vertragspflicht schuldhaft verletze, dem Gläubiger den dadurch entstehenden Schaden zu ersetzen verpflichtet sei, auch ohne ausdrücklichen Ausspruch als Gesetzesinhalt erkennen lasse. Dabei fällt auf, dass die Entscheidung die direkte und die analoge Anwendung des Gesetzes vermischt. Die oben angeführte Meinung, die die PVV unter die Unmöglichkeitsregeln fassen will, wendet § 280 BGB a.F. direkt an. Staub hingegen ist für eine analoge Anwendung der §§ 286, 326 BGB a.F.102 Auf beide Meinungen nimmt die Entscheidung aber Bezug. Auch das Ende des oben zitierten Satzes zeigt die Unentschiedenheit zwischen direkter und analoger Anwendung des Gesetzes. Es sei eine hinreichend positiv-gesetzliche Grundlage vorhanden, die die PVV auch ohne ausdrücklichen Ausspruch als Gesetzesinhalt erkennen lasse. Eine positivgesetzliche Grundlage bedeutet, dass sich eine Lösung direkt aus dem Gesetz ergibt, während ein Gesetzesinhalt ohne ausdrücklichen Ausspruch im Wege der Analogie zu ermitteln ist. Diese Vermischung von direkter und analoger Anwendung des Gesetzes verwischt die Grenzen der Auslegung und spricht für wenig Methodenbewusstsein. Interessant ist, dass zu der Mischung von direkter und analoger Anwendung des Gesetzes der Grundsatz von Treu und Glauben, also § 242 BGB, hinzugefügt wird. Die Vorschrift des § 242 BGB sagt aber lediglich, dass der Schuldner sich bei der Bewirkung seiner Leistung redlich zu verhalten habe. Es geht also um die Pflichten des Schuldners bei der Erbringung seiner Leistung. Über einen eventuellen Schadensersatzanspruch bei der schuldhaften Verletzung von Vertragspflichten sagt § 242 BGB nichts aus. Diese Regelung wird also nicht ihrem Wortlaut entsprechend verwendet, sondern als allgemeine Gerechtigkeitsnorm herangezogen, die jede Wertung erlaubt. Durch eine scheinbar gesetzliche Legitimation wird so die eigene Wertung des Richters verschleiert.
100 Übersicht bei Freitag, Schlechterfüllung, 5. Kap. a) (S. 38 ff.); a.A. Staub, Vertragsverletzungen, Abschnitt I. (S. 8 ff; Neudruck: S. 95 ff.) und Abschnitt III. (S. 36 ff.; Neudruck: S. 115 f.). 101 Staub, Vertragsverletzungen, Abschnitt I. (S. 15; Neudruck: S. 100 f.), Abschnitt II. (S. 23 f.; Neudruck: S. 106 f.) und Abschnitt III. (S. 34 f. und 39; Neudruck: S. 114 f. und 117). 102 s. o.
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Indem man § 242 BGB als gesetzliche Norm heranzieht, überdeckt man zudem die Legitimitätslücken, die z. B. durch die analoge Anwendung des § 286 BGB a.F. entstehen und gibt so vor, sich mit der gesamten Argumentation im gesetzlichen Rahmen zu halten. Dies zeigt ein gewisses Bewusstsein des Legitimitätsproblems, das aber zu einer Überdehnung der Grenzen der Auslegung führt, da § 242 BGB nicht seinem Wortlaut entsprechend angewandt wird. Hier wären die Offenlegung der Lücke und eine entsprechende lückenfüllende Begründung vorzugswürdig gewesen. Interessant ist auch, dass das Reichsgericht diese alternative Begründung mit dem Wort „übrigens“ einleitet. Dieses Wort lässt den Leser im Unklaren darüber, welchen Wert das Reichsgericht selbst dieser Argumentation beimisst. Es scheint ein vorsichtiger Versuch zu sein, eine alternative Begründung zu § 276 BGB in Erwägung zu ziehen. Auch diese Begründung möchte aber mit dem Rückgriff auf § 242 BGB im gesetzlichen Rahmen bleiben. Hier zeigt sich noch einmal die Tendenz der deutschen Rechtsprechung, eine Lösung im Gesetzesrecht finden zu wollen, auch wenn das nicht mehr geht. cc) Lückenfüllung Da die Entscheidung ihre Lösung aus dem Gesetzesrecht ableitet, nimmt sie eine lückenfüllende Begründung nicht vor. Der einzige Ansatz einer lückenfüllenden Argumentation ist das oben beschriebene Heranziehen der Ansicht von Staub, der die §§ 286, 326 BGB a.F. analog anwenden möchte103. Hier greift die Entscheidung aber zusätzlich auf § 242 BGB zurück und erweckt so den Anschein, sich noch innerhalb des Gesetzesrechts zu bewegen. Interessant ist, dass § 242 BGB damit auch die Grenzen des Analogieschlusses verdeckt. Bei der Analogie zu den §§ 286, 326 BGB a.F. muss von der speziellen Regel über den Schuldnerverzug auf die allgemeine Regel der positiven Vertragsverletzung geschlossen werden. Diese Problematik überdeckt § 242 BGB, indem er der gesamten Argumentation scheinbar Legitimität verleiht. Da das BGB aber keine allgemeine Regelung über die positive Vertragsverletzung enthält, liegt eine Gesetzeslücke vor.104 Eine mögliche lückenfüllende Begründung wäre die entsprechende Heranziehung der Regelungen über den Schuldnerverzug (§§ 286, 326 BGB a.F.), wie sie Staub vorgeschlagen hat105, und der Regelungen über Schadensersatz bei zu vertretender Unmöglichkeit (§§ 280, 325 BGB a.F.)106. Bei den §§ 280, 325 BGB a.F. geht es zwar um Schadensersatz wegen Nichterfüllung, bei der PVV hingegen nur um den Schaden, der durch die Pflichtverletzung 103
s. o. Fn. 101. Larenz, SchuldR AT, § 24 I a) (S. 366). 105 s. o. Fn. 101 und MüKo-Emmerich (4. Aufl. 2001) Vor § 275 Rn. 206 Fn. 527 m.N. zu Vertretern von Staubs Lehre. 106 Palandt-Heinrichs (60. Aufl. 2001) § 276 Rn. 105; Larenz, SchuldR AT, § 24 I a) (367) m.N. zu dieser Ansicht in Fn. 15. 104
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entstanden ist. Allerdings liegt bei der Unmöglichkeit die Pflichtverletzung gerade in der Nichterfüllung und der Schadensersatz, der aus der Pflichtverletzung herrührt, ist dann der Schadensersatz wegen Nichterfüllung. Es handelt sich bei den §§ 286, 326 BGB a.F. und den §§ 280, 325 BGB a.F. also um Vorschriften, die Schadensersatz wegen verschuldeter Pflichtverletzung zusprechen. Das Prinzip der positiven Vertragsverletzung ist in ihnen also enthalten107 und eine Analogie somit möglich. Problematisch könnte sein, dass man aus nur zwei Einzelvorschriften ein so allgemeines Prinzip, das für das gesamte Vertragsrecht gelten soll, ableiten will. Im Gegensatz zur culpa in contrahendo108 sind hier weniger Regeln vorhanden, über die man das Prinzip herleiten kann. Andererseits handelt es sich bei den Vorschriften über Unmöglichkeit und Verzug um allgemeinere Vorschriften als bei einigen Vorschriften, die zur Herleitung der c.i.c. dienen. Unmöglichkeit und Verzug gelten für das gesamte Vertragsrecht, so dass gegen die Analogie nichts einzuwenden ist. Die Schuldrechtsreform109 macht mit der Einführung des neuen § 280 I BGB die Debatte über die Rechtsgrundlage der PVV überflüssig. In neuerer Zeit vor der Schuldrechtsreform wurde die PVV vorwiegend gewohnheitsrechtlich begründet.110 dd) Ergebnis Die Entscheidung enthält zwei Versuche, die positive Vertragsverletzung aus dem Gesetzesrecht zu begründen, die beide nicht überzeugen. In beiden Fällen kommt es zu einer Überdehnung der Grenzen der Auslegung. Die Vorschrift des § 276 BGB enthält keinen Schadensersatzanspruch. Bei der zweiten Begründung vermengt die Entscheidung direkte und analoge Anwendung des Gesetzes und zeigt so wenig Methodenbewusstsein. Die zweite Begründung beruht teilweise auf der zutreffenden Analogie zu den §§ 286, 326 BGB a.F., wird aber durch die nicht seinem Wortlaut entsprechende Anwendung von § 242 BGB noch unter das Gesetzesrecht gefasst. Der Rückgriff auf § 242 BGB bedeutet so nicht nur eine Überdehnung der Grenzen der Auslegung, sondern verdeckt auch die Grenzen der Analogie. Eine überzeugende lückenfüllende Begründung enthält die Entscheidung damit nicht. Insgesamt zeigt sich auch hier wieder die Tendenz der deutschen Rechtsprechung, ein Problem mit dem Gesetzesrecht lösen zu wollen, auch wenn das nicht mehr möglich ist. Dies spricht zwar für ein gewisses Bewusstsein des Legitimitätsproblems, führt aber im Ergebnis zu einer Überdehnung der Grenzen der Auslegung und verhindert eine lückenfüllende Begründung.
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So auch Stoll AcP 136 (1932), S. 257 ff. (S. 284). Vgl. die Analyse von RGZ 95, 58 [C. I. 3. a)] unter cc). 109 Schuldrechtsmodernisierungsgesetz (SMG) vom 26. November 2001 (BGBl. I S. 3138), in Kraft seit 1. Januar 2002. 110 Staudinger-Löwisch (Neubearb. 2001) Vorbem zu §§ 275 – 283 Rn. 30; Palandt-Heinrichs (60. Aufl. 2001) § 276 Rn. 105; MüKo-Emmerich (4. Aufl. 2001) Vor § 275 Rn. 206. 108
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b) BGHZ 11, 80 – Herleitung der PVV aus einer Analogie zu den §§ 325, 326 BGB a.F.111 in Verbindung mit § 242 BGB (Urteil vom 13. November 1953) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, ob einer Partei ein Rücktrittsrecht aus positiver Vertragsverletzung zusteht, wenn die andere Partei sich so unzuverlässig gezeigt hat, dass zu befürchten war, dass sie den Vertrag nicht erfüllen werde. Im vorliegenden Fall hat eine Partei (im Folgenden: Befrachterin) mit der anderen Partei (im Folgenden: Verfrachterin) einen Chartervertrag geschlossen und ein Schiff der Verfrachterin in den Hafen von New York bestellt, um das Schiff dort zu beladen. Bereits bevor das Schiff dort eintraf, hat die Befrachterin der Verfrachterin einen nicht existierenden Betrieb als Ablader (Unternehmen, das die Beladung durchführt) sowie einen nicht mit der Abladung beauftragten Betrieb genannt. Weiterhin hat sie wahrheitswidrig erklärt, dass eine Bank die Finanzierung des Geschäftes übernommen habe. Als das Schiff in New York eintraf, erklärte sich der zweite Betrieb nochmals als für die Abladung unzuständig. Die Verfrachterin setzte der Befrachterin daraufhin eine Frist bis zum nächsten Tag, um die Beladung durchzuführen oder eine Bankgarantie für die Durchführung des Chartervertrages zu stellen. Als dies nicht erfolgte, zog die Verfrachterin das Schiff zurück. Dabei ist unstreitig, dass die Verfrachterin die in § 577 HGB a.F.112 vorgeschriebene Wartezeit, die die Dauer der Ladezeit hat, nicht eingehalten hat. Über die Dauer der Ladezeit in dem speziellen Fall gibt das Urteil keine Auskunft. Die Verfrachterin fordert nun Schadensersatz aus einer Klausel des Chartervertrages wegen schuldhafter Nichterfüllung des Vertrages seitens der Befrachterin. Liegt eine positive Forderungsverletzung der Befrachterin vor, aus der der Verfrachterin ein Rücktrittsrecht zusteht, ist die Verfrachterin durch den Rückzug des Schiffes nicht vertragsbrüchig geworden. Die Nichterfüllung des Vertrages beruht dann vielmehr auf einem Verschulden der Befrachterin, so dass die Vertragsklausel greift.
111 Vorschriften des BGB vor dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz (SMG vom 26. November 2001, BGBl. I S. 3138, in Kraft seit 1. Januar 2002) s. Schönfelder, Deutsche Gesetze, Ergänzungsband Nr. 20. 112 Handelsgesetzbuch vom 10. Mai 1897 (RGBl. S. 219). Die u.a hier herangezogenen Vorschriften des Seehandelsrechts wurden geändert durch das Gesetz zur Reform des Seehandelsrechts vom 20. April 2013 (BGBl. I S. 831). Die zur Zeit des Urteils gültigen Fassungen sind nachzulesen in vorgenannter Fundstelle im RGBl. oder in Beck’sche Textausgaben, Handelsgesetzbuch: einschließlich Seehandelsrecht usw., 71. Aufl., München 2003.
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bb) Grenzen der Auslegung Die Entscheidung hätte sich hier zunächst fragen können, ob der Fall mit den Regeln über den Annahmeverzug zu lösen ist. Die Verfrachterin bietet ihre Leistung an, indem sie das Schiff in den Hafen von New York beordert. Die Befrachterin unterlässt aber die Handlungen, die für die Beladung notwendig wären. Der Annahmeverzug ist im BGB in § 293 geregelt. Als Rechtsfolgen enthält § 300 BGB nur eine Haftungserleichterung für den Schuldner und eine Regel über den Gefahrübergang. Ein Rücktrittsrecht für den Schuldner ist im BGB nicht vorgesehen. Anders ist es jedoch im HGB. Nach § 585 HGB a.F. endet der Frachtvertrag von Gesetzes wegen, wenn der Befrachter bis zum Ablauf der Wartezeit keine Ladung liefert.113 Die Wartezeit ist nach § 570 HGB a.F. grundsätzlich die Ladezeit, sofern keine Überliegezeit vereinbart ist. Die Vorschrift des § 577 I HGB a.F. enthält eine weitere Regel zur Wartezeit, die für den vorliegenden Fall die Speziellere ist. Soll der Verfrachter die Ladung von einem Dritten erhalten und ist dieser Dritte nicht zu ermitteln oder verweigert er die Lieferung der Ladung, so hat der Verfrachter den Befrachter schleunigst hiervon zu benachrichtigen und nur bis zum Ablauf der Ladezeit auf die Abladung zu warten. Da unstreitig ist, dass die Verfrachterin die Ladezeit nicht abgewartet hat, ist klar, dass die §§ 585, 577 I HGB a.F. die Verfrachterin nicht von dem Vertrag lösen. Die Entscheidung sagt dazu auf S. 85, dass ein Rücktrittsrecht nach den allgemeinen Grundsätzen des Bürgerlichen Gesetzbuches, nämlich aus positiver Vertragsverletzung, bestehe und nicht nach den besonderen Vorschriften des Handelsgesetzbuches. Es wäre aber methodisch genauer gewesen, die besonderen Vorschriften des Handelsgesetzbuches zu prüfen, bevor man auf die positive Forderungsverletzung eingeht. Zudem stellt sich die Frage, ob der vorliegende Fall einer positiven Vertragsverletzung von den §§ 585, 577 I HGB a.F. erfasst ist. Wäre dies der Fall, würde bei Nichtvorliegen der Voraussetzungen dieser Vorschriften kein Anspruch aus positiver Vertragsverletzung mehr möglich sein, weil dieser sonst die Voraussetzungen der §§ 585, 577 I HGB a.F., insbesondere die Wartezeit des § 577 HGB a.F., umgehen würde. Auch würde dann hinsichtlich der positiven Vertragsverletzung beim Annahmeverzug des Befrachters keine Regelungslücke vorliegen. Der BGH beschäftigt sich mit dieser Frage ganz am Ende der Entscheidung auf S. 89. Er begründet die Tatsache, dass § 577 BGB a.F. die Fälle der positiven Vertragsverletzung nicht umfasst, damit, dass im Falle der positiven Vertragsverletzung zusätzlich zu der Tatsache, dass der Ablader nicht zu ermitteln sei, ein Verschulden des Befrachters vorliege. Das ist eine Voraussetzung, die § 577 HGB a.F. nicht enthält. Dem ist im Ergebnis zuzustimmen. Weitergehend könnte man sagen, dass eine positive Vertragsverletzung ein besonders unzuverlässiges Verhalten des Befrachters voraussetzt, das über das bloße Nicht-Ermitteln-Können des Abladers 113
Rabe, SeehandelsR, § 585 Rn. 3.
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hinausgeht und somit den Vertragszweck gefährdet. Im vorliegenden Fall wurden schon, bevor das Schiff den Hafen erreichte, falsche Angaben hinsichtlich des Abladers und einer Bankgarantie gemacht, die ernsthaft an der Vertragserfüllung durch die Befrachterin zweifeln ließen. Ein solcher Fall, dass eine Partei die Nichterfüllung des Vertrages befürchten muss, ist von § 577 HGB a.F. nicht gemeint. Die §§ 585, 577 I HGB a.F. regeln folglich den Fall der positiven Vertragsverletzung wegen Gefährdung des Vertragszwecks nicht. Es bleibt also – im BGB wie im HBG – bei der Regelungslücke hinsichtlich einer positiven Vertragsverletzung. Die Entscheidung sieht das im Ergebnis auch so. Methodisch genauer wäre es aber gewesen, diese Erwägungen im Rahmen der Prüfung der Grenzen der Auslegung der lückenfüllenden Begründung der PVV voranzustellen. Der BGH geht auf S. 83, und damit zu Beginn der lückenfüllenden Begründung, weiterhin darauf ein, dass die positive Vertragsverletzung nur eingreifen kann, wenn die schuldhafte Forderungsverletzung weder Unmöglichkeit noch Verzug zur Folge hat. Für den vorliegenden Fall wird das nicht geprüft, liegt aber auch eher fern, da es sich ja – wie oben festgestellt – um ein Problem des Annahmeverzuges handelt. Der BGH ist sich hier aber bewusst, dass er als gesetzliche Regelungen erst Unmöglichkeit und Verzug heranziehen müsste. Positiv an der Entscheidung ist weiterhin, dass sie sich auf S. 83 im Rahmen der lückenfüllenden Begründung ausdrücklich von der Ansicht des Reichsgerichts lossagt, das die positive Vertragsverletzung noch direkt aus § 276 BGB hergeleitet hatte114. Damit werden diesbezüglich die Grenzen der Auslegung nicht überdehnt. Die Frage, ob sich die positive Vertragsverletzung aus § 276 BGB herleitet, ist jedoch eine Frage der Auslegung. Diese wird aufgeworfen, nachdem die Entscheidung auf S. 83 bereits Ausführungen zur Herleitung der positiven Vertragsverletzung über eine Analogie gemacht hatte. Insofern wird also die Reihenfolge von Auslegung und Lückenfüllung nicht eingehalten. Ein Rücktrittsrecht aus positiver Vertragsverletzung leitet der BGH jedoch auf S. 84 aus § 242 BGB her. Werde durch die positive Vertragsverletzung der Vertragszweck derart gefährdet, dass dem vertragstreuen Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles nach Treu und Glauben die Fortsetzung des Vertrages und damit auch die Bewirkung der ihm nach dem Vertrage an sich obliegenden Leistung nicht zugemutet werden könne, so könne er nach seiner Wahl Schadensersatz wegen Nichterfüllung, also das – „positive“ – Erfüllungsinteresse, verlangen oder auch vom Vertrag zurücktreten. Damit werden die Grenzen der Auslegung überdehnt, da § 242 BGB lediglich sagt, dass der Schuldner verpflichtet ist, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern. Die Norm sagt nichts darüber, welche Rechtsfolgen eintreten sollen, wenn der Schuldner sich nicht redlich verhält. Zudem enthält die Norm keinen Maßstab dafür, wann der Vertragszweck 114
Vgl. die Analyse von RGZ 106, 22 [C. I. 4. a)] unter bb).
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„derart gefährdet“ ist, dass ein Festhalten am Vertrag der vertragstreuen Partei „nicht mehr zugemutet“ werden kann. Denn nicht jeder Verstoß gegen Treu und Glauben rechtfertigt ein Rücktrittsrecht. Ein Rücktrittsrecht des vertragstreuen Teils kann man aus § 242 BGB also nicht ableiten.115 Diese Vorschrift wird vielmehr als allgemeine Gerechtigkeitsnorm zur Legitimierung der eigenen Wertung des Richters herangezogen. cc) Lückenfüllung Im Rahmen der lückenfüllenden Begründung bezieht sich die Entscheidung auf S. 83 auf die Vorentscheidung RGZ 106, 22, und zwar auf den Teil, der vorsichtig eine Analogie zu Unmöglichkeits- und Verzugsvorschriften als Begründung für die positive Vertragsverletzung andenkt.116 Die vorliegende Entscheidung sagt, die positive Vertragsverletzung sei auch ohne ausdrücklichen Ausspruch als Gesetzesinhalt anzusehen. Die vorbezeichnete Entscheidung des Reichsgerichts habe im Ergebnis anerkannt, dass es zur Begründung der positiven Vertragsverletzung der Heranziehung des § 276 BGB nicht bedürfe. Letzterer Satz bezieht sich auf eine zu dem Rückgriff auf § 276 BGB alternative Begründung der Entscheidung RGZ 106, 22 (dort auf S. 26), die auch Erwägungen zur Analogie enthält. Hatte das Reichsgericht diese Begründung noch mit dem Wort „übrigens“ eingeleitet und damit den Leser im Unklaren darüber gelassen, welchen Wert es dieser Begründung beimisst, so verwendet der BGH in der vorliegenden Entscheidung auf S. 83 bei seiner eigentliche Begründung der PVV bereits das Wort „zumindest“. Der Grundsatz der PVVergebe sich „zumindest“ aus der rechtsähnlichen Anwendung der Bestimmungen über die Folgen der verschuldeten Unmöglichkeit und des Verzuges (vgl. §§ 280, 286, 325, 326 BGB a.F.117). Damit werden zwar andere Begründungsmöglichkeiten nicht ausgeschlossen, es wird aber klar gesagt, dass die Analogie zu Unmöglichkeit und Verzug eine vom Urteil vertretene Begründungsmöglichkeit ist. Der BGH entwickelt also den Ansatz des Reichsgerichts in überzeugender Weise weiter. Dies ist ein Beispiel einer positiven Rechtsprechungsentwicklung, die sich mit der Begründung der Vorentscheidung auseinandersetzt. Zutreffender Ansatzpunkt für die Begründung der PVV ist tatsächlich die analoge Anwendung der Vorschriften über Unmöglichkeit und Verzug.118 Schade ist nur, dass dieser überzeugende Ansatz durch das Abstellen auf § 242 BGB konterkariert wird.119 Der BGH sagt auf S. 84, der von der positiven Ver115
A.A. Lehmann, Anm. zu diesem Urteil, JZ 1954, S. 240. Vgl. die Analyse von RGZ 106, 22 [C. I. 4. a)] unter bb). 117 Vorschriften des BGB vor dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz (SMG vom 26. November 2001, BGBl. I S. 3138, in Kraft seit 1. Januar 2002) s. Schönfelder, Deutsche Gesetze, Ergänzungsband Nr. 20. 118 Vgl. dazu m.N. die Analyse von RGZ 106, 22 [C. I. 4. a)] unter cc). 119 Vgl. dazu auch die Ausführungen oben unter bb). 116
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tragsverletzung betroffene Vertragsteil könne unter gewissen Voraussetzungen weitere Rechte [Rücktritt, Schadensersatz wegen Nichterfüllung] geltend machen, die ihrem Inhalt nach zwar den sich aus §§ 325, 326 BGB a.F. ergebenden Rechten entsprächen, die ihren Rechtsgrund aber letztlich in § 242 BGB fänden. Hier erkennt der BGH noch einmal ausdrücklich an, dass sich auch ein Rücktrittsrecht wegen positiver Vertragsverletzung aus einer Analogie zu den §§ 325, 326 BGB a.F. herleiten lässt, greift aber dann auf § 242 BGB zurück. Die §§ 325, 326 BGB a.F. enthalten nämlich ein Rücktrittsrecht wegen verschuldeter Vertragsverletzungen (zu vertretende Unmöglichkeit und Verzug). Aus ihnen lässt sich somit im Wege der Analogie ein Rücktrittsrecht für Vertragsverletzungen im Allgemeinen ableiten.120 Wann eine Vertragsverletzung schwerwiegend genug ist, um ein Rücktrittsrecht zu rechtfertigen, muss sich im Rahmen der Analogie aus einem Vergleich mit zu vertretender Unmöglichkeit und Verzug ergeben. Bei beiden Fällen handelt es sich um wesentliche Vertragsverletzungen, die den Vertragszweck gefährden.121 Beim Verzug ist dies zumindest dann der Fall, wenn auch nach einer Nachfrist nicht geleistet wurde oder die Leistung gem. § 326 II BGB a.F. für den Schuldner kein Interesse mehr hat. Wann eine Vertragsverletzung als so wesentlich angesehen wird, dass sie den Vertragszweck verletzt, unterliegt damit zwar immer noch einem gewissen Wertungsspielraum des Richters. Der Vergleich mit Unmöglichkeit oder dem Verzug in den Fällen der vergeblichen Nachfristsetzung oder des Interessenwegfalls gibt dem Richter aber ausreichend Anhaltspunkte. Auf § 242 BGB muss man dazu nicht zurückgreifen, zumal dieser nichts darüber aussagt, wann eine Vertragsverletzung wesentlich genug ist, um den Rücktritt zu rechtfertigen. Den Rückgriff auf § 242 BGB belegt die Entscheidung auf S. 84 mit vielen Vorentscheidungen. Dies führt dazu, dass die Entscheidung nicht selbst noch einmal prüft, ob § 242 BGB eine Rechtsgrundlage für das Rücktrittsrecht aus PVV darstellt. Die Bezugnahme auf § 242 BGB verfestigt sich hier über eine Rechtsprechungskette, so dass der Versuch einer am Legitimitätsgedanken orientierten Begründung nicht mehr unternommen wird. Auf S. 83 spricht die Entscheidung außerdem von der PVV als einem „in Rechtslehre und Rechtsprechung allgemein anerkannten Rechtssatz“. Ein in Rechtslehre und Rechtsprechung allgemein anerkannter Rechtssatz ist jedoch keine Rechtsquelle. Eine solche könnte höchstens Gewohnheitsrecht sein.122 Darauf geht die Entscheidung jedoch nicht ein.
120 Für § 326 BGB a.F. Staub, Vertragsverletzungen, Abschnitt II. (S. 23 f.; Neudruck: S. 106 f.), und Larenz, SchuldR AT, § 24 I a) (S. 369 f.); sonst Staudinger-Otto (Neubearb. 2001) § 326 Rn. 14, und MüKo-Emmerich (4. Aufl. 2001) Vor § 275 Rn. 275. 121 Für § 326 BGB a.F. Staub, Vertragsverletzungen, Abschnitt II. (S. 23; Neudruck: S. 106). 122 Dazu in neuerer Zeit Palandt-Heinrichs (60. Aufl. 2001) § 276 Rn. 105 m.N.
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dd) Ergebnis Im Rahmen der Prüfung der Grenzen der Auslegung hätte die Entscheidung erst die handelsrechtlichen Regeln zum Annahmeverzug prüfen können. Dabei wäre insbesondere wichtig gewesen, festzustellen, dass der Fall der positiven Vertragsverletzung, die im Zusammenhang mit dem Annahmeverzug auftritt, von diesen Regeln nicht umfasst ist und somit auch im HGB eine Regelungslücke besteht. Zu dieser Frage äußert sich der BGH erst ganz am Ende der Entscheidung. Die Entscheidung grenzt die PVV jedoch zutreffend von Unmöglichkeit und Verzug ab. Positiv an der Entscheidung ist außerdem, dass sie sich von der Ansicht des Reichsgerichts lossagt, die PVV aus § 276 BGB abzuleiten. Diesbezüglich werden also die Grenzen der Auslegung nicht überdehnt. Im Rahmen der Begründung der PVV wird jedoch die Reihenfolge von Auslegung und Lückenfüllung nicht ganz eingehalten. Die Grenzen der Auslegung werden außerdem dadurch wieder überdehnt, dass der BGH das Rücktrittsrecht aus PVV letztlich auf §242 BGB stützen will. Hinsichtlich der Bestimmung der Grenzen der Auslegung enthält die Entscheidung also gute Ansätze. Diese werden aber leider durch den Rückgriff auf § 242 BGB konterkariert. Gleiches gilt für die lückenfüllende Begründung. Diese enthält mit dem Verweis auf eine Analogie zu den Unmöglichkeits- und den Verzugsvorschriften und dabei insbesondere den §§ 325 und 326 BGB a.F. einen zutreffenden Ansatz. Damit werden die in RGZ 106, 22 enthaltenen Überlegungen im Rahmen einer positiven Rechtsprechungsentwicklung ausgebaut. Indem dann als entscheidende Norm § 242 BGB herangezogen wird, wird im Ergebnis aber eine überzeugende Begründung vereitelt. Auf das Vorliegen von Gewohnheitsrecht geht die Entscheidung nicht ein. Die Entscheidung hält insgesamt aus methodischer Sicht die Reihenfolge der Begründungsschritte nicht ganz ein, führt aber die wesentlichen Argumente zur Prüfung der Grenzen der Auslegung und zur Lückenfüllung an. Dem entgegen steht nur der Rückgriff auf § 242 BGB. Dadurch entsteht zwar der Eindruck, sich noch im Rahmen des Gesetzesrechts zu bewegen. Die eigentlich vorhandene, gute lückenfüllende Begründung wird dadurch aber überdeckt. Die Entscheidung nimmt sich hier die Möglichkeit der am Legitimitätsprinzip orientierten Lückenfüllung um der scheinbaren Ableitung der Lösung aus dem Gesetzesrecht willen.
5. Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter Die frühere Entscheidung RGZ 127, 218 vom 10. Februar 1930 leitet den Drittschutz mit Hilfe von Vertragsauslegung über einen Vertrag zugunsten Dritter gem. § 328 BGB her. Die Entscheidung BGH 56, 269 vom 15. Juni 1971 geht nicht mehr über einen Vertrag zugunsten Dritter vor, begründet den Drittschutz aber alternativ mit Vertragsauslegung oder mit Gesetzesrecht (§ 242 BGB).
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a) RGZ 127, 218 – Herleitung der Schutzwirkung mit Hilfe von Vertragsauslegung über einen Vertrag zugunsten Dritter (§ 328 BGB) (Urteil vom 10. Februar 1930) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, ob der Unternehmer für die mangelhafte Ausführung des Werkes auch den verletzten Dienstverpflichteten des Bestellers auf Schadensersatz haftet. Heute wird dieses Problem über einen „Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter“ gelöst, der dem Dritten einen eigenen vertraglichen Schadensersatzanspruch gewährt. bb) Grenzen der Auslegung Das Reichsgericht möchte zu einem vertraglichen Schadensersatzanspruch für einen dem Vertrag zwischen Unternehmer und Besteller nahestehenden Dritten gelangen. Der gesetzliche Anspruch des Dritten gegen den Unternehmer wäre der deliktsrechtliche aus § 823 I BGB, der aber wegen der Exkulpationsmöglichkeit nach § 831 I BGB oft nicht durchgreift. Das Reichsgericht geht also zunächst im Rahmen der Vertragsauslegung vor. Auf S. 221 f. werden die Erwägungen des Berufungsgerichts, das durch Vertragsauslegung unter Anwendung der §§ 133, 157 und 328 BGB einen Vertrag zugunsten Dritter annimmt, als zutreffend erachtet. Die Regelung des § 328 BGB betrifft aber nur den Fall, dass die vertragliche Leistung selbst dem Dritten zugutekommen soll. Hier geht es jedoch um einen Schadensersatzanspruch wegen der Verletzung vertraglicher Schutzpflichten. Die Vorschrift wäre also allenfalls analog anzuwenden. In § 328 BGB ist jedoch nur geregelt, dass ein Vertrag zugunsten Dritter rechtlich möglich ist. Ob die Parteien ihn auch vereinbart haben, bleibt eine Frage der Vertragsauslegung. Auf S. 222 begründet das Reichsgericht mit Hilfe von Präjudizien, warum man in bestimmten Fällen über die Vertragsauslegung einen Vertrag zugunsten Dritter annehmen kann. Ein Vertrag zugunsten Dritter könne stillschweigend geschlossen werden und dazu müssten die tatsächlichen Verhältnisse des Einzelfalles gewürdigt werden. Bei dieser Würdigung sei auf den Parteiwillen, den Geschäftszweck und die Verkehrssitte Rücksicht zu nehmen. Der Frage der ergänzenden Vertragsauslegung sei besondere Beachtung zu schenken. Der von den Parteien verfolgte Geschäftszweck stelle ein objektives Merkmal dar. Es sei daher nicht entscheidend, ob sich die Parteien beim Vertragsschluss der Tragweite ihrer Erklärungen bewusst gewesen seien. Indem das Reichsgericht einerseits auf einen stillschweigenden Vertragsschluss und den Parteiwillen, andererseits aber auf einen objektiven Geschäftszweck und die Verkehrssitte abstellt, vermischt es subjektive und objektive Merkmale. Anknüp-
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fungspunkt jeder Vertragsauslegung muss aber der Parteiwille und müssen damit die subjektiven Merkmale sein.123 Schließt man die Lücke anhand objektiver Kriterien, liegt keine Vertragsauslegung mehr vor.124 Indem das Reichsgericht beide Arten von Kriterien zusammenfasst und von ergänzender Vertragsauslegung spricht, entsteht aber der Eindruck, die Lösung werde mit Hilfe von Vertragsauslegung gefunden. Über eine tatsächliche Vertragsauslegung anhand subjektiver Kriterien, d. h. in Anknüpfung an den Parteiwillen, kann man aber nicht zu einer Lösung zu kommen. Denn bei der Einbeziehung des Dritten in den Vertrag besteht ein Interessenkonflikt zwischen den Parteien. Die Partei, die dem zu schützenden Dritten nahe steht, wird dem Drittschutz wahrscheinlich zustimmen, weniger aber die andere Partei, die sich dadurch eventuell Schadensersatzansprüchen von Personen ausgesetzt sieht, die nicht ihre Vertragspartner sind. Das Reichsgericht argumentiert auf S. 225 gegen diesen Interessengegensatz, um so doch über eine Vertragsauslegung gem. § 157 BGB zu einer Lösung zu kommen. Ist eine Regelung für beide Parteien zumindest nicht nachteilig, kann man davon ausgehen, dass beide der in Frage stehenden Regelung zugestimmt hätten. Das Reichsgericht sagt dazu bezogen auf den vorliegenden Fall, dass es für die schadensersatzpflichtige Partei keinen Unterschied mache, ob der geschädigte Dritte direkt gegen sie vorgehe oder ob ihr Vertragspartner eine Rückgriffsklage gegen sie erhebe. Dagegen ist zu sagen, dass ein solcher Rückgriff nur dann notwendig wird, wenn zwischen dem Dritten und dem ihm nahestehenden Vertragspartner ein Vertragsverhältnis bestanden hat. Nur dann kann der Dritte gegen diesen Vertragspartner unproblematisch vorgehen. Hat kein Vertragsverhältnis bestanden, ist der Dritte auf das Deliktsrecht verwiesen und dringt eventuell mit seinem Anspruch nicht durch, weil es sich um einen Vermögensschaden handelt oder der Vertragspartner sich exkulpieren kann. In diesem Fall kommt es auch nicht zu einer Rückgriffsklage gegen den schädigenden Vertragspartner. Dieser muss also unter Umständen keinen Schadensersatz leisten. Es bleibt damit bei dem eingangs dargestellten Interessenkonflikt. Aus dem Vertrag zwischen dem Besteller und dem Unternehmer lässt sich keine Lösung dieses Interessenkonfliktes ableiten, da es sich bei dem Drittschutz um eine vollständig neue Regel handelt, für die es im bisherigen Vertrag keine Anhaltspunkte gibt. Es lässt sich also nicht feststellen, was die Parteien hinsichtlich des Drittschutzes vereinbart hätten, wenn ihnen dieses Problem bewusst gewesen wäre. Ein hypothetischer Parteiwille ist anhand subjektiver Kriterien nicht zu ermitteln. Die Tatsache, dass es wünschenswert wäre, wenn die durch den Drittschutz benachteiligte Partei – hier der Unternehmer – dem Drittschutz zugestimmt hätte, heißt noch nicht, dass diese Partei dies auch getan hätte, wenn daran gedacht worden wäre.
123 124
Dazu ausführlicher oben B. II. 2. b). s. o.
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Für eine stillschweigende Vereinbarung des Drittschutzes neben dem bestehenden Vertrag müssten zumindest Anhaltspunkte vorliegen. Solche werden aber vom Urteil nicht genannt. Über den Parteiwillen kann man daher den Drittschutz nicht begründen. Dies geht nur über objektive Erwägungen, womit man nach hier vertretener Auffassung den Boden der Vertragsauslegung verlässt.125 Das Reichsgericht erwähnt in diesem Zusammenhang auf S. 222 den Geschäftszweck und die Verkehrssitte. Auf S. 225 a.E. wird noch einmal gesagt, es bestehe eine Verkehrssitte dahin, Verträge der vorliegenden Art als auch zum Schutz von Dritten abgeschlossen zu sehen. Die Verkehrssitte ist ein objektives Merkmal, das unabhängig vom Parteiwillen ist. Der Geschäftszweck ist ein Mittel, objektive Erwägungen in den Vertrag hineinzubringen, wenn man ihn – wie hier – so interpretiert, dass er nicht mehr dem Parteiwillen entspricht. Die Entscheidung sagt selbst auf S. 222, der Geschäftszweck stelle ein objektives Merkmal dar. Das Reichsgericht führt auf den S. 222 ff. weitere Vorentscheidungen an, die das Problem in neuerer Zeit zugunsten eines vertraglichen Schadensersatzanspruches des Dritten entschieden hätten. An dieser neueren Rechtsprechung sei festzuhalten, weil sie einen gesunden, den Lebensverhältnissen gerecht werdenden und dem Rechtsgefühl entsprechenden Standpunkt vertrete (S. 224). Ein „gesunder“ und dem „Rechtsgefühl“ entsprechender Standpunkt bedeutet eine eigene Wertung des Richters und hat nichts mit Vertragsauslegung zu tun. Aber auch die „Lebensverhältnisse“ sagen nichts darüber aus, wie eine Situation rechtlich zu bewerten ist. Interessant ist aber, dass das Reichsgericht nicht § 242 BGB – „Treu und Glauben“ – zur scheinbaren Legitimierung seiner Entscheidung nutzt, sondern die eigene Wertung relativ klar zu Tage treten lässt. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Entscheidung versucht, ein Problem mit Hilfe der Vertragsauslegung zu lösen, das damit nicht zu lösen ist. Damit wird nach hier vertretener Ansicht der Anwendungsbereich des Vertrages überdehnt. cc) Lückenfüllung Bevor man mit der Lückenfüllung beginnen kann, ist fraglich, ob hinsichtlich des Schutzes des vertragsnahen Dritten eine planwidrige Regelungslücke vorliegt oder ob nicht ein qualifiziertes Schweigen besteht. Da das Deliktsrecht diesen Fall regelt, stellt sich insbesondere die Frage, ob dessen Regelungen abschließend sein sollen. Nach hier vertretener Ansicht stellt eine Lücke eine planwidrige Unvollständigkeit unter Bezugnahme auf die Rechtsordnung als Ganzes dar.126 Zur gesamten
125 126
Dazu oben B. II. 2. b). Ausführlicher zum Lückenbegriff oben B. III. 1. b).
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geltenden Rechtsordnung gehört auch der Gleichheitssatz127 aus Art. 3 GG. Aus dem Gleichheitssatz folgt das Gebot, Gleiches gleich zu behandeln und damit ein Analogiegebot.128 Bezogen auf die Lückenfeststellung bedeutet dies, dass ein nicht geregelter Sachverhalt genauso wie ein gesetzlich geregelter Sachverhalt behandelt werden muss, wenn er diesem wertungsmäßig entspricht. Da aber eine entsprechende gesetzliche Regelung fehlt, liegt eine planwidrige Unvollständigkeit und damit eine Lücke vor, die vom Richter gefüllt werden muss.129 Hinsichtlich des Schutzes des vertragsnahen Dritten kann man argumentieren, die Situation des Dritten sei der Situation des eigentlichen Vertragspartners in Bezug auf die Gefahren, die von der Durchführung des Vertrages herrühren, wertungsmäßig vergleichbar, so dass eine Gleichbehandlung angezeigt ist und eine planwidrige Regelungslücke vorliegt. Das Deliktsrecht hingegen will Situationen regeln, die nicht von einem besonderen Näheverhältnis – wie es z. B. durch die Vertragsnähe entsteht – geprägt sind. Die spezielle Situation des vertragsnahen Dritten behandelt das Deliktsrecht folglich nicht. Somit kann es diesbezüglich auch nicht als abschließend betrachtet werden. Eine Lückenfüllung ist also möglich. Dadurch dass das Reichsgericht das Problem mit Vertragsauslegung als gelöst ansieht, stellt es jedoch Überlegungen zur Lückenfüllung nicht mehr an. Die einzige Begründung, die über die Vertragsauslegung hinausgeht, ist die eigene Wertung mit dem Rückgriff auf den „gesunden Standpunkt, der den Lebensverhältnissen und dem Rechtsgefühl entspreche“ (S. 224). Hinsichtlich der Lückenfüllung ergibt sich, wenn man die oben bei der Frage nach dem qualifizierten Schweigen angestellten Überlegungen zur Vertragsnähe zugrunde legt, die Lösung über eine Analogie zu vertragsrechtlichen Regelungen. Eine Schutzwirkung für den Dritten war zwar nicht vertraglich vereinbart, sie lässt sich aber analog zu den Regeln über den vertraglichen Schadensersatzanspruch annehmen. Ein solcher würde sich für den unmittelbaren Vertragspartner aus positiver Vertragsverletzung ergeben. Problematisch wäre dabei, dass es sich bei der PVV selbst um einen Anspruch handelt, der aus Analogien entwickelt wurde.130 Auch dieser Anspruch lässt sich aber begründen.131 Heute wäre dieser Begründungsaufwand insofern nicht mehr notwendig, als die positive Vertragsverletzung seit der Schuldrechtsreform in § 280 I BGB geregelt ist. Für den Dritten könnte man sich eine Analogie folgendermaßen vorstellen: Die eine Vertragspartei schafft mit der Ausführung des Vertrages ein Risiko/ eine Gefahrenquelle, der nicht nur der unmittelbare Vertragspartner, sondern auch der Dritte 127
Zur Lückenfeststellung aufgrund des Gleichheitssatzes Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. a) (S. 195 a.E.), und Kramer, Methodenlehre, III. 4. d) (S. 199) sowie oben B. III. 1. b) bb) (2). 128 Dazu oben B. III. 2. a) aa). 129 Zur Herleitung der Planwidrigkeit s. o. B. III. 1. b) aa). 130 Vgl. die Analyse von BGHZ 11, 80 [C. 4. b)] unter cc). 131 Vgl. die Analyse von RGZ 106, 22 [C. 4. a)] unter cc).
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nahe kommt. Wenn eine gewisse Nähe dieses Dritten zum Gläubiger typischerweise besteht (Familienangehörige, Hausangestellte), ist das für den Schuldner auch erkennbar. Es besteht damit also eine dem Vertrag so ähnliche Situation, dass man – heute analog § 280 I BGB – einen vertragsähnlichen Schadensersatzanspruch des Dritten annehmen könnte. Die Analogie würde dabei darin bestehen, dass man § 280 I BGB nicht auf ein eigentliches Schuldverhältnis, sondern auf ein vertragsähnliches Verhältnis anwendet. Problematisch ist hierbei jedoch, dass man nicht das Gesetz, auch nicht § 280 I BGB, analog anwendet, sondern die vertraglich vereinbarten Schutzpflichten auf einen Dritten ausdehnt. Der Anspruch aus § 280 I BGB ist ja nur die Rechtsfolge beim Bestehen solcher Schutzpflichten. Bejaht man jedoch ein vertragsähnliches Verhältnis in Bezug auf den Dritten, kann man auch die Normen, die vertragliche Schutzpflichten statuieren, auf dieses Verhältnis analog anwenden. Dies sind die §§ 241 II und 242 BGB. Die einzelnen Schutzpflichten ergeben sich dann tatsächlich gemäß dieser Vorschriften aus Treu und Glauben, unterliegen also der eigenen Wertung des Richters, d. h. der Frage, wie er die Pflichtenlage im Rahmen des vertragsähnlichen Verhältnisses sieht. Damit ist § 242 BGB ein Einfallstor für eigene Wertungen des Richters. Dies ist aber insoweit vertretbar, als er diese Wertungen auf die Pflichten im Rahmen eines Schuldverhältnisses beschränkt. Benutzt man § 242 BGB in dieser ihm nach seinem Wortlaut zugedachten Funktion, ist dagegen nichts einzuwenden.132 Wird er jedoch als allgemeine Rechtsschöpfungsnorm verstanden, die der Rechtsprechung die Schaffung neuer, nicht im Gesetz enthaltener Tatbestände ermöglicht, betreibt man Rechtsfortbildung, die nicht dem Legitimitätsprinzip entspricht.133 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die besondere Nähe zum Vertrag und zu den Gefahren, die von der Vertragsausführung ausgehen können, der Grund dafür ist, weshalb der Dritte einen vertragsähnlichen Schadensersatzanspruch haben soll. Dieser lässt sich über eine Analogie zu den §§ 280 I, 241 II, 242 BGB konstruieren. Dafür muss man auf ein „Rechtsgefühl“ und einen „gesunden, den Lebensverhältnissen entsprechenden Standpunkt“ nicht zurückgreifen. Die Ausweitung des Vertragsschutzes auf Dritte, die der vorliegenden Entscheidung des Reichsgerichts zugrunde liegt, wurde in der älteren Literatur fast einhellig gebilligt.134 Lediglich Oertmann135 ist der Meinung, dass es nicht dem Parteiwillen der Vertragsparteien entspreche, Ansprüche wegen Schlecht- oder Nichterfüllung einem Dritten zuzuwenden. Er lehnt den Anspruch des Dritten auf Beobachtung der Sorgfalt aber auch schon deswegen ab, weil es keinen eigenen 132
(1). 133
Zu § 242 BGB oben B. V. 1. c) aa), zu Generalklauseln allgemein oben B. III. 1. b) bb)
Dazu oben B. V. 1. c) bb). Bayer, Der Vertrag zugunsten Dritter, Kap. 2.4 (S. 184) mit umfangreichen Nachweisen in Fn. 310. 135 Oertmann LZ 1930, Sp. 201 ff. (Sp. 205). 134
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Anspruch des Gläubigers auf Sorgfaltsanwendung des Schuldners neben dem Anspruch auf sachgemäße Leistung gebe. Der BGH hat im Anschluss an Larenz und Gernhuber136 den Anspruch des Dritten nicht mehr direkt über einen Vertrag zugunsten Dritter aus § 328 BGB abgeleitet, sondern davon gesprochen, dass der Dritte in den Schutzbereich des Vertrages einzubeziehen sei.137 Der Begriff des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter ist von Larenz138 entwickelt worden und hat sich in der Literatur und der Rechtsprechung durchgesetzt.139 Hinsichtlich der rechtsdogmatischen Grundlage für den Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter gehen die Rechtsprechung und eine Mindermeinung im Schrifttum von einer auf den Parteiwillen zurückgehenden ergänzenden Vertragsauslegung gem. § 157 BGB aus.140 Dies ist die Herangehensweise, die auch dem hier analysierten Urteil des Reichsgerichts zugrunde liegt. Dagegen steht die herrschende Lehre141, die im Anschluss an Gernhuber142 die Auffassung vertritt, dass ein Abstellen auf den Parteiwillen völlig fiktiv sei, da die Parteien eine Einbeziehung Dritter in den Schutzbereich des Vertrages nicht bedächten. Der Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte sei vielmehr ein durch richterliche Rechtsfortbildung entwickeltes und auf das Prinzip von Treu und Glauben gem. § 242 BGB gegründetes gesetzliches Schuldverhältnis. Gernhuber bezeichnet die Herleitung des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter über die Vertragsauslegung ausdrücklich als Scheinbegründung, die für den Richter ihren Vorteil darin habe, dass sie ihm eine Antwort auf die mit offener Rechtsfortbildung zusammenhängenden Legitimitätsfragen erspare.143 In der Literatur wird also auf die Nachteile der Begründung der Rechtsprechung eingegangen und teilweise auch auf das Legitimitätsproblem, das mit jeder Rechtsfortbildung verbunden ist. Die Begründung, die die herrschende Lehre vertritt, ist aber vom Standpunkt einer dem Legitimitätsgedanken entsprechenden Lückenfüllung aus gesehen nicht besser als diejenige der Rechtsprechung. Nach § 242 BGB ist der Schuldner verpflichtet, die 136 Larenz NJW 1956, S. 1193 f.; Gernhuber, in: Festschrift Arthur Nikisch, S. 249 ff. (S. 262 ff.). 137 BGH NJW 1959, 1676 (Capuzol); Bayer, Der Vertrag zugunsten Dritter, Kap. 2.4. (S. 184) m.w.N. 138 Larenz NJW 1960, S. 78 ff. (S. 79). 139 Bayer, Der Vertrag zugunsten Dritter, Kap 2.4. (S. 185) m.w.N. 140 Bayer, Der Vertrag zugunsten Dritter, Kap 2.4. (S. 191) mit umfangreichen Nachweisen in Fn. 347. 141 Zenner NJW 2009, S. 1030 ff. (S. 1033 f.); Larenz, SchuldR AT, § 17 II (S. 226 f.); Bayer, Der Vertrag zugunsten Dritter, Kap 2.4. (S. 191) m.w.N. in Fn. 348; Staudinger-Jagmann (Neubearb. 2009) § 328 Rn. 91 m.w.N. 142 Gernhuber, in: Festschrift Arthur Nikisch, S. 249 ff. (S. 261 f.) im Zusammenhang mit der älteren Theorie der Begründung des Drittschutzes über einen Vertrag zugunsten Dritter. 143 Gernhuber, in: Festschrift Arthur Nikisch, S. 249 ff. (S. 251).
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Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern. Die Vorschrift setzt also voraus, dass ein Schuldverhältnis besteht, in dessen Rahmen Leistungen in gewisser Weise zu erbringen sind. Bei dem Vertrag mit Schutzwirkung liegt aber kein Schuldverhältnis zwischen dem Dritten und dem ihm nicht nahestehenden Vertragspartner vor, so dass § 242 BGB nicht zur direkten Anwendung kommen kann. Infrage kommt nur – wie oben vorgeschlagen – eine analoge Anwendung in Verbindung mit der entsprechenden Anwendung von § 280 I und 241 II BGB. Die Regelung des § 242 BGB wird von der herrschenden Lehre aber direkt angewandt und als allgemeine Gerechtigkeitsnorm verstanden, so dass sie als Legitimationsgrundlage für Rechtsfiguren dienen kann, die subjektiv als „gerecht“ empfunden werden – hier der Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter. Indem die Literatur auf § 242 BGB zurückgreift, verwendet sie also ebenso eine Scheinbegründung wie die Rechtsprechung. Wo die Rechtsprechung vorgibt, das Problem ließe sich über Vertragsauslegung lösen, erweckt die herrschende Lehre den Eindruck, eine Lösung ließe sich mit dem Gesetzesrecht, nämlich über § 242 BGB, finden. Da die herrschende Lehre so scheinbar Gesetzesrecht anwendet, setzt sie sich weder mit dem Problem auseinander, ob eine Regelungslücke besteht, noch versucht sie eine lückenfüllende Begründung. dd) Ergebnis In dieser Entscheidung besteht die starke Tendenz, das Problem des Schutzes des vertragsnahen Dritten mit Vertragsauslegung zu lösen. Ein solches Ergebnis wäre auch wünschenswert, weil der Vertrag eine legitime Rechtsquelle ist. Problematisch wird es aber, wenn – wie hier – das Problem mit Vertragsauslegung nicht mehr zu lösen ist. Die Tatsache, dass das Reichsgericht die Lösung in der Vertragsauslegung finden will, führt zu einer Überdehnung der Grenzen der Auslegung sowie dazu, dass weder die Lücke definiert noch eine entsprechende lückenfüllende Begründunge vorgenommen wird. Statt der lückenfüllenden Begründung wertet das Reichsgericht selbst („Rechtsgefühl“), versucht aber nicht, diese Wertung durch den Rückgriff auf § 242 BGB scheinbar zu legitimieren.
b) BGHZ 56, 269 – Herleitung der Schutzwirkung alternativ über Vertragsauslegung oder Gesetzesrecht (§ 242 BGB) (Urteil vom 15. Juni 1971) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, inwieweit ein Besteller seine gesetzliche Fürsorgepflicht aus § 618 BGB gegenüber einem Subunternehmer abbedingen kann, der
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eventuell über einen Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter in den Werkvertrag zwischen Besteller und Unternehmer einbezogen ist. In diesem Zusammenhang hat sich der BGH damit beschäftigt, woraus sich der Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter herleitet. bb) Grenzen der Auslegung Der BGH stellt hinsichtlich der Begründung des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter zunächst auf die Argumentation der Rechtsprechung ab (S. 273), die auf ergänzender Vertragsauslegung beruht und schon in RGZ 127, 218 deutlich wird. Er nimmt jedoch keinen Vertrag zugunsten Dritter gem. § 328 BGB mehr an, sondern geht von der eigenständigen Rechtsfigur des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter aus. Diesen kann man, wie in der Analyse von RGZ 127, 218 gezeigt, nicht über Vertragsauslegung begründen, sondern nur über eine objektive Herangehensweise, die keine Vertragsauslegung mehr ist.144 Der BGH versucht auf S. 273, ähnlich wie in der Vorentscheidung, diese objektive Herangehensweise unter die Vertragsauslegung zu fassen. Er spricht von ergänzender Vertragsauslegung gem. §§ 133, 157 BGB sowie davon, dass der Dritte nach „Treu und Glauben“ in den Vertrag einbezogen sei. Der Verweis auf Treu und Glauben in § 157 BGB ermöglicht es zwar, objektive Erwägungen in die Vertragsauslegung einzubeziehen. Die Vorschrift bezieht sich jedoch ihrem Wortlaut nach nur auf die Vertragsauslegung.145 Da sich ein Schutz des vertragsnahen Dritten aber nicht mit Vertragsauslegung begründen lässt, ist § 157 BGB auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar. Weiterhin setzt sich das Urteil auf S. 273 f. mit der Ansicht der Literatur auseinander, die davon ausgeht, dass der Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter ein durch richterliche Rechtsfortbildung entwickeltes und auf den Grundsatz von Treu und Glauben gem. § 242 BGB gegründetes gesetzliches Schuldverhältnis sei146. In dieser Entscheidung wird noch einmal klar, dass die Literatur den Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter aus dem Gesetz ableiten will. Die Entscheidung gibt auf S. 273 die Ansicht der herrschenden Lehre so wieder, dass nach ihr die Rechte des Dritten aus dem Vertrag mit Schutzwirkung diesem „kraft Gesetzes, etwa auf Grund des § 242 BGB“ zustünden. Dazu gilt die in der Analyse von RGZ 127, 218 unter cc) gemachte Aussage, dass sich der Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter aus § 242 BGB nicht ableiten lässt. Die Entscheidung arbeitet sodann auf S. 273 ff. heraus, dass beide obigen Begründungsmöglichkeiten in dem zu entscheidenden Fall zum selben Ergebnis führten und trifft so keine Entscheidung darüber, welcher Begründung der Vorzug zu geben 144 145 146
Vgl. die Analyse von RGZ 127, 218 [C. I. 5. a)] unter bb). Dazu ausführlicher oben B. II. 2. b). Vgl. dazu die Analyse von RGZ 127, 218 [C. I. 5. a)] unter cc) m.N.
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ist.147 Das ist insofern nicht problematisch, als – wie in der Analyse von RGZ 127, 218 unter cc) dargelegt – auch die Argumentation der herrschenden Lehre keine dem Legitimitätsprinzip entsprechende Begründungsmöglichkeit darstellt. Dass die Argumentation der Lehre das Lückenproblem nicht berücksichtigt und die Grenzen der Auslegung überdehnt, wird noch einmal daran deutlich, dass auch die vorliegende Entscheidung eine eventuelle Lücke nicht anspricht. Sie will das Problem des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter vielmehr entweder über Vertragsauslegung oder über das Gesetzesrecht (§ 242 BGB) lösen. cc) Lückenfüllung Eine lückenfüllende Begründung des Vertrages mit Schutzwirkung erfolgt in dieser Entscheidung nicht mehr. Wie schon in der Analyse von RGZ 127, 217 unter cc) dargelegt, kann man den Schadensersatzanspruch des Dritten analog zum vertraglichen Schadensersatzanspruch aus PVV bzw. heute aus § 280 I BGB herleiten, da es sich um eine vertragsähnliche Situation handelt. Problematisch war dabei nur, dass die PVV bzw. § 280 I BGB nur greifen, wenn der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis verletzt. Diese ergibt sich nur aus dem konkreten Vertrag und ist so von der analogen Anwendung der PVV bzw. § 280 I BGB nicht umfasst. Allgemein kommt daher bezüglich der Schutzpflichten im vertragsähnlichen Verhältnis eine analoge Anwendung der §§ 241 II und 242 BGB in Betracht. Im vorliegenden Fall ist jedoch eine analoge Heranziehung von § 242 BGB nicht nötig, um die im vertragsähnlichen Verhältnis bestehenden Schutzpflichten zu definieren, da mit § 618 BGB eine gesetzliche Fürsorgepflicht besteht, die sich im Verhältnis zwischen Besteller und Subunternehmer anwenden lässt. Die Vorschrift des § 618 BGB kann man im Rahmen des Verhältnisses Besteller – Subunternehmer über eine doppelt analoge Anwendung heranziehen. Sie regelt zunächst die Schutzpflichten des Dienstberechtigten gegenüber dem Dienstverpflichteten. Eine analoge Anwendung auf den Werkunternehmer, der im Gefahrenbereich des Bestellers arbeitet, ist denkbar. Weiterhin ist dann auch eine analoge Anwendung auf den Subunternehmer möglich. Zwischen dem Subunternehmer und dem Besteller besteht zwar kein Vertragsverhältnis, der Subunternehmer führt jedoch für den Unternehmer zumindest einen Teil der vertraglichen Leistungen aus und begibt sich so in den Gefahrenbereich des Bestellers. Im Rahmen der Darstellung der Ansicht der Rechtsprechung auf S. 273 geht der BGH davon aus, dass dem Subunternehmer die Rechte aus § 618 BGB kraft Parteiwillens zugewandt werden. Auf S. 274, im Rahmen der Darstellung der Ansicht der herrschenden Lehre, geht er dagegen von einer – allerdings einfach – analogen Anwendung des § 618 BGB auf für den Unternehmer tätige Arbeitnehmer oder auch 147
So auch Weber, Anm. zu diesem Urteil, LM Nr. 10 zu § 618 BGB.
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Subunternehmer aus. Dieser Ansatz ist positiv, führt jedoch nicht dazu, dass auch der Schadensersatzanspruch des Dritten gesetzesnah über eine Analogie zur PVV bzw. § 280 I BGB begründet wird. Hier bleibt der BGH vielmehr bei den Ansichten der Rechtsprechung und der herrschenden Lehre. Dass der BGH den Drittschutz nicht überzeugend begründet, ist insofern nicht problematisch, als der Anspruch aus Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter im vorliegenden Fall nicht besteht. Der Besteller hatte seine Haftung über AGB ausgeschlossen (s. S. 272). Dennoch gilt, dass der BGH, wenn er versucht, den Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter herzuleiten, bei der Lückenfüllung gesetzesnah begründen sollte. dd) Ergebnis Wie in RGZ 127, 218 besteht die Tendenz, eine Lösung über eine legitime Rechtsquelle (hier Vertragsauslegung oder Gesetzesrecht mit § 242 BGB) finden zu wollen, was jedoch nicht möglich ist. Die Tatsache, dass der BGH so die Grenzen der Auslegung überdehnt, führt dazu, dass keine lückenfüllende Begründung mehr vorgenommen wird. Hier ist das besonders schade, weil die Entscheidung mit der analogen Anwendung des § 618 BGB schon den Ansatz einer gesetzesnahen Argumentation enthält.
6. Verwirkung Während die frühere Entscheidung des 7. Zivilsenates des Reichsgerichts RGZ 144, 22 vom 17. April 1934 eine allgemeine Geltung der Verwirkung für das Zivilrecht wegen fehlender Rechtssicherheit noch ablehnt, nimmt die etwas spätere Entscheidung desselben Senates RGZ 155, 148 vom 4. Juni 1937 diese allgemeine Geltung unter Rückgriff auf Treu und Glauben (§ 242 BGB) an. a) RGZ 144, 22 – Ablehnung einer allgemeinen Geltung der Verwirkung wegen fehlender Rechtssicherheit (Urteil vom 17. April 1934) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, ob man den Einwand der Verwirkung außer in einigen Spezialgebieten für das Zivilrecht allgemein zulassen sollte.
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Der Gedanke der Verwirkung hatte sich zunächst in einigen Sondergebieten entwickelt.148 Die aktuelle Entscheidung gehört einer Rechtsprechungsentwicklung hin zu einer allgemeinen Geltung der Verwirkung für das Privatrecht an. bb) Grenzen der Auslegung Bei der Verwirkung geht es zunächst um die Frage, ob ein Recht, nachdem ein längerer Zeitraum vergangen ist, noch geltend gemacht werden kann. Dieses Problem wird normalerweise durch die Verjährungsregeln gelöst. Es stellt sich also die Frage, ob das Problem der Verwirkung nicht schon durch die Verjährungsregeln abgedeckt wird. Voraussetzung der Verwirkung ist jedoch neben dem Zeitablauf ein gewisses Verhalten des Berechtigten, durch das der Verpflichtete den Eindruck gewinnen und sich darauf einstellen darf, der Verpflichtete werde sein Recht nicht mehr geltend machen.149 Ob letztere Voraussetzung erfüllt ist, muss der Richter über Billigkeitserwägungen im Einzelfall entscheiden. Er muss also letztlich selbst werten.150 Ein solches Billigkeitsmoment ist in den Verjährungsregeln nicht enthalten. Der Fall der Verwirkung ist also gesetzlich nicht geregelt. Bevor man eine Lücke feststellen kann, stellt sich jedoch die Frage nach dem qualifizierten Schweigen der Zivilrechtsordnung hinsichtlich der Verwirkung. Die Frage dabei ist, ob die Verjährungsregeln abschließend sein sollen oder nicht. Aus dem Wortlaut der Verjährungsregeln lässt sich diesbezüglich nichts ableiten. Historische Argumente nennt die Entscheidung nicht. Da sich so keine Anhaltspunkte für ein qualifiziertes Schweigen finden lassen, kann man hinsichtlich der Verwirkung eine planwidrige Regelungslücke annehmen. Die Entscheidung sagt auf S. 24 lediglich, die Frage, wie lange ein Rechtsanspruch geltend gemacht werden dürfe, beantworte sich „hauptsächlich“ nach den gesetzlichen Bestimmungen über die Verjährung. Damit bejaht sie, dass es neben der Verjährung auch Fälle geben kann, wo die Verwirkung eingreift. Über das Verhältnis von Verjährung und Verwirkung im oben dargestellten Sinne sagt sie aber nichts. Dass die Verwirkung gesetzlich nicht geregelt ist, ist relativ klar. Die Frage des qualifizierten Schweigens hätte die Entscheidung aber aufwerfen und beantworten müssen, um anschließend eine Lücke ausdrücklich feststellen zu können.
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Ausführlich zur Entwicklung der Verwirkung Karakantas, Verwirkung, § 2 1. (S. 16 ff.), und KG JW 1937, 320; kurz Soergel-Siebert (9. Aufl. 1959) § 242 Rn. 175 f. m.N. 149 RGZ 155, 148 (151 f.), s. auch die Analyse unter C. I. 6. b); heute: MüKo-Schubert § 242 Rn. 356; Staudinger-Looschelders/Olzen § 242 Rn. 300; Palandt-Grüneberg § 242 Rn. 93 ff. 150 Zu den Legitimitätsproblemen, die diese eigene Wertung mit sich bringt, vgl. unten cc).
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cc) Lückenfüllung Die Entscheidung lehnt letzten Endes (S. 24) die allgemeine Geltung der Verwirkung für das Zivilrecht ab und füllt damit die Lücke nicht. Das Argument der Entscheidung ist die fehlende Rechtssicherheit, die mit der Verwirkung einhergehe. Es müsse nach Kräften ein Rechtsgedanke zurückgedrängt werden, der geeignet sei, große Unsicherheit in die Rechtsbeziehungen der Volksgenossen hineinzutragen. Denn die für die Verwirkung maßgebenden Fragen würden von den Beteiligten meistens sehr verschieden beurteilt werden und auch die richterliche Würdigung werde sich nach Lage der Dinge von Schwankungen niemals ganz freihalten können. Die Frage ist, ob man den Einwand der Verwirkung in lückenfüllender Weise begründen kann und welche Rolle das Argument der Rechtssicherheit dabei spielt. Eine Begründung der Verwirkung ist über eine doppelte Analogie zu § 242 BGB möglich. Die Vorschrift besagt, dass der Schuldner verpflichtet ist, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern. Was für den Schuldner als Partei eines Schuldverhältnisses gilt, muss aber ebenso für den Gläubiger gelten, der eine Leistung fordert.151 Die zweite Analogie zu § 242 BGB besteht dann darin, den Wortlaut, der von der Art und Weise der Leistung, also dem „Wie“ der Leistung spricht, auf das „Ob“ der Leistung auszudehnen, da beide Vorgänge im unmittelbaren Zusammenhang mit der Leistungspflicht stehen.152 Bei der Frage, „ob“ der Gläubiger eine Leistung fordern kann, muss also ebenfalls der Grundsatz von Treu und Glauben beachtet werden. Die Frage, ob der Gläubiger eine Leistung fordern kann, stellt sich aber bei der Verwirkung. Bei der – direkten oder analogen – Anwendung des § 242 BGB tritt jedoch immer das Problem auf, dass der Richter die Rechtsbeziehungen in einem Schuldverhältnis aufgrund einer eigenen Wertung beurteilen muss. Diese eigene Wertung bringt – wie die Entscheidung zutreffend feststellt – ein großes Maß an Rechtsunsicherheit mit sich, da jeder Richter einen bestimmten Sachverhalt anders bewerten kann. Wollte man das Prinzip der Rechtssicherheit in aller Strenge durchsetzen, müsste man solche weiten Generalklauseln wie den § 242 BGB abschaffen. Dies würde jedoch zu Lasten einer gewissen Flexibilität und damit Praktikabilität des Rechtssystems gehen.153 Es stellt sich also die Frage, ob man die Anwendung des § 242 BGB und den Grundsatz der Rechtssicherheit miteinander verbinden kann. Dies geht nur, wenn man gewisse Anforderungen an die Anwendung des § 242 BGB stellt, die ein Minimum an Rechtssicherheit gewährleisten. Geht es wie bei BGHZ 97, 135 (keine vorläufige Forderung der Leasingraten durch den Leasinggeber, wenn der Leasingnehmer Wandelungsklage gegen den Lieferanten erhoben hat)154 oder BGHZ
151 152 153 154
Vgl. dazu oben B. V. 1. c) aa). s. o. Dazu oben B. III. 1. b) bb) (1) a.E. s. u. die Analyse [C. I. 10. a)] unter cc).
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108, 179 (Verbot der Doppelbefriedigung bei zwei Sicherungsgebern)155 um konkrete Situationen, wird Rechtssicherheit dadurch geschaffen, dass ein Gericht feststellt, dass genau diese Problematik Treu und Glauben widerspricht. Die Situation ist dann genau genug spezifiziert, um es den nachfolgenden Gerichten zu ermöglichen, in einem entsprechenden Fall dieselbe Entscheidung zu treffen, so dass die Entscheidungen vorhersehbar sind. Entscheidungen im Rahmen des § 242 BGB, die sich auf einen bestimmten Fall beziehen, können also den Anforderungen der Rechtssicherheit genügen. Bei der Verwirkung ist dies jedoch problematisch, da diese bei jedem zivilrechtlichen Anspruch eintreten kann und somit nicht auf einen bestimmten Fall beschränkt ist. Auch für die Verwirkung lassen sich aber Voraussetzungen bestimmen, die zu einer gewissen Vorhersehbarkeit der Entscheidungen führen. So formuliert das Reichsgericht in der späteren Entscheidung RGZ 155, 148, dass neben der verspäteten Geltendmachung besondere Umstände vorliegen müssten, die die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen ließen.156 Solche Umstände lägen dann vor, wenn der Schuldner aus dem Verhalten des Gläubigers habe entnehmen müssen, dass dieser den Anspruch nicht mehr geltend machen wolle.157 Über dieses Zeitmoment und das Umstandsmoment wird die Verwirkung bis heute definiert.158 Damit hat der Richter zwar immer noch einen Wertungsspielraum, da er entscheidet, wann der Zeitablauf lange genug ist und wann die Umstände gravierend genug sind, um eine Verwirkung zu rechtfertigen. Mit Zeitund Umstandsmoment hat die Verwirkung aber gewisse Voraussetzungen, die die Entscheidungen der Gerichte zwar nicht hundertprozentig rechtssicher machen, aber die freie Wertung der Richter einschränken. Unter der Bedingung, dass man die Verwirkung an gewisse Voraussetzungen knüpft, kann man deren Herleitung aus einer doppelt analogen Anwendung des § 242 BGB also auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Rechtssicherheit begründen. Die Entscheidung ist hier in Bezug auf den Grundsatz der Rechtssicherheit zu streng und prüft nicht, ob diesem nicht auch bei einer Bejahung der allgemeinen Geltung der Verwirkung für das Zivilrecht Genüge getan werden kann. Sie ist in der Literatur auch einhellig abgelehnt worden.159 Siebert160 erklärt diese in Bezug auf die Verwirkung sehr restriktive Entscheidung des Reichsgerichts so, dass dieses von einem engen Verwirkungsbegriff ausgehe, bei 155
s. u. die Analyse [C. I. 11. a)] unter cc). RGZ 155, 148 (151 f.), s. auch die Analyse unter C. I. 6. b). 157 RGZ 155, 148 (152), s. auch die Analyse unter C. I. 6. b). 158 s. o. Fn. 149. 159 Siebert, Anm. zu RG, Urt. v. 10. Nov. 1936 – VII 124/36, JW 1937, S. 612 m.N.; KG JW 1937, 320 m.N. 160 Siebert JW 1937, S. 612. 156
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dem die Verwirkung durch den reinen Zeitablauf gegeben sein solle. Diese „Verwirkung“ durch reinen Zeitablauf solle auf einige Sondergebiete beschränkt bleiben.161 Dabei stellt sich jedoch die Frage, wo eine „Verwirkung“ durch reinen Zeitablauf neben den Verjährungsregeln Platz haben soll. Die Frage des Zeitablaufs wird in den Verjährungsbestimmungen abschließend geregelt.162 Siebert163 sagt auch, dass es eine „Verwirkung“ durch reinen Zeitablauf nicht gebe, auch nicht in den sogenannten Sondergebieten. Dort trete der Zeitablauf als Tatbestandsstück nur stärker hervor. Was die Verwirkung eintreten lasse, sei aber immer das Vertrauen auf die Nichtgeltendmachung des Anspruchs.164 Wenn es aber eine „Verwirkung“ wegen reinen Zeitablaufs nicht gibt, muss man davon ausgehen, dass die Entscheidung doch eine Aussage über die eigentliche Verwirkung macht. Indem sie diese ablehnt und die Rechtssicherheit in den Vordergrund stellt, wendet sie sich aber auch gegen die eigene Wertung des Richters und damit gegen die Legitimitätsprobleme, die im Rahmen des § 242 BGB entstehen. In der Entscheidung ist also ein Bewusstsein des Legitimitätsproblems vorhanden. dd) Ergebnis Eine Bestimmung der Grenzen der Auslegung wird nicht vorgenommen. Es ist aber auch relativ eindeutig, dass die Verwirkung gesetzlich nicht geregelt ist. Lediglich hinsichtlich des qualifizierten Schweigens hätte die Entscheidung Ausführungen machen können. Eine Lückenfüllung wird mit dem Argument der Rechtssicherheit abgelehnt. Daran lässt sich ein gewisses Bewusstsein des Legitimitätsproblems erkennen. Die Entscheidung misst der Rechtssicherheit aber zu große Bedeutung bei. Denn unter gewissen Voraussetzungen ist der Grundsatz der Rechtssicherheit mit der über eine analoge Anwendung des § 242 BGB begründbaren Verwirkung zu vereinbaren. b) RGZ 155, 148 – Annahme einer allgemeinen Geltung der Verwirkung unter Rückgriff auf Treu und Glauben (§ 242 BGB) (Urteil vom 4. Juni 1937) aa) Rechtsfrage Wie in RGZ 144, 22, geht es auch in diesem Urteil um die Frage der allgemeinen Geltung des Verwirkungseinwandes für das Zivilrecht. Die Frage wird von demselben Senat des Reichsgerichts, dem 7. Zivilsenat, nochmals entschieden. 161 162 163 164
s. o. Vgl. oben bb). Siebert JW 1937, S. 612 f. (S. 613) s. o.
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bb) Grenzen der Auslegung Zur Feststellung der Grenzen der Auslegung bei der Verwirkung wird auf die zu RGZ 144, 22 unter bb) gemachten Ausführungen verwiesen. Wie in der Vorentscheidung werden auch in der vorliegenden Entscheidung die Grenzen der Auslegung weder hinsichtlich der Abgrenzung zu den Verjährungsregeln noch in Bezug auf die Frage des qualifizierten Schweigens bestimmt und eine Regelungslücke wird nicht festgestellt. In der vorliegenden Entscheidung (S. 154) wird zudem eine Norm angesprochen, die auf den dem Urteil zugrundeliegenden Fall Anwendung finden und mit der man allgemein Verwirkungsfälle bei Schadensersatzansprüchen lösen könnte. Dies ist § 254 BGB. In dieser Vorschrift ist das Mitverschulden geregelt, d. h. eine Reduzierung eines Schadensersatzanspruches, wenn den Geschädigten an der Entstehung des Schadens ein Mitverschulden trifft. Nun sind Verwirkungsfälle denkbar, in denen sich der Schaden dadurch erhöht, dass der Geschädigte seinen Schadensersatzanspruch nicht schnell genug geltend macht. Dann könnte man dem Geschädigten den Anspruch gem. § 254 BGB nur in der Höhe gewähren, in der er bestanden hätte, wenn er rechtzeitig vorgebracht worden wäre. Bei der Verwirkung geht es aber zumeist um die Frage, ob wegen der verspäteten Geltendmachung und der damit verbundenen besonderen Umstände der gesamte Anspruch nicht mehr besteht. Auch existiert das Verwirkungsproblem nicht nur bei Schadensersatzansprüchen. Die Verwirkungsproblematik lässt sich also nur in einigen besonderen Fällen, in denen die Reduzierung eines Schadensersatzanspruches ausreichend erscheint und zudem ein Verschulden des Berechtigten vorliegt, über § 254 BGB lösen. Die Masse der Verwirkungsfälle wird von § 254 BGB nicht erfasst. Letzteres hätte die Entscheidung im Rahmen einer Bestimmung der Grenzen der Auslegung kurz feststellen können, wenn sie § 254 BGB schon erwähnt. cc) Lückenfüllung Im Gegensatz zu RGZ 144, 22, bejaht diese Entscheidung den Grundsatz, dass unter besonderen Umständen einer verspäteten Geltendmachung von Ansprüchen die rechtliche Wirkung versagt werden müsse, für das allgemeine Zivilrecht (S. 151) und wird von der Literatur durchweg positiv aufgenommen165. Sie bezieht sich dazu zunächst auf Entscheidungen des Reichsoberhandelsgerichtes, die die Verwirkung angenommen hätten (S. 151). Solcher Bezugnahme auf die Lösungen von Vorentscheidungen, ohne sich mit deren Begründungen zu beschäftigen, kommt aber keine legitimierende Wirkung zu.
165 Siebert JW 1937, S. 2495 ff.; Karakantas, Verwirkung, § 2 2. VII. (S. 23); Schmidt, Rechtsnatur der Verwirkung, B. II. 1. (S. 28).
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Im Folgenden setzt sich das Reichsgericht jedoch mit der Vorentscheidung RGZ 144, 22 auseinander und sagt, dass es in dieser Entscheidung den allgemeinen Verwirkungsbegriff nicht eingeschränkt habe (S. 151). Es verweist dazu auf die weitere Vorentscheidung RG JW 1937, S. 610 Nr. 2, in der zwischen einer „Verwirkung“ wegen reinen Zeitablaufs und einer verspäteten Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben (eigentliche Verwirkung) unterschieden wird166. Es führt also an, in der Entscheidung RGZ 144, 22 nur eine Aussage über die „Verwirkung“ wegen reinen Zeitablaufs gemacht zu haben, und sieht deshalb die Anerkennung der eigentlichen Verwirkung im vorliegenden Urteil nicht als Widerspruch zu seiner vorherigen Rechtsprechung. Dabei stellt sich die Frage, ob eine „Verwirkung“ wegen reinen Zeitablaufs überhaupt möglich ist167 und ob man nicht doch von einem Widerspruch der beiden Urteile ausgehen muss. Unabhängig davon ist aber positiv hervorzuheben, dass sich die Entscheidung mit einer Vorentscheidung auseinandersetzt und sie nicht unbesehen übernimmt. Den Grund dafür kann man aber auch in der starken Kritik der Literatur168 an der Entscheidung RGZ 144, 22 sehen. Die eigentliche Verwirkung begründet die Entscheidung über Treu und Glauben mit § 242 BGB (S. 151 ff.). Treu und Glauben bedeutet, dass der Richter nach seinem Gerechtigkeitsempfinden selbst wertet, also eine nicht legitimierte Entscheidung trifft.169 Dies wird in der Entscheidung auf S. 152 oben deutlich, wo davon gesprochen wird, dass die verspätete Geltendmachung des Anspruches als Verstoß gegen Treu und Glauben „empfunden“ werde. Die Tatsache, dass der Richter selbst werten muss, versucht die Entscheidung durch den Rückgriff auf verschiedene Grundsätze zu verschleiern und erweckt so den Eindruck, die Feststellung der Verwirkung ergebe sich aufgrund objektiver Kriterien. Sie sagt auf S. 152, der Gesichtspunkt der Rechtssicherheit, der Gemeinschaftsgedanke, die billige Rücksicht auf die Lage des Verpflichteten, die Verkehrssitte, der Vertrauensschutz und die konkrete Rechtspflicht zur rechtzeitigen Geltendmachung des Anspruchs erforderten, dass der einzelne sich hinsichtlich der Verwirklichung von Rechten so verhalte, wie das Verhalten jedes einzelnen der Gemeinschaft am zuträglichsten sei. Rechtssicherheit ist etwas, das der Staat schaffen muss, und zwar durch hinreichend konkrete Gesetze und eine vorhersehbare Rechtsprechung.170 Wenn der einzelne Berechtigte einen Anspruch schnell geltend macht, weiß der Verpflichtete zwar auch, was auf ihn zukommt, hat also eine gewisse Sicherheit. Als Rechtssicherheit im 166
RG JW 1937, 610 Nr. 2 (611). Vgl. dazu die Analyse von RGZ 144, 22 [C. I. 6. a)] unter cc) a.E. 168 Nachweise bei Siebert, Anm. zu RG, Urt. v. 10. Nov. 1936 – VII 124/36, JW 1937, S. 612, und in der Entscheidung KG JW 1937, 320. 169 Dazu oben B. V. 1. c) aa); zur Begrenzung der eigenen Wertung des Richters durch den Rechtssicherheitsgedanken vgl. die Analyse von RGZ 144, 22 [C. I. 6. a)] unter cc). 170 Zur Rechtssicherheit s. o. B. III. 2. b) aa). 167
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eigentlichen Sinne kann man das aber nicht bezeichnen. Zudem sagt auch ein Erfordernis der schnellen Geltendmachung eines Rechts nichts darüber aus, wann die Geltendmachung eines Anspruchs im Sinne der Verwirkung als verspätet anzusehen ist. Der Gemeinschaftsgedanke, die billige Rücksicht auf die Lage des Verpflichteten, der Vertrauensschutz und die konkrete Rechtspflicht zur rechtzeitigen Geltendmachung des Anspruchs sind Formeln, die die eigene Wertung des Richters verdecken. Der Gemeinschaftsgedanke wird von der Entscheidung so verstanden, dass jeder einzelne sich so verhalten solle, wie sein Verhalten der Gemeinschaft am zuträglichsten sei (S. 153). Dieser Gemeinschaftsgedanke entstammt dem kollektivistischen Rechtsverständnis des nationalsozialistischen Staates, in dessen Zeit die Entwicklung der Verwirkung hin zu einem allgemeinen Rechtsinstitut fällt.171 Welches Verhalten aber im Einzelfall noch als gemeinschaftsverträglich angesehen wird und welches nicht, entscheidet der Richter aufgrund eigener Wertung. Direkter angesprochen wird die eigene Wertung des Richters bei der „billigen“ Rücksicht auf die Lage des Verpflichteten und der Rechtspflicht zur „rechtzeitigen“ Geltendmachung des Anspruchs. Was „billig“ und was „rechtzeitig“ ist, entscheidet wieder der Richter nach seinem Gerechtigkeitsempfinden. Aber auch beim Vertrauensschutz urteilt der Richter danach, welches Vertrauen er als schützenswert empfindet und welches nicht. Als letztes angeführtes Kriterium bleibt die Verkehrssitte. Diese ist zuerst einmal keine Rechtsquelle im eigentlichen Sinne, da ihr gegenüber dem Gewohnheitsrecht die opinio iuris fehlt.172 Da es viele verschiedene Verwirkungsfälle gibt, ist es zudem unwahrscheinlich, dass für den Einzelfall eine Verkehrssitte existiert. Es ist daher davon auszugehen, dass der Richter bestimmt, was „Verkehrssitte“ ist. Diese ist also auch nur eine Leerformel, die die eigene Wertung des Richters verdeckt. Aus alldem ergibt sich, dass die Entscheidung wahrscheinlich das Legitimitätsproblem erkennt, das sich im Rahmen des § 242 BGB stellt. Sie versucht aber, es durch Leerformeln zu verschleiern. Im Übrigen kommt zur lückenfüllenden Begründung der Verwirkung lediglich eine analoge Anwendung des § 242 BGB in Betracht.173 Dies wäre vielleicht deutlich geworden, wenn die Entscheidung methodisch vorgegangen wäre und eine Lücke festgestellt hätte. Möchte man § 242 BGB direkt anwenden, werden die Grenzen der Auslegung überdehnt.
171 Ausführlich dazu Piekenbrock, Befristung, Verjährung, Verschweigung und Verwirkung, § 10 II. 2. e. aa. (S. 195 ff.). 172 Dazu oben B. V. 1. c) aa). 173 Vgl. die Analyse von RGZ 144, 22 [C. I. 6. a)] unter cc).
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dd) Ergebnis Eine Bestimmung der Grenzen der Auslegung und die Feststellung einer Lücke erfolgen nicht. Bei der Lückenfüllung bezieht sich die Entscheidung einmal pauschal auf Vorentscheidungen, setzt sich aber dann mit der Entscheidung RGZ 144, 22 auseinander. Dies erklärt sich wahrscheinlich aus dem besonderen Druck der Literatur, die diese Entscheidung stark kritisiert hatte. Hauptsächliches lückenfüllendes Argument ist § 242 BGB. Dabei wird nicht deutlich gemacht, dass dieser lediglich analog anwendbar ist, so dass die Grenzen der Auslegung überdehnt werden. Die Legitimitätsprobleme, die innerhalb des § 242 BGB durch den weiten Wertungsspielraum des Richters entstehen, werden wahrscheinlich wahrgenommen, aber durch den Rückgriff auf mehrere scheinbar objektive Kriterien verdeckt. Mit diesem Urteil gilt die Verwirkung als für das Zivilrecht allgemein anerkannt.174 Gesetzlich anerkannt ist die Verwirkung mittlerweile durch § 4 Abs. 4 S. 2 TVG175 und § 21 Abs. 4 MarkenG176, und auch § 15 StVG177 wird als eine entsprechende Sonderregelung angesehen.178 Sinn und Zweck der Verwirkung ist jedoch, dem Schuldner vor allem bei sehr langen Verjährungsfristen bereits vor deren Ablauf Leistungsfreiheit zu verschaffen, wenn eine verspätete Geltendmachung durch den Gläubiger als rechtsmissbräuchlich erscheint.179 Die Reform des Verjährungsrechts durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz180 hat daher die Anwendungsfälle der Verwirkung deutlich zurückgedrängt.181
7. Ausschluss eines GmbH-Gesellschafters aus wichtigem Grund Die Entscheidung BGHZ 9, 157 vom 1. April 1953 nimmt die Zulässigkeit des Ausschlusses eines GmbH-Gesellschafters aus wichtigem Grund an. Dabei bleibt 174 Soergel-Siebert (9. Aufl. 1959) § 242 Rn. 176; Siebert JW 1937, S. 2495; Karakantas, Verwirkung, § 2 2. VII. (S. 23); Schmidt, Rechtsnatur der Verwirkung, B. II. 1. (S. 28). 175 Tarifvertragsgesetz (TVG) vom 9. April 1949 in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. August 1969 (BGBl. I S. 1323), aktuelle Version abgedruckt, in Schönfelder, Deutsche Gesetze, Ergänzungsband Nr. 81. 176 Gesetz über den Schutz von Marken und sonstigen Kennzeichen (Markengesetz – MarkenG) vom 25. Oktober 1994 (BGBl. I S. 3082, ber. 1995 I S. 156), aktuelle Version abgedruckt, in Schönfelder, Deutsche Gesetze, Nr. 72. 177 Straßenverkehrsgesetz (StVG) vom 3. Mai 1909 in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. März 2003, aktuelle Version abgedruckt, in Schönfelder, Deutsche Gesetze, Nr. 35. 178 Staudinger-Looschelders/Olzen § 242 Rn. 300. 179 Staudinger-Looschelders/Olzen § 242 Rn. 301; MüKo-Roth/Schubert § 242 Rn. 364. 180 Schuldrechtsmodernisierungsgesetz (SMG) vom 26. November 2001 (BGBl. I S. 3138), in Kraft seit 1. Januar 2002. 181 MüKo-Roth/Schubert § 242 Rn. 364; Palandt-Grüneberg § 242 Rn. 93 a.E.
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unklar, ob der BGH über eine Rechtsanalogie vorgehen will oder sich auf ein allgemeines Prinzip bezieht, das die Kündigung von Dauerschuldverhältnissen betrifft. a) BGHZ 9, 157 – Zulässigkeit des Ausschlusses: Begründung über eine Rechtsanalogie oder ein allgemeines Prinzip? (Urteil vom 1. April 1953) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, ob ein GmbH-Gesellschafter aus wichtigem Grund aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden darf, wenn diesbezüglich keine Vereinbarung im Gesellschaftsvertrag getroffen wurde. Das GmbH-Gesetz182 enthält keine Regelung zum Ausschluss eines Gesellschafters aus wichtigem Grund. Der Teil des Urteils ab S. 164, in dem es darum geht, auf welchem Wege die Ausschließung aus der GmbH vorgenommen werden kann, wird nicht analysiert. bb) Grenzen der Auslegung Die Entscheidung sagt gleich zu Beginn der Urteilsbegründung auf S. 158, dass das GmbH-Gesetz keine Bestimmung darüber treffe, ob ein Gesellschafter aus wichtigem Grund ausgeschlossen werden könne. Damit geht sie als eine der wenigen deutschen Entscheidungen ausdrücklich auf eine Lücke ein. Der Lückenhinweis ist deshalb wichtig, weil er klarmacht, dass jenseits des Gesetzesrechts ein Legitimitätsproblem besteht. Im Folgenden (S. 158 f.) werden verschiedene Vorschriften des GmbH-Gesetzes (§§ 61, 15, 21, 27 und 34) aufgezählt und es wird überzeugend begründet, warum diese Vorschriften den Fall der Ausschließung eines GmbH-Gesellschafters aus wichtigem Grund nicht erfassen. Auf S. 159 wird dann die Frage nach einem qualifizierten Schweigen des GmbHGesetzes untersucht. Dabei ist danach zu fragen, ob der sonstige Inhalt oder die Systematik des GmbH-Gesetzes einem Ausschluss eines GmbH-Gesellschafters aus wichtigem Grund entgegenstehen. Die Entscheidung sagt dazu, der Forderung nach einer Ausschlussmöglichkeit aus wichtigem Grund stünden Prinzipien des GmbHRechts nicht entgegen. Da das Gesellschaftsvermögen das einzige Befriedigungsobjekt der Gläubiger bilde, müssten die Vorschriften zur Erhaltung des Stammkapitals (§§ 19 II, 30 I und 34 III GmbHG) bei der Ausschließung eines Gesellschafters lediglich Beachtung finden. Im Übrigen zeige § 34 GmbHG, dass Veränderungen im Mitgliederbestand möglich seien. Diese Argumentation ist überzeugend.183 Me182 Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbHG) vom 20. April 1892 (RGBl. S. 477), aktuelle Fassung abgedruckt in Schönfelder, Deutsche Gesetze, Nr. 52. 183 A.A. Schilling JZ 1953, S. 489 ff. (S. 491).
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thodisch noch genauer wäre es gewesen, wenn die Entscheidung sich dazu geäußert hätte, dass sie die Frage des qualifizierten Schweigens behandelt. Insgesamt werden aber die Grenzen der Auslegung zunächst sehr zutreffend bestimmt. Später, auf S. 160 f., erörtert die Entscheidung außerdem, ob eine Lösung eventuell aus dem Gesellschaftsvertrag zu gewinnen ist. Vorher (S. 159 f.) und zwischen (S. 160 f.) der vertragsrechtlichen Argumentation stellt sie jedoch bereits Lückenfüllungserwägungen an [dazu unten cc)]. Die vertragsrechtliche Argumentation wird also nicht eindeutig der Bestimmung der Grenzen der Auslegung zugeschlagen. Die Reihenfolge von Auslegungs- und Lückenfüllungsargumenten wird daher nicht eingehalten. Eine vertragsrechtliche Lösung wird zutreffend verworfen, weil der Gesellschaftsvertrag, der eine Ausschließung nicht vorsehe, nur mit Zustimmung aller Gesellschafter geändert werden könne (§ 53 III GmbHG). Weiterhin (S. 161) verwirft der BGH auch eine Rechtsprechung des Reichsgerichts, die die Meinung vertreten hatte, die Möglichkeit einer Ausschließung müsse als stillschweigend im Gesellschaftsvertrag vereinbart angesehen werden. Dem könne nicht gefolgt werden, da hierbei der Parteiwille über Gebühr beansprucht werde. Die Entscheidung wendet sich damit ausdrücklich dagegen, die Vertragsauslegung zu überdehnen, und dies sogar, obwohl es entsprechende Vorentscheidungen des Reichsgerichts gibt. Hier werden also nicht nur die Grenzen der Auslegung nicht überdehnt, sondern es wird auch in überzeugender Weise eine eigene Begründung gesucht. Weiter hinten, auf S. 163 f., wird dieser sehr gute Ansatz jedoch wieder ein wenig revidiert. Dort sagt der BGH, die Zulässigkeit der Ausschließung eines GmbHGesellschafters lasse sich auch aus der Treuepflicht der Gesellschafter ableiten. Die Treuepflicht ergebe sich daraus, wie das innere Verhältnis der Gesellschafter im Gesellschaftsvertrag ausgestaltet sei. Hier geht es also ebenfalls um die Frage, ob sich die Ausschließungsmöglichkeit aus dem Gesellschaftsvertrag ableiten lässt. Das wurde oben (S. 161) aber bereits verneint und auch in Bezug auf die Treuepflicht ergibt sich keine andere Argumentation. Die Treuepflicht lässt sich zwar dem Gesellschaftsvertrag entnehmen. Daraus auch ein Recht zur Ausschließung eines Gesellschafters abzuleiten, wenn ein solches nicht vereinbart wurde, sprengt aber die Grenzen des Parteiwillens. Da die Bezugnahme auf die Treuepflicht nicht die Hauptbegründung der Entscheidung darstellt, ist dies jedoch weniger problematisch. Es zeigt sich aber doch wieder eine Tendenz, das Vertragsrecht zu überdehnen. Außerdem gilt auch hinsichtlich der Erwägungen zur Treuepflicht, dass die Reihenfolge von (Vertrags-)Auslegungs- und Lückenfüllungsargumenten nicht eingehalten wird. In Bezug auf die vertragsrechtliche Argumentation gibt es also Ungenauigkeiten bei der Bestimmung der Grenzen der Auslegung. Ansonsten erfolgt diese aber sehr ausführlich und zutreffend.
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cc) Lückenfüllung Die Lückenfüllungserwägungen der Entscheidung beginnen auf S. 159 mit einer Mischung aus offen eigener Wertung und Tatsachenargumenten, die am Ende auch auf eine eigene Wertung des Richters hinauslaufen. Die Entscheidung sagt, die Ausschließung „müsse“ beim Vorliegen eines wichtigen Grundes zugelassen werden. Weiterhin „könne“ den übrigen Gesellschaftern nicht angesonnen werden, das dem Gesellschaftsverhältnis abträgliche Verhalten eines Gesellschafters hinzunehmen. Für die Zulassung der Ausschließung bestehe ein starkes und dringendes Bedürfnis. Dies ergebe sich aus der Sache. Auf S. 164 führt die Entscheidung in diesem Sinne noch ein weiteres Tatsachenargument an, indem sie sagt, das Recht habe dem Leben zu dienen. Das bedeutet, dass ein Lebenssachverhalt eine bestimmte rechtliche Lösung fordert. Aus der Sache ergibt sich aber nie eine rechtliche Wertung.184 Ein tatsächliches Problem besteht immer in einem Interessenkonflikt, der rechtlich verschieden bewertet werden kann. Entscheidet sich der Richter für eine bestimmte Lösung, wertet er selbst. Auf S. 160 f. wird sodann eine Lösung des Problems über eine Gesetzesanalogie zu § 34 GmbHG überzeugend abgelehnt. Die Einziehung von Geschäftsanteilen nach § 34 GmbHG erfordere deren satzungsmäßige Zulassung, bei der das Einverständnis des Gesellschafters vermutet werde. Bei der Ausschließung eines Gesellschafters aus wichtigem Grund liege aber dessen Einverständnis gerade nicht vor. Die Hauptargumentation zur Lückenfüllung findet sich dann auf den S. 161 ff. und wird auf S. 164 noch einmal zusammengefasst. Dabei schwankt die Entscheidung zwischen der Herleitung der Lösung über eine Rechtsanalogie zu verschiedenen Vorschriften und der Argumentation, einen bereits vorhandenen Grundsatz heranzuziehen, der in den genannten Vorschriften nur seinen Niederschlag gefunden habe. Woraus sich dieser Grundsatz ableiten soll, wird jedoch nicht gesagt. Auf S. 161 nennt die Entscheidung zunächst die §§ 737 BGB und 140 HGB. Diese bestimmen die Möglichkeit der Ausschließung eines Gesellschafters aus wichtigem Grund bei der bürgerlichrechtlichen Gesellschaft und der offenen Handelsgesellschaft. Die Entscheidung sagt, diese Bestimmungen seien auf die in ihnen behandelten Gesellschaftsformen zugeschnitten und rechtfertigten deshalb wegen der bestehenden Unterschiede zur GmbH keine entsprechende Anwendung. Sowohl bei der BGB-Gesellschaft als auch bei der OHG und der GmbH handelt es sich aber um Gesellschaften. Außerdem hat die Entscheidung bereits auf S. 159 im Rahmen der Behandlung des qualifizierten Schweigens festgestellt, dass ein Ausschluss eines Gesellschafters nicht den Prinzipien des GmbH-Gesetzes widerspricht. Wenn aber ein Ausschluss aus wichtigem Grund auch bei der GmbH möglich ist, ist nichts ersichtlich, was einer Analogie zu den §§ 737 BGB und 140 HGB entgegen184
Dazu oben B. I.; zur „Natur der Sache“ s. o. B. III. 2. b) bb).
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stehen sollte. Dass es Unterschiede gibt zwischen den von einer Vorschrift direkt erfassten Fällen und denjenigen, auf die diese Vorschrift analog angewandt werden soll, ist ja gerade das Wesen der Analogie. Wichtig ist nur, dass die Fälle vergleichbar sind. Die Entscheidung spricht auf S. 163 auch selbst davon, dass es bei der Verwandtschaft der GmbH mit den Personengesellschaften und dem Verein kaum zu verstehen wäre, wenn die Ausschließung anders als bei ihnen nicht zulässig sein sollte. Der BGH liefert das entscheidende Argument für die Analogie also am Ende selbst. Auf S. 161 argumentiert er aber zunächst weiter, die rechtliche Begründung für die Ausschließbarkeit eines GmbH-Gesellschafters aus wichtigem Grund liefere der sowohl das bürgerliche wie das Handelsrecht beherrschende Grundsatz, dass ein in die Lebensbetätigung der Beteiligten stark eingreifendes Rechtsverhältnis vorzeitig gelöst werden könne, wenn ein wichtiger Grund vorliege. Dieser Rechtsgedanke finde sich in den bereits erwähnten §§ 737 BGB und 140 HGB. Der BGH wendet hier jedoch einen Grundsatz oder ein allgemeines Prinzip an, ohne dessen Herkunft zu erklären. Würde man vollständig argumentieren, müsste man im oben beschriebenen Sinne den Grundsatz zunächst aus den §§ 737 BGB und 140 HGB induzieren, um ihn dann auf den vergleichbaren Fall des Ausschlusses des GmbH-Gesellschafters anzuwenden. Die Entscheidung gibt jedoch vor, das Prinzip existiere bereits und es müsse nur noch auf den zu entscheidenden Fall angewendet werden. Damit lässt sie den Induktionsschluss aus mitsamt der Legitimitätsdefizite, die dessen Anwendung mit sich bringt. So entsteht der Anschein einer vollständig legitimierten Entscheidung. In der Zusammenfassung der Argumentation auf S. 164 wird diese Herangehensweise der Entscheidung noch einmal bestätigt. Sie sagt, die Möglichkeit der Ausschließung sei nicht deshalb zu bejahen, weil § 34 GmbHG, § 737 BGB oder § 140 HGB vorhanden seien, sondern weil dies dem erörterten allgemeinen Rechtsprinzip entspreche. Auch in den §§ 737 BGB, 140 HGB habe jenes allgemeine Rechtsprinzip nur seinen Niederschlag gefunden. Es kann grundsätzlich sein, dass ein Rechtsprinzip rechtshistorisch gesehen vor der Abfassung bestimmter Vorschriften existiert. Der Richter muss sich jedoch an das geltende Gesetz halten, d. h. er findet seine Lösung in den gesetzlichen Vorschriften, die in Kraft sind. Er muss ein Rechtsprinzip also aus den Regelungen ableiten, die er vorfindet. Das tut die Entscheidung im vorliegenden Fall nicht. Sie leitet das Rechtsprinzip nicht aus dem Gesetzesrecht her, sondern stellt es ohne Begründung fest. Auf S. 161 f. nennt die Entscheidung weitere Vorschriften, in denen der von ihr festgestellte Rechtsgedanke Niederschlag gefunden habe. Auf S. 162 klingt aber doch wieder an, dass der Rechtsgedanke aus den Vorschriften abgeleitet wird und nicht unabhängig von ihnen existiert. Die Entscheidung sagt, allen diesen Bestimmungen sei gemeinsam, dass sie die vorzeitige Lösung von Rechtsbeziehungen aus wichtigem Grund vorsähen und dass sie Rechtsverhältnisse von längerer Dauer beträfen, die stark in die Lebensbetätigung der Beteiligten eingriffen. Außerdem
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spricht der BGH im Rahmen der Argumentation über die Art und Weise der Ausschließung eines Gesellschafters auf S. 165 davon, dass die Lösung durch Rechtsanalogie aus einem allgemeinen Gedanken des Rechts ableitbar sei. In diesem Satz wird die Problematik der Entscheidung deutlich, die zwischen den Möglichkeiten schwankt, über eine Rechtsanalogie und damit den Induktionsschluss vorzugehen oder ein bereits vorhandenes Prinzip heranzuziehen und daraus die Lösung abzuleiten. Der BGH scheint hier die Problematik des Induktionsschlusses zu erfassen und diesen umgehen zu wollen, indem er auf ein vorher feststehendes Prinzip abhebt. Die Grenzen des Analogieschlusses werden dabei verdeckt. Insgesamt zeigt der BGH ein Gespür für das Legitimitätsproblem, findet aber eine Lösung, die nur scheinbar Legitimität vermittelt, denn für das vom BGH herangezogene Prinzip gibt es außerhalb der Rechtsanalogie keine gesetzesnahe Begründung. Der Rückgriff auf ein Prinzip, dass man nicht aus dem Gesetzesrecht herleitet, bedeutet nicht legitimierte Rechtsfortbildung. Auf S. 164 bekräftigt der BGH seine Entscheidung noch einmal damit, dass er sagt, ein pflichtbewusster Richter könne sich der Aufgabe, das Recht notfalls fortzuentwickeln, nicht entziehen. Diese Bekräftigung ist nicht nötig, da sich das Ergebnis aus einer breiten Rechtsanalogie ableiten lässt und der BGH die entsprechenden Vorschriften auf den S. 161 f. auch nennt. Die Analogie lässt sich in erster Linie mit den oben genannten §§ 737 BGB und 140 HGB begründen, da diese ausdrücklich die Ausschließung eines Gesellschafters aus wichtigem Grund regeln und so dem Fall der Ausschließung des GmbH-Gesellschafters am ähnlichsten sind. Weiterhin sind die von der Entscheidung auf S. 161 f. genannten Normen geeignet, die Rechtsanalogie zu stützen, da sie alle die vorzeitige Lösung eines Rechtsverhältnisses aus wichtigem Grund betreffen, das stark in die Lebensverhältnisses der Beteiligten eingreift. Die Vorschrift des § 68 GenG a.F.185 nannte wichtige Gründe, wegen derer ein Mitglied aus der Genossenschaft ausgeschlossen werden kann. Heute bestimmt § 68 I GenG186 nur noch, dass diese Gründe in der Satzung der Genossenschaft bestimmt sein müssen. Die fristlose Kündigung von Arbeitsverhältnissen aus wichtigem Grund ist heute noch in § 626 BGB enthalten. Die Regelung des § 70 HGB a.F.187 regelte die Kündigung eines Handlungsgehilfen aus wichtigem Grund und ist inzwischen 185 Gesetz, betreffend die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften (GenG) vom 1. Mai 1889 (RGBl. S. 55). Die im Urteil anwendbare Fassung ist abgedruckt in Handelsgesetzbuch einschließlich Seehandelsrecht (usw.), Textausgabe, Beck, 39. Aufl., München 1952. 186 Gesetz betreffend die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften (Genossenschaftsgesetz – GenG) vom 1. Mai 1889 in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. Oktober 2006 (BGBl. I S. 2230), aktuelle Fassung abgedruckt in Schönfelder, Deutsche Gesetze, Nr. 53. 187 Handelsgesetzbuch vom 10. Mai 1897 (RGBl. S. 219). Die im Urteil anwendbare Fassung ist abgedruckt in Handelsgesetzbuch einschließlich Seehandelsrecht (usw.), Textausgabe, Beck, 39. Aufl., München 1952.
