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German Pages [421] Year 2012
Mithilfe historischer Tiefenbohrungen und deren deutender Gewichtung fördert das vorliegende Buch die unterschiedlichen politischen, sozioökonomischen und kirchlich-kulturellen Entwicklungspfade zu Tage, die die Teilräume des Landes über die Jahrhunderte geprägt haben und bis heute die Landesgeschichte mitbestimmen. Es beleuchtet ihre Relevanz für das schwierige Verhältnis von Land, Landesteilen und Landschaften sowie für die politische(n) Kultur(en) des Landes, fragt nach der Herkunft gegenwärtiger Stereotype und hilft zu verstehen, warum aus dem „Wir in NRW“ bislang kein „Wir Nordrhein-Westfalen“ wurde. Eingebettet werden die Ausführungen in den Trend der Regionalisierung der Lebenswelten, der in letzter Konsequenz auch die Existenz eines „Verwaltungskonstrukts“ wie NRW zur Diskussion stellt. Zugleich werden Gedanken entwickelt, wie die im Laufe des Bandes herausgearbeiteten Befunde einer auch aufgrund regionaler Befindlichkeiten stetig verschobenen Reform der Landesverwaltung und insbesondere seines administrativen Mittelbaus dienen könnten.
ISBN 978-3-402-12905-0
André Wichmann
André Wichmann • Rhein, Ross, Ruhr und Rose
Dem Land Nordrhein-Westfalen ist es seit seiner Gründung 1946 nicht gelungen, die in ihm zusammengeschlossenen Landesteile Rheinland, Westfalen, Ruhrgebiet und Lippe zu einem Landesganzen zu verbinden. Insbesondere die innerhalb der Landesteile weiterlebenden, geschichtlich überlieferten Landschaften stehen einem übergreifenden Landesbewusstsein entgegen und sind nach wie vor die Träger von Identitäten und Zugehörigkeitsbekundungen.
Rhein, Ross, Ruhr und Rose
Landschaftsbewusstsein und politische Kultur in Nordrhein-Westfalen
Wichmann Rhein, Ross, Ruhr und Rose
André Wichmann
Rhein, Ross, Ruhr und Rose Landschaftsbewusstsein und politische Kultur in Nordrhein-Westfalen
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Landschaftsverbandes Rheinland sowie des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe
Umschlagfotos aus Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen, herausgegeben vom Landschaftsverband Rheinland und vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe (Köln und Münster, 2007), oben links und unten links: LWL/Margit Philipps; oben rechts: LWL/ Udo Woltering; unten rechts: Horst Gerbaulet.
© 2012 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Vergütungsansprüche des § 54 Abs. 2 UrhG werden durch die Verwertungsgesellschaft Wort wahrgenommen. Printed in Germany ISBN 978-3-402-13006-3
Inhaltsverzeichnis Vorwort
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A. Einleitung
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B. Landschaft und regionale politische Kultur
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I. Zum Landschaftsbegriff (13) II. Raum – Region (16) 1. Raumkonzepte (17) 2. Region (19) 3. Globalisierung und Regionalisierung (21) III. Identität (24) 1. Identitätsbildung (24) 2. Kollektives Gedächtnis (27) 3. Sprache (29) IV. Das landschaftliche Begriffsmodell dieser Arbeit (31) V. Regionale politische Kultur (36) VI. Landschaften und politische Kultur in Nordrhein-Westfalen (40)
C. Räumliche Strukturierungsmerkmale
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I. Naturräumliche Grundbedingungen (43) 1. Rheinland (44) 2. Westfalen (45) 3. Ruhrgebiet (47) 4. Lippe (48) II. Sprachliche Grundbedingungen (48) 1. Rheinland (52) 2. Westfalen (53) 3. Ruhrgebiet (55) 4. Lippe (57) III. Landschaftliche Bedingungsmuster (57)
D. Das historische Nordrhein-Westfalen – Altes Reich
58
I. Schlaglichter der Landschaftsentwicklung (58) 1. Staaten und Politik (58) 2. Kirche und Religion (60) 3. Wirtschaft und Gesellschaft (63) 4. Politische und gesellschaftliche Selbstverwaltung (66) II. Ländergeschichte im Alten Reich (70) 1. Rheinland (70) 1.1. Kurfürstentum Köln (70) 1.2. Reichsstadt Köln (72) 1.3. Reichsstadt Aachen/Aachener Reich (73) 1.4. Herzogtum Jülich-Berg (74) 1.5. Herzogtum Kleve (76) 2. Westfalen (78) 2.1. Fürstbistum Münster (78) 2.2. Fürstbistum Paderborn (79) 2.3. Herzogtum Westfalen (80) 2.4. Fürstbistum/Fürstentum Minden (81) 2.5. Grafschaft Ravensberg (82) 2.6. Grafschaft Mark (83) 2.7. Grafschaft Tecklenburg/Obergrafschaft Lingen (85) 2.8. Fürstentum Nassau-Siegen (86) 2.9. Grafschaften Wittgenstein (87) 3. Ruhrgebiet (88) 3.1. Vest Recklinghausen (89) 3.2. Reichsstadt Dortmund (89) 3.3. Sonstige Städte (90) 4. Lippe (92) III. Franzosenzeit (94) 1. Rheinland (95) 2. Westfalen (96) 3. Ruhrgebiet (97) 4. Lippe (97) IV. Landschaftliche Grundprägungen – Altes Reich (98) 1. Rheinland (100) 2. Westfalen (102) 3. Ruhrgebiet (104) 4. Lippe (105) 5. Landschaften in NRW – Altes Reich (105)
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Inhaltsverzeichnis
E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
107
I. Schlaglichter der Landschaftsentwicklung – Staat und Politik (107) 1. Westprovinzen (107) 2. Lippe (110) II. Selbstverwaltung (112) 1. Provinziale Selbstverwaltung in den Westprovinzen (112) 2. Kommunale Selbstverwaltung in den Westprovinzen (115) 3. Selbstverwaltung in Lippe (118) III. Kirche und Kultur (119) 1. Westprovinzen (120) 2. Lippe (126) IV. Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung (127) 1. Westprovinzen (127) 1.1. Gesellschaftliche Milieus und Selbstorganisation (136) 2. Lippe (143) 2.1. Gesellschaftliche Milieus und Selbstorganisation (146) V. Ruhrgebiet (148) 1. Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung (150) 1.1. Gesellschaftliche Milieus und Selbstorganisation (152) 2. Städte (156) VI. Politische Grundströmungen (158) 1. Liberalismus (160) 2. Politischer Katholizismus (164) 3. Arbeiterbewegung (168) 4. Konservatismus (173) VII. Landschaftliche Grundprägungen – Preußenzeit (176) 1. Landschaftsbilder (178) 1.1. Rheinische Landschaftsbilder (179) 1.2. Westfälische Landschaftsbilder (184) 1.3. Landschaftsbilder Ruhrgebiet (191) VII.1.4. Lippische Landschaftsbilder (194) 2. Landschaften und landschaftliche Überlieferungen (197)
F. Nordrhein-Westfalen – Landesgründung
201
I. Äußere Landesgründung (201) II. Innere Landesgründung (207) 1. Wirtschaft (207) 1.1. Sozialisierungsdebatte und betriebliche Mitbestimmung (207) 1.2. Wirtschaftsentwicklung (209) 2. Gesellschaft (210) 2.1. Zuwanderung und Wandlungsprozesse (210) 2.2. Medienlandschaft (213) 3. Politik (215) 3.1. Parteienlandschaft (215) 3.1.1. Zentrum (212) 3.1.2. CDU (218) 3.1.3. SPD (219) 3.1.4. KPD (221) 3.1.5. FDP (222) 3.2. Landesregierung und Landtag (223) 3.3. Wahlrecht (225) 3.4. Verfassung (226) 4. Staatsadministration und landschaftliche Selbstverwaltung (228) 4.1. Land, Landesteile und Landschaften (229) 4.2. Die Landschaftsverbandsordnung von 1953 (232)
G. Nordrhein-Westfalen seit 1946
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I. Politisches System, Parteienlandschaft und politische Kultur (237) 1. Parteienlandschaft (238) 1.1. Zentrum (240) 1.2. CDU (241) 1.3. SPD (244) 1.4. KPD/PDS/Die Linke (246) 1.5. FDP (247) 1.6 Bündnis 90/Die Grünen (249) 2. Politische Kultur (249) 2.1. Sozialorientierung (251) 2.2. Konkordanz (252) 2.3. Organisierter Traditionalismus (254) 2.4. Nüchternheit (255) 2.5. Selbstverwaltung (256) 2.6. Regionale politische Kultur (258) 2.7. Fallbeispiel: Politische Kultur und politischer Erfolg (260) II. Landschaftsgestaltung (263) 1. Landesmittelbehörden (264) 2. Höhere Kommunalverbände (266) 2.1. Landschaftsverbände (266) 2.2. Regionalverband Ruhr (269) 2.3. Landesverband Lippe (270)
Inhaltsverzeichnis
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III. Landschaftsentwicklung (271) 1. Strukturpolitik und Regionalisierung (274) 2. Regionale Entwicklungen (277) 2.1. Rheinland (278) 2.2. Westfalen (280) 2.3. Ruhrgebiet (282) 2.4. Lippe (283) IV. Landschaftsintegration (284) 1. Strukturelle Hintergründe (284) 2. Staatliche Integrationsstrategien (287) 2.1. Rudolf Amelunxen (288) 2.2. Karl Arnold (289) 2.3. Franz Meyers (291) 2.4. Heinz Kühn (294) 2.5. Johannes Rau (296) 2.6. Jürgen Rüttgers (298) 3. Gesellschaftliche Integrationsstrategien (300) V. Landschaften und Regionalisierung (303) 1. Europäische Regionalisierungsimpulse (303) 2. Regionalisierte Landesstrukturpolitik (305) 2.1. ZIN-Regionen (307) 2.2. REGIONALEN (309) 2.3. Regionale Kulturpolitik (310) VI. Landschaften und Raumstrukturen (312) 1. Handlungs-, Analyse- und Medienregionen (313) 1.1. Handlungsregionen (314) 1.2. Analyseregionen (316) 1.3. Medienregionen (318) 2. Raumstrukturelle Bindungen in Nordrhein-Westfalen (320) 2.1. Rheinland (320) 2.1.1. Aachener Land (321) 2.1.2. Niederrhein (321) 2.1.3. Bergisches Land (322) 2.1.4 Rheinschiene/Rheinisches Städteband (323) 2.2. Westfalen (324) 2.2.1. Münsterland (326) 2.2.2. Ostwestfalen-Lippe (327) 2.2.3. Südwestfalen (328) 2.3. Ruhrgebiet (330) 2.4. Lippe (334) VII. Landschaftsbewusstsein in Nordrhein-Westfalen (336)
H. Nordrhein-Westfalen zwischen Landesbewusstsein, Landschaftsbewusstsein und Regionalisierung
342
I. Nordrhein-Westfalen zwischen Landes- und Landschaftsbewusstsein (343) 1. Verwaltungsreform und Selbstverwaltung (345) 2. Die Reform des administrativen Mittelbaus (351) 2.1. Reformdiskussion (352) 2.1.1. Regierungsbezirke (353) 2.1.2. Höhere Kommunalverbände (356) 2.1.3. Regionalkreis/Integrationsmodell (362) II. Politische Landschaften und Regionalkreismodell (363) 1. Landesbewusstsein und Regionalisierung (364) 2. Das erweiterte Regionalkreismodell (367)
Literaturverzeichnis
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Vorwort „Rhein, Ross, Ruhr und Rose“ – die titelgebende Alliteration mag den ein oder anderen motiviert haben, den vorliegenden Band in die Hand zu nehmen und ein wenig in ihm zu stöbern. Doch sich darüber hinaus freiwillig, über mehrere Jahre mit „NRW“ beschäftigen? Mit einem „Verwaltungskonstrukt“, innerhalb dessen den durch eine äußere Macht zwanghaft vereinten Landsmannschaften das Zusammenleben als schrecklich erscheint und ihnen als höchste Wertschätzung allenfalls ein „Es geht“ entlockt? Doch tatsächlich gibt es Landeskinder, die ihre Herkunft im fernen bayerischen Exil keineswegs verheimlichen, sondern vielmehr aktiv für das Land Nordrhein-Westfalen werben – nicht immer auf Nachfrage der unvermittelt in einen ausschweifenden Vortrag hineingezogenen Mitmenschen. Es benötigt wohl selbst für einen „prototypischen Nordrhein-Westfalen“ (geboren im Ruhrgebiet, aufgewachsen zunächst im Rheinland, sodann in Westfalen) die Erfahrung der räumlichen Distanz, um die Vorzüge der eigenen Heimat kennen und schätzen zu lernen – der Kulturschock setzte bereits in den ersten Tagen ein und führte die Vorzüge einer guten Frittenbude scharf wie im Brennglas vor Augen. Die Motivation zur Abfassung vorliegender Untersuchung speiste sich jedoch aus anderen Quellen. Ohne sich bewusst mit dieser Problematik in jungen Jahren auseinanderzusetzen, ist die Heterogenität des Landes Nordrhein-Westfalen eine im Alltag durchaus wahrnehmbare Größe und der immer wieder beschworene „kulturelle Graben“ Teil der eigenen Sozialisation. Bei aller Zurückhaltung gegenüber Stereotypen interessierten mich die Frage nach dem „Woher“ der landsmannschaftlichen Divergenzen zwischen „rheinischer Frohnatur“ und „westfälischem Dickschädel“, zwischen „Ruhrgebietskumpel“ und „sparsamem Lipper“ sowie die Auswirkung dieser ‚eindeutigen Sachverhalte’ auf das nach wie vor schwierige Zusammenwachsen des 1946 gebildeten Bundeslandes. Wo ist das Landesbewusstsein, das in der bayerischen Umgebung doch weit stärker präsent ist? Warum tun sich die Bürger Nordrhein-Westfalens so viel schwerer, sich zu ihrem Bundesland zu bekennen oder sich diesem verbunden zu fühlen? Und welche Auswirkungen zeitigen die unterschiedlichen regionalen Prägefaktoren, die in NRW aufgegangen sind, für Politik und politische Kultur des Landes? Entstanden ist die nun in Buchform erschienene Untersuchung während meiner Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Politik in München. Letztere gab mir auch nach einigen Umwegen die Möglichkeit, mein Studium der Politikwissenschaften abzuschließen und legte so den Grundstein, dass ich mich im Anschluss vertieft der eigenen Heimat zuwenden sowie diese zunächst als Dissertation eingereichte Arbeit verfassen konnte. Mein hiesiges ‚Kontor’ wurde zur zweiten Bleibe und besaß als Rückzugsraum eine gehörige Bedeutung für die Fertigstellung dieses Projekts. Begleitet auf diesem Weg haben mich insbesondere die beiden Betreuer meiner Dissertation, Prof. Dr. Theo Stammen und Prof. Dr. Peter Cornelius Mayer-Tasch. Beide lieferten mit ihrem umfassenden Wissensfundus stete Anstöße, ließen mir aber auch den durchaus gewünschten Freiraum zur selbständigen Bearbeitung des Themas und verloren ihr Wohlwollen auch nicht, nachdem sich Breite und Tiefe der von ihnen zu begutachtenden Zeilen allmählich andeuteten. Dankbar bin ich beiden für die Offenheit gegenüber meiner – heutigen politikwissenschaftlichen Moden eher zuwiderlaufende – Arbeit und die
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Vorwort
Unterstützung des von mir gewählten breiteren Ansatzes gegenüber einer rein empirischen Politikanalyse. Ich habe von und im Umgang mit Ihnen vieles lernen können, das ich gerne auf meinen weiteren Pfad mitnehme! Veröffentlicht werden konnte dieses Buch mit Unterstützung der Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe sowie mit tatkräftigem Unter-die-Arme-greifen des Aschendorff-Verlags, insbesondere durch Herrn Dr. Dirk F. Paßmann. Persönlich hervorheben möchte ich aus meinem unmittelbaren Umfeld die wichtigsten Personen, ohne die ich diese Zeilen nicht tippen dürfte: Zunächst meine „Muddi“ Brigitte und mein Bruder Lars, die mir über die Jahre die notwendige Geborgenheit einer Kleinfamilie vermittelten, die sämtliche Klippen und Stürme gemeinsam umschiffte, die zusammenhielt und auf die ich mich stets verlassen konnte. Ich bin immer wieder gerne zu Hause – hoffentlich kann ich dies in Zukunft häufiger sein! – und bewundere die Kraft, die auch in ‚kleinen’ Personen steckt! Sodann meine Lebensgefährtin Sonja, mit der aus meinem „In-der-Welt-sein“ ein „Zu-Hause-sein“ auch in der Fremde möglich wurde. Meine Launen waren und sind sicher nicht immer leicht zu ertragen, ich bin dankbar für Verständnis, Geduld und die Versüßung meines Alltags!