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aufgehoben worden188. Die Vorschrift des § 92 Abs. 2 HGB a.F.189 beinhaltete die Kündigung eines Handlungsagenten aus wichtigem Grund. Der siebente Abschnitt des HGB, zu dem der § 92 Abs. 2 HGB a.F. gehörte, wurde neugefasst und regelt jetzt den Handelsvertreter.190 Die dem § 92 Abs. 2 HGB entsprechende Norm befindet sich heute in § 89a HGB.191 Die Regelung des § 124a GewO a.F.192 beinhaltete die Aufhebung des Arbeitsverhältnisses aus wichtigem Grund für Gesellen und Gehilfen; § 133b GewO a.F. regelte die Kündigung des Dienstverhältnisses aus wichtigem Grund für Betriebsbeamte, Werkmeister und Techniker. Die aktuelle Gewerbeordnung193 enthält in ihrem Titel VII die Unterabschnitte II. über Gesellen und Gehilfen und IIIb. über Betriebsbeamte, Werkmeister und Techniker nicht mehr. Die §§ 117 und 127 HGB über die Entziehung der Geschäftsführung- und Vertretungsbefugnis aus wichtigem Grund bei der offenen Handelsgesellschaft und der Kommanditgesellschaft sind noch aktuell. Ebenso ist es mit der Entziehung der Geschäftsführungsbefugnis aus wichtigem Grund bei der bürgerlichrechtlichen Gesellschaft (§ 712 BGB) und dem Widerruf der Bestellung zum Geschäftsführer einer GmbH aus wichtigem Grund (§ 38 Abs. 2 GmbHG). Die Vorschrift des § 75 Abs. 3 aAktG194 regelte den Widerruf der Bestellung zum Vorstandsmitglied und der Ernennung zum Vorsitzenden des Vorstandes bei der Aktiengesellschaft aus wichtigem Grund. Diese Regelung findet sich jetzt in § 84 Abs. 3 des heute gültigen Aktiengesetzes.195 Die Kündigung der bürgerlichrechtlichen Gesellschaft aus wichtigem Grund ist heute noch in § 723 BGB enthalten. Die Regelung des § 339 HGB a.F.196 über die Kün188 Aufgehoben durch das Gesetz zur Änderung des Kündigungsrechtes und anderer arbeitsrechtlicher Vorschriften (Erstes Arbeitsrechtsbereinigungsgesetz) vom 14. August 1969 (BGBl. I S. 1106). 189 Handelsgesetzbuch vom 10. Mai 1897 (RGBl. S. 219). Die im Urteil anwendbare Fassung ist abgedruckt in Handelsgesetzbuch einschließlich Seehandelsrecht (usw.), Textausgabe, Beck, 39. Aufl., München 1952. 190 Neugefasst durch Gesetz vom 6. August 1953 (BGBl. I S. 771). 191 Aktuelle Version des HGB abgedruckt in Schönfelder, Deutsche Gesetze, Nr. 50. 192 Gewerbeordnung für das Deutsche Reich vom 21. Juni 1869 in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. Juli 1900 (RGBl. S. 871 ff.). Die Fassung von 1952 ist abgedruckt in Gewerbeordnung und Gaststättengesetz, Textausgabe ohne Nebengesetze, Beck, München und Berlin 1952. 193 Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869 in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Februar 1999 (BGBl. I S. 202), aktuelle Version abgedruckt in Sartorius, Verfassungs- und Verwaltungsgesetze, Nr. 800. 194 Gesetz über Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien (Aktiengesetz) vom 30. Januar 1937 (RGBl. I S. 107, ber. S. 588, 1140). Die im Urteil anwendbare Fassung ist abgedruckt in Handelsgesetzbuch einschließlich Seehandelsrecht (usw.), Textausgabe, Beck, 39. Aufl., München 1952. 195 Aktiengesetz vom 6. September 1965 (BGBl. I S. 1089), aktuelle Version abgedruckt in Schönfelder, Deutsche Gesetze, Nr. 51. 196 Handelsgesetzbuch vom 10. Mai 1897 (RGBl. S. 219). Die im Urteil anwendbare Fassung ist abgedruckt in Handelsgesetzbuch einschließlich Seehandelsrecht (usw.), Textausgabe, Beck, 39. Aufl., München 1952.
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digung der stillen Gesellschaft aus wichtigem Grund findet sich jetzt in § 234 HGB.197 Die Vorschriften über die Auflösung von offener Handelsgesellschaft, Kommanditgesellschaft und GmbH aus wichtigem Grund (§§ 133 und 161 HGB und § 61 GmbHG) sind schließlich heute noch gültig. Auf S. 162 f. greift die Entscheidung zur Verstärkung ihrer Argumentation außerdem auf eine Vorentscheidung und zwei Literaturmeinungen zurück, ohne auf deren Begründungen einzugehen. Diese Bezugnahme auf Vorentscheidungen und Literatur ist nicht notwendig, da das Problem – wie oben gezeigt – über eine breite Rechtsanalogie gelöst werden kann. Dieser Verweis stellt auch nur einen kleinen Teil der Begründung dar. In diesem Teil zeigt sich aber die Tendenz, scheinbar Legitimität zu erzeugen und die durch den Induktionsschluss hervorgerufenen Grenzen der Analogie zu verdecken. dd) Ergebnis Die Entscheidung erwähnt die Lücke ausdrücklich und bestimmt die Grenzen der Auslegung zunächst sehr ausführlich und zutreffend. Auch ein qualifiziertes Schweigen wird überzeugend verneint. Ungenauigkeiten hinsichtlich der Reihenfolge von Auslegung- und Lückenfüllungsargumenten ergeben sich im Rahmen der vertragsrechtlichen Argumentation. Hier wird der Parteiwille aber zunächst nicht überbeansprucht und es wird diesbezüglich sogar von Vorentscheidungen des Reichsgerichts abgewichen. Diese positive Tendenz wird später im Rahmen der Ableitung der Ausschlussmöglichkeit eines Gesellschafters aus einer gesellschaftsvertraglichen Treuepflicht ein wenig revidiert. Die lückenfüllende Begründung enthält scheinlegitime Methoden, wie offene und verdeckte eigene Wertungen des Richters und die Bezugnahme auf Vorentscheidungen und Literaturmeinungen. Den Hauptteil der lückenfüllenden Argumentation macht jedoch die Bezugnahme auf ein allgemeines Prinzip aus, das besagen soll, dass man Rechtsverhältnisse, die stark in die Lebensverhältnisses der Beteiligten eingreifen, aus wichtigem Grund lösen kann. Die Entscheidung nennt zwar viele Vorschriften, in denen dieses Prinzip enthalten ist, macht aber nicht deutlich, ob sie im Rahmen einer Rechtsanalogie vorgeht oder auf ein vorher bestehendes Prinzip zurückgreift. Da es für ein solches vorher bestehendes Prinzip keine gesetzesnahe Begründung gibt, handelt es sich dabei um eine scheinlegitime Argumentation, die die Problematik des Induktionsschlusses verdeckt. Hier wäre es vorzugswürdig gewesen, sich klar zu einer Analogie mit ihren Grenzen zu bekennen.
197 Die bisherigen §§ 335 bis 342 HGB werden zu den §§ 230 bis 237 HGB durch das Bilanzrichtlinien-Gesetz (BiRiLiG) vom 19. Dezember 1985 (BGBl. I S. 2355).
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Während zur Zeit des Urteils die Zulässigkeit des Ausschlusses eines GmbHGesellschafters aus wichtigem Grund ohne besondere Satzungsregelung noch umstritten war198, ist sie heute im Grundsatz allgemein anerkannt199.
8. Kontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) – Haftungsausschluss beim Kaufvertrag Die Frage nach der Zulässigkeit eines generellen Haftungsausschlusses in AGB beim Kaufvertrag löst das Urteil BGHZ 22, 90 vom 29. Oktober 1956 so, dass mindestens ein Nachbesserungsrecht des Käufers zu vereinbaren ist. Der BGH begründet dies mit einer ausführlichen Interessenabwägung, stützt seine Entscheidung aber letzten Endes auf § 242 BGB. a) BGHZ 22, 90 – Nachbesserungsrecht des Käufers: Begründung über eine Interessenabwägung unter Rückgriff auf § 242 BGB (Urteil vom 29. Oktober 1956) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, ob der Verkäufer bei einem Vertrag über den Kauf fabrikneuer Möbel zwischen dem Einzelhandel und dem letzten Abnehmer sämtliche Gewährleistungsrechte des Käufers in Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) ausschließen kann. bb) Grenzen der Auslegung Eine Regelung über die Möglichkeit eines Gewährleistungsausschlusses im Kaufrecht findet sich in § 476 BGB a.F.200. Diese Vorschrift sagt, dass ein vereinbarter Gewährleistungsausschluss dann nichtig ist, wenn der Verkäufer den Mangel arglistig verschweigt. Daraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass ansonsten ein vertraglicher Gewährleistungsausschluss zulässig ist. Fraglich ist nun, ob diese Regelung auch für den Gewährleistungsausschluss in Allgemeinen Geschäftsbedingungen gilt. Wäre das der Fall, dann wäre der Ge-
198 Nachweise zu Literaturansichten und zur Rechtsprechungsentwicklung bei Seydel GmbH-Rdsch. 1953, S. 149 f. 199 Baumbach/Hueck-Fastrich § 34 Anh Rn. 2 m.N. 200 Vorschriften des BGB vor dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz (SMG vom 26. November 2001, BGBl. I S. 3138, in Kraft seit 1. Januar 2002) s. Schönfelder, Deutsche Gesetze, Ergänzungsband Nr. 20.
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währleistungsausschluss auch in AGB zulässig und es bestünde diesbezüglich keine Gesetzeslücke. Die Regelung des § 476 BGB a.F. spricht von einer „Vereinbarung“ des Haftungsausschlusses und auch AGB werden „vereinbart“, da die andere Vertragspartei den Bestimmungen des Verwenders zustimmt. Das BGB geht jedoch von der Modellvorstellung des in seinen Einzelheiten in rechtsgeschäftlicher Privatautonomie frei ausgehandelten Vertrages aus.201 Für AGB enthielt es zum Zeitpunkt des Urteils keine Regelungen. Legt man § 476 BGB a.F. in diesem Sinn historisch aus, gilt auch diese Vorschrift – und damit der Umkehrschluss daraus – lediglich für individuell ausgehandelte Vereinbarungen. In Bezug auf die Zulässigkeit eines Haftungsausschlusses im Kaufrecht durch AGB enthält das BGB also keine Regelung, so dass man diesbezüglich von einer Regelungslücke ausgehen könnte. In diesem besonderen Fall muss man aber noch einen Schritt weiter gehen und keine Gesetzeslücke, sondern einen rechtsfreien Bereich202 annehmen. Denn es handelt sich nicht um eine Unvollständigkeit innerhalb bereits vorhandener Regelungen zu AGB, sondern das gesamte Problem der AGB war zur Zeit des Urteils ungeregelt. Auch hier ist aber eine rechtsfortbildende Entscheidung durch den Richter möglich.203 Das Urteil stellt auf S. 97 Erwägungen zu § 476 BGB a.F. an und argumentiert im Wesentlichen wie oben ausgeführt. Die Vorschrift des § 476 BGB a.F. habe es entsprechend den tatsächlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen im Ausgang des 19. Jahrhunderts mit dem individuellen Haftungsausschluss zu tun, der aufgrund des jeweiligen Einzelfalles besonders ausgehandelt werde. Ein solcher Haftungsausschluss unterscheide sich grundsätzlich von dem generellen Haftungsausschluss in Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Hinsichtlich dieses generellen Haftungsausschlusses betont das Urteil, dass er für den Regelfall an die Stelle der vom Gesetzgeber als billig und gerecht gedachten Regelung trete. Damit geht das Urteil auf den rechtsetzenden Charakter von AGB ein, die geeignet sind, in einer Vielzahl von Fällen das dispositive Gesetzesrecht zu ersetzen. Der eigentliche Grund, warum ein Haftungsausschluss in AGB aber strenger geprüft werden muss als ein Haftungsausschluss in der Individualvereinbarung ist der, dass der Käufer sich in der Regel in der schwächeren Position befindet und die AGB des Verkäufers akzeptieren muss, ohne seine eigenen Interessen wahrnehmen zu können. Diesen Punkt hätte das Urteil deutlicher herausarbeiten können, da er auch die Grundlage der Lösung des Problems des Haftungsausschlusses in ABG sein muss (vgl. unten).
201
Rn. 3. 202 203
Staudinger-Schlosser Vorbem zu §§ 305 ff. Rn. 2; Palandt-Grüneberg Überbl v § 305 Dazu oben B. IV. 2. s. o.
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Auch auf die Frage des rechtsfreien Bereichs geht das Urteil nicht ein, obwohl ein solcher wegen insgesamt fehlender Regelungen zu AGB vorliegt. Letzteres wird im Rahmen der Lückenfüllung daran deutlich, dass der Richter keine gesetzlichen Anhaltspunkte hat, wie er mit einem Haftungsausschluss durch AGB umgehen soll und so letztlich eine Entscheidung treffen muss, die auf einer eigenen Wertung beruht (s. unten). Weiterhin werden die Überlegungen zu § 476 BGB a.F. nach dem Eingehen auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts und Literaturmeinungen (S. 95 f.) angestellt, die schon eine lückenfüllende Argumentation enthalten. Die Reihenfolge zwischen Auslegung und Lückenfüllung wird also nicht ganz eingehalten. Grundsätzlich erfolgt die Bestimmung der Grenzen der Auslegung aber zunächst in zutreffender Weise. Problematisch ist jedoch, dass die Entscheidung die Lösung der Frage, inwieweit ein Haftungsausschluss durch AGB im vorliegenden Fall zulässig ist, aus § 242 BGB und damit aus dem Gesetzesrecht herleiten will. Dies kündigt sie bereits auf S. 97 an. Die Hauptargumentation zu § 242 BGB findet sich dann auf S. 100. Eine andere Gestaltung der Lieferungsbedingungen [als die in der Entscheidung vorgeschlagene; die Verf.] lasse sich mit den Grundsätzen von Treu und Glauben nicht vereinbaren, weil dies zu einer rechtlich unhaltbaren, weil rechtlich unbilligen Belastung des Käufers führe, die nicht hingenommen werden könne. In dieser Hinsicht bestünden deshalb für den Inhalt der Lieferungsbedingungen gemäß § 242 BGB zwingende Schranken. Fraglich ist aber, ob § 242 BGB auf den vorliegenden Fall überhaupt Anwendung finden kann. Mindestanforderung für die Anwendung des § 242 BGB ist, dass ein Schuldverhältnis mit gewissen Verpflichtungen vorliegt, die nach § 242 BGB beurteilt werden können.204 Bei § 242 BGB geht es also darum, ob der Gläubiger eine Rechtsstellung, die er bereits erlangt hat, geltend machen darf.205 Bei der Frage nach der Gültigkeit von AGB geht es aber darum, ob der Gläubiger die Rechtsstellung überhaupt erworben hat206, also um die Frage, ob bestimmte Rechte in einem Schuldverhältnis entstanden sind. Im vorliegenden Fall wäre das das Recht, den vollen Kaufpreis zu fordern, obwohl die Sache Mängel hat, also eine von Gewährleistungsrechten freie Kaufpreisforderung. Bei der Frage nach der Wirksamkeit eines Haftungsausschlusses in AGB kann man also § 242 BGB nicht anwenden. Indem die Entscheidung ihre Lösung auf § 242 BGB stützt, werden somit die Grenzen der Auslegung überdehnt. Da es auch sonst keine gesetzlichen Anhaltspunkte gibt (die Wertung des § 476 BGB a.F. gilt für AGB nicht, s. o.), wie Haftungsausschlüsse in AGB zu bewerten 204 Dazu oben B. V. 1. c) aa) und Raiser, Allgemeine Geschäftsbedingungen, § 27 I. (S. 281 f.). 205 Raiser, Allgemeine Geschäftsbedingungen, § 27 I. (S. 282). 206 s. o.
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sind, muss der Richter die Entscheidung aufgrund eigener Wertung treffen. Damit ist die richterliche Rechtsfortbildung207 in diesem besonderen Fall nicht legitimiert. Es lassen sich dennoch einige Anforderungen an eine solche Entscheidung stellen, um durch eine gewisse Transparenz willkürlicher Lösungen vorzubeugen. Bei der Suche nach einer rechtlichen Regelung handelt es sich immer um die Bewertung eines Interessenkonfliktes. Um die Entscheidung transparent zu machen, sollte der Richter daher die gegensätzlichen Interessen ausführlich darstellen und umfassend argumentieren, wie er zu einem bestimmten Interessenausgleich gekommen ist. Im Fall eines Kaufes fabrikneuer Möbel ist es das Interesse des Käufers, mangelfreie Ware zu erhalten. Das Interesse des Verkäufers besteht darin, an dem Kaufvertrag festzuhalten und möglichst den vollen Kaufpreis zu bekommen. Bei dem Interessenausgleich ist zu beachten, dass der Käufer bei dem Vorliegen von AGB schutzwürdiger ist als bei einer Individualvereinbarung. Die Entscheidung kündigt auf S. 98 auch an, die „Verhältnisse des Einzelfalles“, die „Besonderheiten des in Betracht kommenden Warenkaufs“ sowie die „Interessen der an einem solchen Kauf üblicherweise beteiligten Verkäuferschicht und Käuferschicht“ berücksichtigen zu wollen. Sodann stellt die Entscheidung diese Interessen auf den S. 98 ff. ausführlich dar und entscheidet sich schließlich für ein Nachbesserungsrecht als mindestens in den AGB zu vereinbarendes Recht des Käufers. Das Interesse des Käufers an der mangelfreien Ware könne durch das Nachbesserungsrecht gewahrt werden genauso wie das Interesse des Verkäufers an einer Aufrechterhaltung des Vertrages. Auf S. 99 nimmt die Entscheidung auch auf die Benachteiligung des Käufers bei Allgemeinen Geschäftsbedingungen Bezug, der häufig geschäftsunerfahren und geschäftsungewandt und sich über die Tragweite der ihn unbillig belastenden Freizeichnungsklausel nicht im Klaren sei. Auf S. 99 f. wird weiterhin gesagt, dass die Gewährleistungsansprüche des Käufers aufleben sollten, sofern die Nachbesserung fehlschlage. Begründet wird dies damit, dass das Fehlschlagen einer sachgemäßen Nachbesserung der Sphäre des Verkäufers zuzurechnen sei. Insgesamt argumentiert die Entscheidung damit ausführlich und überzeugend. Schade ist nur, dass sie nicht zu dieser eigenen Wertung steht, sondern auf Treu und Glauben (§ 242 BGB) und auf Leerformeln zurückgreift, um die gefundene Lösung scheinbar zu legitimieren. Im Rahmen der Interessenabwägung auf den S. 98 ff. verwendet sie viermal den Begriff „Treu und Glauben“ und spricht einmal von „rechtlich unbilligem Verhal207
Die Erwägungen zur Lösung des Problems werden ausnahmsweise unter dem Punkt „Grenzen der Auslegung“ und nicht unter dem Punkt „Lückenfüllung“ angeführt, da die Entscheidung ihre Argumentation mit der Bezugnahme auf „Treu und Glauben“ (§ 242 BGB) rechtfertigt. Wendet man § 242 BGB an, befindet man sich aber – jedenfalls scheinbar – innerhalb der Grenzen der Auslegung.
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ten“. Mit der Bezugnahme auf „Treu und Glauben“ und damit auf § 242 BGB gibt die Entscheidung zum einen vor, sich im Rahmen des Gesetzesrechts zu bewegen. Zum anderen kann man „Treu und Glauben“ sowie „rechtlich unbilliges Verhalten“ als Synonyme für eine „gerechte“ Entscheidung des Richters verstehen. Sie verdecken die eigene Wertung des Richters, indem sie suggerieren, dass er sich an objektiven Gerechtigkeitsmaßstäben orientiert. Objektiv richtige Wertungen und damit objektiv gerechte Entscheidungen gibt es aber nicht.208 Auf S. 98 spricht die Entscheidung sogar einmal direkt von „gerechter Abwägung der beiderseitigen schutzwerten Belange“. Weiterhin erwähnt sie auf S. 96 „allgemeine Rechtsgrundsätze“ und auf S. 97 „allgemeine rechtliche Gebote“. Da beide Formulierungen den Begriff „Recht“ enthalten, suggerieren sie Legitimität. Es sind aber Leerformeln, weil nicht klar wird, welche Rechtsgrundsätze oder Gebote gemeint sind und woraus sie sich ableiten sollen. Die eigene Wertung des Richters wird also durch die Bezugnahme auf Treu und Glauben (§ 242 BGB) sowie scheinbar legitimierende Formeln verschleiert. Damit wird verdeckt, dass die gefundene Lösung nicht legitimiert ist. Dass dies in so gehäufter Form erfolgt, zeigt, dass die Entscheidung sich bewusst ist, dass ihre Lösung keine demokratische Legitimität besitzt. Es besteht also ein gewisses Bewusstsein des Legitimitätsproblems. Der scheinbaren Legitimierung ist aber immer die Offenlegung des Legitimitätsdefizits vorzuziehen. Dies vor allem deswegen, weil dann erhöhte Sorgfaltsanforderungen an die Begründung der Entscheidung zu stellen sind. cc) Lückenfüllung209 Wie bereits oben unter bb) festgestellt, ist eine Lösung des Problems des Haftungsausschlusses in AGB nur über eine eigene Wertung des Richters möglich. Die Entscheidung enthält zwar die dafür notwendige Interessenabwägung. Dadurch, dass sie das Problem letztlich unter Rückgriff auf § 242 BGB lösen will, kann man aber nicht davon sprechen, dass sie offen rechtsfortbildende Erwägungen anstellt. Hinsichtlich des Umganges mit Vorentscheidungen lässt sich in dem Urteil außerdem Folgendes feststellen: Auf S. 95 f. stellt die Entscheidung lediglich die Rechtsprechung des Reichsgerichts zu dem Thema vor, an die sie laut einer Aussage auf S. 97 zur Begründung der eigenen Lösung „anknüpfen“ möchte. Mit der erwähnten Interessenabwägung begründet sie aber noch einmal ausführlich selbst und übernimmt die Rechtsprechung des Reichsgerichts nicht. Dies liegt wahrscheinlich daran, dass die Positionen des Reichsgerichts auch in der Literatur zur Zeit der Entscheidung jedenfalls teilweise überholt waren. Das Reichsgericht hatte versucht, 208
Dazu oben B. I. Um die Urteile einheitlich zu untergliedern, wird hier trotz des Vorliegens eines rechtsfreien Bereichs, der keine eigentliche Lücke ist (s. o. B. IV. 2.), die Überschrift „Lückenfüllung“ verwendet. 209
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die AGB über eine Sittenwidrigkeit nach § 138 BGB für unwirksam zu erklären, indem es bei den Verwendern die Ausnutzung einer Monopolstellung oder einer monopolähnlichen Stellung annahm.210 Wirksamen Schutz vor einseitiger Vertragsgestaltung kann eine auf § 138 BGB gestützte AGB-Kontrolle wegen der hohen Anforderungen an das Sittenwidrigkeitsurteil und der engen Voraussetzungen des Monopolmissbrauchs jedoch nicht gewährleisten.211 In der Literatur wurde – wie in dieser Entscheidung des BGH – auch zunehmend vertreten, eine AGB-Kontrolle über § 242 BGB vorzunehmen.212 An dieser Entscheidung zeigt sich aber in dem Sinne eine positive Rechtsprechungsentwicklung, als der BGH von der Rechtsprechung des Reichsgerichts abweicht und eine überzeugende Interessenabwägung vornimmt. dd) Ergebnis Die Abgrenzung zum vorhandenen Gesetzesrecht in Form von § 476 BGB a.F. erfolgt in überzeugender Weise. Es wäre jedoch wichtig gewesen, auf das Vorliegen eines rechtsfreien Bereichs213 einzugehen, da dieser eine eigene Wertung mit besonderer Begründungspflicht nach sich zieht. Dieser Anforderung wird das Urteil insofern gerecht, als es das Problem mit guten Argumenten über eine Interessenabwägung löst. Die Entscheidung greift jedoch im Ergebnis auf § 242 BGB zurück, obwohl dieser nicht anwendbar ist, und überdehnt so die Grenzen der Auslegung. Gleichzeitig wird damit die Tatsache verdeckt, dass mangels direkt oder analog anwendbarer Gesetzesvorschriften zur Lösung des Problems eine eigene Wertung des Richters unvermeidbar ist. Der häufige Rückgriff auf Treu und Glauben zeigt zwar, dass sich die Entscheidung des Legitimitätsdefizits ihrer Argumentation bewusst ist. Im Sinne einer methodenehrlichen Vorgehensweise wäre es aber wichtig gewesen, zu der eigenen Wertung zu stehen. Positiv an der Entscheidung ist schließlich, dass sie nicht die Rechtsprechung des Reichsgerichts übernimmt, sondern eine eigene Lösung entwickelt. Die in dieser Entscheidung gefundene Lösung des BGH für die Lieferung neu hergestellter Sachen ist in § 11 Nr. 10 b) des 1976 geschaffenen AGBG214 aufgenommen worden und findet sich heute in § 309 Nr. 8 b) bb) BGB.
210 MüKo-Basedow Vor § 305 Rn. 9, und Staudinger-Coester Vorbem zu §§ 307 – 309 Rn. 3 m.N. 211 Soergel-Stein, Einl AGB-Gesetz Rn. 5. 212 Nachweise im Urteil auf S. 98, außerdem bei Schneider NJW 1954, S. 133 Fn. 5, und bei Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des BGB, § 49 4. III. (S. 187). 213 Dazu oben B. IV. 2. 214 Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGBG) vom 9. Dezember 1976 (BGBl. I S. 3317), aufgehoben durch Art. 6 des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes vom 26. November 2001 (BGBl. I S. 3138).
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Die Bezugnahme auf Treu und Glauben bei der AGB-Kontrolle ist in § 9 I des AGBG von 1976 als Generalklausel kodifiziert worden und ist heute in § 307 I 1 BGB enthalten. Dabei gilt weiterhin, dass die Bezugnahme auf „Treu und Glauben“ bei der AGB-Kontrolle keinen Inhalt hat und nur eine „gerechte“ Entscheidung meint, die der Richter in eigener Wertung trifft [s. o. bb)]. AGB-Klauseln lassen sich nicht unter § 307 I 1 BGB subsumieren.215 Die Vorschrift hat daher keinen sinnvollen Inhalt und letztlich nur dekorative Bedeutung216. Es ist auch nach heutiger Rechtslage so, dass der Richter selbst werten muss, sofern die konkreten Klauselverbote der §§ 308 und 309 BGB nicht direkt oder analog anwendbar sind.
9. Produzentenhaftung In dem Urteil BGHZ 51, 91 vom 26. November 1968 begründet der BGH die Produzentenhaftung über eine Kombinationsbegründung217. Als Ergebnis nimmt er eine deliktische Haftung aus § 823 I BGB mit dem Zusatz einer Beweislastumkehr hinsichtlich des Verschuldens an. a) BGHZ 51, 91 – Grundsatzentscheidung zur Produzentenhaftung mit Hilfe einer Kombinationsbegründung (Urteil vom 26. November 1968) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Geschädigter Schadensersatz von dem Hersteller eines Produktes verlangen kann, wenn dieses Produkt fehlerhaft war und ihm dadurch ein Schaden entstanden ist. Es geht also um die Produzentenhaftung. bb) Grenzen der Auslegung Zwischen dem Geschädigten – sei er Endverbraucher oder Dritter – und dem Produzenten wird i. d. R. kein Vertrag bestehen, jedenfalls dann nicht, wenn der Endverbraucher das Produkt nicht direkt beim Hersteller bezieht. Das im Fall der Produzentenhaftung anwendbare Recht ist daher zunächst das Deliktsrecht und dort die Generalklausel des § 823 I BGB, da das BGB keine Spezialregelung zur Produzentenhaftung enthält. 215
MüKo-Wurmnest Vor § 307 Rn. 2. MüKo-Wurmnest Vor § 307 Rn. 2. 217 Zur Kombinationsbegründung s. u. C. II. 3. d) und in Bezug auf die schweizerischen Urteile D. II. 3. d). 216
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Da § 823 I BGB auf den Produzenten anwendbar ist, der im Rahmen des Produktionsprozesses Sorgfaltspflichten verletzt, damit gem. § 276 II BGB fahrlässig handelt und dadurch einen Schaden verursacht, scheint zunächst keine Regelungslücke zu bestehen. Es kommt jedoch eine teleologische Reduktion des § 823 I BGB für den Fall der Produzentenhaftung in Frage. Diese ergibt sich aus einer analogen Anwendung der §§ 831 I, 832 I, 833 I 2, 834 und insbesondere der §§ 836 – 838 BGB. Alle diese Vorschriften statuieren eine Beweislastumkehr hinsichtlich des Verschuldens, so dass der Schädiger sich hinsichtlich seines Verschuldens entlasten muss. Diese Regelungen lassen sich im Rahmen einer Rechtsanalogie auf die Produzentenhaftung anwenden [vgl. dazu ausführlich unten cc)]. Ihnen ist weiterhin gemeinsam, dass sie alle Spezialregelungen zu § 823 I BGB enthalten, d. h. sie betreffen die Verletzung deliktischer Sorgfaltspflichten, die auch unter die Generalklausel des § 823 I BGB fallen würden, statuieren für diese bestimmten deliktischen Handlungen aber eine Beweislastumkehr hinsichtlich des Verschuldens.218 Im Rahmen der Rechtsfortbildung für die Produzentenhaftung würde es sich daher anbieten, eine weitere Spezialregelung zu § 823 I BGB analog der §§ 831 ff. BGB zu entwickeln. Der BGH möchte aber bei der Haftung aus § 823 I BGB bleiben und diesen insoweit einschränken, dass die Beweislast hinsichtlich des Verschuldens zum Nachteil des Produzenten umgekehrt ist (S. 102). Ob man eine Spezialregelung für die Produzentenhaftung über die Einschränkung von § 823 I BGB erhält oder sie – wie in den §§ 831 ff. BGB – in weiteren Normen regelt, ist aber eine Frage der Gesetzestechnik und macht von der rechtlichen Aussage her keinen Unterschied. Daher muss es auch im Rahmen der Rechtsfortbildung erlaubt sein, sich für den einen oder den anderen Weg zu entscheiden. Entscheidet man sich für eine Einschränkung des § 823 I BGB, muss man methodisch über eine teleologische Reduktion vorgehen, da der Wortlaut des § 823 I BGB die Produzentenhaftung umfasst. Die Argumente für die teleologische Reduktion ergeben sich dann aus der Analogie zu den §§ 831 ff. BGB. Eine solche Einschränkung des § 823 I BGB ist in diesem Fall möglich, weil die §§ 831 ff. BGB gegenüber § 823 I BGB spezieller und damit vorrangig sind.219 Da im Falle der Produzentenhaftung eine Analogie zu den §§ 831 ff. BGB geboten ist [dazu unten cc)], wodurch die teleologische Reduktion des § 823 I BGB möglich wird, besteht gemessen an dem hier zugrunde gelegten Lückenbegriff220 eine Regelungslücke. Dies wird von der Entscheidung jedoch nicht angesprochen. Das ist weniger problematisch, da die Lücke gegeben ist und damit die Befugnis zur Rechtsfortbildung vorliegt. Dass die Entscheidung aber von einer Befugnis zur Rechtsfortbildung ausgeht, ohne das Vorliegen einer Regelungslücke zu prüfen, zeigt wenig Bewusstsein des Legitimitätsproblems. 218
Für § 832 MüKo-Wagner § 832 Rn. 1; für § 836 MüKo-Wagner § 836 Rn. 2. Zur Möglichkeit einer teleologischen Reduktion über eine Analogie zu anderen Vorschriften s. o. B. III. 2. a) aa) a.E. 220 Dazu oben B. III. 1. b). 219
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Der BGH geht zwar auf das Lückenproblem im Zusammenhang mit § 823 I BGB nicht ein, er grenzt jedoch ausführlich zum Vertragsrecht ab, und zwar in der Form der Drittschadensliquidation (S. 93 ff.) und des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter (S. 95 f.). Das erklärt sich damit, dass es zur Zeit des Urteils Literaturmeinungen gab, die das Problem der Produkthaftung in diesem Sinn vertragsrechtlich lösen wollten.221 Diese Konstruktionen stellen zwar keine gesetzlich geregelte Vertragshaftung dar, sondern sind auch durch Rechtsfortbildung entwickelt. Kann man diese Rechtsfortbildung jedoch gesetzesnah begründen, wie z. B. im Falle des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter möglich222, ist es zutreffend, ihre Anwendbarkeit zu prüfen, bevor man zur Lückenfüllung übergeht. Beide Möglichkeiten werden vom BGH in überzeugender Weise abgelehnt. Bei der Produzentenhaftung gebe es nicht die für die Drittschadensliquidation notwendige zufällige Schadensverlagerung (S. 95). Für den Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter fehle es an dem personenrechtlichen Einschlag im Verhältnis zwischen dem Gläubiger und dem geschädigten Dritten (S. 96). Eine weitere Möglichkeit, das Problem vertragsrechtlich zu lösen, erwähnt die Entscheidung auf S. 98 f., und zwar den stillschweigend abgeschlossenen Garantievertrag zwischen Hersteller und Verbraucher. Diesen verneint sie zutreffend mit dem Argument, dass der Vertrieb der Ware unter Benennung der Urheberschaft des Produzenten und auch dessen Werbung für das Produkt keine Willenserklärung dahingehend enthielten, dass er dem Verbraucher für eine sorgfältige Herstellung einstehen wolle. Dieser vertragsrechtliche Ansatz wird aber geprüft, nachdem die Entscheidung mit Erwägungen zu einer Gefährdungshaftung auf S. 98 schon lückenfüllende Erwägungen angestellt hatte. Die Reihenfolge von Auslegung und Lückenfüllung wird also nicht ganz eingehalten. Auch eine Herleitung der Haftung aus § 242 BGB, wie sie in der Literatur vertreten wird, lehnt der BGH ab (S. 99). Damit spricht er sich dagegen aus, Rechtsbeziehungen unter Heranziehung des § 242 BGB zu schaffen und diesen so als allgemeine Rechtsfortbildungsnorm zu benutzen. Die Produzentenhaftung kann aber in vielen Fällen zum Einsatz kommen und führt daher zu einer weitreichenden Änderung des Haftungssystems des BGB. Es liegt daher nahe, dass der BGH versucht, eine bessere Begründung als die Bezugnahme auf § 242 BGB zu finden. cc) Lückenfüllung Die ersten lückenfüllenden Erwägungen stellt die Entscheidung auf S. 98 an, indem sie sich mit einer Literaturmeinung auseinandersetzt, die für die Produkthaftung eine Gefährdungshaftung befürwortet. Es wird kurz angezweifelt, ob eine solche Gefährdungshaftung „rechtspolitisch“ zu befürworten wäre. Die Lösung eines Problems unter rechtspolitischen Gesichtspunkten ist aber Sache des Gesetzgebers. 221 222
Staudinger-Schäfer (12. Aufl. 1986) § 831 Rn. 171 ff. Vgl. die Analysen von RGZ 127, 218 [C. I. 5. a)] und BGHZ 56, 269 [C. I. 5. b)].
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Der BGH sieht sich also kurz in der Rolle des Gesetzgebers. Die weitere Argumentation erfolgt jedoch wieder in der gesetzesanwendenden Funktion des Richters. Der BGH führt aus, eine Haftung ohne Verschulden lasse sich mit den Grundsätzen des geltenden Haftungsrechts nicht vereinbaren. Die in einzelnen Gesetzen angeordnete Gefährdungshaftung auf die Produzentenhaftung auszudehnen, sei dem Richter verwehrt. Vielmehr müsse der Gesetzgeber entscheiden, ob und inwieweit dem Hersteller eine stärker objektivierte Haftung aufzuerlegen sei. Die Gefährdungshaftung beruht auf der Überlegung, dass derjenige, der zu seinem Nutzen rechtmäßig einen gefährlichen Betrieb unterhält, auch für die Schäden haften soll, die in Verwirklichung dieses Risikos typischerweise bei anderen eintreten.223 Auch die Herstellung eines Produktes birgt Gefahren, die sich bei dem Verbraucher als Schaden realisieren können. Sieht man sich jedoch die heutigen Regeln zur Gefährdungshaftung an224, so sind diese – mit Ausnahme des § 1 ProdHaftG von 1989225 – auf ganz spezielle, besonders gefährliche Bereiche beschränkt. Die Produzentenhaftung ist jedoch allgemein und umfasst jegliche Art von Produkten. Hinzukommt, dass das BGB grundsätzlich von der Verschuldenshaftung ausgeht, so dass die Regeln zur Gefährdungshaftung Ausnahmevorschriften darstellen. Auch solche kann man zwar im Rahmen einer Analogie heranziehen.226 Dann muss es sich jedoch um die Entwicklung einer weiteren Ausnahmevorschrift handeln.227 Da die Produzentenhaftung einen großen Bereich abdeckt, kann man bei ihr aber nicht mehr von einer Ausnahmevorschrift sprechen, sondern muss von einem schwerwiegenden Eingriff in das Haftungssystem des BGB ausgehen. Man kann die Produkthaftung also nicht über eine Analogie zu den Vorschriften über die Gefährdungshaftung entwickeln. Eine solche Änderung des Haftungssystems des BGB ist in der Tat dem Gesetzgeber vorbehalten. Mit dem Produkthaftungsgesetz von 1989 hat der Gesetzgeber eine Gefährdungshaftung für fehlerhafte Produkte eingeführt. Diese bleibt allerdings in ihrem Umfang hinter der aus § 823 I BGB hergeleiteten Produkthaftung zurück.228 Die allgemeine deliktsrechtliche Haftung bleibt so auch gem. § 15 II ProdHaftG neben der Haftung aus dem Produkthaftungsgesetz erhalten. Insgesamt argumentiert die Entscheidung unter Legitimitätsgesichtspunkten überzeugend, indem sie eine Gefährdungshaftung verneint, auch wenn sie noch etwas genauer hätte begründen können, warum eine Analogie zu den eine Gefährdungshaftung beinhaltenden Vorschriften abzulehnen ist.
223
Palandt-Sprau Einf v § 823 Rn. 11. Aufzählung bei Palandt-Sprau Einf v § 823 Rn. 11. 225 Gesetz über die Haftung für fehlerhafte Produkte (Produkthaftungsgesetz) vom 15. Dezember 1989 (BGBl. I S. 2198), abgedruckt in Schönfelder, Deutsche Gesetze, Nr. 27. 226 Siehe dazu oben B. III. 2. a) aa). 227 s. o. 228 Ausführlich dazu Staudinger-Hager § 823 Rn. F 5. 224
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Auf S. 99 ff. prüft der BGH dann die Herleitung der Produkthaftung über eine vertragsähnliche Haftung entsprechend § 122 BGB (Vertrauenshaftung) oder entsprechend den Grundsätzen über die culpa in contrahendo und geht damit auf weitere Literaturmeinungen ein. Dazu ist zu sagen, dass § 122 BGB zwar den Vertrauensgedanken enthält, dies aber nur für eine bestimmte Situation, und zwar die nichtige oder angefochtene Willenserklärung, auf deren Bestand der Erklärungsgegner vertraut hatte. Daraus eine allgemeine Vertrauenshaftung für fehlerhafte Produkte abzuleiten, sprengt die Grenzen der Analogie und würde letztlich dazu führen, auch in anderen als den Fällen der Produzentenhaftung eine Vertrauenshaftung annehmen zu müssen. Im Rechtsverkehr gibt es eine Vielzahl von Fällen, wo Menschen einander vertrauen. Eine allgemeine Vertrauenshaftung229 aber würde die Unterschiede zwischen Vertragsund Deliktshaftung aufheben. Gleiches gilt für die Heranziehung der Grundsätze über die culpa in contrahendo. Diese sanktioniert ein Verhalten unmittelbar vor oder bei Vertragsschluss und ist auch nur so über eine Rechtsanalogie aus vorhandenen Vorschriften zu begründen.230 Diese bereits aus einer Analogie entwickelten Grundsätze wiederum entsprechend auf den Fall der Produzentenhaftung ausdehnen zu wollen, wäre eine willkürliche Ausdehnung der Vertragshaftung ohne Begründung und würde das Haftungssystem des BGB konterkarieren. Die Entscheidung prüft diese beiden Möglichkeiten der Begründung einer Produzentenhaftung nicht, sondern lehnt die Möglichkeit einer quasivertraglichen Herleitung mit den Besonderheiten des Sachverhaltes ab (S. 101). Ob diese Interpretation des Sachverhaltes gerechtfertigt ist, kann dahinstehen. Jedenfalls ist es zulässig, auf diese Art und Weise die Prüfung der quasivertraglichen Ansprüche auszulassen. Vollständiger wäre es jedoch gewesen, zu den quasivertraglichen Ansprüchen Stellung zu nehmen. Die eigentliche Lösung des Problems wird dann auf S. 102 vorgestellt. Die Entscheidung möchte – wie oben unter bb) erwähnt – § 823 I BGB dergestalt einschränken, dass der Hersteller sich hinsichtlich seines Verschuldens entlasten muss, sobald der Geschädigte nachgewiesen hat, dass der Schaden durch einen Fehler des Produktes verursacht worden ist. Die Lösung besteht also in einer Beweislastumkehr hinsichtlich des Verschuldens im Rahmen der deliktischen Haftung des Herstellers. Diese Beweislastumkehr lässt sich über eine Analogie zu den §§ 831 I, 832 I, 833 I 2, 834 BGB und insbesondere der §§ 836 – 838 BGB herleiten und über eine teleologische Reduktion in den § 823 I BGB integrieren231. Die §§ 831 I, 832 I, 833 und 834 BGB zeichnen sich dadurch aus, dass der Handelnde eine Gefahr geschaffen oder ausgenutzt hat und dass diese Gefahr eine Verschuldensvermutung auslöst, die der 229 Zum Konzept einer allgemeinen Vertrauenshaftung in der Schweiz s. u. die Analyse von BGE 120 II 331 [D. I. 11. a)] unter cc). 230 Vgl. die Analyse von RGZ 95, 58 [C. I. 3. a)] unter cc). 231 Zur teleologischen Reduktion vgl. oben bb).
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Handelnde widerlegen muss.232 In § 831 I BGB besteht die Gefahr in der Bestellung eines Dritten als Verrichtungsgehilfen, bei § 832 I BGB geht die Gefahr von der zu beaufsichtigenden Person und bei den §§ 833 I 2 und 834 BGB von dem zu beaufsichtigenden Tier aus. Eine solche Gefahr besteht aber auch bei in moderner Massenfertigung hergestellten Gütern.233 Insofern ist also bereits aus einer Analogie zu den §§ 831 I, 832 I, 833 I 2 und 834 BGB eine Beweislastumkehr bei der Produzentenhaftung abzuleiten. Der Produzentenhaftung noch ähnlicher sind die §§ 836 – 838 BGB. Dort handelt es sich um die Haftung des Grundstücksbesitzers, des Gebäudebesitzers oder des Gebäudeunterhaltspflichtigen, wenn jemand durch die fehlerhafte Errichtung oder mangelhafte Unterhaltung eines Gebäudes zu Schaden kommt. Zusätzlich zu der Schaffung der Gefahr geht es bei diesen Vorschriften darum, dass der Grundstücks- oder Gebäudebesitzer oder der Gebäudeunterhaltspflichtige besser beurteilen können, ob sie die im Verkehr erforderliche Sorgfalt hinsichtlich des Gebäudes beachtet haben. Für den Geschädigten ist es hingegen schwer bis unmöglich, nachzuweisen, dass diese ihre Pflichten zur fehlerfreien Errichtung oder korrekten Unterhaltung des Gebäudes nicht erfüllt haben. Genauso ist es aber bei der Produzentenhaftung. Angesichts der Komplexität des modernen Produktionsprozesses ist es für den Geschädigten quasi unmöglich, ein Verschulden des Herstellers nachzuweisen. Das eigentliche Argument für die Beweislastumkehr bei der Produzentenhaftung ergibt sich also aus einer analogen Anwendung der §§ 836 – 838 BGB. Die Entscheidung argumentiert dazu jedoch nicht geradlinig und setzt ihre Begründung zusammen aus einer Interessenabwägung mit eigener Wertung, der Berufung auf Vorentscheidungen und dem zutreffenden Heranziehen der §§ 831 – 834 und 836 ff. BGB. Zur Interessenabwägung führt sie Folgendes aus: Die Beweislastumkehr ergebe sich aus den schutzbedürftigen Interessen des Geschädigten und werde von den schutzwürdigen Interessen des Produzenten erlaubt (S. 105). Der Produzent sei „näher daran“, den Sachverhalt aufzuklären und der komplizierte Herstellungsprozess mache es dem Geschädigten praktisch unmöglich, die Ursache des schadenstiftenden Fehlers aufzuklären (S. 105). Liege die Unaufklärbarkeit im Bereich des Produzenten, gehöre sie auch zu seiner Risikosphäre (S. 106). Dann sei es sachgerecht und zumutbar, dass ihn das Risiko der Nichterweislichkeit seiner Schuldlosigkeit treffe (S. 106). Die Argumentation des BGH ist zwar nachvollziehbar, dennoch wertet er hier selbst („sachgerecht und zumutbar“), indem er dem Hersteller die Beweislast für sein Verschulden auferlegt. Es gibt außerhalb des Gesetzesrechts keine zwingenden Gründe dafür, dass dies so sein muss. Die Wertung lässt sich aber – wie oben dargelegt – aus den §§ 836 ff. BGB ableiten. Der BGH hätte mit seiner Interessenab232 233
Deutsch, Anm. zu diesem Urteil, JZ 1969, S. 391 ff. (S. 393). s. o.
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wägung also an die in diesen Normen schon vorgenommene Wertung anknüpfen können. Weiterhin geht der BGH auf Vorentscheidungen ein. Die Rechtsprechung sei seit langem dem Geschädigten zu Hilfe gekommen, wenn es um die Herstellung eines Produkts im Betrieb ginge (S. 104). Von einer Beweislastumkehr sei die Rechtsprechung „schon immer“ bei vertraglichen und quasivertraglichen Sonderrechtsbeziehungen ausgegangen (S. 106). Es sei kein Grund ersichtlich, warum diese Beweisregel für deliktsrechtliche Fälle nicht gelten solle, wenn die ihr zugrunde liegenden Erwägungen auch hier zuträfen (S. 106). Der BGH erklärt jedoch nicht, wie die entsprechenden Vorentscheidungen die Beweislastumkehr für das Vertragsrecht herleiten. Er setzt sich also nicht mit deren Begründungen auseinander. Weiterhin führt er auf S. 106 f. zwei Entscheidungen an, die direkt die Produzentenhaftung betreffen. Auch hier geht er aber auf die jeweiligen Begründungen nicht ein. Er nimmt also Pauschalverweise auf Vorentscheidungen vor. Interessant ist, dass sich die Entscheidung nicht ausschließlich auf Vorentscheidungen stützt, sondern noch einmal selbst ausführlich begründet. Das kann daran liegen, dass bisher eine Grundsatzentscheidung zur Produzentenhaftung ausstand. Die eigene Begründung erfolgt zum einen durch die oben genannte Interessenabwägung, auch wenn diese letzten Endes zu einer nicht legitimierten eigenen Wertung führt. Zum anderen geht die Entscheidung aber auch auf die analogiefähigen Vorschriften der §§ 831 – 834 und 836 ff. BGB ein (S. 106). Sie spricht zwar nicht ausdrücklich von einer Analogie, erwähnt jedoch, dass das Gesetz in den §§ 831 – 834 BGB den Entlastungsbeweis fordere, und stellt den zentralen Gedanken der §§ 836 ff. heraus. Dieser beruhe darin, dass sich die Beweislastumkehr aus dem besseren Überblick des Herstellers über seine Produktionsverhältnisse rechtfertige. Am Ende seiner Argumentation kommt der BGH noch einmal auf § 836 BGB zurück. Die moderne Entwicklung der Warenproduktion verlange eine Fortbildung des Beweisrechts in die Richtung, wie sie das Gesetz in § 836 BGB vorgezeichnet habe (S. 107). Man kann also davon ausgehen, dass die Entscheidung in § 836 BGB das entscheidende Argument für ihre Lösung sieht. Schade ist, dass sie sich nicht deutlicher für eine Analogie ausspricht. Es sieht so aus, als entscheide der Richter selbst und lasse sich dabei vom Gesetz inspirieren. Es fehlt die ausdrückliche Aussage, dass der Richter die Lösung aus dem Gesetz ableitet. Positiv zu bewerten ist jedoch, dass die Entscheidung die entscheidenden, auch für die Analogie heranzuziehenden Argumente enthält. dd) Ergebnis Hinsichtlich der Bestimmung der Grenzen der Auslegung ist festzustellen, dass die Entscheidung von der Befugnis zur Rechtsfortbildung ausgeht, ohne das Vorliegen einer Regelungslücke zu prüfen. Das ist weniger problematisch, da die Lücke vorliegt, zeigt aber wenig Bewusstsein des Legitimitätsproblems. Zu vertrags-
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rechtlichen Konstellationen wird – auch wenn diese selbst durch Rechtsfortbildung entwickelt wurden – zutreffend abgegrenzt. Eine Ableitung der Lösung aus § 242 BGB erfolgt nicht. Diese Vorschrift wird also nicht entgegen ihrem Wortlaut als Rechtsfortbildungsnorm benutzt. Bei einem so weitreichenden Problem wie der Produzentenhaftung liegt das aber auch eher fern. Bei der Reihenfolge von Auslegungs- und Lückenfüllungsargumenten gibt es kleine Ungenauigkeiten. Im Rahmen der Lückenfüllung lehnt der BGH in zutreffender Weise eine Gefährdungshaftung ab, auch wenn er nicht genau begründet, warum eine Analogie zu den vorhandenen, die Gefährdungshaftung regelnden Vorschriften nicht in Frage kommt. Ansätze, das Problem über eine Vertrauenshaftung entsprechend § 122 BGB oder entsprechend den Grundsätzen über die culpa in contrahendo zu lösen, weist die Entscheidung nur mit einem Hinweis auf den Sachverhalt zurück. Hier wäre es vollständiger gewesen, zu begründen, warum eine Lückenfüllung auf diesem Weg nicht möglich ist. Die eigentliche Begründung über eine Analogie zu den §§ 831 ff. BGB und den §§ 836 ff. BGB kombiniert die Entscheidung mit einer Interessenabwägung nebst eigener Wertung des Richters und der Berufung auf Vorentscheidungen. Von einer Analogie selbst wird nicht gesprochen, der BGH will sich lediglich in die gleiche Richtung wie das Gesetz bewegen. Positiv zu bewerten ist aber, dass die Entscheidung die wesentlichen, für die Analogie notwendigen Argumente enthält und ihre Lösung letzten Endes in Anlehnung an § 836 BGB findet. Da die Entscheidung so Ansätze von Analogie mit nicht dem Legitimitätsgedanken entsprechenden Vorgehensweisen kombiniert, kann man von einer Kombinationsbegründung234 sprechen. Außerdem fällt auf, dass sich der BGH umfassend mit in der Lehre vertretenen Meinungen auseinandersetzt235 und so ähnlich einem Gesetzgeber jede Begründungs- und Lösungsmöglichkeit erwägt, um dann schließlich zu einer eigenen Lösung zu kommen. Die Entscheidung orientiert sich also nicht vorrangig am vorhandenen Gesetzesrecht und damit an einer dem Legitimitätsprinzip entsprechenden Methode. Das wird auch daran deutlich, dass keine Lücke festgestellt wird. Dass der BGH im Endeffekt § 836 BGB heranzieht und damit doch auf das Gesetzesrecht Bezug nimmt, ist eher Zufall. Damit enthält die Entscheidung eine Vorgehensweise ähnlich den schweizerischen Entscheidungen, die eine Lösung im Gesetzgebervorgehen entwickeln236.
10. Leasingvertrag – Einwendungsdurchgriff Die Entscheidung BGHZ 97, 135 vom 19. Februar 1986 bejaht die Frage, ob Einwendungen des Leasingnehmers gegenüber dem Lieferanten im Verhältnis zum 234 235 236
Dazu unten C. II. 3. d) und in Bezug auf die schweizerischen Urteile D. II. 3. d). Übersicht auch bei Staudinger-Schäfer (12. Aufl. 1986) § 831 Rn. 171 ff. Zu den entsprechenden Entscheidungen s. u. D. II. 3. d) dd) und e) bb).
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Leasinggeber gelten sollen (Einwendungsdurchgriff) mit Hilfe von Vertragsauslegung, obwohl das Problem so nicht zu lösen ist. a) BGHZ 97, 135 – Bejahung eines Einwendungsdurchgriffes mit scheinbarer Vertragsauslegung (Urteil vom 19. Februar 1986) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, ob ein Leasinggeber vom Leasingnehmer vorläufig die Zahlung der Leasingraten verlangen kann, wenn der Leasingnehmer Wandelungsklage gegen den Lieferanten erhoben hat. Beim Leasingvertrag kauft der Leasinggeber die Sache vom Lieferanten, vermietet sie dann an den Leasingnehmer, schließt aber seine Gewährleistung aus dem Mietvertrag aus und tritt dafür seine eigenen Gewährleistungsansprüche gegen den Lieferanten aus dem Kaufvertrag dem Leasingnehmer ab. Wandelt der Leasingnehmer dann den Kaufvertrag nach den §§ 462, 465 BGB a.F.237, so soll nach der Rechtsprechung die Geschäftsgrundlage des Leasingvertrages (Mietvertrages) wegfallen.238 bb) Grenzen der Auslegung Bei einem Vertragsverhältnis, das gesetzlich nicht geregelt ist, verlaufen die Grenzen der Auslegung jenseits der konkreten vertraglichen Regelungen, da es keine gesetzlichen Vorschriften gibt. Regelt so der Vertrag eine bestimmte Frage nicht, besteht nicht nur eine Vertragslücke, sondern auch eine Gesetzeslücke, da das Gesetz für diese Frage bei diesem Vertragstyp keine Regelung enthält (Phänomen der „Doppellücke“239). Die einen Leasingvertrag ausmachende vertragliche Regel ist typischerweise die Haftungsfreizeichnung des Leasinggebers hinsichtlich der Gewährleistungsrechte aus dem Mietvertrag und die damit zusammenhängende Übertragung seiner Gewährleistungsrechte aus dem Kaufvertrag an den Leasingnehmer. Das Urteil gibt die im vorliegenden Fall vom Leasinggeber verwandte Klausel auf S. 136 unten wieder. Möchte man die Grenzen der Auslegung bestimmen, muss man also zunächst diese konkrete Klausel auslegen. Das Urteil stellt auf S. 142 fest, mit Rücksicht auf das beim Leasingvertrag bestehende „Dreiecksverhältnis“ lasse sich die Entscheidung weder allein aus dem 237
Vorschriften des BGB vor dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz (SMG vom 26. November 2001, BGBl. I S. 3138, in Kraft seit 1. Januar 2002) s. Schönfelder, Deutsche Gesetze, Ergänzungsband Nr. 20. 238 Palandt-Weidenkaff Einf v § 535 Rn. 58 zur neuen Rechtslage. 239 Kramer, Methodenlehre, II. 2. d) gg) (4) (S. 152).
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Gesetz noch aus dem Vergleich mit anderen Vertragstypen ableiten. Sie müsse ihre Rechtfertigung vielmehr in der besonderen Gestaltung des Leasingverhältnisses finden. Damit wird das Problem des ungeregelten Vertragstyps angesprochen, dessen Regelungen sich nur aus dem konkreten Vertrag selbst ergeben. Indem die Entscheidung aber den „Vergleich mit anderen Vertragstypen“ in einem Atemzug mit Gesetz und vertraglichen Regelungen nennt, wird sie etwas ungenau in Bezug auf die Grenzen der Auslegung. Der Vergleich mit anderen Vertragstypen läuft auf eine Analogie zu den gesetzlichen Vorschriften über andere Verträge und damit auf Lückenfüllung hinaus, während der Bezug auf Gesetz und konkrete vertragliche Regelung Auslegung ist. Das rechtliche Problem, das dieser Entscheidung zugrunde liegt, ist das des Einwendungsdurchgriffs, also die Frage, ob die Einwendungen, die der Leasingnehmer gegen den Lieferanten aufgrund von Gewährleistungsrechten hat, auch im Verhältnis zum Leasinggeber gelten. Im Zweipersonenverhältnis – beispielsweise beim Kaufvertrag – würde sich dieses Problem folgendermaßen darstellen: Klagt der Verkäufer gegen den Käufer auf Zahlung des Kaufpreises, wird dieser die Wandelungseinrede nach den §§ 462, 456 BGB a.F. erheben. Das Gericht wird dann prüfen, ob das Wandelungsbegehen berechtigt ist und gegebenenfalls das gem. § 465 BGB a.F. erforderliche Einverständnis des Verkäufers gem. § 894 ZPO240 ersetzen. Solange die Frage der Rechtmäßigkeit des Wandelungsbegehrens nicht geklärt ist, hat der Verkäufer aber keinen vorläufigen Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises. Diese Rechtslage erklärt das Urteil auf S. 142 und 143. Beim Leasingvertrag besteht nun das Problem, dass nicht der Verkäufer den Kaufpreis, sondern der Leasinggeber die Leasingraten einklagt, während die Wandelungsklage gegen den Verkäufer geführt wird. Adressat der Wandelungseinrede und Forderungsgläubiger sind also zwei verschiedene Personen, so dass die Wandelungseinrede nicht gegenüber dem Leasinggeber besteht. Soll sie gegenüber dem Leasinggeber gelten, muss man dies gesondert begründen. Möchte man den Einwendungsdurchgriff herleiten, muss man – wie oben festgestellt – im Rahmen der Prüfung der Grenzen der Auslegung zunächst den konkreten Vertrag auslegen. Dabei kann man auf die im Urteil auf S. 136 erwähnte und für den Leasingvertrag wesentliche Freizeichnungsklausel zurückgreifen. Die Klausel besagt: „Die Haftung des LG und im Zusammenhang mit diesem Vertrag ist auf die Ansprüche beschränkt, die der LG gegenüber dem Lieferanten hat. Der LG tritt diese Ansprüche an den LN ab.“
240 Zivilprozessordnung vom 30. Januar 1877 (RGBl. S. 83). Zurzeit gültig ist die Zivilprozessordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. Dezember 2005 (BGBl. I S. 3202; 2006 I S. 431; 2007 I S. 1781), aktuelle Fassung abgedruckt in Schönfelder, Deutsche Gesetze, Nr. 100.
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Die Klausel beschränkt im ersten Satz die Haftung des Leasinggebers im Rahmen des Leasingvertrages auf diejenige, die sich aus dem Verhältnis Leasinggeber – Lieferant ergibt. Damit ist eine Haftung aus dem Mietvertrag zwischen Leasinggeber und Leasingnehmer ausgeschlossen. Der Leasingnehmer muss sich vielmehr an diejenigen Ansprüche halten, die der Leasinggeber gegenüber dem Lieferanten hat. Diese werden ihm folgerichtig im zweiten Satz abgetreten. Die Klausel enthält also die Haftungsfreizeichnung im Rahmen des Mietvertrages und die Abtretung der Gewährleistungsrechte aus dem Kaufvertrag. Eine Einstandspflicht des Leasinggebers für Einwendungen aus dem Kaufvertrag im Sinne eines Einwendungsdurchgriffes, lässt sich der Klausel hingegen nicht entnehmen. Das Urteil möchte dennoch auf S. 142 f. den Weg der Vertragsauslegung gehen (vgl. auch den Leitsatz zu a) auf S. 135). Es führt aus, Grundlage für die Lösung sei damit in erster Linie der angemessene Inhalt und Sinn der vertraglichen, vom Leasinggeber vorformulierten Haftungsregelung (S 143). […]; bei Berücksichtigung der gesamten Vertragskonstruktion sei diese so zu verstehen, dass der Leasinggeber vor Beendigung des Wandelungsstreits Leasingraten auch nicht vorläufig fordern könne (S. 143). Eine Auslegung der konkreten Klausel nimmt das Urteil aber nicht vor. Bereits die oben zitierte Formulierung „angemessener Inhalt und Sinn“ weist auf eine über die Auslegung hinausgehende objektiv wertende Einflussnahme des Richters hin. Bei der Auslegung geht es um den tatsächlichen Inhalt einer Klausel, der „angemessene“ Inhalt ist derjenige, den der Richter für richtig hält. Die Grenzen der Auslegung werden damit überschritten. Auch die weitere Argumentation der Entscheidung auf S. 143 beruht auf einer eigenen Wertung des Richters, stützt sich aber scheinbar auf Vertragsauslegung. So bezieht sich das Urteil auf § 157 BGB zur Auslegung von Verträgen und auf § 9 I AGBG a.F.241, die Generalklausel zur Unwirksamkeit Allgemeiner Geschäftsbedingungen, die der Beurteilung von Vertragsbestimmungen dient. Der BGH argumentiert dann aber mit der Gewährleistungssituation beim Zweipersonenverhältnis (Kaufrecht, Mietrecht) und sagt, an der dort vorgegebenen Risikoverteilung könne sich auch durch die Haftungsabwälzung beim Leasingvertrag nichts ändern. Als Begründung dafür wird auf den S. 143 ff. eine Interessenabwägung vorgenommen, die dieses Ergebnis stützt. Um zu einer rechtlichen Lösung zu kommen, müssen widerstreitende Interessen jedoch vom Richter bewertet werden. Das Ergebnis beruht also auf einer eigenen Wertung des Richters. Um Vertragsauslegung geht es demnach nicht. Indem der BGH sich aber auf Vertragsauslegung beruft, werden die Grenzen der Auslegung überdehnt.
241 Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen vom 9. Dezember 1976 (BGBl. I S. 3317), aufgehoben durch Art. 6 des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes vom 26. November 2001 (BGBl. I S. 3138). Die Vorschriften zur AGB-Kontrolle sind jetzt enthalten in §§ 305 ff. BGB (§ 9 AGBG a.F. entspricht § 307 Abs. 1 und 2 BGB n.F.).
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cc) Lückenfüllung Da die Entscheidung davon ausgeht, sich noch im Rahmen der Grenzen der (Vertrags-) Auslegung zu befinden, nimmt sie eine eigentliche lückenfüllende Begründung nicht vor. Zur Lückenfüllung kann man auf eine doppelte Analogie zu § 242 BGB zurückgreifen. Die Vorschrift besagt, dass der „Schuldner“ verpflichtet sei, eine Leistung so zu bewirken „wie“ Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erforderten. Die Regelung des § 242 BGB ist aber auf den Fall doppelt analog anzuwenden, in dem es darum geht, „ob“ „der Gläubiger“ eine Leistung fordern darf.242 Dabei kann man dazu kommen, dass es Treu und Glauben widerspricht, wenn durch eine rechtliche Konstruktion, nämlich das Auseinanderfallen von Gewährleistungsgegner und Forderungsgläubiger, der Schuldner die mit seinen Gewährleistungsrechten verbundenen Einwendungen nicht wirksam erheben kann.243 Es würde also Treu und Glauben widersprechen, wenn der Leasinggeber die vorläufige Zahlung der Leasingraten fordert, obwohl der Leasingnehmer Wandelungsklage gegen den Lieferanten erhoben hat. Dabei handelt es sich natürlich um eine Wertung, die der Richter zu treffen hat. Die Vorschrift des § 242 BGB erlaubt diese Wertung aber und gibt dem Richter einen weiten Bewertungsspielraum.244 Dieser Bewertungsspielraum ist dadurch akzeptabel, dass er sich auf die Beurteilung eines bereits bestehenden Schuldverhältnisses beschränkt.245 Im Gegensatz zur Kontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen246 kann man im vorliegenden Fall § 242 BGB analog anwenden, da es darum geht, die Rechtslage innerhalb eines bestehenden Schuldverhältnisses, nämlich dem Leasingvertrag, zu klären. Bei der Kontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen hingegen wird die Wirksamkeit in AGB getroffener Regelungen beurteilt. Damit handelt es sich um die Frage, ob durch eine vertraglich vereinbarte Klausel eine bestimmte Rechtsposition in einem Schuldverhältnis entstanden ist oder nicht. Der BGH hat den Einwendungsdurchgriff beim finanzierten Abzahlungskauf in anderen Entscheidungen247 aus § 242 BGB begründet, ohne allerdings von dessen analoger Anwendung auszugehen. Beim finanzierten Abzahlungskauf kauft der Käufer eine Sache vom Verkäufer und erhält von einem dritten Darlehensgeber dafür einen Kredit. Macht der Käufer Gewährleistungsrechte gegenüber dem Verkäufer geltend, stellt sich die Frage, inwieweit er die sich daraus ergebenden Einwendungen auch gegenüber dem Darlehensgeber geltend machen kann, wenn dieser die Kre242 243 244 245 246 247
Dazu näher oben B. V. 1. c) aa). So auch Canaris ZIP 1993, S. 401 ff. (S. 412). Dazu oben B. V. 1. c) aa). s. o. Vgl. die Analyse von BGHZ 22, 90 [C. I. 8. a)] unter bb). BGHZ 37, 94 (99); für weitere Nachweise vgl. Staudinger-Kessal-Wulf § 358 Rn. 8.
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ditraten fordert. Es besteht also eine dem Leasingvertrag vergleichbare Situation. Da der BGH beim finanzierten Abzahlungskauf auf § 242 BGB zurückgreift, läge es also nahe, das beim Leasingvertrag auch zu tun und nicht über Vertragsauslegung vorzugehen. Inzwischen ist der Einwendungsdurchgriff bei verbundenen Verträgen in § 359 BGB geregelt und bezieht sich gem. § 506 Abs. 1 und 2 BGB auch auf Leasingverträge. Das im Urteil behandelte Problem hat also eine gesetzliche Regelung gefunden. Ein neues Problem entsteht jedoch dadurch, dass es nach dem neuen Schuldrecht die Wandelung nicht mehr gibt und an ihre Stelle ein Rücktrittsrecht gem. §§ 437 Nr. 2, 323 BGB getreten ist. Das Rücktrittsrecht ist anders als die Wandelung ein Gestaltungsrecht, so dass bereits mit seiner Ausübung der Kaufvertrag in ein Abwicklungsschuldverhältnis überführt wird. Damit besteht ohne gerichtliche Entscheidung eine Einwendung gegen die Kaufpreisforderung, die nach den §§ 359, 506 I und II BGB auch gegenüber dem Leasinggeber Geltung entfaltet. Problematisch dabei ist, dass der Leasingnehmer, ohne zu klagen, die Leasingraten einbehalten kann und dass der Leasinggeber auf diese verzichten muss, ohne klären zu können, ob die Gewährleistungsansprüche des Leasingnehmers berechtigt sind. Es wird daher von der h.M. vertreten, dass das Leistungsverweigerungsrecht des Leasingnehmers erst bestehen soll, wenn er Klage gegen den Lieferanten auf Rückzahlung des Kaufpreises erhebt.248 dd) Ergebnis Die Entscheidung überdehnt die Grenzen der Auslegung, indem sie versucht, ein Ergebnis über Vertragsauslegung zu gewinnen, dass sich so nicht begründen lässt. Dabei wird eine Auslegung der konkreten Vertragsklausel nicht vorgenommen. Der Bezug auf den Vertrag dient also nur der scheinbaren Legitimierung des Ergebnisses. Damit werden außerdem alle sich im Rahmen der Lückenfüllung stellenden Legitimitätsprobleme überdeckt. Den möglichen und vom BGH für den finanzierten Abzahlungskauf in der direkten Anwendung bereits gegangenen Weg über eine Analogie zu § 242 BGB geht die Entscheidung hingegen nicht.
11. Ausgleich zwischen zwei Sicherungsgebern In dem Urteil BGHZ 108, 179 vom 29. Juni 1989 bejaht der BGH einen Ausgleich zwischen zwei verschiedenen Sicherungsgebern unter Rückgriff auf eine Analogie
248
Zum Meinungsstand MüKo-Koch, Bd. 3, Finanzierungsleasing, Rn. 113 f. m.N.
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zu den Regeln über die Gesamtschuld (§ 426 I BGB), begründet seine Entscheidung aber letztlich mit § 242 BGB. a) BGHZ 108, 179 – Bejahung des Ausgleichs über eine Analogie zu den Gesamtschuldregeln; letzte Begründung ist aber § 242 BGB (Urteil vom 29. Juni 1989) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, ob ein Grundschuldbesteller, nachdem er vom Gläubiger in Anspruch genommen worden ist, gegen einen mitsichernden Bürgen einen anteiligen Ausgleichsanspruch hat. Im Gesetz ist ein solcher Ausgleich nicht geregelt. bb) Grenzen der Auslegung Um die Grenzen der Auslegung festzustellen, ist zunächst zu untersuchen, ob ein gesetzlicher Ausgleichsanspruch zwischen Grundschuldbesteller und Bürgen besteht oder ob ein Ausgleich vertraglich vereinbart wurde. Auf S. 184 kommt der BGH zu dem Ergebnis, dass ein gesetzlicher Anspruch nicht gegeben ist. Leistet der Bürge, so geht die Hauptforderung auf ihn nach den §§ 774 I 1, 412, 401 BGB über, nicht aber die Grundschuld, da diese als nichtakzessorisches Recht nicht von § 401 BGB umfasst wird. Zahlt der Grundschuldbesteller, der nicht persönlicher Schuldner ist, auf die Grundschuld, geht die Hauptforderung nicht gem. § 1143 I BGB auf ihn über, da § 1143 I BGB nur für die – akzessorische – Hypothek gilt (vgl. § 1192 I BGB), und damit auch nicht die zur Hauptforderung akzessorische Bürgschaft. Bereits auf S. 183 hatte der BGH festgestellt, dass ohne eine besondere Vereinbarung zwischen Bürgen und Grundschuldbesteller keine vertragliche Gesamtschuldnergemeinschaft bestehe (§ 427 BGB). Da es im vorliegenden Fall keine solche Vereinbarung gab, kommt ein Ausgleich aus Vertragsrecht also auch nicht in Betracht. Weiterhin hätte man prüfen können, ob eine gesetzliche Gesamtschuldnereigenschaft zwischen Bürgen und Grundschuldbesteller besteht. Dazu müssten die Voraussetzungen des § 421 S. 1 BGB erfüllt sein. Voraussetzung des § 421 S. 1 BGB ist zunächst, dass mehrere „eine Leistung“ schulden, also die Identität des Leistungsinteresses249. Der Wortlaut lässt darauf schließen, dass es sich um ein und dieselbe Leistung handeln muss. Da aber nur von „einer“ Leistung und nicht von „derselben“ Leistung die Rede ist, ist auch eine etwas weitere Auslegung möglich. 249
Palandt-Grüneberg § 421 Rn. 6.
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Eine völlige Identität von Leistungsinhalt und -umfang ist demnach nicht erforderlich, es genügt vielmehr eine an der Grenze zur inhaltlichen Gleichheit liegende besonders enge Verwandtschaft der Leistungspflichten.250 Eine solche besonders enge Verwandtschaft ist bei Bürgen und Grundschuldbesteller jedoch wegen des unterschiedlichen Inhalts der Haftung nicht gegeben. Dies bemerkt der BGH auch kurz am Ende der Entscheidung auf S. 187. Der Bürge schuldet persönlich, während der dingliche Sicherungsgeber nur mit seinem Grundstück haftet. Der BGH hätte dies aber ausführlicher prüfen können, bevor er eine Regelungslücke feststellt, zumal die neuere Rechtsprechung die Gleichheit des Schuldinhaltes in einigen Fällen weit auslegt251. Ob sich diese weite Auslegung noch innerhalb der Wortlautgrenzen des § 421 BGB bewegt, kann hier nicht erörtert werden. Es bleibt aber dabei, dass Bürge und Grundschuldbesteller nicht hinreichend gleichartig haften, um Gesamtschuldner zu sein. Die Frage, die sich anschließt, bevor man eine planwidrige Regelungslücke feststellen kann, ist diejenige nach einem eventuellen qualifizierten Schweigen des Gesetzes. Gegen ein qualifiziertes Schweigen und damit für eine Planwidrigkeit der Lücke spricht der oben beschriebene Regelungsgehalt hinsichtlich eines Regresses zwischen Bürgen und Grundschuldbesteller. Dadurch, dass gesetzlich kein Regress vorgesehen ist, kommt es in dem Sinne zu Zufallsergebnissen, als die Haftung immer denjenigen trifft, der zuerst vom Gläubiger in Anspruch genommen wird. Zufallsergebnisse sind aber in der Regel vom Gesetzgeber nicht gewollt. Diese Argumentation führt der BGH sehr ausführlich auf den S. 183 ff. aus. Auf S. 185 verweist er zudem im Sinne einer historischen Auslegung auf die Motive zum BGB, die nicht ergäben, dass der Gesetzgeber den Besteller einer Grundschuld, der nicht persönlicher Schuldner ist, ohne Regressmöglichkeit gegen Mitsicherer habe lassen wollen. Die Begründung der Planwidrigkeit der Lücke ist folglich inhaltlich überzeugend und erfolgt auch vor den lückenfüllenden Erwägungen, die auf S. 186 beginnen. Es wäre jedoch methodisch genauer gewesen, wenn der BGH auch deutlich gemacht hätte, dass es um die Prüfung des qualifizierten Schweigens geht. Auf S. 183 wird außerdem – für eine deutsche Entscheidung ungewöhnlich – die Lücke ausdrücklich erwähnt. Die Lücke wird damit zwar festgestellt, bevor das qualifizierte Schweigen geprüft wird. Dies lässt sich jedoch mit dem Urteilsstil erklären, der das Ergebnis einer nachfolgenden Prüfung voranstellt, und ist somit methodisch nicht problematisch. Eine kleine Ungenauigkeit in der Argumentation ergibt sich auf S. 184. Im Rahmen der Prüfung des gesetzlichen Regresses zwischen Bürgen und Grundschuldbesteller und der damit zusammenhängenden Frage des qualifizierten Schweigens wird die analoge Anwendung des § 1143 I BGB abgelehnt. Das ist zwar inhaltlich zutreffend, methodisch aber eine Frage der Lückenfüllung. Das qualifizierte Schweigen wird jedoch mit Auslegungsmitteln verneint, so dass man sich noch 250 251
Palandt-Grüneberg § 421 Rn. 6. Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, § 35 II. 4. (Rn. 926).
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im Auslegungsbereich befindet. Die Analogie gehört damit nicht an diese Stelle der Argumentation. Zudem ist eine Tendenz erkennbar, die Analogie als Gesetzesanwendung zu betrachten, da die Analogie zu § 1143 I BGB im Zusammenhang mit der direkten Anwendung der gesetzlichen Regressvorschriften geprüft wird. cc) Lückenfüllung Der Leitsatz auf S. 179 spricht von einer Ausgleichsverpflichtung zwischen mehreren auf gleicher Stufe stehenden Sicherungsgebern entsprechend den Regeln über die Gesamtschuld. Aus der Entscheidung selbst ergibt sich jedoch nicht eindeutig eine lückenfüllende Begründung anhand einer Analogie zu den Gesamtschuldregeln. Die eigentlichen lückenfüllenden Erwägungen, die der BGH im Rahmen des Urteilsstils schon auf S. 183 zusammenfasst, beginnen auf S. 186. In der Vorwegnahme des Ergebnisses auf S. 183 spricht der BGH zutreffend davon, auf das Verhältnis von Bürge und Grundschuldbesteller den hinter § 426 I BGB stehenden allgemeinen Rechtsgedanken einer anteiligen Haftung anzuwenden. Er zieht jedoch schon hier den „Grundsatz der ausgleichenden Gerechtigkeit“ heran, der eine analoge Anwendung des § 426 I BGB gebiete252. Der Grundsatz der ausgleichenden Gerechtigkeit ist ein rechtsphilosophischer Begriff, der auf Aristoteles zurückgeht.253 Einen Ausgleich kann man aber nur vornehmen, wenn man vorher festgestellt hat, dass zwei Güter oder zwei Sachverhalte gleichwertig sind.254 Diese Gleichwertigkeit stellt man fest, wenn man § 426 I 1 BGB auf zwei Sicherungsgeber analog anwendet. Diese werden wie Gesamtschuldner behandelt und sind so in Bezug auf ihre Einstandspflicht gegenüber dem Sicherungsnehmer gleichwertig. Auch der Ausgleich zwischen den Sicherungsgebern selbst ergibt sich dann aus § 426 I 1 BGB. Durch die analoge Anwendung von § 426 I 1 BGB auf zwei Sicherungsgeber wird also bereits dem Grundsatz der ausgleichenden Gerechtigkeit genüge getan. Damit ist es nicht mehr nötig, auf diesen Grundsatz zurückzugreifen. Dieser ist vielmehr nur ein Scheinargument. Er dient der Bekräftigung des Ergebnisses und überdeckt die Grenzen der Analogie, indem er scheinbar Legitimität schafft. Auf S. 186 sagt der BGH weiterhin, dass der „allgemeine Rechtsgedanke“ anzuwenden sei, dass mehrere, auf gleicher Stufe stehende Sicherungsgeber ohne eine zwischen ihnen getroffene Vereinbarung untereinander entsprechend den Gesamtschuldregeln (§ 426 Abs. 1 BGB) zur Ausgleichung verpflichtet seien. Einen solchen allgemeinen Rechtsgedanken außerhalb von § 426 I BGB gibt es jedoch nicht. 252 253 254
So auch Bayer/Wandt JuS 1987, S. 271 ff. (S. 274). Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch V Kapitel VII 1132a (S. 170 f.). Zippelius, Rechtsphilosophie, § 16 II. 2. (S. 89).
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Möchte man das Problem des Ausgleichs der Sicherungsgeber über eine Analogie zu § 426 I 1 BGB lösen, ergibt sich vielmehr die folgende Argumentation. Die Vorschrift des § 426 I 1 BGB enthält den allgemeinen Rechtsgedanken, dass Personen, die gleichrangig dasselbe Risiko abdecken, einander zum Ausgleich verpflichtet sind. Dieser Rechtsgedanke erfasst damit gleichrangige Sicherungsgeber, also auch Bürgen und Grundschuldbesteller. Ein Ausgleich zwischen diesen Sicherungsgebern ist folglich über eine Analogie zu § 426 I 1 BGB möglich. Diese Begründung deutet der BGH – wie weiter oben festgestellt – auf S. 183 an. Auf S. 186 sagt er aber nicht deutlich, dass er seine Lösung über eine Analogie gewinnt und leitet die Analogie vor allem nicht zutreffend her. Er spricht vielmehr von einem allgemeinen Rechtsgedanken, der fordere, dass § 426 I BGB analog anzuwenden sei. Ein solcher allgemeiner Rechtsgedanke hat jedoch keinerlei rechtliche Grundlage und ist daher als Leerformel zu qualifizieren. An dieser Begründung zeigt sich eine Tendenz des BGH, auf Scheinargumente zurückzugreifen, obwohl er im vorliegenden Fall mit der Analogie zu § 426 I 1 BGB eine gute gesetzesnahe Begründungsmöglichkeit zur Verfügung hat. Auch hier überdeckt das Zurückgreifen auf eine Leerformel die Grenzen der Analogie. Eine zutreffende Erwägung zur Analogie findet sich aber wieder auf S. 186 f. Die innere Rechtfertigung dafür, verschiedenen Sicherungsgebern gegenseitige Ausgleichsansprüche zuzubilligen, sei diejenige, dass die Sicherungsgeber, die gleichrangige Sicherheiten gewährten, den gemeinsamen Zweck verfolgten, die Hauptschuld zu sichern. Damit wird auf den hinter § 426 I 1 BGB stehenden Rechtsgedanken Bezug genommen, dass Personen, die gleichrangig dasselbe Risiko abdecken, einander zum Ausgleich verpflichtet sind. Weiterhin führt der BGH auf S. 186 das zutreffende systematische Argument an, dass die §§ 774, 1143, 1225 BGB zeigten, dass dem Gesetz Ausgleichsansprüche zwischen Mitsicherern nicht fremd seien. Vor dem Hintergrund dieser Vorschriften leitet der BGH auf S. 186 die Ausgleichspflicht aber aus den schuldrechtlichen Sicherungsverträgen zwischen dem Gläubiger und den Sicherungsgebern über § 242 BGB her. Die schuldrechtlichen Sicherungsverträge werden aber nur zwischen den jeweiligen Sicherungsgebern und dem Sicherungsnehmer geschlossen. Ein Ausgleich unter den Sicherungsgebern lässt sich aus ihnen folglich nicht herleiten. Auch aus § 242 BGB lässt sich keine Ausgleichspflicht ableiten, denn dieser setzt von seinem Wortlaut her ein Schuldverhältnis voraus. Zwischen den verschiedenen Sicherungsgebern besteht aber kein Schuldverhältnis. Es besteht gar kein Rechtsverhältnis zwischen ihnen. Indem der BGH § 242 BGB dennoch anwendet, benutzt er ihn als allgemeine Rechtsschöpfungsnorm, die die eigene Wertung des Richters verdeckt und ihr einen Anschein von Legitimität verleiht. Im vorliegenden Fall ist das besonders schade, weil es mit der Analogie zu § 426 I 1 BGB eine adäquate Möglichkeit der Rechtsfortbildung gibt, die der BGH auch schon
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andenkt. Der Rückgriff auf § 242 BGB führt hier dazu, die Grenzen dieser Analogie zu verdecken. Die Lösung ist, wie oben angedeutet, eine Gesetzesanalogie zu § 426 I 1 BGB.255 Die Vorschrift des § 426 I 1 BGB bestimmt, dass die Gesamtschuldner im Verhältnis zueinander zu gleichen Anteilen verpflichtet sind. Bei dem Verhältnis zwischen zwei Sicherungsgebern müsste es sich also um eine der Gesamtschuld ähnliche Situation handeln. Die Gesamtschuld ist in § 421 S. 1 BGB definiert. Diese Regelung setzt voraus, dass mehrere eine Leistung in der Weise schulden, dass jeder die ganze Leistung zu bewirken verpflichtet, der Gläubiger die Leistung aber nur einmal zu fordern berechtigt ist. Oben unter bb) wurde bereits festgestellt, dass eine Identität der Leistungspflichten, also „eine Leistung“, bei verschiedenen Sicherungsgebern nicht vorliegt. Für eine analoge Anwendung der Gesamtschuldregeln genügt es jedoch, wenn die übrigen Voraussetzungen des § 421 S. 1 BGB erfüllt sind, immer unter der Prämisse, dass der Grundschuldbesteller nicht persönlich schuldet, sondern mit seinem Grundstück haftet. Bei Bürgen und Grundschuldbesteller ist in diesem Sinne jeder die ganze Leistung zu bewirken verpflichtet. Wenn der Hauptschuldner nicht leisten kann, kann es sich der Gläubiger aussuchen, auf welche Sicherheit er zurückgreift. Als weitere Voraussetzung der Gesamtschuld kann man in diesem Zusammenhang die Gleichstufigkeit der Leistungspflichten begreifen.256 Diese liegt bei Schuldnern einer Primärleistung, die jeweils zur Bewirkung der ganzen Leistung verpflichtet sind, immer vor. Handelt es sich aber, wie im vorliegenden Fall, um den Bürgen und den Grundschuldbesteller als Sicherungsgeber, kann man die Frage der Gleichstufigkeit noch einmal gesondert diskutieren. Zum Teil wird vertreten, dass der Bürge zu bevorzugen sei.257 Letzten Endes muss man aber die Gleichstufigkeit bejahen, da Bürge und Grundschuldbesteller in gleicher Höhe haften, ihre Haftung also wirtschaftlich gleichwertig ist.258 Bürge und Grundschuldbesteller schulden so zwar nicht dieselbe Leistung, sie decken aber gleichrangig dasselbe Risiko ab. Zudem ist auch bei Bürgen und Grundschuldbesteller der Gläubiger die Leistung nur einmal zu fordern berechtigt. Im Verhältnis Grundschuldbesteller – persönlicher Schuldner gilt die Arglisteinrede des § 242 BGB gegen Doppelzahlung.259 Hat sich der Gläubiger aus der Grundschuld befriedigt, muss der persönliche Schuldner nicht mehr aus der Forderung zahlen. Gleiches muss für den einen Sicherungsgeber gelten, wenn sich der Gläubiger aus einer anderen Sicherheit befriedigt. Auch dann liegt eine Doppelzahlung vor, wenn der Gläubiger zwei Sicherungsgeber auf die gesamte Zahlung in Anspruch nehmen will. 255 Zur Argumentation und zu a.A. Kadner Graziano/Schmidt Jura 2007, S. 211 ff. (S. 216), und Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, § 35 III. 1. (Rn. 939 ff.) sowie zur älteren Literatur dieses Urteil S. 182 mit Nachweisen. 256 Palandt-Grüneberg § 421 Rn. 7 ff. m.N. 257 Zu dieser Meinung Kadner Graziano/Schmidt Jura 2007, S. 211 ff. (S. 216), und Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, § 35 III. 1. (Rn. 940) m.N. 258 MüKo-Eickmann § 1143 Rn. 21. 259 Baur/Stürner, SachenR, § 45 IV. 3. (Rn. 83).
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In beiden Fällen rechtfertigt sich die doppelt analoge Anwendung des § 242 BGB. Die Vorschrift des § 242 BGB kann man auf die Frage doppelt analog anwenden, „ob“ der Gläubiger eine Leistung fordern darf.260 Dabei geht es um redliches Verhalten innerhalb eines Schuldverhältnisses und nicht um die Nutzung des § 242 BGB als allgemeine Rechtsfortbildungsnorm261. Auch die Rechtsfolge einer rechtsvernichtenden Einwendung lässt sich aus einer analogen Anwendung des § 242 BGB ableiten. Wenn das „Ob“ der Forderung einer Leistung von § 242 BGB in der analogen Anwendung umfasst ist, sagt die Vorschrift, dass der Gläubiger eine Leistung nur zu fordern berechtigt ist, wenn dies Treu und Glauben entspricht. Derjenige, der nicht redlich ist, darf folglich die Leistung nicht fordern. Insgesamt lässt sich daher ein Ausgleich unter verschiedenen Sicherungsgebern über eine analoge Anwendung von § 426 I 1 BGB erreichen. dd) Ergebnis Die Grenzen der Auslegung werden bis auf kleinere Ungenauigkeiten in der Argumentation zutreffend festgestellt. Dabei ist festzuhalten, dass das Urteil – für eine deutsche Entscheidung ungewöhnlich – die Lücke ausdrücklich feststellt. Methodisch genauer wäre es noch gewesen, wenn der BGH sein methodisches Vorgehen bei der Bestimmung der Grenzen der Auslegung klarer gemacht hätte. Die Lückenfüllung besteht aus einer Kombination von Analogie zu § 426 I BGB, Leerformeln („Grundsatz ausgleichender Gerechtigkeit“, „allgemeiner Rechtsgedanke“) und § 242 BGB, aus dem sich das Ergebnis letztendlich herleiten soll. Dabei beschränkt sich der BGH nicht auf die Analogie, sondern versucht, sein Ergebnis zusätzlich anderweitig zu legitimieren. Daran zeigt sich ein gewisses Bewusstsein des Legitimitätsproblems. Die vom BGH herangezogenen „Grundsätze“ und § 242 BGB schaffen jedoch keine zusätzliche Legitimität. Sie ergänzen die Analogie nicht, sondern verdecken ihre Grenzen. Insgesamt enthält das Urteil viele gute Ansätze, der Rückgriff auf § 242 BGB verhindert aber letztlich eine aus Legitimitätsgesichtspunkten zutreffende Begründung.
12. Nichteheliche Lebensgemeinschaft – Eintrittsrecht in den Mietvertrag In der Entscheidung BGH NJW 1993, 999 vom 13. Januar 1993 bejaht der BGH ein Eintrittsrecht in den Mietvertrag für den überlebenden Partner einer nichtehe260 261
Dazu näher oben B. V. 1. c) aa). Zu Letzterem oben B. V. 1. c) bb).
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lichen Lebensgemeinschaft über eine Analogie zu der Regelung für Familienangehörige (§ 569a II BGB a.F. 262). a) BGH NJW 1993, 999 – Bejahung des Eintrittsrechts über eine Analogie zu der Regelung für Familienangehörige (§ 569a II BGB a.F.) (Beschluss vom 13. Januar 1993) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, ob der überlebende Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit dem Tod des Partners, der Mieter der gemeinsamen Wohnung war, in den Mietvertrag eintreten kann. In Frage käme dafür eine analoge Anwendung des § 569a II BGB a.F., der regelte, dass Familienangehörige, die einen gemeinsamen Hausstand mit dem Mieter führen, nach dessen Tod in das Mietverhältnis eintreten, sofern nicht ein Ehegatte in den Mietvertrag eintritt. Absatz 1 des § 569a BGB a.F. enthielt das Eintrittsrecht des Ehegatten. bb) Grenzen der Auslegung Der BGH beginnt seine Argumentation auf S. 1000 1. Spalte mit einer ausführlichen und überzeugenden Auslegung des § 569a II BGB a.F. und kommt zu dem Ergebnis, dass eine direkte Anwendung dieser Vorschrift auf die nichteheliche Lebensgemeinschaft nicht möglich sei. Er interpretiert dabei den in § 569a II BGB a.F. enthaltenen Begriff des Familienangehörigen. Dieser sei weit auszulegen, da es dem Normzweck entspreche, dem verstorbenen Mieter in besonderer Weise verbundenen Personen die Wohnung als Mittelpunkt der bisherigen Lebens- und Wirtschaftsführung zu erhalten. Gleichzeitig wendet sich der BGH gegen eine in der Literatur vertretene Auffassung263, nach der es allein auf die nahe persönliche Beziehung des überlebenden Partners zum verstorbenen Mieter ankomme und nicht auf die familienrechtliche Bindung, so dass auch die nichteheliche Lebensgemeinschaft umfasst sei. Er bedient sich der historischen Auslegung und zeigt die gesetzliche Entwicklung hin zu § 569a II BGB a.F.
262 § 569a BGB eingefügt durch das Zweite Gesetz zur Änderung mietrechtlicher Vorschriften [2. MietRÄndG] vom 14. Juli 1964 (BGBl. I S. 457); mit dem Gesetz zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften: Lebenspartnerschaften vom 16. Februar 2001 (BGBl. I S. 266, 269) aufgehoben und Eintritt in den Mietvertrag geregelt in § 569 BGB; mit dem Gesetz zur Neugliederung, Vereinfachung und Reform des Mietrechts (Mietrechtsreformgesetz) vom 19. Juni 2001 (BGBl. I S. 1149) Eintritt in den Mietvertrag nun geregelt in § 563 BGB. 263 Nachweise im Urteil S. 1000 1. Spalte weiter unten.
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auf.264 Nach der Vorstellung des historischen Gesetzgebers habe die Norm einen eheund familienrechtlichen Bezug gehabt. Zudem werde auch nach heutigem Sprachgebrauch der Begriff des Familienangehörigen nicht losgelöst von dem Begriff Familie verstanden, so dass der nichteheliche Lebenspartner in diesem Sinne nicht als Familienangehöriger gelte. Die nächste Frage, die man sich im Zusammenhang mit der Auslegung des § 569a II BGB a.F. stellen muss, ist diejenige, ob diese Vorschrift abschließend sein soll, ob also ein qualifiziertes Schweigen dahingehend vorliegt, dass ein Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft nicht in den Mietvertrag eintreten soll. Die Entscheidung spricht diese Frage im Rahmen ihrer lückenfüllenden Argumentation, die auf S. 1000 2. Spalte mittig beginnt, an. Die Tatsache, dass die nichteheliche Lebensgemeinschaft heute weitgehend gesellschaftlich toleriert werde, habe der Gesetzgeber im Jahre 1964 nicht voraussehen können, auch wenn sie ihm bereits bekannt gewesen sei. Diese Aussage kann man dahingehend verstehen, dass sich der damalige Gesetzgeber der zukünftigen Bedeutung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft nicht bewusst war und daher keine Regelung über sie getroffen hat. In diesem Fall läge kein qualifiziertes Schweigen vor. Genauso kann man aber daraus schließen, dass er dem Partner der nichtehelichen Lebensgemeinschaft bewusst kein Eintrittsrecht in den Mietvertrag zugestanden hat, weil ihm die nichteheliche Lebensgemeinschaft nicht bedeutend genug erschien. In diesem Fall müsste man ein qualifiziertes Schweigen bejahen. Dass die nichteheliche Lebensgemeinschaft zur Zeit des hier analysierten Urteils an Bedeutung gewonnen hat, rechtfertigt keine andere Annahme, da für die Bestimmung des qualifizierten Schweigens entscheidend ist, wie der damalige Gesetzgeber die Norm verstanden hat. Aus der Argumentation des Urteils lässt sich also nicht ableiten, wie der damalige Gesetzgeber zur nichtehelichen Lebensgemeinschaft stand. Auch aus dem Wortlaut des § 569a II BGB a.F. lässt sich kein Hinweis darauf ersehen, ob dieser abschließend sein sollte oder nicht. Da es kein eindeutiges Argument für ein qualifiziertes Schweigen gibt, muss man erst einmal davon ausgehen, dass eine Rechtsfortbildung möglich ist. Eine vollständige Prüfung hätte aber erfordert, dass die Entscheidung versucht, der Lösung dieses Problems mit historischen Argumenten näher zu kommen. cc) Lückenfüllung Die Entscheidung erwähnt das Vorliegen einer Regelungslücke im Rahmen ihrer lückenfüllenden Argumentation auf S. 1000 2. Spalte weiter unten, und zwar indirekt, indem sie einen Standpunkt des Bundesverfassungsgerichts wiedergibt. Me-
264 Aufzählung der dem § 569a II BGB a.F. vorangegangenen Regelungen mit Fundstellen im Urteil S. 1000 1. Spalte unten.
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thodisch genauer wäre es gewesen, wenn der BGH die Lücke nach der Prüfung des qualifizierten Schweigens direkt als eigene Schlussfolgerung festgestellt hätte. Vor der Lückenfüllung stellt sich jedoch zusätzlich die Frage, ob man im Hinblick auf die nichteheliche Lebensgemeinschaft von einer Gesetzeslücke oder nicht eher von einem rechtsfreier Bereich265 sprechen muss, ob es sich also um ein Gebiet handelt, in dem noch keine gesetzlichen Regelungen vorliegen. Die Entscheidung spricht diese Frage im Rahmen ihrer lückenfüllenden Argumentation auf S. 1000 2. Spalte weiter unten an, und zwar wieder indirekt, indem sie eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zitiert. Bei einer analogen Anwendung des § 569a II BGB a.F. ersetze der Richter nicht in unzulässiger Weise eine Grundsatzentscheidung des Gesetzgebers durch eine richterliche. Der Gesetzgeber selbst habe das privatautonome Auswahlrecht des Vermieters in Bezug auf den Vertragspartner zugunsten bestimmter Personengruppen eingeschränkt, die mit dem verstorbenen Mieter einen gemeinsamen Hausstand hätten. Es gibt also im Mietrecht bereits eine gesetzliche Regelung, die die nichteheliche Lebensgemeinschaft von ihrem Sinn und Zweck her betrifft. Das ist ein mietrechtliches Argument gegen das Vorliegen eines rechtsfreien Bereichs. Die Gerichte scheinen hier allerdings davon auszugehen, dass der Richter keine Grundsatzentscheidungen anstelle des Gesetzgebers treffen darf. Das ist aufgrund des Gewaltenteilungsgrundsatzes prinzipiell auch richtig. Wenn der Gesetzgeber – wie beim rechtsfreien Bereich – jedoch untätig bleibt, muss der Richter aufgrund des Rechtsverweigerungsverbotes entscheiden266 und auch Grundsatzentscheidungen treffen, wenn es der Gesetzgeber nicht tut. Geht man von der Frage der Regelung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft an sich aus, kann man – wie es die Entscheidung auf S. 1000 2. Spalte weiter unten tut – auf § 122 BSHG a.F.267 und § 137 II a AFG a.F.268 zurückgreifen. Die Vorschrift des § 122 BSHG a.F. regelt den Bezug von Sozialhilfe von Personen, die in einer eheähnlichen Gemeinschaft leben, und § 137 II a AFG a.F. regelt die Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen von Personen, die in einer eheähnlichen Gemeinschaft leben, hinsichtlich des Bezuges von Arbeitslosenhilfe. Die Entscheidung sagt in diesem Zusammenhang, der Gesetzgeber habe die nichteheliche Lebensge265
Dazu oben B. IV. 2. Dazu oben B. IV. 2. a.E. 267 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) vom 30. Juni 1961 (BGBl. I S. 815, ber. S. 1875) in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. Januar 1987 (BGBl. I S. 401, 494). Die zur Zeit des Urteils gültige Fassung von § 122 BSHG ist u. a. abgedruckt in Beck’sche Textausgaben, Bundessozialhilfegesetz, 23. Aufl., München 1989. Das Sozialhilferecht ist heute geregelt im Sozialgesetzbuch (SGB) Zwölftes Buch (XII) – Sozialhilfe – vom 27. Dezember 2003 (BGBl. I S. 3022). 268 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) vom 25. Juni 1969 (BGBl. I S. 582). Die zur Zeit des Urteils gültige Fassung von § 137 II a AFG ist u. a. abgedruckt in Gagel, Alexander, Arbeitsförderungsgesetz mit AFG-Leistungsverordnung usw., Beck-Texte im dtv, 18. Aufl., München 1990. Das Arbeitsförderungsrecht ist heute geregelt im Sozialgesetzbuch (SGB) Drittes Buch (III) – Arbeitsförderung – vom 24. März 1997 (BGBl. I S. 594). 266
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meinschaft als Form des Zusammenlebens von Mann und Frau zur Kenntnis genommen und rechtliche Folgen an ihre Existenz geknüpft. Das ist eine überzeugende Argumentation. Da bereits Regelungen zur nichtehelichen Lebensgemeinschaft vorliegen, kann man nicht mehr von einem grundsätzlich ungeregelten Gebiet und damit von einem rechtsfreien Bereich sprechen. Die Entscheidung führt dieses Argument aber im Rahmen ihrer sonstigen lückenfüllenden Argumentation auf und macht nicht deutlich, dass es um die Frage des rechtsfreien Bereichs geht. Die Frage des rechtsfreien Bereichs ist jedoch eine Vorfrage zur Lückenfüllung, da sich daraus die Art und Weise der Rechtsfortbildung und eventuell eine besondere Begründungspflicht ergeben269. Die Entscheidung spricht das Problem aber an und zeigt damit ein gewisses Bewusstsein des Legitimitätsproblems. Dies jedoch nur in Bezug auf den Extremfall des rechtsfreien Bereichs, in dem eine Rechtsfortbildung grundsätzlich nicht legitimiert ist270. Später, auf S. 1001 1. Spalte oben, wird zusätzlich erwähnt, dass auf dem 57. Deutschen Juristentag hinsichtlich der in diesem Urteil zu entscheidenden Rechtsfrage nicht an ein Eingreifen des Gesetzgebers, sondern an richterliche Rechtsfortbildung gedacht worden sei. Dazu ist zu sagen, dass der Juristentag keine Legitimation dafür besitzt, den Gerichten in einem bestimmten Gebiet eine Rechtsfortbildungskompetenz zuzuweisen. Diese ist dann gegeben, wenn eine planwidrige Regelungslücke oder ein rechtsfreier Bereich vorliegen. Die Bezugnahme auf den Juristentag ist daher als ein die Rechtsfortbildung nur scheinbar legitimierendes Argument zu bewerten. Die eigentliche Lückenfüllung nimmt die Entscheidung auf S. 1001 1. Spalte über eine Analogie zu § 569a II BGB a.F. vor. Sie hebt dabei auf Partnerschaften ab, die eine so weitgehende Ähnlichkeit mit einer Ehe oder sonstigen familiären Beziehungen aufwiesen, dass das Fehlen einer „formalen“ rechtlichen Bindung die analoge Anwendung des § 569a II BGB a.F. nicht ausschließen könne. Bei außerehelichen Gemeinschaften könnten die partnerschaftlichen Bindungen im Sinne einer Verantwortung- und Einstehungsgemeinschaft den auf Ehe oder Verwandtschaft beruhenden Bindungen so ähnlich sein, dass sie eine – partielle – rechtliche Gleichbehandlung geböten. Es sei nicht gerechtfertigt, die Partner solcher „eheähnlichen Gemeinschaften“ ungünstiger zu stellen als Verwandte oder Verschwägerte. Der BGH spricht bei seinen Erwägungen zur Analogie von der Ähnlichkeit der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit der Ehe. Medicus271 merkt dazu an, dass man dann sogar an eine Analogie zu § 569a I BGB a.F. denken könne, da dieser das Eintrittsrecht des Ehegatten regele. Insofern ist der BGH bei seiner Herleitung der 269 270 271
Dazu oben B. IV. 2. a.E. s. o. Medicus, Anm. zu diesem Beschluss, JZ 1993, S. 952 ff. (S. 953).
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Analogie etwas ungenau. In den oben wiedergegebenen Sätzen spricht er jedoch neben der Eheähnlichkeit auch von der Ähnlichkeit zu einer „sonstigen familiären Beziehung“ oder zu Verwandtschaft oder Schwägerschaft. Man kann also die Erwägungen zur Eheähnlichkeit so verstehen, dass die Bindungen in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft so eng sind, dass jemand im Sinne des § 569a II BGB a.F. „zur Familie gehört“. Medicus ist aber insofern zuzustimmen, als der BGH mit dem Kriterium der Eheähnlichkeit etwas zu weit argumentiert und man dabei tatsächlich an eine Analogie zu § 569a I BGB a.F. denken müsste. Würde man aber § 569a I BGB a.F. auf die nichteheliche Lebensgemeinschaft analog anwenden, würde der überlebende Lebensgefährte gem. § 569a II 2 BGB a.F. vorrangig vor anderen Familienangehörigen des Verstorbenen eintreten. Diese Konsequenz wollte der BGH wahrscheinlich vermeiden. Zur Definition der nichtehelichen Lebensgemeinschaft zieht der BGH auf S. 1001 2. Spalte oben einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts272 heran, nach dem eine eheähnliche Gemeinschaft eine Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau voraussetze, die auf Dauer angelegt sei, daneben keine weitere Lebensgemeinschaft gleicher Art zulasse und sich über Bindungen auszeichne, die ein gegenseitiges Einstehen der Partner füreinander begründeten, also über die Beziehungen in einer reinen Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft hinausgingen. Hier wäre es wichtig gewesen, darauf einzugehen, ob und gegebenenfalls wie das Bundesverfassungsgericht diesen Begriff rechtlich herleitet. Auch das Bundesverfassungsgericht muss bei der Rechtsfortbildung gesetzes- oder verfassungsnah begründen und untergeordnete Gerichte müssen sich auf diese Begründungen der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts beziehen. Auch hinsichtlich der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sind also Pauschalverweise auf Vorentscheidungen vom Standpunkt einer am Legitimitätsgedanken orientierten Lückenfüllung aus abzulehnen. Der BGH kann den Begriff der nichtehelichen Lebensgemeinschaft nur im Rahmen seiner Erwägungen zur Analogie zu § 569a II BGB a.F. definieren, da er nur über diese Frage entscheidet. Hier geht es – wie oben erwähnt – nicht um die Eheähnlichkeit, sondern um die Ähnlichkeit zu sonstigen Familienangehörigen. Die Verbindung von Familienangehörigen untereinander ist rechtlich auf Dauer angelegt. Ein besonderes Füreinander-Einstehen ist wünschenswert, aber nicht Voraussetzung für das Bestehen verwandtschaftlicher Beziehungen. Das einzige signifikante Kriterium ist also die Dauerhaftigkeit der Beziehung, die man bei einer analogen Anwendung auf die nichteheliche Lebensgemeinschaft für diese ebenfalls fordern muss. So hält es auch die heutige Regelung zum Eintrittsrecht des Lebensgefährten in § 563 II 3 BGB. Dort ist von Personen die Rede, die mit dem Mieter einen auf Dauer angelegten gemeinsamen Hausstand führen. Diese Personen treten gegenüber einem 272
BVerfG NJW 1993, 643.
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Ehepartner oder Lebenspartner nachrangig und mit Kindern und anderen Familienangehörigen gleichrangig ein, sofern ein Ehegatte oder Lebenspartner fehlt.273 Zudem gehen das BVerfG und damit auch der BGH von einer Beziehung zwischen Mann und Frau aus und schließen damit gleichgeschlechtliche Bindungen aus. Dies ist jedoch mit dem Sinn und Zweck des § 569a BGB a.F. nicht zu vereinbaren.274 Dort geht es darum, diejenigen zu schützen, die mit dem Mieter einen gemeinsamen Hausstand geführt und zu ihm eine besondere Verbindung gehabt haben. Beide Voraussetzungen sind vom Geschlecht der Partner unabhängig. Nach dem Geschlecht zu differenzieren, ist nicht Zweck des Mietrechts. Hätte der BGH die Definition der nichtehelichen Lebensgemeinschaft aus der analogen Anwendung des § 569a II BGB a.F. abgeleitet, anstatt die Definition des Bundesverfassungsgerichts zu übernehmen, hätte er vielleicht zu diesem Ergebnis kommen müssen. Mittlerweile ist es möglich, dass Personen gleichen Geschlechts nach dem Lebenspartnerschaftsgesetz275 eine Lebenspartnerschaft begründen. Solche Lebenspartner haben jetzt gem. § 563 I BGB dasselbe Eintrittsrecht in den Mietvertrag wie Ehegatten. Die analoge Anwendung des § 569a II BGB a.F. war zur Zeit der Entscheidung umstritten.276 Wesentliches Argument dagegen waren Schwierigkeiten der Abgrenzung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft von anderen Formen des Zusammenlebens und damit die fehlende Rechtssicherheit.277 Der BGH geht auf S. 1001 1. Spalte unten und 2. Spalte auf diese Problematik ein. Er zieht den oben erwähnten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts278 heran, der die nichteheliche Lebensgemeinschaft definiert hat, und sagt, dass damit für die Rechtspraxis der Begriff in einer die gebotene Rechtssicherheit gewährleistenden Weise handhabbar sei. Die mit der Definition der nichtehelichen Lebensgemeinschaft verbundenen Rechtsunsicherheiten wögen nicht so schwer, dass sie einer Analogie entgegenstehen müssten. Das Argument der Rechtssicherheit kann man im Sinne Radbruchs als ein zulässiges übergesetzliches Argument werten.279 Zudem kann man es aus dem in 273
Palandt-Weidenkaff § 563 Rn. 17 f. So auch Soergel-Heintzmann (12. Aufl. 1998) § 569a Rn. 6. 275 Gesetz über die Eingetragene Lebenspartnerschaft (Lebenspartnerschaftsgesetz – LPartG) vom 16. Februar 2001 (BGBl. I S. 266), abgedruckt in Schönfelder, Deutsche Gesetze, Nr. 43. 276 Nachweise zum Meinungsstand bei Löhnig FamRZ 2001, S. 891 Fn. 5, StaudingerSonnenschein (13. Bearb. 1997) § 569a Rn. 30, und MüKo-Voelskow (3. Aufl. 1995) § 569a Rn. 9 Fn. 9. 277 Medicus, Anm. zu diesem Beschluss, JZ 1993, S. 952 ff. (S. 953); Staudinger-Sonnenschein (13. Bearb. 1997) § 569a Rn. 32. 278 s. o. Fn. 272. 279 s. o. B. III. 2. b) aa). 274
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Art. 20 III GG enthaltenen Rechtsstaatsprinzip ableiten.280 Es handelt sich bei dem Prinzip der Rechtssicherheit damit um einen formalen übergesetzlichen oder verfassungsrechtlichen Grundsatz, der bei jeder Lückenfüllung beachtet werden muss.281 Daraus folgt, dass sich auch eine Lösung, die über eine Analogie gefunden wird, daran messen lassen muss, ob sie in genügender Weise Rechtssicherheit schafft. Bedenken bei der Rechtssicherheit können unter Umständen eine Analogie ausschließen. Die Entscheidung geht hier also in zutreffender Weise vor. Dass sie letztlich zu dem Ergebnis kommt, dass die Bedenken bei der Rechtssicherheit nicht schwer genug wiegen, um die Analogie auszuschließen, kann man zum einen mit der oben diskutierten Definition des BVerfG und damit der Bestimmbarkeit der nichtehelichen Lebensgemeinschaft begründen. Aber auch wenn man für die nichteheliche Lebensgemeinschaft nur das Kriterium der Dauer zugrundelegt und auf die Eheähnlichkeit verzichtet, werden davon zwar vielfältigere Beziehungen erfasst, diese sind jedoch durch dieses Kriterium als den familiären Beziehungen ähnliche Verbindungen hinreichend bestimmbar. Der BGH geht auf die oben beschriebene Analogie (S. 1001 1. Spalte) erst ein, nachdem er schon andere lückenfüllende Erwägungen angestellt hatte. Auf S. 1000 2. Spalte mittig spricht er davon, dass die nichteheliche Lebensgemeinschaft gesellschaftlich weitgehend toleriert werde. Die gesellschaftliche Anerkennung könnte eine gewisse subjektive Legitimation beinhalten in dem Sinne, dass eine Mehrheit der Bevölkerung der Tatsache zustimmt, dass an eine nichteheliche Lebensgemeinschaft rechtliche Folgen geknüpft werden sollen. Um dieses Argument vollständig zu machen, müsste die Entscheidung aber konkrete Zahlen anfügen, wieviel Prozent der Gesellschaft die nichteheliche Lebensgemeinschaft tatsächlich anerkennen. Nur wenn dies über fünfzig Prozent sind, kann man nach dem Mehrheitsprinzip282 von einer subjektiven Legitimation sprechen. Ansonsten handelt es sich um eine nicht nachgewiesene Behauptung. Auf S. 1000 2. Spalte weiter unten argumentiert der BGH zudem mit der Anerkennung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft durch die Zivilgerichte und das Bundesverfassungsgericht. Sofern aber nicht konkret auf die Begründungen entsprechender Vorentscheidungen hinsichtlich der analogen Anwendung von § 569a II BGB a.F. eingegangen wird, können diese Verweise nicht der Legitimation der Argumentation des BGH dienen. Vom Bundesverfassungsgericht wird – wie oben erwähnt – nur ein Argument zur Verneinung des rechtsfreien Bereichs übernommen. Die BGH-Entscheidungen, die zitiert werden, beziehen sich auf andere Bereiche, in denen die nichteheliche Lebensgemeinschaft anerkannt worden ist.
280 281 282
s. o. s. o. Zum Mehrheitsprinzip und dessen Schwächen s. o. B. I. a.E.
I. Urteilsanalysen Deutschland
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Nach der Begründung der Analogie führt der BGH weitere lückenfüllenden Argumente an (S. 1001 1. Spalte mittig). Weder mit den allgemein herrschenden Wertvorstellungen und der bei weiten Teilen der Bevölkerung grundlegend geänderten Einstellung zu Ehe und Familie noch mit den tatsächlichen Familienstrukturen sei es zu vereinbaren, dem langjährigen Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft ein Eintrittsrecht in den Mietvertrag zu versagen. Die allgemein herrschenden Wertvorstellungen und die geänderte Einstellung der Bevölkerung sind dabei genauso zu werten wie die oben behandelte „gesellschaftliche Anerkennung“. Solange das Argument nicht mit Zahlen konkretisiert wird, fehlt es an der subjektiven Legitimation. Die „tatsächlichen Familienstrukturen“ sind ein Tatsachenargument, aus dem sich keine Schlüsse für die rechtliche Behandlung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft ziehen lassen. Schließlich wirft der BGH auf S. 1000 2. Spalte unten kurz die Vereinbarkeit der Analogie zu § 569a II BGB a.F. mit Art. 6 I GG auf. Diese wird mit dem Hinweis auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bejaht. Analogien zu einfachem Recht müssen in der Tat mit dem höherrangigen Recht des Grundgesetzes vereinbar sein. Damit man sich ein Urteil darüber bilden kann, ob diese Auslegung von Art. 6 I GG nach methodischen Regeln erfolgt und überzeugend ist, hätte der BGH aber entweder selbst begründen oder darstellen müssen, wie das Bundesverfassungsgericht Art. 6 I GG in Bezug auf die nichteheliche Lebensgemeinschaft auslegt. dd) Ergebnis Die Auslegung von § 569a II BGB a.F. wird zutreffend und ausführlich vorgenommen. Das Problem des qualifizierten Schweigens deutet der BGH nur an, prüft es aber nicht. Das Bestehen einer Lücke wird erwähnt, jedoch nicht zu Beginn der lückenfüllenden Argumentation. Auch die Frage des Bestehens eines rechtsfreien Bereichs wird nur kurz angedeutet und nicht ausdrücklich geprüft. Das Hauptargument für die Lückenfüllung ist die Analogie zu § 569a II BGB a.F., die überzeugend vorgenommen wird. Lediglich hinsichtlich der Voraussetzung der „Eheähnlichkeit“ argumentiert der BGH ein wenig zu weit. Die Erwägungen hinsichtlich der Rechtssicherheit der gefundenen Lösung erfolgen methodisch an der richtigen Stelle und enthalten eine überzeugende Argumentation. Zusätzliche zur Lückenfüllung verwandte Argumente werden zum Teil vor und zum Teil nach den Erwägungen zur Analogie angeführt. Von diesen Argumenten hat lediglich die „gesellschaftliche Anerkennung“ Potential zur subjektiven Legitimation. Dieses Argument wird von der Entscheidung aber nicht konkret gemacht und bleibt so eine Behauptung. Dazu kommt der Verweis auf Vorentscheidungen der Zivilgerichte, ohne deren Argumentation konkret für die eigene zu nutzen. Die Frage der Vereinbarkeit einer Analogie zu § 569 a II BGB a.F. mit Art. 6 I GG wird mit dem Hinweis auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bejaht.
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Insgesamt ist zu sagen, dass die Entscheidung alle wichtigen Begründungsschritte teils ausdrücklich und teils als Andeutung enthält. Es fehlt aber der für die Rechtsfortbildung notwendige methodische rote Faden, der die einzelnen Begründungsschritte in ihrer methodischen Bedeutung benennt und in der richtigen Reihenfolge aufeinanderfolgen lässt. Hier wäre die Anleitung des Richters durch eine Lückenfüllungsnorm hilfreich.
II. Ergebnisse Deutschland Im Rahmen der Ergebnisse sollen die Urteilsanalysen ausgewertet werden. Um dem rechtsphilosophischen Ansatz der Arbeit gerecht zu werden, soll zunächst der Frage nachgegangen werden, inwieweit in Deutschland ein Bewusstsein des Legitimitätsproblems bei der Lückenfüllung besteht, auch um später feststellen zu können, ob überhaupt und wenn ja in welchem System ein solches Bewusstsein eher vorhanden ist. Im Folgenden soll – als wesentlicher Teil – geprüft werden, wie die untersuchten Entscheidungen bei der Bestimmung der Grenzen der Auslegung und der Lückenfüllung vorgehen.
1. Bewusstsein des Legitimitätsproblems in der Lücke Die Frage ist, ob es in der deutschen Rechtsprechung trotz Fehlens einer Lückenfüllungsnorm ein gewisses Bewusstsein des Legitimitätsproblems in der Lücke gibt. Ein Bewusstsein des Legitimitätsproblems in der Lücke setzt zunächst voraus, dass diese überhaupt erwähnt wird. Daher soll untersucht werden, wie oft in den untersuchten deutschen Entscheidungen das Vorliegen einer Lücke ausdrücklich festgestellt wird. Zudem soll geprüft werden, in welchem Maße in den deutschen Entscheidungen allgemein ein Bewusstsein des Legitimitätsproblems zu erkennen ist. a) Hinweis auf die Lücke Im Folgenden werden die deutschen Entscheidungen aufgeführt, die die Lücke erwähnen bzw. sie nicht erwähnen. Um das deutsche System ohne Lückenfüllungsnorm später mit dem schweizerischen System mit Lückenfüllungsnorm vergleichen zu können, soll außerdem festgestellt werden, welche Auswirkungen das Erwähnen der Lücke auf die weitere Vorgehensweise hinsichtlich der Grenzen der Auslegung und der Lückenfüllung hat. Bei den Entscheidungen, die die Lücke nennen, wird deshalb kurz angesprochen, wie die Bestimmung der Grenzen der Auslegung und die Lückenfüllung vorgenommen werden.
II. Ergebnisse Deutschland
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aa) Die Lücke wird erwähnt Ausdrücklich erwähnt wird das Vorliegen einer Lücke nur in fünf der zwanzig untersuchten Entscheidungen und zwar in BGHZ 36, 252, RGZ 95, 58, BGHZ 9, 157, BGHZ 108, 179 und BGH NJW 1993, 999. Damit wird nur in 25 % der untersuchten Entscheidungen auf die Lücke hingewiesen. Ausdrücklich am Anfang der Entscheidung erwähnt der BGH die Lücke in BGHZ 9, 157. Die Bestimmung der Grenzen der Auslegung ist dann auch bis auf Ungenauigkeiten hinsichtlich der Reihenfolge der Argumente, v. a. in Bezug auf die vertragsrechtliche Argumentation, überzeugend. Bei der Lückenfüllung aber verdeckt der BGH die Grenzen der Rechtsanalogie, indem er den erst abzuleitenden Grundsatz schon als bestehend darstellt und so vorgibt, Deduktion statt Induktion zu betreiben. Auch die Entscheidung RGZ 95, 58 enthält einen Hinweis auf die Lücke zu Anfang der Begründung, auch wenn das Wort „Lücke“ nicht verwendet wird. Die Grenzen der Auslegung werden daraufhin zutreffend bestimmt. Bei der lückenfüllenden Begründung greift das Reichsgericht jedoch nicht eindeutig auf eine Rechtsanalogie zurück, sondern argumentiert zusätzlich mit Treu und Glauben. Die Entscheidung BGH NJW 1993, 999 erwähnt die Lücke im Rahmen ihrer lückenfüllenden Argumentation indirekt über die Wiedergabe eines Standpunktes des Bundesverfassungsgerichts. Die Grenzen des Gesetzesrechts werden zutreffend und ausführlich geprüft. Die Lückenfüllung erfolgt über eine gut begründete Analogie und wird nur teilweise durch scheinlegitime Methoden ergänzt. In BGHZ 108, 179 wird die Lücke ausdrücklich erwähnt. Die Grenzen der Auslegung werden bis auf kleinere Ungenauigkeiten zutreffend bestimmt. Der lückenfüllenden Begründung fehlt es aber an Klarheit im Aufbau. Das Ergebnis versucht der BGH aus § 242 BGB und dem „Grundsatz der ausgleichenden Gerechtigkeit“ herzuleiten, obwohl eine Analogie möglich gewesen wäre. In BGHZ 36, 252 wird vom „lückenausfüllenden Charakter“ des Rechts am Gewerbebetrieb gesprochen und damit auf die Lücke hingewiesen. Die Entscheidung fordert sodann zur Bestimmung der Grenzen der Auslegung auf. Eine eigentliche lückenfüllende Begründung fehlt aber. Die Entscheidung übernimmt das Recht am Gewerbebetrieb vielmehr aus Vorentscheidungen. Insgesamt gibt es nur fünf von zwanzig untersuchten Entscheidungen, wo auf das Lückenproblem ausdrücklich aufmerksam gemacht wird. In allen Entscheidungen werden darauf die Grenzen der Auslegung nach hier vertretener Ansicht zutreffend bestimmt. Unklarheiten bei der Grenzbestimmung, v. a. in der Reihenfolge der Argumentation, gibt es aber auch hier. Von der lückenfüllenden Begründung entspricht nur BGH NJW 1993, 999 dem hier zugrunde gelegten Konzept einer am Legitimitätsgedanken ausgerichteten Lückenfüllung. Es gibt also keinen Zusammenhang zwischen der Erwähnung der Lücke und einer dem Legitimitätsprinzip entsprechenden Lückenfüllung [ausführlicher dazu unten 3. e) aa)].
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bb) Die Lücke wird nicht erwähnt In den restlichen fünfzehn untersuchten Entscheidungen RGZ 56, 271, BGHZ 69, 128, RGZ 65, 292, RGZ 117, 164, BGH MDR 1953, 345, BGHZ 65, 13, RGZ 106, 22, BGHZ 11, 80, RGZ 127, 218, BGHZ 56, 269, RGZ 144, 22, RGZ 155, 148, BGHZ 22, 90, BGHZ 51, 91 und BGHZ 97, 135 wird die Lücke nicht erwähnt. In acht Entscheidungen ist der Grund dafür, dass die Lücke nicht erkannt wird. Das hat verschiedene Ursachen. In RGZ 117, 164 und RGZ 106, 22 versucht das Reichsgericht, das Problem mit Gesetzesrecht lösen, obwohl das nicht mehr möglich ist. Zu den Urteilen, die die Lücke wegen einer Überdehnung von Gesetzesrecht nicht erwähnen, kann man auch die Entscheidungen RGZ 56, 271 und BGHZ 69, 128 zum Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb zählen. Reichsgericht und BGH möchten das Recht am Gewerbebetrieb als sonstiges Recht aus § 823 I BGB herleiten, obwohl das nicht möglich ist. In diesem Fall besteht zwar keine Lücke, so dass beide Gerichte contra legem entscheiden. Vor einer Rechtsfortbildung hätten Reichsgericht und BGH aber zumindest die Frage nach einer Lücke stellen müssen. Dies tun sie im vorliegenden Fall nicht, da sie meinen, das Problem mit dem Gesetzesrecht lösen zu können. In BGHZ 56, 269 versucht der BGH, eine Lösung entweder über Gesetzesrecht oder über Vertragsrecht zu finden. Beides ist aber nicht zielführend. In RGZ 127, 218 und BGHZ 97, 135 möchte der BGH das Problem über Vertragsauslegung lösen, und zwar über einen verobjektivierten hypothetischen Parteiwillen in der ersten Entscheidung und über eine Auslegung des Leasingvertrages in der zweiten. Schließlich gibt es noch die Entscheidung BGH MDR 1953, 345 die die Lücke deshalb nicht erwähnt, da sie sich auf Vorentscheidungen und eine Literaturmeinung bezieht und diesbezüglich von „anerkannten Rechtsgrundsätzen“ spricht. Über eine Lückenfüllungsnorm kann man den vorgenannten Phänomenen, die ein Erkennen der Lücke verhindern, nur insofern beikommen, als man klarstellt, dass sich die Füllung von Vertragslücken am tatsächlich vereinbarten Interessenausgleich zur orientieren hat, und den Umgang mit Vorentscheidungen regelt. Dass ein Gericht den Anwendungsbereich von Gesetzes- oder Vertragsrecht überdehnt, kann man hingegen nicht verhindern. Wenn von den fünfzehn untersuchten Entscheidungen, die die Lücke nicht erwähnen, acht die Lücke nicht erkennen, bleiben sieben Entscheidungen, also 35 %, die die Lücke ohne besonderen Grund nicht erwähnen. Von diesen sieben Entscheidungen bestimmen drei zumindest die Grenzen der Auslegung nach hier vertretener Ansicht zutreffend, und zwar BGHZ 22, 90, BGHZ 51, 91 und BGHZ 11, 80 [dazu unten 2. c)]. Es bleibt aber dabei, dass in sieben der untersuchten deutschen Entscheidungen die Lücke ohne besonderen Grund nicht erwähnt wird. Diese Zahl ist deswegen interessant, weil sie für ein geringes Bewusstsein des Lücken- und damit des Legitimitätsproblems spricht. Sofern man eine Lücke nicht erkennt, ist es verständlich, dass sie nicht erwähnt wird. Hätte man die Lücke aber ohne weiteres
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erkennen können, ist ihre Nichterwähnung nur mit einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber dem Legitimitätsproblem in der Lücke zu erklären. b) Bewusstsein des Legitimitätsproblems Um das Vorhandensein eines Bewusstseins des Legitimitätsproblems in den untersuchten deutschen Entscheidungen zu prüfen, werden im Folgenden verschiedene Ansätze verfolgt. Zunächst wird untersucht, ob dieses Problem in den Entscheidungen erwähnt und erkannt wird. Weiterhin sollen verschiedene Phänomene dargestellt werden, die eine Vernachlässigung des Legitimitätsproblems zeigen. Schließlich soll kurz vorgreifend Erwähnung finden, welche Rückschlüsse zum Bewusstsein des Legitimitätsproblems sich aus den lückenfüllenden Begründungen der untersuchten Entscheidungen ziehen lassen. aa) Erkennen des Legitimitätsproblems Ausdrücklich hingewiesen wird auf das Legitimitätsproblem nur in BGH NJW 1993, 999, und zwar indirekt, indem eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wiedergegeben wird. Hier geht es um die Frage, ob im Falle der nichtehelichen Lebensgemeinschaft ein rechtsfreier Bereich283 vorliegt. Dies ist ein Gebiet, das vom Gesetzgeber grundsätzlich nicht geregelt wurde und in dem der Richter bei seiner Entscheidung vor besondere Legitimitätsprobleme gestellt wird. Da es dabei um ein Gebiet geht, in dem noch gar keine gesetzlichen Regeln vorhanden sind, stellt der rechtsfreie Bereich einen Extremfall des Legitimitätsproblems dar. Dieser Extremfall wird von der Entscheidung erwähnt. Zudem kann man die Entscheidung RGZ 56, 271 zum Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb nennen. Hier wird zwar das Legitimitätsproblem nicht ausdrücklich angesprochen, das Reichsgericht ist aber sehr vorsichtig, den gesetzlichen Rahmen zu verlassen. Damit existiert ein gewisses Bewusstsein des Legitimitätsproblems. Es handelt sich hier aber um den Extremfall einer ContraLegem-Entscheidung, wo der Richter nicht mit wenigen gesetzlichen Anhaltspunkten in der Lücke entscheidet, sondern gegen eine ausdrückliche gesetzliche Regelung. Damit bleibt festzuhalten, dass in den untersuchten deutschen Entscheidungen nur in den Extremfällen des rechtsfreien Bereichs und der Contra-Legem-Entscheidung dem Legitimitätsproblem besondere Beachtung geschenkt wird. In den normalen Lückenfällen wird das Legitimitätsproblem jedoch in keiner der Entscheidungen angesprochen.
283
Dazu oben B. IV. 2.
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bb) Vernachlässigen des Legitimitätsproblems Gewisse Begründungen in den Urteilen zeigen sogar, dass den deutschen Gerichten das Legitimitätsproblem nicht besonders wichtig ist. Diese Vorgehensweisen finden sich in acht der untersuchten deutschen Urteile. (1) Die Anwendung von konkretem Gesetzesrecht wird zugunsten von durch Rechtsfortbildung gefundenen Lösungen offen gelassen Wenn eine Entscheidung die Frage offen lässt, ob sie eine Lösung über eine konkrete Gesetzesanwendung finden kann, und stattdessen ein durch Rechtsfortbildung geschaffenes Rechtsinstitut anwendet, kommt es ihr nicht darauf an, ob sie sich im vollständig legitimierten oder im weniger legitimierten Bereich befindet. Dem Legitimitätsproblem wird damit keine Beachtung geschenkt. Dieses Problem stellt sich bei zwei Entscheidungen, in denen auf Rechtsinstitute zurückgegriffen wird, die ohne anfängliche Begründung und später über eine Rechtsprechungskette contra legem entwickelt wurden [dazu unten 3. c)]. Diese Entscheidungen sind BGHZ 69, 128 zum Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb und RGZ 65, 292 zur Rechtsscheinvollmacht. In BGHZ 69, 128 gibt es zwei überzeugende gesetzliche Begründungsmöglichkeiten. Ob diese zutreffend sind, wird aber offengelassen. Stattdessen wird auf das durch Rechtsprechung entwickelte Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb zurückgegriffen. In RGZ 65, 292 wird die Frage offengelassen, ob eine stillschweigende Vollmachterteilung gem. § 167 I BGB vorliegt. Stattdessen wird gleich auf die durch Rechtsprechung entwickelte Anscheinsvollmacht zurückgegriffen. Diese beiden Entscheidungen zeigen, welche Bedeutung Richterrecht in Deutschland beigemessen wird. Die durch Rechtsfortbildung entwickelten Rechtsinstitute werden als dem Gesetzesrecht gleichwertig betrachtet. Interessant ist, dass gerade die Rechtsinstitute, die ohne Begründung und contra legem über eine Rechtsprechungsentwicklung entstanden und damit am wenigsten legitimiert sind, mit dem Gesetzesrecht gleichgesetzt werden. Um dies zu verhindern, könnte man den Umgang mit Vorentscheidungen in einer Lückenfüllungsnorm regeln. (2) Die Reihenfolge von Auslegungs- und Lückenfüllungsargumenten wird nicht eingehalten Sechs der untersuchten deutschen Entscheidungen halten sich nicht an die für eine dem Legitimitätsprinzip entsprechende Lückenfüllung erforderliche Reihenfolge, erst alle Auslegungsmöglichkeiten zu prüfen und dann zur Lückenfüllung überzugehen, und zwar RGZ 106, 22, BGHZ 11, 80, BGHZ 9, 157, BGHZ 22, 90, BGHZ 51,
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91 und BGH NJW 1993, 999. Sofern das Urteil alle notwendigen Begründungsschritte an irgendeiner Stelle enthält, ist die Rechtsfortbildung zwar materiell zutreffend durchgeführt worden, das Nichteinhalten der Reihenfolge spricht aber für wenig Methodenbewusstsein und wenig Bewusstsein des Legitimitätsproblems. In RGZ 106, 22 vermengt das Reichsgericht bei der Herleitung der PVV die direkte und die analoge Anwendung des Gesetzes und hält sich damit nicht an die Reihenfolge, zunächst Auslegungsfragen zu prüfen, um dann zur Lückenfüllung überzugehen. In BGHZ 11, 80 verneint der BGH bei der Herleitung der PVV die Anwendung von § 276 BGB, obwohl er vorher schon Erwägungen zur Begründung der PVV über eine Analogie angestellt hatte. Zudem wird die Frage, ob in dem zu entscheidenden Fall nicht vielleicht Handelsrecht zur Anwendung kommt, erst nach Abschluss der lückenfüllenden Argumentation am Ende der Entscheidung behandelt. In BGHZ 9, 157 erörtert der BGH eine vertragsrechtliche Lösung des Problems des Ausschlusses eines GmbH-Gesellschafters aus wichtigem Grund. Vor und zwischen der vertragsrechtlichen Argumentation stellt er jedoch bereits Lückenfüllungserwägungen in Form von eigenen Wertungen, Tatsachenargumenten und einer Analogie an. Zudem geht er weiter hinten in der Entscheidung im Rahmen von ausführlichen Erörterungen zur Lückenfüllung noch einmal auf eine Lösung über eine vertragliche Treuepflicht ein. In BGHZ 22, 90 erwähnt der BGH die Rechtsprechung des Reichsgerichts und Literaturmeinungen, die bereits lückenfüllende Erwägungen enthalten, bevor er auf die Bedeutung von § 476 BGB a.F. für den Gewährleitungsausschluss in AGB eingeht und hält damit die Reihenfolge von Auslegungs- und Lückenfüllungsargumenten nicht ein. In BGHZ 51, 91 prüft der BGH bei der Produzentenhaftung eine vertragsrechtliche Lösung, nachdem er bereits lückenfüllende Erwägungen zu einer Gefährdungshaftung angestellt hatte. In BGH NJW 1993, 999 liegt insofern ein Sonderfall vor, als dort Argumente zur Verneinung eines rechtsfreien Bereichs im Rahmen der Lückenfüllung angebracht werden. Damit werden zwar nicht Auslegung und Lückenfüllung vermischt. Die Frage des rechtsfreien Bereichs sollte aber vor der Lückenfüllung geklärt werden, da sich aus ihrer Beantwortung die Art und Weise der Lückenfüllung und eventuell eine besondere Begründungspflicht ergeben284. Auch insofern wird also die methodische Reihenfolge bei der Lückenfüllung nicht eingehalten. (3) Einhalten der Reihenfolge von gesetzesnahen und nicht gesetzesnahen Methoden bei der Lückenfüllung am Beispiel von BGH NJW 1993, 999 Da es sich bei BGH NJW 1993, 999 zur nichtehelichen Lebensgemeinschaft um die einzige der untersuchten deutschen Entscheidungen handelt, in der offen über eine Analogie vorgegangen wird [dazu unten 3. e) aa)], kann man nur diese Entscheidung als Beispiel dafür zitieren, in welcher Reihenfolge die gesetzesnahe 284
Dazu oben B. IV. 2. a.E.
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Methode Analogie und eventuelle sie ergänzende Argumente angeführt werden. In dieser Entscheidung wird vor den Erwägungen zur Analogie ein nicht ganz vollständiges Argument zur subjektiven Legitimation vorgebracht sowie ein Verweis auf Vorentscheidungen durchgeführt. Nach den Erwägungen zur Analogie wird die Behauptung zur subjektiven Legitimation wiederholt, es wird ein Tatsachenargument angeführt sowie überprüft, ob die durch Analogie gefundene Entscheidung unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Rechtssicherheit Bestand haben kann. Damit hält die Entscheidung nicht ganz, aber im Wesentlichen die nach hier vertretener Ansicht zutreffende methodische Reihenfolge ein. Noch besser wäre es gewesen, wenn sie mit den Erwägungen zur Analogie begonnen, die so gewonnene Lösung dann auf Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit überprüft und schließlich das Ganze um das Argument der gesellschaftlichen Anerkennung als zusätzliche subjektive Legitimation ergänzt hätte, indem sie die gesellschaftliche Akzeptanz der nichtehelichen Lebensgemeinschaft durch konkrete Zahlen belegt. cc) Lückenfüllende Begründungen Der häufige Rückgriff auf Gesetzesrecht in Gestalt von § 242 BGB [vgl. unten 2. a) aa) (2)] sowie auf scheinlegitime Methoden [vgl. unten 3. a) bb)] spricht für ein gewisses Bewusstsein des Legitimitätsproblems. Dies hat in den untersuchten deutschen Entscheidungen aber die Konsequenz, dass Legitimitätsprobleme verdeckt werden und eine wirklich am Legitimitätsgedanken orientierte Begründung fehlt.
2. Grenzen der Auslegung Hinsichtlich der Bestimmung der Grenzen der Auslegung zeigen sich in den untersuchten deutschen Entscheidungen verschiedene Phänomene. Zunächst gibt es die Überdehnung des konkret materiellen Rechtes, die dazu führt, dass die Lücke nicht erwähnt wird [dazu schon oben 1. a) bb)], aber auch zu einer Überdehnung der Grenzen der Auslegung. Weiterhin soll hier das Zurückschieben der Grenzen der Auslegung und die fehlende Bestimmung der Grenzen der Auslegung ohne besonderen Grund behandelt werden. Zudem stellt sich die Frage, wie viele der fünf Entscheidungen, die die Lücke erwähnen [oben 1. a) aa)], und wie viele der restlichen fünfzehn Entscheidungen [oben 1. a) bb)] die Grenzen der Auslegung zutreffend bestimmen [vgl. unten c)].
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a) Überdehnen materiellen Rechts In den untersuchten deutschen Entscheidungen gibt es eine Tendenz, die Lösungen mit Gesetzes- oder Vertragsrecht begründen zu wollen, obwohl dies nicht mehr möglich ist. Bei der Begründung aus Gesetzesrecht spielt § 242 BGB eine wesentliche Rolle. Da die Entscheidungen teilweise mehrere Begründungsansätze enthalten, können sie im Folgenden doppelt erwähnt werden. aa) Gesetz Bei der Anwendung von Gesetzesrecht in der Lücke kann man unterscheiden zwischen konkretem Gesetzesrecht und der Heranziehung der Generalklausel des § 242 BGB. (1) Anwendung von konkretem Gesetzesrecht in der Lücke Insgesamt wenden fünf der untersuchten Entscheidungen Gesetzesrecht an, das nicht § 242 BGB ist. So ist es in RGZ 117, 164, wo eine Duldungsvollmacht als stillschweigende Vollmachterteilung im Sinne von § 167 BGB bezeichnet wird. Auch in BGH MDR 1953, 345 wird die Duldungsvollmacht als stillschweigende Vollmachterteilung bezeichnet. Hier ist das aber nicht so problematisch, da es in der Entscheidung letzten Endes um eine Anscheinsvollmacht geht. Weiterhin gibt es RGZ 106, 22, wo das Reichsgericht die PVV aus § 276 BGB herleiten will, obwohl diese Norm keine Anspruchsgrundlage ist. Außerdem kann man hier auch die Entscheidungen RGZ 56, 271 und BGHZ 69, 128 aufnehmen, die ein Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb aus dem „sonstigen Recht“ in § 823 I BGB ableiten möchten und damit contra legem entscheiden. In diesem Fall liegt zwar keine Lücke vor, es wird jedoch auch Gesetzesrecht angewandt, wo es nicht möglich ist. Damit werden ebenfalls die Grenzen der Auslegung überdehnt. (2) § 242 BGB Weitaus öfter greifen die untersuchten deutschen Entscheidungen auf § 242 BGB zurück, und zwar in acht Urteilen. Davon begründen vier Entscheidungen nur aus § 242 BGB und vier weitere ziehen § 242 BGB ergänzend heran. Da es sich bei § 242 BGB um eine konkrete Rechtsnorm handelt, wird der Eindruck erweckt, eine Lösung lasse sich aus dem konkreten Gesetzesrecht ableiten, obwohl das nicht mehr möglich ist. Denn § 242 BGB wird von der Rechtsprechung nicht seinem Wortlaut gemäß angewandt, sondern als allgemeine Gerechtigkeitsnorm, die dazu dient, eigene Wertungen des Richters zu verdecken oder Ergebnisse zu bekräftigen. Zudem enthalten fünf der acht Entscheidungen, in denen § 242 BGB direkt oder ergänzend herangezogen wird, Erwägungen zur Analogie. Man kann also sagen, dass
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der Rückgriff auf § 242 BGB dazu geeignet ist, gesetzesnahe Ansätze zu verdecken. Hier könnte eine Lückenfüllungsnorm der Rechtsprechung eine gewisse methodische Sicherheit geben, so dass der Rückgriff auf § 242 BGB als allgemeine Gerechtigkeitsnorm nicht mehr nötig wäre. (a) Begründung nur aus § 242 BGB Die vier Entscheidungen, die nur aus § 242 BGB begründen, sind BGHZ 11, 80, BGHZ 56, 269, RGZ 155, 148 und BGHZ 22, 90. In BGHZ 11, 80 werden zwar die Normen genannt, aus denen man die PVV über eine Analogie ableiten könnte, letzten Endes wird die PVV aber über § 242 BGB begründet. Hier wird also ein gesetzesnaher Ansatz durch den Rückgriff auf § 242 BGB konterkariert. Die Vorschrift kann deshalb in diesem Fall keine Anwendung finden, weil sie keine Rechtsfolge bei der Verletzung einer vertraglichen Pflicht enthält. In BGHZ 56, 269 bezieht sich der BGH u. a. auf die Meinung der Literatur, die den Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter aus § 242 BGB herleiten will. Die Norm findet aber nur Anwendung, wenn bereits ein Schuldverhältnis besteht. Bei dem Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter geht es aber darum, ob ein Dritter einen Schadensersatzanspruch gegen einen Vertragspartner haben soll. Zwischen diesen beiden bestand vorher kein Schuldverhältnis. Zudem enthält die Entscheidung den Ansatz einer Analogie. In RGZ 155, 148 wird die Verwirkung aus § 242 BGB begründet. In Frage kommt hier aber allenfalls eine doppelt analoge Anwendung dieser Vorschrift, da es im Falle der Verwirkung nicht darum geht, wie ein Schuldner leistet, sonders ob ein Gläubiger eine Leistung fordern kann. In BGHZ 22, 90 wird die Zulässigkeit eines totalen Gewährleistungsausschlusses in AGB beim Kauf fabrikneuer Möbel über § 242 BGB verneint. Bei der Frage nach der Gültigkeit von AGB geht es jedoch darum, ob der Gläubiger eine Rechtsstellung erlangt hat. Die Vorschrift des § 242 BGB findet aber nur Anwendung, wenn ein Schuldverhältnis oder eine bestimmte Rechtsstellung schon besteht. Die Norm ist hier folglich nicht anwendbar und verdeckt die eigene Wertung des Richters. Bei dieser Entscheidung ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Richter selbst werten muss, da es keine andere Möglichkeit gibt, die Lücke zu füllen. (b) Ergänzendes Heranziehen von § 242 BGB Auch wenn man § 242 BGB nur ergänzend – zu einer Analogie beispielsweise – heranzieht, kann damit der Eindruck erweckt werden, die ganze Lösung werde aus dem konkreten Gesetzesrecht abgeleitet. Besonders deutlich wird das in der Entscheidung zur PVV RGZ 106, 22 (26), wo gesagt wird, die entsprechende Heranziehung von anderen Vorschriften stelle in Verbindung mit dem Grundsatz von „Treu und Glauben“ eine „ausreichende positiv-gesetzliche Grundlage“ dar.285 Weitere Entscheidungen, die § 242 BGB ergänzend heranziehen, sind BGH MDR 1953, 345, RGZ 95, 58 und BGHZ 108, 179. 285
Vgl. die Analyse [C. I. 4. a)] unter bb).
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In BGH MDR 1953, 345 macht der BGH einen Versuch, die Anscheinsvollmacht über eine Analogie zu den §§ 177 ff. i.V.m. § 242 BGB zu begründen. Die eigentliche Begründung der Entscheidung fußt aber auf Vorentscheidungen und einer Literaturmeinung. Die Vorschrift des § 242 BGB kann hier keine Anwendung finden, da es bei der Anscheinsvollmacht darum geht, ob der Vertretene vertraglich gebunden ist. Es geht also um die Frage, ob ein Schuldverhältnis entsteht und nicht um die Beurteilung eines bereits bestehenden Schuldverhältnisses. In RGZ 95, 58 möchte das Reichsgericht die culpa in contrahendo aus Treu und Glauben herleiten, obwohl es die für eine Analogie in Frage kommenden Vorschriften nennt. Die Norm des § 242 BGB ist hier aber nicht anwendbar, da es darum geht, ob im vorvertraglichen Bereich ein Schuldverhältnis besteht. In RGZ 106, 22 soll die PVV zunächst direkt aus Gesetzesrecht, nämlich aus § 276 BGB, abgeleitet werden. Zudem enthält die Entscheidung einen Begründungsansatz, in dem sie die direkte und die analoge Anwendung von Unmöglichkeits- und Verzugsregeln vermengt und § 242 BGB hinzufügt. Bei der PVV geht es zwar wie in § 242 BGB um die Art und Weise der Erfüllung vertraglicher Pflichten. Die Vorschrift des § 242 BGB enthält aber keine Rechtsfolge im Falle der Verletzung von Vertragspflichten, so dass sich die PVV aus dieser Vorschrift nicht ableiten lässt. In BGHZ 108, 179 macht der BGH bei der Herleitung des Ausgleichsanspruchs zwischen zwei Sicherungsgebern nicht klar, ob er über eine Analogie zu den Regeln über die Gesamtschuld oder über § 242 BGB vorgeht. Hinzu kommt, dass der BGH die Analogie nicht über eine Induktion aus einer oder mehreren Vorschriften herleitet, sondern von einem „allgemeinen Rechtsgedanken“ spricht, der die analoge Anwendung der Regeln über die Gesamtschuld geböte. Die Norm des § 242 BGB kann hier aber keine Anwendung finden, da es darum geht, zwischen verschiedenen Sicherungsgebern ein Ausgleichsverhältnis zu schaffen, das vorher nicht bestand. Weiterhin ist interessant, dass zwei Entscheidungen, die § 242 BGB ergänzend heranziehen, nämlich RGZ 95, 58 und BGHZ 108, 179, die Lücke ausdrücklich erwähnen. Dass die Lücke erkannt wird, schützt also nicht davor, Gesetzesrecht zu überdehnen. Oder anders gesagt: Die Vorschrift des § 242 BGB wird als zulässiges Mittel der Lückenfüllung angesehen. bb) Vertrag Drei der untersuchten deutschen Entscheidungen überdehnen Vertragsrecht und damit auch die Grenzen der Auslegung, und zwar RGZ 127, 218, BGHZ 56, 269 und BGHZ 97, 135. In den ersten beiden Entscheidungen geht es um den Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter, der über einen verobjektivierten hypothetischen Parteiwillen begründet werden soll. Die Partei, die zum Schutz des Dritten verpflichtet werden soll, wird damit jedoch in der Regel nicht einverstanden sein. Ein Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter lässt sich nur über objektive Erwägungen begründen. Vertragsrecht wird also überdehnt. Auch im Bereich des Leasingvertrages in BGHZ 97, 135 werden objektive Erwägungen und eigene Wer-
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tungen des Richters als Vertragsauslegung bezeichnet. Eine tatsächliche Auslegung der in Frage kommenden Vertragsklausel findet hingegen nicht statt. b) Zurückschieben der Grenzen der Auslegung Legitimitätstechnisch problematisch ist nicht nur das Überdehnen der Grenzen der Auslegung, sondern auch das Zurückschieben. Letzteres passiert, wenn man schon Lückenfüllung betreibt oder sich auf Rechtsinstitute bezieht, die durch Rechtsfortbildung entwickelt wurden, obwohl das Problem mit Gesetzesanwendung zu lösen wäre. In diesem Fall vergibt man eine starke Legitimierungsmöglichkeit zugunsten einer schwächeren Legitimierung im Lückenfüllungsbereich. Dieses Phänomen findet sich in BGHZ 69, 128. Dort gibt es zwei gesetzliche Möglichkeiten, bei einem Fluglotsenstreik eine Amtspflichtverletzung herzuleiten und so einen Schadensersatzanspruch eines Reiseunternehmens zu begründen. Der BGH greift aber auf einen Eingriff in das durch Rechtsfortbildung entwickelte Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb zurück. c) Zutreffende Bestimmung der Grenzen der Auslegung Hier ist interessant, dass alle fünf Entscheidungen, die die Lücke ausdrücklich erwähnen, die Grenzen der Auslegung nach hier vertretener Ansicht zu einem großen Teil zutreffend bestimmen. Das sind BGHZ 36, 252, RGZ 95, 58, BGHZ 9, 157, BGHZ 108, 179 und BGH NJW 1993, 999. Bei RGZ 95, 58 und BGHZ 108, 179 kommt lediglich hinzu, dass durch einen ergänzenden Rückgriff auf § 242 BGB bei der Lückenfüllung die zutreffende Grenzbestimmung wieder überdeckt wird. Von den fünfzehn Entscheidungen, die die Lücke nicht erwähnen, ziehen lediglich zwei Entscheidungen die Grenzen der Auslegung größtenteils zutreffend, und zwar BGHZ 22, 90 und BGHZ 51, 91. In BGHZ 22, 90 stützt der BGH die rechtsfortbildende Lösung dann auf § 242 BGB, so dass auch hier die überzeugende Grenzbestimmung wieder verdeckt wird. Zunächst wird aber festgestellt, dass das der Entscheidung zugrundeliegende Problem der AGB-Kontrolle gesetzlich nicht geregelt ist. Zudem kann man hier die Entscheidung BGHZ 11, 80 anführen, die Ansätze einer zutreffenden Grenzbestimmung enthält. Diese guten Ansätze werden aber auch hier wieder dadurch verdeckt, dass die Entscheidung ihre Lösung letzten Endes aus § 242 BGB herleiten will. Damit lässt sich ein Zusammenhang herstellen zwischen der Erwähnung der Lücke und der zutreffenden Bestimmung der Grenzen der Auslegung. Insgesamt ziehen acht von den untersuchten zwanzig deutschen Entscheidungen, also 40 %, die Grenzen der Auslegung nach hier vertretener Ansicht richtig.
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d) Die Grenzen der Auslegung werden ohne besonderen Grund nicht bestimmt Nimmt man die oben unter c) erwähnten acht Entscheidungen, die die Grenzen der Auslegung zutreffend ziehen, und die oben unter 1. a) bb) erwähnten acht Entscheidungen, die die Lücke nicht erkennen, zusammen, bleiben vier der zwanzig untersuchten Entscheidungen, die die Grenzen der Auslegung ohne besonderen Grund nicht bestimmen. Diese sind RGZ 65, 292, BGHZ 65, 13, RGZ 144, 22 und RGZ 155, 148. Dabei schafft RGZ 65, 292 mit der Anscheinsvollmacht ein Rechtsinstitut ohne Begründung, geht also nicht mit rechtsfortbildender Methodik vor und bestimmt auch die Grenzen der Auslegung nicht. Das Reichsgericht bezieht sich vielmehr auf Vorentscheidungen, die jedoch auch keine Begründung der Anscheinsvollmacht enthalten. In BGHZ 65, 13 und RGZ 144, 22 wird eine Lückenfüllung letzten Endes abgelehnt, und zwar in BGHZ 65, 13 wegen eines qualifizierten Schweigens und in RGZ 144, 22 mit dem Argument der Rechtsicherheit. Dass die Grenzen der Auslegung hier nicht bestimmt werden, ist also weniger problematisch, gehört aber eigentlich zur rechtsfortbildenden Methodik, auch wenn die Lücke im Ergebnis wegen eines qualifizierten Schweigens nicht besteht oder die Lückenfüllung mit anderen Argumenten abgelehnt wird. Schließlich bleibt die Entscheidung RGZ 155, 148, die die Grenzen der Auslegung ohne besondere Erklärung nicht bestimmt. Außerdem verdeckt RGZ 155, 148 die Grenzen der Auslegung dadurch, dass das Reichsgericht zur Lückenfüllung auf § 242 BGB zurückgreift. Allen diesen vier Entscheidungen ist gemeinsam, dass sie nicht methodisch vorgehen. Hier könnte eine Lückenfüllungsnorm helfen, den Richter zu methodischem Vorgehen anzuhalten.
3. Lückenfüllung Bei der Lückenfüllung gibt es zunächst Vorgehensweisen, die nicht dem Legitimitätsprinzip entsprechen. Dies sind die Verdeckung der Grenzen gesetzesnaher Lückenfüllung (zweite Grenze286), das Zurückschieben der zweiten Grenze und die Rechtsfortbildung contra legem. Eine Zwischenposition nehmen die Kombinationsbegründungen ein. Bei diesen wird die zweite Grenze zwar nicht verdeckt, sie orientieren sich aber auch nicht am Legitimitätsprinzip bei der Lückenfüllung [näher dazu unten d)]. Schließlich gibt es diejenigen Vorgehensweisen, die dem Legitimitätsprinzip bei der Lückenfüllung entsprechen. Da die Entscheidungen oft mehrere Begründungsansätze enthalten, werden sie im Rahmen der folgenden Untersuchung der Lückenfüllungsmethoden in die verschiedenen Kategorien teilweise mehrfach eingeordnet. 286
Dazu oben B. III. 1. c).
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a) Verdecken der zweiten Grenze Die zweite Grenze wird zum einen verdeckt, wenn man die Grenzen der Auslegung überdehnt und so eine Entscheidung als vollständig legitimiert darstellt, die eigentlich mit einer in der Legitimität begrenzten Lückenfüllungsmethode wie der Analogie hätte begründet werden müssen. Zum anderen wird die zweite Grenze oder Grenze der Analogie durch das Verwenden von scheinlegitimen Argumenten verschleiert, mit denen die lückenfüllenden Begründungen ergänzt werden. aa) Überdehnen der Grenzen der Auslegung Sieht man ein Problem in unzutreffender Weise mit Gesetzes- oder Vertragsauslegung als gelöst an und überdehnt damit die Grenzen der Auslegung, überdeckt man sämtliche Lückenproblematik und alle Legitimitätsprobleme, die sich bei der Lückenfüllung stellen können. In Deutschland gilt das insbesondere für die Anwendung von § 242 BGB. Gesetzesrecht wird direkt angewandt in RGZ 117, 164, BGH MDR 1953, 345, RGZ 106, 22, RGZ 56, 271 und BGHZ 69, 128. Ausschließlich auf § 242 BGB zurückgegriffen wird in BGHZ 11, 80, BGHZ 56, 269, RGZ 155, 148 und BGHZ 22, 90. Die Vorschrift des § 242 BGB wird ergänzend herangezogen in BGH MDR 1953, 345, RGZ 95, 58, RGZ 106, 22 und BGHZ 108, 179. Auf Vertragsrecht wird zurückgegriffen in RGZ 127, 218, BGHZ 56, 269 und BGHZ 97, 135. Zählt man diese Entscheidungen zusammen unter nur einmaliger Berücksichtigung der Entscheidungen, die mehrere Phänomene enthalten und daher doppelt vorkommen, kommt man auf dreizehn Entscheidungen. Dazu ist jedoch zu sagen, dass diese Entscheidungen oft noch andere Begründungsansätze enthalten, so dass sie im Rahmen der folgenden Untersuchung der Lückenfüllungsmethoden auch in andere Kategorien eingeordnet werden. bb) Verdecken durch ergänzende Argumente, mit denen Legitimität suggeriert wird Argumente wie Leerformeln, andere scheinlegitime Methoden und Pauschalverweise auf Vorentscheidungen und Literaturmeinungen werden benutzt, um die zweite Grenze zu verdecken. Dabei geht es zum einen um das Verdecken der Grenzen der Analogie. Außerdem soll hier der Fall erfasst werden, in dem eine gesetzesnahe Lückenfüllung über eine Analogie nicht möglich ist und der Richter von vornherein selbst werten muss. In so einem Fall kann die Tatsache verdeckt werden, dass die Entscheidung überhaupt nicht legitimiert ist. Schließlich sollen hier auch diejenigen ergänzenden Argumente behandelt werden, die zur Unterstützung einer Argumentation über § 242 BGB [dazu oben aa)]
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vorgebracht werden. Diese Argumente verdecken zwar nicht unbedingt die Grenzen einer Analogie. Sie unterstützen aber die Argumentation über § 242 BGB und helfen so, sämtliche Legitimitätsprobleme bei der Lückenfüllung zu überdecken. (1) Leerformeln und andere scheinlegitime Methoden Fünf der untersuchten deutschen Entscheidungen greifen zusätzlich zu anderen Begründungsansätzen auf Leerformeln und andere scheinlegitime Methoden zurück, und zwar RGZ 95, 58, RGZ 155, 148, BGHZ 22, 90, BGHZ 108, 179 und BGH NJW 1993, 999. In RGZ 95, 58 stützt das Reichsgericht den Rückgriff auf Treu und Glauben mit Bekräftigungen und trägt so dazu bei, dass die Grenzen der auch in der Entscheidung erwähnten Analogie verdeckt werden. In RGZ 155, 148 greift das Reichsgericht auf Leerformeln zurück, die den Eindruck erwecken sollen, es werde bei der Verwirkung nach objektiven Kriterien entschieden, obwohl der Richter im Rahmen des § 242 BGB selbst wertet. Damit werden die Legitimitätsprobleme überdeckt, die im Rahmen des § 242 BGB entstehen. In BGHZ 22, 90 spricht der BGH von „allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ und „allgemeinen rechtlichen Geboten“ und unterstützt mit diesen Leerformeln die Anwendung von § 242 BGB. Dadurch wird verdeckt, dass es in dieser Entscheidung keine gesetzesnahe Begründungsmöglichkeit gibt und der Richter selbst werten muss. In BGHZ 108, 179 greift der BGH auf den „Grundsatz der ausgleichenden Gerechtigkeit“ und einen „allgemeinen Rechtsgedanken“ zurück, der wiederum eine Analogie geböte. Der „Grundsatz der ausgleichenden Gerechtigkeit“ hat aber neben einer Analogie zu § 426 I 1 BGB keine eigene Bedeutung. Einen „allgemeinen Rechtsgedanken“, dass eine Vorschrift analog anzuwenden ist, gibt es nicht. Es handelt sich folglich um scheinbar Legitimität erzeugende Leerformeln, die die Grenzen der in der Entscheidung angedachten Analogie verdecken. In BGH NJW 1993, 999 ergänzt der BGH die Analogie mit Feststellungen zur gesellschaftlichen Anerkennung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft, die nicht belegt werden, und einem Tatsachenargument. (2) Pauschalverweise auf Präjudizien und Literaturmeinungen Vier der untersuchten deutschen Entscheidungen greifen ergänzend zu anderen Begründungsansätzen auf Pauschalverweise auf Vorentscheidungen und Literaturmeinungen zurück, und zwar RGZ 95, 58, BGHZ 11, 80, BGHZ 9, 157 und BGH NJW 1993, 999. In RGZ 95, 58 stützt das Reichsgericht den Rückgriff auf § 242 BGB außer mit Bekräftigungen, wie oben unter (1) erwähnt, mit einer Vorentscheidung. Interessant ist dabei, dass das Reichsgericht diese Vorentscheidung quasi „analog“ auf den vom ihm zu entscheidenden Fall anwendet. Die Vorentscheidung wird hier also wie Gesetzesrecht behandelt. Das zeigt die Tendenz der deutschen Rechtsprechung,
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Richterrecht als Rechtsquelle zu behandeln. In BGHZ 11, 80 belegt der BGH ebenfalls die Anwendung von § 242 BGB mit vielen Pauschalverweisen auf Vorentscheidungen. Außerdem spricht er im Zusammenhang mit Erwägungen zur Analogie von der PVV als einem in Rechtslehre und Rechtsprechung allgemein anerkannten Grundsatz und verdeckt damit die Grenzen des Analogieschlusses. In BGHZ 9, 157 greift der BGH zur Verstärkung seiner Argumentation, die sich an eine Analogie annähert, auf Pauschalverweise auf eine Vorentscheidung und zwei Literaturmeinungen zurück. Dies ist nur ein untergeordneter Teil der Begründung, dennoch werden hier die Grenzen der Analogie verdeckt. In BGH NJW 1993, 999 ergänzt der BGH die Analogie außer mit Behauptungen zur gesellschaftlichen Anerkennung und einem Tatsachenargument mit dem pauschalen Rückgriff auf Vorentscheidungen.
(3) Deduktion statt Induktion In BGHZ 9, 157 greift der BGH auf ein „allgemeines Prinzip“ zurück und macht nicht klar, ob dieses Prinzip als vorher bestehend betrachtet oder aus den in der Entscheidung erwähnten Normen im Rahmen einer Analogie abgeleitet wird. Es besteht folglich eine Tendenz, die Lösung aus einem bereits bestehenden Prinzip zu deduzieren anstatt das Prinzip im Wege der Analogie aus den vorhandenen Normen zu induzieren und dann daraus die Lösung abzuleiten. Auf diese Weise werden die legitimitätstechnischen Mängel des Induktionsschlusses verschleiert, bei dem man vom Besonderen auf das Allgemeine schließen muss. Es werden also die Grenzen der Analogie verdeckt.
b) Zurückschieben der zweiten Grenze Zurückschieben der zweiten Grenze bedeutet, dass man sich unnötigerweise in den nicht legitimierten Bereich begibt, indem man eine nicht gesetzesnahe Begründung anführt, obwohl noch eine gesetzesnahe Lückenfüllung, etwa über eine Analogie, möglich wäre. Ein solcher Fall findet sich in in RGZ 117, 164. Dort nimmt das Reichsgericht eine Anscheinsvollmacht an, obwohl es auch Anhaltpunkte dafür gab, dass eine Duldungsvollmacht vorgelegen haben könnte. Letztere kann man über eine Analogie zu den §§ 170 – 172 BGB herleiten und so in gesetzesnaher Weise begründen, was für die Anscheinsvollmacht nicht möglich ist.
c) Rechtsfortbildung contra legem In den untersuchten deutschen Entscheidungen gibt es zwei Beispiele für eine Rechtsfortbildung contra legem, und zwar das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb und die Anscheinsvollmacht. Beide Rechtsinstitute ent-
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stehen zunächst ohne Begründung und werden später über den Rückgriff auf Vorentscheidungen gerechtfertigt. In RGZ 56, 271 wird das Recht am Gewerbebetrieb ohne Begründung angenommen. Die Entscheidung BGHZ 36, 252 schränkt zwar den Anwendungsbereich des Rechts am Gewerbebetrieb im Verhältnis zum Wettbewerbsrecht ein, verweist aber zur Herleitung des Rechts am Gewerbebetrieb auf Vorentscheidungen. Das Urteil BGHZ 69, 128 zum selben Thema greift ebenfalls auf Vorentscheidungen zurück. Hinsichtlich der Anscheinsvollmacht wird ähnlich vorgegangen. In RGZ 65, 292 wird diese ohne Begründung angenommen. Die Vorentscheidungen, auf die Bezug genommen wird, enthalten keine Argumente zur Herleitung der Anscheinsvollmacht. In RGZ 117, 164 und BGH MDR 1953, 345 wird auf Vorentscheidungen zurückgegriffen, um die Anscheinsvollmacht zu begründen. Die Entscheidung BGH MDR 1953, 345 enthält zusätzlich einen eigenen Begründungsansatz über eine Analogie in Verbindung mit § 242 BGB, der aber nicht zielführend ist. Interessant dabei ist, dass die Rechtsinstitute, die ohne Begründung über eine Rechtsprechungsentwicklung entstehen, diejenigen sind, für die es keine dem Legitimitätsprinzip entsprechende lückenfüllende Begründung gibt und die daher contra legem entwickelt werden. Um eine solche Verfestigung von Rechtsprechung contra legem zu verhindern, könnte man in einer Lückenfüllungsnorm den Pauschalverweis auf Vorentscheidungen ausschließen. Interessant ist auch, dass in Deutschland in den sechs erwähnten Entscheidungen überhaupt eine Rechtsfortbildung contra legem vorgenommen wird.
d) Kombinationsbegründungen Als Kombinationsbegründungen werden im Folgenden diejenigen Vorgehensweisen bezeichnet, bei denen gesetzesnahe und nicht gesetzesnahe Argumente nebeneinander stehen, ohne dass die Grenzen der gesetzesnahen Methoden verdeckt werden sollen. Diese Begründungen sind vielmehr legitimitätsmäßig indifferent. Kombinationsbegründungen finden sich in Deutschland in zweien der untersuchten Entscheidungen, und zwar in BGHZ 51, 91 und BGHZ 9, 157. In BGHZ 51, 91 zur Produzentenhaftung setzt sich der BGH ausführlich mit mehreren Literaturmeinungen und deren Lösungen auseinander, geht auf Vorentscheidungen ein, nimmt eine Interessenabwägung mit eigener Wertung vor und nennt schließlich diejenigen Normen, die man im Rahmen einer Analogie zur Begründung der Beweislastumkehr bei der Produzentenhaftung heranziehen könnte. Damit enthält die Entscheidung nicht nur eine Kombinationsbegründung, sondern sie geht mit ihrer ausführlichen Auseinandersetzung mit verschiedenen Lösungen ähnlich
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dem schweizerischen Gesetzgebervorgehen287 vor. Lediglich rechtsvergleichende und Zweckmäßigkeitserwägungen fehlen. Die Entscheidung BGHZ 9, 157 setzt sich zwar weniger mit verschiedenen Lösungen auseinander, enthält aber zusätzlich zu Ansätzen einer Analogie eigene Wertungen und Tatsachenargumente, die nicht zur Ergänzung der Analogie verwandt werden. Daher kann man auch in diesem Fall von einer Kombinationsbegründung sprechen. e) Dem Legitimitätsgedanken entsprechende Lückenfüllung Hier sollen zunächst die Entscheidungen erwähnt werden, die eine Analogie enthalten. Weiterhin lehnen zwei der untersuchten Urteile mit einer zulässigen Argumentation eine Lückenfüllung ab. Schließlich existiert der Sonderfall, dass eine gesetzesnahe Begründung nicht möglich und eine eigene Wertung des Richters unvermeidbar ist. Damit handelt es sich zwar nicht im engeren Sinne um eine dem Legitimitätsgedanken entsprechende Lückenfüllung. Da es keine andere Lösung gibt, ist die eigene Wertung des Richters nach hier vertretener Ansicht aber zulässig. aa) Analogie Acht der untersuchten deutschen Entscheidungen enthalten Erwägungen zur Analogie, und zwar BGH MDR 1953, 345, BGHZ 11, 80, BGHZ 56, 269, RGZ 95, 58, BGHZ 108, 179, BGHZ 9, 157, BGHZ 51, 91 und BGH NJW 1993, 999. In den ersten fünf Entscheidungen werden diese Ansätze jedoch durch den ausschließlichen oder ergänzenden Rückgriff auf § 242 BGB konterkariert. In BGHZ 9, 157 geht der BGH über Deduktion statt Induktion vor und BGHZ 51, 91 enthält eine Kombinationsbegründung und spricht sich nicht eindeutig für eine Analogie aus. Es bleibt also nur BGH NJW 1993, 999, wo der BGH ohne Einschränkungen über eine Analogie vorgeht. Hinsichtlich des Einflusses der Erwähnung der Lücke ist zu sagen, dass von den genannten acht Entscheidungen bei vieren die Lücke erwähnt wird und bei den anderen vieren nicht. Damit enthalten zwar vier von fünf [s. o. 1. a) aa)] Entscheidungen, die die Lücke erwähnen, zumindest Ansätze einer Analogie. Da es aber genauso viele Entscheidungen gibt, die Ansätze einer Analogie enthalten, ohne die Lücke zu erwähnen, ist ein Zusammenhang nicht festzustellen. Es besteht zwar ein gewisser Zusammenhang zwischen der Erwähnung der Lücke und der Bestimmung der Grenzen der Auslegung [vgl. oben 2. c)], der Einfluss der Erwähnung der Lücke reicht jedoch nicht bis zur Lückenfüllung. Die Entscheidung BGH NJW 1993, 999 enthält eine überzeugende und ausführliche Analogie, die außerdem an dem zulässigen Argument der Rechtssicherheit 287
Dazu oben B. V. 2. c) bb) (2).
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überprüft wird. Ergänzt wird diese Analogie jedoch mit Feststellungen zur subjektiven Legitimation, einem Tatsachenargument und dem pauschalen Rückgriff auf Vorentscheidungen. Tatsachenargument und Pauschalverweis auf Vorentscheidungen sind nicht gesetzesnahe Begründungen. Auch hier werden also die Grenzen der Analogie verdeckt. Hinsichtlich der subjektiven Legitimation hätte es konkreter Zahlen bedurft, um eine solche anzunehmen. Insgesamt entspricht diese Entscheidung aber in hohem Maße der hier vertretenen Methode einer am Legitimitätsgedanken orientierten Lückenfüllung. Interessant ist, dass nur eine der untersuchten deutschen Entscheidungen diese Methode anwendet. bb) Ablehnung der Lückenfüllung mit zulässigen Argumenten Zwei der untersuchten deutschen Urteile lehnen mit zulässigen Argumenten eine Lückenfüllung ab. Dazu gehört BGHZ 65, 13, wo der BGH bei der Frage der abhandengekommenen Urkunde mit überzeugenden Argumenten ein qualifiziertes Schweigen feststellt, auch wenn die eigentliche systematische Begründung fehlt. Das ist besonders interessant, da sich die Frage der abhandengekommenen Urkunde mit derjenigen der Anscheinsvollmacht deckt. In beiden Fällen geht es um einen fahrlässig verursachten Rechtsschein. Die Anscheinsvollmacht wird jedoch bejaht [dazu oben 3. c)]. Dass für die abhandengekommene Urkunde anders entschieden wird, ist ein Zeichen dafür, dass eine bessere Begründung möglich ist, wenn keine Rechtsprechungsentwicklung vorliegt. In RGZ 144, 22 lehnt das Reichsgericht die allgemeine Geltung der Verwirkung für das Zivilrecht mit dem Hinweis auf die fehlende Rechtssicherheit ab. Bei der Rechtssicherheit handelt es sich um ein zulässiges Argument, das bei jeder Rechtsfortbildung Beachtung finden muss.288 Die Entscheidung misst ihm aber zu große Bedeutung bei. Die Lösung ergibt sich im vorliegenden Fall über eine doppelt analoge Anwendung von § 242 BGB. Mit § 242 BGB hat sich die Rechtsordnung aber für eine gewisse Rechtsunsicherheit entschieden. cc) Sonderfall: Unvermeidbare eigene Wertung des Richters In der Entscheidung BGHZ 22, 90 muss der Richter selbst entscheiden, inwieweit der Verkäufer Gewährleistungsansprüche eines Käufers fabrikneuer Ware in AGB einschränken kann. In diesem Fall gibt es keine gesetzlichen Anhaltspunkte, wie diese Frage zu entscheiden ist. Das Problem kann nur über eine Interessenabwägung gelöst werden, an deren Ende eine eigene Wertung des Richters steht. Da diese Entscheidung dann nicht legitimiert ist, ist die eigene Wertung besonders sorgfältig und nachvollziehbar zu begründen. Damit Letzteres geschieht, ist es besonders wichtig, die Tatsache, dass selbst gewertet wird, offenzulegen. Das tut die Ent288
s. o. B. III. 2. b) aa).
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scheidung jedoch nicht. Sie führt die notwendige Interessenabwägung zwar in ausführlicher und nachvollziehbarer Weise durch, gibt aber vor, dass sich ihre Lösung aus § 242 BGB ableite. Hier führt der Rückgriff auf § 242 BGB dazu, dass ein Legitimitätsdefizit verdeckt wird [dazu oben 3. a) aa)].
4. Gesamtergebnis Im Gesamtergebnis sollen kurz die Wirkungen der Erwähnung der Lücke auf die Bestimmung der Grenzen der Auslegung und die Lückenfüllung dargestellt werden. Diese Frage wird vorangestellt, um einen Vergleich mit der Schweiz zu ermöglichen, wo entsprechend der oben formulierten ersten These289 die Auswirkungen von Art. 1 ZGB untersucht werden290. Sodann soll zur Überprüfung der ersten These zusammengefasst werden, wie Rechtsfortbildung in Deutschland in Bezug auf die Grenzen der Auslegung und die Lückenfüllung funktioniert. Schließlich soll geprüft werden, ob es in Deutschland entsprechend dem rechtsphilosophischen Ansatz der Arbeit ein gewisses Bewusstsein des Legitimitätsproblems gibt. a) Wirkungen der Erwähnung der Lücke Die Lücke wird nur in fünf291 von zwanzig untersuchten deutschen Entscheidungen erwähnt. Von den restlichen fünfzehn Urteilen gibt es acht292, die die Lücke nicht erkennen. In den sieben293 verbleibenden Entscheidungen wird die Lücke ohne besonderen Grund nicht bestimmt. Da die Lücke nur in wenigen Entscheidungen erwähnt wird, ist der Einfluss dieser Erwähnung auf die spätere rechtsfortbildende Methodik entsprechend gering. Interessant ist nur, dass alle fünf Entscheidungen, die die Lücke erwähnen, die Grenzen der Auslegung größtenteils zutreffend bestimmen. Von den restlichen fünfzehn Entscheidungen, die die Lücke nicht erwähnen, gibt es hingegen nur drei294, die die Grenzen der Auslegung nach hier vertretener Ansicht richtig ziehen. Es lässt sich also ein Zusammenhang zwischen der Erwähnung der Lücke und der zutreffenden Bestimmung der Grenzen der Auslegung herstellen. Die Erwähnung der Lücke führt jedoch nicht dazu, dass sich die Lückenfüllung am Legitimitätsprinzip orientiert. Nur eine der untersuchten deutschen Entschei289
s. o. B. VI. 3. Vgl. D. II. 4. a). 291 RGZ 95, 58, BGHZ 9, 157, BGHZ 36, 252, BGHZ 108, 179 und BGH NJW 1993, 999. 292 RGZ 56, 271, RGZ 106, 22, RGZ 117, 164, RGZ 127, 218, BGHZ 56, 269, BGHZ 69, 128, BGHZ 97, 135 und BGH MDR 1953, 345. 293 RGZ 65, 292, RGZ 144, 22, RGZ 155, 148, BGHZ 11, 80, BGHZ 22, 90, BGHZ 51, 91 und BGHZ 65, 13. 294 BGHZ 11, 80, BGHZ 22, 90 und BGHZ 51, 91. 290
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dungen erwähnt die Lücke und füllt sie über eine überzeugende Analogie, und zwar BGH NJW 1993, 999. Die restlichen vier Entscheidungen, die die Lücke erwähnen, orientieren sich aus unterschiedlichen Gründen nicht am Legitimitätsprinzip bei der Lückenfüllung. Ein Zusammenhang zwischen der Erwähnung der Lücke und einer dem Legitimitätsgedanken entsprechenden Lückenfüllung lässt sich bei den untersuchten deutschen Entscheidungen also nicht herstellen. b) Vorgehensweise bei der Rechtsfortbildung Hier soll zusammenfassend dargestellt werden, wie die untersuchten deutschen Urteile bei der Bestimmung der Grenzen der Auslegung und bei der Lückenfüllung vorgehen. aa) Grenzen der Auslegung Wie oben unter 2. c) festgestellt, bestimmen acht295 der untersuchten deutschen Entscheidungen die Grenzen der Auslegung größtenteils zutreffend. In dreizehn296 Entscheidungen werden die Grenzen der Auslegung überdehnt, indem konkret materielles Recht in Form von Gesetzes- oder Vertragsrecht zur Anwendung kommt, das den jeweiligen Fall nicht mehr umfasst. Im Rahmen der Anwendung von Gesetzesrecht kommt der nicht seinem Wortlaut entsprechenden Anwendung von § 242 BGB eine wesentliche Bedeutung zu. In acht297 von dreizehn Entscheidungen wird dieser im Rahmen der Rechtsfortbildung ausschließlich oder ergänzend herangezogen. Dazu ist zu sagen, dass sich vier298 der untersuchten Entscheidungen in den Kategorien „Überdehnung des Gesetzesrechts durch § 242 BGB“ und der korrekten Bestimmung der Grenzen der Auslegung befinden. Dies deshalb, weil in ihnen überzeugend und klar zum vorhandenen Gesetzesrecht abgegrenzt wird und diese zutreffende Bestimmung der Grenzen der Auslegung erst später durch den Rückgriff auf § 242 BGB konterkariert wird. Zieht man diese vier Entscheidungen, von den oben genannten acht Urteilen mit überzeugender Grenzbestimmung ab, bleiben nur vier Entscheidungen, die die Grenzen der Auslegung nach hier vertretener Ansicht vollständig richtig bestimmen.
295 RGZ 95, 58, BGHZ 9, 157, BGHZ 11, 80, BGHZ 22, 90, BGHZ 36, 252, BGHZ 51, 91, BGHZ 108, 179 und BGH NJW 1993, 999. 296 RGZ 56, 271, RGZ 95, 58, RGZ 106, 22, RGZ 117, 164, RGZ 127, 218, RGZ 155, 148, BGHZ 11, 80, BHGZ 22, 90, BGHZ 56, 269, BGHZ 69, 128, BGHZ 97, 135, BGHZ 108, 179, und BGH MDR 1953, 345. 297 RGZ 95, 58, RGZ 106, 22, RGZ 155, 148, BGHZ 11, 80, BGHZ 22, 90, BGHZ 56, 269, BGHZ 108, 179 und BGH MDR 1953, 345. 298 RGZ 95, 58, BGHZ 11, 80, BGHZ 22, 90 und BGHZ 108, 179.
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Addiert man die oben aufgeführten acht Entscheidungen zur zutreffenden Grenzbestimmung mit den dreizehn299 Entscheidungen, in denen Gesetzes- oder Vertragsrecht überdehnt wird, kommt man zunächst auf 21 Entscheidungen. Da jedoch vier davon in beide Kategorien eingeordnet wurden, sind es letztendlich nur siebzehn Urteile. Die drei300 Entscheidungen, die bleiben, sowie eine301 Entscheidung, die ebenfalls schon in der Kategorie der „Überdehnung des Gesetzesrechts durch § 242 BGB“ enthalten ist, bestimmen die Grenzen der Auslegung ohne besonderen Grund nicht [dazu oben 2. d)]. Außerdem gibt es noch eine302 Entscheidung, die die Grenzen der Auslegung zurückschiebt. Diese Entscheidung ist bereits in der Kategorie „Überdehnung des Gesetzesrechts“ enthalten, da sie auch dieses Phänomen beinhaltet. Insgesamt lässt sich sagen, dass es unter den untersuchten deutschen Urteilen Ansätze der Bestimmung der Grenzen der Auslegung gibt, die einer am Legitimitätsgedanken orientierten Methode entsprechen. Vorherrschendes Phänomen ist aber die Anwendung von Gesetzes- und Vertragsrecht in einem Bereich, wo das nicht mehr möglich ist. Dadurch werden die Grenzen der Auslegung in vielen Fällen überdehnt und die überzeugenden Ansätze der Grenzbestimmung teilweise revidiert. bb) Lückenfüllung Wesentliche Begründungen bei der Lückenfüllung in den untersuchten deutschen Urteilen sind diejenigen, die scheinbar Legitimität erzeugen, sowie die Rechtsprechungsentwicklungen contra legem. Die Entscheidungen, die anders vorgehen, enthalten Randphänomene. Zudem gibt es noch eine Entscheidung, wo eine eigene Wertung des Richters unvermeidlich ist. (1) Scheinbare Legitimität Zur Lückenfüllung gilt, wie bei der Bestimmung der Grenzen der Auslegung, dass dreizehn303 der untersuchten Entscheidungen Gesetzes- oder Vertragsrecht anwenden, wo das nicht mehr möglich ist. Es ist in den untersuchten deutschen Entscheidungen also wesentliche Tendenz, scheinbar Legitimität über eine Überdehnung des positiven Rechts zu schaffen. Von diesen Entscheidungen gibt es zudem fünf304, die ihre Begründung über § 242 BGB durch den Rückgriff auf Leerformeln und andere scheinlegitime Methoden oder Pauschalverweise auf Präjudizien und Literaturmeinungen oder durch beides ergänzen. 299 300 301 302 303 304
s. o. Fn. 296. RGZ 65, 292, RGZ 144, 22 und BGHZ 65, 13. RGZ 155, 148. BGHZ 69, 128. s. o. Fn. 296. RGZ 95, 58, RGZ 155, 148, BGHZ 11, 80, BGHZ 22, 90 und BGHZ 108, 179.
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Außer den fünf aus den dreizehn Entscheidungen, die über Vertrags- oder Gesetzesrecht vorgehen, gibt es noch zwei305 weitere Entscheidungen, die auf Leerformeln und andere scheinlegitime Methoden, Pauschalverweise auf Präjudizien und Literaturmeinungen oder auf Deduktion statt Induktion oder auf mehrere dieser Phänomene zurückgreifen. Durch diesen Rückgriff auf scheinlegitime Methoden in insgesamt sieben Urteilen wird die sich in den untersuchten Entscheidungen abzeichnende Tendenz, Legitimitätsgrenzen zu verdecken und die Rechtsfortbildung in jedem Fall legitimieren zu wollen, verstärkt. Insgesamt schaffen fünfzehn306 der zwanzig untersuchten deutschen Entscheidungen entweder durch die Überdehnung von Gesetzes- oder Vertragsrecht oder die Anwendung sonstiger dem Anschein nach legitimer Methoden oder durch beides scheinbar Legitimität. Interessant ist in diesem Bereich der scheinbaren Legitimität, dass es hier fünf307 Entscheidungen gibt, die Ansätze einer Analogie enthalten, die aber durch die direkte oder ergänzende Anwendung von § 242 BGB überdeckt werden. (2) Rechtsprechungsentwicklungen contra legem In den untersuchten deutschen Entscheidungen gibt es zwei Rechtsinstitute, die über eine Rechtsprechungsentwicklung contra legem entwickelt werden, und zwar das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb und die Anscheinsvollmacht. Beide werden in der ersten308 Entscheidung ohne Begründung festgestellt und in folgenden309 Entscheidungen weiterentwickelt oder übernommen. Dazu gibt es insgesamt sechs310 Urteile. Da diese zum Teil in ihrer Begründung auch auf Gesetzesrecht zurückgreifen, finden sich vier von Ihnen auch in den oben unter (1) erwähnten dreizehn Entscheidungen. Dennoch ist interessant, dass es in den deutschen Entscheidungen diese Tendenz zur Rechtsfortbildung contra legem gibt und dass es gerade die so entwickelten Rechtsinstitute sind, die gar nicht begründet werden. Es könnte sein, dass die Rechtsprechung eine Begründung vermeidet, da es eine dem Gesetz entsprechende Herleitung nicht gibt. In den nachfolgenden Entscheidungen wird sodann das Richterrecht als Rechtsquelle betrachtet und die Ergebnisse der Vorentscheidungen
305
BGHZ 9, 157 und BGH NJW 1993, 999. s. o. Fn. 296 und 305. 307 RGZ 95, 58, BGHZ 11, 80, BGHZ 56, 269, BGHZ 108, 179 und BGH MDR 1953, 345. 308 RGZ 56, 271 (Recht am Gewerbebetrieb) und RGZ 65, 292 (Anscheinsvollmacht). 309 BGHZ 36, 252 und BGHZ 69, 128 (Recht am Gewerbebetrieb); RGZ 117, 164 und BGH MDR 1953, 345 (Anscheinsvollmacht). 310 s. o. Fn. 308 f. 306
226
C. Rechtsfortbildung in Deutschland
werden übernommen. Die Rechtsprechung schöpft so scheinbare Legitimität aus Vorentscheidungen. Dieses Vorgehen spricht dafür, eine Pflicht zur Auseinandersetzung mit den Begründungen von Vorentscheidungen festzuschreiben. So kann in späteren Entscheidungen überprüft werden, ob der zu Beginn eingeschlagene Weg der Rechtsfortbildung beibehalten werden kann oder ob die Ergebnisse und Begründungen angepasst werden müssen. Eine solche Vorgehensweise ermöglicht es, Lösungen mit der Zeit zu verbessern. (3) Restliche Tendenzen Zählt man die dreizehn311 Entscheidungen, die über Gesetzes- und Vertragsrecht vorgehen, mit den zwei312 unter (2) erwähnten überzähligen Urteilen zur Rechtsfortbildung contra legem zusammen, kommt man auf fünfzehn Entscheidungen. Die restlichen fünf Urteile enthalten, bezogen auf die untersuchten Entscheidungen, Randphänomene. Zwei313 Urteile füllen die Lücke mit zulässigen Argumenten nicht, eine314 Entscheidung wendet im Rahmen einer Kombinationsbegründung bei der Analogie Deduktion statt Induktion an, eine315 enthält nur eine Kombinationsbegründung und ein316 Urteil geht schließlich überzeugend über eine Analogie vor. (4) Unvermeidbare eigene Wertung des Richters Mit BGHZ 22, 90 gibt es zudem eine Entscheidung, die entgegen seinem Wortlaut über § 242 BGB begründet, bei der es aber keine gesetzlichen Anhaltspunkte für eine Rechtsfortbildung gibt, so dass der Richter selbst werten muss. c) Bewusstsein des Legitimitätsproblems Von den untersuchten deutschen Entscheidungen spricht nur BGH NJW 1993, 999 das Legitimitätsproblem direkt an. Dort handelt es sich aber um den Extremfall des rechtsfreien Bereichs. Zudem gibt es in den untersuchten deutschen Entscheidungen Phänomene, die gegen ein Bewusstsein des Legitimitätsproblems sprechen. Dazu gehören das Offenlassen der Anwendung von konkretem Gesetzesrecht zugunsten von durch Rechtsfortbildung gefundenen Lösungen sowie das Nichteinhalten der Reihenfolge 311 312 313 314 315 316
s. o. Fn. 296. RGZ 65, 292 und BGHZ 36, 252. RGZ 144, 22 und BGHZ 65, 13. BGHZ 9, 157. BGHZ 51, 91. BGH NJW 1993, 999.
II. Ergebnisse Deutschland
227
von Auslegungs- und Lückenfüllungsargumenten bei der Rechtsfortbildung. Das eine oder das andere Phänomen findet sich zusammengenommen in acht317 Entscheidungen. Bei der Lückenfüllung an sich lässt sich dann wieder ein gewisses Bewusstsein des Legitimitätsproblems feststellen. Denn es wird in einem überwiegenden Teil der Urteile versucht, die Rechtsfortbildung mit dem Rückgriff auf Gesetzes- oder Vertragsrecht zu legitimieren. Dieser dem Legitimitätsprinzip zunächst entsprechende Versuch führt jedoch dazu, dass Gesetzes- und Vertragsrecht überdehnt wird. Insbesondere § 242 BGB wird nicht gemäß seinem Wortlaut angewandt. Hierdurch werden in fünf318 Fällen außerdem Ansätze einer Analogie revidiert. Insgesamt lässt sich sagen, dass die untersuchten deutschen Entscheidungen ein Bewusstsein des Legitimitätsproblems nicht klar erkennen lassen. d) Endergebnis Die Erwähnung der Lücke hat in den untersuchten deutschen Urteilen untergeordnete Bedeutung, wirkt sich aber auf die Bestimmung der Grenzen der Auslegung aus. Das dominierende Thema in den untersuchten deutschen Urteilen ist die Rechtsfortbildung über eine Überdehnung von Gesetzes- oder Vertragsrecht und dort insbesondere der Rückgriff auf § 242 BGB. Dies verhindert in einem Großteil319 der Urteile die nach hier vertretener Ansicht richtige Bestimmung der Grenzen der Auslegung bzw. überdeckt die zunächst zutreffend vorgenommene Abgrenzung. Weiterhin führt diese Vorgehensweise zu einer Verdeckung sämtlicher Legitimitätsprobleme bei der Lückenfüllung und schafft scheinbare Legitimität in der Lücke. Letzteres wird noch verstärkt durch eine Tendenz, zur Ergänzung der Begründungen auf scheinlegitime Methoden320 zurückzugreifen. Wichtig in den untersuchten deutschen Entscheidungen ist auch, dass zwei Rechtsinstitute321 contra legem entwickelt werden und sich dann über eine Rechtsprechungsentwicklung verfestigen. In einer322 der untersuchten Entscheidungen ist zudem keine gesetzesnahe Lückenfüllung möglich, so dass der Richter selbst werten muss.
317 RGZ 65, 292, RGZ 106, 22, BGHZ 9, 157, BGHZ 11, 80, BGHZ 22, 90, BGHZ 51, 91, BGHZ 69, 128 und BGH NJW 1993, 999. 318 s. o. Fn. 307. 319 s. o. Fn. 296. 320 s. o. Fn. 304 f. 321 Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb (s. o. C. I. 1.) und Anscheinsvollmacht (s. o. C. I. 2.). 322 BGHZ 22, 90.
228
C. Rechtsfortbildung in Deutschland
Schließlich wird in ebenfalls nur einer323 der untersuchten Entscheidungen überzeugend über eine Analogie vorgegangen. Weitere Analogien sind vorhanden, werden aber vor allem durch den Rückgriff auf § 242 BGB verdeckt.324 Hinsichtlich des Bewusstseins eines Legitimitätsproblems sind die untersuchten deutschen Entscheidungen nicht eindeutig. Eine Lückenfüllungsnorm wäre für Deutschland insofern sinnvoll, als sie eine Anleitung zur Lückenfüllung gäbe und diese vor allem erlauben würde, so dass sich die deutsche Rechtsprechung weniger verpflichtet fühlen würde, ihre Lösungen mit Gesetzes- oder Vertragsrecht zu legitimieren, obwohl das nicht mehr möglich ist. Damit ergibt sich, dass man die Lückenfüllungsnorm, die im ersten Entwurf zum BGB von 1887325 enthalten war, nicht hätte streichen sollen. Denn die untersuchten Urteile lassen erkennen, dass es nicht selbstverständlich ist, sich offen zu einer Lücke zu bekennen und diese über eine Analogie zu füllen. Auch ohne die Existenz einer Lückenfüllungsnorm kann die Rechtsprechung sich aber offener zu den Legitimitätsproblemen der Rechtsfortbildung bekennen und gesetzesnahe Methoden der Lückenfüllung anwenden.
323 324 325
BGH NJW 1993, 999. s. o. Fn. 307. Dazu oben B. V. 1. a).
D. Rechtsfortbildung in der Schweiz Im Folgenden wird anhand von Urteilsanalysen untersucht, wie die schweizerische Rechtsprechung bei der Rechtsfortbildung methodisch vorgeht und ob sie sich dabei am Legitimitätsprinzip orientiert.1 Um einen Überblick über die rechtsfortbildende Vorgehensweise der schweizerischen Rechtsprechung zu erhalten, werden die aus den Urteilsanalysen gewonnenen Erkenntnisse in einem zweiten Schritt systematisiert und in Form von Ergebnissen zusammengefasst.
I. Urteilsanalysen Schweiz In diesem Abschnitt werden ein oder mehrere Urteile zu folgenden Rechtsinstituten bzw. Rechtsfragen analysiert: Rechtsscheinvollmacht, Selbstkontrahieren des Vertreters, Abstraktions- oder Kausalitätsprinzip beim Eigentumserwerb, Gesetzlicher Übergang von Grundpfandrechten im Rahmen eines Kauf- und Schuldübernahmevertrages, culpa in contrahendo, Entschädigung bei einer Duldungspflicht des Nachbarn hinsichtlich Immissionen, die durch notwendige Baumaßnahmen am Nachbargrundstück entstehen, Kündigung von Dauerschuldverhältnissen ohne zeitliche Begrenzung („ewige Verträge“), Legalzession der Gewährleistungsansprüche der einzelnen Stockwerkeigentümer an die Stockwerkeigentümergemeinschaft, Kündigung eines Franchisevertrages, Reisekostenerstattung beim Heilungskostenkostenanspruch im Rahmen von Eingliederungsmaßnahmen nach dem IVG2 (Sozialversicherungsrecht), Haftung aus erwecktem Konzernvertrauen, richterliche Vertragsanpassung bei Übervorteilung nach Art. 21 OR, zugrunde zu legender Verdienst eines Schnupperlehrlings bei der Berechnung einer Invalidenrente in der Unfallversicherung (Sozialversicherungsrecht), Zeitpunkt der Geltung der alten oder neuen Privilegienordnung des Art. 219 SchKG3 im Rahmen des Nachlassverfahrens nach dem SchKG (Schuldbetreibungsrecht), Frage nach der Geltung der nationalen oder der internationalen Erschöpfung im Patentrecht, Zeitpunkt des Krankenversicherungswechsels bei verspäteter Mitteilung des neuen Versicherers (Sozialversicherungsrecht).
1
Zur Vorgehensweise bei den Urteilsanalysen s. o. B. VI. 2. Bundesgesetz über die Invalidenversicherung vom 19. Juni 1959 (AS 1959, 827), aktuelle Fassung abgedruckt in SR 831.20. 3 Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs vom 11. April 1889 (AS 11, 529), aktuelle Fassung abgedruckt in SR 281.1. 2
230
D. Rechtsfortbildung in der Schweiz
1. Rechtsscheinvollmacht Die Entscheidung BGE 31 II 667 vom 1. Dezember 1905, die vor dem Inkrafttreten des Schweizerischen Zivilgesetzbuches von 19074 ergangen ist, nimmt den Grundsatz der Rechtsscheinvollmacht unter Bezugnahme auf deutsche Literatur an. Die spätere Entscheidung BGE 74 II 149 vom 2. November 1948 bestätigt diesen Grundsatz für das schweizerische Recht, indem sie u. a. auf die Vorentscheidung BGE 31 II 667 Bezug nimmt. Die Entscheidung BGE 120 II 197 vom 21. Juni 1994 schließlich löst sich von den Vorentscheidungen und unternimmt eine eigene Begründung mit Hilfe von Art. 33 Abs. 3 OR und dem Vertrauensprinzip. a) BGE 31 II 667 – Annahme des Grundsatzes der Rechtsscheinvollmacht unter Bezugnahme auf deutsche Literatur (Urteil vom 1. Dezember 1905) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, ob eine Aktiengesellschaft, deren Buchhalter für sie ein Schuldanerkenntnis abgegeben hatte, dieses Schuldanerkenntnis gegen sich gelten lassen musste, wenn es sich für die Gläubigerin so darstellte, als habe der Buchhalter Vertretungsmacht. Es geht also um das Problem der Rechtsscheinvollmacht5. bb) Grenzen der Auslegung Die Entscheidung erwähnt nicht, dass die Rechtsscheinvollmacht im schweizerischen Recht nicht geregelt ist und dass somit eine Regelungslücke besteht. Da die Entscheidung vom 1. Dezember 1905 ist, kommt in ihr noch das Obligationenrecht von 18816 zur Anwendung. Im heute gültigen Obligationenrecht von 19117 kann man sich die Frage stellen, ob die Rechtsscheinvollmacht als Fall der Vollmachtskund-
4 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 (AS 24 233, 27 207), aktuelle Fassung abgedruckt in SR 210. 5 Die Terminologie hierzu ist in der Schweiz uneinheitlich. Zur Übersicht s. Gauch/ Schluep/Schmid/Emmenegger, OR AT I, § 14 II. 2. a) cc) (Rn. 1405 ff.). Z. T. wird der Begriff der Rechtsscheinvollmacht abgelehnt, so z. B. BK-Zäch/Künzler Art. 33 OR Rn. 128 f., und BSK OR I-Watter Art. 33 Rn. 30 m.w.N. Zur Vereinfachung soll im Folgenden aber von Rechtsscheinvollmacht gesprochen werden. 6 Bundesgesetz über das Obligationenrecht vom 14. Juni 1881 (AS N.F., Bd. 5 [1882] 635 ff.). 7 Bundesgesetz betreffend die Ergänzung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Fünfter Teil: Obligationenrecht) vom 30. März 1911 (AS 27 317), aktuelle Fassung abgedruckt in SR 220.
I. Urteilsanalysen Schweiz
231
gabe unter Art. 33 Abs. 3 OR zu fassen ist.8 Im Obligationenrecht von 1881, wo die Stellvertretung in den Art. 36 ff. geregelt ist, gibt es eine entsprechende Vorschrift jedoch noch nicht. Insofern stellt sich diese Abgrenzungsfrage in diesem Urteil nicht. Für das Obligationenrecht von 1881 gilt vielmehr erst recht, dass die Rechtsscheinvollmacht nicht geregelt ist. Die Entscheidung behandelt die Rechtsscheinvollmacht und die tatsächliche Vollmacht auf S. 672 jedoch als zwei nebeneinander bestehende Möglichkeiten, den Sachverhalt rechtlich einzuordnen. Dabei rückt sie die Rechtsscheinvollmacht in die Nähe der stillschweigenden Vollmachterteilung und unterscheidet nicht deutlich zwischen beiden Alternativen. Sie sagt auf S. 672, es sei davon auszugehen, dass die Erteilung der Vollmacht an keine Form gebunden sei und auch stillschweigend erfolgen könne und dass unter Umständen aus dem Stillschweigen des Geschäftsherrn zu Rechtshandlungen des Angestellten auf Erteilung der Vollmacht zu schließen sei. Die stillschweigende Vollmachterteilung erfolgt aber nach Art. 39 aOR9 und nach Art. 33 Abs. 2 OR zwischen Vertretenem und Vertreter. Eine Rechtsscheinvollmacht ist hingegen keine stillschweigende Bevollmächtigung. Sie bedeutet vielmehr, dass einem Dritten gegenüber der Eindruck entsteht, es habe im Innenverhältnis zwischen Vertreter und Vertretenem eine Bevollmächtigung gegeben.10 Das sagt die Entscheidung in dem oben wiedergegebenen Satz letzten Endes auch. Indem sie aber beide Möglichkeiten in einem Zug erwähnt und beide mit dem Wort „stillschweigend“ beschreibt, entsteht der Eindruck, dort bestünde eine Ähnlichkeit. Tatsächlich unterscheidet sich die stillschweigende Vollmachterteilung, die man aus dem Gesetz ableiten kann, von der nicht geregelten Rechtsscheinvollmacht. In dem die Entscheidung zwischen beiden einen Zusammenhang herstellt, verwischt sie also die Grenzen der Auslegung. Zusätzlich zu dieser Tendenz, die Rechtsscheinvollmacht in die Nähe der stillschweigenden Vollmachterteilung zu rücken, wird Erstere aber auch grundsätzlich als Rechtsinstitut angenommen, obwohl diesbezüglich kein Gesetzesrecht besteht. Dadurch wird das Problem nicht angesprochen, dass die Rechtsscheinvollmacht nicht geregelt ist. Im Ergebnis werden die Grenzen der Auslegung also nicht bestimmt. cc) Lückenfüllung Eine Lückenfüllung erfolgt in dem Sinne nicht, als nicht ausdrücklich von einer Lücke ausgegangen wird. Dennoch gibt es zwei Begründungsansätze hinsichtlich der Rechtsscheinvollmacht. Das eine sind die Grundsätze von Treu und Glauben (S. 672), das andere ist ein Verweis auf eine Definition der Rechtsscheinvollmacht in 8
Vgl. dazu die Analyse von BGE 120 II 197 [D. I. 1. c)] unter bb). Bundesgesetz über das Obligationenrecht vom 14. Juni 1881 (AS N.F., Bd. 5 [1882] 635 ff.). 10 Rusch, Rechtsscheinlehre, § 15 III. 2. (S. 84). 9
232
D. Rechtsfortbildung in der Schweiz
der deutschen Literatur (S. 673). Da sich das Bundesgericht damit nur auf die Lösung der deutschen Literatur und nicht auf deren Begründungen bezieht, kommt diesem Verweis keine legitimierende Wirkung zu. Die angeführte Definition der Rechtsscheinvollmacht, dass aus dem Stillschweigen des Geschäftsherren zu Rechtshandlungen des Angestellten auf Erteilung der Vollmacht zu schließen sei, insbesondere wenn es der Geschäftsherr geschehen lasse, dass sich der Angestellte als Bevollmächtigter geriere, wird nicht mit Regelungen des schweizerischen Rechts begründet. Auch die Grundsätze von Treu und Glauben enthalten keine Begründung für die Annahme der Rechtsscheinvollmacht. Bei der Rechtsscheinvollmacht geht es um einen Interessenausgleich zwischen Vertretenem und Drittem. Der Vertretene möchte nicht gebunden sein, da er keine Vollmacht erteilt hat. Der Dritte vertraut auf einen Rechtsschein, der durch das Auftreten des Vertreters ohne Vertretungsmacht entsteht. Hat der Vertretene Kenntnis vom Auftreten des Vertreters oder hätte er in zumutbarer Weise Kenntnis erlangen können, kann man den Konflikt so lösen, dass der Dritte in seinem Vertrauen auf den Rechtsschein geschützt werden soll. Dies ist aber keineswegs zwingend und ergibt sich auch nicht aus Treu und Glauben. Der Grundsatz von Treu und Glauben ist zu allgemein, um aus ihm eine so konkrete Regel wie die der Rechtsscheinvollmacht abzuleiten. Die Bezugnahme auf Treu und Glauben verdeckt hier lediglich, dass der Richter selbst wertet. dd) Ergebnis Es handelt sich um eine Entscheidung, die vor Inkrafttreten des Schweizerischen Zivilgesetzbuches von 1907 und damit auch vor Inkrafttreten von Art. 1 ZGB ergangen ist. Das Lückenproblem wird in dieser Entscheidung nicht angesprochen, sondern die Rechtsscheinvollmacht wird, ähnlich wie in den deutschen Entscheidungen zum selben Thema11, nicht begründet. Zum einen wird sie in die Nähe der stillschweigenden Vollmachterteilung gerückt und zum anderen bezieht sich das Bundesgericht auf einen aus der deutschen Literatur bekannten Grundsatz und zieht Treu und Glauben zur Bekräftigung heran. b) BGE 74 II 149 – Bestätigung des Grundsatzes der Anscheinsvollmacht für das schweizerische Recht unter Bezugnahme auf BGE 31 II 667 (Urteil vom 2. November 1948) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, ob die Gläubigerin einen Schuldnerwechsel gegen sich gelten lassen musste, weil sie einen Angestellten in der Art und Weise auftreten 11
Vgl. die Analysen unter C. I. 2.
I. Urteilsanalysen Schweiz
233
ließ, dass ihre Geschäftsgegnerin annehmen musste, dieser sei zum Abschluss eines Schuldübernahmevertrages bevollmächtigt. Es geht also wieder um die Frage der Rechtsscheinvollmacht. bb) Grenzen der Auslegung Die Grenzen der Auslegung werden in dieser Entscheidung nicht bestimmt. Das Bundesgericht zieht keine Normen heran, aus denen man die Rechtsscheinvollmacht ableiten könnte. Es käme Art. 33 Abs. 3 OR in Frage, der regelt, dass, wenn die Ermächtigung vom Vollmachtgeber einem Dritten mitgeteilt wird, sich ihr Umfang diesem gegenüber nach Maßgabe der erfolgten Kundgebung beurteilt. Die Vorschrift des Art. 33 Abs. 3 OR soll auch zur Anwendung kommen, wenn eine Vollmacht mitgeteilt wird, obwohl eigentlich keine Bevollmächtigung vorliegt.12 Weiterhin wird der Fall einer Rechtsscheinvollmacht jedenfalls teilweise als „Mitteilung“ im Sinne von Art. 33 Abs. 3 OR gesehen.13 Schließt man sich dieser Auffassung an14, gibt es in der Schweiz eine gesetzliche Regelung der Rechtsscheinvollmacht, die die Entscheidung hätte erwähnen müssen. Weiterhin werden die Grenzen der Auslegung überdehnt, indem die Entscheidung die Rechtsscheinvollmacht als stillschweigende Vollmachterteilung bezeichnet. Auf S. 151 in der Mitte bezieht sie sich zunächst auf die in BGE 31 II 667 gemachte Aussage, dass die Erteilung einer Vollmacht durch konkludentes Verhalten erfolgen und gegebenenfalls aus dem Stillschweigen des Geschäftsherrn zu Rechtshandlungen, die sein Angestellter vornehme, geschlossen werden könne. Damit wird, wie in BGE 31 II 66715, die Rechtsscheinvollmacht in die Nähe der stillschweigenden Vollmachterteilung gerückt. Die vorliegende Entscheidung geht jedoch weiter, indem sie die Rechtsscheinvollmacht auf S. 151 unten und S. 152 oben ausdrücklich als stillschweigende Vollmachterteilung bezeichnet. Eine stillschweigende Vollmachterteilung erfolgt jedoch gem. Art. 33 Abs. 2 OR zwischen Vertretenem und Vertreter und ist somit gesetzlich geregelt. Die Rechtsscheinvollmacht entsteht hingegen gegenüber einem Dritten, der auf den Rechtsschein vertraut, es habe im Innenverhältnis eine Bevollmächtigung gegeben.16 Für diesen Fall steht allenfalls Art. 33 Abs. 3 OR zur Verfügung, wo der Vertretene einem Dritten mitteilt, dass eine Person bevollmächtigt worden ist. Eine stillschweigende Vollmachterteilung ist die
12 Schwenzer, OR AT, § 42 IV. (Rn. 42.30); BSK OR I-Watter Art. 33 Rn. 29; BK-Zäch/ Künzler Art. 33 OR Rn. 139. 13 Gauch/Schluep/Schmid/Emmenegger, OR AT I, § 14 II. 2. a) cc) 2. (Rn. 1410); Schwenzer, OR AT, § 42 IV. (Rn. 42.30); Rusch, Rechtsscheinlehre, § 15 V. (S. 98 f.) („normative Kundgabe“). 14 Vgl. zu dieser Problematik die ausführliche Erörterung mit Stellungnahme bei der Analyse von BGE 120 II 197 [D. I. 1. c)] unter bb). 15 Vgl. die Analyse [D. I. 1. a)] unter bb). 16 Rusch, Rechtsscheinlehre, § 15 III. 2. (S. 84).