München, im August 2012
A. Einleitung „Die von zahlreichen Menschen empfundene Benachteiligung Westfalens im Bindestrichland Nordrhein-Westfalen ist einer der Hauptgründe für die Entstehung der Regionalpartei ‚Die Westfalen’.“1
Seit seiner Gründung im Jahre 1946 begleiten die Existenz des Landes NordrheinWestfalen (NRW) Äußerungen, die die Zurücksetzung Westfalens innerhalb des Landesgefüges beklagen: Der nordrheinische Landesteil habe „in Bereichen wie Infrastruktur, Kultur und Medien immer die Nase vorn“,2 die Landespolitik sei rheinisch dominiert und benachteilige Westfalen systematisch; die Bildung der Partei Die Westfalen am 12. Dezember 2009 ist der bislang jüngste Versuch, dieser vermeintlichen Geringschätzung zu begegnen. Über – an dieser Stelle nicht weiter zu verfolgende – folkloristische Aspekte und mögliche Ungleichgewichte hinaus verweist die Entstehung der explizit teilräumlich ausgerichteten Regionalpartei auf das bis heute fehlgeschlagene Zusammenwachsen des nach dem Zweiten Weltkrieg von der britischen Besatzungsmacht gebildeten Bundeslandes. Trotz sechsundsechzigjähriger formeller Zusammengehörigkeit überwölbt – manche Autoren sehen dies anders–3 die damals zusammengefassten Territorien bislang kein verbindendes nordrheinwestfälisches Landesbewusstsein, als Schlusslicht unter den deutschen Bundesländern fühlen sich nur 4% der hiesigen Bevölkerung NRW innerlich verbunden.4 Der als Bindestrichland apostrophierte Gliedstaat der Bundesrepublik5 tut sich schwer, eine landesteileübergreifende Identität auszubilden und seine Subeinheiten zu einem gemeinsamen Ganzen zu integrieren; sinnfälliger Ausdruck hierfür ist bereits das dreigeteilte Landeswappen mit silbernem Wellenbalken auf grünem Feld als Symbol für das Rheinland, silbern-springendem Pferd auf rotem Grund für Westfalen und fünfblättriger roter Rose auf silbernem Feld für Lippe,6 denen sich mit dem Ruhrgebiet ein vierter Landesteil mit eigenen Traditionslinien hinzugesellt. Zwar hat es nicht an Versuchen gemangelt, aus der Vernunftehe eine Liebesbeziehung zu machen,7 ohne jedoch nachhaltige Wirkung zu entfalten; Nordrhein-Westfalen ist bis heute Behälterraum für Rhein, Ross, Ruhr und Rose und sowie für die in ihnen zusammengefassten, weithin unverbunden nebeneinander bestehenden Landschaften geblieben.
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Grundsatzerklärung der Partei Die Westfalen, verabschiedet auf der Gründungsversammlung am 12. Dezember 2009 in Dortmund, einsehbar unter http://www.die-westfalen.de/ (2.3.2010). Vgl. Dalkowski, Sebastian: Westfalen gegen Rheinländer. NRW hat eine neue Partei, in: Rheinische Post (14.12.2009), einsehbar unter http://www.rp-online.de/Deutschland/Westfalen-gegen-Rheinlaender_aid_795368. html (14.12.2009). Vgl. Alemann, Ulrich von/Brandenburg, Patrick: Nordrhein-Westfalen. Ein Land entdeckt sich neu, Köln u.a. 2000, S. 70. Sie sehen ein Landesbewusstsein seit den 1980er Jahren und den Kampagnen Johannes Raus um dieses als verwirklicht an. Vgl. Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.): Bürger und Föderalismus. Eine Umfrage zur Rolle der Bundesländer, Gütersloh 2008, S. 14. Vgl. Cornelißen, Christoph: Historische Identitätsbildung im Bindestrichland Nordrhein-Westfalen, Essen 2008. In seiner heutigen Form am 5. Februar 1948 eingeführt und am 10. März 1953 mit dem Gesetz über die Landesfarben, das Landeswappen und die Landesflagge rechtlich verankert. Das Bild der Ehe ist seit der Operation Marriage genannten Zusammenfügung der preußischen Provinzen wiederkehrendes Bild, um die inneren Verhältnisse zu kennzeichnen. Vgl. hierzu auch die Ausführungen zur Landesgründung.
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A. Einleitung
Leitfäden folgender Untersuchung sollen sein, welche Ursachen die Dominanz des Landschafts- über das Landesbewusstsein in Nordrhein-Westfalen begründen, welche Möglichkeiten zur Umkehrung dieses Verhältnis bestehen, aber auch, ob es einer solchen überhaupt bedarf. Wo läge in einer zunehmend zusammenwachsenden Welt der Mehrwert eines nordrhein-westfälischen Landesbewusstseins, welche Alternativen existieren, und wie ließen sich diese begründen? Zur Beantwortung jener Fragestellungen wird eine grundlegende Landeskartierung erfolgen, deren Fundamentalbegriff der der Landschaft ist. Eine erste Hypothese unterstellt, dass die auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes historisch gewachsenen Landschaften weiterhin mentale Abgrenzungen fundieren und das Zusammenwachsen der Landesteile sowie ihrer Subregionen behindern; NordrheinWestfalen durchziehen in der Vergangenheit angelegte, bis in die Gegenwart nachwirkende landschaftliche Gräben, die einem übergreifenden Landesbewusstsein entgegenstehen. Der Untertitel Landschaftsbewusstsein in verweist auf die Existenz eines Pluralismus’ an latent vorhandenen, neben- statt miteinander existierenden Raumkartierungen anstelle eines gemeinsamen Wahrnehmungsraumes, geschichtlich bedingte Landschaftsbindungen ragen trotz Wegfalls ihrer empirischen Grundlagen nach NRW hinein und bestimmen Denken, Handeln und Verortung der heutigen Bevölkerung zu einem Gutteil mit. Das nordrheinwestfälische Staatsterritorium ist in eine Reihe von Kulturräumen zerschnitten, entlang derer sich Identitäten in Absetzung voneinander ausbilde(te)n; ohne unüberbrückbare Gräben zu behaupten – letztlich ist NRW nur ein westdeutsches Bundesland – ist forschungsbegleitende Grundannahme, dass diese im Kern fortbestehen und der inneren Landesgründung entgegenstehen. Nordrhein-Westfalen wächst auch aufgrund jener in den kollektiven Gedächtnissen verankerten Strukturgegensätze zwischen Rheinland und Westfalen, Ruhrgebiet und Lippe nicht zusammen, wobei die unterhalb der vier Landesteile weiterlebenden Landschaften nach wie vor die wichtigsten Zuordnungs- und Zugehörigkeitsobjekte sind und insbesondere sie die Umorientierung von Zugehörigkeitsbekundungen auf das Landesganze hemmen. Zweite Grundprämisse ist, dass Landespolitik und -entwicklung nach 1946 kaum dazu beitrugen, jene hergebrachten Verortungen zu überwinden. Programme, die auf die Ausbildung eines Landesbewusstseins zielten, gingen als künstlich-hierarchische Initiativen an der Lebenswirklichkeit der Bevölkerung vorbei und schlugen ebenso fehl wie Versuche, die Binnenvielfalt des Landes als Kern einer übergreifenden Verbundenheit zu betonen. Nordrhein-Westfalen fehlte im allergrößten Teil seiner Existenz die Erfolgsgeschichte, an die sich Stolz und Verbundenheit heften könnten, regionalisierte Politikansätze schützten überlieferte Orientierungen und tradierten den inneren Identitätspluralismus. Die Bewahrung kulturräumlicher Eigenheiten kommt innerhalb des Landesgefüges zur Geltung, da raumstrukturelle Beziehungsgeflechte weiterhin überlieferte landschaftsbasierte Lebenswelten spiegeln und durch Maßnahmen der Landespolitik innengerichtet festigen. Zur Beantwortung der aufgeworfenen Aspekte lehnt sich die nordrhein-westfälische Landschaftsvermessung an gesellschaftsstrukturell-interdisziplinäre Untersuchungsansätze an und arbeitet durch die Zusammenfügung partieller Entwicklungsstränge die Wechselwirkung geschichtlicher Landschaftsprägungen und ihrer möglichen sozialpsychologischen Folgen – nicht im Sinne der Stereotypisierung des Verhaltens, sondern der Inbeziehungsetzung von Alltagsbedingungen, Raumwahrnehmungen und sittlich-kultureller Disparitä-
A. Einleitung
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ten – heraus. An die Operationalisierung des Leitbegriffs der Landschaft schließen breit angelegte, narrativ-pointierte historische Tiefenbohrungen an, die die wesentlichen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bestimmungsfaktoren regionaler Landschaftsgenesen auf dem Gebiet des historischen Nordrhein-Westfalens8 darlegen; die Erkenntnisse erlauben die Ableitung gegenwartsmächtiger mentaler Dispositionen und ihres Beitrags zur schwierigen nordrhein-westfälischen Landesintegration. Rückwärtsgewandt sind Rhein, Ross, Ruhr und Rose, Rheinland, Westfalen, Ruhrgebiet und Lippe in ihrer heutigen geographischen Ausprägung räumliche Untersuchungsobjekte und der Mantel für die in ihnen zusammengeschlossenen, gleichsam herausgearbeiteten differenten Teillandschaften. Unklar ist zunächst, wie weit in den Geschichtsbüchern zurückzublättern ist, um fundierte Erklärungsmuster für das Heute zu erhalten. Vor allem infolge des Zweiten Weltkrieges glichen sich die vormals in sich recht homogenen nordrhein-westfälischen Teilräume einander an und wurden einstmalige Besonderheiten abgebaut, doch kann zugleich nicht übergangen werden, dass die aktuelle Verwaltungsgrenze zwischen Rheinland und Westfalen annäherungsweise der alten fränkisch-sächsischen Stammesscheide entspricht und sich vordergründig als historische Konstante erweist. Ohne genealogische Kontinua zu behaupten oder Wesensmetaphern zu bedienen, sind mit Blick auf Landesteile und Einzellandschaften solche strukturellen Entwicklungslinien nachzuverfolgen, um die gegenwärtigen Disparitäten innerhalb Nordrhein-Westfalens zu verstehen; Rückgriffe auf weit zurückliegende Ereignisse erscheinen insofern als gerechtfertigt, als sie Weichen für den weiteren Geschichtsprozess stellten und diesen steuerten, ohne ihn zu determinieren. Sedimentschichten gleich, lagern reichsgeschichtliche, französische, preußische und britische Prägungsebenen übereinander und lieferten jeweils spezifische, noch heute durchschimmernde und situativ reaktivierbare Beiträge zur Ausbildung unterschiedlicher Mentalitäten und Identitäten auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes; sie abtragend freizulegen erscheint notwendig, um die nordrhein-westfälische Landschaftsgenese und ihre Bedeutung für die Gegenwart zu bestimmen, um Wechselwirkungen und Kontinuitäten nachzuzeichnen, ohne spekulativen Behauptungen zu erliegen. Sodann wird der Blick auf das Land Nordrhein-Westfalen nach 1946 gewendet, um seitherige Hindernisse auf dem Weg zu einem Landesbewusstsein schlaglichtartig zu beleuchten und verstehend zu begleiten. Unter Rückgriff auf die auf diesem Wege gewonnenen Erkenntnisse und in Kenntnis der maßgeblichen historischen Tiefenschichten kann schlussendlich synoptisch diskutiert werden, welche Möglichkeiten sich dennoch für die innere Landesintegration ergeben, aber auch, ob überhaupt die zwingende Notwendigkeit hierfür besteht; hieraus werden Vorschläge entwickelt, die sowohl den Ansprüchen auf staatliche Steuerungsfähigkeit wie auch auf landschaftliche Selbstbestimmung gerecht entsprechen. Zwischen den Zeilen schwingt das Interesse an der Bedeutung und dem Mehrwert eines Landes- bzw. Landschaftsbewusstseins mit. Die Auseinandersetzung mit dem problematischen Zusammenwachsen NRWs verleitet zu der Annahme, die Entstehung eines 8
Der Begriff wird im Verlauf der Arbeit wiederholt Verwendung finden. Das historische Nordrhein-Westfalen meint den Raum und die staatlichen Gebilde, die im Heiligen Römischen Reich angelegt wurden und die in dem heutigen Bundesland aufgegangen sind. Hier finden sich die tiefenstrukturellen Bausteine, die wie übereinandergeschichtete Abschnitte raum- und mentalitätsprägend waren, in die Gegenwart hineinreichen und Grundbedingungen für das Verständnis wie die Integration Nordrhein-Westfalens darstellen.