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D. Rechtsfortbildung in der Schweiz
Rechtsscheinvollmacht jedoch nicht. Indem die Entscheidung dies aber feststellt, überdehnt sie das Gesetzesrecht und damit die Grenzen der Auslegung. cc) Lückenfüllung Da die Entscheidung, wie BGE 31 II 667, nicht von einer Regelungslücke ausgeht, erfolgt keine ausdrückliche Lückenfüllung. Dennoch gibt es auch in dieser Entscheidung zwei Begründungsansätze hinsichtlich der Rechtsscheinvollmacht. Der eine ist das Zitieren der Vorentscheidung BGE 31 II 667 (S. 151), die aber keine überzeugende Begründung enthält, sondern auf Treu und Glauben und auf deutsche Literatur verweist. Der andere ist der Verweis auf den kaufmännischen Verkehr, der einfache und übersichtliche Verhältnisse voraussetze, da nur so die erforderliche Rechtssicherheit gewährleistet werden könne (S. 151). Bei der Rechtsscheinvollmacht geht es jedoch um einen Interessenkonflikt. Auf der einen Seite steht das Interesse des Vertretenen, der keine Vollmacht erteilt hat. Auf der anderen Seite steht das Interesse des Geschäftsgegners, der auf den Rechtsschein vertraut, und damit allgemein die Förderung des kaufmännischen Verkehrs, der dann reibungsloser verläuft, wenn jeder auf diesen Rechtsschein vertrauen darf. Diesem Interesse den Vorzug zu geben, zumal wenn der Vertretene den Rechtsschein, sein Angestellter habe Vertretungsmacht, zurechenbar gesetzt hat, ist sinnvoll. Diese Sicht der Dinge ist jedoch nicht zwingend. Es handelt sich um eine rechtspolitische Entscheidung und somit um eine eigene Wertung des Richters. Das Urteil führt keine rechtlichen Regelungen an, die Grundsätze zur Lösung dieses Interessenkonfliktes beinhalten könnten. Da es in der Entscheidung um ein kaufmännisches Verhältnis geht, hätte sich die Bezugnahme auf handelsrechtliche Regelungen angeboten.17 Allenfalls ein Anschein einer am Legitimitätsprinzip orientierten Begründung entsteht, wenn die Entscheidung den Begriff der „Rechtssicherheit“ verwendet. Rechtssicherheit ist einerseits ein überpositiver Begriff, den man im Sinne Gustav Radbruchs als Element der Rechtsidee begreifen kann.18 Positivrechtlich kann man die Rechtssicherheit zudem als Bestandteil des in Art. 5 BV enthaltenen Rechtsstaatsprinzips werten19, das zur Zeit des Urteils vom Bundesgericht aus Art. 4 aBV20 abgeleitet wurde21. Rechtssicherheit bedeutet, dass es für den Bürger vorhersehbar und nachprüfbar wird, wie gerichtliche Entscheidungen ausfallen werden.22
17 18 19 20 21 22
Dazu Koller, Der gute und der böse Glaube, 2. Teil 1. Kapitel II. 2. E. b) 3. (Rn. 252). s. o. B. III. 2. b) aa). s. o. Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874 (AS 1, 1). Rhinow/Schefer, Verfassungsrecht, § 26 III. a. (Rn. 2605 f.). s. o. B. III. 2. b) aa).
I. Urteilsanalysen Schweiz
235
Im Fall der Rechtsscheinvollmacht geht es aber nicht um ein Sich-VerlassenKönnen auf richterliche Entscheidungen und damit auf ein staatliches Handeln, sondern um ein Vertrauen-Können auf einen Rechtsschein, der durch ein tatsächliches Verhalten eines Geschäftspartners hervorgerufen wird. In diesem Sinne meint Gewährleisten der Rechtssicherheit nichts anderes als Rechtsscheinhaftung. Rechtssicherheit hingegen entsteht dadurch, dass man für Fälle, wo es um einen Rechtsschein geht, eine Regel findet. Welchen Inhalt diese Regel haben soll, ist aber offen. Soll man auf den Rechtsschein vertrauen können, ist das gut, soll man nicht darauf vertrauen können, muss man sich in jedem Einzelfall eine Vollmacht zeigen lassen. In beiden Fällen, weiß der Vertragspartner aber, woran er sich halten muss. Eine zusätzliche legitimierende Begründung enthält der Begriff der „Rechtssicherheit“ damit nicht. Zudem lässt es die Entscheidung, wie die deutsche Entscheidung RGZ 117, 16423, offen, ob sie den vorliegenden Fall über eine Duldungs- oder eine Anscheinsvollmacht lösen soll. Sie führt vielmehr auf S. 151 f. aus, es sei nicht so sehr entscheidend, ob der Kaufmann die rechtsgeschäftliche Tätigkeit seines Vertreters im Einzelfall kenne und billige, als vielmehr, wie die mit seinem Vertreter kontrahierenden Dritten sein Verhalten, das er gegenüber dessen Tätigkeit bekunde, auffassen müssten. Das Bundesgericht sagt also, dass es auf die Kenntnis des Vertretenen vom Handeln des Vertreters nicht ankomme und macht somit keinen Unterschied zwischen Anscheins- und Duldungsvollmacht. Dieser Unterschied ist deshalb von Bedeutung, weil sich eine Duldungsvollmacht aus einer doppelten Analogie zu Art. 33 Abs. 3 OR ableiten lässt24. Die erste Analogie ergibt sich daraus, dass bei der Duldungsvollmacht eine Vollmacht mitgeteilt wird, die nicht besteht. Die zweite Analogie bezieht sich darauf, dass bei der Duldungsvollmacht nichts „mitgeteilt“ wird, sondern der Vertretene tatsächliche Umstände schafft, die auf das Vorliegen einer Bevollmächtigung schließen lassen. Bei der Duldungsvollmacht kennt der Vertretene das Handeln seines Vertreters. Er weiß also, dass er einen Rechtsschein setzt. Anders ist es bei der Anscheinsvollmacht, wo der Vertretene nicht um das Handeln seines Vertreters weiß, so dass immer eine Anfechtungsmöglichkeit gegeben ist und lediglich ein Schadensersatzanspruch auf das negative Interesse aus Art. 26 Abs. 1 OR besteht.25 Die Anscheinsvollmacht ist also mit dem schweizerischen Zivilrecht nicht überzeugend zu begründen.26 Schon aus diesem Grund hätte es sich angeboten, zu prüfen, ob eine Duldungsvollmacht vorliegt, zumal der Sachverhalt Anhaltspunkte dafür enthält, dass eine solche gegeben sein könnte. Auf S. 152 heißt es dazu, die Klägerin habe ihren Angestellten Hasler nach außen völlig selbständig einen Kaufvertrag wesentlichen Umfanges abschließen lassen. Auf S. 153 wird weiterhin ausgeführt, die Klägerin müsse diesen Schein, den sie durch die ihrem Vertreter 23 24 25 26
Vgl. die Analyse [C. I. 2. b)] unter cc). Dazu ausführlich die Analyse von BGE 120 II 197 [D. I. 1. c)] unter bb). s. o. s. o.
236
D. Rechtsfortbildung in der Schweiz
eingeräumte Freiheit erweckt habe, gegen sich gelten lassen. Beide Aussagen weisen darauf hin, dass die Gläubigerin (Klägerin) von dem Handeln ihres Vertreters Kenntnis hatte und sein Vorgehen duldete. dd) Ergebnis Obwohl es sich um eine Entscheidung handelt, die gut vier Jahrzehnte nach Einführung des ZGB und damit auch von Art. 1 ZGB ergangen ist, erfolgt weder ein genaues Feststellen einer Regelungslücke noch eine überzeugende lückenfüllende Begründung. Zu Art. 33 Abs. 3 OR wird nicht abgegrenzt. Die Grenzen der Auslegung werden zudem dadurch überdehnt, dass versucht wird, die Rechtsscheinvollmacht als stillschweigende Vollmachterteilung unter das Gesetzesrecht zu fassen. Hier kann man gegenüber der Entscheidung BGE 31 II 667 von einer negativen Rechtsprechungsentwicklung sprechen, denn in der Vorentscheidung wurde die Rechtsscheinvollmacht lediglich in die Nähe einer stillschweigenden Vollmachterteilung gerückt27. Eine ausdrückliche lückenfüllende Begründung erfolgt nicht. Die Entscheidung untermauert die Rechtsscheinvollmacht jedoch mit einem Verweis auf eine Vorentscheidung und einer eigenen Wertung. Interessant dabei ist, dass sich damit ein aus dem deutschen Recht stammender Grundsatz in das schweizerische Recht hineinentwickelt. Wurde in BGE 31 II 667 noch deutsche Literatur zitiert, so wird im vorliegenden Urteil durch den Verweis auf BGE 31 II 667 die Rechtsscheinvollmacht zu einem Grundsatz, der in der schweizerischen Rechtsprechung und damit im schweizerischen Recht existiert. Hier scheint es so, dass auch Art. 1 ZGB nichts dagegen ausrichtet, dass ein schon länger bestehender Grundsatz übernommen wird, ohne dass eine überzeugende Begründung versucht wird. Dies spricht dafür, den Umgang mit Vorentscheidungen in einer Lückenfüllungsnorm zu regeln, um solche Rechtsprechungsentwicklungen zu unterbinden, die aus aufeinander aufbauenden Urteilen bestehen, aber keine Begründungen enthalten. Der Hinweis auf die Rechtssicherheit als Begründungsmittel entpuppt sich als Leerformel, da damit nur die bereits vorher aufgeführte Rechtsscheinhaftung gemeint ist. Zudem unterscheidet die Entscheidung nicht zwischen Duldungs- und Anscheinsvollmacht und nutzt damit die Möglichkeit einer gesetzesnahen Begründung nicht.
27
Vgl. die Analyse von BGE 31 II 667 [D. I. 1. a)] unter bb).
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c) BGE 120 II 197 – Herleitung der Rechtsscheinvollmacht über Art. 33 Abs. 3 OR i.V.m. dem Vertrauensprinzip (Urteil vom 21. Juni 1994) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, ob der Mitarbeiter und Sohn eines Firmeninhabers wirksam für diesen einen Vertrag über die Einrichtung eines neuen Geschäftes abschließen konnte, obwohl er nicht über Vertretungsmacht verfügte. Da der Firmeninhaber keine Kenntnis vom Handeln seines Sohnes hatte, geht es hier um die Anscheinsvollmacht. bb) Grenzen der Auslegung Die Entscheidung macht zunächst keinen Unterschied zwischen Duldungs- und Anscheinsvollmacht und versucht, die Rechtsscheinvollmacht auf S. 199 allgemein unter Art. 33 Abs. 3 OR zu fassen. Auf ein eventuelles Lückenproblem wird damit nicht eingegangen. Die direkte Anwendung von Art. 33 Abs. 3 OR ist jedoch in zweierlei Hinsicht problematisch. Die Vorschrift spricht zunächst davon, dass eine Ermächtigung vom Vollmachtgeber einem Dritten mitgeteilt werden müsse und sich ihr Umfang dann diesem gegenüber nach Maßgabe der erfolgten Kundgebung beurteile. Dieser Wortlaut setzt voraus, dass eine Vollmacht besteht, die mitgeteilt werden und deren Umfang sich dem Dritten gegenüber durch die Kundgabe ändern kann. Die Vorschrift des Art. 33 Abs. 3 OR ist daher auf den Fall, dass eine Vollmacht kundgegeben wird, die überhaupt nicht besteht, lediglich analog anzuwenden.28 Auch bei der Rechtsscheinvollmacht ist es so, dass der Rechtsschein einer Vollmacht geschaffen wird, obwohl keine Vollmacht besteht. Damit kann auch auf den Fall der Rechtsscheinvollmacht Art. 33 Abs. 3 OR lediglich analoge Anwendung finden. Das zweite Problem, das sich bei dem Versuch einer direkten Anwendung von Art. 33 Abs. 3 OR auf die Rechtsscheinvollmacht stellt, ist das der „Kundgabe“ der Vollmacht. Die Frage ist, ob man bei einer Rechtsscheinvollmacht von einer Kundgabe der Vollmacht sprechen kann. Die Kundgabe ist keine Willenserklärung, sondern bei den sogenannten Vorstellungsäußerungen oder Wissensmitteilungen einzuordnen.29 Allerdings handelt es sich bei solchen Vorstellungsäußerungen um
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Gauch/Schluep/Schmid/Emmenegger, OR AT I, § 14 II. 2. a) bb) 1. b. (Rn. 1399); Huguenin, OR AT u. BT, § 9 VI. 2.1 (Rn. 1098) („teleologische Erweiterung“); a.A. BK-Zäch/ Künzler Art. 33 OR Rn. 139; BSK OR I-Watter Art. 33 Rn. 29; Schwenzer, OR AT, § 42 IV. (Rn. 42.30). 29 Guhl/Koller, OR (2000), § 21 II. 1. Rn. 12; CHK OR I-Kut Art. 33 Rn. 37; BK-Zäch/ Künzler Art. 33 OR Rn. 126.
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rechtsgeschäftsähnliche Handlungen, die nach den gleichen Regeln wie Willenserklärungen auszulegen sind.30 Im schweizerischen Recht sind Willenserklärungen nach der sogenannten Vertrauenstheorie nach dem objektiven Empfängerhorizont auszulegen, d. h. die Willenserklärung gilt so, wie sie eine vernünftige Person aus der Sicht des Erklärungsempfängers nach Treu und Glauben verstehen durfte und musste.31 Eine solche vom Empfängerhorizont interpretierte Willenserklärung wird als normative Willenserklärung bezeichnet.32 Auch bei der Rechtsscheinvollmacht stellt es sich vom Empfängerhorizont aus so dar, als liege eine Vollmacht vor. Die Entscheidung spricht dann auch auf S. 199 von einer „normativ kundgegebenen“ Vollmacht33. Dies ist insofern zutreffend, als es vom Empfängerhorizont aus so aussieht, als liege eine Vollmacht vor. Die Frage ist aber, ob der objektive Empfänger auch von einer „Kundgabe“ oder „Mitteilung“ ausgehen kann. Die Entscheidung erwähnt dazu auf S. 200 eine „objektive Mitteilung“, die dann vorliege, wenn das tatsächliche Verhalten des Vertretenen auf einen Mitteilungswillen schließen lasse. Es gehe dabei um ein positives Tun oder ein passives Verhalten, das in einem bewussten oder normativ zurechenbaren Unterlassen oder Dulden bestehen könne. Dies bedeutet, dass der Vertretene durch ein Handeln oder Unterlassen tatsächliche Umstände schafft, die auf eine Bevollmächtigung schließen lassen, insbesondere den Vertreter ohne Vertretungsmacht in einer diesbezüglichen Art und Weise auftreten lässt. Diese tatsächlichen Umstände stellen sich für einen objektiven Dritten aber auch nur als solche dar und lassen nicht darauf schließen, dass der Vertretene etwas „mitteilen“ oder „kundgeben“ wollte.34 Möchte man Art. 33 Abs. 3 OR auf die Rechtsscheinvollmacht anwenden, kann man das folglich nur im Rahmen einer weiteren Analogie tun, da bei der Rechtsscheinvollmacht keine Kundgabe vorliegt. Auf S. 202 sagt die Entscheidung weiterhin, dass die Bindungswirkung des Vertretenen nur eintrete, wenn sein Unterlassen objektiv als drittgerichtete Mitteilung, als Vollmachtskundgabe zu werten sei. Auch hier gilt, dass bei der Rechtsscheinvollmacht aus Empfängersicht keine Kundgabe vorliegt. Indem die Entscheidung Art. 33 Abs. 3 OR auf die Rechtsscheinvollmacht direkt anwenden möchte, überdehnt sie also die Grenzen des Gesetzesrechts. Ein weiteres Problem bei der Anwendung von Art. 33 Abs. 3 OR ergibt sich speziell für die Anscheinsvollmacht, die in diesem Urteil in Frage steht. Eine solche wird zwar letzten Endes abgelehnt (S. 206), dennoch macht das Urteil Aussagen zur Herleitung der Rechtsscheinvollmacht allgemein und auch der Anscheinsvollmacht. 30 31 32 33 34
CHK OR I-Kut Art. 33 Rn. 37; BK-Zäch/Künzler Art. 33 OR Rn. 126. Schwenzer, OR AT, § 27 IV. 3. (Rn. 27.41). Schwenzer, OR AT, § 27 IV. 3. (Rn. 27.41). So auch Rusch, Rechtsscheinlehre, § 15 V. (S. 98). Ähnlich Koller, Der gute und der böse Glaube, 2. Teil 1. Kapitel II. 2. C. 2. (Rn. 231).
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Im Rahmen von Art. 33 Abs. 3 OR leitet die Entscheidung die Bindung des Vertretenen bei der Rechtsscheinvollmacht über das bereits oben beschriebene Vertrauensprinzip her (S. 199). Dies ist insofern zutreffend, als aus Sicht des Dritten der Rechtsschein einer bereits erteilten Vollmacht entsteht. Auf S. 201 beschreibt die Entscheidung die Anscheinsvollmacht dann so, dass der Vertretene das Verhalten des Vertreters nicht kenne, es aber bei pflichtgemäßer Aufmerksamkeit hätte erkennen und verhindern können. Durch die Tatsache, dass der Vertretene das Handeln seines Vertreters nicht kennt, kommt jedoch die Vertrauenstheorie an ihre Grenzen. Die Vertrauenstheorie wird nämlich über die Irrtumsanfechtung durch die Willenstheorie begrenzt.35 Möchte man die Irrtumsanfechtung auf die Anscheinsvollmacht anwenden, muss man sich zunächst fragen, ob die Vollmachtskundgabe nach Art. 33 Abs. 3 OR anfechtbar sein soll36, da man – wie oben dargestellt – die Anscheinsvollmacht analog dazu entwickelt. Dabei stellt sich die Frage, ob der Gutglaubensschutz bei Art. 33 Abs. 3 OR weiter gehen soll als derjenige, der bei Willenserklärungen durch das Vertrauensprinzip gewährleistet ist. Das würde bedeuten, dass die Vollmachtskundgabe nicht anfechtbar ist. Dagegen spricht, dass die Vollmachtskundgabe als Wissensmitteilung der Willenserklärung ähnlich ist und vor allem die gleichen Konsequenzen hat.37 Bei der Kundgabe der Vollmacht wird der Vertretene vertraglich gebunden, wenn der Vertrag vom kundgegebenen Umfang der Vollmacht gedeckt ist. Bevollmächtigt der Vertretene den Vertreter hingegen mit einer Willenserklärung oder schließt er selbst den Vertrag mit dem Dritten ab, geschieht dasselbe. Auch ist der Dritte im letzteren Fall nicht weniger schutzwürdig. Wird ihm eine Vollmacht durch Kundgabe mitgeteilt oder ist er Adressat einer Willenserklärung – in beiden Fällen vertraut er auf die Erklärung und geht davon aus, dass ein Vertrag zustandekommt. Es ist also kein Grund ersichtlich, warum die Vollmachtskundgabe nach Art. 33 Abs. 3 OR nicht anfechtbar sein soll. Möchte man die Anscheinsvollmacht analog Art. 33 Abs. 3 OR herleiten, muss das aber auch für diese gelten. Bei der Anscheinsvollmacht ergibt sich das Irrtumsproblem daraus, dass der Vertretene sich dessen nicht bewusst ist, dass er einen Rechtsschein setzt. Fraglich ist, welche Art von Irrtum in diesem Fall vorliegen könnte. Bei Willenserklärungen gilt gem. Art. 24 Abs. 1 Ziff. 1 OR, dass ein wesentlicher Irrtum gegeben ist, wenn der Irrende einen anderen Vertrag eingehen wollte als denjenigen, für den er seine Zustimmung erklärt hat. Dieser Fall des Erklärungsirrtums wird in der Schweiz als error in negotio bezeichnet und schließt auch den Fall ein, dass jemand überhaupt keine rechtsgeschäftliche Erklärung abgeben will, sein Verhalten jedoch nach dem Vertrauensprinzip als eine solche ge35 Schwenzer, OR AT, § 36 I. (Rn. 36.01); BSK OR I-Bucher (5. Aufl. 2011) Art. 1 Rn. 7; dazu auch BK-Schmidlin Vorbem. Art. 23 – 27 OR Rn. 41 ff. 36 Dafür BK-Zäch/Künzler Art. 33 OR Rn. 127 m.w.N., und Koller, Der gute und der böse Glaube, 2. Teil 1. Kapitel II. 2. C. 3. (Rn. 233); dagegen BSK OR I-Watter Art. 33 Rn. 34 m.w.N.; Nachweise zum Meinungsstand außerdem bei CHK OR I-Kut Art. 33 Rn. 39. 37 Ähnlich Rusch, Rechtsscheinlehre, § 15 IX. 1. (S. 119 f.) m.w.N, i.E. aber ablehnend.
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wertet wird.38 Möchte jemand keine rechtsgeschäftliche Erklärung abgeben, fehlt ihm aber der Erklärungswille oder das Erklärungsbewusstsein. Der Erklärungswille ist der Wille, den Geschäftswillen einer anderen Person mitzuteilen, damit er die beabsichtigten Rechtswirkungen erzeugt.39 Bei Fehlen dieses Erklärungswillens oder Erklärungsbewusstseins kann man folglich die Erklärung wegen Erklärungsirrtums anfechten. Bei der Vollmachtskundgabe nach Art. 33 Abs. 3 OR handelt es sich um eine rechtsgeschäftsähnliche Handlung40, die ähnlich des Erklärungsbewusstseins bei der Willenserklärung von einem Mitteilungsbewusstsein getragen werden muss41. Bejaht man – wie oben – eine grundsätzliche Anfechtbarkeit der Vollmachtskundgabe, kann man sie folglich bei Fehlen des Mitteilungsbewusstseins wegen Erklärungsirrtums anfechten. Geht man nun noch einen Schritt weiter und entwickelt die Anscheinsvollmacht analog zu Art. 33 Abs. 3 OR, liegt zwar keine Kundgabe vor, die ein Mitteilungsbewusstsein erfordert, aber ein Schaffen eines Rechtsscheins, das dann entsprechend Art. 33 Abs. 3 OR eine Art „Rechtsscheinbewusstsein“ fordern würde.42 Das Setzen eines Rechtsscheins ohne „Rechtsscheinbewusstsein“ wäre dann genauso wie die Mitteilung ohne Mitteilungsbewusstsein anfechtbar.43 Bei der Duldungsvollmacht liegt dieses Bewusstsein vor, da sich der Geschäftsherr darüber im Klaren ist, dass sich eine andere Person als sein Vertreter geriert. Diese lässt sich also über eine doppelte Analogie zu Art. 33 Abs. 3 OR herleiten. Anders ist es aber bei der Anscheinsvollmacht. Bei dieser ist es dem Vertretenen nämlich per definitionem nicht bewusst, dass er einen Rechtsschein setzt. Er muss daher nach der obigen Argumentation eine Anfechtungsmöglichkeit haben.44 Damit wäre die Anscheinsvollmacht immer anfechtbar und es bliebe lediglich der Schadensersatzanspruch aus Art. 26 Abs. 1 OR, der bei verschuldetem Irrtum einen Ersatz des negativen Interesses gewährt45. Dabei handelt es sich um einen gesetzlich geregelten Fall der culpa in contrahendo.46 Für die Anscheinsvollmacht in der
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Schwenzer, OR AT, § 37 II. 3. a) (Rn. 37.11); BK-Schmidlin Art. 23/24 OR Rn. 37 ff. Schwenzer, OR AT, § 27 I. 1. (Rn. 27.02). 40 BK-Zäch/Künzler Art. 33 OR Rn. 126. 41 BK-Zäch/Künzler Art. 33 OR Rn. 41. 42 Zur ähnlichen Argumentation im deutschen Recht vgl. die Analyse von BGH MDR 1953, 345 [C. I. 2. c)] unter cc). 43 A.A. Rusch, Rechtsscheinlehre, § 15 IX. 2. (S. 122). 44 A.A. Rusch, Rechtsscheinlehre, § 15 IX. 3. (S. 124 f.), und BK-Schmidlin Art. 23/24 OR Rn. 277. 45 Guhl/Koller, OR, § 16 IV. 3. (Rn. 26); Schwenzer, OR AT, § 39 IV. 3. a) (Rn. 39.34). 46 BK-Schmidlin Art. 26 OR Rn. 5; Gauch/Schluep/Schmid/Emmenegger, OR AT I, § 7 II. 1. e) 2. c. (Rn. 851); Schwenzer, OR AT, § 39 IV. 3. (Rn. 39.29). 39
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Schweiz gilt daher wie im deutschen Recht47, dass lediglich eine Haftung auf das negative Interesse aus culpa in contrahendo anzunehmen ist48. Da die Anscheinsvollmacht nach der vorangehenden Argumentation immer anfechtbar wäre, lässt sie sich nicht über eine Analogie zu Art. 33 Abs. 3 OR begründen und passt letzten Endes nicht ins schweizerische System. Indem die Entscheidung aber auch die Anscheinsvollmacht unter Art. 33 Abs. 3 OR fasst, überdehnt sie diesbezüglich die Grenzen des Gesetzesrechts. Auf S. 201 f. sagt sie dazu, Art. 33 Abs. 3 OR begründe richtig verstanden eine Verkehrsschutzregelung des Inhalts, dass nach Maßgabe des Vertrauensschutzes der Vertretene und nicht der Geschäftsgegner das Risiko fehlender Vollmacht trage. Dies lässt sich mit der hier vertretenen Auffassung nicht vereinbaren. Selbst wenn man der Argumentation zur Anfechtbarkeit der Anscheinsvollmacht nicht folgt, überdehnt die Entscheidung jedoch insoweit das Gesetzesrecht, als sie eine direkte Anwendung von Art. 33 Abs. 3 OR annimmt, obwohl – wie zu Beginn der Erwägungen zu den Grenzen der Auslegung dargestellt – lediglich eine analoge Anwendung von Art. 33 Abs. 3 OR auf die Rechtsscheinvollmacht in Frage kommt. Bezüglich der Rechtsscheinhaftung allgemein beruft sich die Entscheidung auf S. 199 zudem auf deutsche Literatur. Auf S. 201 wird außerdem die Meinung von Keller/Schöbi49 erwähnt, wonach die externe Anscheinsvollmacht als vertragsbegründender Tatbestand abgelehnt und allein der culpa-Haftung auf das negative Vertrauensinteresse unterstellt werde. Diese Meinung wird mit der Argumentation zurückgewiesen50, dass eine unterschiedliche Behandlung von Duldungs- und Anscheinsvollmacht nicht vom Kenntnisstand des Vertretenen abhängig gemacht werden könne. Der Vertrauensschutz solle ja gerade auch dort greifen, wo eine Erklärung nach dem tatsächlichen Wissen und Willen des Erklärenden nicht gewollt sei. Dem lässt sich entgegenhalten, dass die Regelung der Irrtumsfälle diesen Unterschied macht. Gibt jemand bewusst eine Erklärung ab, ist er an diese gebunden, hat er aber unbewusst eine falsche Erklärung abgegeben oder eine Erklärung abgegeben, die er nicht abgeben wollte, kann er diese anfechten. Da es hier um einen Vertrag zwischen Kaufleuten geht, stellt sich zudem die Frage, ob die Anscheinsvollmacht handelsrechtlich begründet werden kann. Dazu führt die Entscheidung auf S. 201 eine deutsche Literaturmeinung an, die sagt, dass die Anscheinsvollmacht jedenfalls im kaufmännischen Verkehr ihre Berechtigung habe, indem der Geschäftspartner nicht mit den für ihn undurchschaubaren Orga47
Vgl. dazu die Analyse von BGH MDR 1953, 345 [C. I. 2. c)] unter cc). Keller/Schöbi, Allgemeine Lehren des Vertragsrechts, Zweites Kap. § 2 I. B. 2. b) a) aa) aaa) a) (S. 74 f.); a.A. BK-Zäch/Künzler Art. 33 OR Rn. 55; Gauch/Schluep/Schmid/Emmenegger, OR AT I, § 14 II. 2. a) cc) 2. (Rn. 1412). 49 Keller/Schöbi, Allgemeine Lehren des Vertragsrechts, Zweites Kap. § 2 I. B. 2. b) a) aa) aaa) a) (S. 74 f.). 50 Zustimmend Künzle, Bemerkungen zu diesem Urteil, AJP 1994, S. 1464. 48
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nisationsrisiken der Unternehmung belastet werden solle. Diese Aussage ist aber nur eine Wertung, die sich nicht auf gesetzliche Regelungen stützt. Konkrete Vorschläge zu einer handelsrechtlichen Herleitung der Anscheinsvollmacht macht die Entscheidung nicht. Den Ansatz einer Begründung, die der hier geführten Argumentation entspricht, enthält die Entscheidung auf S. 202. Dort sagt sie, dass, wie für die Willenserklärung, für die Kundgabe der Vollmacht gelte, dass sie auch ohne Erklärungsbewusstsein wirksam werden könne. Damit wird das Problem des fehlenden Erklärungs- oder Rechtsscheinbewusstseins bei der Anscheinsvollmacht angesprochen, jedoch nicht die daraus folgende Konsequenz der Irrtumsanfechtung. cc) Lückenfüllung Da die Entscheidung versucht, die Anscheinsvollmacht unter Art. 33 Abs. 3 OR zu fassen, nimmt sie keine lückenfüllenden Erwägungen vor. dd) Ergebnis Durch die direkte Anwendung von Art. 33 Abs. 3 OR auf die Rechtsscheinvollmacht überdehnt die Entscheidung die Grenzen der Auslegung. Sie beruft sich auf das Vertrauensprinzip und schenkt dem in der Irrtumsanfechtung zum Ausdruck kommenden Willensprinzip zu wenig Beachtung. Dadurch wird nicht klar, dass die Anscheinsvollmacht contra legem entwickelt wird. Eine Lücke wird dadurch nicht festgestellt und auf Art. 1 ZGB wird nicht eingegangen. Auch lückenfüllende Erwägungen bleiben aus. Eine handelsrechtliche Begründung der Anscheinsvollmacht wird nicht versucht. Gegen Ende geht die Entscheidung auf das fehlende Erklärungsbewusstsein bei der Anscheinsvollmacht ein, zieht daraus aber nicht die Konsequenz der Irrtumsanfechtung. Interessant ist auch, dass es sich im Verhältnis zu dem Zeitpunkt, seit dem die Anscheinsvollmacht bekannt ist, um eine relativ neues Urteil handelt, das sich aber dennoch nicht mit Verweisen auf Vorentscheidungen begnügt, sondern selbst begründet.
2. Selbstkontrahieren des Vertreters Die Entscheidung BGE 39 II 561 vom 2. Oktober 1913 stellt eine Regel zum Selbstkontrahieren mit Hilfe einer Kombinationsbegründung51 auf. Danach ist das Selbstkontrahieren grundsätzlich unzulässig, es sei denn, es besteht keine Gefahr der Übervorteilung des Vertretenen. 51
Zur Erklärung vgl. oben C. II. 3. d) und unten D. II. 3. d).
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a) BGE 39 II 561 – Aufstellen einer Regel zum Selbstkontrahieren mit Hilfe einer Kombinationsbegründung (Urteil vom 2. Oktober 1913) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, ob ein Direktor einer Aktiengesellschaft berechtigt war, als Vertreter derselben mit sich selbst Verträge abzuschließen. Es geht also um die Frage nach der Zulässigkeit des Insichgeschäftes oder des Selbstkontrahierens bei der Stellvertretung. In Deutschland regelt diese Frage § 181 BGB. bb) Grenzen der Auslegung Die Entscheidung stellt auf S. 566 zutreffend fest, dass das Obligationenrecht keine Bestimmung über die Berechtigung des Stellvertreters zum Vertragsabschluss mit sich selbst enthalte52. Voraussetzung einer Regelungslücke ist außerdem, dass kein qualifiziertes Schweigen des Gesetzes vorliegt. Dieses Problem wird von der Entscheidung nicht behandelt. Diesbezüglich gilt, dass sowohl das Obligationenrecht von 1881 als auch die späteren Revisionen keinen Handlungsbedarf bezüglich des Insichgeschäftes gesehen haben und dieses Problem erst später erkannt wurde.53 Damit ist ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzes zu verneinen und eine Lücke zu bejahen, auch wenn dies in der Lehre nicht gänzlich unbestritten geblieben ist54. Direkt im Anschluss an die Feststellung, dass das Obligationenrecht zum Selbstkontrahieren keine Bestimmung enthalte, spricht die Entscheidung eine mögliche Analogie zu Art. 444 aOR55 bzw. Art. 436 OR an, die im Ergebnis abgelehnt wird. Erst danach wird auf die weiteren Entscheidungshilfen des Art. 1 Abs. 2 und 3 ZGB eingegangen, nämlich das Gewohnheitsrecht und die Entscheidung nach „bewährter Lehre und Überlieferung“. Die Tatsache, dass die Entscheidung vor der Erwähnung von Art. 1 Abs. 2 und 3 ZGB auf eine mögliche Analogie eingeht, spricht dafür, dass die Analogie zur Gesetzesauslegung des Art. 1 Abs. 1 ZGB gezählt wird.56 Fasst man die Analogie unter die Auslegung wird nach hier vertretener Ansicht die Reichweite des Gesetzesrechts überdehnt, da die Analogie nicht mehr zur Auslegung gehört. In der vorliegenden Entscheidung ist das aber insofern nicht problematisch, als die Analogie abgelehnt wird. Damit findet im Ergebnis keine Überdehnung der Grenzen der Auslegung statt. 52
A.A. Thalmessinger, Vollmacht, II. 3. (S. 19 ff.). Schott, Insichgeschäft, § 1 III. 2. a) (S. 10) m.w.N. und § 2 IV. 2. d) (S. 46). 54 Schott, Insichtgeschäft, § 2 IV. 2. d) (S. 46) m.w.N. zum Streitstand. 55 Bundesgesetz über das Obligationenrecht vom 14. Juni 1881 (AS N.F., Bd. 5 [1882] 635 ff.) 56 So auch Schott, Insichgeschäft, § 1 III. 2. a) (S. 11) Fn. 64. 53
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cc) Lückenfüllung Hinsichtlich der Lückenfüllung greift die Entscheidung auf S. 566 auf Art. 1 Abs. 2 und 3 ZGB zurück. Gewohnheitsrecht wird ausgeschlossen. Dann wird gesagt, der Richter habe „nach bewährter Lehre und Überlieferung“ zu entscheiden. Interessant ist, dass nicht erwähnt wird, dass der Richter wie ein Gesetzgeber handeln soll. Dies könnte ein Zeichen einer gewissen Sensibilität der Richter dafür sein, dass die Annäherung an einen Gesetzgeber über ihre Kompetenzen hinausgehen und zu einem Legitimitätsproblem führen kann. Im Folgenden (S. 566 f.) werden Literaturmeinungen zum Gemeinen Recht aufgeführt, von denen keine die unbedingte Zulässigkeit des Selbstkontrahieren befürwortete. Diese Meinungen forderten vielmehr alle auf die eine oder andere Weise, dass den Interessen des Vertretenen beim Selbstkontrahieren Rechnung getragen werde. Da das Bundesgericht nur die Lösungen der Lehre des Gemeinen Rechts widergibt und sich nicht auf deren Begründungen bezieht, handelt es sich nicht um eine am Legitimitätsgedanken orientierte Lückenfüllung. Weiterhin wird auf S. 567 f. auf § 181 BGB verwiesen, wobei zunächst klargestellt wird, dass dieser nur im Bereich des BGB gelte. Gemäß § 181 BGB ist ein Selbstkontrahieren nur zulässig, sofern es der Vertretene gestattet hat oder wenn das Rechtsgeschäft ausschließlich in der Erfüllung einer Verbindlichkeit besteht. Die Entscheidung sagt dazu, die deutsche Literatur habe diese Bestimmung dahingehend ausgelegt, dass die Gestattung durch den Vertretenen auch stillschweigend möglich sei. Bestünde eine Gefahr der Übervorteilung des Vertretenen, sei es offensichtlich, dass der Vertretene dem Vertreter das Selbskontrahieren weder ausdrücklich noch stillschweigend gestattet haben kann.57 In dieser Aussage zum deutschen Recht geht die Entscheidung ohne Begründung vom wirklichen Willen des Vertretenen auf dessen mutmaßlichen Willen über und entfernt sich damit vom Wortlaut des § 181 BGB. Eine stillschweigende Gestattung des Selbstkontrahierens ist eine Gestattung i.S.d. § 181 BGB und entspricht dem wirklichen Willen des Vertretenen. Die Aussage aber, dass der Vertretene das Selbstkontrahieren „nicht gestattet haben kann“, wenn es für ihn nachteilig sei, ist nicht zutreffend. Ein Vollmachtgeber kann auch etwas für ihn Nachteiliges gestatten. Es ist bloß zu vermuten, dass er das nicht getan haben würde. Die letztere Aussage der Entscheidung zielt daher auf den mutmaßlichen Willen des Vertretenen ab, der aber von der Ausnahme in § 181 BGB nicht umfasst ist. Dieses Abstellen auf den mutmaßlichen Willen übernimmt die Entscheidung, wenn sie auf S. 568 für die Schweiz eine Regel zum Selbstkontrahieren aufstellt. Die Regel lautet, dass das Kontrahieren des Stellvertreters mit sich selbst, von den reinen Erfüllungsgeschäften abgesehen, grundsätzlich unzulässig ist und dass eine Ausnahme nur da Platz greift, wo keine Gefahr der Übervorteilung des Vertretenen durch den Vertreter besteht und daher „anzunehmen ist“, jener habe diesem das Selbst57
So für den gegenteiligen Fall auch Reichel SJZ 1915, S. 25.
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kontrahieren gestattet. Begründet wird diese Regel auf zweierlei Art und Weise. Zum einen bezieht sich das Bundesgericht auf die oben wiedergegebene Argumentation zum deutschen Recht (S. 568, zweiter Absatz: „Darnach“) und zum anderen auf die Tatsache, dass bei einem unkontrollierten Selbstkontrahieren der Vertretene den „verschiedenartigsten Manipulationen des Vertreters schutzlos preisgegeben wäre“ (S. 568, zweiter Absatz). Die direkte Bezugnahme auf ausländisches Recht kann jedoch die Lückenfüllung nicht legitimieren58 und die Begründung, dass der Vertretene sonst den Manipulationen des Vertreters ausgeliefert wäre, bedeutet eine eigene Wertung des Richters, sofern sie – wie hier – ohne Bezugnahme auf gesetzliche Regelungen vorgenommen wird. Diese Bezugnahme auf gesetzliche Regelungen erfolgt erst auf S. 569, nachdem die Regel für die Schweiz aufgestellt worden ist. Die Entscheidung nennt dort Vorschriften, die den Vertretenen bei der Gefahr eines Interessenkonfliktes schützen bzw. die Organen einer Gesellschaft bei sie selbst betreffenden Beschlüssen das Stimmrecht verweigern, und zwar Art. 392 sub Ziff. 2 ZGB a.F. und Art. 422 ZGB a.F.59 sowie Art. 655 Abs. 2 OR a.F.60 und Art. 705 Abs. 2 OR a.F.61. Eine Lösung entsprechend dem schweizerischen Recht könnte folgendermaßen aussehen. Zunächst kommt eine Rechtsanalogie mit Bezug auf die im Urteil genannten Normen in Frage. Die Vorschrift des Art. 392 sub Ziff. 2 ZGB a.F. regelt die Frage des Interessenkonfliktes zwischen einer unmündigen oder entmündigten Person und dem gesetzlichen Vertreter derselben. Hat dieser Interessen, die den Interessen des Vertretenen widersprechen, ernennt die Vormundschaftsbehörde einen Beistand. Die Regelung des Art. 422 ZGB a.F. fordert die Zustimmung der Aufsichtsbehörde bei Verträgen zwischen dem Mündel und dem Vormund. In beiden Fällen geht es um den beim Selbstkontrahieren typischen Interessenkonflikt und in beiden Fällen wird dafür Sorge getragen, dass der Vertretene geschützt wird. Dem Argument, dass es sich dabei um eine Besonderheit des Familienrechts handele und dass daher durch einen Umkehrschluss daraus gefolgert werden könne62, im sonstigen Zivilrecht sei das Selbskontrahieren zulässig, lässt sich folgendermaßen begegnen. Es macht keinen Unterschied, ob die Stellvertretung von Gesetzes wegen angeordnet wird, wie im Familienrecht, oder ob es sich, wie im Regelfall des sonstigen Zivilrechts, um eine vertraglich vereinbarte Stellvertretung handelt. In beiden Fällen kann der Vertreter Geschäfte im Namen des Vertretenen abschließen und in beiden Fällen besteht dieselbe Gefahr der Übervorteilung durch Selbstkontrahieren. Aus den genannten familienrechtlichen Regeln lässt sich also im Rahmen 58
Dazu oben B. II. 6. Beide zuletzt geändert durch Bundesgesetz vom 19. Dezember 2008 (AS 2011 725); Version von 1913 abgedruckt in AS 24 233. 60 Aufgehoben durch Bundesgesetz vom 4. Oktober 1991 (AS 1992 733); Version von 1913 abgedruckt in AS 27 317. 61 Zuletzt geändert durch Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 (AS 2007 4791); Version von 1913 abgedruckt in AS 27 317. 62 Dazu Egger, in: Festgabe Wieland, S. 47 ff. (S. 50). 59
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einer Analogie ableiten, dass Geschäfte, bei denen ein Interessenkonflikt zwischen Vertretenem und Vertreter besteht oder droht, nur wirksam sind, wenn die Interessen des Vertretenen geschützt werden. Angewandt auf das allgemeine Zivilrecht bedeutet das, dass das Selbstkontrahieren unzulässig ist, es sei denn, es besteht keine Gefahr der Übervorteilung des Vertretenen. Außerdem kann man die im Urteil genannten Art. 655 Abs. 2 und 705 Abs. 2 OR a.F. nennen. Dort geht es zwar nicht um ein Selbstkontrahieren, aber ebenfalls um eine Situation, wo ein Interessenkonflikt verhindert werden soll. Die Vorschriften beziehen sich auf Organe von Aktiengesellschaft und Genossenschaft, die bei Beschlüssen, welche sie selbst betreffen, nicht mitstimmen dürfen. Daraus lässt sich die allgemeine Regel ableiten, dass rechtliche Handlungen, die zu einem Interessenkonflikt führen, unzulässig sind. In die Rechtsanalogie kann man schließlich außerdem Art. 436 OR zum Selbsteintritt des Kommissionärs einbeziehen. Im Urteil wird dies auf S. 566 abgelehnt, da es sich dabei nicht um eine Regelung zur Stellvertretung handele63. Das stimmt zwar, jedoch besteht auch beim Selbsteintritt des Kommissionärs der für das Selbstkontrahieren typische Interessenkonflikt.64 Der Kommissionär muss zum einen zu für den Kommittenten optimalen Bedingungen kaufen oder verkaufen, zum anderen hat er beim Selbsteintritt das Interesse, selbst günstig zu kaufen oder teuer zu verkaufen.65 Diesen Interessenkonflikt löst das Gesetz dadurch, dass es den Selbsteintritt nur dann zulässt, wenn die Ware einen Börsen- oder Marktpreis hat und so keine Gefahr der Übervorteilung des Kommittenten besteht. Aus dieser Regelung kann man also im Rahmen eines Umkehrschlusses schließen, dass eine Situation, in der es zu einem Interessenkonflikt kommen kann, grundsätzlich zu vermeiden ist, es sei denn, die Gefahr der Benachteiligung des Vertretenen ist ausgeschlossen. Den Grundsatz, dass unlautere Manipulationen des Vertreters, denen der Vertretene schutzlos ausgeliefert wäre, zu vermeiden sind, kann man weiterhin aus Art. 2 Abs. 1 ZGB herleiten.66 Dieser richtet sich an alle Rechtssubjekte und fordert eine gegenseitige Rücksichtnahme bei der Rechtsausübung und der Pflichterfüllung.67 Beim Selbstkontrahieren geht es um das Rechtsverhältnis zwischen Vollmachtgeber und Vertreter. Dort ist eine gegenseitige Rücksichtnahme nicht mehr gegeben, wenn der Vertreter zum Nachteil des Vertretenen Geschäftes mit sich selbst abschließt. Dass es sich um ein Verhalten des Vertreters handelt, das Treu und Glauben widerspricht, wird auch auf S. 569 oben der Entscheidung deutlich. Das Bundesgericht führt Fallbeispiele an und sagt, dass der Vertreter in all diesen Fällen seine Stellung „missbrauche“. 63
So auch Reichel SJZ 1915, S. 25. Honsell, OR BT, § 27 V. (S. 377); CR CO I-von Planta/Flegbo-Berney Art. 436 Rn. 1; Egger, in: Festgabe Wieland, S. 47 ff. (S. 58). 65 Honsell, OR BT, § 27 V. (S. 377 f.); CR CO I-von Planta/Flegbo-Berney Art. 436 Rn. 1. 66 So auch Egger, in: Festgabe Wieland, S. 47 ff. (S. 53 ff.). 67 BSK ZGB I-Honsell Art. 2 Rn. 11. 64
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Der Rückgriff auf Art. 2 Abs. 1 ZGB erfordert – wie § 242 BGB in Deutschland68 – eine eigene Wertung des Richters und hat damit Legitimitätsdefizite. Deswegen sollte man zur Begründung der Rechtsfortbildung im vorliegenden Fall zusätzlich auf die oben erwähnten Analogiemöglichkeiten zurückgreifen. dd) Ergebnis In der Entscheidung finden sich die Vor- und Nachteile von Art. 1 ZGB wieder. Einerseits ist sich das Bundesgericht der Lücke bewusst und betreibt einen hohen Begründungsaufwand, um diese zu füllen. Das Legitimitätsproblem in der Lücke findet jedoch wenig Beachtung. Die Analogie wird zur Auslegung gezählt. Die Begründung der lückenfüllenden Regel stützt sich auf schweizerische Literaturmeinungen, die deutsche Lösung sowie eine eigene Wertung. Eine mögliche analoge Heranziehung von schweizerischen Regelungen wird nur als Annex erwähnt. Damit enthält die Entscheidung eine Kombinationsbegründung. Das Bundesgericht argumentiert nicht in erster Linie in einer gesetzesnahen Weise. Das ist besonders schade, da das schweizerische Recht genug Anhaltspunkte enthält, um eine Regel zum Selbstkontrahieren des Vertreters herzuleiten. Positiv an der Entscheidung ist jedoch, dass sie umfassend begründet und die Normen, die analogiefähig sind, erwähnt. Die ältere schweizerische Lehre stimmte dem vorliegenden Urteil grundsätzlich zu.69 Weiterentwickelt wurde die schweizerische Regel zum Selbstkontrahieren in BGE 89 II 32170, wo noch einmal ausdrücklich gesagt wurde, dass im schweizerischen Recht nicht auf eine stillschweigende Gestattung durch den Vertretenen abgestellt wird71. Es wird vielmehr die Regel formuliert, dass das Selbstkontrahieren grundsätzlich unzulässig sei, es sei denn, dass die Natur des Geschäftes eine Gefahr der Benachteiligung des Vertretenen ausschließe oder dass der Vertretene den Vertreter zum Geschäftsabschluss besonders ermächtigt habe.72 Diese Formel entspricht heute der herrschenden Lehre.73
68
Dazu oben B. V. 1. c) aa) a.E. Thalmessinger, Vollmacht, II. 3. (S. 17) m.w.N.; Schott, Insichgeschäft, § 2 II. 2. (S. 34) mit umfangreichen Nachweisen in Fn. 204. 70 Ausführlich zur Rechtsprechungsentwicklung Schott, Insichgeschäft, § 2 II. 1. (S. 30 ff.). 71 BGE 89 II 321 (325). 72 BGE 89 II 321 (325 f.). 73 Schott, Insichgeschäft, § 2 II. 2. (S. 35 f.) mit umfangreichen Nachweisen in Fn. 212; Huguenin, OR AT u. BT, § 9 V. 2.3 (Rn. 1078 f.); Schwenzer, OR AT, § 42 II. 4. (Rn. 42.19); Gauch/Schluep/Schmid/Emmenegger, OR AT I, § 15 II. 3. (Rn. 1439 f.). 69
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3. Abstraktions- oder Kausalitätsprinzip beim Eigentumserwerb Das Grundsatzurteil BGE 55 II 302 vom 29. November 1929 trifft für das schweizerische Recht mit Hilfe eines umfassenden Gesetzgebervorgehens die Entscheidung, dass der Eigentumserwerb von Mobilien nach dem Kausalitätsprinzip ablaufen soll. Da die Entscheidung außerdem das wesentliche rechtliche Argument enthält, kann man insgesamt von einer Kombinationsbegründung sprechen. a) BGE 55 II 302 – Entscheidung für das Kausalitätsprinzip über eine Kombinationsbegründung mit ausführlichem Gesetzgebervorgehen (Urteil vom 29. November 1929) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, ob ein Käufer an bestimmten Gegenständen Eigentum erworben hat, so dass er sie aus der Konkursmasse des Verkäufers aussondern konnte. Dazu erörtert das Bundesgericht die Frage, ob für den Erwerb des Eigentums ein gültiges Rechtsgrundgeschäft (Kausalgeschäft) nötig ist. Damit geht es in der Entscheidung darum, ob in der Schweiz für den Eigentumserwerb an Mobilien das Kausalitäts- oder das Abstraktionsprinzip gelten soll. bb) Grenzen der Auslegung Das Bundesgericht stellt auf S. 306 fest, dass das ZGB die Frage des Eigentumserwerbs von beweglichen Sachen offen gelassen habe und bestimmt damit die Grenzen der Auslegung zunächst zutreffend. Die Entscheidung hätte außerdem kurz auf Art. 714 Abs. 1 ZGB eingehen können, der für die Übertragung des Fahrniseigentums den Besitzübergang fordert. Die Frage wäre gewesen, ob diese Regelung abschließend sein soll, ob also ein qualifizierendes Schweigen des Gesetzes dahingehend vorliegt, dass die Besitzübertragung für den Eigentumsübergang ausreicht. Dagegen spricht Art. 974 Abs. 2 ZGB, nach dem ein Grundbucheintrag ungerechtfertigt ist, der ohne Rechtsgrund oder aus einem unverbindlichen Rechtsgeschäft erfolgt ist. Da es nach Art. 656 Abs. 1 ZGB zum Erwerb des Grundeigentums aber der Eintragung in das Grundbuch bedarf, ergibt sich aus Art. 974 Abs. 2 ZGB, dass zum Eigentumserwerb an einem Grundstück ein gültiges Verpflichtungsgeschäft notwendig ist. Wenn für den Erwerb des Grundeigentums ein Verpflichtungsgeschäft notwendig ist, liegt es nahe, dies ebenfalls für den Erwerb von Fahrniseigentum zu fordern. Das würde bedeuten, dass Art. 714 Abs. 1 ZGB nicht abschließend sein soll. Zudem lässt sich historisch argumentieren, dass Eugen Huber, der Schöpfer des schweizerischen ZGB, die Frage nach den Voraussetzungen des Eigentumserwerbs für Fahrniseigentum bewusst offen
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gelassen habe, um die Anpassungsfähigkeit des Gesetzes sicherzustellen.74 Daraus ergibt sich, dass kein qualifiziertes Schweigen dahingehend vorliegt, dass der Besitzerwerb ausreichend sein soll. Die Entscheidung erwähnt auf S. 306 Art. 974 ZGB als Grund dafür, noch einmal in die Prüfung bezüglich des Eigentumserwerbs beweglicher Sachen einzusteigen. Sie geht damit von der seit Geltung des ZGB75 neuen Gesetzeslage und damit vom geltenden Gesetzesrecht aus. Das Bundesgericht hatte sich nämlich unter der Geltung des alten Obligationenrechtes im Anschluss an das Gemeine Recht gegen die Notwendigkeit eines gültigen Kausalgeschäftes für den Eigentumserwerb ausgesprochen.76 Das Urteil spricht jedoch nicht von einer Untersuchung des qualifizierten Schweigens und bringt insbesondere keine historischen Argumente diesbezüglich vor. cc) Lückenfüllung Bei der Lückenfüllung erwähnt die Entscheidung weder Art. 1 ZGB noch eine andere Lückenfüllungsformel. Die Argumentation entspricht aber in weiten Teilen einem Gesetzgebervorgehen i.S.v. Art. 1 Abs. 2 ZGB77. Es werden die Lösungen in anderen Staaten, vor allem in Deutschland, aber auch in Österreich, mit ihren Vorund Nachteilen dargestellt und die dazu abgegebenen Literaturmeinungen aufgegriffen. Weiterhin werden Zweckmäßigkeitserwägungen angestellt und es wird selbst gewertet, in welchem Umfang man beim Eigentumserwerb den gutgläubigen Dritten schützen will. Dazwischen werden jedoch auch rechtliche Erwägungen mit Bezug auf Art. 974 ZGB und Art. 63 OR angestellt. Auf S. 306/307 geht die Entscheidung auf die Übernahme des Abstraktionsprinzips in das BGB ein. Dieser Grundsatz sei aus doktrinären Gründen eingeführt worden und nicht aus der Einsicht in seine Zweckmäßigkeit. In dieser Aussage klingt an, dass die Entscheidung ähnlich einem Gesetzgeber mit der Zweckmäßigkeit von Abstraktions- bzw. Kausalitätsprinzip argumentieren will. Weiterhin werde dieser Grundsatz im BGB denn auch scharf bekämpft. Die Entscheidung führt dazu die entsprechenden Literaturmeinungen an. Zudem sagt das Bundesgericht, dass das Abstraktionsprinzip nicht funktioniere, da den Parteien in Theorie und Praxis eine Bedingung dahingehend untergeschoben werde, dass das dingliche Geschäft doch wieder vom obligatorischen Geschäft abhängig sei. Das wird tatsächlich in der im Urteil auf S. 307 zitierten deutschen Literatur vertreten. Zudem werde das Abstraktionsprinzip vielfach als künstliche Konstruktion bezeichnet. Die Entscheidung führt dazu schweizerische und deutsche 74 75 76 77
Rümelin, Rede Eugen Huber, S. 51. s. o. Teil A. Fn. 1. Das Urteil S. 306 m.N. Dazu oben B. V. 2. c) bb) (2).
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Literaturmeinungen an. Außerdem komme das österreichische Recht ohne das Abstraktionsprinzip aus. Es werden also die Gründe für die Einführung des Abstraktionsprinzips in Deutschland, die Erfahrungen damit sowie die diesem gegenüber kritischen Stimmen aufgeführt. Das ist eine Kombination aus Zweckmäßigkeitserwägungen und dem Rückgriff auf Literaturmeinungen. Die Entscheidung bezieht sich damit nicht auf das schweizerische Recht, sondern stellt Vorüberlegungen zu einer gesetzgeberischen Entscheidung an. Auf S. 309 werden weiterhin Zweckmäßigkeitserwägungen angestellt bzw. es wird diskutiert, wie die Interessen der an der Eigentumsübertragung beteiligten Parteien und der Dritten auszugleichen seien. Das Abstraktionsprinzip werde nicht durch zwingende Bedürfnisse des Rechtsverkehrs gefordert und es sei in der Praxis unbefriedigend. Wegen der besprochenen stillschweigenden Bedingung könne das Ziel der Erleichterung und Beweglichkeit des Mobiliarverkehrs doch nicht erreicht werden. Es sei außerdem fraglich, ob diesem Ziel nach der Einführung weitgehenden Schutzes des gutgläubigen Dritten noch nachzustreben sei. Außerdem sei nicht einzusehen, wieso der Erwerber selbst, dessen in Bezug auf die Ungültigkeit des Kausalgeschäftes bösgläubiger Rechtsnachfolger sowie die Konkursgläubiger des Erwerbers vor dem Veräußerer Schutz verdienten. Nimmt man das Abstraktionsprinzip an, ist der Erwerber geschützt, weil er trotz ungültigen Kausalgeschäfts Eigentum erwirbt. Dessen bösgläubiger Rechtsnachfolger ist geschützt, weil er Eigentum erwirbt, auch wenn er die Ungültigkeit des Kausalgeschäftes kennt. Die Konkursgläubiger des Erwerbers sind schließlich geschützt, weil der Erwerber Eigentümer wird und der Veräußerer aufgrund seines Eigentumsverlustes die Sachen nicht aus der Konkursmasse des Erwerbers aussondern kann.78 In diesem Abschnitt erörtert das Bundesgericht also wie ein Gesetzgeber, ob es das Abstraktionsprinzip, auch unter dem Gesichtspunkt der Schutzbedürftigkeit der Vertragsparteien und der Dritten, für sinnvoll erachtet. Um diese Argumentation zu untermauern werden zum Schluss noch einmal schweizerische und deutsche Literaturmeinungen angeführt, die alle das Abstraktionsprinzip ablehnen. Die eigentliche rechtliche Argumentation mit Bezug auf die schweizerischen Regelungen erfolgt auf S. 308 und 309 oben. Die Regelung für das Immobiliarsachenrecht in Art. 974 ZGB ist dabei nur ein Argument unter anderen. Das wird an einem Satz, der noch auf S. 307 beginnt, deutlich. Es gebe keinen Grund, dem Abstraktionsprinzip auf das schweizerische Mobiliarsachenrecht Einfluss zuzugestehen, „zumal“ das Immobiliarsachenrecht 78 BK-Meier-Hayoz Syst. Teil Eigentum (ZGB) Rn. 89 für den umgekehrten Fall bei Anwendung des Kausalitätsprinzips.
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sich ihm entzogen habe. Die Benutzung des Wortes „zumal“ zeigt, dass der Rückgriff auf das Immobiliarsachenrecht nur ein weiteres Argument ist, nachdem die Entscheidung das Abstraktionsprinzip schon aus anderen Gründen abgelehnt hatte. Weiterhin argumentiert das Urteil auf S. 308, wenn sich im Liegenschaftsrecht die abstrakte Natur der dinglichen Verfügung verneinen lasse, wie dies durch Art. 974 ZGB geschehen sei, so sei dies bei beweglichen Sachen für den dinglichen Vertrag nicht weniger möglich. Die Benutzung des Wortes „möglich“ verdeutlicht, dass sich das Bundesgericht nicht eindeutig für eine Analogie entscheidet. Würde es eine Analogie zum Immobiliarsachenrecht bilden, so wäre eine Anwendung des Kausalitätsprinzips bei Mobilien nicht „möglich“, sondern „zwingend“. Gegen diese Analogie kann man zwar das Argument anführen, dass für Mobilien eine größere Beweglichkeit erwünscht ist. Diese kommt bei Anwendung des Abstraktionsprinzips dadurch zustande, dass der Erwerber nicht nachprüfen muss, ob sein Veräußerer die Sache mit einem gültigen Grundgeschäft erworben hat.79 Dagegen spricht jedoch, dass das ZGB mit Art. 714 Abs. 2 den gutgläubigen Erwerb von Eigentum zulässt. Damit muss der Erwerber nicht prüfen, ob sein Veräußerer zur Eigentumsübertragung berechtigt ist, sofern es keine Anhaltspunkte für eine fehlende Berechtigung gibt. Der Wunsch nach einer größeren Beweglichkeit von Mobilien steht also einer Analogie zu dem immobiliarsachenrechtlichen Kausalitätsprinzip nicht entgegen. Für die Analogie fällt vielmehr ins Gewicht, dass es in beiden Fällen um die Übertragung von Eigentum geht. Da damit die beiden Fälle in dem für die Analogie entscheidenden Punkt vergleichbar sind, ist eine analoge Anwendung von Art. 974 Abs. 2 ZGB auf den Eigentumserwerb von Mobilien geboten.80 Die Entscheidung geht weiterhin auf Art. 63 OR ein, der eine Kondiktion für den Fall des Bezahlens einer Nichtschuld vorsieht (S. 308). Dieser Anspruch ist nur dann sinnvoll, wenn trotz der Nichtschuld vom Empfänger der Leistung Eigentum an dem Geld erworben wird. Denn in diesem Fall kann der Leistende nicht vindizieren und ist auf die Kondiktion verwiesen. Das geht jedoch vor allem dann, wenn man das Abstraktionsprinzip anwendet. Im Falle des Kausalitätsprinzips erwirbt der Empfänger der Leistung kein Eigentum, weil das Verpflichtungsgeschäft unwirksam ist. Das ist ein systematisches Argument, das für das Abstraktionsprinzip spricht. Die Entscheidung argumentiert dem entgegen, der Eigentumserwerb beim Bezahlen einer Nichtschuld erfolge meist durch die Vermischung der eingezogenen Zahlungsmittel mit anderen. Außerdem bleibe für Art. 63 OR Raum bei einer Zahlung durch Forderungsabtretung, die als abstraktes Zuwendungsgeschäft zu sehen sei. Auch hinsichtlich der Forderungsabtretung lässt es das Gesetz aber offen, ob diese abstrakt oder kausal gestaltet sein soll. Die Art. 164, 165 OR betreffen die Zession als Verfügungsgeschäft.81 Eine Aussage zu dessen abstrakter oder kausaler Natur enthalten sie nicht. Diese Frage ist auch bis heute in Literatur und Rechtsprechung 79 80 81
BK-Leemann Art. 714 ZGB Rn. 23. A.A. Kaden, in: FS Hedemann, S. 245 ff. (S. 249 f.). BSK OR I-Girsberger/Hermann Art. 164 Rn. 16.
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umstritten.82 Möchte man Art. 63 OR auf den Fall des Bezahlens durch eine Forderungsabtretung beschränken, bleibt zudem nur ein sehr kleiner Anwendungsbereich für diese Kondiktion, die ihrer fundamentalen Bedeutung nicht gerecht wird.83 Zusammenfassend kann man sagen, dass Art. 63 OR unter systematischen Gesichtspunkten für ein Abstraktionsprinzip spricht. Die Vorschrift des Art. 974 Abs. 2 ZGB wiegt jedoch diesbezüglich schwerer, weil sie eine direkte Regelung für den Eigentumserwerb trifft und ein Unterschied von Immobilien und Mobilien bezüglich der Voraussetzung eines gültigen Grundgeschäftes für den Eigentumserwerb nicht ersichtlich ist. dd) Ergebnis Die Entscheidung bestimmt die Grenzen der Auslegung zutreffend, was aber in diesem Fall auch nicht problematisch ist. Lediglich in Bezug auf das qualifizierte Schweigen hätte sie ausführlicher vorgehen können. Die Lückenfüllung charakterisiert sich durch ein weitreichendes Gesetzgebervorgehen. Das Bundesgericht überprüft das Abstraktionsprinzip auf seine Zweckmäßigkeit und Wirksamkeit unter Bezugnahme auf die deutsche Regelung sowie auf schweizerische und deutsche Literatur. Dabei wird die Gesetzgebungslösung des Art. 1 ZGB nicht erwähnt. Das Gesetzgebervorgehen lässt sich damit erklären, dass es sich bei der Frage, ob es im schweizerischen Mobiliarsachenrecht ein Abstraktionsprinzip geben soll, um eine Problematik von weitreichender Bedeutung handelt. Trotzdem oder gerade deshalb ist es wichtig, eine gesetzesnahe Begründung zu versuchen. Eine so weitreichende Frage wie das Abstraktionsprinzip sollte mit rechtlichen Erwägungen begründet werden, was im vorliegenden Fall auch möglich ist. Ein Gesetzgebervorgehen sollte das letzte Mittel bleiben. An diese Reihenfolge hält sich die Entscheidung nicht. Sie enthält mit dem Verweis auf Art. 974 ZGB aber das für die Lückenfüllung wesentliche rechtliche Argument. Damit kann man im Ergebnis von einer Kombinationsbegründung sprechen. Die Reaktionen auf dieses Urteil sind in Literatur und kantonaler Rechtsprechung unterschiedlich ausgefallen.84 Das Bundesgericht bejaht jedoch bis heute in konstanter Praxis die kausale Natur der Tradition und diese Auffassung ist gegenwärtig auch in der schweizerischen Lehre unumstritten.85
82
BSK OR I-Girsberger/Hermann Art. 164 Rn. 23 ff. mit umfangreichen Nachweisen. Kaden, in: FS Hedemann, S. 245 ff. (S. 253). 84 ZK-Haab Art. 714 ZGB Rn. 16 m.N. 85 Rey, Sachenrecht, § 7 III. (Rn. 354) und § 23 II. 1. (Rn. 1735); BSK ZGB II-Schwander Art. 714 Rn. 4; BK-Meier-Hayoz Syst. Teil Eigentum (ZGB) Rn. 88 jeweils m.N. 83
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4. Gesetzlicher Übergang von Grundpfandrechten im Rahmen eines Kauf- und Schuldübernahmevertrages Die Entscheidung BGE 60 II 179 vom 23. März 1937 bejaht den gesetzlichen Übergang eines Grundpfandrechtes im Rahmen eines Kauf- und Schuldübernahmevertrages mit Argumenten, die eine Analogie begründen würden, nennt es aber nicht so. a) BGE 60 II 179 – Bejahung der Subrogation mit Hilfe von Analogie, ohne es so zu nennen (Urteil vom 23. März 1934) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, ob ein gesetzlicher Übergang eines Grundpfandrechtes (Subrogation) stattfindet, wenn im Rahmen eines Kauf- und Schuldübernahmevertrages der ursprüngliche Schuldner (Altschuldners) anstelle des Schuldübernehmers an den Gläubiger die Zinsen von dessen Forderung zahlt. Eine Gläubigerin hat eine Forderung gegen den ursprünglichen Schuldner. Dieser ist Eigentümer eines Grundstückes, das mit einem Schuldbrief belastet ist, der die Forderung sichert. Dieser ursprüngliche Schuldner und Eigentümer verkauft das Grundstück an einen Dritten, den Schuldübernehmer, der unter Anrechnung auf den Kaufpreis den Schuldbrief übernimmt. Die Gläubigerin akzeptiert die Schuldübernahme nicht, so dass im Verhältnis zu ihr der ursprüngliche Schuldner Schuldner bleibt. Da der Schuldübernehmer mehrere Zinsforderungen auf den Schuldbrief nicht bezahlen kann, muss der ursprüngliche Schuldner selbst zahlen. Der ursprüngliche Schuldner möchte nun, dass in Höhe der bezahlten Zinsen das durch den Schuldbrief geschaffene Grundpfandrecht der Gläubigerin auf ihn übergeht, so dass seine Ausgleichsforderung gegen den Schuldübernehmer durch Grundpfandrecht gesichert ist. bb) Grenzen der Auslegung Die Entscheidung schließt auf S. 183 zutreffend die im Obligationenrecht vorliegenden Subrogationstatbestände für den vorliegenden Fall aus. Eine Solidarschuldnerschaft86 wird abgelehnt, weil der Schuldübernehmer nicht Schuldner des Gläubigers geworden sei. Ebenso wird ausgeschlossen, dass der Schuldübernehmer Bürge und der ursprüngliche Schuldner Hauptschuldner sei. Weiterhin wird eine Anwendung der allgemeinen Vorschrift des Art. 110 OR verneint. Die Vorschrift des Art. 110 OR regelt einen gesetzlichen Übergang der Gläubigerrechte auf einen Dritten, wenn dieser eine für eine fremde Schuld verpfändete Sache einlöst, an dem 86
Dt. Recht: Gesamtschuldnerschaft.
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ihm das Eigentum oder ein beschränkt dingliches Recht zusteht (Ziff. 1), oder wenn der Schuldner dem Gläubiger anzeigt, dass der zahlende Dritte an die Stelle des Gläubigers treten soll (Ziff. 2). Die Entscheidung sagt dazu, bei Art. 110 OR gehe es um einen Dritten, der nicht in irgendeiner Weise in die Obligation verstrickt sei. Dies treffe auf den Altschuldner nicht zu, weil dieser als beibehaltener Schuldner und nicht als intervenierender Dritter bezahlt habe. Eine Bestimmung entsprechend § 1164 BGB, der den Übergang der Hypothek an den zahlenden persönlichen Schuldner regele, soweit dieser vom Eigentümer Ersatz verlangen könne, fehle im schweizerischen Recht. Im Folgenden (S. 184) wird geprüft, ob es der schweizerischen Zivilgesetzgebung entspreche, dass in dem vorliegenden Fall kein Übergang der Gläubigerrechte stattfinden solle. Es wird also untersucht, ob ein qualifiziertes Schweigen des schweizerischen Zivilrechts vorliegt. Die Entscheidung führt an, dass die Gesetzgebungskommission zum Obligationenrecht der Meinung gewesen sei, der vorliegende Fall werde von Art. 126 Ziff. 1 aOR87, der dem heutigen Art. 110 Ziff. 1 OR entspreche, erfasst. Damit wird klargestellt, dass der Gesetzgeber den Fall in dem Sinne regeln wollte, dass eine Subrogation möglich sein sollte, ihn aber einer Norm zugeordnet hat, von der er nicht erfasst wird. Mit dieser Begründung kann man ein qualifiziertes Schweigen des schweizerischen Zivilrechts ablehnen. Es wird jedoch im Rahmen dieser Argumentation außerdem festgestellt, dass die Frage nach dem Übergang der Gläubigerrechte umstritten sei und dass das Bundesgericht sie bisher nicht entschieden habe. Weiterhin werden Literaturmeinungen angeführt, die sich für und gegen eine Subrogation im vorliegenden Fall aussprechen. Diese Meinungen beziehen sich nicht auf die Frage des qualifizierten Schweigens, so dass sie schon der lückenfüllenden Begründung zuzuschlagen sind. Die Entscheidung mischt hier also ein Argument zur Verneinung des qualifizierten Schweigens, das man zur Auslegung zählen kann, da mit historischen Argumenten begründet wird88, mit lückenfüllenden Begründungsansätzen. Sie geht somit hinsichtlich der Reihenfolge ihrer Argumentation methodisch nicht ganz zutreffend vor. Auch auf S. 186 wird die Ablehnung des qualifizierten Schweigens mit der Lückenfüllung durch Bejahung der Subrogation in einer Argumentation zusammengefasst. Es weise einerseits der Gang der Gesetzesberatung auf eine Lücke hin und zudem sei die Anerkennung des streitigen Subrogationsfalles ein Gebot der Gerechtigkeit. Ein ausdrücklicher Hinweis auf die Lücke erfolgt schließlich erst auf S. 186, nachdem die Entscheidung schon Lückenfüllungserwägungen angestellt hatte. Auch hier wird die Reihenfolge von Bestimmung der Grenzen der Auslegung und Lückenfüllung also nicht eingehalten. 87 Bundesgesetz über das Obligationenrecht vom 14. Juni 1881 (AS N.F., Bd. 5 [1882] 635 ff.). 88 Zur methodischen Einordnung des qualifizierten Schweigens s. o. B. III. 1. b) aa).
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cc) Lückenfüllung Auf S. 185 wird die Lückenfüllung über eine analoge Anwendung von Art. 110 Ziff. 1 OR geprüft und im Ergebnis abgelehnt.89 Subrogationsbestimmungen seien Spezialnormen, die in doppelter Hinsicht eine Abweichung vom allgemeinen Recht begründeten, und zwar zum einen von dem Grundsatz, dass eine Forderung durch die Tilgung untergehe und zum anderen von der Regel, dass ein Übergang von Rechten einer rechtsgeschäftlichen Verfügung des bisherigen Rechtsträgers bedürfe. Eine analoge Anwendung von Art. 110 Ziff. 1 OR wird also mit dem Argument zurückgewiesen, dass eine Ausnahmevorschrift nicht analog angewendet werden kann (singularia non sunt extendenda). Auch Ausnahmevorschriften sind aber der Analogie zugänglich.90 Bei Art. 110 Ziff. 1 OR geht es um ein rechtliches Dreiecksverhältnis, das durch das Auseinanderfallen von persönlicher Schuld und Eigentum bzw. beschränkt dinglichem Recht an dem durch Grundpfandrecht belasteten Grundstück entsteht. Wenn in diesem Dreiecksverhältnis der Eigentümer oder Inhaber eines beschränkt dinglichen Rechtes die für die Schuld des Schuldners verpfändete Sache einlöst und damit für dessen Schuld einsteht, erwirbt er die Rechte des Gläubigers. Diesen gesetzlichen Forderungsübergang kann man damit begründen, dass derjenige geschützt werden soll, der sich als Sicherungsgeber für eine fremde Schuld zur Verfügung stellt bzw. durch die Inhaberschaft eines beschränkt dinglichen Rechtes an dem Rechtsverhältnis beteiligt ist. Der Sicherungsgeber oder dinglich Berechtigte soll entscheiden können, ob er im Fall des Art. 110 Ziff. 1 OR die Belastung seines Eigentums oder der Sache, an der er ein beschränkt dingliches Recht besitzt, aufrechterhält, oder durch eine Ablösung der Schuld selbst zum Gläubiger wird. Es geht also darum, dem Sicherungsgeber, der nicht Schuldner ist, oder dem beschränkt dinglich Berechtigten einen gewissen Handlungsspielraum zu ermöglichen. Dies widerspricht auch nicht den Interessen des Schuldners. Dieser hat sich mit der Wahl seines Sicherungsgebers bzw. dem dinglich Berechtigten auf das Dreiecksverhältnis eingelassen und muss daher diese Personen als neue Gläubiger akzeptieren. Hinsichtlich der Interessenverteilung liegt der vorliegende Fall aber genau gleich. Der ursprüngliche Schuldner ist zwar nicht Eigentümer oder beschränkt dinglich Berechtigter, er ist jedoch dem Gläubiger hinsichtlich einer Schuld verpflichtet, die der Schuldübernehmer im Innenverhältnis übernommen hat. Damit steht er genau wie der Eigentümer oder beschränkt dinglich Berechtigte für eine fremde Schuld ein. Auch ihm sollte dann die Möglichkeit gegeben werden, sich zu befreien und in die Rechte des Gläubigers einzutreten, also Grundpfandgläubiger zu werden. Hier liegt genauso ein Dreiecksverhältnis vor, wie in dem Fall, in dem persönlicher Schuldner
89 Gegen eine analoge Anwendbarkeit von Art. 110 Ziff. 1 ZGB auch BSK OR I-ZellwegerGutknecht Art. 110 Rn. 24 a.E.; dafür BGer v. 21. 8. 2001, 5C.151/2001, E. 3b. 90 Dazu oben B. III. 2. a) aa).
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und Eigentümer der für die Schuld verpfändeten Sache oder beschränkt dinglich Berechtigter auseinanderfallen. Folgt man der vorstehenden Überlegung, muss man Art. 110 Ziff. 1 OR auf den vorliegenden Fall analog anwenden. Nachdem die Entscheidung eine analoge Anwendung von Art. 110 Ziff. 1 OR abgelehnt hat, macht sie auf S. 185 f. eine Aussage zu ihrer Rechtsfortbildungskompetenz im Rahmen von Art. 1 Abs. 2 und 3 ZGB. Die schweizerische Zivilgesetzgebung sei keineswegs darauf gerichtet, alle Rechtsverhältnisse lückenlos zu regeln und den mit der Rechtsanwendung betrauten Behörden, insbesondere den Gerichten, für jeden Tatbestand eine Entscheidungsnorm vorzuschreiben. Das Wort „vorschreiben“ hat eine leicht negative Konnotation. Dadurch entsteht der Eindruck, die Existenz gesetzlicher Regelungen sei in bestimmten Bereichen hinderlich und beeinträchtige den Richter in seiner freien Rechtsfindung. Damit nähert das Bundesgericht die Rolle des Richters derjenigen des Gesetzgebers an. Auch wenn die Entscheidung die Rechtsfortbildungskompetenz des Richters im Folgenden wieder auf die Lücke beschränkt, spricht dies für ein extensives Verständnis der dem Richter von Art. 1 Abs. 2 ZGB zugewiesenen rechtsschöpfenden Funktion. Um die Lücke letztendlich zu füllen, benutzt die Entscheidung zunächst Leerformeln (S. 186 f.). Die Anerkennung des streitigen Subrogationsfalles sei ein „Gebot der Gerechtigkeit“ und wenn man sich Sinn und Tragweite der im Gesetz enthaltenen Subrogationsnormen vor Augen halte, dränge sich die in Rede stehende Ergänzung als unabweislich auf. Das „Gebot der Gerechtigkeit“ ist eine Leerformel, die eine eigene Wertung verdeckt. Die Ergänzung der bestehenden Subrogationsnormen könnte man als systematisches Argument verstehen. Dabei müsste man aber begründen, warum man daraus etwas für den streitigen Fall ableiten möchte. Dass sich das Ergebnis „als unabweislich aufdränge“, ist keine Begründung und dient nur der Bekräftigung. Im Folgenden argumentiert die Entscheidung hinsichtlich der Anerkennung der Subrogation im streitigen Fall entsprechend der oben für die Analogie gegebenen Begründung. Der beibehaltene Schuldner sei kein unbeteiligter Dritter, sondern habe mit Rücksicht auf seine eigene Schuldpflicht sogar noch eine dringendere Veranlassung als sie bei einem bloßen Interventionsinteresse gegeben sei (S. 187). Damit ist das bei Art. 110 Ziff. 1 OR gegebene Interventionsinteresse des Eigentümers oder sonst dinglich Berechtigten gemeint. Die Vorschrift des Art. 110 Ziff. 1 OR sehe nur den Übergang der Gläubigerrechte an einen interessierten Dritten und nicht an den Schuldner selbst vor, weil der Schuldner in aller Regel derjenige sei, auf dem die Schuldpflicht in letzter Linie laste und der nicht noch auf einen Dritten zurückgreifen könne. Damit wird gesagt, dass eine dem Art. 110 Ziff. 1 OR gleiche Interessenlage vorliegt, die nicht von dessen Wortlaut erfasst wird, weil es sich um einen atypischen Fall handelt. Der Wortlaut des Art. 110 Ziff. 1 OR ist also gemessen an seinem Zweck zu eng. Dies ist der typische Fall einer Analogie. Die Entscheidung formuliert die Erwägung zur Analogie sogar selbst, indem sie auf S. 187 sagt, dass nicht ein-
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zusehen sei, weshalb der ursprüngliche Schuldner nicht ebensogut wie z. B. ein voroder nachgehender Pfandgläubiger oder ein Inhaber eines beschränkt dinglichen Rechtes oder endlich wie ein rückgriffsberechtigter Solidarschuldner in die Gläubigerrecht solle eintreten können. Im Folgenden (S. 188 ff.) wird außerdem argumentiert, dass die am Schuldverhältnis beteiligten Parteien durch die Subrogation nicht benachteiligt würden. Der Schuldübernehmer wird aber benachteiligt, da er sich ohne Subrogation nur der ungesicherten Regressforderung aus dem Schuldübernahmevertrag gegenüber sähe. Die nachrangigen Pfandgläubiger werden ebenfalls benachteiligt, da ohne Subrogation der ursprüngliche Schuldner den Pfandtitel nach Art. 853 Ziff. 2 ZGB n.F.91 herausverlangen und der Eigentümer und Schuldübernehmer eine Löschung des Pfandrechts und Entkräftung des Titels aus dem Schuldübernahmevertrag verlangen könnte.92 Der Anspruch auf Löschung und Entkräftung erklärt sich daraus, dass der Schuldübernehmer den für eine bestimmte Schuld bestehenden Schuldbrief im Rahmen des Kaufvertrages über das Grundstück übernommen hat. Daraus ergibt sich, dass nach dem Schuldübernahmevertrag der ursprüngliche Schuldner den nach Art. 853 Ziff. 2 ZGB n.F. zurückerhaltenen Schuldbrief nicht für andere Schulden weiterverwenden dürfen soll. Da der Schuldübernehmer im Innenverhältnis aber die Schuld übernommen hat und dem ursprünglichen Schuldner regresspflichtig ist, stellt sich die Frage, ob Letzterer den vom Gläubiger zurückerhaltenen Schuldbrief für die Sicherung dieser Regressforderung verwenden dürfen soll. Damit würde man die Subrogation aus dem Schuldübernahmevertrag begründen. Dies sprengt jedoch die Grenzen der Auslegung eines solchen Vertrages, da dieser keine Aussage über eine eventuelle Subrogation macht. Es bleibt also dabei, dass der Schuldübernehmer und Eigentümer die Löschung und Entkräftung des Schuldbriefes aus dem Schuldübernahmevertrag verlangen könnte. In diesem Fall wären nachrangige Pfandgläubiger im Vorteil, da ein ihnen vorrangiges Pfandrecht wegfiele. Lässt man hingegen eine Subrogation zu, bleibt das vorrangige Pfandrecht bestehen. Dass das Urteil dies nicht als Benachteiligung sieht, lässt sich nur daraus erklären, dass es die Wertungen des Art. 110 Ziff. 1 OR auf den vorliegenden Fall der Subrogation im Rahmen einer Analogie überträgt. Bei Art. 110 Ziff. 1 OR muss sich der persönliche Schuldner die Subrogation gefallen lassen, weil er seine Schuld mit fremdem Eigentum hat sichern lassen bzw. ein beschränktes dingliches Recht an der für seine Schuld verpfändeten Sache akzeptiert hat. Daraus folgt für den vorliegenden Fall, dass der Schuldübernehmer die Subrogation akzeptieren muss, weil er sich auf ein ähnliches Dreiecksverhältnis
91 Fassung gem. Ziff. I 1 des BG vom 11. Dezember 2009, in Kraft seit 1. Januar 2012 (AS 2011, 4637). 92 BSK ZGB II-Staehelin Art. 844 Rn. 1 und Art. 854 Rn. 4.
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eingelassen hat, und zwar auf das Risiko, dass der Gläubiger ihn nicht als neuen Schuldner akzeptiert und somit der ursprüngliche Schuldner für ihn leisten muss. Hinsichtlich der nachgehenden Pfandgläubiger ergibt sich bei Art. 110 Ziff. 1 OR, dass sie nicht sicher sein können, ob ein vorrangiges Pfandrecht noch besteht oder nicht. Zahlt bei Art. 110 Ziff. 1 OR der Eigentümer auf die Schuld, so wird er durch Subrogation von Gesetzes wegen Gläubiger der Schuldbriefforderung.93 Gegen den bisherigen Gläubiger hat er einen dinglichen Anspruch auf Aushändigung des Titels.94 Diesen kann er nach Art. 855 ZGB n.F.95 entkräften und löschen lassen oder aber für eine eigene Schuld weiterverwenden.96 Zahlt ein beschränkt dinglich Berechtigter, wird er ebenfalls Gläubiger der Schuldbriefforderung. Er wird den Schuldbrief jedoch nicht entkräften und löschen lassen, da er nicht Eigentümer ist und so von der Verwertung des Grundstückes profitiert, wenn der Schuldner nicht zahlen kann. Für nachrangige Pfandgläubiger gilt also im Falle des Art. 110 Ziff. 1 OR, dass sie sich erkundigen müssen, ob ein vorrangiges Pfandrecht noch besteht. Bejaht man im vorliegenden Fall eine Subrogation, müssen sich auch hier, wie das Urteil auf S. 188 ausführt, die nachrangigen Pfandgläubiger über die Existenz der vorrangigen Pfandrechte informieren. Dass eventuell ein vorrangiges Pfandrecht durch die Subrogation bestehen bleibt, stellt dann keinen Nachteil dar. Der Gläubiger schließlich wird in beiden Fällen nicht benachteiligt. Im Rahmen des Art. 110 Ziff. 1 OR wird er in der Regel vollständig befriedigt werden, da der Eigentümer oder beschränkt dinglich Berechtigte einer Sache diese nur dann einlösen kann. Auch im vorliegenden Fall, in dem der ursprüngliche Schuldner nur auf Zinsforderungen zahlt und nur in dieser Höhe den Eintritt in das Grundpfandrecht der Gläubigerin fordert, wird Letztere aber nicht benachteiligt. Wie das Urteil auf S. 189 feststellt, wird das auf den ursprünglichen Schuldner übergehende Pfandrecht bezüglich der Zinsen dem Pfandrecht des Gläubigers für die ungetilgt gebliebene Forderung nachgestellt. Auch diese ähnliche Interessenlage kann man aber als Argument für eine Analogie zu Art. 110 Ziff. 1 OR heranziehen. Hier gilt also ebenfalls, dass die Entscheidung im Rahmen einer Analogie vorgeht, ohne dies so zu nennen. Auf S. 190 f. führt die Entscheidung außerdem ein Zweckmäßigkeitsargument an. Durch die Subrogation werde eine sachgemäße Abwicklung des Kauf- und Schuldübernahmevertrages gewährleistet. Ohne Subrogation würde der Liegenschaftsverkehr empfindlich gestört. Wenn der Grundpfandgläubiger der Schuldübernahme nicht zustimme, kämen manche Verträge gar nicht zustände, andere würden rückgängig gemacht. Das Gesetz wolle aber den Vollzug solcher Kaufver93
BSK ZGB II-Staehelin Art. 853 Rn. 11. s. o. 95 Fassung gem. Ziff. I 1 des BG vom 11. Dezember 2009, in Kraft seit 1. Januar 2012 (AS 2011, 4637). 96 Dazu Schmid/Hürlimann-Kaup, Sachenrecht, § 31 II. 1. D. (Rn. 1838 ff.). 94
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träge mit Schuldübernahme erleichtern, indem es in Art. 832 Abs. 2 ZGB in diesem Fall die Befreiung des bisherigen Schuldners durch bloßen Fristablauf eintreten lasse. Das Zweckmäßigkeitsargument wird also mit einer gesetzlichen Wertung untermauert. Auch belastete Grundstücke sollen möglichst ungehindert weiterveräußert werden. Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass der ursprüngliche Schuldner durch den Übergang des Grundpfandrechts gesichert sein soll, wenn er wegen der Weigerung des Gläubigers, den Erwerber als neuen Schuldner zu akzeptieren, in der Pflicht bleibt. Die gesetzliche Wertung des Art. 832 Abs. 2 ZGB kann man als ergänzendes Argument zur hier vertretenen Analogie zu Art. 110 Ziff. 1 OR heranziehen. Die Subrogation selbst kann man aus dieser Vorschrift aber nicht ableiten, da sie dazu keine Aussage macht. dd) Ergebnis Die Entscheidung stellt zutreffend fest, dass der streitige Fall gesetzlich nicht geregelt ist. Sie geht auf die Frage des qualifizierten Schweigens ein und verneint diese. Gleichzeitig mischt sie aber Argumente zum qualifizierten Schweigen mit Lückenfüllungsargumenten aus Rechtsprechung und Literatur. Auch wird eine Lücke erst ausdrücklich festgestellt, nachdem schon Lückenfüllungserwägungen angestellt wurden. Im Rahmen der Lückenfüllung wird die gesetzgeberische Kompetenz des Richters innerhalb von Art. 1 Abs. 2 ZGB weit interpretiert. Eine eigentlich überzeugende Analogie wird wegen einer zu großen Zurückhaltung bei der analogen Anwendung von Ausnahmevorschriften abgelehnt. Die lückenfüllende Argumentation ist dann wegen des fehlenden Anknüpfungspunktes an die analog anwendbare Vorschrift zunächst auf Leerformeln und Bekräftigungen angewiesen. Im Folgenden werden zur Begründung des Ergebnisses aber dieselben Argumente angeführt, die die zuvor abgelehnte Analogie begründet hätten. Dadurch dass die Entscheidung die Subrogation im Ergebnis bejaht, erweitert sie den Anwendungsbereich des gesetzlichen Forderungsübergangs auf den streitigen Fall. Sie tut also letztlich genau das, weswegen sie die analoge Anwendung von Art. 110 Ziff. 1 OR abgelehnt hat. Überzeugender wäre es daher gewesen, direkt auf die Analogie zurückzugreifen, zumal sich dann auch die Argumente zur Interessenlage der an dem Rechtsverhältnis Beteiligten besser erklärt hätten. Gegen Ende der Entscheidung wird in Verbindung mit einem Zweckmäßigkeitsargument noch eine gesetzliche Wertung eingebracht, die als ergänzende Begründung gesehen werden kann. Die Entscheidung enthält im Ergebnis alle wichtigen Argumente, auch wenn sie methodisch nicht vollständig zutreffend eingeordnet werden. Die zunächst weite Interpretation von Art. 1 Abs. 2 ZGB findet sich in der Begründung nicht wieder, da gesetzesnah argumentiert wird, auch wenn die Entscheidung nicht von einer Analogie spricht.
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Die Literatur hat sich weitestgehend der Lösung des Bundesgerichts angeschlossen.97
5. Culpa in contrahendo Die Entscheidung BGE 77 II 135 vom 6. Juni 1951 leitet das Rechtsinstitut der culpa in contrahendo für das schweizerische Recht mit Hilfe einer Kombinationsbegründung her. a) BGE 77 II 135 – Herleitung der culpa in contrahendo mit Hilfe einer Kombinationsbegründung (Urteil vom 6. Juni 1951) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, ob einer Partei von Vertragsverhandlungen ein Schadensersatzanspruch daraus erwächst, dass die andere Partei die Verhandlungen weitergeführt hat, obwohl sie sich bereits entscheiden hatte, dass es nicht zum Vertragsabschluss kommen würde. Es handelt sich also um die Frage nach einem Anspruch aus culpa in contrahendo. bb) Grenzen der Auslegung Die Entscheidung beschäftigt sich nicht mit den Grenzen der Auslegung und geht auch auf eine Lückenhaftigkeit des Gesetzes nicht ein. Das Bundesgericht beginnt vielmehr auf S. 136 seine Erwägungen damit, dass die schweizerischen Gerichte in Folge der deutschen Lehre und der Rechtsprechung des Reichsgerichts die culpa in contrahendo anerkannt hätten. Der Verweis auf einen in Vorentscheidungen anerkannten Grundsatz führt hier dazu, dass sich die Entscheidung mit der Lückenproblematik nicht mehr auseinandersetzt. Im Ergebnis ist das nicht problematisch, da unbestritten ist, dass die culpa in contrahendo im schweizerischen Recht nicht geregelt ist. Methodisch genauer wäre es jedoch gewesen, wenn eine Lücke ausdrücklich festgestellt worden wäre.
97 BSK ZGB II-Zogg Art. 827 Rn. 7 m.w.N.; Steinauer, Droits réels, III § 90 I. B. (Rn. 2823b); Schmid/Hürlimann-Kaup, Sachenrecht, § 30 I. 3. B. b. 3. (Rn. 1625); Simonius/ Sutter, Immobiliarsachenrecht II, § 7 III. 1. (Rn. 20); BSK OR I-Zellweger-Gutknecht Art. 110 Rn. 24; BK-Weber Art. 110 OR Rn. 26; CR CO I-Tevini Art. 110 Rn. 24; a.A. BK-Leemann Art. 827 ZGB Rn. 23; mit Zweifeln noch CR CO I-Tevini Du Pasquier (1. Aufl. 2003) Art. 110 Rn. 24.
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cc) Lückenfüllung Die Entscheidung beginnt die Lückenfüllung mit der oben erwähnten Bezugnahme auf die Praxis der schweizerischen Gerichte, die sich wiederum auf deutsche Literatur und Rechtsprechung stützt. Der Pauschalverweis auf Vorentscheidungen stellt keine am Legitimitätsgedanken orientierte Lückenfüllung dar, weil es sich bei der Rechtsprechung nicht um eine Rechtsquelle handelt98. Interessant ist aber, dass der Verweis auf die schweizerische Praxis allgemein bleibt und keine einzelnen Entscheidungen zitiert werden. Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass das Bundesgericht noch einmal selbst begründen möchte. Ergänzend bezieht sich die Entscheidung auf ein in Deutschland und der Schweiz allgemein anerkanntes Prinzip, wonach bei Vertragsverhandlungen ein Rechtsverhältnis entstehe, das Sorgfaltspflichten beinhalte. Dabei entsteht der Eindruck, dass die Geltung dieses Prinzips dadurch untermauert werden soll, dass es „allgemein anerkannt“ sei. Ein allgemein anerkanntes Prinzip ist jedoch keine Rechtsquelle, solange es nicht gesetzlich verankert ist. Dafür, dass es sich um Gewohnheitsrecht handeln könnte, fehlen die Anhaltspunkte. Außerdem geht die Entscheidung nicht auf die Notwendigkeit einer Rechtsfortbildung nach Art. 1 ZGB ein. Dennoch werden im Folgenden (S. 136) Normen genannt, die vorvertragliche Pflichten statuierten und die das Bundesgericht im Rahmen einer Rechtsanalogie heranziehen will. Dies sind die Art. 195 Abs. 2, 208 Abs. 3, 248 Abs. 1, 473 Abs. 2 OR, Art. 3 und 5 OR, Art. 5 Abs. 3 OR, Art. 26 OR, Art. 39 OR und Art. 411 ZGB a.F.99. Hier gilt – wie in BGE 39 II 561100 –, dass diese Normen erst im Nachgang zitiert werden, nachdem die Entscheidung die Geltung der culpa in contrahendo für das schweizerische Recht bereits festgestellt hat. Bei diesem Urteil ergibt sich zudem die Besonderheit, dass sich die herangezogenen Normen zum Teil nicht auf vorvertragliche Pflichten beziehen, so dass die Berufung auf sie nicht überzeugen kann. Dies ist so bei den Art. 195 Abs. 2, 208 Abs. 3, 248 Abs. 1 und 473 Abs. 2 OR. Allen diesen Vorschriften ist gemein, dass es um die Nicht- oder nicht gehörige Erfüllung101 einer vertraglichen Hauptleistungspflicht geht.102 98
s. o. B. II. 4. a). Die Vorschriften über die Vormundschaft, zu denen Art. 411 ZGB a.F. gehörte, sind durch BG vom 19. Dezember 2008 (Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht), in Kraft seit 1. Januar 2013 (AS 2011, 725), vollumfänglich durch Vorschriften zum Erwachsenenschutz ersetzt worden. 100 Vgl. die Analyse [D. I. 2. a)] unter cc). 101 Dt. Recht: Schlechterfüllung. 102 Zu allem und m.w.N. auch Gonzenbach, Culpa in contrahendo, Teil 1 2.12 (S. 11 ff.). 99
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Die Vorschrift des Art. 195 Abs. 2 OR regelt einen Schadensersatzanspruch des Käufers gegen den Verkäufer, der entgegen Art. 192 Abs. 1 OR nicht dafür gesorgt hat, dass die Kaufsache frei von Rechten Dritter ist und ein Dritter nicht dem Käufer die Sache entziehen kann. Die Pflicht, eine Sache frei von Rechten Dritter zu verschaffen, ist jedoch eine Vertragspflicht eines bereits geschlossenen Vertrages und keine vorvertragliche Pflicht. Entzieht der Dritte dem Käufer die Sache, gilt der Kaufvertrag zwar gem. Art. 195 Abs. 1 OR als aufgehoben, das ändert aber nichts daran, dass Art. 195 Abs. 2 OR die Rechtsfolgen der nicht gehörigen Erfüllung einer vertraglichen Pflicht regelt. Bei Art. 208 Abs. 3 OR geht es um einen Schadensersatzanspruch als Rechtsfolge der Wandelung, die gem. Art. 205 Abs. 1 OR verlangt werden kann, wenn die Kaufsache mangelhaft war. Die Pflicht des Verkäufers aus Art. 197 Abs. 1 OR, dem Käufer eine mangelfreie Sache zu verschaffen ist aber wieder eine vertragliche und keine vorvertragliche Pflicht. Es geht also auch hier nicht um eine culpa in contrahendo, sondern um ein Verschulden des Verkäufers bei der Schlechterfüllung.103 In Art. 248 Abs. 1 OR geht es um die Verletzung von Pflichten bei der Erfüllung des Schenkungsvertrages. Genauer gesagt, um die Nicht- oder Schlechterfüllung einer Schenkung und damit beliebige Leistungsstörungen, insbesondere Verzug, nachträgliche Unmöglichkeit und Schlechtleistung.104 In Art. 473 Abs. 2 OR ist der Ersatz des durch eine Hinterlegung verursachten Schadens geregelt, also eines Schadens der während der Ausführung des Vertrages entsteht. Diese Vorschriften stellen somit keine positivrechtlichen Normierungen der c.i.c. dar105 und können daher nicht im Rahmen einer Rechtsanalogie herangezogen werden. Auch die Art. 3 und 5 OR zählen nicht zu den eigentlichen c.i.c.-Tatbeständen.106 Es geht dabei um die Bindungswirkung des Angebotes und damit zwar um vorvertragliches Verhalten des Offerenten, die Sanktion liegt jedoch nicht in einem Schadensersatzanspruch, sondern in der Bindung des Offerenten an den Vertrag.107 Überzeugend ist dagegen die Heranziehung der Art. 26 und 39 OR und des Art. 411 Abs. 2 ZGB a.F. Die Vorschrift des Art. 26 OR regelt die Rechtsfolgen eines Irrtums bei Vertragsschluss. Hat der Irrende den Irrtum zu vertreten, ist er zum Schadensersatz verpflichtet. Der Irrtum ist ein Problem, das bei Vertragsschluss relevant wird, und kann daher dem vorvertraglichen Verhältnis zugeschlagen werden108. In jedem Fall geht es nicht um eine Pflicht, die aus dem Vertragsverhältnis 103 104 105 106 107 108
BK-Giger Art. 208 OR Rn. 46. BSK OR I-Vogt/Vogt Art. 248 Rn. 1. Gonzenbach, Culpa in contrahendo, Teil 1 2.12 (S. 13). Gonzenbach, Culpa in contrahendo, Teil 1 2.11 (S. 10). Gonzenbach, Culpa in contrahendo, Teil 1 2.11 (S. 9 f.). BSK OR I-Schwenzer Art. 26 Rn. 1 a.E.
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heraus entsteht. Ähnlich ist es bei Art. 39 OR und Art. 411 Abs. 2 ZGB a.F. Dort geht es um die Haftung des Vertreters ohne Vertretungsmacht bzw. des Bevormundeten, der seine Handlungsfähigkeit109 vortäuscht. Die Vertretungsmacht und die Handlungsfähigkeit müssen bei Vertragsschluss vorliegen, sind also Voraussetzungen dafür, dass der Vertrag ordnungsgemäß geschlossen werden kann. Zusätzlich nennen kann man in diesem Zusammenhang die Art. 28 und 29 OR i.V.m. Art. 31 Abs. 3 OR, die den Anspruch auf Schadensersatz wegen Täuschung und Drohung regeln, sowie Art. 36 Abs. 2 OR110, der die Haftung des Vollmachtgebers regelt, wenn die Vollmachtsurkunde nach dem Erlöschen der Vollmacht nicht zurückgefordert wird.111 Zudem enthält die Entscheidung einen Verweis auf die deutschen Vorschriften der §§ 307, 309 BGB a.F.112. Da deutsche Vorschriften in der Schweiz keine Geltung haben, können diese jedoch nicht in die Rechtsanalogie aufgenommen werden. Interessant ist, dass die Entscheidung die Verallgemeinerung des Prinzips der culpa in contrahendo auf S. 136 außerdem mit dem Prinzip des guten Glaubens in Geschäftsbeziehungen untermauert. Die Tatsache, dass das Bundesgericht die Verallgemeinerung des Prinzips extra begründet, zeugt davon, dass es sich eventuell der Problematik des Induktionsschlusses bei der Rechtsanalogie bewusst ist. Bei der Rechtsanalogie muss man von einzelnen Vorschriften auf ein allgemeines Prinzip schließen.113 Fraglich ist, ob dieser „gute Glaube in Geschäftsbeziehungen“ zu einer am Legitimitätsgedanken orientierten Lückenfüllung geeignet ist. Es handelt sich dabei um ein redliches Verhalten in Geschäftsbeziehungen. Grundsätzlich ist es wünschenswert, dass sich jeder Mensch in jeder Art von Beziehung redlich verhält. Fraglich ist aber, in welchen Beziehungen man ein unredliches Verhalten rechtlich sanktionieren will. Die Vorschrift des Art. 2 Abs. 1 ZGB fordert ein redliches Verhalten bei der Ausübung von Rechten und Pflichten, also im Rahmen eines Rechts- und damit auch eines Vertragsverhältnisses. Der Grund, bei einem Vertragsverhältnis ein redliches Verhalten zu fordern und Sorgfaltspflichten anzunehmen, ist die besondere Beziehung der Vertragsparteien untereinander, die sich gegenseitig vertrauen müssen und entsprechend diesem Vertrauen Vermögensdispositionen vornehmen. Dieselbe Situation besteht aber bei Vertragsverhandlungen. Auch im Rahmen von Vertragsverhandlungen sollte man also unredliches Verhalten sanktionieren. Dies aber nicht, 109
Dt. Recht: Geschäftsfähigkeit. Gonzenbach, Culpa in contrahendo, Teil 1 2.2 (S. 14); Schwenzer, OR AT, § 47 I. (Rn. 47.02). 111 BK-Kramer Allg. Einl. OR Rn. 135. 112 Vorschriften des BGB vor dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz (SMG vom 26. November 2001, BGBl. I S. 3138, in Kraft seit 1. Januar 2002) s. Schönfelder, Deutsche Gesetze, Ergänzungsband Nr. 20. 113 Dazu oben B. III. 2. a) aa). 110
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um redliches Verhalten in Geschäftsbeziehungen durchzusetzen, sondern um der spezifischen Situation der Vertragsverhandlungen gerecht zu werden, die ein dem Vertrag ähnliches Näheverhältnis zwischen den Parteien schaffen. Aus diesem Grund kann man die Regeln, die innerhalb eines Vertragsverhältnisses Pflichtverletzungen sanktionieren, analog auf das Verhalten bei Vertragsverhandlungen anwenden. Im schweizerischen Recht wäre das Art. 97 Abs. 1 OR, der Nebenpflichtverletzungen im Rahmen der nicht gehörigen Erfüllung mit einer Verpflichtung zum Schadensersatz belegt114. Problematisch ist hier jedoch genauso wie im deutschen Recht115, dass Art. 97 Abs. 1 OR wie § 280 I BGB nur die Verletzung vertraglicher Schutzpflichten sanktioniert. Um diese Normen im vorvertraglichen Verhältnis anwenden zu können, muss man also begründen, dass dort bereits vertragliche oder vertragsähnliche Schutzpflichten bestehen. In der Schweiz werden vertragliche Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 1 ZGB abgeleitet.116 Da das vorvertragliche Verhältnis dem vertraglichen Verhältnis in Bezug auf die Schutzbedürftigkeit der Parteien ähnlich ist, kann man Art. 2 Abs. 1 ZGB auf das vorvertragliche Verhältnis analog anwenden. Ließe sich die culpa in contrahendo nicht schon über eine Rechtsanalogie aus den oben angeführten Vorschriften ableiten, könnte man sie also im schweizerischen Recht über eine Analogie zu Art. 97 Abs. 1 OR i.V.m. Art. 2 Abs. 1 ZGB konstruieren. Auf diese Weise kann das Prinzip des guten Glaubens wieder ins Spiel kommen. Dies aber nicht, um ein redliches Verhalten in Geschäftsbeziehungen zu fördern, sondern weil es sich um eine vertragsähnliche Situation handelt, auf die die für Verträge geltenden Vorschriften analog angewandt werden können. Die Entscheidung sagt dazu auf S. 137, die Haftung während der Vertragsverhandlungen beruhe auf dem Prinzip des guten Glaubens, ohne aber deutlich zu machen, dass sich dies durch die vertragsähnliche Situation erklärt. Zudem ist die alleinige Berufung auf Art. 2 Abs. 1 ZGB nicht zielführend, da diese Vorschrift keine Rechtsfolge enthält. Man kann sie daher im vorliegenden Fall nur in Kombination mit Art. 97 Abs. 1 OR anwenden. Auf S. 137 untermauert die Entscheidung die Haftung aus culpa in contrahendo außerdem mit Pauschalverweisen auf deutsche und schweizerische Literaturmeinungen sowie auf Vorentscheidungen des Bundesgerichts. In der schweizerischen Literatur ist die Rechtsnatur der culpa in contrahendo stark umstritten. Neben dem auch hier vertretenen vertragsrechtlichen Ansatz gibt es Autoren, die die culpa in contrahendo dem Deliktsrecht zuschlagen, und wieder andere sehen in ihr eine Haftung eigener Art.117 114
Schwenzer, OR AT, § 67 I. (Rn. 67.01). Vgl. die Analyse von RGZ 127, 218 [C. I. 5. a)] unter cc). 116 BSK ZGB I-Honsell Art. 2 Rn. 16. 117 Schwenzer, OR AT, § 48 (Rn. 48.01); Huguenin, OR AT u. BT, § 18 II. (Rn. 1531); CR CO I-Thévenoz Intro. art. 97 – 109 Rn. 19 jeweils m.N.; für ältere Literatur s. BK-Kramer Allg. Einl. OR Rn. 138. 115
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Das Bundesgericht hat die Haftung aus culpa in contrahendo zunächst als außervertragliche bezeichnet, danach – unter anderem in der vorliegenden Entscheidung – als vertragliche und hat schließlich die Frage nach der Rechtsnatur offen gelassen.118 In jüngster Zeit siedelt es die culpa in contrahendo bei der zwischen Vertrags- und Deliktsrecht liegenden dritten Haftungskategorie der Vertrauenshaftung119 an.120 dd) Ergebnis Die Entscheidung nimmt zunächst den Grundsatz der culpa in contrahendo als bereits existierend an und verweist zur Begründung auf die Praxis der schweizerischen Gerichte, die diesen aus der deutschen Lehre und Rechtsprechung übernommen habe. Weiterhin bezeichnet sie die culpa in contrahendo als „allgemein anerkanntes Prinzip“, ohne auf Gewohnheitsrecht einzugehen. Durch diese Vorgehensweise werden die Grenzen der Auslegung nicht bestimmt. Auch auf das Vorliegen einer Gesetzeslücke und die Notwendigkeit der Rechtsfortbildung nach Art. 1 ZGB wird nicht eingegangen. Trotzdem unternimmt die Entscheidung eine eigene lückenfüllende Begründung, indem sie Normen aufzählt, die sie im Rahmen einer Rechtsanalogie heranziehen will. Dabei handelt es sich jedoch nur teilweise um Vorschriften, die bestimmte Fälle der culpa in contrahendo regeln, so dass die Rechtsanalogie teilweise ins Leere geht. Die Argumentation mit der schweizerischen Praxis und der Leerformel des „allgemein anerkannten Prinzips“ stellt zusammen mit der Rechtsanalogie eine Kombinationsbegründung dar. Zudem wird die Rechtsanalogie mit dem Prinzip des guten Glaubens in Geschäftsbeziehungen ergänzt, so dass außerdem die Grenzen der Analogie verdeckt werden. Die Forderung nach einem redlichen Geschäftsverkehr stellt kein rechtliches Argument dar. Ein solches lässt sich nur über die Vertragsnähe der vorvertraglichen Situation entwickeln. Später geht die Entscheidung auf das Prinzip des guten Glaubens im Allgemeinen ein, das in Art. 2 Abs. 1 ZGB geregelt ist und im vorvertraglichen Verhältnis gelten soll. Hier bleibt die Argumentation insofern unvollständig, als sich eine analoge Anwendung von Art. 2 Abs. 1 ZGB nur aus der Vertragsähnlichkeit der Verhandlungen erklärt. Vor allem aber ist Art. 2 Abs. 1 ZGB keine Anspruchsgrundlage, so
118 BK-Kramer Allg. Einl. OR Rn. 137; Huguenin, OR AT u. BT, § 18 II. (Rn. 1532); Schwenzer, OR AT, § 48 (Rn. 48.02); CR CO I-Thévenoz Intro. art. 97 – 109 Rn. 19 jeweils m.N. 119 Zur Vertrauenshaftung ausführlicher die Analyse von BGE 120 II 331 [D. I. 11. a)] unter cc). 120 Huguenin, OR AT u. BT, § 18 II. (Rn. 1532); Schwenzer, OR AT, § 48 (Rn. 48.02); CR CO I-Thévenoz Intro. art. 97 – 109 Rn. 19 jeweils m.N.
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dass zur Begründung der culpa in contrahendo außerdem die analoge Anwendung von Art. 97 Abs. 1 OR notwendig ist. Schließlich enthält die Entscheidung einen Pauschalverweis auf deutsche und schweizerische Literaturmeinungen und auf Vorentscheidungen des Bundesgerichts. Insgesamt gilt, dass die Tatsache, dass es sich bei der c.i.c. um einen länger bekannten Grundsatz handelt, dazu führt, dass das Bundesgericht nicht auf Art. 1 ZGB zurückgreift. Die Entscheidung übernimmt zum einen die c.i.c. als bereits existierenden Grundsatz und argumentiert zum anderen selbst rechtsfortbildend. Diese Vorgehensweise zeigt eine gewisse Unentschiedenheit, wie vorzugehen ist, wenn ein Grundsatz schon allgemein bekannt ist oder in Vorentscheidungen angenommen wurde, und spricht dafür, diese Situation in einer Rechtsfortbildungsnorm zu regeln. Auch wenn die Rechtsanalogie nur teilweise überzeugt, ist positiv, dass die Entscheidung diesen Ansatz einer gesetzesnahen Lückenfüllung enthält.
6. Entschädigung bei einer Duldungspflicht von Immissionen, die durch notwendige Baumaßnahmen an einem Nachbargrundstück entstehen Die Entscheidung BGE 83 II 375 vom 19. September 1957 begründet die Entschädigung des Nachbarn mit Gesetzesrecht. Die spätere Entscheidung BGE 91 II 100 vom 28. Januar 1965 kommt zu demselben Ergebnis über eine Kombinationsbegründung. Das Urteil BGE 114 II 230 vom 19. Mai 1988 nimmt den Schadensersatzanspruch des Nachbarn schließlich mit Hilfe einer Rechtsanalogie an. a) BGE 83 II 375 – Begründung einer Entschädigung mit dem Gesetzesrecht (Urteil vom 19. September 1957) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, ob bei für Bauarbeiten an einem Gebäude technisch notwendigen Vorrichtungen der Nachbar, der durch diese Vorrichtungen Einschränkungen für seinen Geschäftsbetrieb erleidet, Schadensersatz aus Art. 679 ZGB a.F.121 verlangen kann. Der Schaden wurde hier dadurch verursacht, dass durch die Bauvorrichtungen Passanten vom Ladeneingang des Nachbarn abgelenkt wurden. Das rechtliche Problem stellt sich dahingehend, ob bei diesen für die Bauausführung technisch notwendigen Maßnahmen eine Überschreitung des Eigentumsrechts im Sinne von Art. 679 ZGB a.F. vorliegt.
121
Der alte Art. 679 ZGB ist heute in Art. 679 Abs. 1 ZGB n.F. enthalten.
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Eine Überschreitung des Eigentumsrechts nach Art. 679 ZGB a.F. liegt vor, wenn die Schranken der Eigentumsausübung missachtet werden, die sich unter anderem aus dem Nachbarrecht der Art. 684 ff. ZGB ergeben.122 Da es im vorliegenden Fall um durch Bauarbeiten hervorgerufene Einwirkungen geht, ist das Verbot übermäßiger Immissionen des Art. 684 ZGB einschlägig. bb) Grenzen der Auslegung Die Entscheidung sieht den Fall notwendiger Baumaßnahmen von den Art. 679 ZGB a.F. und 684 ZGB erfasst. Sie sagt auf den S. 382 und 383, dass eine Eigentumsüberschreitung vorliegen könne, auch wenn die auf der Baustelle vorgenommenen Vorrichtungen technisch notwendig seien. Die Vorschrift des Art. 679 ZGB a.F. wird zwar nur als Überschrift der Leitsätze der Entscheidung auf S. 372 erwähnt. Dies stellt aber klar, dass sich die gesamte Entscheidung auf Art. 679 ZGB a.F. bezieht. Die Regelung des Art. 684 ZGB wird gar nicht genannt, die Entscheidung sagt auf S. 382 aber, dass der Berufungsbeklagte nach den Grundsätzen des Nachbarrechts hafte. Die Entscheidung begründet eine Entschädigung des Nachbarn, der von notwendigen Baumaßnahmen beeinträchtigt wird, also mit dem Gesetzesrecht. Dazu kann man Folgendes sagen: Vom Wortlaut des Art. 684 ZGB sind auch technisch notwendige Vorrichtungen im Rahmen von Bauarbeiten an einem Gebäude erfasst, denn diese Norm richtet sich nur danach, ob die Immissionen, die von der Nutzung des Eigentums ausgehen, übermäßig sind, und macht keinen Unterschied zwischen notwendigen und nicht notwendigen Baumaßnahmen123. Problematisch dabei ist jedoch, dass dann in dichter besiedelten Gebieten eine Bautätigkeit quasi unmöglich gemacht würde, da diese oft unvermeidlicherweise mit übermäßigen Immissionen verbunden ist.124 Bauvorhaben würden insbesondere deswegen erschwert, weil Art. 679 ZGB a.F. nicht nur einen Schadensersatzanspruch für erlittene Beeinträchtigungen beinhaltet, sondern auch die Möglichkeit, auf Unterlassung der Baumaßnahmen zu klagen.125 Sinn und Zweck der Art. 679 ZGB a.F. und 684 ZGB ist es aber, den Nachbarn vor übermäßigen Einwirkungen zu schützen, und nicht, sämtliche Bautätigkeit zu unterbinden. Indem Art. 684 ZGB keinen Unterschied zwischen notwendigen und nicht notwendigen Baumaßnahmen macht, ist folglich sein Wortlaut gemessen an seinem Zweck zu weit. Er ist daher so teleologisch zu reduzieren, dass notwendige Baumaßnahmen aus seinem Anwendungsbereich herausfallen.126 Die Frage, ob der Nachbar, der die übermäßigen Immissionen zu dulden hat, dennoch einen Scha122
BSK ZGB II-Rey/Strebel Art. 679 Rn. 1 und 8. BK-Meier-Hayoz Art. 684 ZGB Rn. 222. 124 Eckenstein, Spannungsfelder, 3. Kap. § 6 II (S. 43) und § 6 IV. 5. (S. 50); Liver, Besprechung von diesem Urteil, ZBJV 95 (1959), S. 20 ff. (S. 22). 125 Eckenstein, Spannungsfelder, 3. Kap. § 6 II (S. 43) und § 6 IV. 5. (S. 50). 126 Dazu BK-Meier-Hayoz Art. 684 ZGB Rn. 222. 123
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densersatzanspruch hat, soll weiter unten bei den Analysen von BGE 91 II 100 und BGE 114 II 230 besprochen werden.127 Wenn man Art. 684 ZGB in der oben beschriebenen Art und Weise teleologisch reduziert, sind die Art. 679 ZGB a.F. und 684 ZGB im vorliegenden Fall nicht einschlägig. Da es dann keine Rechtsgrundlage für die Entschädigung des Nachbarn gibt, der die Immissionen zu dulden hat, liegt ein Lückenproblem vor128, das die Entscheidung nicht erwähnt. Indem das Bundesgericht die Art. 679 ZGB a.F. und 684 ZGB auf den vorliegenden Fall anwendet, überdehnt es also die Grenzen der Auslegung. cc) Lückenfüllung Da die Entscheidung auf das Lückenproblem nicht eingeht, erwähnt sie Art. 1 ZGB nicht und betreibt auch keine Lückenfüllung, und zwar weder in Bezug auf die unter bb) erwähnte teleologische Reduktion noch hinsichtlich eines Schadensersatzanspruches bei zu duldenden Immissionen, der eine weitere Lückenfüllung notwendig macht129. dd) Ergebnis Die Entscheidung thematisiert das in diesem Fall vorliegende Lückenproblem nicht. Sie begründet ihre Lösung vielmehr mit dem Gesetzesrecht und überdehnt damit die Grenzen der Auslegung. Dies ist insofern verständlich, als das Auffinden der Lücke im vorliegenden Fall aufgrund der Notwendigkeit einer teleologischen Reduktion nicht ganz einfach ist. Dennoch hätte klar werden können, dass die Art. 679 ZGB a.F. und 684 ZGB sämtliche Bautätigkeit verhindern, wenn man sie uneingeschränkt anwendet. b) BGE 91 II 100 – Annahme einer Entschädigungspflicht mit Hilfe einer Kombinationsbegründung (Urteil vom 28. Januar 1965) aa) Rechtsfrage Wie in BGE 83 II 375, war in diesem Urteil die Frage, ob ein Nachbar, der durch technisch notwendige und unvermeidliche Baumaßnahmen auf einem angrenzenden Grundstück in seiner geschäftlichen Tätigkeit beeinträchtigt ist, von dem Bauenden Schadensersatz verlangen kann. Auch im vorliegenden Fall wurden durch die Bauvorrichtungen Passanten vom Ladeneingang des Nachbarn abgelenkt. 127 128 129
D. I. 6. b) und c) jeweils unter cc). Dazu ausführlicher die Analyse von BGE 91 II 100 [D. I. 6. b)] unter cc). Vgl. dazu die Analyse von BGE 91 II 100 [D. I. 6. b)] unter cc).
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bb) Grenzen der Auslegung Auf S. 106 nimmt die Entscheidung den bauenden Grundeigentümer aus dem Anwendungsbereich des Art. 684 ZGB aus, soweit es sich bei den Bauausführungen nicht vermeiden lässt, in den Rechtsbereich des Nachbarn einzugreifen. Sein Handeln sei dann nicht rechtswidrig. Im Rahmen der Art. 679 ZGB a.F. und 684 ZGB bedeutet Rechtswidrigkeit die Überschreitung des Eigentumsrechts.130 Wendet man Art. 684 ZGB auf notwendige Baumaßnahmen nicht an, liegt in diesem Fall keine Überschreitung des Eigentumsrechts und damit auch keine Rechtswidrigkeit der Bautätigkeit vor. Damit nimmt die Entscheidung im Ergebnis die bei der Analyse von BGE 83 II 375131 befürwortete teleologische Reduktion des Art. 684 ZGB vor. Problematisch ist jedoch, dass sie dies nicht so nennt und auch sonst keine Gründe für die Nichtanwendbarkeit von Art. 684 ZGB angibt. Dadurch entsteht der Eindruck, es ergebe sich aus Art. 684 ZGB selbst, dass dieser auf notwendige Baumaßnahmen nicht anwendbar sei. Anstatt über eine teleologische Reduktion scheint die Entscheidung also durch Auslegung zu ihrem Ergebnis zu kommen. Zumindest aber legt sie sich methodisch nicht fest. Wenn man aber einen Gesetzeswortlaut durch Auslegung einschränkt, obwohl er eine einschränkende Formulierung nicht enthält, geschieht das gleiche, wie wenn man ihn über seinen Wortsinn hinaus ausdehnt. Die Grenzen der Auslegung werden überdehnt. Indem sich die Entscheidung methodisch nicht eindeutig positioniert, entsteht zumindest der Eindruck, die Grenzen der Auslegung würden verschoben. cc) Lückenfüllung Wenn man zu einer Schadensersatzpflicht bei durch notwendige Baumaßnahmen verursachten Immissionen kommen will, muss man eine doppelte Lückenfüllung132 vornehmen. Zum einen muss man die oben unter bb) erwähnte und bei der Analyse von BGE 83 II 375 begründete teleologische Reduktion des Art. 684 ZGB durchführen. Nimmt man aber die notwendigen Baumaßnahmen aus dem Anwendungsbereich des Art. 684 ZGB aus, besteht keine Eigentumsüberschreitung mehr und es ergibt sich auch kein Schadensersatzanspruch aus Art. 679 ZGB a.F. Für den Fall, dass der Nachbar Schadensersatz verlangt, weil er die Immissionen aus notwendiger Bautätigkeit zu dulden hat, gibt es also im schweizerischen Recht keine Rechtsgrundlage. Diese Lücke gilt es dann zu füllen. Ein qualifiziertes Schweigen der Rechtsordnung kann sich nicht daraus ergeben, dass Art. 684 ZGB den Fall aus seinem Anwendungsbereich nimmt. Denn dies tut er ja nicht, weil für diesen Fall kein Schadenersatz gewährt werden soll, sondern weil 130 131 132
Eckenstein, Spannungsfelder, 3. Kap. § 8 I. (S. 64). D. I. 6. a) unter bb). Zur Erklärung s. Kramer, Methodenlehre, III. 6. b) (S. 226 f.)
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Art. 679 ZGB a.F. und 684 ZGB den Schadenersatz für die Fälle regeln, in denen rechtswidrig in die Nachbarrechte eingegriffen wurde. Der streitige Fall ist aber derjenige, bei dem der Eingriff in die Nachbarrechte zu dulden ist. In dieser Situation liegt kein rechtswidriger Eingriff vor. Der Schadensersatzanspruch bildet vielmehr das Gegenstück zur Duldungspflicht des Nachbarn. Über diesen Fall sagen die Art. 679 ZGB a.F. und 684 ZGB nichts aus. Diese zweite Lücke wird von der Entscheidung auf S. 106 ausdrücklich erwähnt. Problematisch ist dann, wie diese Lücke zu füllen ist. Die Entscheidung sagt dazu, eine Schadenersatzpflicht vertrage sich mit dem Vorrecht, ausnahmsweise in fremde Rechtsbereiche einzugreifen. Sie sei dessen angemessenes Gegenstück (S. 106). Ein angemessenes Gegenstück ist sie aber nicht von Natur aus, sondern nur, weil die Rechtsordnung den Gedanken kennt, dass, wenn ein Eingriff in Rechte zu dulden ist, eine Entschädigung verlangt werden kann. Auf solche Regelungen müsste die Entscheidung zurückgreifen. Ohne diese Bezugnahme bleibt diese Aussage eine eigene Wertung des Richters. Im Folgenden kündigt die Entscheidung an, die Gesetzeslücke nicht in der Weise zu schließen, dass sich eine reine Billigkeitsentscheidung ergebe, sondern nach gesetzgeberischer Methode zu verfahren, also eine Lösung zu suchen, die sich folgerichtig in das Gefüge der gesetzlichen Bestimmungen einreihen lasse (S. 106 f.). Damit spricht sich die Entscheidung dafür aus, im Gesetzgebervorgehen eine Lösung zu finden, die in das System passt, nicht aber dafür, die Lösung aus den vorhandenen Bestimmungen abzuleiten. Die Vorschrift des Art. 1 Abs. 2 ZGB wird dabei nicht direkt erwähnt, sondern es wird auf eine Kommentierung dieser Vorschrift verwiesen. Auf S. 107 erfolgt die eigentliche lückenfüllende Argumentation. Die Entscheidung sagt, unter dem Gesichtspunkt des gerechten Interessenausgleichs, der auch dem Art. 679 ZGB a.F. zugrunde liege, sei die Schadenersatzpflicht im Anschluss an diese Haftungsnorm zu bejahen. Einen gerechten Interessenausgleich möchte fast jede zivilrechtliche Norm erreichen. Dies ist daher eine Leerformel und kein Argument, das man für die Bildung einer neuen Regel im Rahmen der Rechtsfortbildung heranziehen kann. Es kommt vielmehr darauf an, welche Interessen eine Norm wie zum Ausgleich bringt und ob dieser spezifische Ausgleich eventuell auf einen nichtgeregelten Fall Anwendung finden kann. Man muss also fragen, ob man Art. 679 ZGB a.F. analog anwenden kann. Die Vorschrift des Art. 679 ZGB a.F. gewährt Schadensersatz für den Fall, dass im Sinne des Art. 684 ZGB in das Eigentum des Nachbarn durch übermäßige Einwirkungen eingegriffen wurde. Das jedoch nur für den Fall, dass die Einwirkung nicht ausnahmsweise vom Nachbarn zu dulden ist. Dieses Ergebnis ergibt sich durch die in der Analyse von BGE 83 II 375 begründete teleologische Reduktion. Auch die vorliegende Entscheidung nimmt den Fall der ausnahmsweisen Duldung von Einwirkungen ausdrücklich aus dem Tatbestand des Art. 684 ZGB und damit auch aus dem Tatbestand des Art. 679 ZGB a.F., der durch Art. 684 ZGB konkretisiert wird,
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aus [s. o. bb)]. Man kann aber einen bestimmten Fall nicht durch teleologische Reduktion dem Tatbestand einer Norm entziehen und die Norm dann hinsichtlich der Rechtsfolge – im vorliegenden Fall Schadensersatz – auf diesen Fall analog anwenden. Eine analoge Anwendung der Art. 679 ZGB a.F. und 684 ZGB auf den vorliegenden Fall ist folglich nicht möglich. Der Ausspruch, eine Schadenersatzpflicht „im Anschluss“ an diese Vorschriften bejahen zu wollen, enthält keine methodische Aussage. Eine Analogie ist nicht gemeint und auch nicht möglich. Auch ein Annex-Schluss liegt nicht vor, da die Art. 679 ZGB a.F. und 684 ZGB zu ihrer Verwirklichung nicht zwingend erfordern, dass auch bei der Duldungspflicht von übermäßigen Immissionen Schadenersatz gewährt wird. Es handelt sich zudem weder um ein systematisches noch um ein sonstiges teleologisches Argument. Die Formel „im Anschluss“ an Art. 679 ZGB a.F. verschleiert folglich, dass keine methodisch überzeugende Lückenfüllung erfolgt. Die Entscheidung argumentiert weiter, die gefundene Lösung stehe „im Einklang“ mit Gesetzesbestimmungen, die an Befugnisse zum Eingriff in fremde Rechtsbereiche eine Entschädigungspflicht knüpften (S. 107). Hingewiesen wird dabei auf Art. 694 und 701 ZGB und Art. 5 des Bundesgesetzes über die Enteignung133. In Art. 694 ZGB wird ein Grundeigentümer verpflichtet, einem Nachbarn unter bestimmten Voraussetzungen einen Notweg gegen volle Entschädigung einzuräumen. In Art. 701 ZGB hat ein Grundeigentümer den Eingriff in sein Eigentum zu dulden, wenn nur so eine drohende Gefahr abgewendet werden kann, und kann dafür Schadensersatz beanspruchen. Neben Art. 694 ZGB kann man außerdem die weiteren Notrechte der Art. 674 Abs. 3, 691 und 710 ZGB heranziehen.134 In Art. 674 Abs. 3 ZGB geht es um die Pflicht zur Einräumung eines Überbaurechts gegen Entschädigung, Art. 691 ZGB regelt die Pflicht zur Duldung von Durchleitungen auf einem Grundstück gegen Entschädigung und Art. 710 ZGB die Pflicht, einem Nachbarn einen Anteil an Brunnen oder Quellen gegen Entschädigung abzutreten. Es stimmt zwar, dass diese Bestimmungen gesetzliche Realobligationen auf Einräumung beschränkter dinglicher Rechte an Grundstücken gegen Entschädigung enthalten und dass es bei ihnen nicht um einen Schadensersatzanspruch wegen eines nicht gewährten Abwehranspruches – wie im vorliegenden Fall – geht.135 Ein nicht gewährter Abwehranspruch bedeutet jedoch eine Duldungspflicht. So hat im vorliegenden Fall der Nachbar die von den notwendigen Baumaßnahmen ausgehenden Immissionen zu dulden. Auch bei den oben erwähnten Notrechten genauso wie bei dem in Art. 701 ZGB geregelten 133 Bundesgesetz über die Enteignung (EntG) vom 20. Juni 1930, aktuelle Fassung abgedruckt in SR 711. 134 Liver, Besprechung von diesem Urteil, ZBJV 103 (1967), S. 1 ff. (S. 3), im Ergebnis aber ablehnend hinsichtlich der Analogie zu diesen Vorschriften. Vgl. außerdem die unter D. I. 6. c) analysierte Entscheidung BGE 114 II 230 (236). 135 So Rey ZBJV 126 (1990), S. 190 ff. (S. 195).
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Notstand geht es aber darum, dass Beschränkungen des Eigentums zu dulden sind. Dass es bei den Notrechten die Einräumung beschränkter dinglicher Rechte, beim Notstand der Zutritt zum Grundstück oder die Beschädigung oder Zerstörung eines zum Grundstück gehörenden Objektes136 und im vorliegenden Fall die übermäßigen Immissionen sind, macht für die Überlegungen zur Analogie keinen Unterschied. Der gemeinsame Nenner dieser Fälle ist, dass es immer um die Duldung von Beschränkungen des Grundeigentums geht, die mit Schadensersatz belegt ist. Daran ändert es auch nichts, dass es im Fall des Notstandes um einen unmittelbaren Eingriff auf das fremde Grundstück geht, im vorliegenden Fall aber um die negative Immission der Ablenkung der Passanten vom Ladeneingang.137 Denn in beiden Fällen handelt es sich um Eingriffe in das Eigentum, die zu dulden sind. Da bei der Analogie die Fälle nur vergleichbar und nicht gleich sein müssen, kommt es auf die Art und Weise des Eingriffs nicht an. Der Schadensersatzanspruch wegen zu duldender übermäßiger Immissionen aus notwendiger Bautätigkeit lässt sich also aus einer Rechtsanalogie zu den Art. 674 Abs. 3, 691, 694, 701 und 710 ZGB ableiten.138 Die öffentlich-rechtliche Enteignung sieht zudem in Art. 5 EntG vor, dass auch aus dem Grundeigentum hervorgehende Nachbarrechte Gegenstand der Enteignung sein können. In Art. 16 EntG ist die daraus folgende Entschädigungspflicht geregelt. Damit ließe sich auch eine Analogie zur öffentlich-rechtlichen Enteignung andenken. Da es sich bei übermäßigen Immissionen durch eine Bautätigkeit Privater aber um einen privatrechtlichen Eingriff handelt, sind die oben genannten privatrechtlichen Normen näher daran und eignen sich besser für eine Analogie. Dennoch enthalten Art. 5 und 16 EntG den Rechtsgedanken, dass zu duldende Eingriffe in das Eigentum zu entschädigen sind. Diese Vorschriften können folglich ergänzend zu der oben genannten Analogie zu den privatrechtlichen Regelungen herangezogen werden.139 Insgesamt begründet das Bundesgericht seine Lösung zuerst mit methodisch nicht überzeugenden Argumenten und stellt dann fest, dass diese sich in die vorhandenen Vorschriften einfüge. Eine am Legitimitätsgedanken orientierte Lückenfüllung hätte es aber erfordert, die Lösung über eine Rechtsanalogie zu diesen gesetzlichen Vorschriften herzuleiten. Dadurch, dass die Entscheidung in der Art des Gesetzgebers vorgeht, wird diese Begründungsmöglichkeit nicht ausgeschöpft. Eine andere Lösung vertritt Eckenstein.140 Danach sei Art. 679 ZGB a.F. so teleologisch zu reduzieren, dass bei übermäßigen Immissionen aus notwendiger Bautätigkeit lediglich kein Abwehranspruch bestehe. Der Schadensersatzanspruch 136 137 138 139 140
BSK ZGB II-Rey/Strebel Art. 701 Rn. 1. So aber Liver, Besprechung von diesem Urteil, ZBJV 103 (1967), S. 1 ff. (S. 4). A.A. und m.w.N. Eckenstein, Spannungsfelder, 3. Kap. § 7 II. 2. b) (S. 55 f.). A.A. Eckenstein, Spannungsfelder, 3. Kap. § 7 II. 3. und 4. (S. 56 ff.) m.w.N. Eckenstein, Spannungsfelder, 3. Kap. § 10 IV. (S. 89 f.).
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aus den Art. 679 ZGB a.F. und 684 ZGB bliebe damit bestehen. So wird das Kriterium der Notwendigkeit der Bauarbeiten in Art. 679 ZGB a.F. aufgenommen, und zwar so, dass es die Abwehransprüche ausschließt. Die übermäßigen Immissionen aus notwendiger Bautätigkeit bleiben aber rechtswidrig und begründen den Schadensersatzanspruch nach Art. 679 ZGB a.F. und 684 ZGB. Diese Lösung ist vertretbar, wenngleich dogmatisch nicht eindeutig zu begründen. Schließt man die Abwehransprüche aus, ist eine Duldungspflicht hinsichtlich der Immissionen gegeben. Bei einer Duldungspflicht liegt aber kein rechtswidriger Eingriff in das Eigentumsrecht vor. Der Schadensersatzanspruch kann dann nur auf der Duldungspflicht und nicht auf einem rechtswidrigen Eingriff in das Eigentumsrecht beruhen. Möchte man den Schadensersatzanspruch aber aus Art. 679 a.F., 684 ZGB ableiten, beruht er nicht auf der Duldungspflicht, sondern auf dem rechtswidrigen Eingriff durch Eigentumsüberschreitung. Damit würde man den Eigentumseingriff hinsichtlich des Abwehranspruches als nicht rechtswidrig, weil zu dulden, hinsichtlich des Schadensersatzanspruches aber als rechtswidrig bezeichnen. Eine solche Lösung ist also nicht frei von Widersprüchen. Diese Lösung ist aber mit dem neu eingefügten und am 01. 01. 2012 in Kraft getretenen Art. 679a ZGB141 Gesetzesrecht geworden. Damit hat sich der Gesetzgeber für eine zwar praktikable, aber in sich nicht ganz stimmige Lösung entschieden. Bei der Beurteilung der Schadenersatzansprüche, argumentiert die Entscheidung auf S. 107 weiter, sei dem Richter „etwa entsprechend“ dem Grundsatz des Art. 52 Abs. 2 OR ein weiter Spielraum zu lassen. Die Vorschrift des Art. 52 Abs. 2 OR erlegt demjenigen, der bei einer Notstandshandlung in fremdes Vermögen eingreift, einen Schadenersatzanspruch auf, den der Richter nach Ermessen festzulegen hat. Im vorliegenden Fall geht es zwar nicht um Eingriffe in das Vermögen wegen Notstandes, sondern um einen Eingriff in das Eigentum wegen notwendiger Baumaßnahmen. In beiden Fällen handelt es sich aber um einen Eingriff in fremde Rechte, der zu dulden ist. Die Regelung des Art. 52 Abs. 2 OR kann man also vollständig analog und nicht nur „etwa entsprechend“ anwenden. Auch die oben im Rahmen der Analogie herangezogenen Art. 674 Abs. 3 und 701 Abs. 2 ZGB sprechen dem Geschädigten nur eine angemessene Entschädigung zu, geben dem Richter also einen Spielraum bei der Entscheidung. Hiermit lässt sich noch direkter das Ermessen des Richters bei der Bemessung des Schadensersatzes begründen.
141 Eingefügt durch Ziff. I 1 des BG vom 11. Dezember 2009 (Register-Schuldbrief und weitere Änderungen im Sachenrecht; AS 2011 4637); ausführliche Kritik bei Eckenstein, Spannungsfelder, 3. Kap. § 11 (S. 91 ff.).
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dd) Ergebnis In der Entscheidung besteht die Tendenz, die Grenzen der Auslegung zu überdehnen, da sie nicht begründet, warum der Fall der notwendigen Baumaßnahmen nicht von Art. 684 ZGB erfasst sein soll. Durch diese Vorgehensweise entsteht der Eindruck, diese Einschränkung ergebe sich aus Art. 684 ZGB selbst und das Bundesgericht komme durch Auslegung zu diesem Ergebnis, obwohl eine teleologische Reduktion notwendig ist. Im Gegensatz zu BGE 83 II 375 wird in dieser Entscheidung aber ausdrücklich auf die Lücke hingewiesen, die bezüglich eines Schadensersatzanspruches bei zu duldenden Immissionen besteht. Die Lückenfüllung erfolgt zunächst durch eine eigene Wertung, indem eine Schadensersatzpflicht als Gegenstück des Vorrechts, in fremde Rechte einzugreifen, betrachtet wird. Dabei nennt das Bundesgericht keine konkreten Normen, die einen solchen Rechtsgedanken enthalten. Sodann verweist die Entscheidung auf eine Kommentierung zu Art. 1 ZGB und kündigt an, nach gesetzgeberischer Methode zu verfahren, so dass sich die gefundene Lösung in die vorhandenen gesetzlichen Bestimmungen einfüge. Eine Schadensersatzpflicht des Bauenden begründet sie im Folgenden mit Hilfe der Leerformel des gerechten Interessenausgleichs „im Anschluss“ an Art. 679 ZGB a.F. Diese Aussage beschreibt keine methodische Vorgehensweise, vor allem da eine Analogie nicht in Frage kommt. Die Entscheidung führt weiterhin an, die so festgestellte Schadensersatzpflicht stehe im Einklang mit Bestimmungen zur privatrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Enteignung. Das angekündigte Gesetzgebervorgehen führt so dazu, dass das Bundesgericht sein Ergebnis lediglich mit den vorhandenen Regeln abgleicht, anstatt es aus diesen abzuleiten. Die Möglichkeit, die Schadensersatzpflicht aus einer Analogie – vor allem zu den Vorschriften über eine privatrechtliche Enteignung – zu begründen, wird nicht genutzt. Indem die Entscheidung mit einer eigenen Wertung und einer Leerformel argumentiert und zusätzlich auf die Normen verweist, die man im Rahmen einer Rechtsanalogie heranziehen kann, geht sie über eine Kombinationsbegründung vor. Positiv daran ist, dass die Entscheidung die Normen, die eine Rechtsanalogie stützen, enthält. c) BGE 114 II 230 – Annahme einer Entschädigungspflicht mit Hilfe einer Rechtsanalogie (Urteil vom 19. Mai 1988) aa) Rechtsfrage Wie in BGE 83 II 375 und BGE 91 II 100, war in diesem Urteil die Frage, ob sich ein Grundeigentümer gegenüber seinem Nachbarn schadensersatzpflichtig macht, wenn er durch notwendige und zweckmäßige Bauarbeiten übermäßige Einwirkun-
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gen auf das Nachbargrundstück verursacht, die bei Anwendung aller Sorgfalt unvermeidbar sind. Die Einwirkungen bestanden auch hier darin, dass durch die Bauvorrichtungen Passanten von den Läden des Nachbarn abgelenkt wurden. bb) Grenzen der Auslegung Wie in der Entscheidung BGE 91 II 100142 geht das Bundesgericht auch hier (S. 235 f.) davon aus, dass der Nachbar keinen Anspruch aus Art. 679 a.F., 684 ZGB habe, weil dem Bauenden keine Rechtswidrigkeit vorgeworfen werden könne, sofern die Bauarbeiten notwendig und zweckmäßig und die Einwirkungen selbst bei Anwendung aller Sorgfalt unvermeidlich seien. Die Entscheidung sagt also, dass bei notwendigen Baumaßnahmen keine Überschreitung des Eigentumsrechts i.S.d. Art. 679 a.F., 684 ZGB vorliege und nimmt damit faktisch eine teleologische Reduktion des Art. 684 ZGB vor. Da das Bundesgericht auch hier nicht erklärt, wie es zu der eingeschränkten Anwendung dieser Vorschrift kommt, gilt wie bei der Entscheidung BGE 91 II 100, dass der Eindruck entsteht, die Grenzen der Auslegung würden überdehnt. Auf S. 236 f. wird zwar, nachdem das Bundesgericht schon Lückenfüllungserwägungen angestellt hat [dazu unten cc)], die Frage aufgeworfen, ob die durch BGE 91 II 100 eingeleitete Rechtsprechung auf dem Schließen einer echten oder einer unechten Lücke beruhe. In der Analyse von BGE 91 II 100 wurde festgestellt, dass sowohl eine unechte als auch eine echte Lücke vorliegen.143 Die Entscheidung differenziert aber nicht zwischen diesen beiden Fällen. Vor allem macht sie nicht deutlich, dass das Schließen der unechten Lücke durch die teleologische Reduktion des Art. 684 ZGB erfolgt. Im Ergebnis, auf S. 237, lässt sie es sogar offen, ob eine echte oder eine unechte Lücke besteht, da sich auch das Schließen einer unechten Lücke rechtfertige, sofern die Immissionen übermäßig seien. Diese Erwägungen zur Einordnung der Lücke bringen also keine methodische Klarheit und können daher den oben erwähnten Eindruck, die Grenzen der Auslegung würden überdehnt, nicht korrigieren. cc) Lückenfüllung Bereits auf S. 236, vor den oben unter bb) erwähnten Überlegungen zum Bestehen einer echten oder unechten Lücke, stellt die Entscheidung lückenfüllende Erwägungen an und nimmt eine Schadensersatzpflicht des Bauenden an. Die Vorschrift des Art. 1 ZGB wird dabei nicht erwähnt. Die Entscheidung sagt, die Schadensersatzplicht des Bauenden ergebe sich im System der privatrechtlichen Eigentumsordnung. Die Analogien zum öffentlichrechtlichen Institut der Enteignung seien augenfällig. Eine „privatrechtliche Enteignung“ sei im Übrigen im Hinblick auf die 142 143
Vgl. die Analyse [D. I. 6. b)] unter bb). Vgl. die Analyse [D. I. 6. b)] unter cc).
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Art. 674 Abs. 3, 691, 694 und 710 ZGB der schweizerischen Rechtsordnung nicht fremd. Damit wird zwar nicht direkt von einer Rechtsanalogie zu den erwähnten Vorschriften gesprochen. Dennoch wird der sich im schweizerischen Recht zu findende Rechtsgedanke, dass bei einem Eingriff in Eigentum entschädigt werden muss, herangezogen. Im Gegensatz zu dem Vorgehen in BGE 90 II 100 wird also die Lösung aus dem vorhandenen Gesetzesrecht abgeleitet. Weiterhin sagt die Entscheidung auf S. 236, auf § 906 BGB, der eine Entschädigungspflicht bei zu duldenden Einwirkungen enthalte, könne nur mit Bedacht hingewiesen werden. Zu diesem Ergebnis kommt das Bundesgericht jedoch nicht deswegen, weil es sich dabei um deutsches Recht handelt, das in der Schweiz nicht gilt, sondern weil § 906 BGB nur eingeschränkt für negative Immissionen gelte, die in dem vorliegenden Fall in Frage stünden. Negative Immissionen liegen vor, wenn dem Nachbargrundstück die Zuführung von Stoffen, Personen – z. B. Passanten vor einem Ladengeschäft – und von Energien (Licht, Wind) ferngehalten wird.144 Hier wäre es wünschenswert gewesen, dass die Entscheidung auf die fehlende Geltung der deutschen Regelung in der Schweiz hinweist. Auf S. 237 versucht die Entscheidung weiterhin, die Lücke mit Hilfe eines gerechten und vernünftigen Ausgleichs zwischen den widerstreitenden Interessen eines Grundeigentümers und dessen Nachbarn zu füllen. „Gerecht und vernünftig“ ist jedoch keine juristische Argumentation, sondern enthält eigene Wertungen des Richters. Die Entscheidung greift also ergänzend auf eine nicht dem Legitimitätsprinzip entsprechende Begründung zurück, obwohl mit den Rückgriff auf die „privatrechtliche Enteignung“ schon überzeugend begründet wurde. Der Schadenersatzanspruch sei dann durch eine Abwägung der widerstreitenden Interessen der Beteiligten nach einem weiten Ermessen des Richters festzulegen. Hinsichtlich der Begründung des Ermessens des Richters wird auf die Ausführungen zu BGE 91 II 100 verwiesen.145 dd) Ergebnis Bei der Einschränkung des Art. 684 ZGB geht die Entscheidung nicht über eine teleologische Reduktion vor und erweckt so den Eindruck, die Grenzen der Auslegung zu überdehnen. Dies wird auch nicht dadurch korrigiert, dass sie später noch einmal die Frage aufwirft, ob eine echte oder eine unechte Lücke vorliegt. Die Lücke wird damit jedoch festgestellt. Dies aber erst, nachdem schon lückenfüllende Erwägungen angestellt worden sind. Auch auf Art. 1 ZGB geht die Entscheidung nicht ein. Hinsichtlich der Lückenfüllung gibt es zwei Ansätze einer nicht dem Legitimitätsprinzip entsprechenden Begründung, und zwar den vorsichtigen Rückgriff auf 144 145
BSK ZGB II-Rey/Strebel Art. 684 Rn. 31. Vgl. die Analyse [D. I. 6. b)] unter cc).
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§ 906 BGB und die Bezugnahme auf einen „gerechten und vernünftigen“ Interessenausgleich. Die Entscheidung enthält jedoch das wesentliche Argument einer Rechtsanalogie zu den Vorschriften im ZGB, die eine sogenannte „privatrechtliche Enteignung“ regeln, auch wenn das Bundesgericht nicht ausdrücklich von einer Rechtsanalogie spricht. Damit zeigt sich ein Begründungsfortschritt im Vergleich zu BGE 91 II 100, wo die Lösung noch selbst entwickelt wurde und lediglich im Einklang mit den vorhandenen Regeln stehen sollte. Insgesamt entwickelt sich somit die Begründung im Sinne einer am Legitimitätsgedanken orientierten Lückenfüllung positiv von BGE 83 II 375 über BGE 91 II 100 bis zu BGE 114 II 230. Dies ist ein Argument dafür, in eine Lückenfüllungsnorm den Passus aufzunehmen, dass sich die Richter mit den Begründungen der Vorentscheidungen auseinandersetzen müssen, da so die Chance besteht, Begründungen aufeinander aufzubauend zu verbessern.
7. Kündigung von Dauerschuldverhältnissen ohne zeitliche Begrenzung („ewige Verträge“) Die Entscheidung BGE 97 II 390 vom 7. Dezember 1971 begründet die Kündbarkeit eines „ewigen Vertrages“ mit Hilfe von Vertragsauslegung. a) BGE 97 II 390 – Begründung der Kündbarkeit eines „ewigen Vertrages“ mit Hilfe von Vertragsauslegung (Urteil vom 7. Dezember 1971) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, ob ein Vertrag beendet werden kann, der auf unbestimmte Zeit abgeschlossen war („ewiger Vertrag“). Im konkreten Fall ging es um eine Gemeinde, die sich im Jahr 1891 auf unbestimmte Zeit zu einer Stromlieferung an eine Aktiengesellschaft verpflichtet hatte, und zwar als Gegenleistung für den Erwerb eines Grundstücks und einer dazugehörigen Wasserrechtskonzession von der Aktiengesellschaft. Die Gemeinde möchte nun den Stromlieferungsvertrag zum 31. Dezember 1966 kündigen. bb) Grenzen der Auslegung Den Grundsatz, dass es für sogenannte „ewige Verträge“ eine Kündigungsmöglichkeit geben muss, könnte man zunächst aus Art. 27 Abs. 2 ZGB herleiten. Diese Vorschrift schützt vor rechtsgeschäftlichen Bindungen, die die Freiheit einer Person in sittenwidriger Weise beschränken und so gegen das Recht der Persönlichkeit
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verstoßen.146 Da es im vorliegenden Fall um eine Gemeinde, also um eine juristische Person, geht, stellt sich die Frage, wann man eine solche Freiheitsbeschränkung bei einer juristischen Person annehmen kann. Die Entscheidung sagt dazu auf S. 399, eine mit Art. 27 ZGB unvereinbare Beschränkung der persönlichen Freiheit sei im vorliegenden Fall nicht gegeben, weil die Klägerin eine Gemeinde sei, die durch die Energielieferungspflicht in ihren finanziellen Interessen nicht ernstlich beeinträchtigt werde. Die Leistungen der Klägerin bildeten in ihren Betriebsrechnungen einen untergeordneten Posten und verhinderten nicht, dass ihr Elektrizitätswerk Jahr für Jahr ganz erhebliche Überschüsse erziele (S. 400). Bei einem sittenwidrigen Übermaß der Bindung nach Art. 27 Abs. 2 ZGB ist grundsätzlich auf die Intensität und die Dauer der Bindung abzustellen.147 Die Intensität der Bindung ist im vorliegenden Fall wegen der im Verhältnis geringen finanziellen Belastung nicht besonders hoch. Es gibt jedoch eine Fallgruppe, bei der die Intensität der Bindung keine Rolle mehr spielt und die ganz auf den Zeitfaktor ausgerichtet ist: die „ewigen Verträge“.148 Nach herrschender Auffassung ist die Möglichkeit solcher ewiger Verträge abzulehnen.149 Grund dafür ist angesichts der Begrenztheit menschlicher Einsicht die fehlende Kontrolle und fehlende Erkenntnis der Konsequenzen einer solchen Vereinbarung in ferner Zukunft.150 Aus diesem Grund stellt es eine ganz wesentliche Einschränkung der persönlichen Freiheit dar, sich nicht mehr von einer obligatorischen Verpflichtung lösen zu können. Fraglich ist, ob diese Argumentation nur für natürliche Personen gilt oder auch für juristische Personen. Nach Liver, auf den sich auch das vorliegende Urteil auf S. 400 beruft, komme Art. 27 ZGB dann nicht zur Anwendung, wenn der Schuldner eine juristische Person sei, etwa eine Gemeinde, in deren Betriebsrechnungen die Leistungen ganz untergeordnete Posten bildeten.151 Das bedeutet, dass bei einer juristischen Person die zeitliche Unbeschränktheit der Verpflichtung nicht ausreicht, sondern dass eine solche in ihrer wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit eingeschränkt sein muss.152 Gegen diese Sonderbehandlung juristischer Personen spricht, dass diese den natürlichen Personen im schweizerischen Recht in privatrechtlicher Hinsicht so weit
146
BSK ZGB I-Huguenin/Reitze Art. 27 Rn. 8. BSK ZGB I-Huguenin/Reitze Art. 27 Rn. 10. 148 BK-Bucher Art. 27 ZGB Rn. 275 mit Verweis auf Rn. 334 ff. 149 BK-Bucher Art. 27 ZGB Rn. 348, und Thévenaz, La protection, § 39 II. 2. A. (Rn. 321 Fn. 205) jeweils mit zahlreichen Nachweisen; Schwenzer, OR AT, § 32 III. 2. b) (Rn. 32.24); Guhl, OR (9. Aufl. 2000), § 38 IV. 3. (Rn. 24). 150 BK-Bucher Art. 27 ZGB Rn. 357. 151 Liver ZBJV 105 (1969), S. 9 ff. (S. 11); a.A. BK-Bucher Art. 27 ZGB Rn. 360. 152 M.w.N. zur Rechtsprechung in diese Richtung BSK ZGB I-Huguenin/Reitze Art. 27 Rn. 3. 147
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wie möglich gleichgestellt sind.153 Dieser Grundsatz ist in Art. 53 ZGB normiert, der das maßgebliche Abgrenzungskriterium enthält und an dem man sich bei der Frage der Anwendbarkeit von Art. 27 Abs. 2 ZGB auf juristische Personen zu orientieren hat.154 Nach Art. 53 ZGB sind juristische Personen aller Rechte und Pflichten fähig, die nicht die natürlichen Eigenschaften des Menschen zur notwendigen Voraussetzung haben. Juristischen Personen geht zwar subjektives Empfinden und ein Bedürfnis nach freier Selbstbestimmung ab, so dass die primären Anliegen des Persönlichkeitsschutzes hier nicht gegeben sind.155 Durch Art. 27 Abs. 2 ZGB werden jedoch auch allgemeine vertragsrechtliche Grundsätze verfolgt, die keinen direkten Bezug zum individuellen Freiheitsschutz haben.156 Zudem könnte man auch die oben beschriebene Anwendung von Art. 27 Abs. 2 ZGB auf juristische Personen im Falle der Einschränkung der wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit nicht durchführen, wenn man juristische Personen generell aus dessen Anwendungsbereich ausnähme. Spricht man sich aber grundsätzlich für eine Anwendbarkeit von Art. 27 Abs. 2 ZGB auf juristische Personen aus, besteht kein Grund, das Kriterium der Dauer der Verpflichtung nicht genauso wichtig zu nehmen wie die Intensität der Verpflichtung. Dazu kommt, dass das Problem „ewiger Verträge“ gerade bei juristischen Personen relevant wird, während es sich bei natürlichen Personen in der Regel mit deren Tod erledigt und eine zeitliche Limitierung über Ausschluss bzw. Begrenzung der Vererblichkeit der Vertragsbindung erreicht wird.157 Daraus ergibt sich, dass man entgegen der Ansicht der Entscheidung eine Unzulässigkeit „ewiger Verträge“ für juristische Personen aus Art. 27 Abs. 2 ZGB herleiten kann, auch wenn nicht die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit tangiert ist.158 Weiterhin stellt sich die Frage, ob sich eine Unzulässigkeit ewiger Verträge aus Art. 2 Abs. 1 ZGB, dem Grundsatz von Treu und Glauben in Vertragsbeziehungen, herleiten lässt. Hier wird ein am Wortlaut orientiertes Verständnis von Art. 2 Abs. 1 ZGB vertreten.159 Die Vorschrift besagt, dass jedermann in Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln habe. Das bedeutet, dass für die Anwendbarkeit von Art. 2 Abs. 1 ZGB ein wie auch immer geartetes Rechtsverhältnis vorliegen muss.160 Denn nur aus einem Rechtsverhältnis können Rechte und Pflichten entstehen. Da man sich bei einem ewigen Vertrag innerhalb eines Vertragsverhältnisses befindet, kommt Art. 2 Abs. 1 ZGB also in 153
BK-Bucher Art. 27 ZGB Rn. 505. BSK ZGB I-Huguenin/Reitze Art. 27 Rn. 3. 155 BK-Bucher Art. 27 ZGB Rn. 510. 156 s. o. 157 BK-Bucher Art. 27 ZGB Rn. 518. 158 So auch BSK ZGB I-Huguenin/Reitze Art. 27 Rn. 3, und Gauch/Schluep/Schmid/Emmenegger, OR AT I, § 6 III. 3. a) 2. (Rn. 664). 159 Für dieselbe Herangehensweise zu § 242 BGB s. o. B. V. 1. c) aa). 160 Zu einer weiteren Interpretation von Art. 2 ZGB in der schweizerischen Literatur und Rechtsprechung s. BK-Hausheer/Aebi-Müller Art. 2 ZGB Rn. 4 ff. 154
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Betracht.161 Das Kündigungsrecht eines „ewigen Vertrages“ könnte man daraus herleiten, dass der Gläubiger in der Ausübung seines Rechtes, die Leistung zu fordern, nach Treu und Glauben zu handeln hat, also die Leistung nicht ewig fordern kann. Bucher wendet gegen Art. 2 ZGB in diesem Zusammenhang ein, dass dieser immer nur einzelfallbezogen wirke und dass man daher aus dieser Vorschrift die grundsätzliche Unzulässigkeit „ewiger“ Bindungen nicht begründen könne.162 Es stimmt zwar, dass man im Rahmen von Art. 2 Abs. 1 ZGB eine Einzelfallentscheidung dahingehend treffen muss, ab welchem Zeitpunkt bei einem zeitlich unbeschränkten Vertrag eine Kündigung zulässig sein soll. In jedem dieser Einzelfälle stellt sich jedoch die Vorfrage, ob bei einem solchen Vertrag grundsätzlich eine Kündigung zulässig ist. Da sich diese Frage bei „ewigen Verträgen“ generell stellt, kann man auch aus Art. 2 Abs. 1 ZGB eine generelle Lösung dazu ableiten. Diese beruht dann auf einer eigenen Wertung des Richters. Da sich Art. 2 Abs. 1 ZGB seinem Wortlaut nach jedoch auf die Beurteilung bestehender Rechtsverhältnisse beschränkt, ist diese Wertungsmöglichkeit vertretbar.163 Die Anwendbarkeit von Art. 2 Abs. 1 ZGB erübrigt sich jedoch im vorliegenden Fall, da es mit Art. 27 Abs. 2 ZGB eine speziellere Norm gibt, die einschlägig ist. Im Falle von Überschneidungen hat Art. 2 ZGB als generellste aller Generalklauseln vor spezielleren Regeln zurückzutreten, auch wenn diese selber immer noch allgemeine Grundsätze darstellen.164 Die Vorschrift des Art. 27 Abs. 2 ZGB enthält das Kriterium der Einschränkung der persönlichen Freiheit und ist so konkreter als der allgemeine Grundsatz von Treu und Glauben. Mit der Anwendbarkeit von Art. 27 Abs. 2 ZGB besteht im vorliegenden Fall keine Regelungslücke. Da die Entscheidung aber dieser Ansicht nicht folgt, müsste sie von einer Regelungslücke ausgehen und diese entsprechend füllen. So lässt sich auch an dieser Entscheidung das Vorgehen des Bundesgerichts im Lückenbereich analysieren, auch wenn nach hier vertretener Ansicht keine Regelungslücke besteht. Anstatt Lückenfüllung zu betreiben, versucht die Entscheidung jedoch, über die Vertragsauslegung zu einer Lösung zu kommen. Sie erwähnt auf S. 400 zunächst den Grundsatz von Treu und Glauben des Art. 2 ZGB. Das Bundesgericht leitet die Kündigungsmöglichkeit des Stromlieferungsvertrages jedoch nicht – wie oben angedacht – über diese Vorschrift her, sondern stellt auf den Zweck der vertraglichen Vereinbarung ab. Aus dem Grundsatz von Treu und Glauben und dem Vertragszweck wird dann auf den Willen der Parteien geschlossen. Der Vertragszweck bestände darin, dass die Stromlieferungspflicht als Gegenleistung für die abgetretene Was161
So auch BGE 113 II 209 (211), und Liver ZBJV 105 (1969), S. 9 ff. (S. 11), aber ohne Begründung. Zu den zwischen Art. 27 und Art. 2 ZGB changierenden Begründungen der Rechtsprechung s. BK-Bucher Art. 27 ZGB Rn. 349 m.N. 162 BK-Bucher Art. 27 ZGB Rn. 360. 163 Für dieselbe Argumentation zu § 242 BGB s. o. B. V. 1. c) aa) a.E. 164 BK-Bucher Art. 27 ZGB Rn. 217.
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serrechtskonzession verstanden wurde. Der sich daraus nach Treu und Glauben ergebende Parteiwille sei, dass die Stromlieferungen für die Dauer der Konzession vereinbart seien. Da der Vertrag keine Regelung über seine Dauer enthält, geht es im vorliegenden Fall genau gesagt nicht um Vertragsauslegung, sondern um vertragliche Lückenfüllung165. In beiden Fällen lässt sich aber ein Ergebnis aus dem Vertrag ableiten. Die vertragliche Lückenfüllung ist anhand des hypothetischen Parteiwillens vorzunehmen.166 Im vorliegenden Fall werden dort jedoch objektive Elemente hineingebracht. Der Grundsatz von Treu und Glauben, auch wenn er unkonkret ist, ist ein objektiver Maßstab, der von außen an das Verhalten der Vertragspartner angelegt wird. Er sagt, wie sie sich redlicherweise verhalten haben sollten. Bei der vertraglichen Lückenfüllung ist Anknüpfungspunkt jedoch der hypothetische Parteiwille, auch wenn dieser unter Umständen nicht redlichem Verhalten entspricht.167 Ist Letzteres der Fall, kann man den Vertrag aus objektiven Gründen für ungültig oder kündbar erklären, nicht jedoch weil die Parteien das so gewollt hätten. Im vorliegenden Fall waren sich die Parteien darüber im Klaren, dass die Stromlieferungspflicht eine Gegenleistung für die überlassene Wasserrechtskonzession darstellen sollte. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie den Vertrag auch auf die Dauer der Wasserrechtskonzession zeitlich begrenzen wollten. Zumindest die Partei, die von der dauerhaften Stromlieferung profitierte, wollte das sicherlich nicht. Das zeigt auch der vorliegende Rechtsstreit. Aus dem Vertrag lässt sich damit ein Kündigungsrecht der Gemeinde nicht ableiten. Auf S. 400 sagt die Entscheidung weiterhin, die Annahme des vorgenannten Parteiwillens rechtfertige sich auch dadurch, dass selbst dingliche Nutzungsrechte zeitlich begrenzt seien, obwohl sonst dingliche Beschränkungen des Eigentums auf unbegrenzte Zeit bestehen könnten. Daraus kann man eine objektive Regel ableiten, dass dann erst recht obligatorische Verpflichtungen zeitlich begrenzt sein sollen, man kann daraus aber nicht auf den Willen der Vertragsparteien schließen. Das Bundesgericht versucht also, die Argumente zur Kündbarkeit von ewigen Verträgen unter die Vertragsauslegung zu fassen, obwohl es sich um objektive Überlegungen handelt. Die Grenzen der Auslegung werden damit überdehnt. Die Regelung des Art. 1 ZGB oder eine Lückenproblematik werden nicht erwähnt. cc) Lückenfüllung Auch wenn nach hier vertretener Ansicht keine Lücke besteht, soll eine Lösung vorgeschlagen werden, für den Fall, dass man die Anwendbarkeit von Art. 27 Abs. 2
165 166 167
Zur Unterscheidung s. o. B. II. 2. a) u. b). s. o. B. II. 2. b). s. o.
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ZGB ablehnt. Dies auch vor allem deswegen, weil die Entscheidung diese Lösung schon andenkt. Wendet man – wie die Entscheidung – Art. 27 Abs. 2 ZGB nicht an, muss man eine Gesetzeslücke annehmen. Diese kann man mit einem argumentum a maiore ad minus füllen. Das argumentum a maiore ad minus ist ein qualifizierter Fall der Analogie168 bzw. es beruht auf den gleichen Grundsätzen wie der Analogieschluss169. Hier greift das Argument, das das Bundesgericht auf S. 400 im Zusammenhang mit der Vertragsauslegung anführt, nämlich dass selbst dingliche Nutzungsrechte zeitlich begrenzt sind, obwohl sonst dingliche Beschränkungen des Eigentums auf unbestimmte Zeit bestehen können. Als Beispiele nennt die Entscheidung auf S. 400 die Nutzniessung, die nach Art. 749 Abs. 2 ZGB nach spätestens 100 Jahren endet und als weitere Dienstbarkeiten das Baurecht, dass nach Art. 779 l ZGB höchstens auf 100 Jahre begründet werden kann, sowie das Wohnrecht, das gem. Art. 776 Abs. 2 ZGB nur auf Lebenszeit des Berechtigten begründet werden kann. Dass dingliche Nutzungsrechte zeitlich unbegrenzt sein können, kann man damit begründen, dass es sich nur um eine Einschränkung des Eigentums handelt und nicht um eine persönliche Verpflichtung. Das Eigentum kann man ja auch gänzlich aufgeben, indem man es an jemand anderen überträgt. Also kann man es auch dauerhaft einschränken. Durch sachenrechtliche Verhältnisse können somit Dauerzustände hergestellt werden.170 Wenn aber bereits die oben erwähnten beschränkten dinglichen Rechte einer zeitlichen Begrenzung unterliegen, muss erst recht für obligatorische Verpflichtungen gelten, dass diese zeitlich nicht unbeschränkt sein dürfen. In diesem Zusammenhang könnte man noch das systematische Argument anführen, dass bei „ewigen Verträgen“ die Grenze zwischen obligatorischer und dinglicher Rechtsstellung nicht mehr gewahrt wäre171. Die Entscheidung stellt auf S. 400 außerdem auf die Grundlasten ab, die gem. Art. 788 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB nach 30 Jahren abgelöst werden können. Bei der Grundlast wird der Eigentümer eines Grundstücks gem. Art. 782 ZGB zu einer Leistung an einen Berechtigten verpflichtet, die sich aus der wirtschaftlichen Natur des belasteten Grundstücks ergibt und für die er ausschließlich mit dem Grundstück haftet. Die Aktiengesellschaft hat zwar keine dinglichen Rechte an dem Grundstück und die Gemeinde haftet nicht mit dem Grundstück, wenn sie ihrer Stromlieferungspflicht nicht nachkommt. Der Strom wird jedoch durch Wasserkraft auf dem Grundstück erzeugt und an die berechtigte Aktiengesellschaft geliefert. Damit ist der vorliegende Fall demjenigen einer Grundlast ähnlich, so dass man eine analoge Anwendung von Art. 788 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB hinsichtlich der konkreten 168 169 170 171
Kramer, Methodenlehre, III. 5. a) hh) (S. 211 f.) Larenz/Canaris, Methodenlehre, Kapitel 5 2. b) (S. 209). BK-Bucher Art. 27 ZGB Rn. 350. BK-Bucher Art. 27 ZGB Rn. 366.
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Rechtsfolge der Ablösbarkeit nach 30 Jahren überlegen könnte. Dies denkt auch die Entscheidung auf S. 401 an. Jedenfalls aber lässt sich die Regelung des Art. 788 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB als weiteres Argument hinsichtlich der grundsätzlichen Kündbarkeit „ewiger Verträge“ im Rahmen des oben beschriebenen argumentum a maiore ad minus verwenden. Wenn schon die Grundlast zeitlich beschränkt ist, so muss es ebenso die obligatorische Verpflichtung sein, die einen der Grundlast ähnlichen Inhalt hat.172 Kommt man nicht zu dem Ergebnis, dass wegen der analogen Anwendung von Art. 788 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB die Kündigung des vorliegenden Vertrages nach 30 Jahren möglich ist, kann man die zulässige Dauer mit Hilfe von Vertragsauslegung ermitteln. Hier kommt die Überlegung zur Anwendung, dass die Stromlieferungspflicht auf die Dauer der Wasserrechtskonzession beschränkt werden sollte, da Erstere eine Gegenleistung für die Übertragung der Letzteren darstellte. Denn im Gegensatz zur Frage der grundsätzlichen Kündbarkeit des Vertrages waren sich die Parteien über Leistung und Gegenleistung einig. dd) Ergebnis Die Entscheidung lehnt die Anwendbarkeit von Art. 27 Abs. 2 ZGB ab, obwohl dieser nach hier vertretener Ansicht Anwendung finden würde. Die Vorschrift des Art. 2 Abs. 1 ZGB wäre auch einschlägig, tritt aber hinter Art. 27 Abs. 2 ZGB zurück. Da die Entscheidung so aber nicht argumentiert, müsste sie eine Regelungslücke annehmen und entsprechend lückenfüllend vorgehen. Dies findet jedoch deswegen nicht statt, weil sie versucht, das Ergebnis aus Vertragsauslegung abzuleiten, obwohl es damit nicht mehr zu begründen ist. Objektive Argumente wie der Grundsatz von Treu und Glauben des Art. 2 ZGB und das argumentum a maiore ad minus werden in die Vertragsauslegung eingebunden. Damit werden die Grenzen der Auslegung überdehnt. Die Regelung des Art. 1 ZGB oder eine Lücke werden nicht erwähnt. Die Lücke kann man über das erwähnte argumentum a maiore ad minus füllen. Dadurch dass sich die Entscheidung auf die Vertragsauslegung konzentriert, deutet sie jedoch diese Möglichkeit nur an. Die Überdehnung von Vertragsrecht ähnelt der Vorgehensweise des BGH beim Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter.173 Positiv an der Entscheidung ist jedoch, dass sie die im Rahmen des argumentum a maiore ad minus heranzuziehenden Regelungen enthält.
172 173
BGE 93 II 290 (301). Vgl. die Analysen von RGZ 127, 218 [C. I. 5. a)] und BGHZ 56, 269 [C. I. 5. b)].
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8. Legalzession der Gewährleistungsansprüche der einzelnen Stockwerkeigentümer an die Stockwerkeigentümergemeinschaft Die Entscheidung BGE 114 II 239 vom 11. Oktober 1988 lehnt die Legalzession der Gewährleitungsansprüche der einzelnen Stockwerkeigentümer an die Stockwerkeigentümergemeinschaft mit Hilfe einer Kombinationsbegründung ab. Die Lücke wird im vorliegenden Fall nicht gefüllt, da ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzes vorliegt. a) BGE 114 II 239 – Ablehnung der Legalzession mit Hilfe einer Kombinationsbegründung wegen eines qualifizierten Schweigens (Urteil vom 11. Oktober 1988) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, ob Gewährleistungsansprüche einzelner Stockwerkeigentümer174 gegen den Verkäufer der Wohnungen wegen Mängeln an gemeinschaftlichen Bauteilen von Gesetzes wegen auf die Stockwerkeigentümergemeinschaft übergehen und diese so in einem Prozess, in dem diese Ansprüche geltend gemacht werden, aktiv legitimiert ist. bb) Grenzen der Auslegung Die Entscheidung prüft zunächst, ob die Gewährleistungsansprüche der Stockwerkeigentümergemeinschaft von Gesetzes wegen zustehen. Dazu führt sie auf S. 241 f. aus, dass die Gemeinschaft nach Art. 712l ZGB vermögensfähig und im Rahmen ihrer vermögensrechtlichen Zuständigkeit partei- und prozessfähig ist. Diese Selbständigkeit komme ihr indessen nur als Verwaltungsgemeinschaft, nicht auch als Eigentumsgemeinschaft zu. Zu den Verwaltungsaufgaben zählten unter anderem Unterhalt, Reparatur und Erneuerung der gemeinschaftlichen Bauteile (Art. 712h Abs. 2 Ziff. 1 sowie Art. 712g Abs. 1 i.V.m. Art. 647 ff. ZGB). Dies schließe die Befugnis mit ein, Mängel an diesen Bauteilen beheben zu lassen. Die Gemeinschaft könne so insbesondere auch befugt sein, kauf- oder werkvertragliche Gewährleistungsansprüche gegen Verkäufer und Unternehmer durchzusetzen. Es besteht also grundsätzlich die Möglichkeit, dass die Gemeinschaft Gewährleistungsansprüche durchsetzt. Auf S. 242 stellt die Entscheidung dann die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Gemeinschaft Trägerin dieser Rechte ist. Das sei unproblematisch, wenn es sich um Ansprüche handele, die ihr aufgrund eigener im Rahmen ihrer Verwal174
Dt. Recht: Wohnungseigentum.
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tungstätigkeit abgeschlossener Werk- oder Kaufverträge zustünden oder wenn sich ein an sich dem einzelnen Eigentümer verantwortlicher Unternehmer ihr gegenüber direkt verpflichte. Weiterhin gebe es die Möglichkeit, dass die Gemeinschaft die Ansprüche der einzelnen Stockwerkeigentümer durch Zession erwerbe, soweit diese abtretbar seien. Ein solcher Rechtserwerb setze jedoch nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts voraus, dass die Abtretung durch privatautonomes Verfügungsgeschäft erfolge; eine Legalzession werde nach geltendem Recht abgelehnt. Dazu wird die Vorentscheidung BGE 111 II 458 zitiert. Damit gibt die Entscheidung den Standpunkt der bisherigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung wieder und äußert sich so dazu, wie das Problem letzten Endes zu lösen ist. Die Lösung ist folgende: Eine Lückenfüllung im Sinne einer Legalzession ist abzulehnen, da ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzes und damit keine planwidrige Regelungslücke vorliegt [dazu ausführlich unten cc)]. Methodisch genauer wäre es hier gewesen, wenn die Entscheidung im Rahmen der Bestimmung der Grenzen der Auslegung ausdrücklich festgestellt hätte, dass eine Legalzession der Gewährleistungsansprüche der einzelnen Stockwerkeigentümer an die Stockwerkeigentümergemeinschaft gesetzlich nicht geregelt ist, um dann die Frage zu stellen, ob eine Regelungslücke besteht. Erst danach kann man sich die Frage stellen, ob eine Lückenfüllung eventuell wegen des Vorliegens eines qualifizierten Schweigens abzulehnen ist. cc) Lückenfüllung Die Entscheidung lehnt im Ergebnis eine Legalzession der Gewährleistungsansprüche an die Stockwerkeigentümergemeinschaft ab, so dass keine Lückenfüllung stattfindet. Begründung dafür ist nach hier vertretener Ansicht, dass es an der Planwidrigkeit der Regelungslücke fehlt, d. h. es liegt ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzes vor. Die Frage nach dem qualifizierten Schweigen ist eine Vorfrage der Lückenfüllung, die man mit Mitteln der Auslegung oder der Lückenfüllung beantworten kann.175 Im vorliegenden Fall ergibt sich eine Lösung aus der Tatsache, dass das schweizerische Recht keinerlei Vorschriften enthält, aus denen man eine solche Legalzession ableiten könnte. Man kann ihm also die Wertung, dass eine Legalzession möglich sein soll, nicht entnehmen. Die Beantwortung der Frage nach dem qualifizierten Schweigen erfolgt also in einer Art negativer Lückenfüllung, indem eine Analogie zu vorhandenen Vorschriften nicht möglich ist. Aus diesem Grund soll die Frage nach der Planwidrigkeit der Regelungslücke unter dem Punkt „Lückenfüllung“ abgehandelt werden. Die Entscheidung zitiert zur Ablehnung der Legalzession auf S. 242 die Vorentscheidung BGE 111 II 458, wie bereits oben unter bb) erwähnt. Des Weiteren 175
Dazu oben B. III. 1. b) aa).
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werden auf S. 242 f. kantonale Entscheidungen herangezogen, die sich teils für und teils gegen eine Legalzession aussprechen. Auf S. 243 f. geht die Entscheidung schließlich auf Literaturmeinungen ein, die ebenfalls die Frage der Legalzession unterschiedlich bewerten. Dabei handelt es sich zum überwiegenden Teil nicht um Pauschalverweise. Die Entscheidung stellt vielmehr verschiedene Meinungen mit ihren jeweiligen Begründungen vor. Rechtsprechung und Literatur werden also ihrer Funktion entsprechend als Hilfsmittel176 behandelt und nicht als Rechtsquellen, die eine Entscheidung scheinbar legitimieren. Auf S. 243 f. stellt die Entscheidung die Möglichkeit einer Lückenfüllung über eine sachenrechtliche Argumentation dar, die von einigen Autoren vertreten wird.177 Dabei geht es um eine Verknüpfung von Gewährleistungsrechten und Eigentum, die zu einer Aktivlegitimation der Eigentümergemeinschaft führen soll. Dies ist jedoch schon deshalb fraglich, wie das Urteil auch auf S. 245 betont, weil die Stockwerkeigentümergemeinschaft eine reine Verwaltungsgemeinschaft ist und die eigentumsrechtliche Stellung des einzelnen Stockwerkeigentümers nicht antastet. Wenn die Eigentümergemeinschaft jedoch keine eigene Eigentümerstellung innehat, kann sie auch mit dem Eigentum verknüpfte Gewährleistungsrechte nicht erhalten. Insbesonere Weber178 nimmt „unter Betonung der dinglichen Komponente“ eine Legalzession der Gewährleistungsansprüche an die Stockwerkeigentümergemeinschaft an. Dies soll analog der Beitragsforderungen geschehen, die ex lege entstehen179. Bei den Beitragsforderungen handelt es sich aber um Forderungen der Gemeinschaft gegen die Eigentümer, die aus der Verwaltungstätigkeit der Gemeinschaft herrühren und so auch nur bei ihr entstehen können. Eine Legalzession ist dort gar nicht nötig. Bei den Gewährleistungsansprüchen hingegen geht es um Ansprüche der Eigentümer gegen Dritte, die nur per rechtgeschäftlicher Abtretung oder per Legalzession auf die Gemeinschaft übergehen können. Eine Analogie scheint daher nicht in Frage zu kommen. Zudem wird nicht klar, wie die „dingliche Komponente“ zu der Legalzession beitragen soll. Wie oben erwähnt, hat die Eigentümergemeinschaft keine eigene Eigentümerstellung. Zu Beginn ihrer eigenen Argumentation auf S. 244, die schließlich zu einer Verneinung der Lückenfüllung führt, stellt die Entscheidung klar, dass sie an der Rechtsprechung der Vorentscheidung BGE 111 II 458 festhalten möchte. Im Folgenden begründet sie jedoch noch einmal ausführlich selbst. Auf S. 244 ff. setzt sie sich zunächst mit der oben erwähnten sachenrechtlichen Argumentation auseinander und lehnt diese ab. Auf S. 245 führt sie insbesondere aus, dass der Gewährleistungsanspruch wie jede Forderung aus einem vertraglichen 176
Dazu oben B. II. 4. c) u. 5. Die Nachweise im Urteil auf S. 243 und davon zur Lückenfüllung insbesondere Weber SJZ 75 (1979), S. 117 ff. (S. 125); mehrere Nachweise zur schuldrechtlichen Auffassung, die eine Legalzession ablehnt, ebenfalls dort. 178 Weber SJZ 75 (1979), S. 117 ff. (S. 125). 179 Zu den Beitragsforderungen BSK ZGB II-Bösch Art. 712h Rn. 5. 177
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Schuldverhältnis auf einer Sonderbeziehung zwischen bestimmten Personen beruhe. An dieser Relativität ändere auch die Sachbezogenheit des Anspruchs nichts. Die das dingliche Recht charakterisierende unmittelbare und absolut wirkende Sachherrschaft lasse die vertragliche Natur der auf dem Erwerbsgeschäft gründenden Ansprüche aus Sachgewährleistung unberührt. Damit stellt die Entscheidung klar, dass sich mit sachenrechtlichen Erwägungen keine Legalzession der Gewährleistungsansprüche an die Stockwerkeigentümergemeinschaft konstruieren lässt. Die eigentliche Argumentation zur Verneinung einer planwidrigen Regelungslücke erfolgt dann auf S. 246. Nachdem die Entscheidung hier noch einmal die Vorentscheidung BGE 111 II 458 erwähnt, begründet sie auch hier wieder selbst. Allein die Tatsache, dass eine Geltendmachung der Ansprüche durch die Gemeinschaft praktischer wäre, könne es nicht rechtfertigen, im Wege der Rechtsprechung eine im Gesetz nicht enthaltene Subrogationsordnung zu schaffen. Mit dieser Argumentation denkt die Entscheidung die Lösung des Problems an. Das Gesetz enthält im Rahmen der Art. 712a ff. ZGB, die das Stockwerkeigentum regeln, keine solche Legalzession. Auch auf die Vorschriften zum Miteigentum kann man nicht zurückgreifen, da es dort keine Miteigentümergemeinschaft gibt, die Ansprüche per Legalzession erwerben könnte. Damit handelt es sich bei einer solchen Legalzession um ein Rechtsinstitut, das das Gesetz nicht kennt. Es gibt also keine Möglichkeit, die Legalzession aus dem schweizerischen Recht abzuleiten. Damit muss man von einem qualifizierten Schweigen des Gesetzes ausgehen. Eine planwidrige Regelungslücke liegt somit nicht vor. Eine dennoch vorgenommene Lückenfüllung würde also eine Entscheidung contra legem bedeuten. Dies wird von der Entscheidung zwar nicht so ausführlich erklärt, aber auch sie wendet sich auf S. 246 dagegen, contra legem zu entscheiden. Eine Rechtsprechung contra legem sei nach Art. 1 ZGB von der richterlichen Lückenfüllung grundsätzlich ausgenommen und komme einzig über Art. 2 Abs. 2 ZGB in Frage. Darüber hinaus gebe es keine Möglichkeit der Berichtigung unbefriedigender Gebotsinhalte. Insgesamt argumentiert die Entscheidung damit überzeugend. Methodisch genauer wäre es gewesen, wenn sie deutlich gemacht hätte, dass es um die Verneinung einer planwidrigen Regelungslücke geht. Interessant ist zudem, dass die Entscheidung auf S. 246 zur Unterstützung ihrer Argumentation eine Aussage von Larenz zur Rechtsfortbildung heranzieht. Die gesetzesübersteigende richterliche Rechtsfortbildung habe von vornherein ihre Grenzen dort, wo eine Antwort im Rahmen der geltenden Rechtsordnung mit spezifisch rechtlichen Erwägungen allein nicht gefunden werden könne, insbesondere daher dort, wo es vorwiegend um Fragen der Zweckmäßigkeit gehe. Die Entscheidung zieht diese Aussage heran, um die Argumentation zu stützen, dass Zweckmäßigkeitserwägungen es nicht rechtfertigen, contra legem zu entscheiden. Larenz zählt zum gesetzesübersteigenden Richterrecht auch eine Rechtsfortbildung, die ohne das Vorliegen einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes
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durchgeführt wird.180 Nach hier vertretener Ansicht handelt es sich dabei um eine Rechtsfortbildung contra legem. Für diese Rechtsfortbildung fordert er entsprechend dem von der Entscheidung zitierten Satz eine Begründung mit spezifisch rechtlichen Erwägungen.181 Damit scheint der Satz die Aussage zu stützen, dass man eine Rechtsfortbildung contra legem nicht mit Zweckmäßigkeitserwägungen begründen soll. Eine Rechtsfortbildung contra legem, die man mit rechtlichen Erwägungen begründen will, ist jedoch widersprüchlich, so dass auch Larenz in diesem Zusammenhang auf außerrechtliche Argumente – wie Zweckmäßigkeitserwägungen – zurückgreifen muss.182 Damit lässt er eine Rechtsfortbildung contra legem zu, die mit Zweckmäßigkeitserwägungen begründet wird. Die Ansicht von Larenz eignet sich im Ergebnis also nicht zur Unterstützung der Argumentation der Entscheidung. Außerdem schränkt Larenz in dem von der Entscheidung zitierten Satz die Rechtsfortbildungskompetenz des Richters im Vergleich zur schweizerischen Gesetzgebungslösung des Art. 1 Abs. 2 ZGB ein. Er lässt zwar – wie oben besprochen – außerrechtliche Argumente bei der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung zu. In dem zitierten Satz spricht er sich jedoch gegen Zweckmäßigkeitserwägungen aus. Zweckmäßigkeitserwägungen finden sich aber im Vorgehen des Gesetzgebers und können damit im Rahmen der schweizerischen Gesetzgebungslösung zur Anwendung kommen. Dass Larenz sich gegen ein Gesetzgebervorgehen der Gerichte wendet, wird besonders deutlich, wenn man den von der Entscheidung zitierten Satz bei ihm zu Ende liest. Die gesetzübersteigende Rechtsfortbildung finde ihre Grenzen dort, wo es vorwiegend um Fragen der Zweckmäßigkeit gehe „oder eine detaillierte Regelung erforderlich wäre, die nur der Gesetzgeber treffen könne, da er allein über die dafür notwendigen Informationen und Legitimation verfüge“.183 Dies steht im Gegensatz zur schweizerischen Gesetzgebungslösung, die es dem Richter ermöglicht, im Rahmen der Lückenfüllung eine solche detaillierte Regelung aufzustellen. Deswegen ist es erstaunlich, dass Larenz in einer schweizerischen Entscheidung zitiert wird. Auch die Entscheidung selbst äußert sich auf S. 246 unter Bezugnahme auf Meier-Hayoz in dieser Hinsicht einschränkend zur Gesetzgebungslösung. Die Strategie der Rechtssetzung habe der Richter dem Gesetzgeber zu überlassen. Dieser Satz ist zwar im Kontext der Entscheidung zu interpretieren, in der das Bundesgericht wegen des Fehlens einer planwidrigen Regelungslücke contra legem entscheiden müsste. Meier-Hayoz meint damit jedoch, dass sich der Richter bei der Rechtsfortbildung lediglich um kleinere taktische Probleme kümmern solle, über die in weiten Teilen gesellschaftlicher Konsens herrsche.184 Dem Gesetzgeber hingegen 180
Larenz, Methodenlehre (5. Aufl. 1983), Kapitel 5 4. (S. 397). Larenz, Methodenlehre (5. Aufl. 1983), Kapitel 5 4. (S. 398). 182 Dazu oben in Bezug auf die Methodenlehre von Larenz/Canaris, wo die Ansicht beibehalten wurde, B. III. 2. b) bb). 183 Larenz, Methodenlehre (5. Aufl. 1983), Kapitel 5 4. d) (S. 410). 184 Meier-Hayoz JZ 1981, S. 417 ff. (S. 421 ff.). 181
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seien die strategischen Entscheidungen vorbehalten, die sich durch eine langfristige Planung und umfassende Vorbereitung auszeichneten und die kontroversen Themen der Gesellschaft beträfen.185 Dies ist eine eher restriktive Interpretation der Gesetzgebungslösung des Art. 1 Abs. 2 ZGB, die sich das Urteil zu eigen macht. Die Ablehnung der Legalzession wird auf S. 246 ff. zusätzlich damit untermauert, dass sie auch nicht zu unhaltbaren Ergebnissen führe. Es wird also geprüft, ob die Lösung des Urteils einer Zweckmäßigkeitsprüfung standhält. Da es sich dabei nur um eine ergänzende Argumentation zu dem bereits aus dem Gesetz abgeleiteten Ergebnis handelt, stellt das jedoch die Qualität der Begründung insgesamt nicht in Frage. dd) Ergebnis Die Entscheidung geht bei der Bestimmung der Grenzen der Auslegung und bei der Begründung dafür, dass die Lücke nicht gefüllt wird, insgesamt überzeugend und unter Rückgriff auf die wesentlichen Argumente vor. Die Reihenfolge der Argumente wird eingehalten und eine Lösung des Problems über sachenrechtliche Erwägungen wird abgelehnt. Trotz mehrmaligen Rückgriffs auf eine Vorentscheidung, an deren Rechtsprechung festgehalten wird, begründet die vorliegende Entscheidung in allen Bereichen noch einmal ausführlich selbst. Da so gesetzesnahe und nicht gesetzesnahe Argumente nebeneinander stehen, kann man von einer Kombinationsbegründung sprechen. An dieser Vorgehensweise zeigt sich außerdem, dass es für spätere Entscheidungen zumutbar ist, bei der Rechtsfortbildung noch einmal selbst zu begründen. Bei der Argumentation, die eine Lückenfüllung ablehnt, wäre es methodisch genauer gewesen, wenn die Entscheidung ausdrücklich ausgeführt hätte, dass eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes nicht vorliegt. Im Sinne einer am Legitimitätsgedanken orientierten Lückenfüllung positiv ist jedoch, dass die Entscheidung auf weitere Vorentscheidungen und mehrere Literaturmeinungen Bezug nimmt und sich mit deren Begründungen auseinandersetzt. Rechtsprechung und Literatur werden also ihrer Funktion entsprechend als Hilfsmittel und nicht als Rechtsquellen verstanden. Die Entscheidung zeigt zudem ein gewisses Bewusstsein des Legitimitätsproblems, indem sie es ablehnt, contra legem zu entscheiden und damit den Vorrang des Gesetzesrechts anerkennt. Im Contra-legem-Bereich ist das Legitimitätsproblem aber auch offensichtlicher als in der Lücke, da man sich dort gegen geltendes Gesetzesrecht wendet. Im vorliegenden Fall geht es jedoch nicht um eine positive gesetzliche Aussage, sondern um ein qualifiziertes Schweigen. Da in diesem Bereich eine Contra-legem-Entscheidung schwieriger zu vermeiden ist, ist es besonders hervorzuheben, dass die Entscheidung dies dennoch tut. 185
s. o.
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Interessant ist außerdem, dass das Bundesgericht indirekt eine die schweizerische Gesetzgebungslösung des Art. 1 Abs. 2 ZGB einschränkende Aussage macht, indem sie sich auf Larenz und Meier-Hayoz beruft. In neuerer Zeit stimmt das nicht veröffentlichte bundesgerichtliche Urteil 4 A_326/2009 vom 12. 10. 2009 der vorliegenden Entscheidung zu. Auch in der Literatur wird die Legalzession überwiegend abgelehnt.186
9. Kündigung eines Franchisevertrages Die Entscheidung BGE 118 II 157 vom 26. März 1992 löst das Problem der Kündigung des Franchisevertrages über eine allgemeine Analogie zum arbeitsrechtlichen Kündigungsschutz. Bei der Frage, wie die Kündigung im Arbeitsrecht konkret erfolgen soll, geht sie jedoch contra legem vor. a) BGE 118 II 157 – Lösung des Problems über eine allgemeine Analogie zum arbeitsrechtlichen Kündigungsschutz und eine Contra-legem-Entscheidung hinsichtlich der konkret anzuwendenden Regelung (Urteil vom 26. März 1992) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, welche gesetzlichen Vorschriften auf die Kündigung des dem Urteil zugrundeliegenden Franchisevertrages anzuwenden waren. Franchiseverträge dienen dem Vertrieb von Waren und Dienstleistungen über selbständige Händler oder Unternehmer, aber nach einer einheitlichen Vertriebskonzeption.187 Im vorliegenden Fall geht es insbesondere um die analoge Anwendbarkeit der Vorschriften zur missbräuchlichen Kündigung beim Arbeitsvertrag. Da diese zur Zeit des dem Urteil zugrundeliegenden Sachverhalts nicht generell geregelt war, stellte sich diesbezüglich ein weiteres Lückenproblem. bb) Grenzen der Auslegung Da es sich bei dem Franchisevertrag um einen nicht geregelten Vertragstyp handelt, sind auf ihn keine gesetzlichen Normen direkt anwendbar. Als Anhaltspunkt dafür, wie der Vertrag zu behandeln ist, können nur die konkreten vertraglichen 186
ZK-Wermelinger Art. 712l ZGB Rn. 69; BSK ZGB II-Bösch Art. 712l Rn. 6 mit teilweise neueren Nachweisen; Raschein, Rechtsausübung, Kap. 4 III. 2. (S. 59) m.w.N. in Fn. 51; teilweise neuere Nachweise außerdem in BGE 4_326/2009 E. 4; ältere Nachweise im Urteil auf S. 243. 187 Das Urteil S. 159; ausführliche Definition mit umfangreichen Nachweisen bei BSK OR I-Amstutz/Morin Einl. vor Art. 184 ff. Rn. 129.
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Regelungen dienen. Regelt der Vertrag eine bestimmte Frage nicht, liegt diesbezüglich eine Vertragslücke vor. Dann kommt jedoch wieder die Gesetzeslücke zu tragen, da das Gesetz für diese Frage bei diesem Vertragstyp ebenfalls keine Regelung enthält (Phänomen der „Doppellücke“188). Im vorliegenden Fall kommt zur Lückenfüllung jedoch die analoge Anwendbarkeit des arbeitsrechtlichen Kündigungsschutzes in Betracht [dazu unten cc)]. Da es sich dabei gem. Art. 361 OR um zwingendes Recht handelt, ist eine entgegenstehende vertragliche Regelung unerheblich, wenn die Vorschriften zum arbeitsrechtlichen Kündigungsschutz direkt angewandt werden. Gleiches muss bei deren analoger Anwendbarkeit gelten. Der Richter ist durch den Gleichheitssatz des Art. 8 BV verpflichtet, Analogie anzuwenden.189 Ist der Franchisevertrag einem Arbeitsvertrag vergleichbar, sind die Vorschriften analog anzuwenden. Da es sich dabei um zwingendes Recht handelt, geht auch die analoge Anwendung der Vorschriften zum arbeitsrechtlichen Kündigungsschutz einer entgegenstehenden vertraglichen Regelung vor. Damit kommt die Gesetzeslücke hinsichtlich der Kündigung des Franchisevertrages auch dann zum Tragen, wenn eine vertragliche Regelung besteht. Eine Vertragslücke ist also im Bereich des zwingenden Rechts keine Voraussetzung dafür, um die entsprechende Gesetzeslücke zu füllen. Auch wenn im vorliegenden Fall eine Vertragslücke besteht, soll daher zur Vereinfachung nur noch von einer Gesetzeslücke gesprochen werden. Die Entscheidung stellt sich auf S. 160 f. die Frage, nach welchen gesetzlichen Bestimmungen der Franchisevertrag zu beurteilen ist. Dazu gibt es in der Lehre verschiedene Theorien, wie die Absorptions- und die Kombinationstheorie sowie die Theorie der analogen Rechtsanwendung.190 Auf diese geht das Urteil teilweise ein. Nach der Absorptionstheorie ist bei einem gemischten Vertrag das Recht des dominanten Typus anzuwenden, während untergeordnete Elemente rechtlich unberücksichtigt bleiben, „absorbiert“ werden.191 Diese Theorie ist nach dem Urteil für den Franchisevertrag nicht passend, weil bei ihm gewöhnlich nicht die Natur eines einzigen gesetzlichen Vertragstypus derart vorherrsche, dass typenfremde Elemente ohne weiteres darin aufgingen (S. 160 f.). Die sogenannte Kombinationstheorie, nach der auf verschiedene Komponenten des gemischten Vertrages, die geregelten Vertragstypen entsprechen, verschiedene Regeln angewandt werden192, wird hingegen auf S. 161 vom Urteil befürwortet. Gleichzeitig spricht das Bundesgericht die
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Kramer, Methodenlehre, II. 2. d) gg) (4) (S. 152). Dazu oben B. III. 2. a) aa). 190 Darstellung bei BSK OR I-Amstutz/Morin Einl. vor Art. 184 ff. Rn. 17 ff., und BKKramer Art. 19 – 20 OR Rn. 74 ff. jeweils m.w.N. 191 BSK OR I-Amstutz/Morin Einl. vor Art. 184 ff. Rn. 17; BK-Kramer Art. 19 – 20 OR Rn. 75 ff. jeweils m.w.N. 192 BSK OR I-Amstutz/Morin Einl. vor Art. 184 ff. Rn. 18; BK-Kramer Art. 19 – 20 OR Rn. 79 ff.; ZK-Schönle Vorbem. zu Art. 184 – 551 OR Rn. 71 jeweils m.w.N. 189
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analoge Anwendung arbeitsvertragsrechtlicher Vorschriften an, wenn – wie im vorliegenden Fall – der Franchisenehmer dem Franchisegeber untergeordnet ist. Das Urteil stellt sich jedoch insgesamt und im Besonderen im Rahmen dieser Erwägungen zur Analogie nicht die Frage nach einer Regelungslücke beim Innominatvertrag. Betrachtet man die oben erwähnte Absorptions- und Kombinationstheorie, kann der Eindruck entstehen, dabei ginge es um direkte Rechtsanwendung und nicht um Rechtsanwendung in der Regelungslücke. Bei der Absorptionstheorie kann es sich aber nur um eine analoge Anwendung der Bestimmungen über gesetzlich geregelte Vertragstypen handeln, weil man diese Bestimmungen auf einen Vertrag anwendet, der neben den Elementen, die dem gesetzlich geregelten Vertragstyp entsprechen, noch andere Elemente enthält. Bei der Kombinationstheorie geht es ebenfalls um analoge Rechtsanwendung, da die Einzelteile eines gemischten Vertrages miteinander zusammenhängen und so die Regelung einer sich im Rahmen dieses Vertrages stellenden Rechtsfrage immer Auswirkungen auf den gesamten Vertrag hat. Es lässt sich kein Element aus dem gemischten Vertrag herauslösen und isoliert einer bestimmten Regelung unterwerfen. Folglich handelt es sich auch hier um die analoge Anwendung der Vorschriften über die geregelten Vertragstypen auf einen Sachverhalt, der Elemente enthält, die über den geregelten Vertragstyp hinausgehen.193 Deswegen soll hier der Theorie der analogen Rechtsanwendung gefolgt werden, die sich dafür ausspricht, dass nur eine analoge Anwendung der Vorschriften über gesetzlich geregelten Verträge auf Innominatverträge möglich194 und damit aus methodischer Sicht zutreffend ist.195 Analoge Rechtsanwendung bedeutet aber, dass eine Regelungslücke besteht. Diese Tatsache spricht die Entscheidung nicht an. Dies wäre vor allem deswegen notwendig gewesen, weil das Bundesgericht das Problem auf S. 163 ff. im Ergebnis über die analoge Anwendung arbeitsrechtlicher Schutzvorschriften löst. Wer Analogie anwendet, muss aber vorher eine Lücke definieren und klarstellen, warum eine direkte Anwendung gesetzlicher Vorschriften nicht in Frage kommt. Konkret könnte die Entscheidung im vorliegenden Fall folgendermaßen vorgehen: Der der Entscheidung zugrunde liegende Franchisevertrag enthält zwar arbeitsvertragliche Elemente wie die vollberufliche Arbeitsleistung der Franchisenehmerin, ihre Weisungsgebundenheit in weiten Teilen sowie die Ausübung ihrer Tätigkeit mit den von der Franchisegeberin zur Verfügung gestellten Betriebsmitteln und in den von ihr überlassenen Räumlichkeiten (S. 164). Die Franchisegeberin ist jedoch rechtlich selbständig und vertreibt die Waren auf eigene Rechnung und auf 193
So auch BK-Kramer Art. 19 – 20 OR Rn. 79. Kramer, in: Neue Vertragsformen der Wirtschaft, S. 23 ff. (S. 30 f.) m.w.N.; ZKSchönle Vorbem. zu Art. 184 – 551 OR Rn. 69 ff.; Nachweise außerdem bei BSK OR I-Amstutz/ Morin Einl. vor Art. 184 ff. Rn. 20. 195 BK-Kramer Art. 19 – 20 OR Rn. 78. 194
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eigenes Risiko. Damit ähnelt der Vertrag einem Arbeitsvertrag, kann aber rechtlich nicht als solcher qualifiziert werden. Einen solchen Vertrag hat der Gesetzgeber nicht vorausgesehen und somit diesbezüglich keine Regelung getroffen. Folglich kann man diesbezüglich von einer Regelungslücke sprechen. Indem die Entscheidung nicht entsprechend argumentiert und insbesondere keine Lücke feststellt, bestimmt sie die Grenzen der Auslegung nicht. cc) Lückenfüllung Da die Entscheidung nicht von einem Lückenproblem ausgeht, erwähnt sie auch Art. 1 ZGB nicht. Sie geht vielmehr auf S. 163 ff. zur analogen Anwendung arbeitsrechtlicher Schutzvorschriften über, ohne deutlich zu machen, dass es sich dabei um Lückenfüllung handelt. Die Entscheidung prüft jedoch sehr genau, ob bei dem konkreten Franchisevertrag eine einem Arbeitsverhältnis ähnliche Situation vorliegt, ob also ein für ein Arbeitsverhältnis typisches Über- und Unterordnungsverhältnis besteht, das die Franchisenehmerin in besonderem Maße schutzwürdig erscheinen lässt. Dies wird mit überzeugender Argumentation bejaht.196 Zur Bekräftigung wird ein Pauschalverweis auf eine Literaturmeinung vorgenommen, was aufgrund der vorherigen überzeugenden Begründung jedoch nicht nötig gewesen wäre. Da es sich im vorliegenden Fall um eine rechtsmissbräuchliche Kündigung handelte197, stellt sich die Frage, welche arbeitsrechtlichen Vorschriften diesbezüglich analog heranzuziehen sind. Problematisch ist, dass auf den dem Urteil zugrunde liegenden Sachverhalt die arbeitsrechtlichen Regeln Anwendung finden, die vor einer am 1. Januar 1989 in Kraft getretenen Änderung des Obligationenrechts198 galten. In der vor 1989 gültigen Fassung des Obligationenrechts199 gab es als sachliche Kündigungsbeschränkung nur den Art. 336g OR a.F. Dieser sah ein Einspracherecht des Gekündigten und eine Entschädigung für den Fall vor, dass die Kündigung wegen des schweizerischen obligatorischen Militärdienstes oder Zivilschutzdienstes erfolgte. Die Kündigung blieb jedoch wirksam. Eine allgemeine Regel für die missbräuchliche Kündigung fehlte. Damit stellte sich für das Urteil das weitere Lückenproblem, wie eine missbräuchliche Kündigung im schweizerischen Recht zu behandeln war. Die Entscheidung wendet auf S. 165 das vor 1989 geltende Recht an und bezieht sich auf die einhellige Ansicht von Lehre und Rechtsprechung, nach der die missbräuchliche Kündigung bereits unter der Herrschaft des alten Rechts ihre Schranke
196 Zustimmend Bär, Besprechung von diesem Urteil, ZBJV 130 (1994), S. 333 ff. (S. 334 f.). 197 s. das Urteil auf S. 165 ff. 198 Änderung des Obligationenrechts vom 18. März 1988 (AS 1988, 1472). 199 Die vor dem 1. Januar 1989 gültige Fassung findet sich in AS 1971, 1465 ff.
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am Rechtsmissbrauchsverbot des Art. 2 Abs. 2 ZGB fand.200 Nach Art. 2 Abs. 2 ZGB findet der offenbare Missbrauch eines Rechts keinen Rechtsschutz. Dies bedeutet, dass sich der Arbeitgeber auf eine rechtsmissbräuchliche Kündigung nicht berufen kann, diese also nichtig ist.201 Die Entscheidung möchte jedoch dazu kommen, dass die Kündigung gültig bleibt und der Kündigende zur Leistung einer Entschädigung verpflichtet ist. Dazu greift sie auf eine Analogie zu Art. 336g OR a.F. zurück. Diese Ansicht wird teilweise auch in der kantonalen Rechtsprechung202 und in der im Urteil erwähnten Literatur203 vertreten. Auch die Bundesratsbotschaft vom 25. August 1967 zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Revision des Zehnten Titelsbis des Obligationenrechts (Der Arbeitsvertrag) enthält den Hinweis an die Gerichte, bei der missbräuchlichen Kündigung die für die vorgesehenen Tatbestände aufgestellten Vorschriften, also Art. 336g OR a.F., im Wege der Analogie auf verwandte Fällte anzuwenden.204 Im Zusammenhang mit dieser Auffassung stellen sich mehrere Probleme. Zunächst ist fraglich, inwiefern noch Raum für eine Analogie bleibt, wenn man bereits Art. 2 Abs. 2 ZGB angewendet hat. Die Vorschrift des Art. 2 Abs. 2 ZGB verbietet den Missbrauch eines Rechts. Daraus kann man folgern, dass man über Art. 2 Abs. 2 ZGB die Anwendung eines Rechts in bestimmten Fällen, wo diese missbräuchlich erscheint, ausschließen kann. Schließt man aber die Anwendung eines Rechts für bestimmte Fälle aus, schränkt man dessen Anwendungsbereich ein, d. h. man nimmt eine teleologische Reduktion vor. Im vorliegenden Fall ginge es um die Einschränkung der allgemeinen Kündigungsvorschrift des Art. 336 OR a.F. Diese Norm regelt die grundsätzliche Zulässigkeit einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses. Die Einschränkung würde dahingehend erfolgen, dass eine Kündigung dann nicht zulässig ist, wenn sie rechtsmissbräuchlich ist. Durch diese teleologische Reduktion hätte man eine unechte Lücke gefüllt. Versteht man die Anwendung von Art. 2 Abs. 2 ZGB in diesem Sinne, hätte man das Problem über eine Lückenfüllung in einer generellen Art und Weise gelöst. Da man dabei Art. 2 Abs. 2 ZGB direkt anwendet, wäre für eine Analogie zu Art. 336g OR a.F. kein Raum mehr. Ob man Art. 2 Abs. 2 ZGB zur generellen Schließung unechter Lücken verwenden kann, ist jedoch umstritten.205 Die Gegenmeinung vertritt den Standpunkt, dass die Vorschrift nicht allgemein Bestimmungen des Zivilrechts für bestimmte 200 Vgl. die Nachweise im Urteil; Rehbinder, Arbeitsrecht (9. Aufl. 1988), § 12 B. II. 2. b) (S. 103), und Vischer, Der Arbeitsvertrag, in: SPR VII/1, § 68 VI. 2. (S. 414) jeweils m.w.N. 201 Rehbinder, Arbeitsrecht (9. Aufl. 1988), § 12 B. II. 2. b) (S. 103); Vischer, Der Arbeitsvertrag, in: SPR VII/1, § 68 VI. 2. (S. 414). 202 Nachweise bei Rehbinder, Arbeitsrecht (9. Aufl. 1988), § 12 B. II 2. b) (S. 103). 203 BK-Merz Art. 2 ZGB Rn. 317; Vischer, SPR VII/1, Der Arbeitsvertrag, § 68 VI. 5. (S. 417). 204 BBl. 1967 II 241 (385). 205 Nachweise zum Streitstand bei BSK ZGB I-Honsell Art. 2 Rn. 28; dafür ZK-Dürr Vorbem. Art. 1 und 4 ZGB Rn. 78 ff.