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A. Einleitung
nordrhein-westfälischen Identitätskonstrukts sei wünschenswert und besitze hohe Bedeutung für die Landesbevölkerung. Ohne dies vorbehaltlos zu konstatieren, ist die Rückbesinnung auf die Region ein seit den 1970er Jahren zu beobachtendes Phänomen, das in vielfältiger Ausprägung – ob politisch, wirtschaftlich oder kulturell – das menschliche Bedürfnis nach lebensweltlich erfahrbarer, räumlicher Verortung spiegelt. Nahräumliche Lebenswelten sind wieder vermehrt orientierungsgebende Rahmen, die Verhaltenssicherheit versprechen und mit emotionaler Verbundenheit aufgeladen sein können; die hier geübte individuell-kollektive Selbstvergewisserungen gilt allerdings nicht dem leeren Behälterraum, sondern den ihn ausfüllenden Traditionen, Sitten und Alltagskulturen. Vorliegender Arbeit geht es zunächst um die Frage, welche nordrhein-westfälischen Teilräume aus welchen Gründen als Landschaften in jenem Sinne wahrgenommen werden und welcher Anteil ihnen am schwerlichen Zusammenwachsen der Landesteile zukommt, und erst dann um das Potential einer inneren Landesintegration; deren Wertigkeit soll abschließend vor dem Hintergrund vorheriger Untersuchungen diskutiert werden. NRW benötigt nicht per se ein Landesbewusstsein – es ist Möglichkeit, kein Muss. Als Teilaspekt fließt in die Gesamtdarstellung die nordrhein-westfälische politische Kultur ein. Es ist davon auszugehen, dass unterschiedliche regionale Entwicklungswege auch im politischen Leben latent nachwirken und mit divergenten Wahlverhalten, Parteiensystemen, Partizipationsmustern und Werteorientierungen einhergehen. Die ansatzweise Darstellung jener Faktoren erweitert die Landschaftsvermessung und hebt die Heterogenitätsthese in eine weitere Sphäre, zeigt aber auch landesteileübergreifende Grundlagen auf, die in NRW beachtet werden müssen, um politische Erfolge zu haben. Nachvollzogen werden soll, inwiefern die von Karl Rohe konstatierten Grundkomponenten nordrheinwestfälischer politischer Kultur – der Traditionalismus, die Betonung des Sozialen, die organisierte Interessenvertretung, die kapitalismuskritische Bejahung des modernen Industriesystems sowie starke Selbstverwaltungskomponenten –9 tatsächlich existieren, sich aus der Landschaftsgenese ableiten lassen und für das gesamte Bundesland Geltung beanspruchen. Um jene Besonderheiten prägnant herauszuarbeiten, wäre im Grunde ein Vergleich zur Bundes- wie zur weiteren Länderebene erforderlich, soll jedoch Aufgabe einer gesonderten Untersuchung sein. Für den Zusammenhang dieser Arbeit erscheint eine derart tiefgreifende vergleichende Analyse nicht vonnöten, da es hier in erster Linie um das Landes- und Landschaftsbewusstsein sowie um die bis heute nur mäßig erfolgreiche Landesintegration geht; die Hinzunahme des Faktors politische Kultur ist primär Hilfsmittel zur Bestimmung der inneren Landesvielfalt und landschaftlicher Strukturgräben, anstatt eigenes Forschungsthema zu sein. 9
Rohe schreibt der nordrhein-westfälischen politischen Kultur 1) eine langfristige Bindung an dieselben politischen Eliten, ein Festhalten an tradierten Werten und ein ausgeprägtes Stammwählerverhalten 2) starke Bemühungen um die sozialpolitische Korrektur wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Problemlagen 3) ein aus der Pluralität heterogener Milieus und der Enge des Raumes erwachsenes reiches Vereinsleben, die abgeschlossene Organisation unterschiedlicher Bevölkerungskreise auf konfessioneller oder sozialer Grundlage 4) die Ablehnung eines schrankenlosen Wirtschaftssystems, das die Menschen und ihre Bedürfnisse übergeht sowie 5) allgemein „westlichere“ Züge aufgrund stark ausgebauter Selbstverwaltungselemente auf provinzialer oder kirchlicher Ebene, die die Einübung von Selbständigkeit zuließ, zu. Vgl. Rohe, Karl: Politische Traditionen im Rheinland, in Westfalen und Lippe. Zur politischen Kultur Nordrhein-Westfalens, in: Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Nordrhein-Westfalen. Eine politische Landeskunde, Köln u.a. 1984, S. 14-34, hier: S. 28ff.
A. Einleitung
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Sämtliche Schritte folgen einer methodenpluralen Kontext- und Mehrebenenanalyse. Historische Tiefenbohrungen, die disziplinübergreifende Ermittlung der geschichtlichen Wechselwirkung naturräumlicher, politischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Entwicklungslinien befördern das Verständnis für Landschaften und politische Kultur(en) und umfassen den qualitativ-hermeneutischen Grundaspekt dieser Arbeit. Durch die Geneseschichten des Heiligen Römischen Reich deutscher Nation (im Folgenden: Altes Reich),10 der Franzosenzeit, der Preußen- wie der britischen Besatzungszeit werden nordrheinwestfälische Teillandschaften ermittelt und erforscht, um die innere Heterogenität des heutigen Landes, seiner Lebenswelten und Identitäten darzustellen. Aus der Gegenwart heraus werden Fragen an die Vergangenheit gestellt, aktuelle Befunde durch Rückgriff auf jene Elemente zu erklären und zu verstehen versucht; phänomenologisch-ausdeutend kann Sinn, den Menschen in den Raum hineingelegten und der auf sie zurückspiegelt(e), durch die Deutung heutiger Alltagsphänomene – die ihre Logik aus ebenjener Landschaftsentwicklung beziehen – aus diesen herausgelesen werden, um die historischen Grundlagen der schwerlichen Landesintegration freizulegen. Literarische Äußerungen oder kartographische Darstellungen ergänzen – in dem Wissen um das stets auch Gewollt-Bemühte dieser Äußerungen – die Herausarbeitung des seit dem Mittelalter wiederkehrend beschworenen rheinisch-westfälischen Kulturgrabens sowie weiterer landschaftlicher Strukturgrenzen. Schlaglichtartig wird auf die bedeutendsten Weichenstellungen der Landschaftsentwicklung eingegangen, der Fokus sämtlicher Untersuchungen und Äußerungen liegt – um nicht die gesamteuropäische Geschichte zu referieren – auf dem für heutige NordrheinWestfalen maßgeblichen Raumausschnitt. Diese qualitativ-hermeneutische Vorgehensweise wird ergänzt durch die Heranziehung und Interpretation rückgebundener Sekundärdaten wie raumstruktureller Beziehungsgeflechte, Langzeitanalysen des Wahlverhaltens oder Parteienprogramme, um das Hineinragen hergebrachter Landschaftsgrenzen nach NRW nachzuweisen; sie schimmern in politisch-administrativen Gliederungen wie der gesellschaftlichen Selbstorganisation durch und können nur vor dem Hintergrund jener Vorarbeiten adäquat eingeordnet werden. Verwaltungsstrukturen, Verbandsgebiete oder Publikationsmärkte richten sich an überlieferten Orientierungspunkten aus und stellen innengerichtete Bezugseinheiten her, die die Altlandschaften lebensweltlich integrieren, nach außen abschließen und hergebrachte Grenzen unmerklich – und deshalb umso wirksamer – tradieren. Umfragen werden auf diesem Wege nicht rundweg abgelehnt, doch auf die Erhebung eigener Daten verzichtet; der Zugriff auf vorhandene Statistiken untermauert einzelne Aussagen, doch fördern Fragebögen eher Momentaufnahmen als tiefliegende mentale Grundorientierungen zu Tage und sind insofern an dieser Stelle von untergeordneter Bedeutung. Oberflächliche Meinungsabfrage liefert keineswegs das Verständnis für die sie bestimmenden Ursachen, eine volle Erfassung der Wirklichkeit ist einzig durch die Abkehr von reiner Zahlenorientierung und die Herausarbeitung der den Einstellungen zugrundeliegenden Vorstellungen möglich. Anstatt naturwissenschaftlich-quantitative Erklärungen zu liefern und die Gegenwart mit absoluter Nachprüfbarkeit abzubilden, soll mit dem Anspruch einer gewissen Plausibilität 10
Der Begriff findet Verwendung, da das uns heute als Heiliges Römisches Reich deutscher Nation bekannte Gebilde diese Bezeichnung nicht über die gesamte Dauer seiner Existenz kannte. Wenn vom Alten Reich gesprochen wird, ist die Zeit zwischen der Kaiserkrönung Ottos I. 962 und der Auflösung des Reiches 1806 gemeint.
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A. Einleitung
der den vorfindbaren Landschaftsstrukturen zugrundeliegende Geist und ihre Entstehungsbedingungen herausgefiltert werden; die „Selbstinterpretation der Gesellschaft“11 ist längst geschehen, es kommt nun darauf an, diese nachträglich zu analysieren. Was aber wäre das nordrhein-westfälische „Reservoir an Gemeinschaftlichkeit und Zusammengehörigkeitsgefühl (…), auf das moderne Gesellschaften zur Sicherung eines zu ihrer Existenz notwendigen Mindestmaßes an Integration angewiesen sind“,12 wenn vergangenheitsorientierte Integrationsstrategien ausfallen und top-down gesteuerte Maßnahmen aus der Politik im Großen und Ganzen scheiterten? Aufgegriffen werden soll hierfür die anderorts aufgestellte These, das historische Nordrhein-Westfalen besitze – ohne einen Vergleich zwischen den Bundesländern anstellen zu können – weit zurückreichende und in ihrer Dichte einzigartige Selbstverwaltungstraditionen,13 um sodann nachzuverfolgen, ob die Reaktivierung des Politischen, die Förderung partizipativer Politikmodelle, die Grundlage einer zukunftsgerichteten Landesintegration bottom-up abgäbe. Genauso besteht aber die Frage nach der Notwendigkeit einer Verbundenheit von Land, Landesteilen und Landschaften und dem hieraus abgeleiteten Zugewinn für die Bevölkerung. Gehen mentale Orientierungen, Identitätsmuster und Bewusstseinshorizonte nicht eher mit anderen räumlichen Ebenen einher als mit einem Gliedstaat der Bundesrepublik? Nordrhein-Westfalen könnte als Behälter facettenreicher Einzelteile existieren, die einer zwangsweise-künstlichen Vereinigung gegenüberstehen und gerade durch die Offerierung nahräumlicher Selbstverortungsmöglichkeiten an Landesverbundenheit wie innerer Stärke gewinnen. Eine föderal-demokratietheoretische Perspektive wird zum Abschluss allenfalls gestreift: Postmoderne Desintegration und Individualisierung, die Frage nach der Leistungsfähigkeit des Staates alter Prägung und der Aktivierung zivilgesellschaftlicher Potentiale könnten zwar anhand der Bestimmung des Verhältnisses von der Politik und des Politischen in Nordrhein-Westfalen ausführlich diskutiert werden: Was kann subsidiär und durch gesellschaftliche Partizipation, was muss hierarchisch geregelt werden? Was kann, was soll der Staat heute noch leisten, und wo könnte er sich zurückziehen, um durch die selektive Abgabe von Macht an Gestaltungspotential und Legitimität zu gewinnen? In Ansätzen werden diese Punkte in den zu entwickelnden Lösungsvorschlägen angeschnitten und die Suche nach dem nordrhein-westfälischen Landesbewusstsein in Beziehung gesetzt zu der seit der Landesgründung wiederholt aufwallenden – und die Aufrechterhaltung voneinander abgehobener Selbstverständnisse verdeutlichenden – Diskussion um eine grundlegende Reform der Verwaltungsstrukturen, ohne hierauf ein Hauptaugenmerk legen zu können.
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Vgl. Voegelin. Eric: Die Neue Wissenschaft der Politik, München 2004, S. 43. Dornheim, Andreas/Greiffenhagen, Sylvia: Einführung: Identität und politische Kultur, in: dies. (Hrsg.): Identität und politische Kultur, Stuttgart 2003, S. 11-29, hier: S. 17. Vgl. Rohe, Politische Traditionen im Rheinland, in Westfalen und Lippe, in: Landeszentrale für politische Bildung, Nordrhein-Westfalen, hier: S. 30.
B. Landschaft und regionale politische Kultur Landschaft ist Sammelterminus für weiterführende, sie wechselwirkend konstituierende Nomina wie Raum, Region und Identität; aktuell ist der Raum Nordrhein-Westfalen der Rahmen für administrativ verfasste Subregionen, die in den Landschaften unterschiedliche kulturelle Fundamente mit eigenen Identitäten besitzen. Eine Landschaft kann ebenso zum staatlichen Raum wie politische Administrativregionen zu identitätsbasierten Landschaften werden; allesamt sind sie menschliche Konstrukte und somit nach unterschiedlichen Voraussetzungen machbar.
B.I. Zum Landschaftsbegriff Anstatt hypostasierte Wesenheiten zu sein, wurzeln Landschaften unhintergehbar in der Verbindung von Mensch und Raum. Der Begriff ist eine Variante des germanischen Grundwortes skapjan (schaffen), das Gestalt, Beschaffenheit oder Zustand von etwas meint und sich in drei Wortgruppen unterteilen lässt: Abstrakta wie meisterschaft (Gelehrsamkeit) oder winescaf (Freundschaft), Gruppenbezeichnungen wie heriscaf (Heer, Legion) oder manschop (Gesamtheit der Ritter) sowie Raumbezeichnungen wie grafscaf (Amtsbezirk) oder leischaft (Bauernschaft). Aus den sprachgeschichtlich ältesten, auf menschliche Eigenschaften oder Gruppennormen rekurrierende Abstrakta wurden zunächst Kollektivbezeichnungen – aus der riterschaft als Verhaltensweise wurde die Gesamtheit der Ritter – um sodann auf den von ihnen besiedelten Raum übertragen zu werden; aus den sozialen Normen, die in einem Raum gelten, wurde umgekehrt das Siedlungsgebiet, in dem sie Gültigkeit besitzen.14 Erste Hinweise für den Landschaftsbegriff finden sich im 9. Jahrhundert: Lantscaf oder lantscaft wurde als Übersetzung des lateinischen regio oder provincia als Teilbereich eines größeren Ganzen verstanden;15 während lant – wenngleich im frühen Mittelalter keineswegs im heutigen Sinne fest verfasste – politische Territorien meinte, bezog sich lantscaf auf Gebiete mit historisch-sozialen Sondereigenschaften innerhalb dieser.16 Nachdem der Augsburger Priester Wernher 1172 den Bedeutungswandel des Begriffs auf die in einem Territorium lebende Bevölkerung einleitete, engte Gottfried von Straßburg dieses Verständnis
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Vgl. hier und in folgendem: Müller, Gunter: Zur Geschichte des Wortes Landschaft, in: Hartlieb von Wallthor, Alfred/Quirin, Heinz (Hrsg.): „Landschaft“ als interdisziplinäres Forschungsproblem. Vorträge und Diskussionen des Kolloquiums am 7./8. November 1975 in Münster, Münster 1977, S. 4-12, hier: S. 4 und passim. Am deutlichsten wurde dies beim St. Gallener Systematiker Notker formuliert: „Prouincia est diu lántscaft. Regio diû gibiûrda. Mánige regiones mugen sîn in êinero prouincia.“ Vgl. Pieper, Paul: Die Schriften Notkers und seiner Schüler, Bd. II: Psalmen und Katechetische Denkmäler nach der St. Gallener Handschriftengruppe, Freiburg/Tübingen 1883, S. 459. Vgl. Piepmeier, Rainer: Landschaft. Der ästhetisch-philosophische Landschaftsbegriff, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie (HWPh), Band 5: L-Mn, Darmstadt 1980, S. 11-28, hier: S. 11.
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B. Landschaft und regionale politische Kultur
bereits 1210 auf deren vornehmen Teil, die vom volk geschiedene Adelslantschaft, ein.17 Landschaft stand fortan für den politisch-rechtlich definierten Raum sowie die Handlungsfähigen und -berechtigten eines Territoriums; abgrenzbare politische, rechtliche und soziale Gemeinsamkeiten, funktionale Bindungen, wechselseitige Handlungsgeflechte sowie die Wahrnehmung dieser Verbundenheiten trennten ein Wir von einem Die und förderten ein menschen- wie raumbezogenes Landschaftsbewusstsein. Dieses ursprünglich-beschreibende Landschaftsverständnis erfuhr in Spätmittelalter und Neuzeit eine emotional-ästhetische Erweiterung. Das „Erwachen des landschaftlichen Auges“18 begann 1335 mit der Besteigung des Mont Ventoux’ durch Francesco Petrarca, der mit seiner „Begierde, die ungewöhnliche Höhe dieses Flecks Erde durch Augenschein kennenzulernen“,19 einen Blickwechsel beförderte und den Menschen aus der schicksalhaften Gebundenheit an die mühevoll bearbeitete Natur herauslöste. Bewusstes Hinausgehen und der Genuss der weltlichen Aussicht beförderten die Wahrnehmung der zuvor als unheimlich und unbeherrschbar empfundenen, ihrem Wesen jedoch gleichbleibende Umwelt um ihrer selbst willen in der „Gestalt der Landschaft als etwas mehr oder weniger Schönes“;20 Landschaft wurde „Natur, die im Anblick für einen fühlenden und empfindsamen Betrachter ästhetisch gegenwärtig ist.“21 Malerei und Literatur schlossen an diese Naturaufwertung sowie die anthropogene Erschaffung von Landschaften durch ihre Hervorhebung aus der Mannigfachheit des morphologisch-geologischen Raums an, griffen aus integrativer Perspektive eine aufeinander bezogene Gesamtheit als Ausschnitt aus dem Raumspektrum heraus und benannten sie als Landschaft; künstlerische Darstellungen deuteten, idealisierten und verdichteten Landschaften symbolhaft und legten Stimmungen und Empfindungen in sie hinein.22 Erst mit dem teilend-aufwertenden Blick des Menschen bildeten sich Landschaften als zusammengehörig wahrgenommene Individualitäten innerhalb des Raumes; sie waren und sind demnach Kunstwerke, die wie jenes gemacht und erschaffen werden und intrinsische Wertmuster des Schönen und Erhabenen mitliefern.23 17
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Während Wernher die „lantschaft diu diet“, die Bevölkerung eines Gebietes, von den „unkunden“ (Auswärtigen) trennte, engte Gottfried von Straßburg in seinem Tristan dieses Verständnis ein, wenn er schrieb: „Dô kam al diu lantschaft/und volkes ein sô michel kraft,/daz stat bî dem mer/allez bevangen was mit her.“ Vgl. Wesle, Carl (Hrsg.): Priester Wernher. Maria. Bruchstücke und Umarbeitungen (1736), 2. Aufl., Tübingen 1969, S. 91, sowie Gottfried von Straßburg: Tristan (1210), hrsg. v. Karl Marold, Berlin 1969, 23f. Piepmeier: Landschaft, in: Ritter/Gründer, HWPh 5, S. 16f. Petrarca, Francesco: Die Besteigung des Mont Ventoux, in: ders.: Dichtungen, Briefe, Schriften, hrsg. v. Hanns W. Eppelsheimer, Frankfurt a. M. 1956, S. 80-89, hier: S. 80. Burckhardt, Jacob: Die Kultur der Renaissance in Italien. Gesamtausgabe, hrsg. v. Werner Kaegi, Bd. 5, Stuttgart 1930, S. 211. Ritter, Joachim: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft (1963), in: ders.: Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt a. M. 1974, S. 141-163, hier: S. 150. Vgl. Kühne, Olaf: Distinktion – Macht – Landschaft. Zur sozialen Definition von Landschaft, Wiesbaden 2008, S. 153f. Zu unterscheiden ist allerdings zwischen der niederländisch-realistischen Malerei, die die heimischen Bewohner und ihren unbeschönigten Alltag zeigte, und der aristokratisch-idealen Kunst, die komponiert-erschaffene Räume darstellte, die die Ordnung des Weltganzen spiegeln sollte. Vgl. Hohl, Hanna: Das Thema Landschaft in der deutschen Malerei des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, in: Hartlieb von Wallthor/Quirin, „Landschaft“ als interdisziplinäres Forschungsproblem, S. 45-53, hier: S. 46f. „Eben das, was der Künstler tut: dass er aus der chaotischen Strömung und Endlosigkeit der unmittelbar gegebenen Welt ein Stück herausgrenzt, es als eine Einheit fasst und formt, die nun ihren Sinn in sich selbst findet und die weltverbindenden Fäden abgeschnitten und in den eigenen Mittelpunkt zurückgeknüpft hat - eben dies tun wir in niederem, weniger prinzipiellem Maße, in fragmentarischer, grenzunsichrerer Art, sobald wir statt einer Wiese und eines Hauses und eines Baches
B.I. Zum Landschaftsbegriff
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Endgültig mit der Romantik wurde Landschaft zur Chiffre seelisch-geistiger Zustände, der Zivilisation kritisch gegenübergehalten und als affektiv-organische Wesenheit verherrlicht. Der allmähliche Übergang zur Industriegesellschaft und die zunehmende Entfremdung des Menschen von der wissenschaftlich gebändigten und entzauberten Natur brachte als Gegenbewegung ein bewusstes Hinausgehen in die Natur mitsamt ihrer ästhetischen, poetischen, ländlichen und idyllischen Idealisierung hervor, die Landschaft zu einem Gegen-, ja Sehnsuchtsbegriff machten, der Geborgenheit und Harmonie versprach. Den Neuerungen, die dem Einzelnen überlieferte Orientierungsmuster nahmen, stand das vermeintlich Traditionell-Gewachsene entgegen, in das Idealbilder „hineingesehen, hineinkonstruiert und hineingeträumt“24 wurden. Hieran anknüpfend, untermauerten die Heimat- und Ökologiebewegungen des 20. Jahrhunderts eine solcherart unterlegte „Persistenz des ästhetischen, ländlich und naturbezogen konnotierten Landschaftsbegriffes“,25 dessen Gehalt in seiner Verwendung bis heute mitschwingt. Landschaft im Sinne vorliegender Arbeit schließt an diese Traditionslinien an und wird aus dem Wechselverhältnis dreier Begriffsverständnisse entwickelt: Das positivistische Modell sieht Landschaft als einen spezifischen Teil der Erdoberfläche, eine vom Menschen unabhängig bestehende physische Gestalt, die kognitiv in ihren physiognomischen Eigenschaften und Lagebeziehungen wissenschaftlich-objektiv erkannt und von anderen unterschieden werden kann. Das konstruktivistische Bild bestimmt Landschaft als Produkt sozial gebildeter Vorstellungen, da der Mensch die Umwelt nicht unmittelbar erkennen könne, sondern äußere Eindrücke interpretiere und durch sein Bewusstsein Wirklichkeit erschaffe, anstatt dass diese für sich existiere. In kultureller Sichtweise entsteht Landschaft aus dem gegenseitigen Bedingungsverhältnis von Natur und Mensch; die Objektwelt liefert demnach einen Korridor für politische Strukturierungen, ökonomische Verwertungen und geistige Sinngebungen.26 Gemeinsam ist den drei Perspektiven die Dialektik materieller und mentaler Faktoren, das Zusammenspiel natürlicher Prämissen und menschlicher Formung. Landschaften werden durch äußere Zusammenschau als einmaliges Ensemble aufeinander bezogener Elemente benannt und unter bestimmten Gesichtspunkten als Einheit nach außen abgegrenzt; sie sind „Einheit in der Vielheit“,27 unterscheidbare Eigengestalten im Weltganzen. Landschaft ist Ergebnis des Zusammenspiels von positivistischem Raum, konstruktivistischer Region und kulturinduzierter Identität.