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Arten von Fällen außer Kraft setzt, sondern nur der Lösung von Einzelfällen dient.206 Für diese Ansicht spricht, dass, wenn man in Art. 2 Abs. 2 ZGB eine generelle Aufforderung zur teleologischen Reduktion sehen würde, es sich bei dieser Vorschrift um eine Anleitung zur Lückenfüllung im Sinne einer Methodennorm handeln würde. Die Methodennorm, die das Vorgehen bei der Lückenfüllung regelt, ist aber Art. 1 ZGB. Aus systematischer Sicht macht es dann keinen Sinn, das Vorgehen über eine teleologische Reduktion außerhalb von Art. 1 ZGB zu regeln, zumal es sich auch bei Art. 2 Abs. 1 ZGB nicht um eine Methodennorm handelt. Zudem würde der ausdrückliche Hinweis auf die teleologische Reduktion in einer eigenen Vorschrift eine Einladung an die Gerichte bedeuten, vorhandenes Gesetzesrecht außer Kraft zu setzen. Dies kann der Gesetzgeber nicht gewollt haben. Es ist daher die Ansicht vorzuziehen, die Art. 2 Abs. 2 ZGB auf die Lösung von Einzelfällen beschränken will. Folgt man dieser Ansicht, ist es schwieriger, das Verhältnis von Art. 2 Abs. 2 ZGB und einer möglichen Analogie zu Art. 336g OR a.F. zu klären. Für den Vorrang von Art. 2 Abs. 2 ZGB spricht, dass mit dessen Anwendung auf den Einzelfall eine gesetzliche Regelung vorliegt, die das Problem löst. Ist so eine Rechtsgrundlage gegeben207, ist eigentlich kein Platz mehr für eine Lückenfüllung über eine Analogie. Andererseits löst Art. 2 Abs. 2 ZGB das Problem nur für den Einzelfall und füllt damit nicht grundsätzlich die Lücke. Dies würde für einen Vorrang der Analogie vor Art. 2 Abs. 2 ZGB sprechen. Im vorliegenden Fall müsste das Urteil diese Frage klären, weil sich die Rechtsfolgen widersprechen. Die Regelung des Art. 2 Abs. 2 ZGB führt zu einer Nichtigkeit der Kündigung, während Art. 336g OR a.F. die Wirksamkeit der Kündigung nebst einer Entschädigung regelt. Die Entscheidung beantwortet diese Frage jedoch nicht und lässt Art. 2 Abs. 2 ZGB und die analoge Anwendung von Art. 336g OR a.F. nebeneinander stehen. Damit zeigt sie wenig Bewusstsein für die Legitimitätsprobleme, die durch diese Konkurrenz entstehen können. Sieht man Art. 2 Abs. 2 ZGB gegenüber der Analogie als vorrangig an, besteht nämlich die Gefahr des Contra-legem-Entscheidens, wenn man die Lösung dennoch über die Analogie begründen will. Weiterhin stellt sich die Frage, ob man Art. 336g OR a.F. überhaupt analog auf andere Fälle der rechtsmissbräuchlichen Kündigung anwenden kann. Denn er enthält mit dem Kündigungsverbot wegen des Militärdienstes einen sehr speziellen Fall und andere Fälle regelt das Gesetz nicht. Man würde also aus einer einzelnen Spezialregelung eine allgemeine Regel über die rechtsmissbräuchliche Kündigung induzieren. Das scheint eine sehr kleine Basis für eine Analogie zu sein. Die Entscheidung prüft die Analogie jedoch nicht genauer und spricht dieses Problem daher nicht an. Auch die im Urteil erwähnten Literaturmeinungen208 zu dieser Frage und die oben
206 207 208
BSK ZGB I-Honsell Art. 2 Rn. 28. Vischer, Der Arbeitsvertrag, in: SPR VII/1, § 68 VI. 2. (S. 414). s. o. Fn. 203.
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genannte Bundesratsbotschaft209 enthalten keine Begründung für die analoge Anwendung von Art. 336g OR a.F. Zudem stellt sich bei der Existenz nur einer einzelnen sehr speziellen Ausnahmevorschrift die Frage, ob der Gesetzgeber nicht wollte, dass es auch nur bei dieser einen Ausnahmevorschrift bleibt. Das würde bedeuten, dass ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzes vorliegt. Die entsprechende Bundesratsbotschaft vom 25. August 1967 zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Revision des Zehnten Titels und des Zehnten Titelsbis des Obligationenrechts (Der Arbeitsvertrag) enthält die Aussage, dass es verfrüht sei, einen generellen sachlichen Kündigungsschutz in dem Entwurf vorzusehen, weil sich das Problem des allgemeinen Schutzes gegen missbräuchliche Kündigungen in der Praxis noch nicht gestellt habe.210 Im Übrigen bleibe es der Rechtsprechung vorbehalten, im Wege der Analogie die für die vorgesehenen Tatbestände aufgestellten Vorschriften auf verwandte Fälle anzuwenden.211 In der parlamentarischen Diskussion wurden die vorgenannten Erwägungen ebenfalls vorgetragen.212 Diese Aussagen sprechen dafür, dass man im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zumindest nicht grundsätzlich gegen eine zukünftige Rechtsfortbildung eingestellt war. Von einem qualifizierten Schweigen des Gesetzes kann somit nicht ausgegangen werden. Es bleibt jedoch dabei, dass die Basis für die Analogie sehr klein ist. Zudem hätte die Entscheidung die Frage des qualifizierten Schweigens in diesem Fall einer einzelnen speziellen Ausnahmevorschrift ansprechen müssen. Zusätzlich zu dem Vorgehen über eine Analogie versucht die Entscheidung – ebenfalls auf S. 165 –, die alte arbeitsrechtliche Rechtslage im Hinblick auf die seit 01. 01. 1989 gültige neue Regelung des Art. 336a OR auszulegen. Die Vorschrift des Art. 336a OR regelt die missbräuchliche Kündigung im Allgemeinen. Rechtsfolge ist wie bei Art. 336g OR a.F. nicht die Unwirksamkeit der Kündigung, sondern eine Entschädigung. Die Auslegung von existierendem Gesetzesrecht anhand des Inhaltes geplanter Gesetzesrevisionen ist möglich213, aber nur die Auslegung und nicht die Gesetzeskorrektur. Wendet man, wie oben angedacht, Art. 2 Abs. 2 ZGB auf die missbräuchliche Kündigung an, ist diese nichtig. Dabei kann man nicht die Rechtsfolge des Art. 336a OR in diese Vorschrift hineininterpretieren. Wendet man Art. 336g OR a.F. an, ergibt sich dieselbe Konsequenz in Bezug auf den Tatbestand. Die Vorschrift des Art. 336g OR a.F. behandelt nur die Kündigung wegen des schweizerischen Militärdienstes. Möchte man diese Vorschrift i.S.d. Art. 336a OR generell auf missbräuchliche Kündigungen anwenden, muss man sie analog anwenden. Um Auslegung geht es 209 210 211 212 213
s. o. Fn. 204. BBl. 1967 II 241 (385). s. o. StenBullNR 1969, S. 832 ff. BK-Meier-Hayoz Art. 1 ZGB Rn. 225.
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dann nicht mehr. Auch hier gilt, dass man den Tatbestand von Art. 336a OR nicht in Art. 336g OR a.F. hineininterpretieren kann. Eine Auslegung des alten Rechts anhand des neuen Rechts ist somit nicht möglich und bedeutet eine Gesetzeskorrektur, also eine Contra-legem-Entscheidung. Insgesamt zeigt sich, dass die Entscheidung ein bestimmtes Ergebnis erreichen möchte und dabei auf eine methodische Vorgehensweise verzichtet. Denn wenn man nicht die oben diskutierte problematische Analogie zu Art. 336g OR a.F. befürwortet, ist es nach dem alten Recht nicht möglich, bei der missbräuchlichen Kündigung zu der Rechtsfolge der Wirksamkeit der Kündigung nebst Entschädigung zu kommen. Zur Verknüpfung der missbräuchlichen Kündigung mit der Entschädigung braucht es eine Entscheidung des Gesetzgebers, die am 01. 01. 1989 mit der Einführung des Art. 336a OR gefallen ist. Nach heutiger Rechtslage wird daher bei einer missbräuchlichen Kündigung die analoge Anwendung von Art. 336a OR auf das Franchiseverhältnis vertreten, sofern der Franchisenehmer zum Franchisegeber in einem besonders betonten Abhängigkeitsverhältnis steht.214 dd) Ergebnis Die Entscheidung wendet Analogie an, ohne vorher die Grenzen der Auslegung bestimmt und eine Regelungslücke definiert zu haben. Da weder der vorliegende Vertrag noch das Gesetz Regelungen über die Kündigung des Franchisevertrages enthalten und damit eine Lücke eindeutig besteht, ist das nicht problematisch. Es zeigt aber, dass sich die Entscheidung bei der Anwendung von Analogie über ein Lückenproblem keine Gedanken macht. Daraus kann man schließen, dass das Bundesgericht die Analogie zur Auslegung zählt. Dies könnte eine Auswirkung dessen sein, dass Art. 1 ZGB die Analogie nicht als Lückenfüllungsmethode nennt, sondern sie der Auslegung zuordnet215. Mit der Analogie wird jedoch eine gesetzesnahe Lückenfüllungsmethode verwandt und die Analogie zu arbeitsrechtlichen Vorschriften wird auch überzeugend begründet. Problematisch ist, wie die Entscheidung das weitere Lückenproblem behandelt, das sich stellt, weil es zur Zeit des dem Urteil zugrundeliegenden Sachverhalts keine generelle Regelung der missbräuchlichen Kündigung gab. In diesem Fall begründet das Urteil mit einer schwierigen Analogie zu Art. 336g OR a.F., die nur festgestellt und nicht geprüft wird. Eine Regelungslücke erwähnt das Urteil ebenfalls nicht. Wegen der Konkurrenz zu Art. 2 Abs. 2 ZGB besteht zusätzlich das Risiko, contra legem zu entscheiden. Eindeutig contra legem erfolgt die Auslegung der alten 214 BSK OR I-Amstutz/Morin Einl. vor Art. 184 ff. Rn. 153 m.w.N.; Stein-Wigger, Beendigung des Franchisevertrages, Teil 6 § 5 III. B. 2. (S. 274 ff.). 215 Dazu oben B. V. 2. b).
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Rechtslage anhand der neuen Regelung des Art. 336a OR. Hier geht es nicht mehr um Auslegung, sondern um Gesetzeskorrektur. Bei diesem zweiten Lückenproblem geht die Entscheidung damit nicht methodisch vor und orientiert sich nur daran, das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Dies ist aus Sicht einer am Legitimitätsgedanken orientierten Lückenfüllung deswegen abzulehnen, weil es sich bei dem Contra-legem-Judizieren um die stärkste Form der nicht legitimierten Vorgehensweise handelt. Man handelt dabei dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers zuwider.
10. Sozialversicherungsrecht: Reisekostenerstattung bei Heilbehandlungen im Ausland im Zusammenhang mit Eingliederungsmaßnahmen nach dem IVG216 Die Entscheidung BGE 119 V 250 vom 17. November 1993 leitet die Reisekostenerstattung bei Heilbehandlungen im Ausland im Zusammenhang mit Eingliederungsmaßnahmen nach dem IVG über einen Annex-Schluss her. a) BGE 119 V 250 – Herleitung der Reisekostenerstattung über einen Annex-Schluss (Urteil vom 17. November 1993) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil zur Invalidenversicherung war die Frage, ob der Heilungskostenanspruch aus Art. 11 IVG a.F.217 auch Heilbehandlungen im Ausland erfasst und ob, wenn ja, auch die in diesem Zusammenhang anfallenden Reisekosten ersetzt werden sollen. Nach Art. 11 IVG a.F. hat der Versicherte Anspruch auf Ersatz der Heilungskosten, wenn er während einer Eingliederungsmaßnahme krank wird oder einen Unfall erleidet.
216
Bundesgesetz über die Invalidenversicherung vom 19. Juni 1959 (AS 1959, 827), aktuelle Fassung abgedruckt in SR 831.20. 217 Bundesgesetz über die Invalidenversicherung vom 19. Juni 1959 in der Fassung der Änderung des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung vom 24. Juni 1977 (9. AHV-Revision), in Kraft seit 1. Januar 1979 (AS 1978, 391). Art. 11 IVG wurde aufgehoben durch Ziff. I des Bundesgesetzes vom 18. März 2011 (6. IV-Revision, erstes Maßnahmenpaket) mit Wirkung seit 1. Januar 2012 (AS 2011, 5659). Die Behandlungskosten für Krankheit und Unfall während einer Eingliederungsmaßnahme werden heute nur noch von der obligatorischen Kranken- bzw. Unfallversicherung übernommen (Art. 1a Abs. 2 KVG, Bundesgesetz über die Krankenversicherung vom 18. März 1994, SR 832.10). Die im Urteil verwendete Fassung von Art. 11 IVG ist nachzulesen in AS 1978, 391 (405).
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Invalidität bedeutet die voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit218 und ist heute in Art. 8 Abs. 1 ATSG219 definiert. Die im IVG vorgesehenen Eingliederungsmaßnahmen bestehen nach Art. 8 Abs. 3 IVG in medizinischen Maßnahmen, Integrationsmaßnahmen zur Vorbereitung auf die berufliche Eingliederung, Maßnahmen beruflicher Art und der Abgabe von Hilfsmitteln. Diese Eingliederungsmaßnahmen dienen nach Art. 8 Abs. 1 Ziff. a IVG dazu, die Erwerbsfähigkeit wieder herzustellen, zu erhalten oder zu verbessern. Hinsichtlich der Eingliederungsmaßnahmen selbst regeln Art. 9 Abs. 1 IVG und Art. 23bis IVV220, dass diese unter bestimmten Voraussetzungen auch im Ausland durchgeführt werden können. Die Vorschriften der Art. 51 Abs. 2 IVG und Art. 90bis IVV bestimmen, dass das Bundesamt für Sozialversicherung die Beiträge zu den Reisekosten bei Eingliederungsmaßnahmen im Ausland im Einzelfall festsetzt. Der Ersatz der Reisekosten im Inland ist in Art. 51 Abs. 1 IVG und Art. 90 IVV festgelegt. Der Heilungskostenanspruch während einer Eingliederungsmaßnahme ist in Art. 11 IVG a.F. geregelt und wird durch Art. 23 IVV a.F.221 konkretisiert. Diese Vorschriften machen keine Aussage darüber, ob Heilbehandlungen im Ausland stattfinden können und ob, wenn ja, entsprechende Reisekosten ersetzt werden. bb) Grenzen der Auslegung Die Entscheidung beschäftigt sich zuerst mit der Frage, ob Art. 11 IVG a.F. auch den Ersatz der Heilungskosten im Ausland garantiert (S. 253). Dazu sagt das Bundesgericht, dass weder Art. 11 IVG a.F. selbst noch die zur Konkretisierung des Art. 11 IVG a.F. erlassene Bestimmung der IVV, nämlich Art. 23 Abs. 1 – 7 IVVa.F., eine Einschränkung nach dem Durchführungsort der Heilbehandlung enthielten.
218
Locher, Sozialversicherungsrecht (2. Aufl. 1997), § 12 I. Rn. 1 (S. 79); Maurer, Bundessozialversicherungsrecht (2. Aufl. 1994), § 9 C. II. 2. a) aa) (S. 140). 219 Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000 (AS 2002, 3371), aktuelle Fassung abgedruckt in SR 830.1. 220 Verordnung über die Invalidenversicherung vom 17. Januar 1961 (AS 1961, 29), aktuelle Fassung abgedruckt in SR 831.201. Art. 23bis IVV wurde eingefügt durch Ziff. I der V vom 29. November 1976, in Kraft seit 1. Januar 1977 (AS 1976, 2650), und geändert durch Ziff. I der V vom 4. Dezember 2000, in Kraft seit 1. Januar 2001 (AS 2001, 89). Die zur Zeit des Urteils gültige Fassung des Art. 23bis IVV von 1977 entspricht aber inhaltlich der heute gültigen Fassung. 221 Verordnung über die Invalidenversicherung vom 17. Januar 1961 in der Fassung der Änderung der Verordnung über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV) vom 5. April 1978 (9. AHV-Revision), in Kraft seit 1. Januar 1979 (AS 1978, 420). Art. 23 IVV wurde aufgehoben durch Ziff. I der Verordnung vom 16. November 2011 mit Wirkung seit 1. Januar 2012 (AS 2011, 5679). Die im Urteil verwendete Fassung von Art. 23 IVV ist nachzulesen in AS 1978, 420 (438 f.).
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Daraus wird geschlossen, dass die Heilungskosten unbeschränkt, also auch im Ausland, übernommen werden sollen. Sodann wird eine analoge Anwendung der Art. 9 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 23bis IVV, die die Durchführung von Eingliederungsmaßnahmen unter bestimmten Voraussetzung im Ausland zulassen, abgelehnt. Es handele sich dabei um Bestimmungen, welche die Eingliederungsleistungen beträfen und nicht den Heilungskostenersatzanspruch (S. 253). Die Entscheidung hatte schon vorher (S. 252 f.) überzeugend dargelegt, dass es sich bei dem Heilungskostenanspruch nicht um eine Eingliederungsmaßnahme handelt. Hier fällt jedoch auf, dass die Entscheidung eine Analogie in Erwägung zieht, ohne zuvor eine Lücke festgestellt zu haben. Die Analogie wird als Mittel verstanden, den Inhalt von Art. 11 IVG a.F. und Art. 23 IVV a.F. hinsichtlich der Behandlungskosten im Ausland zu konkretisieren und wird so im Rahmen der Auslegung eingesetzt. Dadurch werden die Grenzen der Auslegung verwischt. Wenn man, wie die Entscheidung, aus Art. 11 IVG a.F. i.V.m. Art. 23 IVV a.F. schließen will, dass auch Heilungskosten für die Behandlung im Ausland übernommen werden sollen, besteht jedoch keine Lücke, die Raum für eine Analogie lässt. Die Übernahme der Heilungskosten im Ausland ist dann vom Wortlaut des Art. 11 IVG a.F. i.V.m. Art. 23 IVV a.F. gedeckt. Man könnte höchstens davon ausgehen, dass eine unechte Lücke vorliegt in dem Sinne, dass eine Beschränkung der Übernahme von Behandlungskosten im Ausland in diesen Vorschriften vergessen worden ist. Dies kann man zwar nicht aus der ratio dieser Normen selbst ableiten, da sie dafür keine Anhaltspunkte liefert. Man könnte aber andenken, dies aus der ratio der Art. 9 IVG i.V.m. Art. 23bis IVV abzuleiten, da diese die Durchführung der Eingliederungsmaßnahmen im Ausland nur unter bestimmten Voraussetzungen zulassen. Dann würde man eine teleologische Reduktion einer Vorschrift über die Analogie zu einer anderen Vorschrift vornehmen. Dies ist dann möglich, wenn die ratio der über die Analogie auszudehnenden Vorschrift gegenüber dem Sinn und Zweck der einzuschränkenden Norm vorrangig ist.222 Im vorliegenden Fall kann man die Übernahme von Heilungskosten im Ausland zwar als von Art. 11 IVG a.F. erfasst sehen, da diese Vorschrift keine Einschränkung nach dem Durchführungsort der Behandlung enthält. Gleichzeit macht Art. 11 IVG a.F. aber keine positive Aussage zur Übernahme von Behandlungskosten im Ausland. Aus seiner ratio ergibt sich dadurch nicht klar, dass Behandlungskosten im Ausland immer und ohne Bedingungen übernommen werden sollen. Sinn und Zweck von Art. 11 IVG sind diesbezüglich nicht eindeutig, während Art. 9 IVG i.V.m. Art. 23bis IVV genau definieren, wann Eingliederungsmaßnahmen im Ausland durchgeführt werden dürfen. Diese Vorschriften enthalten damit einen genaueren Maßstab für Leistungen mit Auslandsbezug, die im Rahmen des IVG gewährt werden. Die ratio von Art. 9 IVG 222
Dazu oben B. III. 2. a) aa).
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i.V.m. Art. 23bis IVV wäre deshalb gegenüber derjenigen von Art. 11 IVG a.F. als vorrangig zu betrachten und eine teleologische Reduktion über eine Analogie wäre möglich. Damit würde im vorliegenden Fall eine unechte Lücke vorliegen, die zugegebenermaßen nicht ganz leicht aufzufinden ist. Da aber letzten Endes eine Analogie zu Art. 9 IVG i.V.m. Art. 23bis IVV nicht durchgreift, ist auch die teleologische Reduktion nicht möglich. Es bleibt jedoch dabei, dass sich die Entscheidung Gedanken über ein Lückenproblem machen muss, sofern sie die Anwendung von Analogie andenkt. Tut sie dies nicht, entsteht der Eindruck, dass die Analogie zur Auslegung gezählt wird. Auf S. 253 f. lehnt die Entscheidung im Anschluss an die vorherige Argumentation auch eine analoge Anwendung von Art. 51 IVG ab. Dieser regelt in seinem Absatz 2 die Übernahme von Reisekosten im Ausland bei Eingliederungsmaßnahmen. Problematisch ist hier wieder die Art und Weise, wie mit der Analogie umgegangen wird. Die Entscheidung sagt auf S. 254, es bestünde „keine auslegungsmäßige Handhabe“, welche eine analoge Anwendung von Art. 51 IVG rechtfertigen würde. Wie oben wird keine Lücke festgestellt, obwohl dies hier einfacher wäre, da es keine Regelung über die Reisekosten bei Heilbehandlungen im Ausland gibt. Durch die oben wiedergegebene Aussage wird vielmehr die Analogie mit der Auslegung vermischt, so dass die Grenzen der Auslegung nicht zutreffend bestimmt werden. Das Problem der Unbeschränktheit von Art. 11 IVG a.F. bezüglich der Übernahme von Heilungskosten im Ausland löst die Entscheidung dann so, dass sie den Heilungskostenersatzanspruch über den im Leistungsrecht der Invalidenversicherung geltenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einschränkt (S. 254). Die Durchführung einer Krankenpflegemaßnahme im Ausland müsse im Vergleich zu den in der Schweiz bestehenden Behandlungsmöglichkeiten geeignet und notwendig sein, um auf angemessene Weise den aus der Verwirklichung des Eingliederungsrisikos eingetretenen Schaden zu beseitigen. Dabei wird nicht klar, ob es sich um eine sich innerhalb des Wortsinns von Art. 11 IVG a.F. haltende einschränkende Auslegung oder bereits um eine teleologische Reduktion handelt. Nach dem Wortlaut von Art. 11 IVG a.F. werden die Behandlungskosten bei Krankheit oder Unfall während einer Eingliederungsmaßnahme ersetzt. Der Wortlaut enthält also keine Beschränkung der Kostenübernahme bei Behandlungen im Ausland, wie das Urteil auch auf S. 253 feststellt. Über eine Auslegung kann man hier also nicht zu einer Einschränkung der Vorschrift kommen. Möchte man Art. 11 IVG a.F. über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einschränken, handelt es sich folglich um eine teleologische Reduktion. Da man nicht über die ratio der Vorschrift selbst zu deren Einschränkung kommt, sondern über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, liegt – wie oben bei der Behandlung der analogen Heranziehung von Art. 9 IVG i.V.m. Art. 23bis IVV beschrieben – eine teleologische
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Reduktion über eine Analogie vor223. Denn der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Leistungsrecht ist nicht direkt gesetzlich geregelt, sondern muss im Wege der Analogie aus einzelnen Vorschriften abgeleitet werden [dazu unten cc)]. In diesem Zusammenhang macht die Entscheidung erneut nicht deutlich, dass sie sich schon im Lückenbereich befindet und bestimmt daher die Grenzen der Auslegung nicht. In diesem Fall ist das auch schwierig, da es sich um eine teleologische Reduktion handelt. Dennoch hätte die Entscheidung erwähnen können, dass die Einschränkung von Art. 11 IVG a.F. nur über eine teleologische Reduktion möglich ist, da man ansonsten contra legem entscheidet. Die Entscheidung stellt jedoch keine entsprechenden methodischen Erwägungen an. Im Anschluss zu der Argumentation über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz geht die Entscheidung auf S. 254 noch einmal auf eine eventuelle analoge Anwendung des Art. 51 IVG i.V.m. Art. 90 und 90bis IVV ein. Diese Vorschriften seien ihrem Wortlaut nach auf Eingliederungs- und Abklärungsmaßnahmen zugeschnitten und nicht auf Reisekosten, welche im Zusammenhang mit der Durchführung von Krankenpflegemaßnahmen anfielen. Bei dieser Argumentation erwähnt die Entscheidung nicht direkt, dass es um die analoge Anwendung von Art. 51 i.V.m. Art. 90 und 90bis IVV geht. Sie bezieht sich lediglich auf ihre Argumentation zu Art. 9 IVG und Art. 23bis IVV. Hinsichtlich dieser Vorschriften spricht die Entscheidung auf S. 253 von „sinngemäßer Anwendung“, also von Analogie. Die Entscheidung sagt also im Hinblick auf Art. 51 IVG i.V.m. Art. 90 und 90bis IVV nicht deutlich, dass sie über eine Analogie vorgeht und scheint daher dem Unterschied zwischen Analogie und Auslegung nur geringe Bedeutung beizumessen. Dies wird auch noch einmal daran deutlich, dass sie als Fazit ihrer Argumentation zur Anwendung von Art. 51 i.V.m. Art. 90 und 90bis IVV ausführt, folglich enthalte das Gesetz keine Regelung über die Reisekostenvergütung für die Fälle des Art. 11 IVG a.F. Die Entscheidung erwähnt damit die Lücke, stellt diese aber erst fest, nachdem sie die analoge Anwendung des Art. 51 i.V.m. Art. 90 und 90bis IVV geprüft hat. Damit wird die Analogie zur Auslegung gezählt und die Grenzen der Auslegung werden verschoben. cc) Lückenfüllung Zur Einschränkung von Art. 11 IVG a.F. greift die Entscheidung – wie unter bb) besprochen – auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zurück. Dieser wird als ein allgemeines, insbesondere im gesamten Leistungsrecht der Invalidenversicherung geltendes Prinzip bezeichnet. Diese Aussage untermauert das Bundesgericht mit Pauschalverweisen auf Vorentscheidungen und eine Literaturmeinung, anstatt den Grundsatz aus dem vorhandenen Gesetzesrecht abzuleiten. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz findet sich aber in verschiedenen gesetzlichen Vorschriften des
223 Zur Herleitung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes über eine Gesamtanalogie zu gesetzlichen Vorschriften s. u. cc).
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staatlichen Leistungsrechts, so in den Art. 8 Abs. 1 lit. a224, 13 Abs. 1 und 17 Abs. 1 IVG sowie in Art. 23 KUVG a.F.225.226 In den genannten Normen werden nur Teilgehalte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erwähnt, so nur die Geeignetheit und die Notwendigkeit oder nur die Notwendigkeit. Dazu ist zu sagen, dass die Notwendigkeit immer die Geeignetheit enthält, denn nur eine Maßnahme, die geeignet ist, kann auch notwendig sein.227 Die Angemessenheit wiederum enthält die Notwendigkeit, da es bei der Notwendigkeit um eine allgemeine Zweck-Mittel-Abwägung, bei der Angemessenheit aber um eine solche Abwägung im konkreten Fall geht.228 Zur Angemessenheit im konkreten Fall kann man aber nur kommen, wenn die allgemeine Abwägung bei der Zweck-Mittel-Relation positiv verläuft. Damit umfasst die Notwendigkeit nicht nur die Geeignetheit, sondern auch Teile der Angemessenheit. Da alle genannte Vorschriften die Notwendigkeit nennen, enthalten sie also einen wesentlichen Teil des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Folglich kann davon gesprochen werden, dass sich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in den beschriebenen Regeln des IVG und des KUVG findet. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hätte also aus den vorhandenen gesetzlichen Regelungen abgeleitet werden können. Seit 1. Januar 2004 enthält zudem Art. 16 Abs. 2 lit. c IVG229 die Geeignetheit und auch den Grundsatz der Angemessenheit. Hinsichtlich der weiteren Frage des Urteils, der Reisekostenvergütung bei Heilbehandlungen im Ausland, greift die Entscheidung auf S. 255, nachdem sie eine Lücke festgestellt hat, auf die Gesetzgebungslösung zurück. Die Lücke habe der Richter nach jener Regel zu schließen, welche er aufstellen würde, müsste er in diesem Punkte Gesetzgeber sein. Zur Herleitung dieser Regel wird weder auf Art. 1 ZGB noch auf Vorentscheidungen verwiesen. Dies erklärt sich eventuell damit, dass Art. 1 ZGB im öffentlichen Recht, zu dem das Sozialversicherungsrecht zählt, nur analoge Anwendung findet230. Da die analoge Anwendbarkeit gegeben ist, hätte Art. 1 ZGB aber auch in diesem Sinne erwähnt werden müssen.
224 Fassung gem. Ziff. I des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2006 (5. IV-Revision), in Kraft seit 1. Januar 2008. Z. Zt. des Urteils war der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Art. 8 Abs. 1 IVG enthalten ohne Unterteilung in lit. a und b. 225 Art. 23 des Bundesgesetzes über die Kranken- und Unfallversicherung (KUVG) vom 13. Juni 1911 (AS 28, 353) in der Fassung des Bundesgesetzes vom 13. März 1964 betreffend die Änderung des Ersten Titels des Bundesgesetzes über die Kranken- und Unfallversicherung (AS 1964, 965), aufgehoben durch das Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG) vom 18. März 1994 (AS 1995, 1328), SR 832.10: der Gedanke des Art. 23 KUVG ist jetzt in Art. 56 KVG enthalten 226 Meyer-Blaser, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Erster Teil B. II. 4. f) (S. 52 ff.). 227 So auch Meyer-Blaser, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Erster Teil A. II. 1. b) bb) (S. 12). 228 Rhinow/Schefer, Verfassungsrecht, § 13 IV. (Rn. 1224). 229 Fassung gem. Ziff. I des Bundesgesetzes vom 21. März 2003 (4. IV-Revision), in Kraft seit 1. Januar 2004 (AS 2003, 3837). 230 Dazu oben B. V. 2. e).
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Hinsichtlich der Lückenfüllung argumentiert die Entscheidung weiter, die diesbezüglich zu gebende Antwort „liege auf der Hand“. Wenn das Gesetz den Ersatz der Heilungskosten bei verhältnismäßiger Durchführung im Ausland gewähre, müsse sich daran auch die Reisekostenvergütung anknüpfen, da sonst der gesetzlich nach dem Durchführungsort nicht beschränkte Heilungskostenanspruch auf dem Umweg über die Reisekostenvergütung vereitelt oder doch weitgehend zunichte gemacht werde. Bei dieser Argumentation wird an den Regelungszweck von Art. 11 IVG a.F. angeknüpft, wie das Urteil ihn vorher herausgearbeitet hat. Der Zweck der Regelung, Behandlungen im Ausland zuzulassen, werde zunichte gemacht, wenn die Reisekosten nicht ersetzt werden. Hierbei handelt es sich zwar nicht um einen Analogieschluss, aber ebenfalls um eine Argumentation mit dem Gesetzeszweck, also um ein Vorgehen, das an das geltende Gesetzesrecht anknüpft. Dass die Entscheidung das Ergebnis als sich zwingend aus dem Gesetzesrecht ergebend betrachtet, wird auch daran deutlich, dass sie sagt, dass sich an Art. 11 IVG a.F. die Reisekostenvergütung knüpfen „muss“. Dieses Vorgehen ist kein Gesetzgebervorgehen in dem Sinne, dass aufgrund verschiedener, auch außerrechtlicher Erwägungen eine Norm entwickelt wird, die sich in das System der bestehenden Regeln einpasst231. Wird eine neue Regel zwingend aus dem schon vorhandenen Recht abgeleitet, handelt es sich um eine gesetzesnahe Lückenfüllung und nicht um ein Gesetzgebervorgehen i.S.v. Art. 1 Abs. 2 ZGB. In diesem Fall kann man von einem Annex-Schluss232 sprechen in dem Sinne, dass eine bestehende gesetzliche Regelung ihre volle Wirksamkeit nur entfalten kann, wenn ein mit dieser in Zusammenhang stehender Sachverhalt ebenfalls in einer bestimmten Weise geregelt wird. In der Literatur findet sich zu der Frage der Reisekostenvergütung bei Durchführung der Krankenpflegemaßnahme im Ausland im Rahmen von Art. 11 IVG a.F. keine Diskussion. Es wird lediglich auf die im vorliegenden Urteil enthaltene Rechtsprechung des Bundesgerichts hingewiesen.233 dd) Ergebnis Die Entscheidung nimmt keine zutreffende Bestimmung der Grenzen der Auslegung vor, da sie Analogie und Auslegung vermischt bzw. die Analogie direkt zur Auslegung zählt. In den Fällen, in denen eine teleologische Reduktion vorliegt, ist das verständlich, da dort die Lücke schwer zu erkennen ist. Dennoch hätte die Entscheidung im Rahmen der Einschränkung von Art. 11 IVG a.F. mit Hilfe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erwähnen können, dass eine solche Einschränkung nur mittels teleologischer Reduktion möglich ist, da man ansonsten contra legem 231
Zum Inhalt der Gesetzgebungslösung des Art. 1 Abs. 2 ZGB vgl. oben B. V. 2. c) bb). Näher dazu oben B. III. 2. a) bb). 233 Bucher, Eingliederungsrecht, XV. B) (Rn. 1062); Meyer, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung, Art. 11 III. (S. 123). 232
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entscheidet. Hinsichtlich der Reisekostenvergütung liegt der Normalfall einer echten Lücke vor, die die Entscheidung aber erst feststellt, nachdem sie eine Analogie zu Art. 51 IVG i.V.m. Art. 90 und 90bis IVG geprüft hat. Daran wird deutlich, dass die Entscheidung die Analogie zur Auslegung zählt. Dies könnte man als Auswirkung von Art. 1 ZGB werten. Dieser erwähnt die Analogie nicht und wurde in dem Verständnis geschaffen wurde, dass die Analogie Teil der Auslegung ist.234 Der im Rahmen der teleologischen Reduktion von Art. 11 IVG a.F. herangezogene Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird sodann nicht aus gesetzlichen Vorschriften hergeleitet, sondern mit Hilfe von Pauschalverweisen auf Rechtsprechung und eine Literaturmeinung begründet. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kann auch auf den der Entscheidung zugrunde liegenden Fall Anwendung finden. Durch die fehlende methodische Herleitung wird aber verdeckt, dass die Herausarbeitung eines Rechtsprinzips, wenn es sich nicht direkt aus einer Verfassungsbestimmung oder einer einfachgesetzlichen Generalklausel ergibt, immer eine Analogie ist235. Die Herleitung eines Rechtsprinzips erfolgt mit Hilfe desselben Induktionsschlusses, der bei der Rechtsanalogie durchgeführt wird.236 Man extrahiert den Sinn und Zweck verschiedener Vorschriften – hier: „Eine bestimmte staatliche Leistung wird nur gewährt, wenn sie verhältnismäßig ist“ – und bildet daraus durch Induktion ein allgemeines Prinzip – hier: „Jede staatliche Leistung wird nur gewährt, wenn sie verhältnismäßig ist“. Indem die Entscheidung diese Erwägungen nicht anstellt, leitet sie den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht methodisch genau her. Die anschließende Bejahung des Reisekostenanspruches im Rahmen des Art. 11 IVG a.F. über einen Annex-Schluss ist hingegen mit einer dem Legitimitätsprinzip entsprechenden Lückenfüllung vereinbar. Dabei fällt jedoch auf, dass die Entscheidung zuvor ein Gesetzgebervorgehen angekündigt hatte, die Lücke aber über den Annex-Schluss mit Bezug auf den Zweck einer bereits bestehenden Regel füllt. Damit entscheidet sie sich im Ergebnis für eine gesetzesnahe Lückenfüllung und nicht für ein Gesetzgebervorgehen i.S.v. Art. 1 Abs. 2 ZGB.
11. Haftung aus erwecktem Konzernvertrauen Die Entscheidung BGE 120 II 331 vom 15. November 1994 leitet die Haftung aus erwecktem Konzernvertrauen über eine Kombinationsbegründung her.
234 235 236
Kramer, Methodenlehre, III. 5. a) aa) (S. 203 f.) und oben B. V. 2. b). Dazu oben B. III. 2. a) cc). Dazu oben B. III. 2. a) aa).
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a) BGE 120 II 331 – Herleitung der Haftung aus erwecktem Konzernvertrauen über eine Kombinationsbegründung (Urteil vom 15. November 1994) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, ob die werbemäßige Betonung der Einbindung einer Tochtergesellschaft in einen Konzern zu einer Haftung der Konzernmuttergesellschaft gegenüber Vertragspartnern der Tochtergesellschaft führen kann (Haftung aus erwecktem Konzernvertrauen). Im vorliegenden Fall hatte eine Tochtergesellschaft der Swissair Beteiligungen AG mit ihrer Zugehörigkeit zum SwissairKonzern geworben, womit die Muttergesellschaft einverstanden war. Die Tochtergesellschaft konnte sodann den Verpflichtungen gegenüber ihren Gläubigern nicht mehr nachkommen. Eine Gläubigerin verklagt nun die Swissair Beteiligungen AG auf Zahlung. bb) Grenzen der Auslegung Die Entscheidung prüft auf S. 334 f. zunächst, ob ein Garantievertrag nach Art. 111 OR vorliegt, ob also die Muttergesellschaft eine Garantie für die Leistung der Tochtergesellschaft übernommen hat. Das wird überzeugend abgelehnt, weil die Muttergesellschaft nur in Form von Werbeaussagen in Erscheinung getreten sei. Insbesondere sei nirgends die Rede davon, die Muttergesellschaft garantiere für die Erfüllung von Verbindlichkeiten der Tochtergesellschaft. Eine vertragliche Haftung der Muttergesellschaft wird also ausgeschlossen. Auf S. 335 wird eine Haftung aus unerlaubter Handlung nach Art. 41 OR ebenfalls verneint, da der Beklagten kein rechtswidriges, d. h. gegen allgemeine Gesetze oder Verbote verstoßendes Verhalten vorgeworfen werden könne. Ein solcher Verstoß liegt nach der in der Schweiz herrschenden objektiven Widerrechtlichkeitstheorie darin, dass ein absolutes Recht des Geschädigten verletzt wird oder dass der Schädiger eine Vermögensschädigung durch Verstoß gegen eine einschlägige Schutznorm bewirkt.237 Beides ist im vorliegenden Fall nicht gegeben. Die Möglichkeiten, die Haftung vertraglich oder gesetzlich zu begründen, werden also geprüft und ausgeschlossen. Die Grenzen der Auslegung werden damit zutreffend gezogen. cc) Lückenfüllung Nachdem eine vertragliche oder gesetzliche Haftung abgelehnt worden ist, wird aber weder eine Gesetzeslücke festgestellt noch auf Art. 1 ZGB eingegangen, son237
BSK OR I-Kessler Art. 41 Rn. 31; Schwenzer, OR AT, § 50 II. 1. (Rn. 50.04).
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dern das Bundesgericht begründet die Haftung der Muttergesellschaft auf S. 335 gleich aus einer „Verallgemeinerung der Grundsätze über die Haftung aus culpa in contrahendo“. Was die culpa in contrahendo angeht, handelt es sich bereits um Rechtsfortbildung.238 Um sie zu begründen, verweist die vorliegende Entscheidung pauschal auf die bundesgerichtliche Praxis und die herrschende Lehre, jeweils mit Nachweisen. Aus der Sicht einer am Legitimitätsgedanken orientierten Lückenfüllung wäre es hier notwendig gewesen, auf die Argumentation einer Entscheidung Bezug zu nehmen, die die culpa in contrahendo zutreffend herleitet. Da die culpa in contrahendo aber unbestritten ist, fällt dieser fehlende Begründungsschritt nicht weiter ins Gewicht. Die Entscheidung spricht jedoch von einer „Verallgemeinerung“ der Grundsätze der culpa in contrahendo und befürwortet auf S. 336 deren Anwendung auf „wertungsmäßig vergleichbare Fälle“. Bei der Analogie erhält man durch Induktion aus einer speziellen Regel einen allgemeineren Grundsatz, den man dann auf wertungsmäßig vergleichbare Fälle anwendet.239 Es ist also zunächst davon auszugehen, dass die Entscheidung die Grundsätze der culpa in contrahendo analog anwenden möchte. Sie sagt dazu auf S. 336, dass im Konzernverhältnis das in die Vertrauensund Kreditwürdigkeit des Konzerns erweckte Vertrauen ebenso schutzwürdig sein könne wie dasjenige, das sich die Partner von Vertragsverhandlungen hinsichtlich der Richtigkeit, der Ernsthaftigkeit und der Vollständigkeit ihrer gegenseitigen Erklärungen entgegenbrächten. Sie geht also davon aus, dass der gemeinsame Nenner von Vertragsverhandlungen und Konzernsituation das besondere Vertrauen ist, das die Beteiligten einander entgegenbringen, und dass sich so eine Analogie rechtfertigt. Ein wichtiger Punkt bei der Herleitung der culpa in contrahendo ist in der Tat, dass bei ihr, wie beim Vertrag selbst, eine Situation vorliegt, in der die Parteien einander vertrauen müssen und entsprechend diesem Vertrauen Vermögensdispositionen vornehmen.240 Das Vertrauensverhältnis ist jedoch nicht der einzige wichtige Punkt, der die culpa in contrahendo ausmacht. Die Anwendung vertraglicher Haftungsregeln im vorvertraglichen Bereich begründet sich nicht nur über den Vertrauensaspekt, sondern auch daraus, dass mit den Vertragsverhandlungen als Vorstufe des Vertrages eine vertragsähnliche Situation241 und damit eine besondere Nähe zum Vertrag vorliegt. Da die Vertragsnähe ein wichtiges Kriterium der culpa in contrahendo ist, muss man diese auch bei deren analoger Anwendung fordern. Im vorliegenden Fall kann man so begründen, dass die Swissair Beteiligungen AG damit einverstanden war und somit wusste, dass ihre Tochtergesellschaft im Rahmen der von ihr abzuschließenden Verträge die Konzernzugehörigkeit werbemäßig nutzen
238 239 240 241
Vgl. die Analyse von BGE 77 II 135 [D. I. 5. a)] unter cc). Kramer, Methodenlehre, III. 5. a) gg) (S. 210). Vgl. dazu die Analyse von BGE 77 II 135 [D. I. 5. a)] unter cc). s. o.
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würde. Es kommt ihr also ein gewisser Einfluss auf den Vertrag und damit auch eine bestimmte Vertragsnähe zu.242 So kann man im vorliegenden Fall eine Haftung der Muttergesellschaft über eine Analogie zu den Grundsätzen über die culpa in contrahendo begründen. Die Entscheidung bleibt aber nicht bei der Herleitung der Haftung aus Konzernvertrauen über eine Analogie zu den Grundsätzen über die culpa in contrahendo. Sie führt vielmehr eine allgemeine Vertrauenshaftung an, die bei der Haftung aus Konzernvertrauen zur Anwendung kommen soll. Einen Hinweis auf eine solche allgemeine Vertrauenshaftung enthält die Entscheidung bereits auf S. 335, wo von einer „Verallgemeinerung“ der Grundsätze über die Haftung aus culpa in contrahendo die Rede ist. Auf S. 336 führt die Entscheidung weiter aus, das der Culpa-Haftung zugrundeliegende, bestimmte gegenseitige Treuepflichten der Partner begründende Vertragsverhandlungsverhältnis sei als Erscheinungsform einer allgemeineren Rechtsfigur aufzufassen. Hinsichtlich dieser Aussage wird Kramer zitiert, der die Vertrauenshaftung als Oberbegriff über die culpa in contrahendo sowie andere Tatbestände der Vertrauenshaftung sieht.243 Man kann also davon ausgehen, dass die Entscheidung mit der allgemeineren Rechtsfigur eine allgemeine Vertrauenshaftung meint.244 Auf S. 337 wird außerdem die Haftung aus Konzernvertrauen direkt als Anwendungsfall der Vertrauenshaftung bezeichnet. Fraglich ist jedoch, ob sich eine solche allgemeine Vertrauenshaftung gesetzesnah begründen lässt. Die Entscheidung enthält dazu zwei Ansätze. Zum einen handelt es sich dabei um die oben angesprochene „Verallgemeinerung“ der Grundsätze über die culpa in contrahendo. Die Tatsache, dass von einer „Verallgemeinerung“ gesprochen wird, legt nahe, dass die Entscheidung nicht nur das Problem des Konzernvertrauens über eine Analogie zur culpa in contrahendo lösen will, sondern in allen Fällen von enttäuschtem Vertrauen eine Haftung für möglich hält. Beschränkt man den Gehalt der culpa in contrahendo auf das zwischen den Parteien bestehende Vertrauensverhältnis, kann man daraus die allgemeine Regel induzieren, dass es in jedem Vertrauensverhältnis eine vertragsähnliche Haftung geben soll. Damit wäre jedes Vertrauensverhältnis eine rechtliche Sonderverbindung, wie es die Entscheidung auf S. 336 für die Situation des Konzernvertrauens formuliert. Sie sagt, wenn Erklärungen der Konzern-Muttergesellschaft der culpa in contrahendo ähnlich Vertrauen hervorriefen, so entstehe deshalb eine dem Vertragsverhandlungsverhältnis ähnliche Sonderverbindung, aus der sich auf Treu und Glauben beruhende Schutz- und Aufklärungspflichten ergäben.
242
A.A. Kuzmic, Haftung aus Konzernvertrauen, § 14 F. II. 2. (S. 255). BK-Kramer, Allg Einl OR Rn. 151. 244 So auch Berger, Schuldrecht, § 31 II. 4. a) (Rn. 1967), und Druey SZW 1995, S. 93 ff. (S. 96). 243
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Fraglich ist aber, ob sich aus der culpa in contrahendo eine allgemeine Vertrauenshaftung induzieren lässt. Dagegen spricht, dass es sich bei der culpa in contrahendo um eine spezifische Regel hinsichtlich eines besonderen Vertrauensverhältnisses bei Vertragsverhandlungen handelt. Der Grund, die vertragliche Haftung auszudehnen, ist die vertragsähnliche Situation der Vertragsverhandlungen. Daraus folgt, dass man die culpa in contrahendo nur analog anzuwenden kann, wenn eine Situation mit Vertragsnähe vorliegt. Außerdem ist es problematisch, aus einer einzigen rechtlichen Regel ein so weitreichendes Prinzip wie die Vertrauenshaftung induzieren zu wollen, die bei jedem sozialen Kontakt zur Anwendung kommen kann. Die Herleitung einer allgemeinen Vertrauenshaftung über eine Analogie zu den Grundsätzen über die culpa in contrahendo sprengt somit die Grenzen der Analogie und ist abzulehnen. Der zweite Begründungsansatz der Entscheidung liegt in der bereits zitierten Aussage, die culpa in contrahendo sei Erscheinungsform einer allgemeineren Rechtsfigur. Damit wird nahegelegt, die allgemeine Vertrauenshaftung existiere vor der culpa in contrahendo und Letztere werde aus Ersterer abgeleitet. Dann bleibt die Entscheidung aber die Antwort schuldig, woraus sich eine solche allgemeine Vertrauenshaftung herleitet. Die Entscheidung mischt damit Erwägungen zu einer Analogie zur culpa in contrahendo und Argumente, die von einer selbständigen Vertrauenshaftung ausgehen, und verdeckt so, dass sich die Vertrauenshaftung allein nicht gesetzesnah begründen lässt. Man könnte weiterhin überlegen, eine allgemeine Vertrauenshaftung aus Art. 2 Abs. 1 ZGB herzuleiten, weil derjenige, der Vertrauen enttäuscht, gegen Treu und Glauben handelt.245 Der Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 ZGB ist aber derjenige, dass jedermann in Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln hat. Das bedeutet, dass Art. 2 Abs. 1 ZGB nur dann greift, wenn bereits ein Rechtsverhältnis zwischen den Parteien besteht.246 Mit Hilfe dieser Norm kann man folglich nicht im Sinne einer allgemeinen Vertrauenshaftung Rechte und Pflichten in einem Vertrauensverhältnis begründen. Die Vorschrift des Art. 2 Abs. 1 ZGB kann daher nicht zur Herleitung einer allgemeinen Vertrauenshaftung herangezogen werden. Die Vertrauenshaftung lässt sich also rechtlich nicht überzeugend herleiten und kann so auch nicht die Haftung aus Konzernvertrauen begründen. Selbst wenn eine rechtliche Begründung möglich wäre, besteht bei der Vertrauenshaftung aber das Problem, dass sie in ihrer Allgemeinheit keine Aussage dazu macht, wann das Vertrauen einer Partei schutzwürdig ist und dessen Enttäuschung eine Haftung be245 BSK ZGB I-Honsell Art. 2 Rn. 18 a.E.; BK-Brehm Art. 41 OR Rn. 53i f.; Berger, Schuldrecht, § 31 II. 4. c) (Rn. 1977). 246 So auch Kuzmic, Haftung aus Konzernvertrauen, § 14 F. II. 2. (S. 255). Zu einer weiteren Interpretation von Art. 2 ZGB in der schweizerischen Literatur und Rechtsprechung s. BKHausheer/Aebi-Müller Art. 2 ZGB Rn. 4 ff.
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gründet. Der Haftungstatbestand ist konturlos und unstrukturiert.247 Genauer gesagt ist nicht klar, wo die Grenze zwischen einer die Vertrauenshaftung begründenden Sonderbeziehung und einer „Jedermannsbeziehung“ verlaufen soll.248 Diese Entscheidung muss der Richter aufgrund eigener Wertung und ohne gesetzliche Grundlage treffen.249 Damit kann es zu zahllosen Haftungsfällen kommen, die der willkürlichen Entscheidung der Gerichte und damit einer reinen Billigkeitsrechtsprechung entspringen.250 Auch aus diesen Gründen ist die Vertrauenshaftung abzulehnen. In der Literatur ist das Konzept hingegen umstritten.251 Auch hinsichtlich der Frage des Konzernvertrauens im Besonderen ist das Urteil in der gesellschaftsrechtlichen Literatur unterschiedlich aufgenommen worden.252 dd) Ergebnis Die Entscheidung zieht die Grenzen der Auslegung zutreffend. Bei der Lückenfüllung führt der bereits bekannte Grundsatz der culpa in contrahendo dazu, dass weder das Vorliegen einer Lücke noch Art. 1 ZGB erwähnt werden. Da das Bundesgericht die culpa in contrahendo nicht direkt, sondern nur analog heranzieht, hätte es aber auf die Lücke hinweisen müssen. Mit der Analogie zur culpa in contrahendo enthält die Entscheidung einen gesetzesnahen Begründungsansatz bei der Lückenfüllung. Sie führt diese Begründungsmöglichkeit jedoch nicht weiter aus, sondern nennt eine allgemeine Vertrauenshaftung als Grundlage der Haftung aus Konzernvertrauen. Diese allgemeine Vertrauenshaftung lässt sich jedoch nicht gesetzesnah herleiten. Der Richter muss bei ihr außerdem selbst entscheiden, welches enttäuschte Vertrauen er für sanktionswürdig hält. Wenn der Richter das enttäuschte Konzernvertrauen als rechtlich 247
Honsell/Isenring/Kessler, Haftpflichtrecht, § 4 II. 3. (S. 62). Schwenzer, OR AT, § 52 (Rn. 52.04). 249 Kuzmic, Haftung aus Konzernvertrauen, § 14 G. (S. 261); BK-Weber Vorbem zu Art. 97 – 109 OR Rn. 47 u. Art. 97 OR Rn. 83. 250 Honsell/Isenring/Kessler, Haftpflichtrecht, § 4 II. 3. (S. 62); Schwenzer, OR AT, § 52 (Rn. 52.05 a.E.); Kuzmic, Haftung aus Konzernvertrauen, § 14 G. (S. 261). 251 Dagegen neben den oben zitierten Autoren Werro, Responsabilité civile, Rn. 333 (S. 103), und CR CO I-Thévenoz/Werro Introduction générale Rn. 14; dafür Berger, Schuldrecht, § 31 II. 4. (Rn. 1964 ff.; zur rechtlichen Herleitung der Vertrauenshaftung Rn. 1989 ff.), BSK OR I-Bucher (5. Aufl. 2011) Art. 1 Rn. 69a ff., BSK OR I-Zellweger-Gutknecht/Bucher Einl. vor Art. 1 ff. Rn. 100 ff., und BSK OR I-Wiegand Einl. zu Art. 97 – 109 Rn. 11; vorsichtige Zustimmung auch bei Winiger, in: Chappuis/Winiger, La responsabilité fondée sur la confiance, S. 193 ff. (S. 200); umfangreiche Nachweise zur Vertrauenshaftung bei Schwenzer, OR AT, § 52; Nachweise zum Meinungsstand bei BSK ZGB I-Honsell Art. 2 Rn. 18 a.E., und BK-Brehm Art. 41 OR Rn. 53e und 53 g. 252 Ablehnend Kuzmic, Haftung aus Konzernvertrauen, § 14 D. I. 5. (S. 242 ff.); ausführliche Darstellung der Stellungnahmen in der Literatur zu dieser Entscheidung ebendort § 13 B. II. (S. 180 ff.). 248
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schützenswert erachtet, also eine Haftung aus Konzernvertrauen einführt, beruht diese Entscheidung somit auf einer eigenen Wertung. Die Entscheidung kombiniert also eine Begründung aus Analogie mit einer eigenen Wertung. Auch wenn die Ausführungen der Entscheidung zur Vertrauenshaftung abzulehnen sind, ist positiv zu bemerken, dass sie mit der Analogie zur culpa in contrahendo einen gesetzesnahen Begründungsansatz enthält.
12. Richterliche Vertragsanpassung bei Übervorteilung nach Art. 21 OR In der Entscheidung BGE 123 III 292 vom 26. Juni 1977 wird die richterliche Vertragsanpassung bei einer Übervorteilung nach Art. 21 OR über eine Kombinationsbegründung hergeleitet. a) BGE 123 III 292 – Herleitung der richterlichen Vertragsanpassung über eine Kombinationsbegründung (Urteil vom 26. Juni 1997) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, ob der Richter bei der Übervorteilung253 nach Art. 21 OR die überhöhte Leistungspflicht des Übervorteilten bei bestehen bleibendem Vertrag reduzieren kann (geltungserhaltende Reduktion). Die Vorschrift des Art. 21 OR regelt nur, dass der Verletzte erklären kann, dass er den Vertrag nicht halte. Das bedeutet, dass er den Vertrag anfechten kann254, so dass dieser im Ganzen ungültig wird oder bleibt255. bb) Grenzen der Auslegung Die Entscheidung sagt auf S. 294 kurz, dass der Gesetzestext die Möglichkeit richterlicher Vertragskorrektur nicht erwähne. Da das eindeutig so ist, ist auch keine weitergehende Auslegung des Gesetzestexts notwendig.256 Damit könnte insofern eine Lücke vorliegen, als die Rechtsfolge Vertragsanpassung nicht geregelt ist. 253
Dt. Recht: Wucher, vgl. § 138 II BGB. Schwenzer, OR AT, § 32 VI. 3. (Rn. 32.54); Gauch/Schluep/Schmid/Emmenegger, OR AT I, § 7 I. 2. 1. (Rn. 746). 255 Zum Meinungsstreit zwischen Anfechtbarkeits- und Ungültigkeitstheorie vgl. BSK OR I-Huguenin/Meise Art. 21 Rn. 15, und BK-Kramer Art. 21 OR Rn. 47. 256 A.A. Pichonnaz/Vogenauer AJP 1999, S. 417 ff. (S. 419). 254
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Da der Wortlaut des Art. 21 OR aber mit der Möglichkeit der Anfechtung des Vertrages eine Rechtsfolge vorsieht, könnte man sich fragen, ob dies nicht die einzige Rechtsfolge bleiben soll. Mit andere Worten: Es stellt sich die Frage, ob ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzes besteht. Auf S. 294 f. prüft die Entscheidung dementsprechend, ob ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzes dahingehend vorliegt, dass die Rechtsfolge des Art. 21 OR abschließend sein und eine richterliche Vertragskorrektur nicht möglich sein soll. Dies wird mit historischen Argumenten, und zwar mit dem Hinweis auf die Beratungen zu Art. 21 OR im Rahmen des neuen, an das ZGB angepassten Obligationenrechts von 1911 verneint. Die Expertenkommission sei sich insbesondere der Regelungsdifferenz von Art. 20 OR, der in seinem Abs. 2 eine Regelung zur Teilnichtigkeit enthalte, und Art. 21 OR nicht bewusst gewesen. Der Gesetzgeber hat also eine Regelung zur Teilnichtigkeit in Art. 21 OR nicht absichtlich unterlassen. Mit dieser Argumentation wird daher ein qualifiziertes Schweigen überzeugend abgelehnt.257 Da das qualifizierte Schweigen mit den Mitteln der historischen Auslegung untersucht wird und noch keinen Bezug zur Lückenfüllung aufweist, wird es hier unter dem Punkt „Grenzen der Auslegung“ abgehandelt.258 Insgesamt werden die Grenzen der Auslegung in der Entscheidung zutreffend bestimmt. cc) Lückenfüllung Die Entscheidung geht bei der Lückenfüllung nicht auf Art. 1 ZGB ein. Dies ist deswegen erstaunlich, weil sie auf S. 297 eine Literaturmeinung erwähnt, die eine Lösung des Problems mit richterlicher Lückenfüllung nach Art. 1 Abs. 2 ZGB finden will. Das Bundesgericht beginnt seine lückenfüllende Argumentation auf S. 295 mit der Bezugnahme auf die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichts, die die Frage der geltungserhaltenden Reduktion von wucherischen Geschäften nicht grundsätzlich entschieden habe. Auf S. 295 f. erwähnt die Entscheidung dann die ältere schweizerische Literatur und die in Deutschland zu § 138 Abs. 2 BGB herrschende Auffassung, die eine Teilungültigkeit der wucherischen Verträge ablehnten. Auf S. 296 wird weiterhin auf die jüngere schweizerische Literatur verwiesen, die das Gegenteil vertrete. Da es sich dabei um Verweise auf die Ergebnisse der Auffassungen handelt und nicht auf deren Begründungen Bezug genommen wird, werden Rechtsprechung und Literatur als Rechtsquellen betrachtet. Diese Verweise können daher nach hier vertretener Ansicht nicht einer dem Legitimitätsprinzip entsprechenden Lückenfüllung dienen. 257
A.A. Pichonnaz/Vogenauer AJP 1999, S. 417 ff. (S. 420). Zur Einordnung des qualifizierten Schweigens in das den Urteilsanalysen zugrunde liegende Schema vgl. oben B. III. 1. b) aa) a.E. 258
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Die Entscheidung zählt jedoch auf S. 296 f. außerdem die verschiedenen Begründungsansätze der neueren schweizerischen Literatur auf.259 Diese beinhalten die Analogie zu Art. 20 Abs. 2 OR, die aus dem Normzweck gewonnene teleologische Reduktion der Rechtsfolge von Art. 21 OR, eine über Art. 20 Abs. 2 OR hinausreichende prinzipiell-systematische Gesetzesauslegung und die richterliche Lückenfüllung nach Art. 1 Abs. 2 ZGB. Die Entscheidung sagt dazu, dass diese Auffassungen zwar dogmatisch divergierten, aber in der praktischen Anwendung kaum zu unterschiedlichen Lösungen führten. Es stellen jedoch nur die Analogie zu Art. 20 Abs. 2 OR und die teleologische Reduktion von Art. 21 OR gesetzesnahe Lückenfüllungsmethoden dar. Eine „prinzipiell-systematische Gesetzesauslegung“ ist schon vom Begriff her problematisch, da bereits verneint wurde, dass das Ergebnis mit Auslegung erreicht werden kann und man sich schon im Bereich der Lückenfüllung befindet. Liest man die im Urteil zu dieser Auffassung zitierten Quellen, stellt sich auch heraus, dass sowohl Spiro260 als auch Hausheer261 zwar systematisch argumentieren, indem sie Art. 21 OR in Bezug setzen zu anderen Vorschriften des Obligationenrechts, die bei einem Missverhältnis der Leistungen eine Vertragsanpassung durch den Richter vorsehen. Beide Autoren betreiben aber definitiv keine Auslegung, da sie eine Lösung jenseits der Wortlautgrenze des Art. 21 OR finden wollen. Spiro geht dabei nicht soweit, dass er die Vorschriften, die ebenfalls die Möglichkeit einer richterlichen Reduktion enthalten, im Rahmen einer Rechtsanalogie heranziehen möchte, Hausheer deutet eine Analogie zumindest an262. Insgesamt geht es dabei um einen Ansatz, der in die Richtung einer Rechtsanalogie263 weist. Um Auslegung geht es jedoch nicht. Ein Vorgehen nach Art. 1 Abs. 2 ZGB ist nach Legitimitätsgesichtspunkten dann problematisch, wenn wie ein Gesetzgeber vorgegangen wird, ohne vorher die Möglichkeiten der Analogie auszuschöpfen.264 Auch hier stellt sich aber heraus, dass der im Urteil zitierte Oftinger zwar sagt, die Lösung sei auf Art. 1 Abs. 2 ZGB zu stützen.265 Er spricht aber ebenso die Art. 163 Abs. 3 und 417 OR an266, die die richterliche Herabsetzung einer übermäßigen Leistung vorsehen, und weist damit in die Richtung einer Rechtsanalogie zu diesen Vorschriften. Weiterhin geht er auf die Frage ein, ob Sinn und Zweck der übertretenen Norm die Herabsetzung der Leistungspflicht als die gebotene Folge erscheinen lassen267, und zieht damit eine te259 260 261 262 263 264 265 266 267
Mit zahlreichen Nachweisen. Spiro ZBJV 88 (1952), S. 449 ff. (S. 518 f.). Hausheer ZSR 95 (1976), S. 225 ff. (S. 275 Fn. 87). Hausheer ZSR 95 (1976), S. 225 ff. (S. 275). Zu dieser Begründungsmöglichkeit weiter unten in diesem Abschnitt. Dazu oben B. V. 2. c) aa). Oftinger, in: Ausgewählte Schriften, S. 155 ff. (S. 171). s. o. s. o.
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leologische Reduktion von Art. 21 OR in Betracht. Er hebt also grundsätzlich auf gesetzesnahe Begründungsansätze innerhalb der richterlichen Lückenfüllung ab und geht nicht von einem reinen Gesetzgebervorgehen aus. Der Hinweis des Urteils, Oftinger stütze seine Lösung auf Art. 1 Abs. 2 ZGB, greift daher zu kurz. Indem die Entscheidungen die aufgezählten Auffassungen teilweise methodisch nicht zutreffend einordnet, zeigt sie wenig Methodenbewusstsein im Zusammenhang mit dem Lückenproblem. Folgt man jedoch der Einordnung durch die Entscheidung, entstehen bei den verschiedenen Begründungen Unterschiede hinsichtlich der Legitimität. Indem das Bundesgericht diese Meinungen aber als gleichwertig ansieht, weil sie dasselbe Ergebnis haben, zeigt es außerdem wenig Bewusstsein des Legitimitätsproblems in der Lücke. Wie die obigen Erwägungen zeigen, gibt es aus methodischer Sicht nur zwei wesentliche Begründungsansätze, um eine Teilnichtigkeit bei Art. 21 OR herbeizuführen. Das sind die Analogie zu Art. 20 Abs. 2 OR und anderen Vorschriften, die eine richterliche Herabsetzung einer übermäßigen Leistung vorsehen, und die teleologische Reduktion von Art. 21 OR. Auf S. 297 beginnt die Entscheidung dann, ihren eigenen Standpunkt darzulegen. Sie sagt zwar zunächst, dass sie der herrschenden Lehre, die einer Teilungültigkeit bei wucherischen Verträgen zustimme, folgen möchte, schließt aber an diese Aussage noch einmal eine eigene Begründung an. Erforderlich sei eine Rechtsfindung, die nicht nur auf Wiederholbarkeit rechtlicher Entscheidungen und damit einhergehender Rechtssicherheit, sondern auch auf Einbindung der gefundenen Regeln in das vorgegebene System ausgelegt sei und damit die erforderliche Kohärenz sicherstelle. Dies hört sich zunächst nach einem Grundsatz an, den der Gesetzgeber zu befolgen hat. Neu gefundene Regeln müssen sich in das bestehende System einfügen.268 Auf S. 297 f. zeigt sich jedoch eine Tendenz der Entscheidung, die neu zu findende Regel aus dem bestehenden Vertragsrecht abzuleiten. Die Entscheidung geht dort zunächst von einem Grundsatz der materiellen Vertragsgerechtigkeit aus, der sich im aktuell geltenden Privatrecht wiederfinde und „zeitgemäße Rechtsüberzeugung“ sei. Der Gedanke richterlicher Vertragsgestaltung „entspreche auffällig dem Zeitgeist“. Der Zeitgeist ist jedoch kein rechtliches Argument.269 Fraglich ist vielmehr, wo sich der Grundsatz der materiellen Vertragsgerechtigkeit und insbesondere die Möglichkeit der richterlichen Vertragskorrektur im geltenden Recht wiederfindet. Die Entscheidung zählt mit den Art. 20 Abs. 2, 163 Abs. 3, 417, 269 ff., 340a Abs. 2 und 356b Abs. 2 OR die entsprechenden gesetzlichen Regelungen auf.270
268
Dazu oben B. V. 2. c) bb) (1). Gegen den Zeitgeist auch Pichonnaz/Vogenauer AJP 1999, S. 417 ff. (S. 421 u. 425); Kramer AJP 1997, S. 1556 ff. (S. 1561) für Zurückhaltung bei der Anrufung des Zeitgeistes. 270 Die im Urteil zitierten Vorschriften sind alle aktuell. 269
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In Art. 20 Abs. 2 OR ist die Teilnichtigkeit bei unmöglichem, rechtswidrigem oder sittenwidrigem Vertrag geregelt. Die Vorschrift des Art. 163 Abs. 3 OR bestimmt, dass der Richter übermäßig hohe Konventionalstrafen nach seinem Ermessen herabsetzen kann. In Art. 417 OR wird der Richter ermächtigt, einen übermäßig hohen Mäklerlohn auf einen angemessenen Betrag herabzusetzen. Die Art. 269 ff. OR regeln den Schutz vor missbräuchlichen Mietzinsen. Der Mieter kann insbesondere gem. Art. 270 und 270a OR die Herabsetzung des missbräuchlichen Mietzinses verlangen. Nach Art. 340a Abs. 2 OR kann der Richter ein übermäßiges Konkurrenzverbot in einem Arbeitsvertrag nach seinem Ermessen einschränken und nach Art. 356b Abs. 2 OR kann er unangemessene Bedingungen hinsichtlich des Anschlusses an einen Gesamtarbeitsvertrag271 auf das zulässige Maß beschränken. Die Entscheidung geht zudem auf Art. 25 Abs. 2 OR ein, der auf ähnlichen rechtspolitischen Überlegungen beruhe. Diese Vorschrift regelt, dass der Irrende einen Vertrag so gelten lassen muss, wie er ihn verstanden hat, sobald der andere sich hierzu bereit erklärt. Das Bundesgericht gewinnt sein Ergebnis jedoch nicht über eine Gesamtanalogie zu diesen Regeln, sondern spricht wieder davon, das von ihm gefundene Ergebnis sei „systemkonform“, passe sich also in das System der aufgezählten Regelungen ein. Hier besteht eine methodische Unsicherheit bei der Frage, ob die Entscheidung gesetzgeberisch vorgeht oder Rechtsanalogie anwendet. Im Ergebnis ist das eine Rechtsanalogie, diese wird aber nicht so bezeichnet. Anstatt bei diesem Ansatz einer Rechtsanalogie zu bleiben, leitet die Entscheidung aber auf S. 298 f. die bloße Teilunwirksamkeit des mangelhaften Rechtsgeschäfts aus dem jeweiligen Normzweck selbst ab, auf welchen die Tragweite der anzuwendenden Bestimmung, reiche ihr Wortsinn auch darüber hinaus, teleologisch zu reduzieren sei. Auf S. 300 sagt sie dazu noch einmal, dass die Möglichkeit richterlicher Vertragskorrektur im Sinne einer bloßen Teilunwirksamkeit unmittelbar aus dem Normzweck des Art. 21 OR folge.272 Sie möchte eine Lösung also im Ergebnis über eine teleologische Reduktion des Art. 21 OR erreichen. Diese Vorschrift enthält aber nur den Gedanken, dass der Übervorteilte beim Wucher geschützt werden muss. Fraglich ist, als wie weitgehend man diesen Schutzgedanken interpretieren will. Der Schutz des Übervorteilten ist natürlich größer, wenn er entscheiden kann, ob er sich vollständig vom Vertrag lösen oder diesen unter besseren Bedingungen fortsetzen will. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn der Übervorteilte im sozialrelevanten Bereich von Dauerschuldverhältnissen wie Miete oder Arbeitsvertrag auf den Bestand des Vertrages angewiesen ist, wie die Entscheidung auf S. 299 darlegt. Letzteres stimmt zwar, sagt aber nichts darüber aus, wie weit der Schutz in Art. 21 OR reichen soll. Der Schutzgedanke des Art. 21 OR ist zu unbestimmt, um seine genaue Reichweite feststellen zu können. Das Bundes271 272
Vgl. Art. 356 ff. OR. Zustimmend Kramer AJP 1997, S. 1556 ff. (S. 1561 f.).
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gericht erörtert den Normzweck von Art. 21 OR dann auch nicht.273 Hinzu kommt, dass durch die Möglichkeit der Vertragsanpassung der Anwendungsbereich von Art. 21 OR nicht eingeschränkt und auch dessen Rechtsfolge nicht reduziert wird, da die Möglichkeit der Anfechtung des ganzen Vertrages bestehen bleibt.274 Es wird vielmehr eine alternative Rechtsfolge hinzugefügt.275 Eine Lösung über eine teleologische Reduktion des Art. 21 OR ist somit abzulehnen.276 Es bietet sich daher an, über die oben angesprochene Rechtsanalogie vorzugehen277, denn die herangezogenen Normen enthalten die Möglichkeit einer richterlichen Vertragskorrektur. Über diese Rechtsanalogie kann man dem Art. 21 OR die Rechtsfolge der Vertragsanpassung hinzufügen. Hinsichtlich einer Analogie zu Art. 20 Abs. 2 OR stellt sich jedoch folgendes Problem, das die Entscheidung auf S. 300 anspricht: Art. 20 Abs. 2 OR ordnet eine Teilnichtigkeit nur für den Fall an, dass nicht anzunehmen ist, dass der Vertrag ohne den nichtigen Teil überhaupt nicht abgeschlossen worden wäre. Es kommt also auf den hypothetischen Parteiwillen der Vertragschließenden an. Überträgt man diese Regel auf die Übervorteilung nach Art. 21 OR, würde das bedeuten, dass sich der Übervorteiler darauf berufen könnte, dass er den Vertrag zu angemessenen Bedingungen nicht abgeschlossen hätte. Damit verstößt er aber gegen Art. 2 Abs. 1 ZGB, der hier anwendbar ist, da man sich innerhalb eines Rechtsverhältnisses befindet.278 Sich auf den eigenen wucherischen Willen zu berufen, kann man als unredliches Verhalten und damit als Verstoß gegen Treu und Glauben bewerten, da Art. 2 Abs. 1 ZGB es dem Rechtsanwender ermöglicht, innerhalb eines Rechtsverhältnisses eigene Wertungen vorzunehmen, die nicht auf rechtlichen Erwägungen beruhen. Hinzu kommt, dass die oben befürwortete Rechtsanalogie nicht nur auf Art. 20 Abs. 2 OR beruht, sondern auch andere Vorschriften einbezieht. Insbesondere die Art. 163 Abs. 3, 417 und 269 ff. betreffen wie Art. 21 OR ein Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung, enthalten aber die Berufung auf den hypothetischen Parteiwillen nicht.279 Auch die Art. 340a Abs. 2 und 356b Abs. 2 OR machen die Teilnichtigkeit nicht von einem hypothetischen Parteiwillen abhängig. Die Berufung auf den hypothetischen Parteiwillen bei der Übervorteilung ist also nicht nur wegen Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 1 ZGB unbeachtlich, sondern es gibt auch für eine Rechtsanalogie eine breite Basis an Vorschriften, bei denen der hypothetische Parteiwille nicht zum Tragen kommt. Letzterer ist damit bei der Prüfung der Teilnichtigkeit bei der 273
Vgl. dazu Pichonnaz/Vogenauer AJP 1999, S. 417 ff. (S. 421). Pichonnaz ZEuP 1999, S. 140 ff. (S. 156). 275 Wiegand ZBJV 1998, S. 683 ff. (S. 688); Pichonnaz/Vogenauer AJP 1999, S. 417 ff. (S. 423). 276 A.A. Honsell, in: Festschrift Giger, S. 287 ff. (S. 295) m.w.N. 277 Gegen die Analogie Pichonnaz/Vogenauer AJP 1999, S. 417 ff. (S. 424). 278 A.A. Spiro ZBJV 88 (1952), S. 449 ff. (S. 521). 279 Für Art. 163 Abs. 3 und 417 OR BK-Kramer Art. 21 OR Rn. 53 a.E., und Oftinger, in: Ausgewählte Schriften, S. 155 ff. (S. 157). 274
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Übervorteilung nicht zu berücksichtigen.280 Das Problem des hypothetischen Parteiwillens spricht somit nicht gegen eine Lösung über eine Rechtsanalogie. Eine weitere, auch vom Urteil auf S. 300 angesprochene Möglichkeit, den Willen des Wucherers nicht wesentlich werden zu lassen, besteht darin, den hypothetischen Parteiwillen als normatives Kriterium zu betrachten.281 Das bedeutet laut der Entscheidung, den Willen nicht nach den subjektiven Vorstellungen des Wucherers, sondern anhand eines an redliche Vertragspartner angelegten Maßstabes zu beurteilen. Dies führt jedoch dazu, den hypothetischen Parteiwillen zu verobjektivieren.282 Parteiwille aber kann immer nur das sein, was die Partei vermutlich gewollt hat, nicht das, was sie zu wollen gehabt hat. Greift man so auf einen objektiven Maßstab zurück, sollte man dies nicht unter Heranziehung des hypothetischen Parteiwillens tun, sondern, wie oben vorgeschlagen, direkt auf Art. 2 Abs. 1 ZGB zurückgreifen. Denn diese Vorschrift enthält den objektiven Maßstab, den die Entscheidung anwendet, nämlich die Regel, dass sich ein Vertragspartner redlich zu verhalten hat. Auf S. 299 führt die Entscheidung zudem ein systematisches Argument an. Die Vorschrift des Art. 21 OR markiere die Nahtstelle zwischen Art. 19 und 20 OR und der Regelung der Willensmängel in Art. 23 ff. OR. Da beide Nachbarbereiche der partiellen Unverbindlichkeit zugänglich seien, sei nicht einzusehen, warum Art. 21 OR von dieser Rechtsfolge ausgenommen sein solle. Dieses systematische Argument, das sich ausschließlich an der Stellung von Art. 21 OR im Gefüge des Obligationenrechts orientiert, ist zwar schwächer als die oben angeführte Analogie. Es enthält nicht die der Analogie immanente Wertung, dass der nichtgeregelte Tatbestand dem geregelten Tatbestand gleichwertig ist. Man kann es aber als ergänzendes Argument heranziehen.283 In der heutigen schweizerischen Literatur ist es praktisch unbestritten, dass im Rahmen des Art. 21 OR der Vertrag mit verminderter Leistungspflicht aufrechterhalten werden kann.284 Die überwiegende Meinung greift dazu auf eine Analogie zu Art. 20 Abs. 2 OR zurück.285
280 Schwenzer, OR AT, § 32 VI. 3. (Rn. 32.55) m.w.N.; BSK OR I-Huguenin/Meise Art. 21 Rn. 16 m.N. zum Streitstand; Honsell, in: Festschrift Giger, S. 287 ff. (S. 295); BK-Kramer Art. 21 OR Rn. 53; Oftinger, in: Ausgewählte Schriften, S. 155 ff. (S. 171); a.A. Spiro ZBJV 88 (1952), S. 449 ff. (S. 521 ff.). 281 Gauch/Schluep/Schmid/Emmenegger, OR AT I, § 7 I. 3. 2. (Rn. 754). 282 Dazu ausführlich oben B. II. 2. b). 283 A.A. Pichonnaz/Vogenauer AJP 1999, S. 417 ff. (S. 421). 284 Gauch/Schluep/Schmid/Emmenegger, OR AT I, § 7 I. 3. 2. (Rn. 755), und BK-Kramer Art. 21 OR Rn. 49 jeweils mit zahlreichen Nachweisen. 285 BK-Kramer Art. 21 OR Rn. 49 a.E.; Gauch/Schluep/Schmid/Emmenegger, OR AT I, § 7 I. 3. 2. (Rn. 754); Pichonnaz ZEuP 1999, S. 140 ff. (S. 156 u. 159); Gauch recht 1998, S. 55 ff. (S. 56 f.); Nachweise außerdem bei BSK OR I-Huguenin/Meise Art. 21 Rn. 16, und Honsell, in: Festschrift Giger, S. 287 ff. (S. 288 Fn. 1).
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dd) Ergebnis Die Bestimmung der Grenzen der Auslegung ist zutreffend, aber im vorliegenden Fall auch unproblematisch. Die Frage eines eventuellen qualifizierten Schweigens des Gesetzes wird ausführlich bearbeitet und ein solches wird mit überzeugender Argumentation abgelehnt. Die Lückenfüllung ist eine Mischung aus einem Gesetzgebervorgehen und der Ableitung der Lösung aus dem vorhandenen Gesetzesrecht über eine Analogie oder eine teleologische Reduktion und kann daher als Kombinationsbegründung bezeichnet werden. Die Vorschrift des Art. 1 ZGB wird jedoch bei der Lückenfüllung nicht erwähnt. Für ein Gesetzgebervorgehen sprechen die intensive Auseinandersetzung mit Rechtsprechung und Literatur sowie die Bestrebung, eine Lösung zu finden, die sich in das vorhandene System einpasst, anstatt dieselbe aus dem System abzuleiten. Die Aufzählung von Vorschriften, die eine Reduktion einer Leistungspflicht durch den Richter zulassen, erinnert demgegenüber an eine Rechtsanalogie. Die eigentliche Lösung soll aber über eine teleologische Reduktion des Art. 21 OR gefunden werden. Ergänzend enthält die Entscheidung ein zulässiges systematisches Argument. Für wenig Bewusstsein des Legitimitätsproblems spricht die Tatsache, dass es die Entscheidung zunächst offen lässt, welcher Begründung der Literatur der Vorzug zu geben ist, da diese sich zwar vom Ergebnis nicht, jedoch in der Legitimität ihrer Begründungen unterscheiden. Zudem greift die Entscheidung auf die Leerformeln der zeitgemäßen Rechtsüberzeugung bzw. des Zeitgeistes zurück. Insgesamt fehlt es der Entscheidung damit an Klarheit in der methodischen Vorgehensweise. Dies könnte eine Auswirkung der allgemein gehaltenen Formulierung von Art. 1 Abs. 2 ZGB sein, der den Richter nur zum Gesetzgebervorgehen ermächtigt und sonst keine methodische Anleitung zur Lückenfüllung enthält, insbesondere die Analogie nicht erwähnt. Positiv zu bemerken ist jedoch, dass die Entscheidung nicht einfach die Ansicht der herrschenden Literaturmeinung übernimmt, sondern noch einmal selbst begründet. Dabei enthält sie außerdem die im Rahmen einer Rechtsanalogie heranzuziehenden Vorschriften und damit die Grundlage einer gesetzesnahen rechtsfortbildenden Argumentation. Zusätzlich ist zu sagen, dass in einer ergänzenden Argumentation – ähnlich wie in den deutschen Entscheidungen zum Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter286 – die Tendenz besteht, den hypothetischen Parteiwillen zu verobjektivieren.
286 Vgl. die Analysen von RGZ 127, 218 [C. I. 5. a)] und BGHZ 56, 269 [C. I. 5. b)] jeweils unter bb).
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13. Sozialversicherungsrecht: Zugrunde zu legender Verdienst eines Schnupperlehrlings bei der Berechnung der Invalidenrente in der Unfallversicherung Die Entscheidung BGE 124 V 301 vom 30. Juni 1998 bestimmt den zugrunde zu legenden Verdient eines Schnupperlehrlings bei der Berechnung der Invalidenrente in der Unfallversicherung mit Hilfe einer Kombinationsbegründung unter Heranziehung von Art. 26 Abs. 1 IVV287. a) BGE 124 V 301 – Bestimmung des Verdienstes mit Hilfe einer Kombinationsbegründung unter Heranziehung von Art. 26 Abs. 1 IVV (Urteil vom 30. Juni 1998) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, welcher Verdienst der Berechnung einer Invalidenrente nach dem UVG288 zugrunde zu legen ist, wenn ein Schnupperlehrling während einer Schnupperlehre einen Unfall erleidet, der zu Invalidität289 führt. Eine Schnupperlehre ist eine kurze Tätigkeit bei einem Arbeitgeber, die der Abklärung der Berufswahl dient und bei der in der Regel ein Lohn weder vereinbart noch üblich ist.290 Schnupperlehrlinge sind nach heutigem Recht gem. Art. 1a Abs. 2 UVG i.V.m. Art. 1a Abs. 1 UVV291 obligatorisch in der Unfallversicherung versichert. Zur Zeit des Urteils waren sie es gem. Art. 1 UVG a.F.292 i.V.m. Art. 1 lit. a UVV a.F.293. Die Invalidenrente in der Unfallversicherung ist in Art. 18 ff. UVG geregelt. Sie wird gem. Art. 15 Abs. 1 und 2 UVG in Bezug auf den innerhalb eines Jahres vor dem Unfall bezogenen Lohn berechnet. Da Schnupperlehrlinge keinen Lohn beziehen, helfen diese Vorschriften jedoch nicht weiter. Die Vorschrift des 287
Verordnung über die Invalidenversicherung vom 17. Januar 1961 (AS 1961, 29), aktuelle Fassung abgedruckt in SR 831.201. 288 Bundesgesetz über die Unfallversicherung vom 20. März 1981 (AS 1982, 1676), aktuelle Fassung abgedruckt in SR 832.20. 289 Zur Definition von Invalidität vgl. die Analyse von BGE 119 V 250 [D. I. 10. a)] unter aa). 290 Das Urteil S. 303 f. 291 Verordnung über die Unfallversicherung vom 20. Dezember 1982 (AS 1983, 38), aktuelle Fassung abgedruckt in SR 832.202. 292 UVG vor der Änderung durch das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 (AS 2002, 3371). Die zur Zeit des Urteils gültige Fassung von Art. 1 UVG findet sich in AS 1982, 1676. 293 UVV vor der Änderung vom 15. Dezember 1997 (AS 1998, 151), die am 1. Januar 1998 in Kraft trat. Die auf den Sachverhalt des Urteils anwendbare Fassung von Art. 1 lit. a UVV findet sich in AS 1983, 38.
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Art. 15 Abs. 3 Satz 3 lit. c UVG ermächtigt sodann den Bundesrat, Bestimmungen über den versicherten Verdienst bei Versicherten, die nicht oder noch nicht den berufsüblichen Lohn erhalten, zu erlassen. Dies hat der Bundesrat mit Art. 24 Abs. 3 UVV bezüglich Personen, die sich in der beruflichen Ausbildung befinden, getan. Für Schnupperlehrlinge fehlt hingegen eine entsprechende Bestimmung.
bb) Grenzen der Auslegung Die Entscheidung arbeitet sehr genau die Grenzen der Auslegung heraus. Auf S. 305 f. wird zunächst die Anwendbarkeit von Art. 24 Abs. 3 UVV auf Schnupperlehrlinge überzeugend abgelehnt. Diese Vorschrift bestimmt, dass der Verdienst eines sich in der beruflichen Ausbildung befindlichen Versicherten von dem Zeitpunkt an, da er seine Ausbildung beendet hätte, nach dem Lohn festgesetzt wird, den er im Jahr vor dem Unfall als voll Leistungsfähiger erzielt hätte. Die Entscheidung verneint die Anwendung dieser Vorschrift auf Schnupperlehrlinge, da diese sich nicht in der beruflichen Ausbildung befänden. Die Schnupperlehre diene vielmehr der Vorbereitung auf die Berufswahl, was darin zum Ausdruck komme, dass Schüler regelmäßig in verschiedenen Berufen Schnupperlehren absolvierten, um einen Einblick in die Arbeitswelt zu gewinnen. Im Folgenden (S. 306 f.) wird sehr genau dargelegt, dass auch eine planwidrige Regelungslücke besteht, dass also das Schweigen des Gesetzgebers hinsichtlich des anrechenbaren Verdienstes bei Schnupperlehrlingen nicht bedeutet, dass überhaupt kein Verdienst anzurechnen ist. Es wird durch Auslegung ermittelt, ob das Gesetz eine negative Aussage dahingehend enthält, dass Schnupperlehrlingen kein Verdienst anzurechnen ist. Zunächst sagt die Entscheidung, dass Gesetz und Verordnung keine Anhaltspunkte dafür böten, dass Schnupperlehrlinge nur für Pflegeleistungen und Kostenvergütungen (Art. 10 bis 14 UVG) [und nicht für Geldleistungen wie die Invalidenrente; die Verf.] versichert sein sollten. Eine solche Beschränkung sei dem System des UVG fremd und habe weder in Gesetz und Verordnung noch in den Vorarbeiten dazu ihren Niederschlag gefunden. Das Bundesgericht schließt also mithilfe systematischer und historischer Argumente ein qualifiziertes Schweigen aus. Im Folgenden stellt die Entscheidung zudem fest, dass die Schnupperlehrlinge in den Vorarbeiten zur UVV mehrfach Erwähnung gefunden hätten und eine Gleichstellung mit den Lehrlingen angedacht worden sei. Warum diese letzten Endes wieder entfallen sei, sei nicht bekannt. Damit verbiete sich die Annahme, dass der Verordnungsgeber diesen Sachverhalt nicht als regelungswürdig erachtet habe. Durch ein weiteres historisches Argument stellt das Urteil also klar, dass der Gesetzgeber den Umgang mit Schnupperlehrlingen grundsätzlich regeln wollte und somit kein qualifiziertes Schweigen vorliegt. Ein weiteres systematisches Argument gegen ein qualifiziertes Schweigen führt die Entscheidung auf S. 307 an. Sie bezieht sich auf eine ständige Rechtsprechung
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des Bundesgerichts, nach der eine Lücke im Gesetz nur angenommen werden dürfe, wenn das Gesetz eine sich unvermeidlicherweise stellende Rechtsfrage nicht beantworte. Dies treffe hier zu, da der Verordnungsgeber den Schnupperlehrling hinsichtlich des obligatorischen Versicherungsschutzes Arbeitnehmern wie Lehrlingen, Praktikanten und Volontären gleichgestellt habe. Er habe es aber im Falle des Schnupperlehrlings unterlassen, eine Norm über den maßgebenden versicherten Verdienst zu schaffen. Eine Rechtsfrage stellt sich aber nur dann unvermeidlicherweise, wenn sich aus der Systematik des Gesetzes ergibt, dass sie beantwortet werden muss. Im vorliegenden Fall ergibt die Gleichstellung der Schnupperlehrlinge mit den anderen Versicherten, dass auch eine Regelung über den versicherten Verdienst für Schnupperlehrlinge getroffen werden muss. Ergibt die Systematik eines Gesetzes aber, dass eine bestimmte Rechtsfrage beantwortet werden muss, so liegt kein qualifiziertes Schweigen vor. Letztlich geht es bei dieser Argumentation also auch um den Ausschluss des qualifizierten Schweigens durch systematische Auslegung. cc) Lückenfüllung Die Entscheidung stellt auf S. 307 die Lücke fest und nimmt auf die Gesetzgebungslösung des Art. 1 ZGB Bezug, ohne aber Art. 1 ZGB zu erwähnen. Sie führt aus, diese echte Lücke habe das Gericht nach jener Regel zu schließen, welche es aufstellen würde, müsste es in diesem Punkt Verordnungsgeber sein. Um diesen Grundsatz zu untermauern wird eine Vorentscheidung zitiert. In diesem Fall müsste aber Art. 1 ZGB analog herangezogen werden, da dieser im öffentlichen Recht, zu dem das Sozialversicherungsrecht zählt, entsprechend anwendbar ist294. Zur Lückenfüllung wird auf S. 307 sodann eine Analogie zu Art. 24 Abs. 3 UVV angesprochen. Interessant ist, dass die Analogie geprüft wird, unmittelbar nachdem das Bundesgericht auf die Gesetzgebungslösung abgestellt hat. Sie scheint also als eine Methode, die im Rahmen der Gesetzgebungslösung angewandt wird, betrachtet zu werden. Damit wird die Gesetzgebungslösung durch eine gesetzesnahe Methode ausgestaltet. Außerdem wird die Analogie so nicht mehr zur Auslegung, sondern eindeutig zur Lückenfüllung gezählt. Die Argumentation, mit der die Analogie zu Art. 24 Abs. 3 UVV abgelehnt wird, ist auch überzeugend. Bei Lehrlingen sei es gerechtfertigt, auf den Verdienst einer voll leistungsfähigen Person mit dem entsprechenden Berufsabschluss abzustellen. Bei Schnupperlehrlingen hingegen sei der Beruf, in dem die Schnupperlehre absolviert wird, häufig nicht der Beruf, der später erlernt werde (S. 307 f.). Damit besteht keine mit einem normalen Lehrling vergleichbare Situation und die Analogie ist zu Recht abzulehnen. Auf S. 308 beantwortet die Entscheidung dann die Frage, welche Löhne bei der Rentenberechnung von Schnupperlehrlingen heranzuziehen sind. Und zwar sei, um 294
Dazu oben B. V. 2. e).
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eine „rechtsgleiche“ Behandlung der Schnupperlehrlinge zu gewährleisten, „zweckmäßigerweise“ auf Durchschnittslöhne abzustellen. Das Gebot der rechtsgleichen Behandlung aller Menschen ergibt sich aus Art. 8 Abs. 1 BV (im Zeitpunkt des Urteils aus Art. 4 Satz 1 aBV295). Diese Bestimmung bindet sowohl die rechtsanwendenden Behörden als auch den Gesetzgeber296 und muss somit auch für den rechtsschöpfenden Richter gelten. Rechtsgleiche Behandlung bedeutet, dass Personen, die sich mit Blick auf den rechtserheblichen Sachverhalt in einer vergleichbaren Situation befinden, grundsätzlich gleich behandelt werden müssen, es sei denn es liegen sachliche Gründe für die Ungleichbehandlung vor.297 Genau aus diesem Gleichheitssatz ergibt sich aber die Methode der Analogie.298 Eine Norm regelt einen bestimmten Sachverhalt und ein in Bezug auf den Regelungsaspekt der Norm gleich gelagerter Sachverhalt wird von deren Wortlaut nicht erfasst. Gleichbehandlung bedeutet in diesem Fall, dass die Norm auf den nicht geregelten aber vergleichbaren Sachverhalt analog angewandt wird. Die Entscheidung hat jedoch eine analoge Anwendung der Regeln für normale Lehrlinge auf Schnupperlehrlinge bereits abgelehnt mit dem Argument, dass eine vergleichbare Situation in Bezug auf den rechtserheblichen Sachverhalt nicht bestehe. Rechtserheblicher Sachverhalt ist hier die Frage, ob die Lehre oder Schnupperlehre darüber Aufschluss gibt, welcher Beruf später ergriffen worden wäre und welcher Verdienst dementsprechend einer Rentenberechnung zugrunde zu legen ist. Es ist also nicht ersichtlich, inwiefern bei Ablehnung der Analogie noch Raum für die Anwendung des Grundsatzes der Rechtsgleichheit bleibt. „Rechtsgleich“ kann hier demnach nur so verstanden werden, dass eine der Situation der Schnupperlehrlinge angemessene Lösung gefunden werden muss, die im Vergleich mit den anderen Versicherten und insbesondere den vollwertigen Lehrlingen als „gerecht“ empfunden wird. Die Benutzung des Wortes „rechtsgleich“ verdeckt also, dass der Richter wie ein Gesetzgeber selbst wertet und eine Lösung sucht, die ihm „gerecht“ erscheint. Auch die Benutzung des Wortes „zweckmäßigerweise“ zeigt, dass der Richter wie ein Gesetzgeber vorgeht. Der Richter stellt bei der normalen Rechtsanwendung Rechtmäßigkeitserwägungen an, Zweckmäßigkeitserwägungen sind dem Gesetzgeber vorbehalten. Bei der Heranziehung von Durchschnittslöhnen knüpft die Entscheidung sodann an Art. 26 Abs. 1 IVV an (S. 308). In Art. 26 Abs. 1 IVV ist das hypothetische Einkommen ohne Invalidität von Versicherten in der Invalidenversicherung geregelt, die aufgrund der Invalidität keine zureichenden beruflichen Kenntnisse erwerben konnten. Dieses hypothetische Einkommen wird in der Invalidenversicherung jedoch nicht zur Berechnung der Invalidenrente verwendet, sondern dient der Bemessung des Invaliditätsgrades und wird in diesem Zusammenhang als Valideneinkommen 295 296 297 298
Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874 (AS 1, 1). Kiener/Kälin, Grundrechte, § 34 III. 2. (S. 414). Kiener/Kälin, Grundrechte, § 34 III. 3. (S. 415). Kramer, Methodenlehre, III. 5. a) dd) (S. 207).
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bezeichnet299. Für die Bemessung der Invalidität ist nach Art. 28a Abs. 1 Satz 1 IVG300 Art. 16 ATSG301 anwendbar. Nach Art. 16 ATSG wird für die Bestimmung des Invaliditätsgrades das Erwerbseinkommen, das die versicherte Person nach Eintritt der Invalidität und nach Durchführung der medizinischen Behandlung und allfälliger Eingliederungsmaßnahmen durch eine ihr zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das sie erzielen könnte, wenn sie nicht invalid geworden wäre. Dieses letztere Einkommen wird in Art. 26 Abs. 1 IVV für Personen, die aufgrund der Invalidität keine zureichenden beruflichen Kenntnisse erwerben konnten, konkretisiert und entspricht nach dem Alter abgestuften Prozentsätzen der Durchschnittslöhne aller schweizerischen Arbeitnehmer. Die Entscheidung spricht nur davon, an Art. 26 Abs. 1 IVV „anzuknüpfen“. Fraglich ist aber, ob man Art. 26 Abs. 1 IVV nicht sogar analog anwenden könnte. Dagegen würde zunächst die oben erwähnte Tatsache sprechen, dass das in Art. 26 Abs. 1 IVV bestimmte Einkommen nicht der Rentenberechnung dient, sondern der Bemessung des Invaliditätsgrades. Die Frage ist jedoch, ob dies ein so wesentlicher Unterschied ist. Sowohl in Art. 26 Abs. 1 IVV als auch bei der Bestimmung des versicherten Verdienstes als Grundlage für die Rentenberechnung in der Unfallversicherung geht es darum, ein hypothetisches Einkommen zu bestimmen, das sich einem realistischen Verdienst so gut wie möglich annähert. Das in Art. 26 Abs. 1 IVV konkretisierte Valideneinkommen ist gem. Art. 16 ATSG dasjenige, das die Person ohne Invalidität hätte erzielen können, also ein hypothetisches Einkommen, das einem realistischen Verdienst entsprechen soll. Für die Unfallversicherung kann man denselben Gedanken aus Art. 24 Abs. 3 UVV ableiten. Dieser ist zwar – wie oben festgestellt – auf Schnupperlehrlinge weder direkt noch analog anwendbar. Er stellt aber für Versicherte, die sich in der Ausbildung befinden, auf den Lohn ab, den sie als voll Leistungsfähige erzielt hätten und enthält somit den Gedanken, dass der versicherte Verdienst einem realistischen Verdienst ohne Invalidität entsprechen muss. Wenn dieser Gedanke für Auszubildende gilt, muss er auch für Schnupperlehrlinge gelten, die ebenfalls noch nicht den berufsüblichen Lohn erhalten. Da somit bei Art. 26 Abs. 1 IVV und hinsichtlich der Rentenberechnung in der Unfallversicherung eine Ähnlichkeit bei der Bestimmung des versicherten Verdienstes besteht, ist es nicht von Bedeutung, wofür der Verdienst die Grundlage darstellt. Dass das in Art. 26 Abs. 1 IVV bestimmte Einkommen der Bestimmung des Invaliditätsgrades dient, steht also einer Analogie nicht entgegen.
299 Scartazzini/Hürzeler, Bundessozialversicherungsrecht, § 13 D. II. 3. c) Rn. 23 (S. 188); Landolt SZS 2004, S. 228 ff. (S. 249). 300 Bundesgesetz über die Invalidenversicherung vom 19. Juni 1959 (AS 1959, 827), aktuelle Fassung abgedruckt in SR 831.20. 301 Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000 (AS 2002, 3371), aktuelle Fassung abgedruckt in SR 830.1.
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Für die Analogie spricht weiterhin, dass Schnupperlehrlinge der Personengruppe zugeordnet werden können, die in Art. 26 Abs. 1 IVV angesprochen wird. In Art. 26 Abs. 1 IVV geht es um Personen, die wegen der Invalidität keine zureichenden Kenntnisse erlangen konnten. Schnupperlehrlinge sind Personen, die sich noch vor einer eigentlichen Ausbildung befinden und deren Invalidität die Berufsausbildung verhindert. Insgesamt lässt sich also sagen, dass eine analoge Anwendung von Art. 26 Abs. 1 IVV möglich gewesen wäre. Auf S. 308 f. erwähnt die Entscheidung zusätzlich ein systematisches Argument, indem sie auf Art. 26 Abs. 5 UVV in der zur Zeit des Urteils gültigen Fassung302 abstellt. Die Vorschrift des Art. 26 Abs. 5 UVV a.F. bestimmte, dass der versicherte Verdienst eines Invaliden auf das Einkommen nach Art. 26 Abs. 1 IVV erhöht wird, wenn er erheblich vom Lohn eines gesundes Versicherten abweicht. Die Norm ist auf den Schnupperlehrling nicht anwendbar, da sie voraussetzt, dass man überhaupt schon einmal einen versicherten Verdienst hat ermitteln können. Sie zeigt aber, dass man Art. 26 Abs. 1 IVV im System der Unfallversicherung anwenden kann und kann so als unterstützendes Argument zur analogen Anwendung von Art. 26 Abs. 1 IVV gesehen werden. Die Entscheidung sagt dementsprechend auf S. 308, dass der Tabellenlohn gem. Art. 26 Abs. 1 IVV als Referenzgröße der Unfallversicherung im Rahmen der Festsetzung des versicherten Verdienstes nicht fremd sei. dd) Ergebnis Die Entscheidung bestimmt sehr genau die Grenzen der Auslegung. Sie legt insbesondere mit Hilfe systematischer und historischer Argumente dar, dass kein qualifiziertes Schweigen vorliegt und somit eine planwidrige Regelungslücke besteht. Nach der Feststellung der Lücke nennt die Entscheidung sodann die Gesetzgebungslösung des Art. 1 ZGB als Methode der Lückenfüllung und zitiert zur Begründung eine Vorentscheidung. Die Vorschrift selbst erwähnt sie jedoch nicht und setzt sich auch nicht mit der Frage der analogen Anwendbarkeit von Art. 1 ZGB im öffentlichen Recht auseinander. Im Rahmen der Lückenfüllung wird zunächst eine Analogie geprüft und abgelehnt. Da die Analogie unmittelbar nach dem Erwähnen der Gesetzgebungslösung genannt wird, wird sie als Methode verstanden, die im Rahmen der Gesetzgebungslösung zur Anwendung kommen kann. Damit wird die Gesetzgebungslösung durch eine gesetzesnahe Methode ausgestaltet. Die eigentliche Lückenfüllung erfolgt im Gesetzgebervorgehen durch eine eigene, auch von Zweckmäßigkeitserwägungen geleitete Wertung des Richters. In 302 Art. 24 Abs. 5 der Verordnung über die Unfallversicherung vom 20. Dezember 1982 in der bis zum 31. Dezember 1997 gültigen Fassung abgedruckt in AS 1983, 38 (46); aufgehoben ab 1. Januar 1998 durch Verordnung vom 15. Dezember 1997 [AS 1998, 151 (154)].
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diesem Zusammenhang wird außerdem an Art. 26 Abs. 1 IVV „angeknüpft“ und damit eine Analogie angedeutet. Im Ergebnis kann man daher von einer Kombinationsbegründung sprechen. Durch die Benutzung des Wortes „rechtsgleich“ versucht die Entscheidung zudem, den Anschein einer rechtlich legitimierten Begründung zu erwecken. Das Bundesgericht möchte hier im Rahmen des Gesetzgebervorgehens eine gewisse Legitimität erreichen. Im Ergebnis wäre eine Lösung über eine analoge Anwendung des Art. 26 Abs. 1 IVV möglich gewesen. Da die Entscheidung nur davon spricht, an diese Norm „anzuknüpfen“, fehlt jedoch ein unter dem Legitimitätsaspekt wichtiges klares Bekenntnis zur Analogie. Um ein solches generell zu fördern, könnte man die Analogie als primäre Lückenfüllungsmethode in Art. 1 ZGB aufnehmen. Da die Entscheidung ihre Lösung aber auf die entscheidende Norm des Art. 26 Abs. 1 IVV stützt und hinsichtlich der Herausarbeitung der Lücke besonders sorgfältig vorgeht, ist sie methodisch fast perfekt. In der Literatur wird zum Teil lediglich das vorliegende Urteil wiedergegeben303, es gibt eine ausdrücklich zustimmende Meinung304 und eine Meinung, die eher Art. 115 Abs. 1 lit. b UVV anwenden möchte305.
14. Schuldbetreibungsrecht: Zeitpunkt der Geltung der alten oder neuen Privilegienordnung des Art. 219 SchKG306 im Rahmen des Nachlassverfahrens nach dem SchKG Die Entscheidung BGE 125 III 154 vom 15. Dezember 1998 legt für die Geltung der alten oder neuen Privilegienordnung des Art. 219 SchKG mit Hilfe von Analogie den Zeitpunkt der Bewilligung der Nachlassstundung fest.
303 Kieser/Landolt, Unfall – Haftung – Versicherung, § 14 II. A. 2. (Rn. 1125); Landolt SZS 2004, S. 228 ff. (S. 251). 304 Ottiger, in: Sozialversicherungsrechtstagung 2002, S. 65 ff. (S. 76). 305 Frésard/Moser-Szeless, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht, Bd. 14, Soziale Sicherheit (3. Aufl. 2016), F § 1 I. (Rn. 8 Fn. 12). 306 Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs vom 11. April 1889 (AS 11, 529), aktuelle Fassung abgedruckt in SR 281.1. Das Schuldbetreibungsrecht ist ein selbständiger Teil des schweizerischen Zwangsvollstreckungsrechts zur Vollstreckung von Geldforderungen. Zur weiteren Erklärung s. Amonn/Walther, Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, § 1 III. Rn. 12 ff. (S. 3 ff.), und BSK SchKG I-Acocella Art. 38 Rn. 4 ff.