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und eines Wolkenzuges nun eine Landschaft schauen.“ Simmel, Georg: Philosophie der Landschaft (1913), in: Gröning, Gert/Herlyn, Ulfert (Hrsg.): Landschaftswahrnehmung und Landschaftserfahrung. Texte zur Konstitution und Rezeption von Natur als Landschaft, München 1990, S. 67-80, hier: S. 71. Hard: Zu Begriff und Geschichte von ‚Natur’ und ‚Landschaft’ in der Geographie des 19. und 20. Jahrhunderts, in: ders.: Landschaft und Raum. Aufsätze zur Theorie der Geographie, Osnabrück 2002, S. 177. Hokema, Dorothea: Die Landschaft der Regionalentwicklung: Wie flexibel ist der Landschaftsbegriff?, in: Raumforschung und Raumordnung, H. 3 (2009), S. 239-249, hier: S. 242. Vgl. Kühne, Olaf: Grundzüge einer konstruktivistischen Landschaftstheorie und ihre Konsequenzen für die räumliche Planung, in: Raumforschung und Raumordnung, H. 5/6 (2009), S. 395-404, hier: S. 395ff. sowie ders., Distinktion – Macht – Landschaft, S. 21. Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, 5 Bände, Bd. 1, Stuttgart 1845, S. 55.
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B. Landschaft und regionale politische Kultur
B.II. Raum - Region Da der Raum eine zentrale Kategorie menschlicher Existenz ist und „der Begriff durch Minimalismus der semantischen Bestimmtheit immer auch einer ideologischen Maximalintegration“28 diente, wäre eine ausführliche begriffsgeschichtliche Kritik, die die Zusammenhänge von Raum und Klimatheorie,29 von Historismus und Nationalismus30 oder Geopolitik31 aufzeigte, angebracht, wird jedoch an dieser Stelle ausgespart.32 In Absetzung von der dem Missbrauch des Raums als politische Handlungskategorie entspringenden Diskreditierung des Begriffs insbesondere im postnationalsozialistischen Deutschland33 schließt diese Arbeit an dem seit den 1970er Jahren zu beobachtenden spatial turn der Sozialwissenschaften an: Sie sieht die Rückwendung zu konstruktivistischen Raumkonzepten und Verortungen innerhalb einer Gegenbewegung zur zusammenwachsenden, globalisierten Welt und zur gleichzeitigen Enträumlichung durch moderne Informations-, Kommunikations- und Transporttechnologien.34 28 29
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Köster, Werner: Die Rede über den ‚Raum’. Zur semantischen Karriere eines deutschen Konzepts, Heidelberg 2002, S. 27. Aristoteles etwa stellt im siebten Buch der Politik klimatheoretische Überlegungen an, die in der Neuzeit von Jean Bodin oder Charles de Montesquieu aufgegriffen wurden. Sie alle sprachen von der persönlichkeitsbildenden Kraft natürlicher Umgebungen, die für den jeweiligen Naturausschnitt vorteilhafte Tugenden förderten. Auch im deutschen Sprachraum waren diese Theorien lange von Bedeutung. Vgl. Fink, Gonthier-Louis: Von Winckelmann bis Herder. Die deutsche Klimatheorie in europäischer Perspektive, in: Johann Gottfried Herder 1744-1803, hrsg. v. Gerhard Sauder, Hamburg 1987, S. 156-176. Der Historismus belegte den Raum mit Assoziationen wie Starre, Stagnation und Reaktion, machte ihn zur Bühne chronologischer Geschehnisse und rückte ihn hinter die mit Mobilität, Dynamik und Fortschritt verbundene Zeit, während dem Raum mit dem Nationalismus dessen Beherrschung, Kartierung, da Abstecken von Einflusssphären und die Orientierung an volkskulturellen Grenzen zuwuchs. Vgl. Schroer, Markus: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg einer Soziologie des Raumes, Frankfurt a. M. 2006, S. 21. Der Begründer der Geopolitik Friedrich Ratzel, sah die Welt- als Raumgeschichte, die unverrückbaren Grundsätzen folge und beschrieb den „Einfluss der Naturbedingungen auf die Menschheit.“ Hieran anschließend beschrieb der schwedische Staatsrechtler Rudolf Kjellen, den Staat als „geographische(n) Organismus oder Erscheinung im Raum.“ Der Begründer der Zeitschrift für Geopolitik, Karl Haushofer, sah den Zweck der Geopolitik darin, Raumerkenntnisse auf die Erlangung, Erhaltung und Umschichtung von Machtverhältnissen im Raum anzuwenden. Als Schlussstein in dieser Aufladung des Begriffs sei Walter Hamel genannt, der feststellte, dass „der staatliche Wille einem dem Boden inhärenten Gesetz folgt.“ Vgl. hierzu Ratzel, Friedrich: Anthropogeographie. Die geographische Verbreitung des Menschen, Stuttgart 1882, S. 41, Kjellen, Rudolf: Der Staat als Lebensform, Leipzig 1917, S. 46 sowie Hamel, Walter: Das Wesen des Staatsgebiets, Berlin 1933, S. 205. Vgl. übergreifend die Ausführungen von Hans G. Zekl, Wolfgang Breidert, Friedrich Kaulbach und Walter Kambartel zum Raum in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 8: R-Sc, völlig neubearb. Ausg., Darmstadt 1992, S. 67-111. „Was er (der Raum A.W.) wollte, mussten sie (die Völker A.W.) tun oder erleiden.“ Vgl. Storz, Gerhard: Raum, in: ders./Sternberger, Dolf/Süskind, Wilhelm E.: Aus dem Wörterbuch des Unmenschen, München 1970, S. 101f. In Deutschland sah Storz die spekulative Tradition der Überhöhung des Raumes, aber auch der realpolitischen Kompensationsansprüche der verspäteten Nation, der als eigenmächtige Kraft das Fundament für die Politik abgab und durch den Verweis auf seine vermeintlich zu erfüllenden Forderungen Interessen verschleiern half. Die Nationalsozialisten begründeten ihre Raumpolitik mit dem Schlagwort Volk ohne Raum. Vgl. auch Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München/Wien 2003, S. 52 und passim. Vgl. Reutlinger, Christian: Raum und soziale Entwicklung. Kritische Reflexion und neue Perspektiven für den sozialpädagogischen Diskurs, Weinheim/München 2008, S. 68 und passim.
B.II. Raum - Region
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B.II.1. Raumkonzepte Mit der wissenschaftlichen Rückbesinnung auf den Raum wurden fundamental aufeinander verwiesene Phänomene wieder zusammengeführt: Die Verbindung von Sinnes- und Geisteswelt ist eine unhintergehbare Tatsache und konstitutives Element menschlicher Lebensgestaltung, die sich in der Zeit, aber auch im Raum ereignet; in ihrem Zusammenspiel liefern sie Bedingungsmuster, sind Ermöglicher wie Begrenzer und geben einen Korridor vor, an den menschliche Entwicklung rückgebunden ist. Mit dem Behälter- und dem Relationskonzept existieren zwei paradigmatische Raummodelle, die den physikalisch-abmessbaren und den sozial-konstruktiven Raum voneinander unterscheiden.35 Während die natürliche Grundlage menschlichen Lebens in ihrer morphologisch-geographischen Beschaffenheit und Weite vermessen, in ihren Lagebeziehungen erfasst und beschrieben werden kann, untergliedern zwischenmenschliche Kontakte diese durch die Schaffung spezifischer Mittelpunkte, um die herum sich Leben organisiert und Beziehungen geknüpft werden; diese Strukturgeflechte liefern kognitiv erfassbare Raumvorstellungen, die über personale Bindungen auch emotionale Aufladung erfahren können. „Das für das In-der-Welt-sein konstitutive Begegnenlassen des innerweltlich Seienden ist ein ‚Raumgeben’“;36 Räume sind zwar zunächst aufgrund ihrer Beschaffenheit, werden dann aber – an diese anknüpfend – durch menschliches Handeln gemacht und mit Bedeutung ausgestattet. Bereits etymologisch existiert Raum nicht für sich, sondern ist menschliche, sinnerfüllte Hervorbringung;37 Konturierung und -konstitution sind demnach Elemente sozialer Kommunikation,38 er tritt durch Austausch über und Agieren in diesem eigentlich erst in
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Das Behälterraumkonzept behauptet die Unabhängigkeit des Rahmens von seinem veränderbaren Inhalt. Raum gilt ihm als Absolutheit und taucht in wechselnder Bezeichnung auch als Container auf. Bedeutendste Vertreter dieser Position waren Galileo Galilei und Isaac Newton. Auf sie geht die Vorstellung des absoluten Raumes zurück, sie schrieben ihm eine Eigenexistenz unabhängig von materiellen Körpern zu und sahen Gott als Ursprung des immer gleichen und unbeweglichen Körpers an. Im Relationskonzept gestalten Gegenstände, menschliche Interaktion den Raum durch ihre wechselseitigen Beziehungen, der Raum verändert seine Gestalt mit den ihn ausfüllenden Dingen. Dem Raum wird keine eigene Realität zugemessen, sondern dieser aus der relationalen Körperpositionierung entstehend gesehen; je nach Blickwinkel und Perspektive entstehen somit unterschiedliche, kontingente Raumbilder. Für Gottfried Wilhelm Leibniz als prominentem Befürworter dieser Position war der Raum eine Setzung des Verstandes, existierend aus der Möglichkeit des Nebeneinanders von Körpern, die in ihren Lagebeziehungen den Raum schaffen. Vgl. Bonk, Siegfried: Die Bejahung und die Verneinung der Realität des Raumes. Newton und Einstein versus Leibniz und Kant, in: Feiner, Sabine/Kick, Karl G./Krauß, Stefan (Hrsg.): Raumdeutungen. Ein interdisziplinärer Blick auf das Phänomen Raum, Hamburg 2001, S. 5-22. Heidegger, Martin: Sein und Zeit (1927), 16. Aufl., Tübingen 1986, S. 111. Raum, räumen meinte ursprünglich Platz machen, durch Rodung und Urbarmachung eine Lichtung schaffen, die der menschlichen Ansiedlung dient, vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Band 14 (1893), 8. Bd: R-Schiefe, bearb. v. u. unter d. Leitung v. Moritz Heyne, München 1984, S. 285. Émile Durkheim sah den Raum als sozial konstruiertes Produkt kollektiven Denkens und den Vorrang der Gesellschaft, die den Raum strukturiert, seine Ausmaße vereinbart und Kollektivbedeutung beimisst. Der Raum ist für ihn Abbild gesellschaftlicher Organisation, die durch gemeinsame Einigung über bestimmte Grundkategorien soziales Zusammenleben erst ermöglicht. Durkheim konstatierte die Orientierungsfunktion von Nahräumen, das menschliche Grundbedürfnis nach überschaubaren Erlebniswelten, die Verhaltenssicherheit gewähren, vgl. in diesem Zusammenhang: Schroer, Markus: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt/Main 2006, S. 48 und passim.
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B. Landschaft und regionale politische Kultur
die Welt und ist „soziologische Tatsache, die sich räumlich formt“,39 anstatt eigenes Dasein zu besitzen. Dieses spacing, das „aktive Organisieren des Raumes“,40 geschieht durch das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Mensch und Raum und ist Antwort auf die Entbettung des modernen Menschen.41 Die Sozialgeographie untersucht diese Verbindung physischer und sozialer Welt, die Möglichkeit der Lokalisierung von Bewusstsein im Raum anhand ihrer Grundfrage, wie sich Gesellschaften im Raum organisieren und wie dieser auf jene zurückwirkt.42 Zwischenmenschlicher Austausch und gemeinsames Handeln sind ihr Mittel, um Bewusstsein vom Raum und seinem Zusammenhang zu erlangen; nicht der Raum an sich oder lokale Nähe etablieren emotionale Bindungen, sondern die innerhalb seiner Grenzen geknüpften menschlichen Beziehungen. Kommunikation als „gemeinsame Aktualisierung von Sinn“43 bestimmt den Raum diskursiv und lädt ihn mit Sinn auf. „Die Wirklichkeit der Alltagswelt ist nicht nur voll von Objektivationen, sie ist vielmehr nur wegen dieser Objektivationen wirklich.“44 Räume können nach verschiedenen Kriterien gebildet wird. Der Administrativraum als „Projektion des Mediums Macht auf physische Räume“45 untergliedert sich in individuell in ihn eingebettete Lebensräume, virtuelle Räume überwinden und überlagern physische; allesamt sind sie Bestandteile des geographischen Raumes. Staatliche und gesellschaftliche Raumvorstellungen entstehen unter unterschiedlichen Prämissen, können aber Deckungsgleichheit erlangen. Erstere folgen dem kognitiven Bedürfnis klarer Grenzziehungen, nach Übersichtlichkeit
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Simmel, Georg: Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft (1908), in: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, hrsg. v. Otthein Rammstedt, Band 11, Frankfurt am Main,, S. 687-790, hier: S. 697. Der Raum steht bei Simmel für den Rahmen, der von Menschen ausgefüllt wird, gleichsam aber die Bedingung für das Soziale darstellt. Zu trennen ist die Raumqualität vom Raumgebilde: Stellt das eine die Voraussetzung, dann das andere die Verwirklichung dar, die spezifische Sinnbeimessung und Ausformung, die auf jene bestimmten Grundlagen zurückbezogen bleibt. Anstatt von natürlichen Grenzen zu sprechen, sieht Simmel sie als politisch-soziokulturell geschaffen an. Giddens, Anthony: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung,, Frankfurt a. M. 1992, S. 129. Giddens sind die äußeren Strukturen und Umweltbedingungen entweder ermöglichend oder restringierend für sämtliche Lebensäußerungen und soziale Interaktionen, so dass Handlungsoptionen und Entwicklungen menschlichem Einfluss nur bedingt offen stehen. Vgl. ders.: Die Konsequenzen der Moderne, Frankfurt a. M. 1996, S. 33. Die historische Gesellschaftsentwicklung ist Giddens eine Ausdehnung des Raumes, die Menschen von Lokalbezügen löste und entbettete. Aus dem hieraus folgenden Orientierungsverlust sieht er eine normativ bestimmte Rückbesinnung auf örtliche und regionale Lebensbereiche erwachsen, die den Menschen rückbetteten. Seine Kritik an der Herauslösung aus vormals festen Strukturen wird aufgefangen durch das Wissen um lokale Gegenbewegungen, die Rückversicherung in Nahräumen als Folge der Globalisierung. Weitere Leitthemen sind: Sind soziale Welten kartierbare Phänomene? Lassen sich Bewusstseinsräume begrenzen? Ist eher von weichen, von harten oder von fließenden Übergängen zwischen den einzelnen Ebenen auszugehen? Vgl. ausführlich Werlen, Bruno: Sozialgeographie. Eine Einführung, 3. Aufl., Bern/Stuttgart/Wien 2008 sowie ders: Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen. Band 2: Globalisierung, Region und Regionalisierung, Stuttgart 1997. Luhmann, Niklas: Sinn als Grundbegriff der Soziologie, in: ders./Habermas, Jürgen: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt a. M. 1971, S. 25-100, hier: S. 42. Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 21. Aufl., München 2007, S. 37. Klüter, Helmut: Räumliche Orientierung als sozialgeographischer Grundbegriff, in: Geographische Zeitschrift 75 (1987), H. 2, S. 86-98, hier: S. 91.
B.II. Raum - Region
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und Sicherheit; „räumliches Denken schafft Sinn und Ordnung.“46 Gesellschaftliche Raumgestaltungen, kommunikativ-interaktiv hergestellte affektive Beziehungsgeflechte sehen hingegen von festen Schlagbäumen ab, da „nicht die Länder (…) einander begrenzen, sondern die Einwohner“47 und ihre Austauschbeziehungen. Beide Einheiten können jeweils eine identifikatorische Bezugsebene sein: Grenzen formen einen Raum, fixieren rechtliche und ethische Maximen und geben verhaltens- wie handlungsleitende Muster vor, an die sich derjenige, der sich in ihnen aufhält, halten muss; das Wissen um diese Regeln verspricht Erwartungssicherheit, erleichtert Verständigung, bestimmt Ablauf und Ergebnisse mit und prägt die dort lebende Bevölkerung in besonderer Weise.48 Natürliche Barrieren, sozioökonomische Verknüpfungen, kulturell-historische Gemeinsamkeiten, Alltagshandeln, Wertemuster oder mediale Resonanzgebiete sind die in gegenseitigem Bedingungsverhältnis stehenden Kriterien, die für Raumbildungen aufgegriffen, ausgedeutet und kognitiv als solche angeeignet werden müssen; ohne den anthropogenen, erkennend-sinngebenden Faktor sind Räume nicht existent. Verstandesgeleitet erfasste Raumausschnitte sind stets nur Projektionsflächen für den Sinn, den Menschen in ihn hineinlegen und so groß, wie dieser Geist Gültigkeit und Akzeptanz findet; ihm, nicht dem geographischen Gebiet gilt affektives Raumbewusstsein. Die Gewöhnung an die physische Umgebung und ein alltäglich erfahrenes Lebensumfeld, das Beheimatetsein in Sitten, Denkweisen und Traditionen schließt Menschen zu abgrenz- und bestimmbaren Gruppen zusammen, denen man sich vermittelt über den Raum verbunden fühlt. „Das SichBeheimaten in jeglicher räumlich-sozialen Einheit ist kognitive Leistung und soziale Tat.“49 Jedoch stellt sich die Frage, ob in funktional differenzierten Gesellschaften mit verschiedenen Alltagshorizonten raumübergreifende Sinnzusammenhänge diskursiv überhaupt bestimmt werden können, da neben Orten auch Sozialsysteme gemeinsame Bezugspunkte sind. Findet Kommunikation nicht im geteilten Raum, aber mit unterschiedlichen Inhalten und Gruppenbezügen statt? Ist die Diskussion über den Raum nicht mehr als „Bewusstseins- und Gefühlsverräumlichung“,50 Interpretation sozialen Sinns in den unbestimmbaren Raum?
B.II.2. Region Regionen entstehen mit der Unterteilung physikalischer Groß- in Subräume, sind kleinere Gebiete innerhalb eines größeren Zusammenhangs und verändern sich mit dem Blickwin46
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Schultz, Hans Dietrich: Raumkonstrukte der klassischen deutschsprachigen Geographie des 19./20. Jahrhunderts im Kontext ihrer Zeit. Ein Überblick, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), H. 3, S. 343-377, hier: S. 374. Simmel, Der Raum und die räumlichen Ordnungen, in: Rammstedt, Soziologie, S. 695. Kruse, Lenelies/Graumann, Carl-Friedrich: Sozialpsychologie des Raumes und der Bewegung, in: Soziologie des Alltags, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 20 (1978), S. 177-219, hier: S. 190. Garhammer, Manfred: Die Bedeutung des Raums für die regionale, nationale und globale Vergesellschaftung – zur Aktualität von Simmels Soziologie des Raums, in: Bahadir, Sefik Alp (Hrsg.): Kultur und Region im Zeichen der Globalisierung. Wohin treiben die Regionalkulturen?, Neustadt a. d. Aisch 2000, S. 15-39, hier: S. 32. Hard, Gerhard: Bewusstseinsräume. Interpretationen zu geographischen Versuchen, regionales Bewusstsein zu erforschen, in: Geographische Zeitschrift 75 (1987), H. 3, S. 127-148, hier: S. 136.
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B. Landschaft und regionale politische Kultur
kel: Bewegen sie sich im staatlichen Rahmen zwischen den Polen Lokal-National, so auf Weltebene zwischen National-Global. Wichtigste Grund- und Existenzbedingung ist ihre Abgrenzbarkeit nach außen, sie können deskriptiv durch das Herausgreifen von Faktoren, die räumliche Zusammenhänge herstellen, zu Homogenitäts- oder Funktionsregionen zusammengeschlossen51 oder aber nach politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Aspekten gemacht werden; in beiden Fällen liegt ihr Sinn darin, innerhalb der Vielfalt der Erscheinungen Komplexität zu reduzieren und räumliche Zusammenhänge aufzuzeigen. Deutlich wird die Mehrdimensionalität des Begriffs, wenn Gebiete, die zu einer politischen Planungsregion zusammengefasst werden, keiner wirtschaftlichen oder kulturellen Sichtweise entsprechen; hierarchisch benannte und institutionell durchdrungene politische Bezugseinheiten, in denen gleichen Regeln gelten, stehen nicht in einem absoluten Bedingungsverhältnis mit gesellschaftlichen Interaktionsgeflechten, doch können sich beide annähern, da politische Grenzen Kommunikation und Austausch nach innen begünstigen und nach außen abschließen. Definitorisch ist weiter zu trennen zwischen der Region, einer nach unterschiedlichen Maßstäben gebildeten Einheit innerhalb einer anderen Größenordnung, Regionalismus als politische Bewegung, die für eigenständige Spielräume einer Region innerhalb eines Staates eintritt, und Regionalisierung als Versuch, diese Bestrebungen staatlicherseits durch die Gewährung von Autonomierechten aufzufangen;52 letzteres meint zudem die Absteckung staatlicher Planungs- oder Verwaltungsräume oder die gesellschaftliche Selbstorganisation in Subräumen. Analytisch auseinanderzuhalten ist die Regionalisierung von oben (top-down), ihre hierarchische Absteckung, der selektive Rückzug des Staates und die Aufgabendelegierung an regionale Akteure, von der Regionalisierung von unten (bottom-up), der gesellschaftlicher Eigeninitiative entspringenden freiwilligen Kooperation in akteursdefinierten Regionen. Erstere hat die Aktivierung von Wachstumspotentialen und die Attraktivitätssteigerung im Wettbewerb der Regionen im Blick; Regional- ist zunächst Strukturpolitik und soll den Staat durch die Übertragung von Eigenverantwortung auf die Gesellschaft in Bereichen entlasten, die seine Regelungsfähigkeiten übersteigen. Eine vornehmlich wirtschaftsorientierte Regionalisierungsdebatte instrumentalisiert kulturelle Merkmale als Mittel zum (ökonomischen) Zweck anstelle intrinsischen Eigeninteresses an der Region. Um sie hingegen nach innen wie nach außen als solche wahr- und anzunehmen, bedarf es sinnstiftender Diskurse, institutionell geronnener Sinnstrukturen und alltäglichem Handeln innerhalb dieser. Eine solche Regionalisierung von unten erfolgt nach Anssi Paasi in mehreren Schritten: Soziale Praktiken und Interaktion geben Lebenswelten einen Rahmen (territorial shape), derer man sich kommunikativ versichert und konzeptionell-symbolische Gestalt verleiht (conceptual shape). Die Schaffung offizieller Gremien und institutionalisierter Praktiken festigt die Zusammenarbeit von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft (institutional shape), die in einem
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Homogenitätsregionen sind Räume, die sich in bestimmten (etwa kulturellen) Merkmalen ähneln und von anderen absetzen, unterscheidbar sind. Funktionsregionen erfassen die Verteilung und Verflechtung bestimmter Sachverhalte; sie werden durch wechselseitige Kontakte etwa im Wirtschaftsleben alltäglich gebildet und binden Unternehmer wie Einwohner zusammen. Vgl. Fürst, Dietrich: Region/Regionalismus, in: Nohlen, Dieter/Schultze, Rainer-Olaf (Hrsg.): Lexikon der Politikwissenschaft. Theorien, Methoden, Begriffe, Bd. 2: N-Z, 2. aktualis. u. erw. Aufl., München 2004, S. 814-817.
B.II. Raum - Region
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vierten Schritt begrenzte administrative Eigenständigkeit erlangen können (established role).53 Eine solche von unten gewachsene Region ist „gemeinsam praktizierte, empfundene oder nur gedachte ‚Sinnordnung’“,54 ist zuvörderst „symbolische Sozialgebilde und nur zum Teil soziofunktionale Realität“.55 Von maßgeblicher Bedeutung ist somit auch im Regionsbildungsprozess der menschliche Faktor: Regionen können kognitiv als Handlungsregion gesehen, aber auch affektiv als Identitätsregion wahrgenommen werden. Nominalistisch-analytischen stehen historisch-genetische Konstrukte gegenüber, die der kommunikativen Selbstbewusstmachung gemeinsamer Traditionen entspringen; ein aus geteilter Geschichte und Kultur abgeleitetes relationales Wir distanziert sich von einem Die durch den vergegenwärtigenden Austausch ebenjener Gemeinsamkeiten, die nur in einem Teil des Behälterraumes Geltung beanspruchen. Jene alltäglichen, tagtäglich aufs Neue reproduzierten Lebenswelten sind Grundlage individuellkollektiver regionaler Orientierungen, von mental maps,56 deren ursprünglicher Konstruktcharakter zusehends aus dem Blickfeld gerät; „einmal etablierte Produkte von Regionalisierungsprozessen (erfahren A.W.) unversehens eine ontologisierende Überhöhung.“57 Regionen sind deshalb – je nach Blickrichtung – Chimären, Konstrukte oder Strukturprinzipien des sozialen Lebens.58
B.II.3. Globalisierung und Regionalisierung Seit den 1970er Jahren genießt die Region als Handlungs- und Analysekonstrukt verstärkte Aufmerksamkeit; in Politik, Wirtschaft oder Kultur ist eine aus verschiedenen Quellen gespeiste partielle Rückbesinnung auf den unmittelbar erlebbaren Nahraum zu konstatieren, die den Bedeutungswandel einer zuvor ob vermeintlicher Provinzialität vernachlässigten Lebenskategorie begründete. Hauptursächlich hierfür erscheinen die Globalisierung der Wirtschafts- und Kommunikationsaktivitäten sowie einhergehende nationalstaatliche Steuerungsverluste: Aus dem behüteten Leben in einem geordneten Umfeld mit lebenslanger Anstellung in demselben Betrieb ist ein weltweiter Standortwettbewerb geworden, 53 54
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Vgl. Paasi, Anssi: The Institutionalization of Regions: A theoretical Framework for Understanding the Emergence of Regions and the Constitution of Regional Identity, in: Fennia 146 (1986), S. 105-146. Fach, Wolfgang/Köhnke,Karl-Christian/Middell, Matthias/Mühler, Kurt/Siegrist, Hannes/Tzschaschel, Sabine/Wollersheim, Heinz-Werner: Regionenbezogene Identifikationsprozesse. Das Beispiel ‚Sachsen’, in: Wollersheim, Heinz-Werner/Tzschaschel, Sabine/Middell, Matthias (Hrsg.): Region und Identifikation, Leipzig 1998, S. 1-32, hier: S. 1. Weichhart, Peter: Raumbezogene Identität. Bausteine zu einer Theorie räumlich-sozialer Kognition und Identifikation, Stuttgart 1990, S. 70. Mental maps sind „Lebenswelten, biographische, soziale, symbolische, existenzielle Verknüpfungen und als solche individuelle Handlungs-, Nutzungs-, Funktions-, Interaktions- und Bedeutungslandschaften, die ihre eigenen Grenzen und ihre eigene Logik haben, die sich allerdings an Natur- und geplanten Funktionsräumen wie auch der bebauten und sozialen Um-(Mit-)welt orientieren“, vgl. Ploch, Beatrice/Schilling, Heinz: Region als Handlungslandschaft. Überlokale Orientierung als Dispositiv und kulturelle Praxis: Hessen als Beispiel, in: Lindner, Die Wiederkehr des Regionalen, S. 122-158, hier: S. 128. Weichart, Peter: Die Region – Chimäre, Artefakt oder Strukturprinzip sozialer Systeme?, in: Brunn, Gerhard (Hrsg.): Region und Regionsbildung in Europa. Konzeptionen der Forschung und empirische Befunde, Baden-Baden 1996, S. 25-43, hier: S. 36. Chimären, wenn Regionsbezeichnungen keine Grundlage in der Realität finden, Konstrukte, wenn Hoheitsausübung an bestimmte Raumeinheiten delegiert wird und Strukturprinzipien, wenn sie Funktionalbeziehungen nachzeichnen. Vgl. ebd., S. 42.