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a) BGE 125 III 154 – Festlegen des Zeitpunktes der Bewilligung der Nachlassstundung mit Hilfe von Analogie (Urteil vom 15. Dezember 1998) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, ob die alte oder die neue Fassung des Art. 219 SchKG307 auf die Forderung einer Gläubigerin im Rahmen eines Nachlassverfahrens308 anzuwenden war. Dies war deswegen von Bedeutung, weil die verschiedenen Fassungen des Art. 219 SchKG die Rangordnung der Gläubiger (Privilegienordnung) im Rahmen des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs verschieden regelten. Welche Fassung anwendbar war, hing davon ab, auf welchen Zeitpunkt für die Geltung des neuen Art. 219 SchKG abzustellen war. Infrage kamen dafür der Zeitpunkt der Bewilligung der Nachlassstundung309 sowie der Zeitpunkt der Genehmigung des Nachlassvertrages310. Im vorliegenden Fall lag die Bewilligung der Nachlassstundung vor dem Inkrafttreten der neuen Regelung am 1. Januar 1997, die Genehmigung des Nachlassvertrages lag jedoch danach. Nach der alten Fassung des Art. 219 SchKG wäre der Anspruch der Gläubigerin in der zweiten Klasse und damit privilegiert zu kollozieren311 gewesen, nach der neuen Fassung jedoch nur in der dritten, nicht privilegierten Klasse.312 Hinsichtlich des Konkurses und der Pfändung enthielt das Bundesgesetz vom 16. Dezember 1994313, in dem Art. 219 SchKG geändert wurde, mit Art. 2 Abs. 3 der 307 Alte Fassung geändert durch Bundesgesetz vom 16. Dezember 1994, für das Urteil neue Fassung in Kraft seit 1. Januar 1997 [AS 1995, 1227 (1275 f.)]. Heute gilt die Fassung des Bundesgesetzes vom 21. Juni 2013, in Kraft getreten am 1. Januar 2014 (AS 2013, 4111). 308 Sanierungsverfahren im Rahmen des SchKG (Art. 293 – 336), bei dem die Gläubiger dem Schuldner einen Teil ihrer Forderungen erlassen (nachlassen), vgl. Amonn/Walther, Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, § 53 I. Rn. 1 f. (S. 515), BSK SchKG II-Vollmar Art. 293 Rn. 1 ff., und BSK SchKG II-Hardmeier Art. 305 Rn. 4. 309 Führt zu einem Waffenstillstand zwischen Schuldner und Gläubigern bis ein Nachlassvertrag zustande gekommen ist (Art. 297 ff. SchKG), vgl. Amonn/Walther Schuldbetreibungs- und Konkursrecht § 54 III. 2. Rn. 27 ff. (S. 527 ff.), Spühler/Dolge, Schuldbetreibungsund Konkursrecht II, § 23 II (Rn. 407), Kren Kostkiewicz, Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, § 11 III. C. 8.1 (Rn. 1707), und BSK SchKG II-Vollmar Art. 297 Rn. 1. 310 Im Nachlassvertrag verzichten die Gläubiger gegenüber dem Schuldner auf einen Teil ihrer Ansprüche, vgl. BSK SchKG II-Hardmeier Art. 305 Rn. 4, und Amonn/Walther, Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, § 53 III. 1. Rn. 9 (S. 517). 311 Einordnen der Gläubiger in eine bestimmte Klasse der Rangfolge, vgl. BSK SchKG II (1. Aufl. 1998)-Peter Art. 219 Rn. 4. 312 Im Rahmen des Art. 219 IV SchKG sind die ersten zwei Klassen voreinander privilegiert und die dritte Klasse umfasst die nicht privilegierten Forderungen, vgl. Amonn/Walther, Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, § 42 IV. 3. A. Rn. 64 (S. 398). 313 s. o. Fn. 307.
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Schlussbestimmungen eine Übergangsbestimmung. Danach sollte für das Konkursverfahren die Konkurseröffnung und für die Pfändung deren Vollzug den maßgeblichen Zeitpunkt für die Anwendung des alten oder neuen Rechts im Rahmen der Privilegien darstellen. Das Nachlassverfahren wurde in der Übergangsbestimmung nicht erwähnt. bb) Grenzen der Auslegung Die Entscheidung stellt auf S. 156 ausdrücklich fest, dass in Bezug auf eine Übergangsbestimmung zur Anwendung der alten oder neuen Privilegienordnung im Nachlassverfahren eine Gesetzeslücke besteht. Sie verweist dazu auf eine Vorentscheidung, die eine Lückendefinition enthält.314 Die Vorentscheidung orientiert sich für ihre Lückendefinition aber auch nur an Art. 1 Abs. 1 ZGB. Die vorliegende Entscheidung hätte daher auch direkt auf diese Vorschrift verweisen können. Im Folgenden nennt sie zwar diese Regelung weiterhin nicht, bezieht sich aber auf ihren Inhalt, indem sie sagt, dass eine das Nachlassverfahren umfassende Regelung dem Gesetz weder nach seinem Wortlaut noch nach dem durch Auslegung zu ermittelnden Inhalt zu entnehmen sei. Die Bestimmung der Grenzen der Auslegung ist damit zutreffend und in ihrer Kürze auch ausreichend, da die in Frage kommende Übergangsbestimmung keine Regelung zum Nachlassverfahren enthält. Bevor sie die Grenzen der Auslegung feststellt, führt die Entscheidung jedoch Argumente an, die der Feststellung der Planwidrigkeit der Lücke zuzuordnen sind. Sie sagt, die Frage nach der Geltung der alten oder neuen Privilegienordnung bedürfe auch im Nachlassverfahren notwendigerweise einer Regelung. Eine erschöpfende Ordnung könne in der Übergangsbestimmung nicht erblickt werden. In diesem Sinne hätte die Entscheidung ausführlicher argumentieren können, dass das Verfahren des Nachlassvertrages mit Vermögensabtretung315, um das es im vorliegenden Fall geht, ebenfalls eine Einordnung der Gläubiger in eine bestimmte Klasse der Rangfolge und somit eine diesbezügliche Übergangsbestimmung erfordert. Die Kollokation im Rahmen des Nachlassvertrages mit Vermögensabtretung regelt Art. 321 SchKG und verweist dabei in seinem Absatz 2 unter anderem auf Art. 247 SchKG, der in seinem Absatz 1 wiederum auf die Regelung der Rangordnung der Gläubiger in Art. 219 SchKG verweist. Die Frage der Anwendbarkeit der neuen oder alten Fassung des Art. 219 SchKG stellt sich also auch beim Nachlassverfahren zwingend. Folglich ist eine planwidrige Regelungslücke zu bejahen. Die Argumentation der Entscheidung ist somit zwar knapp, aber zutreffend.
314
BGE 121 III 219 (225 a.E.). Auch Liquidationsvergleich genannt: das Schuldnervermögen wird zwecks Gläubigerbefriedigung liquidiert (Art. 317 – 331 SchKG), vgl. Amonn/Walther, Schuldbetreibungsund Konkursrecht, § 55 IV. Rn. 21 ff. (S. 549 ff.), und Spühler/Dolge, Schuldbetreibungs- und Konkursrecht II, § 24 III. (Rn. 442 ff.). 315
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Methodisch genauer wäre es jedoch gewesen, wenn das Bundesgericht zuerst die Grenzen der Auslegung festgestellt und dann die Frage der Planwidrigkeit der Lücke geklärt hätte. cc) Lückenfüllung Die Entscheidung beginnt die Lückenfüllung auf S. 156 mit der Aussage, die vorhandene Gesetzeslücke sei vom Richter in der Art des Gesetzgebers nach allgemeinen Rechtsprinzipien zu füllen. Hinter dieser Aussage folgt ein Klammerzusatz, der Art. 1 Abs. 2 und Abs. 3 ZGB enthält. Die Entscheidung bezieht sich also ausdrücklich auf Art. 1 ZGB. Fraglich ist jedoch, wie die Bezugnahme auf „allgemeine Rechtsprinzipien“ zu verstehen ist. Da sich die Aussage „in der Art des Gesetzgebers“ nur auf Art. 1 Abs. 2 ZGB beziehen kann, liegt es nahe, die „allgemeinen Rechtsprinzipien“ mit dem ebenfalls erwähnten Art. 1 Abs. 3 ZGB in Zusammenhang zu bringen. Dort geht es jedoch nicht um „allgemeine Rechtsprinzipien“, sondern um die „bewährte Lehre und Überlieferung“. Damit sind die Rechtswissenschaft und die Rechtsprechung gemeint.316 Diese stellen keine Rechtsquellen dar und sind daher keine Methoden einer am Legitimitätsgedanken orientierten Lückenfüllung, sondern nur Hilfsmittel derselben.317 Auch die Gesetzgebungslösung des Art. 1 Abs. 2 ZGB orientiert sich nicht am Legitimitätsprinzip bei der Lückenfüllung, da sie dem Richter ein freies Vorgehen erlaubt, das sich aus außerrechtlichen Argumenten speist.318 Rechtsprinzipien hingegen ergeben sich aus Verfassungsbestimmungen oder einfachgesetzlichen Generalklauseln bzw. werden aus einfachgesetzlichen Normen per Analogie gewonnen.319 Dabei handelt es sich also um Gesetzesanwendung oder gesetzesnahe und damit dem Legitimitätsprinzip entsprechende Lückenfüllung über eine Analogie.320 Die Entscheidung fügt der Vorschrift des Art. 1 ZGB also eine gesetzesnahe Lückenfüllungsmethode hinzu. Das spricht für einen gewissen Wunsch des Richters, die Lückenfüllungsmethode des Art. 1 ZGB näher zu spezifizieren und zwar so, dass eine dem Legitimitätsgedanken entsprechende Begründung über gesetzesnahe Erwägungen möglich ist. Auch die weiteren Ausführungen der Entscheidung zur Lückenfüllung weisen in diese Richtung. Auf S. 156 f. sagt sie, da die zu findende Norm den Charakter einer allgemein gültigen Regel tragen und sich in das Gesetz möglichst nahtlos einfügen solle, sei von analogen, gesetzlich bereits geregelten Tatbeständen auszugehen. Dass 316 317 318 319 320
Dazu oben B. V. 2. d). s. o. Dazu oben B. V. 2. c) bb) (2). Dazu oben B. III. 2. a) cc). s. o.
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die zu findende Regelung allgemeingültig ist und sich in das bestehende Recht einfügt, ist eine Forderung, die an den Gesetzgeber und damit an die Gesetzgebungslösung des Art. 1 Abs. 2 ZGB zu stellen ist.321 Schließt die Entscheidung aus dem Sich-Einfügen auf die Notwendigkeit von Analogie, hat sie also die Analogie aus der Gesetzgebungslösung abgeleitet. Die Gesetzgebungslösung ist jedoch deswegen nicht mit der Anwendung von Analogie gleichzusetzen, weil nicht alle Regeln, die sich einfügen, zwingend aus Analogie hergeleitet worden sein müssen.322 Dass die Entscheidung dennoch auf die Analogie abstellt, zeigt den Wunsch nach einer konkreteren Methode der Rechtsfortbildung, als sie die Gesetzgebungslösung beinhaltet, und nach einer gesetzesnahen Vorgehensweise. Die sodann auf S. 157 f. vorgenommene Analogie zu den Regelungen über den Konkurs und die Pfändung in Art. 2 Abs. 3 der Schlussbestimmungen des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 1994 ist überzeugend. Diese Vorschrift regelt, dass die im bisherigen Recht enthaltenen Privilegien (Art. 146 und 219 SchKG) weitergelten, wenn vor dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 1994 der Konkurs eröffnet oder die Pfändung vollzogen worden ist. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Geltung des alten bzw. des neuen Rechts sind also Konkurseröffnung und Pfändungsvollzug. Wenn man diese Vorschrift analog auf das Nachlassverfahren anwenden will, muss man sich fragen, welcher Zeitpunkt im Nachlassverfahren der Konkurseröffnung und dem Pfändungsvollzug entspricht. Dies tut die Entscheidung auf S. 157 f., indem sie die entsprechenden Normen für Konkurs, Pfändung und Nachlassverfahren aufzählt und schließlich in überzeugender Weise zu dem Ergebnis kommt, dass die Bewilligung der Nachlassstundung gleichartige Wirkungen wie Konkurseröffnung und Pfändungsvollzug hat. Die Gleichartigkeit liegt zunächst darin, dass ab dem Zeitpunkt der Konkurseröffnung, des Pfändungsvollzuges und der Bewilligung der Nachlassstundung die Verfügungsgewalt des Schuldners über sein Vermögen aufgehoben bzw. eingeschränkt ist. Gemäß Art. 197 SchKG bildet sämtliches pfändbare Vermögen des Schuldners mit Konkurseröffnung die Konkursmasse, über die der Schuldner gem. Art. 204 Abs. 1 SchKG keine Verfügungsgewalt mehr hat. Gemäß Art. 96 Abs. 1 SchKG gilt entsprechend für die Pfändung, dass der Schuldner über gepfändete Gegenstände nicht mehr verfügen darf. Für das Nachlassverfahren gilt hingegen, dass ab der Bewilligung der Nachlassstundung das Verfügungsrecht des Schuldners über sein Vermögen nur eingeschränkt, nicht aber völlig aufgehoben ist.323 Der Schuldner hat zunächst noch die Eigenverwaltung über sein Vermögen.324 Da dies so ist und es auch noch keine 321
s. o. B. V. 2. c) bb) (1). Ausführlicher dazu oben B. V. 2. c) bb) (1). 323 Amonn/Walther, Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, § 54 III. 2. g) Rn. 37 (S. 530). 324 Amonn/Walther, Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, § 54 III. 2. g) Rn. 38 (S. 531); BSK SchKG II-Vollmar Art. 298 Rn. 3; Kren Kostkiewicz, Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, § 11 III. C. 8.4.1 (Rn. 1730). 322
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Vollstreckungsmasse gibt, die dazu bestimmt ist, planmäßig unter den Gläubigern verteilt zu werden, könnte man zu dem Ergebnis kommen, dass die Bewilligung der Nachlassstundung nicht mit der Konkurseröffnung vergleichbar ist.325 Dagegen spricht jedoch, dass die Verfügungsgewalt des Schuldners ab Bewilligung der Nachlassstundung in entscheidendem Maße eingeschränkt ist. Mit Bewilligung der Nachlassstundung ernennt der Nachlassrichter gem. Art. 295 Abs. 1 Satz 1 SchKG a.F.326 einen Sachwalter. Der Schuldner kann seine Geschäftstätigkeit gem. Art. 298 Abs. 1 Satz 1 SchKG a.F. nur unter Aufsicht des Sachwalters fortsetzen. Außerdem kann der Nachlassrichter gem. Art. 298 Abs. 1 Satz 2 SchKG a.F. anordnen, dass gewisse Handlungen rechtsgültig nur unter Mitwirkung des Sachwalters vorgenommen werden können, oder den Sachwalter ermächtigen, die Geschäftsführung anstelle des Schuldners zu übernehmen. Selbst wenn Letzteres nicht geschieht, bedeutet eine Geschäftsführung unter Aufsicht des Sachwalters, dass dieser ein Weisungsrecht gegenüber dem Schuldner hat.327 Dies ergibt sich aus Art. 298 Abs. 3 Satz 1 SchKG a.F. Diese Vorschrift regelt, dass der Nachlassrichter auf Anzeige des Sachwalters dem Schuldner die Verfügungsbefugnis über sein Vermögen entziehen oder die Nachlassstundung widerrufen kann, sofern der Schuldner den Weisungen des Sachwalters zuwiderhandelt. Eine weitere Einschränkung der Verfügungsgewalt des Schuldners ergibt sich zudem aus Art. 298 Abs. 2 SchKG a.F. Diese Vorschrift besagt, dass ohne Ermächtigung des Nachlassrichters während der Stundung nicht mehr in rechtsgültiger Weise Teile des Anlagevermögens veräußert oder belastet, Pfänder bestellt, Bürgschaften eingegangen oder unentgeltliche Verfügungen getroffen werden können. Diese gesamten Einschränkungen der Verfügungsgewalt des Schuldners sprechen dafür, die Bewilligung der Nachlassstundung mit der Konkurseröffnung und dem Pfändungsvollzug zu vergleichen. Zudem gibt es weitere Ähnlichkeiten mit dem Konkursverfahren. Für dieses gilt, dass gem. Art. 206 Abs. 1 SchKG ab der Konkurseröffnung alle gegen den Schuldner hängigen Betreibungen328 aufgehoben sind und neue Betreibungen nicht eingeleitet werden können. Gemäß Art. 209 Abs. 1 SchKG hört der Zinsenlauf gegen den Schuldner auf und gem. Art. 213 SchKG ist im Konkurs die Verrechnung329 von Forderungen teilweise ausgeschlossen. Für das Nachlassverfahren gilt entsprechend 325 So Gasser ZBJV 137 (2001), S. 325 f. (S. 326), stimmt im Ergebnis aber dem vorliegenden Urteil zu. 326 Revision des Sanierungsrechts durch Bundesgesetz vom 21. Juni 2013, in Kraft seit 1. Januar 2014 (AS 2013, 4111). Die zur Zeit des Urteils gültigen Vorschriften des alten SchKG zur Nachlasstundung finden sich in AS 1995, 1227 (1290 ff.). Zur neuen Rechtslage hinsichtlich der Wirkungen der Nachlassstundung bereits Spühler/Dolge, Schuldbetreibungs- und Konkursrecht II, § 23 II. (Rn. 405); neue Rechtslage zum Nachlassvertrag auch bereits eingearbeitet in Amonn/Walther, Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, §§ 53 ff. (S. 515 ff.). 327 Amonn/Walther, Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, § 54 III. 1. b) Rn. 23 (S. 526) und § 54 III. 2. g) Rn. 44 (S. 533) und Rn. 48 (S. 534); BSK SchKG II-Vollmar Art. 298 Rn. 4 f. und 16. 328 Vollstreckungen zur Eintreibung von Geldforderungen nach dem SchKG. 329 Dt. Recht: Aufrechnung.
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gem. Art. 297 Abs. 1 SchKG a.F., dass während der Nachlassstundung eine Betreibung gegen den Schuldner weder eingeleitet noch fortgesetzt werden kann. Weiterhin hört gem. Art. 297 Abs. 3 SchKG a.F. der Zinsenlauf gegen den Schuldner auf und für die Verrechnung verweist Art. 297 Abs. 4 SchKG a.F. auf die Art. 213, 214 SchKG zum Konkursrecht. Damit sind die Wirkungen der Bewilligung der Nachlassstundung und der Konkurseröffnung vergleichbar.330 Die individuelle Weiterverfolgung von Gläubigeransprüchen oder die Veränderung der Verhältnisse unter den Gläubigern soll ausgeschlossen werden.331 Dieses Argument führt die Entscheidung auf S. 158 an. Ein weiteres Argument zur Vergleichbarkeit von Bewilligung der Nachlassstundung und Konkurseröffnung bzw. Pfändungsvollzug nennt die Entscheidung ebenfalls auf S. 158. In Art. 331 Abs. 2 SchKG a.F. sei für die Berechnung der Frist zur Anfechtung von Rechtshandlungen nach den Art. 285 ff. SchKG anstelle der Konkurseröffnung oder der Pfändung die Bewilligung der Nachlassstundung maßgeblich. Es gibt also bereits eine Vorschrift, in der diese drei Tatbestände gleichgesetzt werden. Auf S. 158 nennt die Entscheidung zudem noch zwei systematische Argumente. Die Vorschrift des Art. 305 Abs. 1 SchKG a.F. legt für die Annahme des Nachlassvertrages ein bestimmtes Quorum der Gläubiger fest. Der zweite Absatz dieser Vorschrift nimmt die privilegierten332 Gläubiger von diesem Quorum aus. Damit man weiß, welche Gläubiger ausgenommen sind, muss man aber bereits vor der Bestätigung des Nachlassvertrages, also seit Bewilligung der Nachlassstundung, Kenntnis der Privilegierungen haben. Gleiches gilt für Art. 306 Abs. 2 Ziff. 2 SchKG a.F. Hier wird die Bestätigung des Nachlassvertrages an die Voraussetzung geknüpft, dass die vollständige Befriedigung der privilegierten Gläubiger hinreichend sichergestellt ist. Auch in diesem Fall muss man vor der Bewilligung des Nachlassvertrages wissen, wer privilegiert ist. Diese systematischen Argumente sprechen dafür, den Zeitpunkt der Bewilligung der Nachlassstundung für die Geltung der alten bzw. neuen Privilegienordnung maßgeblich sein zu lassen. Die Entscheidung kommt also auf S. 158 in überzeugender Weise zu dem Ergebnis, dass nur der Zeitpunkt der Bewilligung der Nachlassstundung für die Anwendung der bisherigen oder neuen Privilegienordnung maßgeblich sein kann.333 Sie geht jedoch entgegen ihrer Ankündigung auf S. 156 f. nicht ausdrücklich über eine Analogie zu Art. 2 Abs. 3 der Schlussbestimmungen des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 1994 vor, sondern spricht von einer einheitlichen, logischen, in sich widerspruchsfreien und systemgerechten Lösung. Sie konzentriert sich also im Sinne 330
BSK SchKG II-Vollmar Art. 297 Rn. 1; Spühler/Dolge, Schuldbetreibungs- und Konkursrecht II, § 23 II. (Rn. 404), 331 BSK SchKG II-Vollmar Art. 297 Rn. 1. 332 s. o. Fn. 312. 333 A.A. Lorandi/Schwander AJP 1996, S. 1464 ff. (S. 1466), und BSK SchKG II-Staehelin Art. 2 SchlB der Änderung vom 16. Dez. 1994 Rn. 6.
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D. Rechtsfortbildung in der Schweiz
der Gesetzgebungslösung mehr darauf, dass sich die gefundene Lösung in das vorhandene System einfügt als darauf, sie aus dem vorhandenen Gesetzesrecht abzuleiten. Auf S. 159 sagt sie allerdings noch einmal, es dränge sich auf, als analoges Stichdatum zur Konkurseröffnung dasjenige der Bewilligung der Nachlassstundung heranzuziehen. Damit geht die Entscheidung im Ergebnis über eine Analogie vor, auch wenn sie es deutlicher hätte herausstellen können. Die Vorschrift des Art. 219 SchKG ist in den Jahren 2000334 und 2010335 wieder geändert worden und in den entsprechenden Schlussbestimmungen336 ist als maßgeblicher Zeitpunkt für die Geltung der alten oder neuen Privilegienordnung neben der Konkurseröffnung und dem Pfändungsvollzug die Bewilligung der Nachlassstundung aufgenommen worden. Die aktuelle Revision des Sanierungsrechts337, die auch eine Änderung von Art. 219 SchKG beinhaltet, stellt für die Geltung des alten oder des neuen Rechts hinsichtlich des Nachlassverfahrens sogar auf den Zeitpunkt der Einreichung des Gesuchs um Nachlassstundung ab.338 dd) Ergebnis Die Entscheidung zieht die Grenzen der Auslegung zutreffend, was im vorliegenden Fall aber auch nicht problematisch ist. Methodisch genauer wäre es gewesen, wenn das Bundesgericht die Frage der Planwidrigkeit der Lücke nach der Bestimmung der Grenzen der Auslegung geklärt hätte. Bei der Lückenfüllung geht die Entscheidung ausdrücklich auf Art. 1 ZGB ein. Sie konkretisiert diese Vorschrift aber durch gesetzesnahe Lückenfüllungsmethoden, nämlich durch allgemeine Rechtsprinzipien und Analogie. Dies spricht für einen Wunsch des Richters, konkretere Methoden zur Lückenfüllung zur Verfügung zu haben, als sie die Gesetzgebungslösung beinhaltet, und die Lücke in gesetzesnaher Weise zu füllen. Auf die „allgemeinen Rechtsprinzipien“ geht die Entscheidung später nicht mehr ein. Man kann also davon ausgehen, dass es sich dabei um eine Leerformel handelt, die den Wunsch nach rechtlich legitimierter Rechtsfortbildung ausdrückt. Die eigentliche Lückenfüllung erfolgt im Rahmen einer überzeugenden Analogie, ergänzt durch zwei systematische Argumente. Dabei stellt die Entscheidung zwar das Sich-Einfügen der zu findenden Regel in das vorhandene System in den Vordergrund und macht nicht ganz deutlich, dass sich die Lösung aus dem
334
2531). 335
Durch Bundesgesetz vom 26. März 2000, in Kraft getreten am 1. Januar 2001 (AS 2000,
Durch Bundesgesetz vom 18. Juni 2010, in Kraft getreten am 1. Dezember 2010 (AS 2010, 4921). 336 Art. 1 der Schlussbestimmung des Bundesgesetzes vom 26. März 2000 [AS 2000, 2531 (2532)] und Übergangsbestimmung der Änderung vom 18. Juni 2010 [AS 2012, 4921 (4922)]. 337 s. o. Fn. 307 a.E. 338 Übergangsbestimmung der Änderung vom 21. Juni 2013 [AS 2013, 4111 (4122)].
I. Urteilsanalysen Schweiz
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vorhandenen Recht ableitet. Im Ergebnis handelt es sich aber um eine gesetzesnahe Lückenfüllung über eine Analogie.
15. Frage nach der Geltung der nationalen oder der internationalen Erschöpfung im Patentrecht Die Entscheidung BGE 126 III 129 vom 7. Dezember 1999 entscheidet sich für die Geltung der nationalen Erschöpfung im schweizerischen Patentrecht. Sie geht dazu über eine Kombinationsbegründung vor, die ein ausführliches Gesetzgebervorgehen enthält. a) BGE 126 III 129 – Entscheidung für die nationale Erschöpfung über eine Kombinationsbegründung mit ausführlichem Gesetzgebervorgehen (Urteil vom 7. Dezember 1999) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, ob im schweizerischen Patentrecht der Grundsatz der nationalen oder der internationalen Erschöpfung gelten soll. Erschöpfung im Patentrecht bedeutet, dass die durch das Patentrecht vermittelten Befugnisse für einen Gegenstand verbraucht, konsumiert oder erschöpft werden, wenn die am Patent berechtigte Person eine patentgeschützte Sache veräußert oder wenn die Sache mit ihrem Einverständnis in Verkehr gesetzt wird.339 Der Patentinhaber kann dann gestützt auf sein Patent auf den weiteren Vertrieb der Ware keinen Einfluss mehr nehmen.340 Internationale Erschöpfung meint, dass die Befugnisse aus dem schweizerischen Patent ebenfalls erschöpft werden, wenn die Waren vom schweizerischen Patentinhaber oder mit dessen Zustimmung im Ausland in Verkehr gebracht werden, so dass ein Import in die Schweiz ohne Patentverletzung möglich ist (sog. Parallelimport).341 Nationale Erschöpfung bedeutet hingegen, dass bei einer Einfuhr solcher Waren gegen den Willen des schweizerischen Patentinhabers der patentrechtliche Verbotsanspruch wieder auflebt und Parallelimporte in die Schweiz nicht zulässig 339 von Büren/Marbach/Ducrey, Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, 2. Kap. 6.6 b) (Rn. 199); Calame, in: von Büren/David, Schweizerisches Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, Bd. IV, 1. Teil, 6. Kap. IV. 2. a) (S. 470); Pedrazzini/Hilti, Patent- und Patentprozessrecht, 15.2.3 a) (S. 309). 340 von Büren/Marbach/Ducrey, Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, 2 Kap. 6.6 b) (Rn. 199); Calame, in: von Büren/David, Schweizerisches Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, Bd. IV, 1. Teil, 6. Kap. IV. 2. a) (S. 470). 341 Calame, in: von Büren/David, Schweizerisches Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, Bd. IV, 1. Teil, 6. Kap. IV. 2. d) aa) (S. 473).
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D. Rechtsfortbildung in der Schweiz
sind.342 Erschöpfung der Patentrechte tritt in diesem Fall nur bei einem Inverkehrbringen im Inland ein.343 Zur Zeit des Urteils enthielten weder einschlägige Staatsverträge noch das schweizerische Patentgesetz344 eine Regelung bezüglich dieser Erschöpfungsfrage.345 bb) Grenzen der Auslegung Die Entscheidung prüft auf S. 133 zunächst, ob die Frage nach der Erschöpfung im schweizerischen Gesetzesrecht geregelt ist. Dabei kommt sie mithilfe historischer Auslegung zu dem Ergebnis, dass Art. 8 Abs. 2 PatG zwar auch die Einfuhr patentverletzender Produkte verbietet, dass dabei jedoch Produkte gemeint sind, die nicht bereits im Ausland mit Zustimmung des Patentinhabers in den Verkehr gebracht wurden. Das Einfuhrverbot in Art. 8 Abs. 2 PatG bezwecke vielmehr, dass patentverletzende Erzeugnisse schon bei der Einfuhr beschlagnahmt werden könnten, da es in der Praxis schwierig sei, die Beschlagnahme durchzuführen, wenn diese Erzeugnisse bereits Eingang in die landesweiten Vertriebs- und Verteilungskanäle gefunden hätten. Die Vorschrift des Art. 8 Abs. 2 PatG enthält damit keine Regelung über die Erschöpfung. Auf S. 134 f. zieht das Bundesgericht dann das für das schweizerische Patentrecht geltende Territorialitätsprinzip heran. Dieses von der Rechtsprechung entwickelte Prinzip besage, dass dem schweizerischen Patentrecht ein strikt territorialer Geltungsbereich zukomme, so dass der Schutz des schweizerischen Patentes an den Landesgrenzen ende. Das Urteil prüft das Territorialitätsprinzip im Zusammenhang mit dem schweizerischen Gesetzesrecht und betrachtet es daher als geltendes Recht. Da das Territorialitätsprinzip jedoch gesetzlich nicht geregelt, sondern von der Rechtsprechung entwickelt ist, handelt es sich dabei bereits um richterliche Lückenfüllung. Die Entscheidung hätte daher auf die lückenfüllenden Begründungen der Vorentscheidungen Bezug nehmen oder selbst entsprechend begründen müssen. Das Territorialitätsprinzip gehört nur dann zum geltenden Recht und kann für eine weitere Lückenfüllung herangezogen werden, wenn es selbst gesetzesnah hergeleitet wurde.
342 Calame, in: von Büren/David, Schweizerisches Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, Bd. IV, 1. Teil, 6. Kap. IV. 2. d) aa) (S. 473); von Büren/Marbach/Ducrey, Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, 2. Kap. 6.6 b) (Rn. 200). 343 Calame, in: von Büren/David, Schweizerisches Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, Bd. IV, 1. Teil, 6. Kap. IV. 2. d) aa) (S. 473). 344 Bundesgesetz vom 25. Juni 1954 über die Erfindungspatente (Patengesetz, PatG) (AS 1955, 871), aktuelle Fassung abgedruckt in SR 232.14. 345 von Büren/Marbach/Ducrey, Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, 2. Kap. 6.6 b) (Rn. 200); näher dazu Kraus, Les importations parallèles, Quatrième partie Chap. 2 B. a. (S. 320 f.).
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Die Entscheidung lehnt es aber zutreffend ab, aus dem Territorialitätsprinzip eine Lösung hinsichtlich der Frage der Erschöpfung abzuleiten. Inwiefern Sachverhalte, die sich im Ausland zugetragen hätten, für die Anwendung des Patentgesetzes beachtlich seien, lasse sich aus dem Territorialitätsprinzip nicht beantworten. Namentlich stehe es einer internationalen Erschöpfung des Patentrechts nicht grundsätzlich entgegen. Das Territorialitätsprinzip bedeutet zwar, dass die Wirkungen immaterialgüterrechtlicher Schutzrechte auf die jeweiligen Landesgrenzen beschränkt sind.346 Dies ergibt sich aber aus der Souveränität von Staaten, die zur Folge hat, dass das innerstaatliche Recht eines Staates das innerstaatliche Recht eines anderen Staates grundsätzlich nicht beeinflussen kann. So kann der Eintritt der Erschöpfung in einem Land nicht automatisch die Erschöpfung eines parallelen Schutzrechts im Recht eines anderen Staates auslösen.347 Das bedeutet jedoch nicht, dass der nationale Gesetzgeber nicht aus einem ausländischen Sachverhalt im Sinne einer internationalen Erschöpfung Konsequenzen für das Inland ableiten kann, wenn er das möchte.348 Das Territorialitätsprinzip beschreibt damit einen status quo, der besteht, sofern es keine diesem entgegenstehende Regelung gibt. Es enthält aber kein Verbot, eine solche Regelung aufzustellen.349 Ob in einem Staat die nationale oder die internationale Erschöpfung gelten soll, muss sich also unabhängig vom Territorialitätsprinzip nach dem nationalen Recht richten. Das Territorialitätsprinzip beantwortet diese Frage nicht. Es steht insbesondere der internationalen Erschöpfung nicht entgegen. Da sich die Entscheidung in diesem Sinne nicht auf das Territorialitätsprinzip beruft, ist es auch nicht problematisch, dass sie dieses nicht gesetzesnah herleitet. Auf den S. 135 ff. prüft das Bundesgericht sodann, ob das die Schweiz verpflichtende internationale Recht eine Lösung des Problems enthält. Die Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums350, das Europäische Patentübereinkommen vom 5. Oktober 1973351 und der Vertrag vom 9. Juni 1970 über die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Patentwesens352 enthalten ebenfalls das Territorialitätsprinzip. Die beiden letztgenannten beinhalten es 346
Zuberbühler, Erschöpfung, § 12 1.2 (S. 63). Zuberbühler, Erschöpfung, § 12 1.2 (S. 64). 348 Zuberbühler, Erschöpfung, § 12 1.2 (S. 64) m.w.N. 349 s. o. 350 Pariser Übereinkunft vom 20. März 1883 zum Schutz des gewerblichen Eigentums, revidiert in Stockholm am 14. Juli 1967, in Kraft getreten für die Schweiz am 26. April 1970 (AS 1970, 620), aktuelle Fassung abgedruckt in SR 0.232.04. 351 Europäisches Patentübereinkommen vom 5. Oktober 1973, revidiert in München am 29. November 2000 (EPÜ 2000), aktuelle Fassung abgedruckt in SR 232.142.2. Für die ursprüngliche Fassung s. AS 1977, 1711. 352 Vertrag vom 19. Juni 1970 über die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Patentwesens (PCT), in Kraft getreten für die Schweiz am 24. Januar 1978 (AS 1978, 900), aktuelle Fassung abgedruckt in SR 0.232.141.1. 347
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D. Rechtsfortbildung in der Schweiz
in der Form, dass europäische oder internationale Patentanmeldungen für mehrere Staaten zur Folge haben, dass für jeden Staat ein Patent nach den dort geltenden nationalen Regeln besteht. Dazu stellt die Entscheidung auf S. 137 – wie weiter oben zum nationalen Recht – fest, dass sich aus dem Territorialitätsprinzip nicht zwingend auf den Grundsatz der nationalen Erschöpfung schließen lasse. Auch das TRIPs-Abkommen353 enthalte keine Regelung hinsichtlich der Erschöpfung, wie sich zweifelsfrei aus Art. 6 TRIPs-Abkommen ableiten lasse. Diese Vorschrift besagt, dass das Abkommen nicht dazu verwendet werden dürfe, die Frage der Erschöpfung der Rechte an geistigem Eigentum zu behandeln. Da sich die Frage weder mit dem schweizerischen Gesetzesrecht noch mit dem in der Schweiz anwendbaren internationalen Recht lösen lässt, stellt die Entscheidung ausdrücklich auf S. 138 fest, dass eine echte Lücke vorläge. Damit werden die Grenzen der Auslegung zutreffend gezogen. cc) Lückenfüllung Zur Lückenfüllung geht die Entscheidung auf S. 138 zunächst direkt auf Art. 1 Abs. 2 ZGB und die Gesetzgebungslösung ein. Zur weiteren Erklärung der richterlichen Lückenfüllung verweist sie jedoch auf Meier-Hayoz354 : Richterliche Lückenfüllung bestehe in der Bildung einer Rechtsregel in umfassender Würdigung der generell-abstrakten Interessenlage unter dem Gesichtspunkt der Realien, der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit. Die Entscheidung versucht damit trotz der Existenz von Art. 1 Abs. 2 ZGB, die Methode der richterlichen Lückenfüllung weiter zu konkretisieren. Diese Spezifikation enthält jedoch keine substantielle methodische Anleitung. Die Entscheidung sagt, die Verpflichtung auf die Realien rücke diejenige Norm in den Vordergrund, welche bisher im Verkehr beachtet worden sei. Eine Norm, die bisher beachtet wurde, ist aber nicht unbedingt am besten zur Lösung des Problems geeignet. Auch ein Gesetzgeber weicht von einer bestehenden Praxis ab, wenn sie nicht seine Zustimmung findet. Die Norm, die bisher beachtet wurde, ist also kein eindeutiger Anhaltspunkt für eine Lückenfüllung. Die Realien, die einer rechtlichen Entscheidung zugrunde liegen, sind in der Regel ein Interessenkonflikt, der gelöst werden muss. Im vorliegenden Fall ist es derjenige zwischen dem schweizerischen Patentinhaber und dem Importeur der im Ausland in Verkehr gebrachten Waren bzw. dem Verkäufer der Waren in der Schweiz und letztendlich dem Verbraucher. Aus den Realien ergibt sich keine Anleitung dafür, wie der Interessenkonflikt zu lösen ist, d. h. welchen Interessen wie der Vorrang eingeräumt werden soll. 353 Abkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte an geistigem Eigentum im Rahmen des Abkommens zur Errichtung der Welthandelsorganisation vom 15. April 1994 (TRIPs-Abkommen), in Kraft getreten für die Schweiz am 1. Juli 1995 (AS 1995, 2117), aktuelle Fassung abgedruckt in SR 0.632.20, Anhang 1C. 354 s. den Nachweis im Urteil.
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Mit dem allgemeinen Verweis auf die Gerechtigkeit können keine bestimmten überpositiven Grundsätze355 gemeint sein, sondern er kann nur bedeuten, dass der Richter seine eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen einbringt. Die Rechtssicherheit kann man als ein überpositives Prinzip im Sinne Radbruchs oder ein formales verfassungsrechtliches Prinzip betrachten.356 Jedoch lässt sich auch daraus nicht ableiten, wie man einen Interessenkonflikt bewertet. Jede Regel, die ein Problem löst, schafft Rechtssicherheit. Welchen Inhalt die Regel haben soll, darüber sagt das Prinzip der Rechtssicherheit nichts aus. Wenn man die generell-abstrakte Interessenlage mit Hilfe dieser drei Kriterien würdigt, hat man also keine Lösung des Problems gefunden.357 Es handelt sich daher um Leerformeln, die der eigenen Wertung des Richters Legitimität verleihen sollen. Positiv daran ist, dass daraus ein gewisses Bewusstsein des Legitimitätsproblems spricht. Gleichzeitig schafft dieser Rückgriff auf Leerformeln jedoch scheinbar Legitimität. Dies kann dazu führen, dass keine gesetzesnahen Methoden wie Analogie mehr herangezogen werden bzw. das Legitimitätsdefizit nicht offen gelegt wird, wenn gesetzesnahe Methoden nicht zu einer Lösung verhelfen und ein Rückgriff auf außerrechtliche Argumente notwendig ist. Die Entscheidung geht jedoch in der folgenden Begründung auf S. 138 auf die Analogie ein. Das Bundesgericht leitet ein Vorgehen über Analogie aber aus dem Prinzip der Einheit der Rechtsordnung ab, das erfordere, dass sich die richterliche Rechtsregel nach Möglichkeit in das vorgegebene System einpasse, und das bei der richterlichen Lückenfüllung beachtet werden müsse. Die gesetzgeberische Methode des Art. 1 Abs. 2 ZGB erfordert, dass sich eine neu zu findende Regel in das bestehende Recht einfügt. Die Entscheidung versucht also – wie BGE 125 III 154358 –, aus der Gesetzgebungslösung die Notwendigkeit einer Analogie abzuleiten. Dazu gilt, dass sich jede über eine Analogie hergeleitete Lösung in die bestehende Rechtsordnung einfügt. Nicht jede Regel, die sich einpasst, muss aber zwingend mit Hilfe von Analogie entwickelt worden sein.359 Die Analogie ist damit eine mit der Gesetzgebungslösung kompatible Methode, vorgeschrieben wird sie von ihr aber nicht.360 Die Analogie ergibt sich vielmehr aus dem Legitimitätsgedanken, der eine gesetzesnahe Lückenfüllung fordert. Indem die Entscheidung die Analogie mit der gesetzgebungspraktischen Erwägung des Sich-Einfügens und nicht mit dem Legitimitätsgedanken begründet, zeigt sie zunächst wenig Bewusstsein des Legitimitätsproblems. Im Ergebnis konkretisiert sie jedoch die Gesetzgebungslösung mit Hilfe einer gesetzesnahen Methode und 355 356 357 358 359 360
Dazu kurz oben B. III. 2. b) aa). Dazu oben B. III. 2. b) aa). A.A. Hilty sic! 2000, S. 231. Vgl. die Analyse [D. I. 14. a)] unter cc). Dazu näher oben B. V. 2. c) bb) (1). s. o.
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D. Rechtsfortbildung in der Schweiz
zeigt dadurch das Bedürfnis nach einer dem Legitimitätsprinzip entsprechenden Lückenfüllung. Auf S. 138 f. kündigt die Entscheidung an, außerdem rechtsvergleichend vorgehen sowie bezüglich verschiedener Verfassungsnormen eine Interessenabwägung vornehmen zu wollen. Die rechtsvergleichende Methode ist keine Rechtsquelle, kann aber als Hilfsmittel bei Auslegung und Lückenfüllung dienen.361 Die Abwägung verschiedener Verfassungsgüter ist Rechtsanwendung, da sie sich auf verfassungsrechtliche Regelungen stützt. Hier stellt sich jedoch die Frage, wie der Richter ohne eigene Wertung entscheiden kann, welchem Verfassungsgut der Vorrang einzuräumen ist. Auf S. 139 f. stellt die Entscheidung dann die Auffassungen der schweizerischen Lehre und der kantonalen Rechtsprechung dar. Beide sprechen sich mehrheitlich für den Grundsatz der nationalen Erschöpfung aus. Die Entscheidung spricht zwar die Begründungen der jeweiligen Auffassungen kurz an. Sie macht diese Argumente jedoch nicht für die eigene Begründung fruchtbar, sondern sagt auf S. 140, die traditionelle schweizerische Rechtsauffassung spreche für den Grundsatz der nationalen Erschöpfung. Damit bezieht sie sich letztendlich nur auf die Ergebnisse der jeweiligen Meinungen und behandelt Literatur und Rechtsprechung wie Rechtsquellen. Insofern handelt es sich nicht um eine dem Legitimitätsgedanken entsprechende Lückenfüllung. Die Entscheidung prüft sodann auf S. 140 ff., ob für das Patentrecht genauso entschieden werden soll wie für das Marken- und Urheberrecht. Für beide hatte das Bundesgericht bereits den Grundsatz der internationalen Erschöpfung angenommen. Die vorliegende Entscheidung begründet diese Bezugnahme auf die Rechtsprechung zum Marken- und Urheberrecht auf S. 141 mit dem Postulat der Einheit der Rechtsordnung. Dazu gilt, wie oben gesagt, dass die Einheit der Rechtsordnung im Rahmen der gesetzgeberischen Methode gewahrt werden sollte. Zu beachten, dass sich eine neue Regel in das bestehende Recht einfügt, bedeutet jedoch nicht, diese Regel aus dem bisher existierenden Recht abzuleiten. Letzteres ist aber notwendig, wenn man am Legitimitätsprinzip orientierte Lückenfüllung betreiben will. Bei der Herleitung einer neuen Regel aus dem gegebenen Recht ist zunächst an eine Analogie zu denken. Die Entscheidung prüft zwar, ob die Situation im Patentrecht vergleichbar mit der im Marken- und Urheberrecht ist und geht damit ähnlich der Analogie vor. Sie spricht jedoch nicht die Möglichkeit an, die im Marken- und Urheberrecht geltende Lösung per Analogie auf das Patentrecht zu übertragen. Problematisch ist dabei natürlich, dass hinsichtlich der Erschöpfung im Markenund Urheberrecht auch nur Rechtsprechung existiert und somit keine Analogie zu einer gesetzlichen Regel möglich ist. Die Entscheidung hätte aber prüfen können, ob hinsichtlich der Annahme der internationalen Erschöpfung im Marken- und Urhe361
Dazu oben B. II. 6.
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berrecht gesetzesnah begründet wurde und ob diese Begründungen auch im Patentrecht gelten können. Das gesetzgeberische Vorgehen, das die Einheit der Rechtsordnung in den Vordergrund stellt, führt hier dazu, dass die Möglichkeit einer gesetzesnahen Begründung nicht angesprochen wird. Die Entscheidung kommt aber zu dem Ergebnis, dass eine Vergleichbarkeit mit Marken- und Urheberrecht nicht besteht362, so dass eine Analogie sowieso nicht möglich wäre. Sie sagt, im Markenrecht käme es entscheidend auf die Kennzeichnungsfunktion der Marke an, die durch Parallelimporte nicht beeinträchtigt sei (S. 140 ff.). Beim Urheberrecht gehe es zwar wie beim Patentrecht um Verwertungsrechte, diese seien aber grundlegend anders ausgestaltet, so dass eine Gleichbehandlung bei der Frage der Erschöpfung nicht zwingend sei (S. 142 f.).363 Auf den S. 143 – 148 nimmt die Entscheidung sodann einen umfassenden Rechtsvergleich vor und kommt zu dem Ergebnis, dass nahezu sämtliche Staaten im Patentrecht von der nationalen Erschöpfung ausgehen. Diese werde im Europäischen Wirtschaftsraum auf die regionale Erschöpfung erweitert. Der internationale Rechtsvergleich spreche damit für die nationale Erschöpfung im Patentrecht. Wenn man bedenkt, dass im Europäischen Wirtschaftsraum die regionale Erschöpfung gilt, ist diese Schlussfolgerung jedoch nicht überzeugend.364 Die Entscheidung hätte sich zumindest die Frage stellen können, ob man nicht für die Schweiz ebenfalls eine regionale Erschöpfung einführt in dem Sinne, dass Waren, die im Europäischen Wirtschaftsraum in Verkehr gebracht worden sind, in die Schweiz eingeführt werden dürfen. Die Entscheidung nutzt die Rechtsvergleichung im vorliegenden Fall nicht als Hilfsmittel, sondern zieht die ausländischen Lösungen als Argument dafür heran, für die Schweiz genauso zu entscheiden. Im Sinne einer am Legitimitätsgedanken orientierten Lückenfüllung kann ein innerstaatliches Gericht ausländische Lösungen jedoch nur dann zur Grundlage seiner Begründung machen, wenn eine gesetzesnahe Lückenfüllung im nationalen Recht nicht möglich ist.365 Diesen Anwendungsbereich der Rechtsvergleichung macht die Entscheidung nicht deutlich. Auf den S. 148 ff. spricht die Entscheidung dann eine Interessenabwägung an, die im Folgenden aber nur partiell vorgenommen wird. Dabei seien die Interessen der Patentinhaber, der Händler und der Konsumenten in Ausgleich zu bringen. Die Patentinhaber könnten sich auf die verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie berufen, zu deren Schutzobjekt die Immaterialgüterrechte gehörten. Die Händler könnten sich wegen des erworbenen Sacheigentums ebenfalls auf die Eigentumsgarantie 362
A.A. Hilty sic! 2000, S. 231 ff. (S. 232 ff.). A.A. Baudenbacher SZW 2000, S. 140 ff. (S. 144), und Meier-Schatz AJP 2000, S. 742 ff. (S. 745 f.). 364 So auch Meier-Schatz AJP 2000, S. 742 ff. (S. 747), und Baudenbacher SZW 2000, S. 140 ff. (S. 145). 365 Dazu oben B. II. 6. 363
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D. Rechtsfortbildung in der Schweiz
berufen, zusätzlich aber noch auf die Handels- und Gewerbefreiheit, welche auch die außenwirtschaftliche Befugnis gewährleiste, Waren ein- und auszuführen. Der Konsumentenschutz sei dem Bund gem. Art. 31sexies aBV366 als Aufgabe übertragen, wobei die allgemeinen Interessen der schweizerischen Gesamtwirtschaft sowie die Handels- und Gewerbefreiheit zu wahren seien. Zwischen diesen in den divergierenden Verfassungsnormen zum Ausdruck kommenden Wertungen sei praktische Konkordanz herzustellen. Dazu stellt die Entscheidung auf S. 150 fest, dass im nationalen Bereich ein sachgerechter Ausgleich der Interessen über die Lehre der Erschöpfung erreicht werde. Damit wird zunächst nur die Rechtslage bei Sachverhalten ohne Auslandsbezug wiedergegeben, die im vorliegenden Urteil nicht streitig ist. Wichtig wäre hingegen, wie der Interessenausgleich bei Sachverhalten mit Auslandsbezug vorzunehmen ist, da sich nur dort die Frage stellt, ob von nationaler oder internationaler Erschöpfung auszugehen ist. Diesen Interessenausgleich nimmt die Entscheidung auf den S. 150 ff. jedoch nicht vor. Zunächst argumentiert sie mit dem Ziel des internationalen Freihandels, den die Annahme einer internationalen Erschöpfung im Patentrecht befördern könnte. Dazu sagt sie jedoch, solange andere Staaten am Prinzip der nationalen Erschöpfung festhielten, könne die Schweiz durch die einseitige Einführung der internationalen Erschöpfung den Freihandel nicht fördern. Es müsse vielmehr die wechselseitige Anerkennung der Erschöpfung in einem multilateralen Abkommen verankert werden. Die Entscheidung erklärt jedoch nicht, warum der internationale Freihandel ein im Rahmen der schweizerischen Rechtsordnung förderungswürdiges Ziel ist. Aus der im Zeitpunkt des Urteils gültigen alten Bundesverfassung367 ergibt sich jedenfalls nichts dergleichen. Wenn das Bundesgericht auf den Freihandel abstellt, wertet es folglich selbst, dass dieser unterstützt werden soll. Das Bundesgericht zieht das Ziel des Freihandels zwar nur indirekt zur Begründung der nationalen Erschöpfung heran, indem es sagt, es stelle jedenfalls kein Argument dafür dar, eine internationale Erschöpfung einzuführen. Es bleibt aber eine eigene Wertung, die die Entscheidung für eine nationale Erschöpfung stützt. Weiterhin argumentiert die Entscheidung auf S. 151 ff. damit, dass die rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den verschiedenen Staaten unterschiedlich seien, so dass bei einem erstmaligen Inverkehrbringen der patentierten Ware im Ausland unter Umständen nicht dieselben Ergebnisse erzielt werden könnten wie in der Schweiz. So könne die Kaufkraft im Ausland geringer sein oder der Patentschutz weniger umfassend oder es bestünden staatliche Vorschriften wie 366 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874 (AS 1, 1), Art. 31sexies eingefügt durch Bundesbeschluss vom 10. Oktober 1980 (AS 1981, 1244). Der Konsumentenschutz ist heute in Art. 97 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (AS 1999, 2556) geregelt. 367 s. o.
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Preisbestimmungen oder Vermarktungspflichten. All das könne dazu führen, dass der mit dem schweizerischen Patentrecht bei dem erstmaligen Inverkehrsetzen der Ware angestrebte Schutz nicht gewährleistet sei.368 Hier wird keine Interessenabwägung im Falle der Inverkehrsetzung eines patentgeschützten Produktes im Ausland vorgenommen, sondern es wird nur auf die Interessen des Patentinhabers abgestellt. Dies ist jedoch insofern zulässig, als der Grundsatz der internationalen Erschöpfung aus den von der Entscheidung aufgeführten Gründen zur Folge haben kann, dass im Falle von Parallelimporten die Ziele des schweizerischen Patentrechts nicht mehr erreicht werden können, das schweizerische Patentrecht somit leer liefe. Das Bundesgericht argumentiert also zulässig mit Sinn und Zweck des Patentrechts. Die Entscheidung sagt dementsprechend auf S. 153, dass zu den eigentlichen Rechten aus dem schweizerischen Patent die Monopolstellung bei der erstmaligen Inverkehrsetzung patentgeschützter Produkte unter den Bedingungen, wie sie die schweizerische Rechts- und Wirtschaftsordnung gewährleiste, gehöre. Die Entscheidung argumentiert dann aber weiter, diese Monopolstellung „solle“ dem Patentinhaber im Inland auch zustehen, wenn Waren unter nicht vergleichbaren Bedingungen mit seinem Einverständnis im Ausland in Verkehr gebracht würden. Diese Begründung wird im Folgenden als „Postulat“ bezeichnet und es wird mehrfach das Verb „sollen“ gebraucht. Dadurch entsteht der Eindruck, der Richter postuliere eine Regel, stelle also aufgrund eigener Wertung fest, was gelten „soll“. Das Ergebnis lässt sich aber mit dem Sinn und Zweck des schweizerischen Patentrechts erklären, der dann leer liefe, wenn eine Ware im Ausland zu schlechteren Bedingungen in Verkehr gebracht und dann in die Schweiz importiert würde. Da die Entscheidung sich nicht darauf konzentriert, ihr Ergebnis aus dem Gesetzesrecht abzuleiten, erwähnt sie diese schlüssige gesetzesnahe Begründung nicht. Dabei könnte man – wie schon in BGE 119 V 250369 – von einem AnnexSchluss370 sprechen in dem Sinne, dass das schweizerische Patentrecht seine volle Wirkung nur entfalten kann, wenn man die Erschöpfungsfrage in einer bestimmten Weise regelt. Tut man das nicht, liefe das schweizerische Patentrecht zumindest teilweise leer. Fraglich ist allerdings, ob man aus dieser Argumentation unbedingt auf die nationale Erschöpfung schließen muss. Da im Europäischen Wirtschaftsraum ähnliche Bedingungen in der Rechts- und Wirtschaftsordnung wie in der Schweiz herrschen, wäre als Konsequenz dieser Argumentation auch eine regionale Erschöpfung im europäischen Wirtschaftsraum denkbar. Dafür spricht auch der weiter oben erwähnte
368 Zustimmend Calame, in: von Büren/David, Schweizerisches Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, Bd. IV, 1. Teil, 6. Kap. IV. 2. d) cc) (S. 477). 369 Vgl. die Analyse [D. I. 10. a)] unter cc). 370 Dazu oben B. III. 2. a) bb).
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Rechtsvergleich. Dennoch bleibt es dabei, dass die Entscheidung überzeugend begründet, auch wenn sie im Ergebnis auf eine nationale Erschöpfung schließt. In einer Zusammenfassung ihrer Begründung auf S. 155 macht die Entscheidung aber klar, dass alle zuvor aufgeführten Argumentationen gleichwertig in das Ergebnis einfließen, eine nationale Erschöpfung anzunehmen. Für eine Beachtung des Legitimitätsgedankens bei der Lückenfüllung hätte sie jedoch die zuletzt genannte Argumentation mit dem Sinn und Zweck des Patentrechts voranstellen und die restlichen Argumente allenfalls ergänzend heranziehen sollen. dd) Ergebnis Die Grenzen der Auslegung werden von der Entscheidung zutreffend gezogen. Zur Lückenfüllung geht das Bundesgericht auf Art. 1 Abs. 2 ZGB ein, beschreibt die richterliche Vorgehensweise aber mit Hilfe von Leerformeln, die scheinbar Legitimität schaffen und bei der eigentlichen Lückenfüllung auch nicht mehr zur Anwendung kommen. Außerdem wird die Gesetzgebungslösung durch die gesetzesnahe Methode der Analogie konkretisiert. Auch diese wendet die Entscheidung bei der Lückenfüllung aber nicht an. Bei der Lückenfüllung bezieht sich die Entscheidung zuerst auf die Ergebnisse der Auffassungen von Literatur und Rechtsprechung und beginnt damit mit einer nicht dem Legitimitätsgedanken entsprechenden Methode. Sodann nimmt sie einen Rechtsvergleich vor, ohne klarzustellen, dass die direkte Bezugnahme auf ausländische Lösungen nur möglich ist, wenn nationale gesetzesnahe Argumente ausgeschöpft sind. Bei einem Vergleich mit dem Marken- und Urheberrecht wird die Frage nach einer Analogie nicht gestellt. Eine praktische Konkordanz zwischen Verfassungsgütern wird angesprochen, letztlich aber nicht durchgeführt. Die Bezugnahme auf den internationalen Freihandel stellt eine eigene Wertung des Richters dar. Schließlich argumentiert die Entscheidung damit, dass bei der Annahme einer internationalen Erschöpfung das schweizerische Patentrecht leer liefe, weil die Interessen des Patentinhabers nicht mehr gewahrt werden könnten. Bei dieser Argumentation mit dem Sinn und Zweck des Patentrechts handelt es sich um einen gesetzesnahen Annex-Schluss, der zu einer dem Legitimitätsprinzip entsprechenden Lückenfüllung verwendet werden kann. Die Entscheidung stellt diese Argumentation jedoch so dar, als handele es sich um eine eigene Wertung. Auch die Reihenfolge der Argumente entspricht nicht dem Legitimitätsprinzip bei der Lückenfüllung. Die Entscheidung hätte die gesetzesnahe Begründung mit dem Sinn und Zweck des Patentrechts voranstellen und die restlichen Argumente allenfalls ergänzend heranziehen sollen. Insgesamt ergibt sich, dass die anfängliche Darstellung der lückenfüllenden Vorgehensweise im Rahmen von Art. 1 Abs. 2 ZGB einen gewissen Wunsch nach Legitimität erkennen lässt. Die eigentliche Lückenfüllung orientiert sich dann aber nicht mehr am Legitimitätsgedanken. Bei der Bezugnahme auf das Marken- und
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Urheberrecht wird nicht der Schritt zu einer Argumentation über eine Analogie vorgenommen. Der Anwendungsbereich der Rechtsvergleichung wird nicht deutlich gemacht. Die Argumentation mit dem Sinn und Zweck des Patentrechts wird als eigene Wertung und nicht als gesetzesnahe Begründung dargestellt. Insgesamt werden alle vorgebrachten Argumente als gleichwertig betrachtet. Insbesondere wird die gesetzesnahe Begründung mit dem Sinn und Zweck des Patentrechts den anderen Argumenten nicht vorangestellt. Dies kann man darauf zurückführen, dass Art. 1 Abs. 2 ZGB den Vorrang gesetzesnaher Lückenfüllungsmethoden wie der Analogie vor der Gesetzgebungslösung nicht enthält. Die Entscheidung geht so im Gesetzgebervorgehen vor, ohne den Vorrang gesetzesnaher Lückenfüllungsmöglichkeiten zu beachten. Da sie die eigentliche gesetzesnahe Begründungsmöglichkeit aber enthält, kann man im Ergebnis von einer Kombinationsbegründung sprechen. In der Literatur hat das vorliegende Urteil teilweise Zustimmung erfahren371, ist aber v. a. in Bezug auf die Lösung, die nationale Erschöpfung anzunehmen, auch auf viel Kritik gestoßen372. Der Gesetzgeber hat auf diese Kritik reagiert373 und inzwischen in Art. 9a PatG374 den Grundsatz der regionalen Erschöpfung bei einem Inverkehrbringen von patentgeschützten Waren mit Zustimmung des Patentinhabers im Europäischen Wirtschaftsraum eingeführt.
16. Sozialversicherungsrecht: Zeitpunkt des Krankenversicherungswechsels bei verspäteter Mitteilung des neuen Versicherers im Rahmen von Art. 7 Abs. 5 KVG375 Die Entscheidung BGE 127 V 38 vom 9. Januar 2001 löst das Problem des Zeitpunktes des Krankenversicherungswechsels bei verspäteter Mitteilung des neuen Versicherers im Rahmen von Art. 7 Abs. 5 KVG in zulässiger Weise in reinem Gesetzgebervorgehen. 371
Calame, in: von Büren/David, Schweizerisches Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, Bd. IV, 1. Teil, 6. Kap. IV. 2. d) cc) (S. 476 ff.); Kraus, Les importations parallèles, Quatrième partie Chap. 2 C. c. (S. 332 ff.). 372 Übersicht über die Kritik m.N. bei Zuberbühler, Erschöpfung, § 5 3. (S. 18 ff.); Nachweise zu kritischen Stimmen und eigene Kritik auch bei von Büren/Skoczylas, in: Mélanges Dessemontet, S. 427 ff. (S. 431 Fn. 25 und S. 432 ff.); ebenfalls Nachweise zur Kritik bei Calame, in: von Büren/David, Schweizerisches Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, Bd. IV, 1. Teil, 6. Kap. IV. 2. d) cc) (S. 478 Fn. 473); eigene Kritik bei Zuberbühler ius.full Nr. 2/2012, S. 62 ff. (S. 64). 373 Der Weg zur Regelung der Erschöpfung in Art. 9a PatG wird dargelegt bei Zuberbühler, Erschöpfung, § 6 (S. 22 ff.). 374 Regionale Erschöpfung eingeführt durch Ziff. I des BG vom 19. Dezember 2008, in Kraft seit 1. Juli 2009 (AS 2009, 2615). 375 Bundesgesetz über die Krankenversicherung vom 18. März 1994 (AS 1995, 1328), aktuelle Fassung abgedruckt in SR 832.10.
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a) BGE 127 V 38 – Lösung des Problems in reinem Gesetzgebervorgehen (Urteil vom 9. Januar 2001) aa) Rechtsfrage In diesem Urteil war die Frage, wann beim Wechsel des Krankenversicherers nach Art. 7 KVG das Versicherungsverhältnis beim bisherigen Versicherer endet, wenn der neue Versicherer diesem zu spät Mitteilung über das neue Versicherungsverhältnis macht (Problematik des Art. 7 Abs. 5 KVG). Normalerweise endet ein Versicherungsverhältnis nach Art. 7 Abs. 1 KVG mit einer dreimonatigen Kündigungsfrist zum Ende eines Kalendersemesters. Die Vorschrift des Art. 7 Abs. 5 Satz 1 KVG bestimmt aber, dass das Versicherungsverhältnis beim bisherigen Versicherer erst endet, wenn der neue Versicherer ihm mitgeteilt hat, dass die betreffende Person bei ihm ohne Unterbrechung des Versicherungsschutzes versichert ist. Nach Art. 7 Abs. 5 Satz 3 KVG informiert der bisherige Versicherer die betroffene Person, sobald er die Mitteilung erhalten hat, ab welchem Zeitpunkt sie nicht mehr bei ihm versichert ist. Die Norm enthält jedoch keine eindeutige Aussage darüber, welcher Zeitpunkt das sein soll, wenn der Versicherte dem alten Versicherer gem. Art. 7 Abs. 1 KVG zum Semesterende gekündigt hat, der neue Versicherer dem bisherigen Versicherer aber erst nach diesem Kündigungstermin Mitteilung darüber macht, dass der Versicherte jetzt bei ihm versichert ist. bb) Grenzen der Auslegung Die Entscheidung beginnt auf S. 40 mit teleologischer Auslegung, indem sie die Ziele des Krankenversicherungsgesetzes von 1994 erwähnt. Diese bestünden u. a. in der Einführung des Krankenversicherungsobligatoriums. Daraus ergebe sich, dass Versicherungslücken verhindert werden müssten, was Art. 7 Abs. 5 KVG sicherstelle. In Bezug auf das konkrete Problem stellt sie auf S. 40 weiter unten fest, dass diese ratio legis, welche im Verhindern von Versicherungslücken bestehe, keinen zwingenden Beendigungstermin des alten Versicherungsverhältnisses vorgebe. Dazu ist zu sagen, dass der ratio legis immer dann genüge getan ist, wenn der Versicherungswechsel nahtlos erfolgt. Wann der Wechsel zu erfolgen hat, lässt sich aus der ratio legis aber nicht ableiten. Auf S. 40 geht die Entscheidung außerdem auf den Wortlaut von Art. 7 Abs. 5 KVG ein, der offen lasse, wann bei verspäteter Mitteilung durch den neuen Versicherer die bisherige Versicherung ende. Die Bestimmung enthält jedoch den Wortlaut, die alte Versicherung ende „erst, wenn“ Mitteilung über die neue Versicherung gemacht wurde. Diese Formulierung kann man als reine Bedingung sehen in dem Sinne, dass die alte Versicherung nur enden kann, wenn die Mitteilung über eine neue Versicherung gemacht wurde. Man könnte dieses „erst, wenn“ aber auch
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zeitlich verstehen in dem Sinne, dass die alte Versicherung erst zu dem Zeitpunkt endet, in dem die Mitteilung gemacht wurde. Es wäre also möglich, dass der Versicherungswechsel im Zeitpunkt der Mitteilung stattfindet. Die Entscheidung hätte diese Möglichkeit ansprechen können. Sie geht sehr schnell davon aus, dass der Endzeitpunkt nicht geregelt sei. Da der Wortlaut von Art. 7 Abs. 5 KVG aber nicht eindeutig ist, ist es vertretbar, zu dem Ergebnis zu kommen, dass der Zeitpunkt des Versicherungswechsels im Falle der verspäteten Mitteilung nicht geregelt ist. Die Bestimmung der Grenzen der Auslegung wird daher von der Entscheidung zutreffend vorgenommen. Auf S. 41 definiert die Entscheidung dann die Lücke als unvollständige gesetzliche Regelung, die kein qualifiziertes Schweigen darstelle. Ein qualifiziertes Schweigen wird mit dem Argument ausgeschlossen, dass sich die Frage nach dem Endzeitpunkt in Fällen verspäteter Mitteilung unvermeidlich stelle. Sinn und Zweck von Art. 7 Abs. 5 KVG ist es, den Versicherungswechsel so durchzuführen, dass keine Versicherungslücken entstehen. Dazu gehört zunächst die Nahtlosigkeit des Wechsels. Auch ein nahtloser Wechsel kann aber nur durchgeführt werden, wenn geklärt ist, wann er stattfinden soll. Es ergibt sich also aus der Teleologie der Norm selbst, dass diese Frage beantwortet werden muss und ein qualifiziertes Schweigen wird zu Recht verneint. Die Entscheidung stellt daher auf S. 41 zutreffend eine Regelungslücke fest. cc) Lückenfüllung Hinsichtlich der Frage, wie bei der Lückenfüllung vorzugehen ist, erwähnt die Entscheidung auf S. 41 zunächst den Rückgriff auf die „ratio legis“ und bezieht sich dabei auf mehrere Vorentscheidungen. Später auf S. 41 greift sie auf die Gesetzgebungslösung zurück, verweist dazu aber ebenfalls auf Vorentscheidungen. Die Entscheidung hätte hier Art. 1 ZGB analog heranziehen können, da dieser im öffentlichen Recht, zu dem das Sozialversicherungsrecht gehört, entsprechende Anwendung findet376. Die „ratio legis“ ist vor allem die Grundlage des Analogieschlusses.377 Beim Analogieschluss wird aus einer oder mehreren Normen eine allgemeiner gefasste ratio abgeleitet und auf vergleichbare Fälle angewandt.378 Möchte man das Recht über die „ratio legis“ fortbilden, meint man damit gesetzesnahe Rechtsfortbildung mit Hilfe der dem Gesetz immanenten Teleologie und damit in vielen Fällen Analogie. Der Rückgriff auf die „ratio legis“ ist deswegen interessant, weil das Bundesgericht sich nicht auf die in Art. 1 Abs. 2 ZGB enthaltene Gesetzgebungslösung beschränkt, sondern neben diese eine in Art. 1 ZGB nicht enthaltene gesetzesnahe 376 377 378
Dazu oben B. V. 2. e). Dazu oben B. III. 2. a) aa). s. o.
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Lückenfüllungsmöglichkeit treten lässt, die in vielen Fällen auf Analogie hinausläuft. Die Rechtsprechung erwähnt also eine Lückenfüllungsmöglichkeit, die sich nicht aus Art. 1 ZGB ableitet, und zeigt damit das Bestreben, bei der Lückenfüllung in gesetzesnaher Weise vorzugehen. Im Rahmen der folgenden Lückenfüllung auf S. 41 f. lehnt die Entscheidung zunächst eine rückwirkende Aufhebung des bisherigen Versicherungsverhältnisses auf den Zeitpunkt des Kündigungstermins ab.379 Dazu führt sie das systematische Argument an, dass in diesem Falle Art. 7 Abs. 5 Satz 2 KVG leer laufen würde. Dieser regelt, dass der neue Versicherer, sofern er die Mitteilung an den alten Versicherer unterlässt, dem Versicherten den daraus entstehenden Schaden, insbesondere die Prämiendifferenz, zu ersetzen hat. Eine Prämiendifferenz kann aber nur entstehen, wenn der Versicherte die alten Prämien, die gegebenenfalls höher sind als die neuen Prämien, weiter zahlen muss. Die alten Prämien hat er nur weiter zu leisten, wenn er über den Kündigungstermin hinaus beim alten Versicherer versichert ist. Die Entscheidung lehnt so mit einer überzeugenden systematischen Argumentation die rückwirkende Aufhebung des bisherigen Versicherungsverhältnisses auf den Zeitpunkt des Kündigungstermins ab. Auf S. 42 verneint die Entscheidung weiterhin, dass die im Sinne von Art. 7 Abs. 1 oder 2 KVG fristgerecht erfolgte Kündigung bei verspäteter Mitteilung ihre Wirkung erst auf den nächsten Kündigungstermin entfalten solle.380 Bei Art. 7 Abs. 5 KVG sei nicht die Wirksamkeit der Kündigung betroffen, sondern diese Vorschrift bezwecke lediglich die Sicherstellung des ununterbrochenen Versicherungsschutzes. Hierbei handelt es sich um eine zulässige teleologische Argumentation. Das Bundesgericht stellt auf den Sinn und Zweck des Art. 7 Abs. 5 KVG ab, der die ursprüngliche Kündigung nicht beeinträchtigen soll. Die Wirkung der fristgerecht erfolgten Kündigung auf den nächsten Kündigungstermin abzulehnen, ist daher überzeugend. Die Lösung des Problems entwickelt das Bundesgericht, ebenfalls auf S. 42, dann ausschließlich zweckorientiert und in reinem Gesetzgebervorgehen. Aus verwaltungsökonomischen Gründen sei die Beendigung des bisherigen Versicherungsverhältnisses auf das Ende des Monats vorzusehen, in dem die verspätete Mitteilung des neuen Versicherers bei der bisherigen Versicherungsgesellschaft eingegangen sei.381 Diese Regelung stehe im Einklang mit der ratio legis und decke sich mit dem Umstand, dass die Prämieneinheiten in monatlichen Zeitabschnitten berechnet und 379 Für ein Andauern des bisherigen Versicherungsverhältnisses auch Maurer, Das neue Krankenversicherungsrecht, C. II. 3. (S. 38). 380 So auch Eugster, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht, Soziale Sicherheit (1998), 2 § 3 V. 2. (Rn. 36 Fn. 73), und ders., in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht, Bd. 14, Soziale Sicherheit (3. Aufl. 2016), E § 4 XI. 3. d) (Rn. 188). 381 So auch Eugster, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht, Soziale Sicherheit (1998), 2 § 3 V. 2. (Rn. 36), ders., in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht, Bd. 14, Soziale Sicherheit (3. Aufl. 2016), E § 4 XI. 3. d) (Rn. 188), und Longchamp, Conditions et étendue, Titre III Chap. I 2.1.5.1 b. (S. 218).
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in der Regel monatlich zu bezahlen seien. „Verwaltungsökonomische Gründe“ sind reine Zweckmäßigkeitserwägungen, die Deckung mit der „ratio legis“ bedeutet, dass sich die neu gefundene Regel in das bisherige Regelwerk einpasst. Die Regel wird also entgegen der Ankündigung auf S. 41 nicht aus der „ratio legis“ abgeleitet. Insgesamt sind beides Erwägungen, die nur ein Gesetzgeber anstellen würde. Zur Unterstützung zitiert die Entscheidung außerdem eine Literaturmeinung, auf die sie pauschal verweist. Das Gesetzgebervorgehen ist im vorliegenden Fall notwendig, da ein konkreter Zeitpunkt bestimmt werden muss und es keine Norm gibt, die per Analogie herangezogen werden könnte. Wenn aber konkrete zahlenmäßige Angaben gemacht werden müssen, etwa bei Zeit- oder Mengenangaben, und keine Regel zur Verfügung steht, deren Angaben man im Rahmen einer Analogie übernehmen kann, hat der Richter keine andere Möglichkeit, als so eine Angabe selbst festzusetzen. dd) Ergebnis Die Entscheidung bestimmt die Grenzen der Auslegung zutreffend, auch wenn sie etwas schnell davon ausgeht, dass der Wortlaut von Art. 7 Abs. 5 KVG keine Aussage über den Zeitpunkt des Versicherungswechsels enthält. Ein qualifiziertes Schweigen wird sodann mit überzeugender Argumentation abgelehnt und eine Regelungslücke zutreffend festgestellt. Hinsichtlich der Lückenfüllung erwähnt die Entscheidung die Gesetzgebungslösung, ohne auf die analoge Anwendbarkeit von Art. 1 ZGB im öffentlichen Recht einzugehen. Interessant ist, dass sie zur Lückenfüllung nicht nur die Gesetzgebungslösung heranzieht, sondern auch eine Lückenfüllung unter Rückgriff auf die ratio legis erwähnt. Eine Lückenfüllung über die ratio legis läuft aber in vielen Fällen auf Analogie hinaus. Damit fügt die Entscheidung der Gesetzgebungslösung eine gesetzesnahe Lückenfüllungsmethode hinzu, was für ein Bedürfnis nach einer dem Legitimitätsgedanken entsprechenden Lückenfüllung spricht. Eine Analogie ist aber im vorliegenden Fall nicht möglich. Nachdem das Bundesgericht andere Lösungen mit teleologischen und systematischen Argumenten ausgeschlossen hat, begründet es daher die von ihm favorisierte Lösung eindeutig und offen im Gesetzgebervorgehen. Da es keine andere Möglichkeit gibt, die Lücke zu füllen, ist in diesem Fall das Gesetzgebervorgehen auch notwendig und zulässig. Insgesamt handelt es sich damit um eine Entscheidung, die die Lückenfüllung methodisch sehr zutreffend vornimmt.
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D. Rechtsfortbildung in der Schweiz
II. Ergebnisse Schweiz Wie bei den deutschen Entscheidungen werden hier die Urteilsanalysen ausgewertet, und zwar in Bezug auf die Erwähnung der Lücke und – in der Schweiz – Art. 1 ZGB, ein Bewusstsein des Legitimitätsproblems, die Bestimmung der Grenzen der Auslegung und das Vorgehen bei der Lückenfüllung. Die Frage ist dabei zum einen, inwieweit sich die schweizerischen Entscheidungen bei der Lückenfüllung am Legitimitätsprinzip orientieren und zum anderen, wie sich die Erwähnung von Art. 1 ZGB auf die Qualität der Begründungen auswirkt.
1. Bewusstsein des Legitimitätsproblems in der Lücke Hier geht es darum, ob es in der schweizerischen Rechtsprechung ein gewisses Bewusstsein des Legitimitätsproblems in der Lücke gibt. Ein Anzeichen dafür ist, welchen Wirkungsgrad Art. 1 ZGB in rechtsfortbildenden Entscheidungen hat, d. h. wie oft in diesen Entscheidungen auf ihn Bezug genommen wird. Denn in diesem Fall hat das Gericht erkannt, dass ein Lücken- und damit ein Legitimitätsproblem vorliegt. Außerdem soll grundsätzlich geprüft werden, ob in den untersuchten schweizerischen Entscheidungen ein gewisses Bewusstsein des Legitimitätsproblems vorhanden ist. Das lässt sich zum einen daran erkennen, wie die Lückenfüllungsnorm des Art. 1 ZGB in den Entscheidungen verstanden und konkretisiert wird. Denn zunächst ist Art. 1 ZGB keine Norm, die sich bezüglich der Lückenfüllung in erster Linie am Legitimitätsprinzip orientiert. Zum anderen geben die Entscheidungsbegründungen insgesamt darüber Aufschluss, inwiefern in den untersuchten Urteilen ein Bewusstsein des Legitimitätsproblems vorhanden ist. a) Hinweis auf die Lücke und auf Art. 1 ZGB Im Folgenden werden die untersuchten schweizerischen Entscheidungen aufgeführt, die die Lücke und Art. 1 ZGB erwähnen bzw. nicht erwähnen. Da es unter diesen Entscheidungen relativ viele gibt, die auf die Lücke und Art. 1 ZGB Bezug nehmen, wird erst im Rahmen der Untersuchung der lückenfüllenden Vorgehensweise insgesamt [vgl. unten 2. c), 3. d) u. e) aa) und zusammenfassend 4. a)] dargestellt, wie diese Entscheidungen die Bestimmung der Grenzen der Auslegung und die Lückenfüllung vornehmen. aa) Die Lücke und Art. 1 ZGB werden erwähnt Die Lücke und Art. 1 ZGB bzw. die Gesetzgebungslösung werden in neun von zwanzig untersuchten Entscheidungen erwähnt, und zwar in BGE 39 II 561, BGE
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124 V 301, BGE 127 V 38, BGE 119 V 250, BGE 60 II 179, BGE 91 II 100, BGE 114 II 239, BGE 125 III 154 und BGE 126 III 129. In den Entscheidungen zum Sozialrecht BGE 124 V 301, BGE 127 V 38 und BGE 119 V 250 wird die Gesetzgebungslösung angeführt, jedoch nicht Art. 1 ZGB. Das erklärt sich damit, dass Art. 1 ZGB im öffentlichen Recht keine direkte, sondern nur analoge Anwendung findet. Weiterhin wird in BGE 91 II 100 nicht Art. 1 ZGB direkt genannt, sondern nur auf eine Kommentierung zu dieser Vorschrift hingewiesen. In BGE 114 II 239 wird Art. 1 ZGB in dem Zusammenhang erwähnt, dass er es nicht erlaube, contra legem zu entscheiden. Die Entscheidung nimmt dann zutreffend ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzes an und füllt keine Lücke. Die Vorschrift des Art. 1 ZGB bzw. die Gesetzgebungslösung werden also nur in 45 % der Entscheidungen angeführt. Später wird noch festzustellen sein, wie sich das auf die Qualität der Begründungen auswirkt. bb) Die Lücke und Art. 1 ZGB werden nicht erwähnt In den restlichen elf untersuchten Entscheidungen BGE 77 II 135, BGE 120 II 197, BGE 31 II 667, BGE 74 II 149, BGE 97 II 390, BGE 55 II 302, BGE 118 II 157, BGE 123 III 292, BGE 83 II 375, BGE 114 II 230 und BGE 120 II 331 wird Art. 1 ZGB nicht genannt. Außer in BGE 114 II 230 wird auch die Lücke nicht erwähnt. In acht Entscheidungen ist der Grund dafür, dass nicht auf Art. 1 ZGB Bezug genommen wird, derjenige, dass die Lücke nicht erkannt wird. Das hat verschiedene Ursachen. In BGE 120 II 197, BGE 74 II 149, BGE 83 II 375 und BGE 118 II 157 versucht das Bundesgericht, das Problem mit dem konkreten Gesetzesrecht lösen, obwohl das nicht möglich ist. In BGE 118 II 157 wendet es Gesetzesrecht in dem Sinne an, dass es die Analogie zur Auslegung und damit zum Gesetzesrecht zählt. Da das Bundesgericht in diesem Fällen meint, sich im Bereich der Rechtsanwendung zu befinden, geht es auf ein Lückenproblem nicht ein. Die Entscheidung BGE 97 II 390 kommt nicht zu einer Lücke, da sie versucht, das Problem mit Vertragsauslegung, und zwar über einen verobjektivierten Parteiwillen, zu lösen. Die Urteile BGE 77 II 135 und BGE 74 II 149 greifen auf Vorentscheidungen zurück und BGE 31 II 667 und BGE 120 II 331 auf Grundsätze, die schon länger bekannt sind, ohne diese aus Vorentscheidungen oder dem Gesetz abzuleiten. Da diese Entscheidungen ihr Problem damit als gelöst ansehen, gehen sie auf eine Lücke nicht mehr ein. Im Bereich der Überdehnung von Gesetzesrecht ist es nicht möglich, durch eine anders formulierte Lückenfüllungsnorm zu einer Verbesserung zu kommen, da man den Richter nicht zwingen kann, das Gesetzesrecht korrekt anzuwenden. Man kann in einer Lückenfüllungsnorm lediglich bei der Füllung von Vertragslücken einen Rückgriff auf den tatsächlich vereinbarten Interessenausgleich anordnen und den Umgang mit Vorentscheidungen regeln.
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Insgesamt bleiben drei der untersuchten schweizerischen Entscheidungen, also 15 %, die Art. 1 ZGB ohne besonderen Grund nicht erwähnen. Davon werden in den Urteilen BGE 55 II 302 und BGE 123 III 292 aber die Grenzen der Auslegung zutreffend bestimmt und in BGE 114 II 230 wird die Lücke erwähnt. Trotzdem greifen diese Entscheidungen nicht auf Art. 1 ZGB zurück. In 15 % der untersuchten Entscheidungen kommt folglich Art. 1 ZGB ohne bestimmten Grund nicht zur Anwendung. Die Lückenfüllungsnorm in der Schweiz hat nach dieser Untersuchung also einen Totalausfall von 15 %. Auch diesen kann man mit einer verbesserten Formulierung der Norm nicht verhindern, da man die Richter nicht zwingen kann, die Lückenfüllungsnorm anzuwenden. b) Bewusstsein des Legitimitätsproblems Das Bewusstsein des Legitimitätsproblems lässt sich zum einen aus dem Umgang der Entscheidungen mit der Gesetzgebungslösung und zum anderen allgemein aus der Art und Weise ihrer Begründungen ableiten. aa) Umgang mit der Gesetzgebungslösung Keine der untersuchten schweizerischen Entscheidungen erwähnt das Legitimitätsproblem direkt. Am Umgang mit der Gesetzgebungslösung des Art. 1 Abs. 2 ZGB zeigt sich aber, dass in den Entscheidungen doch ein gewisses Bewusstsein des Legitimitätsproblems vorhanden ist. In acht von neun Entscheidungen, in denen Art. 1 ZGB erwähnt wird, wird er einschränkend ausgelegt oder angewandt oder mithilfe gesetzesnaher Methoden konkretisiert. In BGE 39 II 561 wird zwar auf Art. 1 ZGB eingegangen, die Gesetzgebungslösung wird aber nicht erwähnt. Es wird nur gesagt, der Richter solle nach bewährter Lehre und Überlieferung entscheiden. Das könnte ein Zeichen dafür sein, dass die Richter die Gesetzgebungslösung als zu weitgehend betrachten. In BGE 114 II 239 gibt es die Tendenz, über einen Rückgriff auf Zitate von Larenz und Meier-Hayoz die Gesetzgebungslösung restriktiv zu verstehen. Larenz spricht sich gegen Zweckmäßigkeitserwägungen bei der Lückenfüllung aus.382 Diese Ansicht steht im Gegensatz zur schweizerischen Gesetzgebungslösung, denn ein Gesetzgeber lässt sich nicht nur von Rechtmäßigkeits-, sondern auch von Zweckmäßigkeitserwägungen leiten. Meier-Hayoz beschränkt den Richter bei der Rechtsfortbildung auf taktische Probleme, während die strategischen Aufgaben dem Gesetzgeber vorbehalten seien.383 Auch dies bedeutet eine Einschränkung der Gesetzgebungslösung. In BGE 119 V 250 und BGE 60 II 179 wird eine Anwendung der Gesetzgebungslösung 382 383
Larenz, Methodenlehre, (5. Aufl. 1983) Kap. 5 4. d) (S. 410). Meier-Hayoz JZ 1981, S. 417 ff. (S. 421 ff.).
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angekündigt, in BGE 60 II 179 sogar in sehr weitreichendem Maße. In den eigentlichen Begründungen wird aber doch gesetzesnah argumentiert, in BGE 119 V 250 über einen Annex-Schluss und in BGE 60 II 179 über eine Analogie, ohne dies so zu nennen. In den restlichen vier Entscheidungen wird die Gesetzgebungslösung jeweils über gesetzesnahe Methoden konkretisiert. In BGE 124 V 301 entscheidet der Richter „zweckmäßigerweise“ wie ein Gesetzgeber, möchte aber „rechtsgleich“ behandeln und versucht so, seinem Vorgehen den Anschein von Legitimität zu geben. Zudem wird die Analogie als Methode betrachtet, die im Rahmen der Gesetzgebungslösung anzuwenden ist. Damit wird die Gesetzgebungslösung durch eine gesetzesnahe Methode ausgestaltet. In BGE 127 V 38 wird parallel zur Gesetzgebungslösung eine Rechtsfortbildungsmöglichkeit über die „ratio legis“ erwähnt. Rechtsfortbildung über die „ratio legis“ bedeutet aber in vielen Fällen Analogie. Das Bundesgericht führt also neben der Gesetzgebungslösung eine gesetzesnahe Lückenfüllungsmöglichkeit an. In BGE 125 III 154 wird sodann die Gesetzgebungslösung durch „allgemeine Rechtsprinzipien“ konkretisiert und mit Analogie gleichgesetzt. In BGE 126 III 129 wird die Gesetzgebungslösung mit scheinlegitimen Methoden wie Realien, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit sowie mit der gesetzesnahen Methode der Analogie aufgefüllt. Die eigentliche Begründung der Entscheidung enthält zwar ein umfassendes Gesetzgebervorgehen. In der anfänglichen Beschreibung der Gesetzgebungslösung kommt aber auch hier ein gewisses Bedürfnis zu Tage, konkrete und gesetzesnahe Lückenfüllungsmethoden zu verwenden. Insgesamt ergibt sich, dass fast alle Entscheidungen, die Art. 1 ZGB erwähnen, diesen in der einen oder anderen Weise im Sinne einer dem Legitimitätsgedanken entsprechenden Lückenfüllung konkretisieren. Das zeugt zum einen von einem gewissen Bewusstsein des Legitimitätsproblems, spricht aber vor allem dafür, in einer Lückenfüllungsnorm konkrete Methoden zu nennen. bb) Vernachlässigen des Legitimitätsproblems Wie bei den deutschen Entscheidungen kann man ein Vernachlässigen des Legitimitätsproblems an verschiedenen Phänomenen erkennen, die sich in den Begründungen der untersuchten schweizerischen Entscheidungen finden. Dabei geht es bei den schweizerischen Urteilen zunächst nur um das Offenlassen der Anwendung von konkretem Gesetzesrecht zugunsten von durch Rechtsfortbildung gefundenen Lösungen und darum, dass die Reihenfolge von Auslegungs- und Lückenfüllungsargumenten nicht eingehalten wird. Diese Phänomene finden sich in dreien der untersuchten schweizerischen Urteile. In BGE 123 III 292 wird zwar nicht direkt die Anwendung von Gesetzesrecht offen gelassen. Es wird aber offen gelassen, welcher Literaturansicht der Vorzug gegeben wird, und von den in Fragen kommenden Literaturansichten will zumindest eine nach Ansicht des Urteils ein Ergebnis mit Auslegung, also der Anwendung von
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Gesetzesrecht, erreichen. Diese Literaturmeinung hätte man gegenüber den anderen Ansichten, die ein Ergebnis über eine Rechtsfortbildung erreichen wollen, vorrangig prüfen müssen. In BGE 60 II 179 mischt das Bundesgericht Argumente zur Verneinung eines qualifizierten Schweigens über eine historische Auslegung mit lückenfüllenden Aussagen aus Rechtsprechung und Literatur. Damit wird die Reihenfolge von Auslegungs- und Lückenfüllungsargumenten nicht eingehalten. In BGE 114 II 230 wird die Lücke erst festgestellt, nachdem schon lückenfüllende Erwägungen angestellt wurden. Da die Lücke aber als Ergebnis der Bestimmung der Grenzen der Auslegung in der Regel vor ihrer Füllung festgestellt werden muss, kann man auch hier davon sprechen, dass das Bundesgericht die Reihenfolge von Auslegungs- und Lückenfüllungsargumenten nicht einhält. Was die Reihenfolge von gesetzesnahen und nicht gesetzesnahen Methoden bei der Lückenfüllung angeht, kann man für die Schweiz die elf untersuchten Urteile anführen, die Kombinationsbegründungen enthalten [dazu unten 3. d)]. Wesen der Kombinationsbegründungen ist es, dass gesetzesnahe und nicht gesetzesnahe Methoden als gleichwertig betrachtet werden. Folglich werden gesetzesnahe Methoden nicht vorrangig verwandt und auch in der Reihenfolge nicht vor den nicht gesetzesnahen Methoden genannt. Man kann also sagen, dass in den Kombinationsbegründungen grundsätzlich die Reihenfolge von gesetzesnahen und nicht gesetzesnahen Methoden bei der Lückenfüllung nicht eingehalten wird. Dies lässt zunächst auf ein geringes Bewusstsein des Legitimitätsproblems schließen. cc) Lückenfüllende Begründungen Wie oben unter bb) angeführt, sprechen die Kombinationsbegründungen in den untersuchten schweizerischen Entscheidungen zunächst gegen ein Bewusstsein des Legitimitätsproblems, da in diesen gesetzesnahe und nicht gesetzesnahe Lückenfüllungsmethoden als gleichwertig betrachtet werden. Ein gewisses Bewusstsein des Legitimitätsproblems findet sich aber in den zwei Entscheidungen, die scheinlegitime Methoden enthalten sowie in den zwei Entscheidungen zur Anscheinsvollmacht, die ebenfalls scheinbar Legitimität erzeugen wollen [vgl. unten 3. a) bb)]. Entscheidend bei den untersuchten schweizerischen Urteilen ist aber, dass es dort fünfzehn Urteile gibt, die Ansätze einer gesetzesnahen Begründung enthalten [dazu unten 4. b) bb)]. Dass in der Mehrzahl der untersuchten schweizerischen Entscheidungen auch auf eine gesetzesnahe Begründung wertgelegt wird, spricht wieder für ein Bewusstsein des Legitimitätsproblems.
II. Ergebnisse Schweiz
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2. Grenzen der Auslegung Wie bei den deutschen Urteilen existieren auch bei den untersuchten schweizerischen Entscheidungen hinsichtlich der Bestimmung der Grenzen der Auslegung verschiedene Phänomene. Dabei handelt es sich zunächst um die Überdehnung des konkret materiellen Rechts, die dazu führt, dass die Lücke und Art. 1 ZGB nicht erwähnt werden [dazu oben 1. a) bb)]. Dieses Vorgehen ruft aber auch eine Überdehnung der Grenzen der Auslegung hervor. Weiterhin soll das Zurückschieben der Grenzen der Auslegung und die fehlende Bestimmung der Grenzen der Auslegung ohne besonderen Grund behandelt werden. Insgesamt soll in diesem Abschnitt außerdem festgestellt werden, welchen Einfluss die Erwähnung von Art. 1 ZGB auf die Bestimmung der Grenzen der Auslegung hat. Dies wird im Zusammenhang mit der zutreffenden Bestimmung der Grenzen der Auslegung untersucht [unten c)]. Da einige Entscheidungen mehrere der oben genannten Phänomene enthalten, werden sie im Folgenden teilweise doppelt erwähnt. a) Überdehnen materiellen Rechts Vorwiegend in den Entscheidungen, die Art. 1 ZGB nicht erwähnen, gibt es ähnlich wie bei den untersuchten deutschen Entscheidungen eine Tendenz, die gefundenen Lösungen aus dem konkreten Gesetzes- oder Vertragsrecht abzuleiten, obwohl das nicht mehr möglich ist. Die mit § 242 BGB vergleichbare Vorschrift des Art. 2 Abs. 1 ZGB spielt dabei jedoch nur eine untergeordnete Rolle. aa) Gesetz Bei der Anwendung von Gesetzesrecht in der Lücke wird im Folgenden unterschieden zwischen konkretem Gesetzesrecht und dem Heranziehen der Generalklausel des Art. 2 Abs. 1 ZGB. (1) Anwendung von konkretem Gesetzesrecht in der Lücke Anwendung von konkretem Gesetzesrecht in der Lücke bedeutet zum einen den Versuch, das Problem tatsächlich mit dem Gesetzesrecht zu lösen. Zum anderen kann man aber auch diejenige Vorgehensweise einiger Entscheidungen dazu zählen, die zwar Analogie anwenden, diese aber zur Auslegung zählen und damit als Gesetzesanwendung begreifen. Hier wird zwar kein konkretes Gesetzesrecht angewandt, durch die Zuordnung der Analogie zur Auslegung wird jedoch ausgesagt, man befinde sich noch innerhalb des Gesetzesrechts. Damit werden die Grenzen der Auslegung verschoben.
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D. Rechtsfortbildung in der Schweiz
(a) Tatsächliche Anwendung von Gesetzesrecht Zur tatsächlichen Anwendung von Gesetzesrecht kommt es in fünf der untersuchten schweizerischen Entscheidungen, und zwar in BGE 120 II 197, BGE 74 II 149, BGE 83 II 375, BGE 91 II 100 und BGE 114 II 230. Dabei wird nur in BGE 91 II 100 auf die Lücke und eine Kommentierung von Art. 1 ZGB hingewiesen. Die anderen Entscheidungen erwähnen Art. 1 ZGB nicht. In BGE 120 II 197 versucht das Bundesgericht, die Anscheinsvollmacht aus Art. 33 Abs. 3 OR herzuleiten, obwohl sie sich aus dieser Vorschrift nicht ableiten lässt, wenn man die Möglichkeit der Irrtumsanfechtung berücksichtigt. In BGE 74 II 149 wird die Anscheinsvollmacht als konkludente Vollmachterteilung dargestellt. Damit wird sie aus den gesetzlichen Regeln über die Stellvertretung abgeleitet, auch wenn nicht auf eine konkrete Norm eingegangen wird. In BGE 83 II 375, BGE 91 II 100 und BGE 114 II 230 geht es darum, ob ein Nachbar, der durch notwendige Baumaßnahmen auf einem angrenzenden Grundstück in seiner geschäftlichen Tätigkeit beeinträchtigt ist, von dem Bauenden Schadenersatz verlangen kann. Die Entscheidung BGE 83 II 375 fasst den Fall notwendiger Baumaßnahmen unter die Art. 679 ZGB a.F. und 684 ZGB, obwohl Art. 684 ZGB diesbezüglich teleologisch reduziert werden muss, so dass notwendige Baumaßnahmen nicht mehr in seinen Anwendungsbereich fallen. Die Urteile BGE 91 II 100 und BGE 114 II 230 wenden die Art. 679 ZGB a.F. und 684 ZGB auf den Fall notwendiger Baumaßnahmen zwar nicht an, gehen dabei aber nicht über eine teleologische Reduktion vor und erwecken so den Eindruck, die Einschränkung ergebe sich aus den Art. 679 a.F., 684 ZGB selbst. Damit finden die Entscheidungen ihre Lösung im Gesetzesrecht, obwohl eine teleologische Reduktion notwendig gewesen wäre. Dieses Vorgehen bei der verdeckten Lücke ist vergleichbar mit der Überdehnung der Grenzen der Auslegung bei der offenen Lücke.384 Bei der offenen Lücke dehnt man den Gesetzeswortlaut aus, obwohl man sich schon im Lückenbereich befindet und Analogie anwenden müsste. Bei der unechten Lücke schränkt man den Gesetzeswortlaut ein, obwohl man eigentlich teleologisch reduzieren müsste. (b) Die Analogie wird zur Auslegung gezählt Das Problem, dass die Analogie zur Auslegung gezählt wird, ergibt sich aus der Formulierung von Art. 1 ZGB, der in seinem Abs. 1 die Auslegung nennt und in seinem Abs. 2 gleich zur Lückenfüllung über Gewohnheitsrecht und die Gesetzgebungslösung übergeht. Da die Analogie nicht erwähnt wird, liegt es nahe, sie noch unter Abs. 1 zu fassen und als Teil der Auslegung zu begreifen.385 Dass es sich dabei um ein Problem handelt, dass wahrscheinlich auf Art. 1 ZGB zurückzuführen ist, 384 385
Zu offenen und verdeckten Lücken s. o. B. III. 1. b) bb) (2). Dazu näher oben B. V. 2. b).
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bestätigt sich auch dadurch, dass sich dieses Phänomen in den untersuchten deutschen Urteilen nicht findet. Die Analogie wird in drei untersuchten Entscheidungen zur Auslegung gezählt, und zwar in BGE 39 II 561, BGE 119 V 250 und BGE 118 II 157. In den ersten beiden Entscheidungen wird Art. 1 ZGB genannt, in der dritten Entscheidung wird er nicht erwähnt. In BGE 39 II 561 spricht die Verwendung der Analogie vor den Lückenfüllungsmethoden der Abs. 2 und 3 des Art. 1 ZGB dafür, dass die Analogie zur Auslegung gezählt wird. Ansonsten werden die Grenzen der Auslegung in dieser Entscheidung aber zutreffend bestimmt. In BGE 119 V 250 werden zum Teil Argumente zur Auslegung und zur Analogie kombiniert und gemischt, zum Teil wird aber auch die Analogie klar zu Gesetzesanwendung gezählt. In BGE 118 II 157 wird Analogie angewandt, ohne dass vorher eine Lücke definiert worden ist. Auch das spricht dafür, dass die Entscheidung die Analogie als normale Gesetzesanwendung betrachtet. (2) Art. 2 Abs. 1 ZGB Außer in BGE 97 II 390, wo das Bundesgericht den Parteiwillen mit Hilfe von Art. 2 Abs. 1 ZGB – Treu und Glauben – bestimmt und damit objektive Elemente in die Vertragsauslegung hineinbringt, kommt Art. 2 Abs. 1 ZGB bei der Rechtsfortbildung in der Schweiz keine nennenswerte Bedeutung zu. Zu BGE 97 II 390 ist außerdem zu sagen, dass Art. 2 Abs. 1 ZGB dort tatsächlich Anwendung finden würde, da man sich innerhalb eines Schuldverhältnisses befindet. Er wird lediglich durch die speziellere Norm des Art. 27 Abs. 2 ZGB verdrängt. Sieht man davon ab, dass der Grundsatz von Treu und Glauben mit der Vertragsauslegung vermischt wird, handelt es sich hier also um einen zulässigen Rückgriff auf Art. 2 Abs. 1 ZGB. Erwähnenswert sind sonst nur die Entscheidungen BGE 31 II 667 und BGE 77 II 135. Bei BGE 31 II 667 handelt es sich um ein Urteil, das vor dem Inkrafttreten des ZGB ergangen ist. Dort wird zwar auch auf Treu und Glauben zurückgegriffen, jedoch nicht mit dem Anspruch dass es sich dabei um einen gesetzlich geregelten Grundsatz handelt. Man kann daher nicht von einer scheinbaren Anwendung von Gesetzesrecht sprechen. In BGE 77 II 135 wird eine Analogie durch den Hinweis auf den „guten Glauben in Geschäftsbeziehungen“ ergänzt. Auch hier wird nicht auf die Regelung von Treu und Glauben in Art. 2 Abs. 1 ZGB verwiesen, so dass es sich dabei um eine Leerformel [dazu unten 3. d) cc)] und nicht um die Überdehnung von Gesetzesrecht handelt.
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bb) Vertrag Wie in den deutschen Entscheidungen RGZ 127, 218 und BGHZ 56, 269386 zum Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter gibt es auch in der Schweiz in zwei untersuchten Entscheidungen die Tendenz, auf einen verobjektivierten hypothetischen Parteiwillen zurückzugreifen. Damit werden die Grenzen des Vertragsrechtes überdehnt, da objektive Erwägungen nicht zur Vertragsauslegung gehören. In BGE 97 II 390 wird bei einem auf ewige Zeit abgeschlossenen Vertrag über den Grundsatz von Treu und Glauben ein Endzeitpunkt des Vertrages in den Parteiwillen hineininterpretiert. Erwähnen kann man hier außerdem BGE 123 III 292, wo der hypothetische Parteiwille in einer ergänzenden Argumentation aufgrund eines an redliche Vertragspartner anzulegenden Maßstabes bestimmt wird. Die Hauptbegründung der Entscheidung beruht jedoch auf anderen Erwägungen und in diesen Erwägungen werden auch die Grenzen der Auslegung überzeugend bestimmt. Dieses Urteil wird daher in erster Linie der zutreffenden Bestimmung der Grenzen der Auslegung unter c) zugeordnet. b) Zurückschieben der Grenzen der Auslegung Das Zurückschieben der Grenzen der Auslegung lässt sich im Gegensatz zu den deutschen Entscheidungen in den untersuchten schweizerischen Urteilen nicht finden. c) Zutreffende Bestimmung der Grenzen der Auslegung Die Grenzen der Auslegung werden in zehn Entscheidungen grundsätzlich zutreffend bestimmt, und zwar in BGE 39 II 561, BGE 124 V 301, BGE 60 II 179, BGE 114 II 239, BGE 125 III 154, BGE 126 III 129, BGE 127 V 38, BGE 55 II 302, BGE 123 III 292 und BGE 120 II 331. In BGE 39 II 561 wird zwar die Analogie zur Auslegung gezählt, da sie aber im Ergebnis abgelehnt wird, hat dies keine tatsächlichen Auswirkungen auf die Grenzziehungen im Urteil. Bei den ersten sieben Entscheidungen handelt es sich um Urteile, die Art. 1 ZGB erwähnen. Von neun Urteilen, die Art. 1 ZGB erwähnen [s. o. 1. a) aa)], ziehen also sieben die Grenzen der Auslegung zutreffend. Daraus ergibt sich eine Quote von 77,78 %. Die restlichen drei Entscheidungen erwähnen Art. 1 ZGB nicht, ziehen die Grenzen der Auslegung aber dennoch nach hier vertretener Ansicht richtig. Damit kann man einen Zusammenhang zwischen der Erwähnung von Art. 1 ZGB und der zutreffenden Bestimmung der Grenzen der Auslegung feststellen.
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Vgl. die Analysen unter C. I. 5.