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B. Landschaft und regionale politische Kultur
Strukturwandel und wachsende Arbeitslosigkeit nahmen alte Gewissheiten, Orientierungsrahmen brachen weg und stellten dem Einzelnen erhöhte Anforderungen; Schlagworte wie Mobilität, Gehaltsverzicht und die ständige Gefahr, Rationalisierungsmaßnahmen zum Opfer zu fallen, machten die Globalisierung zu einem Schreckensbild. Parallel zeigten sich die Aushöhlung nationalstaatlicher Souveränität zugunsten supranationaler (EU) oder transnationaler (UNO, G20) Akteure und kulturelle Angleichungsprozesse, neue Medien wie das Internet sorgten für eine mannigfache Ausweitung der globalen Kommunikation; Losungen wie kulturelle Nivellierung oder die Entwicklung von Nicht-Orten behaupten den Schwund nationaler oder regionaler Besonderheiten59 und eine angebliche Amerikanisierung der Welt.60 Als Gegenbewegung zu jenen Entgrenzungsprozessen erfuhr die Region als Lebenskategorie eine Renaissance. Verlusterfahrung, Unübersichtlichkeit und Flexibilitätspostulate lancierten eine Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Selbstvergewisserung in Traditionen und Nahräumen, die Sicherheit und Verortung versprachen. Die „dialektische Entwicklung von homogenen Strukturen und kulturellem Partikularismus“61 lässt auf Lebensstile zurückgreifen, die im Biographischen erfahrbar sind und Vertrautheit vermitteln; sie werden nicht mehr unhinterfragt gelebt, sondern bewusst aufgenommen, um aus ihrer vermeintlichen Authentizität Verhaltensstabilität zu gewinnen. Ein selektiv-kommunikatives region making, das Besonderheiten des Lebensumfelds aufgreift, ausdeutet und als Identitätskonzept anbietet, stiftet imagined communities62 und räumliche Verwurzelung. Globalisierung und Regionalisierung sind somit zwei Seiten einer Medaille; anstatt Homogenisierungstendenzen zu beklagen, ist von einer wechselseitigen Durchdringung und Beeinflussung auszugehen. Dieses Ineinanderblenden von globaler und lokal-regionaler Ebene, die Glokalisierung63 befördert die reflexive Zuwendung zum Lebensnahen und „die Wiederherstellung, in bestimmter Hinsicht sogar die Produktion von ‚Heimat, Gemeinschaft und Lokalität.’“64 Im Vergleich zum Nationalstaat gehen Regionen demnach eher gestärkt aus dem Globalisierungsprozess hervor. Politische Regionsbildungen können an gesellschaftliche anknüpfen und die besondere Verbundenheit von Mensch und Raum sowie ihr Zusammengehörigkeitsgefühl für hoheitliche Zwecke nutzen. Neben der Globalisierung zahlreicher Sachfragen schwächt die fortlaufende Zentralisierung von Politikfeldern die Handlungs- und Problemlösungsfähigkeit des Staates und beflügelt regionsbezogene Steuerungsformen, um durch die Einbeziehung
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„So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt, einen Nicht-Ort.“ Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit., Frankfurt 1994, S. 92. Amerikanische Filme, Musik, Kleidungsstile oder Esssitten übten einen maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung nicht nur der deutschen Nachkriegsgeschichte aus. Vgl. hierzu de Grazia, Victoria: Irresistible Empire: America's Advance through 20th-Century Europe, Harvard 2005. Breidenbach, Joana: Global, regional, lokal – Neue Identitäten im globalen Zeitalter, in: Hanika, Karin/Wagner, Bernd (Hrsg.): Kulturelle Globalisierung und regionale Identität. Beiträge zum kulturpolitischen Diskurs, Essen 2004, S. 56-63, hier: S. 57. Vgl. Andersson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1985. Robertson, Robert: Glokalisierung: Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit, in: Beck, Ulrich (Hrsg.): Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, S. 192-217. Ebd., S. 200.
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dezentraler Akteure einen Gewinn an Handlungsmöglichkeiten zu erlangen.65 Grundgedanke dieses korporatistischen Politikansatzes ist, dass der Staat den Rahmen für die Selbstorganisation der Gesellschaft bereitstellt und sich „auf die ihm verbleibende Aufgabe konzentriert: Das Management (teil-) systematischer Interdependenzen“,66 um an gesamtsystemischer Steuerungsfähigkeit zu gewinnen. Regional Governance setzt partnerschaftliche Kooperation von Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft an die Stelle hierarchischer Delegation und versucht, endogene Entwicklungsprozesse freizusetzen; der hoheitliche wird zum aktivierenden Staat, netzwerkartige Aushandlungsprozesse, gemeinsam ausgearbeitete Entwicklungskonzepte und regionale Foren sollen personale Bindungen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt wie den Gesamtstaat stärken.67 Positiv gewendet werden durch Regionalisierung – die im Kern staatliche Machtlosigkeit offenbart – zwei Ziele miteinander kombiniert: Der Bevölkerung gibt man die Möglichkeit der Selbstverortung in einem Umfeld, das sie mitgestaltet und als Teil ihrer selbst begreift; der globalisierten wird eine überschaubare regionale Welt gegenüberstellt und Regionen – lange als anachronistisch, rückständig und fortschrittsfeindlich verschrien und dem Vorwurf rückwärtsgewandtem Eskapismus ausgesetzt – zukunftsgestaltendprogressives Potential beigemessen. „Ging man bisher mit ‚der Zeit’, schritt man progressiv durch die Zeit, steht und lebt man fortschrittlich heute wieder auch im Raum.“68 Die Autonomiegewährung an substaatliche Einheiten begünstigt die Integration und Festigung eines Gemeinwesens nach innen, da sich Forderungen nach regionaler Eigenverantwortung zumeist auf historisch gewachsene Landschaften mit einem Zusammengehörigkeitsgefühl jenseits fester Grenzen beziehen; sie bei der Einrichtung staatlicher Raumstrukturen zu berücksichtigen und mit eigenen Aufgaben auszustatten, verspricht heterogenen Gemeinwesen indirekte Legitimation und eine Erhöhung der Staatsakzeptanz. Die Abgabe staatlicher Souveränität an Subeinheiten kann die Zentrale durch den Schutz von Befindlichkeiten und den Zugewinn an Problemlösungsfähigkeit paradoxerweise sogar stärken. Kognitiv erfahrbare Regionen bedürfen, um zu affektiv aufgeladenen Landschaften zu werden, der Zuschreibung einer Identität; diese besitzen sie nicht für sich, sondern erhalten diese mit und durch die in ihnen lebenden Menschen, durch gemeinsame kollektive Gedächtnisse wie sprachliche Zusammenhänge. 65
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Vgl. Stöhr, Walter B.: Development from Below. The Bottom-Up and Periphery-Inward Development Paradigm, in: Stöhr, Walter B./Taylor David Ruxton Fraser (Hrsg.): Development from Above or Below?, Chichester 1981, S. 39-72. Potratz, Wolfgang: Dezentral und koordiniert? Die Innenwelt der regionalisierten Strukturpolitik in NRW, München/Mering 2000, S. 259. Korporatismustheorien behandeln Formen der Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen an politischen Entscheidungsprozessen. Die Einbindung von Interessengruppen an Politikformulierung und Implementation, das Aushandeln zielorientierter Vereinbarungen dient ihnen der Effizienzsteigerung, dem Gewinn zusätzlicher Informationen wie Erhöhung der Akzeptanz bei der Umsetzung der gemeinsam formulierten Ziele. Aus der Aufgabenkomplexität des modernen Staates sehen jene Ansätze die Notwendigkeit erwachsen, die gesellschaftsinhärenten Potentiale zur Steuerung des Gesamtsystems freizusetzen. Durch subsidiäre Selbstregulierung und kleinräumige Aufgabenerledigung erhofft man sich eine Entlastung des Staates, vgl. hierzu Schubert, Klaus: Korporatismus/Korporatismustheorien, in: Nohlen/Schultze: Lexikon der Politikwissenschaft, S. 460-464. Vgl. Fürst, Dietrich: Metropolregionen, Wissensregionen und Governance, in: Raumforschung und Raumordnung, H. 3 (2008), S. 219-229. Lipp, Wolfgang: Soziale Räume, regionale Kultur: Industriegesellschaft im Wandel, in: ders. (Hrsg.): Industriegesellschaft und Regionalkultur. Untersuchungen für Europa, Köln u.a. 1984, S. 1-56, hier: S. 42.
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B. Landschaft und regionale politische Kultur
B.III. Identität In Absetzung vom Wesensdenken Johann Gottfried Herders69 oder nationalsozialistischem Volkstumsansatz,70 ist subjektive und kollektive Identität nicht „organologisch verstandene Volkspersönlichkeit“,71 sondern wandelbares menschliches Konstrukt. Sie ist geschichtlich, politisch, wirtschaftlich, sozial und kulturell bedingte Deutungsleistung, die in ihrer Konstitution auf räumliche Voraussetzungen zugreift und in Auseinandersetzung mit diesen entsteht.72 Um Individuen, einer Personengruppe oder einem Raum Identität zuzusprechen, bedarf es benennbarer Eigenheiten und des Vorhandenseins unverwechselbarer Merkmale; verweisen erstere auf selbstreflexive Prozesse, werden Räumen Eigenschaften von außen zugeschrieben. Abzuheben ist die Selbst- und Fremdidentifikation einer Region von der Identifikation mit dieser: Meint Selbstidentifikation den Zuschnitt eigenperspektivischer Lebenswelten, vollzieht Fremdidentifikation diese anhand ausgewählter Kriterien von außen nach; beide sind relationale Raumbildungen, die Herstellung gemeinsamen Wissens über einen überschaubaren Weltausschnitt. Das menschliche Tätigsein in stärkt die Bindung an und begünstigt die Identifikation mit dem Raum.73
B.III.1. Identitätsbildung Das Bild, das Individuen und Gruppen von sich haben, wird ergänzt durch heteronome Konstitutionsmerkmale des Selbst; „Identität (ist A.W.) selbstreflexiver Erfahrungsprozess, (ist)
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Herder glaubte, „der natürlichste Staat ist also auch ‚Ein Volk’, mit Einem Nationalcharakter. Jahrtausende lang erhält sich dieser in ihm und kann, wenn seinem mitgebornen Fürsten daran liegt, am natürlichsten ausgebildet werden: denn ein Volk ist sowohl eine Pflanze der Natur, als eine Familie; nur jenes mit mehreren Zweigen.“ Vgl. ders.: Werke, hrsg. v. Wolfgang Proß, Bd. 3: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784/91), 1. Teilband, München/Wien 2002, S. 337. Der in Geschichte, Geographie und Germanistik vertretene Volkstumsansatz sah Völker und Stämme als biologische Einheiten, die in Wechselwirkung mit der sie umgebenden Natur entstanden. Stammescharakteristika wurden auf frühe germanische Stämme zurückbezogen, Kulturleistungen als Ausdruck des Volkscharakters verstanden, Substanzlogiken und Stammescharakteristika sowie ihre auf scharfe Abgrenzung bedachte Rhetorik boten Raum für Überlegenheitsgefühle, vgl. zu diesem und folgenden Theoriemodellen: Ditt, Karl: Wissenschaft als politisches und soziales System. Der Volkstumsansatz in der Westfalenhistoriographie des 20. Jahrhunderts, in: Büschefeld, Jürgen et. al. (Hrsg.): Wissenschaftsgeschichte heute, Bielefeld 2001, S. 11-37. Brückner, Wolfgang: Volkskunde als Sozialgeschichte regionaler Kultur, in: Lipp, Wolfgang (Hrsg.): Industriegesellschaft und Regionalkultur. Untersuchungen für Europa, Köln u. a. 1984, S. 71-88, hier: S. 79. Jener soziostrukturelle Ansatz und der volkskundliche Blick auf die Zusammenhänge von Geschichte, Sprache und Kultur für die Landschafts- und Identitätsbildung findet seine Grundlage in der Arbeit des 1920 gegründeten Instituts für geschichtliche Landeskunde an der Universität Bonn und dessen ersten Leitern Hermann Aubin und Franz Steinbach. Vgl. als wegweisendes Werk: Aubin, Hermann/Frings, Theodor/Müller, Josef: Kulturströmungen und Kulturprovinzen in den Rheinlanden. Geschichte, Sprache, Volkskunde, Bonn 1926. Vgl. Hinz, Manfred: Region, in Akademie für Raumforschung (Hrsg.): Handwörterbuch der Raumordnung, 4. Aufl., Hannover 2005, S. 919-923.