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Wie oben festgestellt, sind es zehn der zwanzig untersuchten schweizerischen Entscheidungen, also 50 %, die die Grenzen der Auslegung zutreffend ziehen. Von den restlichen zehn Entscheidungen werden die Grenzen der Auslegung in acht Entscheidungen aus den oben unter 2. a) aufgeführten Gründen nicht zutreffend bestimmt. Die restlichen zwei Entscheidungen sind BGE 31 II 667 und BGE 77 II 135. In BGE 31 II 667 scheitert die Bestimmung der Grenzen der Auslegung daran, dass sich das Bundesgericht auf die Rechtsscheinvollmacht als einen von der deutschen Literatur entwickelten Grundsatz bezieht. In BGE 77 II 135 nimmt das Bundesgericht den Grundsatz der culpa in contrahendo aufgrund von Vorentscheidungen als gegeben an. d) Die Grenzen der Auslegung werden ohne besonderen Grund nicht bestimmt Nimmt man die oben unter c) erwähnten zehn Entscheidungen, die die Grenzen der Auslegung zutreffend bestimmen, und die oben unter 1. a) bb) erwähnten acht Entscheidungen, die die Lücke nicht erkennen, zusammen, bleiben zunächst zwei der zwanzig untersuchten Entscheidungen, die eventuell die Grenzen der Auslegung ohne besonderen Grund nicht bestimmen. Da aber die Entscheidung BGE 120 II 331 in beiden oben genannten Kategorien zu finden ist und damit doppelt vorkommt, bleiben insgesamt drei Entscheidungen, die die Grenzen der Auslegung eventuell zutreffend hätten bestimmen können, es aber nicht tun. Diese Entscheidungen sind BGE 91 II 100, BGE 114 II 230 und BGE 119 V 250. Diese Urteile erwähnen alle drei Art. 1 ZGB oder das Vorliegen einer Lücke und zählen deswegen nicht zu den oben unter 1. a) bb) aufgeführten acht Entscheidungen, die die Lücke nicht erkennen. Wenn ein Gericht aber eine Lücke erkannt hat, gibt es keinen Grund, die Grenzen der Auslegung nicht zutreffend zu bestimmen. Man könnte also dazu kommen, dass diese drei Entscheidungen die Grenzen der Auslegung ohne besonderen Grund nicht bestimmen. Dagegen sprechen jedoch die Begründungen der Entscheidungen. In BGE 91 II 100 und BGE 114 II 230 wendet das Bundesgericht Gesetzesrecht in der Lücke an [s. o. 2. a) aa) (1) (a)] und in BGE 119 V 250 wird die Analogie zur Auslegung gezählt [s. o. 2. a) aa) (1) (b)]. Es existiert also im Endeffekt doch ein Grund, warum die Grenzen der Auslegung überdehnt werden. Damit gibt es in den untersuchten schweizerischen Urteilen keines, das die Grenzen der Auslegung ohne Grund nicht bestimmt. Das spricht dafür, dass ein System mit Lückenfüllungsnorm dazu anhält, nicht ohne Grund auf eine methodisch genaue Vorgehensweise zu verzichten.
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3. Lückenfüllung Wie in den deutschen Entscheidungen gibt es auch in den untersuchten schweizerischen Urteilen Vorgehensweisen, die im Sinne einer am Legitimitätsgedanken orientierten Lückenfüllung problematisch sind. Dies sind das Verdecken der Grenzen gesetzesnaher Lückenfüllung (zweite Grenze387), das Zurückschieben der zweiten Grenze und die Rechtsfortbildung contra legem. Eine Zwischenposition nehmen die Kombinationsbegründungen ein. Bei diesen wird die zweite Grenze zwar nicht verdeckt, sie orientieren sich aber auch nicht am Legitimitätsgedanken bei der Lückenfüllung [näher dazu unten d)]. Schließlich gibt es diejenigen Vorgehensweisen, die dem Legitimitätsprinzip bei der Lückenfüllung entsprechen. Da die Entscheidungen oft mehrere Begründungsansätze enthalten, werden sie im Rahmen der folgenden Untersuchung der Lückenfüllungsmethoden in die verschiedenen Kategorien teilweise mehrfach eingeordnet. a) Verdecken der zweiten Grenze Die zweite Grenze wird einerseits verdeckt, wenn die Grenzen der Auslegung überdehnt werden und so eine Entscheidung als vollständig legitimiert darstellt wird, die mit einer in der Legitimität begrenzten Lückenfüllungsmethode wie der Analogie hätte begründet werden müssen. Andererseits wird die zweite Grenze oder Grenze der Analogie durch das Verwenden von scheinlegitimen Argumenten verschleiert, mit denen die lückenfüllenden Begründungen ergänzt werden. aa) Überdehnen der Grenzen der Auslegung Überdehnt man die Grenzen der Auslegung, wie oben unter 2. a) beschrieben, indem man das Problem mit dem konkreten Gesetzes- oder Vertragsrecht lösen möchte, überdeckt man sämtliche Lückenproblematik und alle Legitimitätsprobleme, die sich bei der Lückenfüllung stellen können. Auf Gesetzesrecht bezieht sich das Bundesgericht in BGE 120 II 197, BGE 74 II 149, BGE 83 II 375, BGE 91 II 100 und BGE 114 II 230, auf Vertragsrecht in BGE 97 II 390. Die Entscheidung BGE 114 II 230 enthält jedoch noch Erwägungen zur Analogie [s. u. e) aa)]. Das Urteil BGE 97 II 390 begründet unter anderem mit einem zulässigen argumentum a maiore ad minus und BGE 91 II 100 erwähnt außerdem die Normen, die man im Rahmen einer Rechtsanalogie heranziehen kann [für beide unten d) aa)]. Diese drei Entscheidungen enthalten daher noch Ansätze einer gesetzesnahen Begründung.
387
Dazu oben B. III. 1. c).
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bb) Verdecken durch ergänzende Argumente, mit denen Legitimität suggeriert wird Ein Verdecken des Legitimitätsproblems in der Lücke findet sich in vier der untersuchten schweizerischen Entscheidungen. In BGE 77 II 135 werden Normen genannt, die man im Rahmen einer Rechtsanalogie zur Begründung der culpa in contrahendo heranziehen kann [s. u. d) cc)]. Untermauert wird diese Argumentation jedoch mit dem Prinzip des „guten Glaubens in Geschäftsbeziehungen“. In BGE 124 V 301 wird durch das Wort „rechtsgleiche“ Behandlung Legitimität suggeriert, obwohl der Richter selbst wertet. Die Entscheidung knüpft jedoch zusätzlich an eine Norm an, die man analog anwenden könnte [s. u. d) dd)]. Zudem gibt es noch die zwei Entscheidungen zur Anscheinsvollmacht, die keine Ansätze einer gesetzesnahen Begründung enthalten aber dennoch versuchen, scheinbar Legitimität in der Lücke zu schaffen. In BGE 31 II 667 werden der Grundsatz von „Treu und Glauben“ sowie deutsche Literaturmeinungen zur Begründung der Anscheinsvollmacht herangezogen. Die Entscheidung BGE 74 II 149 enthält auch keine gesetzesnahe Begründung. Dort wird diese Vorentscheidung BGE 31 II 667 zitiert sowie auf den kaufmännischen Verkehr und die Rechtssicherheit hingewiesen. In beiden Entscheidungen wird durch den Verweis auf „Treu und Glauben“ bzw. auf die Rechtssicherheit der Anschein von Legitimität erweckt. Interessant dabei ist, dass die Entscheidungen, die keine eigene Begründung enthalten, den Anschein von Legitimität erwecken wollen. Im Falle von BGE 31 II 667 lässt sich dies eventuell damit erklären, dass es sich um ein Urteil handelt, das vor dem Inkrafttreten des ZGB und damit von Art. 1 ZGB ergangen ist. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine methodische Anleitung zur Lückenfüllung. Die Entscheidung BGE 74 II 149 übernimmt dann diese Vorgehensweise von BGE 31 II 667, obwohl das ZGB in diesem Fall schon gilt. b) Zurückschieben der zweiten Grenze Zurückschieben der zweiten Grenze bedeutet, dass man sich in den nicht legitimierten Bereich begibt, indem man eine nicht gesetzesnahe Begründung anführt, obwohl noch eine gesetzesnahe Lückenfüllung, etwa über eine Analogie, möglich wäre. In den untersuchten schweizerischen Urteilen findet sich so eine Vorgehensweise in BGE 74 II 149 und BGE 119 V 250. In BGE 74 II 149 nimmt das Bundesgericht eine Anscheinsvollmacht an, obwohl Anhaltspunkte dafür bestehen, dass auch eine Duldungsvollmacht vorgelegen haben könnte. Die Duldungsvollmacht lässt sich aus einer doppelten Analogie zu Art. 33 Abs. 3 OR ableiten und damit gesetzesnah begründen, was für die Anscheinsvollmacht nicht möglich ist.
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In BGE 119 V 250 leitet das Bundesgericht den zur Lückenfüllung verwandten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Leistungsrecht über Vorentscheidungen und eine Literaturmeinung her, obwohl er sich über eine Rechtsanalogie zu verschiedenen sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften begründen ließe. c) Rechtsfortbildung contra legem In den untersuchten schweizerischen Entscheidungen ist es die Anscheinsvollmacht, die contra legem entwickelt wird. Sie entsteht zunächst ohne eigene Begründung mit dem schweizerischen Recht und wird dann durch den Rückgriff auf eine Vorentscheidung gerechtfertigt. Eine spätere Entscheidung versucht noch einmal eine eigene, neue Begründung mit dem Gesetzesrecht, die jedoch nicht überzeugend ist. In BGE 31 II 667 wird die Rechtsscheinvollmacht mit Hilfe deutscher Literatur und scheinlegitimer Methoden entwickelt. In BGE 74 II 149 erfolgt dann eine Bezugnahme auf BGE 31 II 667, wodurch die Rechtsscheinvollmacht zu einem schweizerischen Grundsatz wird, sowie das weitere Heranziehen scheinlegitimer Argumente. Die spätere Entscheidung BGE 120 II 197 begründet noch einmal selbst, fasst die Anscheinsvollmacht jedoch unter das schweizerische Gesetzesrecht, obwohl dies nicht möglich ist. Eine weitere Contra-legem-Entscheidung erfolgt in BGE 118 II 157. Hier legt das Bundesgericht eine geltende arbeitsrechtliche Regelung mit Hilfe einer noch nicht in Kraft getretenen neuen Gesetzeslage aus. Da dies die Wortlautgrenze der bisherigen Norm überschreitet, entscheidet das Bundesgericht contra legem. d) Kombinationsbegründungen Insgesamt gibt es elf Entscheidungen, die gesetzesnahe und nicht gesetzesnahe Begründungsansätze enthalten, und zwar BGE 39 II 561, BGE 124 V 301, BGE 55 II 302, BGE 91 II 100, BGE 123 III 292, BGE 126 III 129, BGE 77 II 135, BGE 114 II 239, BGE 97 II 390, BGE 60 II 179 und BGE 120 II 331. Da diese Entscheidungen diese beiden Begründungsansätze nebeneinander stehen lassen, versuchen sie weder, die Grenzen der gesetzesnahen Lückenfüllungsmethoden zu verdecken, noch ziehen sie nicht gesetzesnahe Methoden als Ergänzung der gesetzesnahen Methoden heran. Sie sind legitimitätstechnisch indifferent. Dies erklärt sich aus der Formulierung von Art. 1 Abs. 2 ZGB, der den Vorrang gesetzesnaher Lückenfüllungsmethoden vor der Gesetzgebungslösung nicht enthält. Die auch unter a) bb) erwähnten Entscheidungen BGE 77 II 135 und BGE 124 V 301 enthalten zwar legitimitätssuggerierende Ergänzungen. Diese sind jedoch von untergeordneter Bedeutung, da die Entscheidungen außerdem gesetzesnahe und nicht gesetzesnahe Argumente nebeneinander stellen. Sie sollen daher auch den Kombinationsbegründungen zugeordnet werden.
II. Ergebnisse Schweiz
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Interessant ist, dass sechs der elf Entscheidungen Art. 1 ZGB bzw. die Gesetzgebungslösung ausdrücklich erwähnen und die fünf restlichen ihn nicht nennen. Die Vorschrift des Art. 1 ZGB führt also unabhängig von seiner Erwähnung dazu, dass eine Tendenz zu ausführlicher Begründung mit gesetzesnahen und nicht gesetzesnahen Methoden besteht. Innerhalb der Kombinationsbegründungen existieren verschiedene Begründungsarten, die mit gesetzesnahen Methoden kombiniert werden. Es gibt eine Entscheidung zur Vertragsauslegung und jeweils mehrere Entscheidungen, die mit dem Verweis auf Präjudizien, auf Leerformeln oder eigene Wertungen des Richters oder mit einem ausführlichen Gesetzgebervorgehen operieren. aa) Vertragsauslegung Wie bereits oben unter 2. a) bb) beschrieben, wird in BGE 97 II 390 der Parteiwille über Treu und Glauben verobjektiviert, um das Problem über eine Vertragsauslegung zu lösen. Gleichzeitig enthält die Entscheidung aber Erwägungen, die im Rahmen eines argumentum a maiore ad minus genutzt werden können. bb) Präjudizien Interessant ist, dass es in der Schweiz auch Entscheidungen mit Kombinationsbegründungen gibt, die auf Präjudizien zurückgreifen. Das bedeutet, dass die Entscheidungen neben dem Rückgriff auf Vorentscheidungen Ansätze einer gesetzesnahen Begründung enthalten. Das ist insofern bemerkenswert, als das Vorhandensein von Präjudizien dazu verführt, das Problem als gelöst anzusehen und nicht mehr weiter zu begründen. Insgesamt greifen nur drei der untersuchten schweizerischen Urteile in dem Sinne auf Präjudizien zurück, dass sie ihr Ergebnis direkt auf die Vorentscheidungen stützen. Dies sind BGE 74 II 149 [s. o. c)], BGE 77 II 135 und BGE 114 II 239. Davon enthalten die beiden Letzteren außerdem Ansätze einer gesetzesnahen Begründung und können daher den Kombinationsbegründungen zugeordnet werden. In BGE 77 II 135 wird auf die Gerichtspraxis der schweizerischen Gerichte hingewiesen, die die culpa in contrahendo anerkannt hätten, ohne eine konkrete Entscheidung zu zitieren. Letzteres weist schon darauf hin, dass das Bundesgericht noch einmal selbst begründen will. Im Nachgang werden dann auch Normen genannt, die man im Rahmen einer Rechtsanalogie heranziehen will. In BGE 114 II 239 wird zwar keine Lücke gefüllt, sondern die Lückenfüllung wegen der Annahme eines qualifizierten Schweigens des Gesetzgebers abgelehnt. Dennoch begründet das Bundesgericht auch hier die Annahme dieses qualifizierten Schweigens noch einmal ausführlich selbst, obwohl es bereits vorher gesagt hatte, an der Rechtsprechung einer Vorentscheidung festhalten zu wollen.
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Interessant zur Problematik der Vorentscheidungen ist auch noch BGE 120 II 197 zur Anscheinsvollmacht, und zwar deswegen, weil diese Entscheidung nicht auf Präjudizien verweist, obwohl es u. a. mit BGE 31 II 667 und BGE 74 II 149 eine längere Tradition in der schweizerischen Rechtsprechung gibt, die Anscheinsvollmacht anzuerkennen. Die Entscheidung BGE 120 II 197 enthält zwar auch keine überzeugende Begründung für die Anscheinsvollmacht. Sie begründet aber vollständig selbst, ohne sich auf Vorentscheidungen zu beziehen. Auch diese Entscheidung spricht dafür, dass in schweizerischen Urteilen nicht übermäßig vom Rückgriff auf Präjudizien Gebrauch gemacht wird. cc) Leerformeln und eigene Wertungen des Richters Insgesamt enthalten sechs der untersuchten schweizerischen Entscheidungen neben dem Benutzen von Leerformeln oder einer eigenen Wertung des Richters Ansätze einer gesetzesnahen Begründung. Das sind BGE 77 II 135, BGE 123 III 292, BGE 60 II 179, BGE 91 II 100, BGE 114 II 230 und BGE 120 II 331. Die beiden ersten Entscheidungen werden auch in der Rubrik „Präjudizien“ [d) bb)] bzw. „Gesetzgebervorgehen“ [d) dd)] erwähnt, da sie auch diese Phänomene enthalten. Die Entscheidung BGE 114 II 230 wird außerdem in der Rubrik „Dem Legitimitätsgedanken entsprechende Lückenfüllung“ [e) aa)] aufgeführt, weil hier die Leerformeln gegenüber einer überzeugenden Rechtsanalogie in den Hintergrund treten. Die Entscheidung BGE 77 II 135 bezeichnet die culpa in contrahendo als ein in Deutschland und der Schweiz „allgemein anerkanntes Prinzip“. Im Nachgang nennt sie jedoch Normen, die sie im Rahmen einer Rechtsanalogie heranziehen will. Ein „allgemein anerkanntes Prinzip“ ist aber kein Rechtsprinzip, auch für Gewohnheitsrecht fehlen die Anhaltspunkte. Damit handelt es sich um eine Leerformel, die der Bekräftigung dient. In BGE 123 III 292 stützt sich das Bundesgericht unter anderem auf den „Zeitgeist“, es zählt jedoch die gesetzlichen Regeln auf, die man im Rahmen einer Gesamtanalogie heranziehen könnte. In BGE 60 II 179 geht es um den gesetzlichen Übergang von Grundpfandrechten. Um diesen Subrogationsfall zu bejahen, sagt die Entscheidung, diese Lösung sei ein „Gebot der Gerechtigkeit“ und „dränge sich als unabweislich auf“, und benutzt damit Leerformeln, die verdecken, dass der Richter selbst wertet. Im Folgenden enthält die Entscheidung jedoch Argumente, die eine Analogie stützen, obwohl sie die Analogie vorher abgelehnt hatte. In BGE 91 II 100 begründet das Bundesgericht mit Hilfe einer eigenen Wertung zu einer Entschädigung bei einem Eingriff in fremde Rechtsbereiche und mit der Leerformel des „gerechten Interessenausgleichs“. Seine Lösung gleicht das Bundesgericht jedoch mit Vorschriften ab, auf die man eine Analogie stützen kann.
II. Ergebnisse Schweiz
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In BGE 114 II 230 werden zunächst Vorschriften erwähnt, die im Rahmen einer Rechtsanalogie herangezogen werden können, auch wenn die Entscheidung nicht ausdrücklich auf eine Analogie abstellt. Später sagt das Bundesgericht dann, dass ein „gerechter und vernünftiger Interessenausgleich“ gefunden werden müsse. Was „gerecht und vernünftig“ ist, kann aber nur der Richter selbst entscheiden. In BGE 120 II 331 wird eine Haftung aus erwecktem Konzernvertrauen über eine Mischung aus einer Analogie zur culpa in contrahendo und einer allgemeinen Vertrauenshaftung hergeleitet. Eine allgemeine Vertrauenshaftung lässt sich jedoch gesetzlich nicht begründen, so dass der Richter entscheidet, wann ein Vertrauen schutzwürdig ist und wann nicht. Auch bei dieser Entscheidung handelt es sich also um eine Kombination aus eigener Wertung des Richters und Analogie. dd) Gesetzgebervorgehen Als Gesetzgebervorgehen nach Art. 1 Abs. 2 ZGB soll hier eine Vorgehensweise verstanden werden, die unter Zuhilfenahme verschiedener Literaturmeinungen und auch Rechtsprechung sowie rechtsvergleichender und Zweckmäßigkeitserwägungen durch eigene Wertung zu einer Entscheidung kommt.388 Wie ein Gesetzgeber beleuchtet der Richter das Problem aus verschiedenen Blickwinkeln und wertet schließlich selbst, um eine Entscheidung zu fällen. Dabei ist es nicht Ziel des Richters, die lückenfüllende Regel aus dem bestehenden Gesetzesrecht abzuleiten, sondern eine seiner Meinung nach sinnvolle Regelung zu finden, die sich in das vorhandene Gesetzesrecht einfügt.389 Analogiefähige Normen werden daher oft nur im Nachgang zitiert, die Analogie bleibt ein Argument unter vielen oder sie wird im Rahmen der Gesetzgebungslösung angewandt.390 Positiv an diesen Entscheidungen ist jedoch, dass sie die Erwägungen zur Analogie enthalten. Insgesamt kombinieren fünf der untersuchten schweizerischen Entscheidungen ein Gesetzgebervorgehen mit Überlegungen zur Analogie, und zwar BGE 39 II 561, BGE 124 V 301, BGE 55 II 302, BGE 123 III 292 und BGE 126 III 129. In BGE 39 II 561 werden zum Problem des Selbstkontrahierens des Vertreters deutsche und schweizerische Literaturmeinungen herangezogen und es wird mit § 181 BGB begründet sowie mit einem Schutzgedanken gegenüber dem Vertretenen, der auf einer eigenen Wertung beruht. Nachdem das Bundesgericht bezüglich der Zulässigkeit des Selbstkontrahierens des Vertreters eine Entscheidung für das schweizerische Recht getroffen hat, werden analogiefähige Normen erwähnt, die dieses Ergebnis stützen.
388 389 390
Dazu oben B. V. 2. c) bb) (2). Dazu oben B. V. 2. c) bb) (1). Zum Verhältnis Analogie – Gesetzgebungslösung s. o. B. V. 2. c) aa).
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D. Rechtsfortbildung in der Schweiz
In BGE 124 V 301 charakterisiert sich das Gesetzgebervorgehen dadurch, dass die Entscheidung mit Hilfe von Zweckmäßigkeitserwägungen selbst wertet. Sie knüpft jedoch zusätzlich an eine Norm an, die man analog anwenden könnte. In BGE 55 II 302 zur Frage des Eigentumserwerbs an Mobilien wird zunächst das deutsche Abstraktionsprinzip diskutiert nebst Literaturmeinungen, die sich dafür und dagegen aussprechen. Sodann wird kurz die österreichische Lösung angesprochen. Außerdem erörtert die Entscheidung die Frage, ob das Abstraktionsprinzip hinsichtlich des Interessenausgleichs der am Eigentumserwerb beteiligten Parteien und der eventuell betroffenen Dritten zweckmäßig ist. Die eigentlich analogiefähige Norm, Art. 974 Abs. 2 ZGB, wird nur als ein Argument unter vielen angeführt. Sie wird aber erwähnt. In BGE 123 III 292 wird bei der Frage der richterlichen Vertragsanpassung bei Übervorteilung auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts, die ältere schweizerische Literatur und die in Deutschland zu § 138 Abs. 2 BGB herrschende Auffassung sowie auf die jüngere schweizerische Literatur eingegangen. Sodann wird gesagt, die richterliche Vertragsanpassung entspreche auffällig dem „Zeitgeist“. Nachdem die richterliche Vertragsanpassung bejaht worden ist, wird angeführt, diese Lösung sei auch systemkonform und es werden Normen aufgezählt, die eine richterliche Vertragskorrektur ermöglichen. Damit geht die Entscheidung formell von einem Einpassen der Lösung in das System im Sinne der Gesetzgebungslösung aus, in der Sache handelt es sich aber um eine Rechtsanalogie. In BGE 126 III 129 geht es um die Frage der Erschöpfung im Patentrecht. Die Entscheidung bezieht sich auf die schweizerische Lehre und die kantonale Rechtsprechung, nimmt einen Vergleich mit Marken- und Urheberrecht vor, ohne eine Analogie anzusprechen, sowie einen umfassenden Rechtsvergleich mit Bezugnahme auf Deutschland, Frankreich, Österreich, Italien und die Europäische Union. Schließlich kündigt sie eine Interessenabwägung an, an deren Ende eine eigene Wertung steht. Letztlich argumentiert die Entscheidung aber mit dem Sinn und Zweck des Patentrechts, der leerliefe, wenn der Grundsatz der internationalen Erschöpfung angenommen würde. Damit enthält sie eine überzeugende rechtliche Argumentation, auch wenn sie es so darstellt, als würde sie selbst werten. e) Dem Legitimitätsgedanken entsprechende Lückenfüllung Im Rahmen der dem Legitimitätsprinzip entsprechenden Lückenfüllung gibt es Entscheidungen, die über eine Analogie bzw. über einen Annex-Schluss vorgehen, sowie ein Urteil, in dem man die eigene Wertung des Richters im Gesetzgebervorgehen nicht verhindern kann, da es keine gesetzesnahe Lückenfüllungsmöglichkeit gibt. Auch wenn die eigene Wertung des Richters keine dem Legitimitätsgedanken entsprechende Lückenfüllungsmethode ist, soll diese Entscheidung hier behandelt werden, da in diesem Fall das Gesetzgebervorgehen notwendig ist.
II. Ergebnisse Schweiz
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aa) Analogie und ähnliche Methoden Die Entscheidungen, in denen dem Legitimitätsprinzip entsprechende Lückenfüllung über eine Analogie oder eine ähnliche Methode betrieben wird, sind BGE 119 V 250, BGE 118 II 157, BGE 114 II 230 und BGE 125 III 154. Es gibt also vier Entscheidungen von zwanzig, in denen nach hier vertretener Ansicht vollständig korrekt vorgegangen wird. Im Vergleich zu den Entscheidungen, die Kombinationsbegründungen enthalten, sind das deutlich weniger. Zwei von diesen Entscheidungen erwähnen Art. 1 ZGB bzw. die Gesetzgebungslösung, und zwar BGE 119 V 250 und BGE 125 III 154, die anderen beiden Entscheidungen nennen ihn nicht. In BGE 119 V 250 wird ähnlich der Analogie mit der ratio des Gesetzes argumentiert, und zwar mit Hilfe eines Annex-Schlusses. Ein Annex-Schluss ergibt sich dann, wenn der Sinn und Zweck einer Norm nur dann verwirklicht werden kann, wenn ein mit dieser Vorschrift zusammenhängender Sachverhalt in einer bestimmten Weise geregelt wird.391 In BGE 118 II 157 bei der Kündigung des Franchisevertrages ist die analoge Heranziehung arbeitsrechtlicher Vorschriften überzeugend, auch wenn die Herleitung der konkret anzuwendenden arbeitsrechtlichen Regeln problematisch ist. In BGE 114 II 230 zur Entschädigung im Nachbarrecht wird eine Rechtsanalogie zu Vorschriften, die eine privatrechtliche Enteignung enthalten, durchgeführt, auch wenn die Entscheidung dies nicht so bezeichnet. Nur am Rande werden Leerformeln benutzt. Die Entscheidung BGE 125 III 154 zum Nachlassverfahren schließlich enthält eine überzeugende Analogie, indem eine Übergangsbestimmung, die für Konkurs und Pfändung gilt, analog auf das Nachlassverfahren angewandt wird. bb) Sonderfall: Unvermeidbares Gesetzgebervorgehen In BGE 127 V 38, wo die Gesetzgebungslösung erwähnt wird, ist der Sonderfall gegeben, dass ein Zeitpunkt für die Beendigung eines alten Krankenversicherungsverhältnisses bei verspäteter Mitteilung des neuen an den alten Versicherer zu finden ist. Dieser Zeitpunkt lässt sich weder direkt noch analog aus dem Gesetz ableiten. Die Entscheidung setzt den Zeitpunkt daher selbständig auf das Ende des Monats, in dem die verspätete Mitteilung gemacht wird, fest. Wenn konkrete zahlenmäßige Angaben festgelegt werden müssen, etwa bei Zeitoder Mengenangaben, und keine Regel zur Verfügung steht, deren Vorgaben man im Rahmen einer Analogie übernehmen kann, hat der Richter keine andere Möglichkeit, als so eine Angabe selbst festzusetzen. Dies ist ein Fall, in dem ein Gesetzgebervorgehen notwendig ist.
391
Dazu oben B. III. 2. a) bb).
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D. Rechtsfortbildung in der Schweiz
4. Gesamtergebnis Im Gesamtergebnis sollen entsprechend der oben formulierten ersten These392 die Wirkungen von Art. 1 ZGB auf Bestimmung der Grenzen der Auslegung und Lückenfüllung dargestellt werden und es soll zur Überprüfung der ersten und zweiten These393 zusammengefasst werden, wie die Rechtsfortbildung in der Schweiz hinsichtlich der Bestimmung der Grenzen der Auslegung und der Lückenfüllung funktioniert. Um dem rechtsphilosophischen Ansatz der Arbeit gerecht zu werden, soll weiterhin festgestellt werden, ob es in der Schweiz ein Bewusstsein des Legitimitätsproblems gibt. a) Wirkungen von Art. 1 ZGB Hier soll erläutert werden, welche Wirkungen die Erwähnung von Art. 1 ZGB auf die Bestimmung der Grenzen der Auslegung und auf die Lückenfüllung hat. aa) Grenzen der Auslegung Hinsichtlich der Bestimmung der Grenzen der Auslegung ist der Einfluss der Erwähnung von Art. 1 ZGB größer als bezüglich einer dem Legitimitätsgedanken entsprechenden Lückenfüllung, weil er die Abgrenzung von Auslegung und Lückenfüllung regelt, während er eine Aufforderung zur gesetzesnahen Lückenfüllung nicht enthält. Von den elf394 Entscheidungen, die Art. 1 ZGB nicht erwähnen, bestimmen acht395 die Grenzen der Auslegung nicht zutreffend. Dies ist nicht erstaunlich, denn wenn Art. 1 ZGB nicht genannt wird, wird entweder die Lücke nicht gesehen oder nicht erwähnt, so dass auch die Grenzen der Auslegung nicht mehr bestimmt werden. Bemerkenswert ist, dass es drei Entscheidungen gibt, in denen Art. 1 ZGB nicht genannt wird, die aber trotzdem die Grenzen der Auslegung zutreffend bestimmen. Von den neun396 Entscheidungen, die Art. 1 ZGB erwähnen, bestimmen sieben397 die Grenzen der Auslegung zutreffend. Die restlichen zwei Entscheidungen bestimmen die Grenzen der Auslegung nicht überzeugend. 392
s. o. B. VI. 3. s. o. 394 BGE 31 II 667, BGE 55 II 302, BGE 74 II 149, BGE 77 II 135, BGE 83 II 375, BGE 97 II 390, BGE 114 II 230, BGE 118 II 157, BGE 120 II 197, BGE 120 II 331 und BGE 123 III 292. 395 BGE 31 II 667, BGE 74 II 149, BGE 77 II 135, BGE 83 II 375, BGE 97 II 390, BGE 114 II 230, BGE 118 II 157 und BGE 120 II 197. 396 BGE 39 II 561, BGE 60 II 179, BGE 91 II 100, BGE 114 II 239, BGE 119 V 250, BGE 124 V 301, BGE 125 III 154, BGE 126 III 129 und BGE 127 V 38. 397 BGE 39 II 561, BGE 60 II 179, BGE 114 II 239, BGE 124 V 301, BGE 125 III 154, BGE 126 III 129 und BGE 127 V 38. 393
II. Ergebnisse Schweiz
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Bei den Entscheidungen, die Art. 1 ZGB nicht erwähnen, bestimmt also die Mehrzahl der Entscheidungen die Grenzen der Auslegung nicht zutreffend und bei den Entscheidungen, die Art. 1 ZGB erwähnen, zieht die Mehrzahl der Entscheidungen die Grenzen der Auslegung zutreffend. Wenn das Ergebnis auch nicht eins zu eins ausfällt, so gibt es doch einen Zusammenhang zwischen der Erwähnung von Art. 1 ZGB und der Art und Weise, wie die Grenzen der Auslegung bestimmt werden. bb) Lückenfüllung Hinsichtlich der lückenfüllenden Begründungen wirkt sich die Erwähnung von Art. 1 ZGB folgendermaßen aus: Die beiden398 Entscheidungen, die keine gesetzesnahe Begründung enthalten (s. o. 3. a) bb) a.E.), nennen Art. 1 ZGB nicht. Bei den Kombinationsbegründungen sowie bei den dem Legitimitätsgedanken entsprechenden Begründungen erwähnen acht399 von fünfzehn400 Entscheidungen, also 53,34 %, Art. 1 ZGB. Die Entscheidung401, die ein notwendiges Gesetzgebervorgehen enthält [s. o. 3. e) bb)], führt Art. 1 ZGB ebenfalls an. Damit lässt sich in den beiden Extremfällen „keine gesetzesnahe Begründung“ und „notwendiges Gesetzgebervorgehen“ ein Zusammenhang zwischen der Erwähnung von Art. 1 ZGB und dem Vorgehen bei der Lückenfüllung feststellen. In der Mehrzahl der Fälle, in denen entweder vollständig gesetzesnah oder mit Hilfe von Kombinationsbegründungen vorgegangen wird, gibt es aber keinen direkten Zusammenhang zwischen der Erwähnung von Art. 1 ZGB und der lückenfüllenden Begründung. Man kann jedoch feststellen, dass acht402 von neun403 Entscheidungen, die Art. 1 ZGB erwähnen, eine Kombinationsbegründung oder eine vollständig gesetzesnahe Lückenfüllung enthalten. Dass weitere sieben404 Entscheidungen mit Hilfe einer vollständig gesetzesnahen Lückenfüllung oder einer Kombinationsbegründung vorgehen, lässt sich zwar nicht direkt auf Art. 1 ZGB zurückführen. Man kann aber vermuten, dass es die Existenz der Lückenfüllungsnorm ist, die zu mehr Methodenbewusstsein in der Lücke und damit zu besserer lückenfüllender Begründung anhält.
398
BGE 31 II 667 und BGE 74 II 149. BGE 39 II 561, BGE 60 II 179, BGE 91 II 100, BGE 114 II 239, BGE 119 V 250, BGE 124 V 301, BGE 125 III 154 und BGE 126 III 129. 400 BGE 39 II 561, BGE 55 II 302, BGE 60 II 179, BGE 77 II 135, BGE 91 II 100, BGE 97 II 390, BGE 114 II 230, BGE 114 II 239, BGE 118 II 157, BGE 119 V 250, BGE 120 II 331, BGE 123 III 292, BGE 124 V 301, BGE 125 III 154 und BGE 126 III 129. 401 BGE 127 V 38. 402 s. o. Fn. 399. 403 s. o. Fn. 396. 404 BGE 55 II 302, BGE 77 II 135, BGE 97 II 390, BGE 114 II 230, BGE 118 II 157, BGE 120 II 331 und BGE 123 III 292. 399
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D. Rechtsfortbildung in der Schweiz
b) Vorgehensweise bei der Rechtsfortbildung In diesem Abschnitt soll zusammenfassend dargestellt werden, wie die untersuchten schweizerischen Urteile bei der Bestimmung der Grenzen der Auslegung und bei der Lückenfüllung vorgehen. aa) Grenzen der Auslegung Zehn405 von zwanzig untersuchten Entscheidungen ziehen die Grenzen der Auslegung nach hier vertretener Ansicht zutreffend. In den restlichen Entscheidungen finden sich ähnliche Gründe wie in Deutschland, die eine überzeugende Bestimmung der Grenzen der Auslegung verhindern. Nimmt man die Urteile, in denen die Analogie zur Auslegung gezählt wird, aus, wird in sechs406 der untersuchten schweizerischen Entscheidungen Gesetzes- oder Vertragsrecht überdehnt [oben 2. a)]. Allen diesen sechs Entscheidungen bis auf eine407 ist gemein, dass sie Art. 1 ZGB nicht erwähnen. Man kann also jenseits der Anwendung von Art. 1 ZGB dieselben Probleme bei der Bestimmung der Grenzen der Auslegung feststellen wie in Deutschland. Ein Sonderfall in der Schweiz ist die Tatsache, dass die Analogie zur Auslegung gezählt wird, und so die Grenzen der Auslegung verschoben werden. Dies ist in drei408 der untersuchten Entscheidungen der Fall und eindeutig auf Art. 1 ZGB zurückzuführen, der die Analogie nicht erwähnt409. Ein Zurückschieben der Grenzen der Auslegung sowie das Phänomen, dass die Grenzen der Auslegung ohne besonderen Grund nicht bestimmt werden, gibt es in den untersuchten schweizerischen Entscheidungen hingegen nicht. bb) Lückenfüllung Die wesentliche Vorgehensweise bei der Lückenfüllung in den untersuchten Entscheidungen ist diejenige über Kombinationsbegründungen. Damit sind zusammen mit den Urteilen, die vollständig gesetzesnah begründen, in fünfzehn410 Entscheidungen Ansätze einer gesetzesnahen Begründung enthalten. Eine Rechtsprechungsentwicklung contra legem kommt vor, wird aber durch eine411 spätere 405 BGE 39 II 561, BGE 55 II 302, BGE 60 II 179, BGE 114 II 239, BGE 120 II 331, BGE 123 III 292, BGE 124 V 301, BGE 125 III 154, BGE 126 III 129 und BGE 127 V 38. 406 BGE 74 II 149, BGE 83 II 375, BGE 91 II 100, BGE 97 II 390, BGE 114 II 230 und BGE 120 II 197. 407 BGE 91 II 100. 408 BGE 39 II 561, BGE 118 II 157 und BGE 119 V 250. 409 Dazu oben B. V. 2. b). 410 s. o. Fn. 400. 411 BGE 120 II 197.
II. Ergebnisse Schweiz
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Entscheidung, die eigenständig begründet, abgeschwächt. Die Herstellung scheinbarer Legitimität ist ebenfalls ein weniger ausgeprägtes Phänomen. Zudem ist in einer412 der untersuchten schweizerischen Entscheidungen ein Gesetzgebervorgehen unvermeidlich. (1) Kombinationsbegründungen und vollständig gesetzesnahe Lückenfüllung Elf413 der untersuchten schweizerischen Entscheidungen enthalten Kombinationsbegründungen, vier414 nehmen eine vollständig gesetzesnahe Lückenfüllung vor. Bei den Kombinationsbegründungen werden gesetzesnahe und nicht gesetzesnahe Begründungsansätze als gleichwertig betrachtet. Diese Argumentationen orientieren sich somit nicht am Legitimitätsprinzip bei der Lückenfüllung. Dies kann man auf Art. 1 ZGB zurückführen, der keinen Hinweis auf gesetzesnahe Lückenfüllungsmethoden, wie die Analogie, enthält. Aus dem Vorgesagten ergibt sich aber auch, dass fünfzehn der untersuchten zwanzig schweizerischen Entscheidungen Ansätze einer gesetzesnahen Begründung aufweisen. Damit ist der Legitimitätsgedanke bei der Lückenfüllung in einem überwiegenden Teil der untersuchten Entscheidungen jedenfalls teilweise vorhanden. Zudem ist zu sagen, dass die gesetzesnahen Begründungsansätze meist diejenigen der Analogie sind. Dies ist deswegen bemerkenswert, weil Art. 1 ZGB die Analogie nicht erwähnt. (2) Rechtsprechungsentwicklungen contra legem Im schweizerischen Recht wird wie in Deutschland das Institut der Anscheinsvollmacht contra legem entwickelt. Die erste415 Entscheidung dazu greift auf einen aus der deutschen Literatur bekannten Grundsatz sowie auf scheinlegitime Methoden zurück. In der folgenden416 Entscheidung wird diese erste Entscheidung zitiert und es werden weitere scheinlegitime Methoden herangezogen. Der Grundsatz der Anscheinsvollmacht entwickelt sich so über eine Rechtsprechungskette ohne Begründung aus dem deutschen Recht in das schweizerische Recht hinein. Interessant ist in diesem Zusammenhang jedoch die spätere Entscheidung BGE 120 II 197. Dort bezieht sich das Bundesgericht nicht auf die erwähnten Vorent412
BGE 127 V 38. BGE 39 II 561, BGE 55 II 302, BGE 60 II 179, BGE 77 II 135, BGE 91 II 100, BGE 97 II 390, BGE 114 II 239, BGE 120 II 331, BGE 123 III 292, BGE 124 V 301 und BGE 126 III 129. 414 BGE 114 II 230, BGE 118 II 157, BGE 119 V 250 und BGE 125 III 154. 415 BGE 31 II 667. 416 BGE 74 II 149. 413
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D. Rechtsfortbildung in der Schweiz
scheidungen, sondern unternimmt eine eigene Begründung der Anscheinsvollmacht. Diese ist im Ergebnis zwar nicht überzeugend. Bemerkenswert ist aber, dass der Versuch einer eigenen Begründung gemacht wird, obwohl einschlägige Vorentscheidungen vorliegen. Dies ist ein Ansatz, eine Rechtsprechungskette in Bezug auf die Begründung eines Rechtsinstitutes zu unterbrechen. Kurz erwähnen kann man hier außerdem die Entscheidung BGE 118 II 157. Dort versucht das Bundesgericht, eine geltende arbeitsrechtliche Rechtslage mit Hilfe einer neuen, noch nicht in Kraft getretenen Regelung auszulegen. Da dabei aber die Wortlautgrenze der geltenden Regelung überschritten wird, entscheidet das Bundesgericht in diesem Fall contra legem. (3) Restliche Tendenzen: Scheinbare Legitimität Scheinbare Legitimität entsteht in den sechs417 untersuchten schweizerischen Entscheidungen, die Gesetzes- oder Vertragsrecht überdehnen sowie in vier418 Entscheidungen, die scheinlegitime Methoden anwenden. Da eine419 Entscheidung beide Phänomene enthält, handelt es sich insgesamt um neun Entscheidungen. Von diesen neun Entscheidungen unternimmt jedoch eine420 auch eine gesetzesnahe Lückenfüllung und vier421 gehen außerdem über eine Kombinationsbegründung vor. Diese Entscheidungen enthalten also auch Ansätze einer gesetzesnahen Lückenfüllung. Damit minimiert sich die Anzahl der Entscheidungen, in denen ausschließlich scheinbar Legitimität erzeugt wird, von neun auf vier Entscheidungen. (4) Unvermeidbare eigene Wertung des Richters Die Entscheidung, die zu den unter (1) erwähnten fünfzehn Entscheidungen und den unter (3) erwähnten vier Entscheidungen noch fehlt, ist BGE 127 V 38. Diese Entscheidung ist insofern besonders, als sie ein unvermeidbares Gesetzgebervorgehen enthält.
417 418 419 420 421
s. o. Fn. 406. BGE 31 II 667, BGE 74 II 149, BGE 77 II 135 und BGE 124 V 301. BGE 74 II 149. BGE 114 II 230. BGE 77 II 135, BGE 91 II 100, BGE 97 II 390 und BGE 124 V 301.
II. Ergebnisse Schweiz
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c) Bewusstsein des Legitimitätsproblems In keiner der untersuchten schweizerischen Entscheidungen wird das Legitimitätsproblem direkt angesprochen. Interessant ist jedoch, dass Art. 1 ZGB in acht422 von neun423 Entscheidungen, in denen er erwähnt wird, im Sinne einer dem Legitimitätsprinzip entsprechenden Lückenfüllung einschränkend ausgelegt wird. Dies spricht für ein gewisses Bewusstsein des Legitimitätsproblems, aber auch dafür, eine Lückenfüllungsnorm in Bezug auf die Methoden gesetzesnaher Lückenfüllung konkreter zu formulieren. Die Phänomene des Offenlassens der Anwendung von konkretem Gesetzesrecht zugunsten von durch Rechtsfortbildung gefundenen Lösungen sowie das Nichteinhalten der Reihenfolge von Auslegungs- und Lückenfüllungsargumenten finden sich nur in dreien424 der untersuchten schweizerischen Entscheidungen. Dies ist kein nennenswertes Vernachlässigen des Legitimitätsproblems. Bei den lückenfüllenden Begründungen sprechen die vielen Kombinationsbegründungen hingegen gegen ein Bewusstsein des Legitimitätsproblems, da diese gesetzesnahe und nicht gesetzesnahe Methoden als gleichwertig betrachten. Für ein Bewusstsein des Legitimitätsproblems spricht wiederum, dass die Kombinationsbegründungen auch immer eine gesetzesnahe Argumentation enthalten. Insgesamt weisen fünfzehn425 der untersuchten schweizerischen Entscheidungen Ansätze einer gesetzesnahen Begründung auf. Zusammenfassend kann man sagen, dass in den untersuchten schweizerischen Entscheidungen kein eindeutiger Umgang mit dem Legitimitätsproblem zu verzeichnen ist. d) Endergebnis Die Vorschrift des Art. 1 ZGB wird in fast der Hälfte426 der untersuchten schweizerischen Entscheidungen erwähnt. Dabei ist ein Zusammenhang herzustellen zwischen der Bezugnahme auf Art. 1 ZGB und der zutreffenden Bestimmung der Grenzen der Auslegung. Hinsichtlich der Lückenfüllung ist ein solcher Zusammenhang nicht direkt gegeben. Man kann aber davon ausgehen, dass Art. 1 ZGB insgesamt zu besserer lückenfüllender Begründung anhält.
422 BGE 39 II 561, BGE 60 II 179, BGE 114 II 239, BGE 119 V 250, BGE 124 V 301, BGE 125 III 154, BGE 126 III 129 und BGE 127 V 38. 423 s. o. Fn. 396. 424 BGE 60 II 179, BGE 114 II 230 und BGE 123 III 292. 425 s. o. Fn. 400. 426 s. o. Fn. 396.
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D. Rechtsfortbildung in der Schweiz
Die Grenzen der Auslegung werden in der Hälfte427 der untersuchten schweizerischen Entscheidungen zutreffend bestimmt. In einigen428 Urteilen, die die Grenzen der Auslegung nicht überzeugend ziehen, wird die Analogie zur Auslegung gezählt. Bei der Lückenfüllung gehen die untersuchten schweizerischen Entscheidungen vor allem über Kombinationsbegründungen429 vor. Damit orientieren sie sich zum einen nicht am Legitimitätsprinzip bei der Lückenfüllung. Zum anderen wenden sie sich aber auch nicht komplett davon ab, da die Kombinationsbegründungen alle Ansätze einer gesetzesnahen Lückenfüllung enthalten. Zusammen mit den Urteilen, die ausschließlich über eine gesetzesnahe Lückenfüllung vorgehen, kann man sagen, dass der Legitimitätsgedanke bei der Lückenfüllung in einem überwiegenden Teil430 der Entscheidungen vorhanden ist. Die Rechtsprechungsentwicklung contra legem ist in den untersuchten schweizerischen Entscheidungen abgeschwächt. Auch die Begründungen, die scheinbar Legitimität erzeugen wollen, sind nur in eingeschränktem Maße vorhanden. Dies vor allem deswegen, weil diese Begründungen zum Teil wiederum Ansätze gesetzesnaher Argumentation enthalten. In einer431 der untersuchten Entscheidungen ist zudem keine gesetzesnahe Lückenfüllung möglich, so dass ein Gesetzgebervorgehen unvermeidbar ist. Hinsichtlich des Bewusstseins des Legitimitätsproblems sind die untersuchten schweizerischen Entscheidungen nicht eindeutig. Die methodisch genaue Vorgehensweise lässt sich in der Schweiz, vor allem was die Bestimmung der Grenzen der Auslegung angeht, auf Art. 1 ZGB zurückführen. Aus dieser Vorschrift, die den Vorrang gesetzesnaher Lückenfüllungsmethoden nicht enthält, erklären sich jedoch auch die Kombinationsbegründungen. Dies spricht dafür, in eine Lückenfüllungsnorm, den Vorrang gesetzesnaher Methoden aufzunehmen. So bestünde die Chance, dass aus den Kombinationsbegründungen vollständig dem Legitimitätsprinzip entsprechende Begründungen werden.
427 428 429 430 431
s. o. Fn. 405. s. o. Fn. 408. s. o. Fn. 413. s. o. Fn. 400. BGE 127 V 38.
E. Vergleich In diesem Abschnitt werden die Ergebnisse der Analysen der schweizerischen und der deutschen Urteile dargestellt und verglichen. Auf dieser Grundlage wird ein Vorschlag gemacht, wie eine Lückenfüllungsnorm aussehen könnte, die am besten zu einer am Legitimitätsgedanken orientierten Lückenfüllung anleitet.
I. Vergleich der Ergebnisse der Urteilsanalysen Da die untersuchten Entscheidungen oft mehrere im Rahmen der Rechtsfortbildung auftretende Phänomene enthalten, lässt sich nicht zahlenmäßig genau bestimmen, wie viele untersuchte deutsche oder schweizerische Urteile Rechtsfortbildung auf die eine oder andere Weise betreiben. Man muss daher darauf abstellen, wie oft sich bestimmte Phänomene in den deutschen oder schweizerischen Urteilen finden. Konzentriert man sich auf die Anzahl der Phänomene, ist aber auch keine absolute zahlenmäßige Vergleichbarkeit gegeben, da es in den untersuchten deutschen Entscheidungen mehr verschiedene Phänomene gibt als in den schweizerischen. Im Folgenden wird dennoch der Versuch gemacht, die Phänomene zahlenmäßig zu vergleichen. Diese Zahlen sind dabei nicht als absolut feststehend gemeint. Sie sollen vielmehr ein Anhaltspunkt für gewisse Tendenzen sein, wie Rechtsfortbildung in Deutschland und der Schweiz betrieben wird. Dabei soll im Folgenden unterschieden werden zwischen Haupttendenzen bei der Lückenfüllung und nebenbei auftretenden Phänomenen. Schließlich sollen die für die der Arbeit vorangestellten Thesen1 wichtigen Ergebnisse des Vergleichs zusammengefasst und mit den Thesen abgeglichen werden.
1. Haupttendenzen bei der Rechtsfortbildung Bei den Haupttendenzen der Rechtsfortbildung kann man die Bestimmung der Grenzen der Auslegung und die Lückenfüllung untersuchen. Beide Bereiche überschneiden sich dann, wenn Gesetzes- oder Vertragsrecht überdehnt wird. Denn mit dieser Vorgehensweise werden die Grenzen der Auslegung verschoben und gleichzeitig wird eine Lösung für ein Problem gefunden, das eigentlich ein Lü1
s. o. B. VI. 3.
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E. Vergleich
ckenproblem ist und mit lückenfüllender Methodik hätte gelöst werden müssen. Da dies jedoch nicht das einzige Phänomen ist, soll hier zwischen der Bestimmung der Grenzen der Auslegung und der Lückenfüllung unterschieden werden. a) Grenzen der Auslegung Die Grenzen der Auslegung werden zunächst in acht2 der untersuchten deutschen Entscheidungen zutreffend bestimmt. In der Schweiz sind es zehn3 der untersuchten Entscheidungen, die die Grenzen der Auslegung überzeugend ziehen. Damit ergibt sich bei den deutschen Entscheidungen ein Prozentsatz von 40 % und bei den schweizerischen Urteilen von 50 %. Das ist zunächst kein großer Unterschied. Zu den untersuchten deutschen Entscheidungen ist jedoch zu sagen, dass vier4 der oben erwähnten acht Entscheidungen die zutreffende Bestimmung der Grenzen der Auslegung wieder dadurch konterkarieren, dass sie entgegen seinem Wortlaut auf § 242 BGB zurückgreifen. Nimmt man die bleibenden vier Entscheidungen, ziehen nur noch 20 % der untersuchten deutschen Entscheidungen die Grenzen der Auslegung überzeugend. Auf diese Weise ergibt sich schon ein größerer Unterschied zu den schweizerischen Entscheidungen. Mit diesem Rückgriff auf § 242 BGB deutet sich außerdem das grundlegende Problem der untersuchten deutschen Entscheidungen an. In insgesamt dreizehn5 Urteilen werden die Grenzen der Auslegung verschoben, indem Gesetzes- oder Vertragsrecht überdehnt wird. Bei den untersuchten schweizerischen Entscheidungen sind es hingegen nur sechs6 Urteile, die auf diese Weise vorgehen. Dabei ist interessant, dass beide Rechtsordnungen bei der Überdehnung von konkretem Gesetzesrecht noch gleichauf sind. Hier sind es jeweils fünf7 der untersuchten Entscheidungen in beiden Rechtsordnungen. Auch bei der Überdehnung von Vertragsrecht lässt sich kein nennenswerter Unterschied feststellen. Bei den untersuchten deutschen Urteilen sind es drei8, die Vertragsrecht überdehnen. Bei den schweizerischen Entscheidungen kann man dazu zwei9 Urteile anführen. Den eigentlichen Unterschied zwischen den untersuchten deutschen und schweizerischen Urteilen aber macht § 242 BGB. Acht10 der untersuchten deutschen 2
s. o. Teil C. Fn. 295. s. o. Teil D. Fn. 405. 4 s. o. Teil C. Fn. 298. 5 s. o. Teil C. Fn. 296. 6 s. o. Teil D. Fn. 406. 7 Deutschland: RGZ 56, 271, RGZ 106, 22, RGZ 117, 164, BHGZ 69, 128 und BGH MDR 1953, 345; Schweiz: BGE 74 II 149, BGE 83 II 375, BGE 91 II 100, BGE 114 II 230 und BGE 120 II 197. 8 RGZ 127, 218, BGHZ 56, 269 und BGHZ 97, 135. 9 BGE 97 II 390 und BGE 123 III 292. 10 s. o. Teil C. Fn. 297. 3
I. Vergleich der Ergebnisse der Urteilsanalysen
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Urteile greifen entgegen seinem Wortlaut auf § 242 BGB zurück. Bei den untersuchten schweizerischen Urteilen ist es hingegen nur eines11, das auf Art. 2 Abs. 1 ZGB zurückgreift und das bei einem Sachverhalt, auf den Art. 2 Abs. 1 ZGB anwendbar gewesen wäre. Man kann also sagen, dass es der Rückgriff auf § 242 BGB ist, der dazu führt, dass bei den untersuchten deutschen Urteilen die Grenzen der Auslegung weniger überzeugend bestimmt werden als in den untersuchten schweizerischen Entscheidungen. Der häufige Rückgriff auf diese Vorschrift lässt sich darauf zurückführen, dass § 242 BGB in Deutschland als Rechtsfortbildungsnorm verstanden wird12. Dem könnte man mit der Einführung einer wirklichen Lückenfüllungsnorm entgegenwirken. Erwähnen kann man in diesem Zusammenhang außerdem die Tatsache, dass vier13 der untersuchten deutschen Entscheidungen die Grenzen der Auslegung ohne besonderen Grund nicht bestimmen. „Ohne besonderen Grund“ heißt, dass es keine Ursachen wie die Überdehnung von Gesetzes- oder Vertragsrecht oder Pauschalverweise auf Vorentscheidungen oder Literaturmeinungen gibt, die ein Erkennen der Lücke verhindern. Die Lücke hätte behandelt werden können, die Entscheidungen bemühen sich jedoch nicht um eine präzise rechtsfortbildende Vorgehensweise. Bei den untersuchten schweizerischen Entscheidungen gibt es demgegenüber keine, die die Grenzen der Auslegung ohne besonderen Grund nicht bestimmt. Dies lässt den Schluss zu, dass in einem System mit Lückenfüllungsnorm nicht ohne Grund auf ein methodisch genaues Vorgehen verzichtet wird, und spricht ebenfalls für eine Lückenfüllungsnorm. In den untersuchten schweizerischen Entscheidungen gibt es jedoch auch ein Phänomen, das in den deutschen Entscheidungen nicht auftritt. In drei14 schweizerischen Entscheidungen werden die Grenzen der Auslegung dadurch verschoben, dass die Analogie zur Auslegung gezählt wird. Dieses Phänomen kann man auf die Formulierung von Art. 1 ZGB zurückführen, der die Analogie nicht erwähnt15. Der Zusammenhang mit Art. 1 ZGB liegt auch deswegen nahe, weil es das Problem in den untersuchten deutschen Entscheidungen nicht gibt. Daraus folgt, dass die Analogie in einer Lückenfüllungsnorm Erwähnung finden und klar als Lückenfüllungsmethode bezeichnet werden sollte.
11 12 13 14 15
BGE 97 II 390. Dazu oben. B. V. 1. c) bb). RGZ 65, 292, RGZ 144, 22, RGZ 155, 148 und BGHZ 65, 13. s. o. Teil D. Fn. 408. Dazu oben B. V. 2. b).
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E. Vergleich
b) Lückenfüllung In Bezug auf die Lückenfüllung sollen zunächst die Haupttendenzen beschrieben werden, um danach auf die Sonderfälle der Rechtfortbildung contra legem und der unvermeidbaren eigenen Wertung des Richters einzugehen. aa) Haupttendenzen bei der Lückenfüllung Der Vergleich der Haupttendenzen bei der Lückenfüllung besteht darin, die wesentlichen lückenfüllenden Vorgehensweisen der untersuchten deutschen und schweizerischen Entscheidungen gegenüberzustellen. In einem Ergebnis werden die Vorgehensweisen dann zusammengefasst. (1) Deutschland Wie unter 1. a) in Bezug auf die Bestimmung der Grenzen der Auslegung angesprochen, kommen dreizehn16 der untersuchten deutschen Entscheidungen über die Anwendung von Gesetzes- oder Vertragsrecht zu einem Ergebnis, obwohl es in den Entscheidungen um rechtsfortbildende Probleme geht, die so nicht zu lösen sind. Damit ist es wesentliche Tendenz in den untersuchten deutschen Entscheidungen, im Lückenbereich scheinbar Legitimität zu schaffen. In diesem Zusammenhang spielt § 242 BGB eine wichtige Rolle. Dieser wird in acht17 von dreizehn Entscheidungen ausschließlich oder ergänzend herangezogen. In Bezug auf die scheinbare Legitimität kann man hinzufügen, dass sieben18 der untersuchten deutschen Entscheidungen die Rechtsfortbildung um scheinlegitime Methoden ergänzen. Zählt man die Entscheidungen, die beide Phänomene enthalten, nur einmal, sind es insgesamt fünfzehn19 Entscheidungen, die auf die eine oder andere Weise scheinbar Legitimität in der Lücke erzeugen. Demgegenüber stehen acht20 der untersuchten deutschen Entscheidungen, die Ansätze einer Analogie und damit einer gesetzesnahen rechtsfortbildenden Begründung enthalten. Dazu ist jedoch zu sagen, dass in fünf21 dieser acht Entscheidungen diese gesetzesnahen Ansätze dadurch konterkariert werden, dass auf § 242 BGB zurückgegriffen wird. Stützt sich ein Urteil nämlich letzten Endes auf § 242 BGB, gibt es vor, die Entscheidung aus dem Gesetzesrecht abzuleiten. Daher kann
16
s. o. Teil C. Fn. 296. s. o. Teil C. Fn. 297. 18 s. o. Teil C. Fn. 304 f. 19 s. o. Teil C. Fn. 296 und 305. 20 RGZ 95, 58, BGHZ 9, 157, BGHZ 11, 80, BGHZ 51, 91, BGHZ 56, 269, BGHZ 108, 179, BGH MDR 1953, 345 und BGH NJW 1993, 999. 21 RGZ 95, 58, BGHZ 11, 80, BGHZ 56, 269, BGHZ 108, 179 und BGH MDR 1953, 345. 17
I. Vergleich der Ergebnisse der Urteilsanalysen
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man diese fünf Entscheidungen nicht zu einer dem Legitimitätsgedanken entsprechenden Lückenfüllung zählen, auch wenn sie Ansätze von Analogie enthalten. Damit bleiben schlussendlich nur drei untersuchte Entscheidungen, die tatsächlich gesetzesnah begründen. Zwei22 davon enthalten Kombinationsbegründungen und eine23 Entscheidung geht vollständig gesetzesnah über eine Analogie vor. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Rechtsfortbildung in den untersuchten deutschen Urteilen vor allem durch das Schaffen scheinbarer Legitimität gekennzeichnet ist. (2) Schweiz In den untersuchten schweizerischen Entscheidungen ergibt sich hingegen ein anderes Bild. Die Überdehnung von Gesetzes- oder Vertragsrecht mit insgesamt sechs24 Entscheidungen gibt es zwar auch hier. Die Ergänzung der Rechtsfortbildung durch scheinlegitime Methoden kommt zudem in vier25 Entscheidungen vor. Zählt man die Entscheidung26, die beide Phänomene enthält, nur einmal, sind es insgesamt neun Entscheidungen, die versuchen, in der Lücke scheinbar Legitimität zu schaffen. Von diesen neun Entscheidungen enthalten jedoch fünf27 eine Analogie oder Kombinationsbegründung. Davon bleibt nur die Entscheidung zum Vertragsrecht dabei, ihr Ergebnis aus demselben ableiten zu wollen.28 Die zwei Entscheidungen, die Gesetzesrecht überdehnen, tun dies in einem von der gesetzesnahen Argumentation verschiedenen Bereich der Begründung. Die Überdehnung von Gesetzesrecht steht dort also neben den gesetzesnahen Ansätzen.29 Damit wird in diesen Urteilen die gesetzesnahe Begründung nicht – wie in den untersuchten deutschen Entscheidungen – durch den scheinbaren Rückgriff auf Gesetzesrecht konterkariert. Insgesamt enthalten elf30 der untersuchten schweizerischen Urteile eine Kombinationsbegründung und vier31 Entscheidungen gehen vollständig gesetzesnah über eine Analogie vor. Damit können fünfzehn der untersuchten schweizerischen Entscheidungen gesetzesnahe Ansätze vorweisen. Dagegen tritt das Phänomen des Erzeugens von scheinbarer Legitimität, das es auch in der Schweiz gibt, in den Hintergrund. Dies vor allem auch deswegen, weil in Kombinationsbegründungen 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31
BGHZ 9, 157 und BGHZ 51, 91. BGH NJW 1993, 999. s. o. Teil D. Fn. 406. s. o. Teil D. Fn. 418. s. o. Teil D. Fn. 419. s. o. Teil D. Fn. 420 f. Vgl. die Analyse von BGE 97 II 390 [D. I. 7. a)]. Vgl. die Analysen von BGE 91 II 100 [D. I. 6. b)] und BGE 114 II 230 [D. I. 6. c)]. s. o. Teil D. Fn. 413. s. o. Teil D. Fn. 414.
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E. Vergleich
gesetzesnahe und nicht gesetzesnahe Argumente nebeneinander stehen und so auf das Schaffen von scheinbarer Legitimität verzichtet wird. So ist es bei den schweizerischen Urteilen zum einen wesentliche Tendenz, dass ein Ansatz einer gesetzesnahen Begründung vorhanden ist und dass keine scheinbare Legitimität geschaffen wird. Zum anderen zeigt die hohe Anzahl an Kombinationsbegründungen aber auch, dass gesetzesnahe Methoden bei der Lückenfüllung zwar angewandt, aber nicht gegenüber anderen Methoden als vorrangig betrachtet werden. (3) Ergebnis Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass in den untersuchten schweizerischen Entscheidungen weniger auf Scheinbegründungen zurückgegriffen wird als in den deutschen Entscheidungen und dass mehr gesetzesnahe Ansätze in der Lückenfüllung vorhanden sind. Die Lückenfüllung in den untersuchten schweizerischen Entscheidungen orientiert sich aber auch nicht in erster Linie am Legitimitätsprinzip. bb) Rechtsfortbildung contra legem Ein Phänomen, das in den untersuchten Urteilen beider Rechtsordnungen vorkommt, ist die Rechtsfortbildung contra legem. Zu diesem Problem gibt es sechs32 deutsche und vier33 schweizerische Urteile. Die sechs deutschen Entscheidungen berufen sich alle auf Vorentscheidungen, so dass eine durchgängige Rechtsprechungskette entsteht. Die dritte34 untersuchte schweizerische Entscheidung zur Anscheinsvollmacht nimmt hingegen nicht auf die entsprechenden Vorentscheidungen Bezug, sondern versucht, selbst zu begründen. Durch diese eigene Argumentation gibt es hier einen Ansatz, die Rechtsprechungskette zu unterbrechen. Das könnte man als Anzeichen dafür werten, dass es in einem System mit Lückenfüllungsnorm einen größeren Anreiz gibt, selbst zu begründen. Insgesamt gilt, dass man den Umgang mit Vorentscheidungen in einer Lückenfüllungsnorm regeln sollte, damit sich eine Rechtsprechung contra legem nicht in Rechtsprechungsketten verfestigt.
32 33 34
s. o. Teil C. Fn. 308 f. BGE 31 II 667, BGE 74 II 149, BGE 120 II 197 und BGE 118 II 157. BGE 120 II 197.
I. Vergleich der Ergebnisse der Urteilsanalysen
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cc) Unvermeidbare eigene Wertung des Richters Weiterhin ist in jeweils einer35 der untersuchten deutschen und schweizerischen Entscheidungen eine eigene Wertung des Richters bzw. ein Gesetzgebervorgehen unvermeidbar, da es keine Möglichkeit gesetzesnaher Lückenfüllung gibt. Dies spricht dafür, die schweizerische Gesetzgebungslösung in den Vorschlag einer Lückenfüllungsnorm aufzunehmen. Außerdem zeigt die Tatsache, dass jeweils nur eine von zwanzig untersuchten Entscheidungen darauf zurückgreifen muss, dass der Anwendungsbereich einer solchen unvermeidbaren eigenen Wertung des Richters beschränkt ist. Sofern die Gesetzgebungslösung also ihrem Anwendungsbereich entsprechend als letztes Mittel eingesetzt wird, muss man nicht befürchten, dass die nicht legitimierte Lückenfüllung überhandnimmt. Auch dies spricht dafür, sie in eine Lückenfüllungsnorm aufzunehmen.
2. Nebenbei auftretende Phänomene Zu den nebenbei auftretenden Phänomenen gehört zum einen die Frage, wie oft in den untersuchten Entscheidungen beider Rechtsordnungen die Lücke bzw. – in der Schweiz – Art. 1 ZGB erwähnt wird. Daraus lässt sich ableiten, in welcher Rechtsordnung insgesamt ein größeres Bewusstsein des Lückenproblems bei der Rechtsfortbildung vorhanden ist. Zum anderen kann man in diesem Zusammenhang untersuchen, in welcher der beiden Rechtsordnungen eher ein Bewusstsein des Legitimitätsproblems vorhanden ist, indem man die Phänomene, die dafür und dagegen sprechen, darstellt und vergleicht. a) Erwähnung der Lücke bzw. von Art. 1 ZGB Die Lücke findet in fünf36 der untersuchten deutschen Entscheidungen Erwähnung, während neun37 der untersuchten schweizerischen Entscheidungen Art. 1 ZGB nennen. Damit lässt sich im schweizerischen Recht ein größeres Bewusstsein des Lückenproblems bei der Rechtsfortbildung feststellen. Von den bleibenden fünfzehn38 bzw. elf39 Entscheidungen sind es in beiden Rechtsordnungen jeweils acht40 Urteile, die die Lücke nicht erkennen. Gründe dafür 35
BGHZ 22, 90 und BGE 127 V 38. s. o. Teil C. Fn. 291. 37 s. o. Teil D. Fn. 396. 38 RGZ 56, 271, RGZ 65, 292, RGZ 106, 22, RGZ 117, 164, RGZ 127, 218, RGZ 144, 22, RGZ 155, 148, BGHZ 11, 80, BGHZ 22, 90, BGHZ 51, 91 BGHZ 56, 269, BGHZ 65, 13, BGHZ 69, 128, BGHZ 97, 135 und BGH MDR 1953, 345. 39 s. o. Teil D. Fn. 394. 36
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sind die oben unter 1. a) angesprochene Überdehnung von Gesetzes- oder Vertragsrecht, der Rückgriff auf Vorentscheidungen oder Literaturmeinungen oder die Bezugnahme auf schon länger bekannte Grundsätze, die nicht weiter hergeleitet werden. Zieht man von den fünfzehn bzw. elf Entscheidungen jeweils die erwähnten acht Entscheidungen ab, die die Lücke nicht erkennen, bleiben für Deutschland sieben41 und für die Schweiz drei42 Entscheidungen, die die Lücke bzw. Art. 1 ZGB ohne besonderen Grund nicht erwähnen. Diese Zahlen sind deshalb interessant, weil es für eine gewisse Unaufmerksamkeit gegenüber dem Lückenproblem spricht, wenn eine Entscheidung die Lücke hätte erkennen können, sie aber nicht erwähnt. Dieser Vergleich zeigt deshalb noch einmal, dass das Lückenproblem in den untersuchten deutschen Urteilen weniger Beachtung findet als in den schweizerischen. Auch dies spricht für eine Lückenfüllungsnorm. b) Bewusstsein des Legitimitätsproblems In acht43 der untersuchten deutschen Entscheidungen finden sich Phänomene, die gegen ein Bewusstsein des Legitimitätsproblems sprechen. Die Anwendung von konkretem Gesetzesrecht wird zum Teil zugunsten von durch Rechtsfortbildung gefundenen Lösungen offen gelassen und in einigen Entscheidungen wird die Reihenfolge von Auslegungs- und Lückenfüllungsargumenten nicht eingehalten. Bei den untersuchten schweizerischen Entscheidungen treten solche Vorgehensweisen hingegen nur in drei44 Urteilen auf. Für ein Bewusstsein des Legitimitätsproblems in den schweizerischen Entscheidungen spricht außerdem, dass acht45 von neun46 Entscheidungen, die Art. 1 ZGB erwähnen, diesen im Sinne einer dem Legitimitätsgedanken entsprechenden Lückenfüllung einschränkend auslegen oder anwenden. In Bezug auf die lückenfüllenden Begründungen sind beide Rechtsordnungen ambivalent. Der verstärkte Rückgriff auf § 242 BGB und auf scheinlegitime Methoden in den untersuchten deutschen Urteilen zeigt ein Bewusstsein des Legitimitätsproblems, da die entsprechenden Entscheidungen auf diese Weise Legitimität erzeugen wollen. Sie erreichen damit aber das Gegenteil. Die Vorschrift des § 242
40 Deutschland: s. o. Teil C. Fn. 292; Schweiz: BGE 31 II 667, BGE 74 II 149, BGE 77 II 135, BGE 83 II 375, BGE 97 II 390, BGE 118 II 157, BGE 120 II 197 und BGE 120 II 331. 41 s. o. Teil C. Fn. 293. 42 BGE 55 II 302, BGE 114 II 230 und BGE 123 III 292. 43 s. o. Teil C. Fn. 317. 44 s. o. Teil D. Fn. 424. 45 s. o. Teil D. Fn. 422. 46 s. o. Teil D. Fn. 396.
I. Vergleich der Ergebnisse der Urteilsanalysen
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BGB wird außerhalb ihres Anwendungsbereichs herangezogen und scheinlegitime Methoden schaffen nur scheinbar Legitimität. Bei den untersuchten schweizerischen Urteilen ist es in gewissem Sinne umgekehrt. Der verstärkte Rückgriff auf Kombinationsbegründungen spricht zunächst für ein geringes Bewusstsein des Legitimitätsproblems, da in dieser Form der rechtsfortbildenden Argumentation gesetzesnahe und nicht gesetzesnahe Lückenfüllungsmethoden als gleichwertig betrachtet werden. Diese Begründungen enthalten aber auch gesetzesnahe Ansätze, was wieder für ein größeres Bewusstsein des Legitimitätsproblems spricht als in den deutschen Entscheidungen. Dort sind die gesetzesnahen Ansätze zum großen Teil entweder nicht vorhanden oder sie werden durch den Rückgriff auf § 242 BGB konterkariert. Insgesamt kann man sagen, dass die untersuchten Urteile beider Rechtsordnungen hinsichtlich eines Bewusstseins des Legitimitätsproblems nicht eindeutig sind, auch wenn in den schweizerischen Entscheidungen etwas mehr Gründe dafür sprechen.
3. Abgleich der Ergebnisse mit den Thesen Die Grenzen der Auslegung werden im Ergebnis nur in vier47 der untersuchten deutschen Entscheidungen überzeugend bestimmt. Weitere Ansätze einer zutreffenden Grenzziehung werden durch den Rückgriff auf § 242 BGB konterkariert.48 Auch bei der Lückenfüllung ist das vorherrschende Phänomen in den untersuchten deutschen Urteilen die Überdehnung von Gesetzes- oder Vertragsrecht und dabei insbesondere die Bezugnahme auf § 242 BGB. Dazu finden sich insgesamt dreizehn49 Urteile. In den schweizerischen Entscheidungen halten sich hingegen die Scheinbegründungen in Grenzen. Die Grenzen der Auslegung werden in der Hälfte50 der untersuchten Entscheidungen zutreffend bestimmt. Bei der Lückenfüllung gibt es in fünfzehn51 Entscheidungen gesetzesnahe Ansätze. Diese Ergebnisse kann man zum großen Teil auf Art. 1 ZGB zurückführen [s. o. D. II. 4. a)]. Damit bestätigt sich die erste These, dass in den schweizerischen Entscheidungen methodisch genauer und mit weniger Scheinbegründungen Recht fortgebildet wird als in den deutschen Entscheidungen [s. auch oben 1. b) aa) (3)]. Fünfzehn der untersuchten schweizerischen Entscheidungen enthalten zwar gesetzesnahe Ansätze. Davon gehen jedoch elf52 Urteile über eine Kombinationsbe-
47 48 49 50 51 52
BGHZ 9, 157, BGHZ 36, 252, BGHZ 51, 91 und BGH NJW 1993, 999. s. o. Teil C. Fn. 298. s. o. Teil C. Fn. 296. s. o. Teil D. Fn. 405. s. o. Teil D. Fn. 413 f. s. o. Teil D. Fn. 413.
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gründung vor. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass gesetzesnahe und nicht gesetzesnahe Begründungsansätze als gleichwertig betrachtet werden [s. o. 1. b) aa) (3)]. Diese große Anzahl an Kombinationsbegründungen bestätigt die zweite These, dass sich auch die schweizerische Rechtsfortbildung bei der Lückenfüllung nicht vollständig am Legitimitätsprinzip orientiert.
II. Vorschlag einer Lückenfüllungsnorm53 Da sich die untersuchten Entscheidungen beider Rechtsordnungen bei der Lückenfüllung nicht vollständig am Legitimitätsgedanken orientieren, soll im Folgenden ein Vorschlag einer Lückenfüllungsnorm gemacht werden, die zu einer dem Legitimitätsprinzip entsprechenden Vorgehensweise am besten anleiten könnte. Dieser Vorschlag soll vorher unter Bezugnahme auf die methodischen Grundannahmen der Arbeit und auf die Ergebnisse der Urteilsanalysen begründet werden.
1. Begründung Die Tatsache, dass in den untersuchten schweizerischen Entscheidungen methodisch genauer und mit weniger Scheinbegründungen Recht fortgebildet wird als in den untersuchten deutschen Entscheidungen, spricht dafür, in jeder Rechtsordnung eine Lückenfüllungsnorm einzuführen.54 Schon das Bekenntnis zur Lückenhaftigkeit einer Rechtsordnung scheint zu besserer rechtsfortbildender Begründung zu führen [s. dazu auch oben I. 2. a)]. Inhaltlich sollte sich eine solche Norm an dem oben unter B. III. dargelegten, auf dem Legitimitätsgedanken basierenden Schema orientieren. Dafür, eine konkretere, sich am Legitimitätsprinzip orientierende Lückenfüllungsnorm einzuführen, spricht auch die Tatsache, dass Art. 1 ZGB in acht55 von neun56 schweizerischen Entscheidungen im Sinne einer dem Legitimitätsgedanken entsprechenden Lückenfüllung einschränkend ausgelegt wird.
53 s. auch den Vorschlag zur Ergänzung von Art. 1 ZGB von Meier-Hayoz, Richter als Gesetzgeber, § 41 f. (S. 252 ff., die vorgeschlagene neue Fassung von Art. 1 ZGB findet sich auf S. 275 f.) sowie den Vorschlag einer Methodennorm des Europäischen Privatrechts bei Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, E. (S. 445 ff.). 54 Weitere Argumente aus rechtsvergleichender Sicht bei Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, D. IV. (S. 437 ff.). 55 s. o. Teil D. Fn. 422. 56 s. o. Teil D. Fn. 396.
II. Vorschlag einer Lückenfüllungsnorm
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Entsprechend dem oben unter B. III. vorgestellten Schema sollte die Norm mit der Bestimmung der Grenzen der Auslegung beginnen. Da legitimes Recht Gesetzesoder Vertragsrecht sein kann57, werden diese beiden Rechtsquellen hier genannt. Sind die Grenzen der Auslegung bestimmt worden, sollte eine Regelungslücke ausdrücklich festgestellt werden. Dies ist wichtig, um das Bewusstsein für das Legitimitätsdefizit in der Lücke als Grundlage für eine gute lückenfüllende Begründung zu schärfen. Als Voraussetzung der Lücke muss zudem geprüft werden, dass eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes vorliegt.58 Bei der Füllung von Gesetzeslücken sind schließlich entsprechend dem Legitimitätsgedanken diejenigen Methoden als vorrangig zu betrachten, die sich am Gesetzeszweck orientieren.59 Dies sind vor allem Gesetzes- oder Rechtsanalogie und teleologische Reduktion.60 Die Aufzählung beschränkt sich der Klarheit wegen auf die gängigen gesetzesnahen Methoden. Sie ist aber absichtlich nicht abschließend formuliert, da noch andere gesetzesnahe Methoden denkbar sind, wie z. B. der Annex-Schluss61 oder sonstige systematische und teleologische Argumente, die nicht unter die bereits genannten Kategorien fallen62. Bei der Füllung von Vertragslücken existiert in den schweizerischen und den deutschen Urteilsanalysen das Phänomen, dass Vertragsrecht überdehnt wird, indem die Entscheidungen den hypothetischen Parteiwillen anhand objektiver Kriterien bestimmen und dies dann als Vertragsauslegung bezeichnen.63 Um dem entgegenzuwirken, wird hier formuliert, dass sich die vertragliche Lückenfüllung zunächst an dem im Vertrag tatsächlich vereinbarten – und damit von den Parteien subjektiv gewollten – Interessenausgleich zu orientieren hat.64 Wenn das nicht möglich ist, soll der Richter – wie bei der Gesetzeslücke – auch hier entsprechend dem Legitimitätsprinzip auf gesetzliche Wertungen zurückgreifen. Den Vorrang gesetzesnaher Methoden zu betonen, ist deshalb besonders wichtig, weil in den in den untersuchten schweizerischen Urteilen vorherrschenden Kombinationsbegründungen65 dieser Vorrang nicht beachtet wird [s. auch oben I. 1. b) aa) (2)]. Ist eine Lückenfüllung durch gesetzliche Wertungen nicht möglich, ist dies wiederum deutlich zu machen, da man sich dann in einem überhaupt nicht mehr 57
Dazu oben B. II. 1. und 2. Dazu oben B. III. 1. b) aa). 59 Für eine vorrangige Orientierung am Gesetz über die Analogie auch schon Meier-Hayoz, Richter als Gesetzgeber, § 42 (S. 274 f.). 60 Dazu oben B. III. 2. a) aa). 61 Dazu oben B. III. 2. a) bb). 62 Dazu oben B. III. 2. a) dd). 63 Dazu oben C. II. 2. a) bb) und D. II. 2. a) bb). 64 Vgl. dazu auch oben B. II. 2. b). 65 Dazu oben D. II. 3. d). 58
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legitimierten Bereich befindet. An diesem Punkt kann man auf die Gesetzgebungslösung aus Art. 1 Abs. 2 ZGB zurückgreifen66, die sich nicht am vorhandenen Gesetzesrecht orientiert, sondern sich aus außerrechtlichen Argumenten speist67. Vorteil des Gesetzgebervorgehens ist außerdem, dass eine allgemeine Regel gebildet wird, die sich in das vorhandene Gesetzesrecht einfügen muss68. Die Aufnahme der Gesetzgebungslösung als freie Lückenfüllungsmethode jenseits der gesetzesnahen Vorgehensweise ist deshalb notwendig, weil es in den untersuchten Entscheidungen beider Rechtsordnungen jeweils ein Urteil gibt, in dem eine gesetzesnahe Lückenfüllung nicht möglich und eine eigene Wertung des Richters unvermeidbar ist [s. o. I. 1. b) cc)].69 In bestimmen Fällen, muss man also eine nicht legitimierte Rechtsfortbildung in Kauf nehmen. Die Tatsache, dass dies in jeweils nur einer der untersuchten Entscheidungen der Fall ist, zeigt aber auch, dass die freie Rechtsfortbildung im Gesetzgebervorgehen bei korrekter Anwendung nicht überhandnehmen wird. Rechtsprechung, Lehre und Rechtsvergleichung70 sind schließlich keine Rechtsquellen, sondern Hilfsmittel der Rechtsanwendung und -fortbildung.71 Besondere Erwähnung vierdient in diesem Zusammenhang der Umgang mit Vorentscheidungen. In den Analysen der deutschen und schweizerischen Urteile treten verschiedene Phänomene auf, die damit zu tun haben, dass pauschal auf Vorentscheidungen verwiesen wird und diese so wie eine Rechtsquelle behandelt werden. Wenn Vorentscheidungen vorliegen, wird z. B. eine Regelungslücke nicht mehr erwähnt, da das aktuelle Urteil in der Vorentscheidung eine Rechtsgrundlage für das Lückenproblem sieht.72 Vorentscheidungen werden außerdem teilweise als Ergänzung zu anderen Lückenfüllungsmethoden herangezogen und verdecken so deren Legitimitätsgrenzen.73 Dadurch dass man sich nicht mit den Begründungen der Vorentscheidungen auseinandersetzt, sondern sich nur auf ihr Ergebnis bezieht, entstehen zudem Rechtsprechungsketten. Diese führen in den untersuchten deutschen und schweizerischen Entscheidungen dazu, dass sich eine Rechtsfortbildung contra legem verfestigt [s. o. I. 1. b) bb)].74 All dies spricht dafür, in eine Lückenfüllungsnorm den Zusatz aufzunehmen, dass sich das Gericht mit den Begründungen von Vorentscheidungen auseinandersetzen muss.
66
Dazu oben B. III. 2. b) bb) a.E. Dazu oben B. V. 2. c) bb) (2). 68 Dazu oben B. V. 2. c) bb) (1). 69 Dazu im einzelnen oben C. II. 3. e) cc) und D. II. 3. e) bb). 70 Für die Rechtsvergleichung als Hilfsmittel auch bereits Meier-Hayoz, Richter als Gesetzgeber, § 42 (S. 275). 71 Dazu oben B. II. 4.–6. 72 Dazu oben C. II. 1. a) bb) und D. II. 1. a) bb). 73 Dazu oben C. II. 3. a) bb) (2) und D. II. 3. a) bb). 74 Dazu oben im einzelnen C. II. 3. c) und D. II. 3. c). 67
II. Vorschlag einer Lückenfüllungsnorm
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Überprüft die Rechtsprechung nämlich die Argumentationen der Vorentscheidungen, gibt ihr das die Möglichkeit, Begründungen oder Lösungen mit der Zeit zu verbessern. Ein Beispiel für eine solche Verbesserung sind die untersuchten schweizerischen Urteile zur Entschädigung bei einer Duldungspflicht von Immissionen, die durch notwendige Baumaßnahmen an einem Nachbargrundstück entstehen.75 Die Rechtsprechung sollte eine solche Regelung also nicht als Einschränkung, sondern als Chance begreifen. Schließlich wird in den untersuchten Entscheidungen beider Rechtsordnungen teilweise auf Leerformeln zurückgegriffen. In den untersuchten deutschen Urteilen führt dies dazu, dass die Grenzen gesetzesnaher Lückenfüllungsmethoden verdeckt werden.76 In den untersuchten schweizerischen Entscheidungen sind die Leerformeln Teil der Kombinationsbegründungen.77 Da Leerformeln keine Aussage enthalten und nur verdecken, dass eine Begründung ganz oder teilweise fehlt, sollten sie in Urteilen grundsätzlich vermieden werden. Ein Hinweis darauf wird daher als letzter Absatz in den Vorschlag der Lückenfüllungsnorm aufgenommen.
2. Normtext Titel: Anwendung und Fortbildung des Rechts. (1) Bei der Rechtsanwendung ist durch Auslegung zu ermitteln, ob sich aus Gesetzes- oder Vertragsrecht eine Lösung ergibt. (2) Kann dem Gesetzes- und Vertragsrecht keine Lösung entnommen werden, ist eine Regelungslücke festzustellen. Voraussetzung dafür ist eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes. (3) Gesetzeslücken sind durch sich am Gesetzeszweck orientierende Methoden zu füllen. Hierfür kommen Gesetzes- oder Rechtsanalogie und teleologische Reduktion in Betracht. Vertragslücken sind unter Rückgriff auf den im Vertrag tatsächlich vereinbarten Interessenausgleich zu füllen. Ist dies nicht möglich, sind entsprechend der Sätze 1 und 2 gesetzliche Wertungen heranzuziehen. (4) Ist eine Lückenfüllung durch gesetzliche Wertungen nicht möglich, ist dies deutlich zu machen. Die Lücke ist sodann über diejenige Regel zu füllen, die ein Gesetzgeber aufstellen würde. Hierzu ist ausführlich zu begründen. (5) Rechtsprechung, Lehre und Rechtsvergleichung sind Hilfsmittel der Rechtsanwendung und -fortbildung. Bei der Bezugnahme auf Vorentscheidungen muss sich das Gericht mit deren Begründungen auseinandersetzen. (6) Leerformeln sind zu vermeiden.
75 76 77
Oben D. I. 6. Dazu oben C. II. 3. a) bb) (1). Dazu oben D. II. 3. d) cc).
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Personen- und Sachverzeichnis § 242 BGB 80 – 85, 211 – 213 – allgemeine Gerechtigkeitsnorm 85, 137, 143, 152, 211 – allgemeine Rechtsschöpfungsnorm 150, 193 – doppelt analoge Anwendung 81 – qualifizierter sozialer Kontakt 83 AGB-Kontrolle 171 – 177 – Anwendbarkeit von § 242 BGB 173 – Position des Reichsgerichts 175 f. – unvermeidbare eigene Wertung 173 f. Analogie 40 f., 58 f., 62 – 66, 78 f., 88 – 92, 220 f., 354 f., 365 Analogiegebot 64, 92 Analogieschluss siehe Analogie Annex-Schluss 66 f., 304, 341, 365 Argumente – außerrechtliche 70, 72 – 74, 93 – 95 – systematische 68 f., 193, 251, 282, 317, 324, 331, 346 – teleologische 68 f., 346 argumentum a maiore ad minus 282 argumentum e contrario siehe Umkehrschluss Aristoteles 87, 192 Art. 1 ZGB 348 – 350, 366 f. Art. 1 Abs. 2 ZGB (siehe auch Gesetzgebungslösung) 87 – 95, 350 f. Art. 2 Abs. 1 ZGB 246 f., 263 f., 279 f., 309, 355 Art. 20 III GG 34, 79 f., 202 Ausgleich zwischen zwei Sicherungsgebern 189 – 195 – Analogie zu den Gesamtschuldregeln 194 f. Auslegung 35 – 41 – entstehungszeitliche (siehe auch Ziel der Auslegung, subjektive Theorie) 36 – geltungszeitliche (siehe auch Ziel der Auslegung, objektive Theorie) 36
– grammatikalische 35 – historische 35 – 37, 58 – systematische 35 – teleologische 35, 344 Auslegungsmethoden (siehe auch Auslegung) – Rangfolge 36 f. Ausnahmevorschrift 65, 180, 255 Autonomie 32 Begründungspflicht, besondere 41, 74, 77 Bereich, rechtsfreier 76 f., 172 f., 198 f. Birk 36 Brüggemeier 107 Bucher 280 Bundesrichter, Wahl 47 Bundesverfassungsgericht 200 Canaris 36, 44, 49, 51, 56 f., 61, 69, 71 – 74, 107 culpa in contrahendo 130 – 135, 260 – 266 – Herleitung über eine Rechtsanalogie in der Schweiz 262 f. – Herleitung über eine Rechtsanalogie in Deutschland 132 f. – und Vertrauenshaftung 306 – 309 Deduktion (siehe auch Induktion) 64, 218 Delegationslücke siehe Lücke intra legem Demokratieprinzip 32 – 34 Doppellücke 185, 291 Duldungspflicht des Nachbarn bei Immissionen 266 – 277 – Herleitung des Schadensersatzanspruches über eine Rechtsanalogie 271 f., 275 f. – teleologische Reduktion des Art. 684 ZGB 267 f., 269, 275 Eckenstein 272 Eigentumserwerb (Schweiz) 248 – 252 – Abstraktionsprinzip 249 f. – Kausalitätsprinzip 250 f.
Personen- und Sachverzeichnis Einzelanalogie (siehe auch Gesetzesanalogie) 64, 68 Emmenegger 36, 56 ewige Verträge 277 – 283 – eigene Lösung über argumentum a maiore ad minus 282 f. – juristische Personen 278 f. – Lösung des BG über Vertragsauslegung 280 f. Extension, teleologische siehe AnnexSchluss
Fischer 36 Franchisevertrag, Kündigung (Schweiz) 290 – 298 – Absorptionstheorie 291 f. – analoge Anwendung arbeitsrechtlicher Vorschriften 293 – Kombinationstheorie 291 f. – missbräuchliche Kündigung 293 – 297 – Theorie der analogen Rechtsanwendung 292
Geltung, moralische 31 Generalklausel 60 f., 157 Gény 87 Gerichtsgebrauch 48 Gernhuber 151 Gesamtanalogie (siehe auch Rechtsanalogie) 64 Gesellschaftsvertrag siehe Vertragstheorien Gesetz und Recht siehe Art. 20 III GG Gesetzesanalogie (siehe auch Einzelanalogie) 64, 78 Gesetzesbindung der Richter 33 f. Gesetzeszweck, historischer siehe Normzweck, historischer Gesetzgebervorgehen 363 – unvermeidbares 365 Gesetzgebungslösung (siehe auch Art. 1 Abs. 2 ZGB) 86, 90 f., 348 f. Gesetzlicher Übergang von Grundpfandrechten bei Kauf- und Schuldübernahmevertrag 253 – 260 – Analogie zu Art. 110 Ziff. 1 OR 255 – 257
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Gewaltenteilung 34, 47, 55, 86 Gewohnheitsrecht 45 f., 48 f., 80, 86 Gleichheitssatz – negativer 62, 65 – positiver 61, 63 GmbH-Gesellschafter, Ausschluss aus wichtigem Grund 163 – 171 – Herleitung über eine Rechtsanalogie 168 – 170 Grenze der Analogie (zweite Grenze) 62 f., 216 – 218, 358 – 360 Grenzen der Auslegung 55, 100, 210 – 215, 353 – 357, 368, 374 f. Grundsatz der ausgleichenden Gerechtigkeit 192 Hausheer 98, 313 Hobbes 31 Honsell 56, 80 Huber, Eugen 87 f., 248 Imperativ, kategorischer 30, 87 Induktion (siehe auch Deduktion) 64, 167 f., 218, 263, 305 Induktionsschluss siehe Induktion Innominatvertrag siehe Franchisevertrag und Leasingvertrag Interpretation siehe Auslegung Kant 30 – 32 Keller 241 Kombinationsbegründungen 219 f., 360 f., 369 Konkursrecht 96, 100 Konzernvertrauen, Haftung aus 305 – 311 – allgemeine Vertrauenshaftung 308 – 310 – Analogie zur culpa in contrahendo 306 – 308 – Garantievertrag 306 – unerlaubte Handlung 306 Kramer 36, 44, 56, 59, 61, 69, 71 f., 308 Krankenversicherungswechsel bei verspäteter Mitteilung des neuen Versicherers 343 – 347 Larenz 36, 44, 49, 51, 61, 69, 71 – 74, 151, 287 f. Leasingvertrag (Deutschland) 184 – 189
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Personen- und Sachverzeichnis
– doppelte Analogie zu § 242 BGB (eigener Standpunkt) 188 – Einwendungsdurchgriff 186 – neues Schuldrecht 189 – Vertragsauslegung (BGH) 187 Leerformeln 217, 224 f., 362, 385 Legitimation, demokratische 47 f., 52, 98 f. Legitimation von Recht – demokratische 32 – rechtsphilosophische 29 – 33 – staatstheoretische 32 – subjektive 33, 42, 45, 55 Legitimität (siehe auch Geltung, moralische) 27 – 29, 102, 229, 382 Legitimitätsgedanke siehe Legitimität Legitimitätsprinzip siehe Legitimität Lehre – bewährte 95 – rechtswissenschaftliche 51 f. Liver 278 Locke 31 Lücken – echte und unechte 61 – intra legem 60 f. – offene 61 f. – verdeckte 62 Lückenarten 59 Lückenbegriff 56 – 58 Lückendefinition siehe Lückenbegriff Lückenfüllung 63 – 74, 215 – 222, 224 – 226, 358 – 365, 368 – 370, 376 – 379 – vertragliche 43 – 45 Lückenfüllungsmethoden siehe Lückenfüllung – Rangfolge 90 f. Lückenfüllungsnorm 77 – 79, 85 f., 98 f., 228 – Vorschlag 382 – 385
Medicus 199 f. Mehrheitsprinzip 32 Meier-Hayoz 36, 92, 288 f., 336 Methoden, scheinlegitime 217, 224 f., 370 Methodendualismus 30 Methodenehrlichkeit 39, 41, 55 f., 63, 74, 85, 88, 94 Methodennormen 77
Moral (siehe auch Geltung, moralische) 31 f. Nachlassverfahren, Privilegienordnung des SchKG 325 – 333 – Analogie zu Konkurs und Pfändung 329 – 331 Natur der Sache 72 f. Naturrecht 30 Nichteheliche Lebensgemeinschaft, Eintrittsrecht in den Mietvertrag 195 – 204 – Familienangehöriger 196 f. – Herleitung über eine Analogie zu § 569a II BGB a.F. 199 – 202 – Lebenspartnerschaft 201 Normzweck, historischer (siehe auch Ziel der Auslegung, subjektive Theorie) 36, 39 Oertmann 150 Oftinger 313 f. Orientierungssicherheit (siehe auch Rechtssicherheit) 70 Parteiwille – hypothetischer 43 – 45, 281, 316 f. – Überdehnen des (siehe auch Vertragsauslegung, Überdehnen der) 146 – 148, 151, 165, 213, 280 f., 317, 356, 383 Patentrecht, nationale oder internationale Erschöpfung 333 – 343 – Entscheidung für nationale Erschöpfung über Annex-Schluss 340 f. – Erschöpfung 333 f. – internationales Recht 335 f. – Rechtsvergleich 339 – Territorialitätsprinzip 334 f. Philosophie, neukantianische 30 Planwidrigkeit siehe Schweigen, qualifiziertes positive Vertragsverletzung 135 – 145 – Ableitung aus § 276 BGB 136 – Analogie zu Unmöglichkeit und Verzug 138 f., 143 Präjudizien siehe Vorentscheidungen, Rückgriff auf Präjudizienbindung, beschränkte Befolgungspflicht 50 f. Prinzip, rechtsethisches 72 – 74
Personen- und Sachverzeichnis Prinzipien – übergesetzliche siehe Werte, übergesetzliche – überpositive 68, 337 Produzentenhaftung 177 – 184 – Beweislastumkehr hinsichtlich des Verschuldens 178, 181 – 183 – Gefährdungshaftung? 179 f.
Radbruch 31 f., 70, 201, 234, 337 ratio legis (siehe auch Auslegung, teleologische und Analogie) 35, 64 f., 345 – 347 Raum, rechtsfreier 75 Realisierungssicherheit (siehe auch Rechtssicherheit) 70 Recht, öffentliches 96 – 98 Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb 102 – 114 – Entscheidung des Großen Senats in Zivilsachen vom 15. Juli 2005 zur unberechtigten Schutzrechtsverwarnung 106 – Entscheidung des VI. Zivilsenates zum Fluglotsenstreik (BGHZ 70, 277) 113 – Juteplüsch-Entscheidung 105 f. – Subsidiarität 109, 113 – Wettbewerbsrecht 104 f., 107 – 110 Rechtsanalogie (siehe auch Gesamtanalogie) 64, 67, 78 Rechtsfortbildung – contra legem 71 f., 74, 84 f., 218 f., 225 f., 360, 369 f., 378 – extra legem aber intra ius 71 – Folgenabschätzung/Folgenanalyse 54, 93 – gesetzesübersteigende (siehe auch gesetzesunabhängige) 287 f. – gesetzesunabhängige 71 – 74 – modo legislatoris siehe Gesetzgebungslösung – rechtspolitische Erwägungen 72, 74, 94 – verdeckte 41 – Zweckmäßigkeitserwägungen 93, 287 f., 350 Rechtsgrundsatz (allgemeiner) siehe Rechtsprinzipien (allgemeine) Rechtslücke siehe Bereich, rechtsfreier Rechtsprechungsentwicklung
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– negative (siehe auch Rechtsfortbildung contra legem) 106, 110, 130, 236 – positive 50, 143, 176 Rechtsprinzipien (allgemeine) 64, 67 f., 97 f., 167 Rechtsquelle, legitime 33 Rechtsscheinvollmacht (Deutschland) 114 – 130 – Anscheinsvollmacht 116, 118 f., 122 – 125, 128 – Duldungsvollmacht 119 – 121 – Handelsrecht 116 f. – Rechtsscheinbewusstsein 124 – RG JW 1927, 1249 Nr. 5 119 – stillschweigende Vollmachterteilung 115, 117 f., 121 Rechtsscheinvollmacht (Schweiz) 230 – 242 – Anscheinsvollmacht 235 f., 238 – 241 – Duldungsvollmacht 235 f. – Handelsrecht 241 f. – Rechtsscheinbewusstsein 240 – stillschweigende Vollmachterteilung 231, 233 f. Rechtssicherheit 70 f., 157 – 159, 201 f., 234 f., 337 Rechtsstaatsprinzip 70, 75 Rechtsvergleichung 52 – 54, 94 f., 339, 385 – Informationsfunktion 53 – Kontrastfunktion 53 – Verobjektivierungsfaktor 53 Rechtsverweigerungsverbot 74 – 76 Reduktion, teleologische 40 f., 65 f. Regelungslücke, planwidrige siehe Schweigen, qualifiziertes Reisekostenerstattung bei Eingliederungsmaßnahmen nach IVG 298 – 305 – Invalidität 299 – Lösung des Problems über einen AnnexSchluss 304 – Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 302 f. Richterrecht 46 – 51 – faktische Geltung 48 – oligarchischer Charakter 48 Richterwahlausschuss 47 Rousseau 31 f. Rümelin 87 Rüthers 36
402
Personen- und Sachverzeichnis
Säcker 36 Savigny 35 Scheinbegründungen 87 f., 101, 378, 381 Schnupperlehrling, Berechnung der Invalidenrente 319 – 325 – Heranziehen von Durchschnittslöhnen (Art. 26 Abs. 1 IVV) 322 – 324 – Schnupperlehre 319 – Valideneinkommen 322 Schöbi 241 Schuldbetreibungsrecht 97, 100, 325 – 333 Schweigen, qualifiziertes 58 f. Sein und Sollen 30, 72 f., 93 Selbstbestimmung, moralische und politische 32 f. Selbstkontrahieren des Vertreters (Schweiz) 242 – 247 – BGE 89 II 321 247 – keine Gefahr der Übervorteilung des Vertretenen 244 – 247 – per Analogie heranzuziehende Vorschriften 245 f. Siebert 158 f. singularia non sunt extendenda siehe Ausnahmevorschrift Sollensordnung 29 f. Sozialversicherungsrecht 96, 100, 298 – 305, 319 – 325, 343 – 347 Spiro 313 Stammler 87 Staub (siehe auch positive Vertragsverletzung) 136 – 138 Stockwerkeigentümergemeinschaft, Legalzession der Gewährleistungsansprüche 284 – 290 – Ablehnung der Legalzession wegen qualifizierten Schweigens 285, 287 – Einschränkung der Gesetzgebungslösung 287 – 289 – sachenrechtliche Argumentation 286 f. Swissair-Entscheid siehe Konzernvertrauen, Haftung aus
Thesen 100 f., 381 f. Treu und Glauben (siehe auch § 242 BGB und Art. 2 Abs. 1 ZGB) 81 f. Tschentscher 36, 56
Überlieferung, bewährte 96 Übervorteilung, richterliche Vertragsanpassung 311 – 318 – Analogie zu Art. 20 Abs. 2 OR u. a. Vorschriften 314 f. – teleologische Reduktion des Art. 21 OR 315 f. Umkehrschluss 58 f. Unvollständigkeit, planwidrige siehe Lückenbegriff und Schweigen, qualifiziertes Vangerow 87 Verkehrssitte 81 Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter 145 – 155 – Analogie zum vertraglichen Schadensersatzanspruch (eigener Standpunkt) 149 f. – Herleitung über § 242 BGB (h.L.) 151 – 153 – Herleitung über Vertragsauslegung (Rechtsprechung) 151, 153 – Interessenkonflikt zwischen den Parteien 147 Vertragsauslegung 42 f. – ergänzende 45 – Überdehnen der siehe Parteiwille, Überdehnen des und 187 Vertragsergänzung siehe Lückenfüllung, vertragliche Vertragslücke 43, 206, 349, 385 Vertragstheorien 31 f. Vertrauenshaftung siehe Konzernvertrauen, Haftung aus, allgemeine Vertrauenshaftung und 265 Vertrauensprinzip siehe Vertrauenstheorie Vertrauensschutz – bei Anscheinsvollmacht (Schweiz) 241 – bei culpa in contrahendo 134 – bei objektiver Auslegungstheorie 38 – bei Präjudizienbindung 50 – bei Verwirkung 161 f. Vertrauenstheorie (siehe auch Willenstheorie) 238 f. Verwirkung 155 – 163 – fehlende Rechtssicherheit 157 f. – Herleitung über doppelte Analogie zu § 242 BGB 157 – Verhältnis zur Verjährung 156
Personen- und Sachverzeichnis – Zeitmoment und Umstandsmoment 158 volenti non fit iniuria 31 Vorentscheidungen, Rückgriff auf 51, 217 f., 361 f., 384 f. Weber 286 Werte, übergesetzliche 57 Wertung – eigene 38 – 41, 44, 55 f., 60 f., 82, 93 f., 362 f. – objektive 42 – 45 – übergesetzliche siehe Werte, übergesetzliche
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– unvermeidbare eigene 221 f., 226, 370, 379 Wiegand 44 Willenstheorie (siehe auch Vertrauenstheorie) 239 Wortlaut siehe Auslegung, grammatikalische Wortlautgrenze 39, 41, 55 f., 89 Ziel der Auslegung – objektive Theorie 35 – 41 – subjektive Theorie 35 – 41 Zweckmäßigkeit siehe Rechtsfortbildung, Zweckmäßigkeitserwägungen