B.III. Identität
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Selbstverortung, (ist) Entwurf eines Selbstbildes“74 und demnach mach- wie veränderbar. Erziehung und Fremdeinschätzung ergänzen die Innen- durch eine Außenperspektive, das soziale Umfeld reagiert auf subjektiv-kollektive Äußerungen und wirkt auf das individuelle Selbstverständnis zurück. Primordiale Kriterien wie Sprache, Kultur und Lebensraum liefern wandelbare Muster, die aufgrund des „dialektischen Verhältnisses zwischen sozialem und individuellem Wandel, zwischen Geschichte und Ontogenese“75 selektiv herangezogen, ausgedeutet und in das Eigenbild aufgenommen werden, sie dienen der distinktiven Abgrenzung nach außen wie der emotionalen Selbstvergewisserung in geteilten Werten und Traditionen.76 Neben unwillkürlichen Mitgliedschaften in Familie oder Region stehen freiwillige in Vereinen oder Parteien, die die Wahrnehmung der Außenwelt steuern und mit der „Vereinbarung über den eigenen Wert“77 der Identitätsbildung dienen. Handelt das Individuum autoreflexiv, werden kollektive Identitäten kommunikativ hergestellt. Ohne personelle Selbstbilder vollauf zu homogenisieren – kollektive Identität vereint anstelle vollkommener Gleichheit eine Vielzahl individueller Identitäten unter einem gemeinsamen Nenner –, tritt mit diesem Prozess ein symbolisch markierter imaginärer Volkskörper, eine begrenzte Einheit in der Vielheit in die Welt. Carl Friedrich Graumann unterschied drei Formen der Identitätsbildung: Identifying the environment meint die mit der Zuschreibung besonderer Eigenschaften verbundene kognitive Absteckung der Umgebung, being identified zielt auf die einem Subjekt von außen zugeschriebenen Merkmale, die mit Erwartungshaltungen verknüpft sind, teilweise in das Selbstbild übernommen werden und im Umgang mit Anderen die Selbstvergewisserung ermöglichen, während identifying with one’s environment die aktive Auseinandersetzung von Individuen und Gruppen mit der physisch-sozialen Umwelt beschreibt; der Raum ist merkmalsgebende Grundlage, die reflexiv in die Eigenkonzeption eingebaut wird und affektive Bindungen an Raumausschnitte, aktives Zugehörigkeitsbewusstsein und -gefühl ermöglicht.78 Die kognitive Erfassung des Raumes ist Voraussetzung für Individualisierungsprozesse und raumbezogene Identität, wechselseitiges Handeln und innengerichtete Abgrenzung ergänzen sie um affektive Bindungen, sind Movens der Selbstwahrnehmung, der Gemeinschafts- wie Zugehörigkeitserfahrung. „Im Umgang mit der materiellen Welt entsteht durch das Handeln die emotionale Beziehung zur Umwelt“,79 wird Sinn in die Region hineingelegt und – vermittelt über den Raum – kollektiv empfunden. 74
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Frey, Hans-Peter/Haußer, Karl: Entwicklungslinien sozialwissenschaftlicher Identitätsforschung, in: dies. (Hrsg.): Identität. Entwicklungen psychologischer und soziologischer Forschung, Stuttgart 1987, S. 3-26, hier: S. 10. Krewer, Bernd/Momper, Mechthild/Eckensberger, Lutz H.: Das Saarland war zumeist Objekt der Geschichte. Zur Identität des Saarländers, in: Wehling, Hans Georg: Regionale politische Kultur in Deutschland. Eine Einführung, in: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hrsg.): Regionale politische Kultur, Stuttgart u.a. 1985, S. 90-115, hier: S. 106. Vgl. Briesen, Detlef: Historische Ausprägung und historischer Wandel von regionaler Identität in ausgewählten Montanregionen, in: ders./Gans, Rüdiger/Flender, Armin: Regionalbewusstsein in Montanregionen im 19. und 20. Jahrhundert. Saarland – Siegerland – Ruhrgebiet, S. 7-49. Küster, Thomas: Regionale Identität aus der Perspektive der Landes- und Regionalgeschichte, Beitrag auf dem Symposium ‚Regionale Identität’ in Kloster St. Marienthal vom 16.-18. April 2008, S. 9, einsehbar unter www.kulturregionen.org/2008_symposium/02_kuester.pdf (16.4.2008). Vgl. Graumann, Carl Friedrich: On Multiple Identities, in: International Social Science Journal 35 (1983), S. 309-321, hier: S. 310ff. Weichhart, Raumbezogene Identität, S. 23.
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B. Landschaft und regionale politische Kultur
Die sozialgeographische Forschungsrichtung Hans Heinrich Blotevogels unterscheidet drei Dimensionen strukturalistischer Identitätskonstruktion: Die kognitive, die Vermessung und Bestimmung des Raumes nach bestimmten Mustern, die affektive, die gefühlsmäßige Bindung der Menschen an diesen Weltausschnitt sowie die konative, die aus dem Verbundenheitsgefühl an Mitmensch und Umwelt resultierende, auf jene bezogene Handlungsorientierung.80 Räumliche Codes wie Landschaftsbilder, Sprache oder Folkloreelemente vergegenwärtigen als sinnliche Symbolträger geteilte Werte und machen Gruppengrenzen sichtbar. Die materiell-lebensweltliche Umwelt ist Informationsraum, der durch Handlungs- und Kommunikationszusammenhänge erschlossen und in Selbst- wie Gruppenbilder eingebaut wird. „Die Konstruktion von Identitäten bezieht ihr Material aus der Geschichte, der Geographie, der Biologie, aus dem kollektiven Gedächtnis, verstärkt durch Angebote des politischen Systems und der Religion“;81 menschliche Verwertungen und Bedeutungsbeimessungen emotionalisieren die Bindung an Raumausschnitt und Einwohner und sind „Projektionen aus der politisch-sozialen Welt auf die konkrete Natur der Erdoberfläche.“82 Regionale Identität ist demnach Mentalkonstrukt und – da „der Mensch in einen bestimmten regio-historischen Erfahrungs- und Erlebnisraum eingebunden wird“ –83 zugleich unbewusstes Erlernen von Verhaltensmustern: Sie entspringt dem selbstverständlichen Umgang mit einer unreflektierten Alltagshintergrundfolie, deren internalisierte Muster die individuelle Identitätskonstitution begleiten und als vorgelebte Welt schlechthin die vorlebende Gruppe zukunftsgerichtet stabilisieren. Karl Rohe differenziert zwischen der Soziokultur, den Basisphänomenen menschlichen Lebens, undiskutierten, historisch-kulturell entwickelten Selbstverständlichkeiten alltäglichen Redens, Denkens und Handelns, in denen sich der Einzelne bewegt, und der Deutungskultur, ihrem sinnvermittelnden, der gesellschaftlichen Selbstverständigung erwachsenden Überbau. Besonderheiten der Soziokultur müssen ihm, um Grundlage eines kollektiven Bewusstseins zu sein, thematisiert, verdeutlicht und erfahrbar gemacht, durch Deutungseliten als Identitätskonstrukt bereitgestellt und aufgewertet werden, um Gruppen zu integrieren und um aus objektiv bestehenden und alltäglich gelebten auch mental wahrgenommene Gemeinsamkeiten zu machen.84 Sämtliche Ansätze beinhalten eine historische Komponente, vor deren Hintergrund Identität gewonnen wird; ihre Gegenwart und Zukunft ist ohne die im kollektiven Gedächtnis gespeicherte Vergangenheit nicht zu haben.
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Vgl. Blotevogel, Hans H./Heinritz, Günter/Popp, Herbert: Regionalbewusstsein. Bemerkungen zum Leitbegriff einer Tagung, in: Bericht zur deutschen Landeskunde 60 (1986), S. 103-114. Beyme, Klaus von: Föderalismus und regionales Bewusstsein. Ein internationaler Vergleich, München 2007, S. 23. Cornelißen, Christoph: Die geschichtspolitische Förderung eines Raumbewusstseins in NordrheinWestfalen, in: Ditt, Karl/Tenfelde, Klaus (Hrsg.): Das Ruhrgebiet in Rheinland und Westfalen. Koexistenz und Konkurrenz des Raumbewusstseins im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn 2007, S. 387-403, hier: S. 387. Mattheier, Klaus J.: Ortsloyalität als Steuerungsfaktor von Sprachgebrauch in örtlichen Sprachgemeinschaften, in: Besch, Werner/Mattheier, Klaus J. (Hrsg.): Ortssprachenforschung, Berlin 1985, S. 139-157, hier: S. 144. Vgl. Rohe, Karl: Politische Kultur und ihre Analyse, in: Dornheim/Greiffenhagen, Identität und politische Kultur, S. 110-126, hier: S. 118ff.
B.III. Identität
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B.III.2. Kollektives Gedächtnis Landschaften sind Geschichtsräume mit tiefliegenden Prägeschichten, innerhalb derer Personen oder Gruppen auch in Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit an Identität gewinnen. Über ihren eigenen Untergang hinaus „hinein haben die alten Territorien in Sprache, Brauchtum, Konfession, Wirtschafts- und Denkweise nachgewirkt (…), Loyalität und Zugehörigkeitsgefühl“85 gelenkt. Kollektive Gedächtnisse86 verbinden Menschen über lebensweltliche Unterschiede hinweg zu Gemeinschaften mit geteilten historischen Bezügen, über die sie sich in der Gegenwart mitdefinieren. Die lebenszeitliche Beschränkung individueller Kenntnisse wird durch die Integration in einen gesellschaftlich-größeren Zeithorizont erweitert; es ist die den Einzelnen umgebende Erfahrungs-, Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft, die Grundlage seines geistigen Horizont ist und durch die Übernahme ihrer Symbole und Konventionen Weltbezug herstellt. „Ich bin daher zu wesentlichen Teilen das, was ich erbe, eine spezifische Vergangenheit, die in gewissem Umfang in meiner Geschichte gegenwärtig ist“;87 selbst Andersgläubige oder Kirchenferne erhielten durch das Elternhaus oder das soziale Umfeld eine religiöse Minimalerziehung im Sinne des vorherrschenden Werte- und Verhaltenskosmos.88 Geteilte historische Wurzeln geben Menschen wie Räumen einen Wissensschatz, der sie historisch-kulturell nach innen verbindet und nach außen abschließt. Je nach Herkunft und politischen, wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Einflüssen bilden sich unterschiedliche „topographische ‚Texte’ des kulturellen Gedächtnisses“,89 die den Gedächtnisspeicher einer Gruppe füllen und der Ausgangspunkt verschiedener Deutungskulturen und Identitätskonstrukte sind. Die Reflektion eigener Erfahrungen und solcher, die nicht selbst gemacht wurden, gehen durch die Zugehörigkeit zu einer Erinnerungsgruppe in die Selbstkonstitution ein; zurückliegende Ereignisse und die Schlüsse, die die Betroffenen aus ihnen zogen, wirken über Erziehung, gesellschaftliche Sozialisation und Institutionen bis in die Gegenwart hinein und bestimmen diese zum Teil mit. Individuelle und kollektive Selbstbilder haben „ihren Ursprung im Denken der verschiedenen Gruppen, denen wir uns anschließen“;90 dieses ist latent vorhanden und kann durch äußere Reize situativ hervorgeholt, abgerufen und wirkmächtig werden. Regelmäßige Rückbesinnungen oder äußere Herausforderungen erneuern jene Prägungen und machen „die alten Steine sichtbar“,91 die im Entwicklungsprozess nicht beseitigt,
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Janssen, Wilhelm, zitiert nach: Engelbrecht, Jörg: Das Rheinland und die Rheinländer. Struktur und Identität des Nordrheinlandes und seiner Menschen, in: ders. et. al. (Hrsg.): Rheingold. Menschen und Mentalitäten im Rheinland. Eine Landeskunde, Köln u.a. 2003, S. 3-50, hier: S. 14. Vgl. Halbwachs, Maurice: La mémoire collective, Paris 1939 (dt. Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1985). Das Konzept geprägt hat er bereits mit dem 1925 erschienenen Les cadres sociaux de la mémoire (dt. Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen). MacIntyre, Alasdair: Der Verlust der Tugend, Frankfurt a. M. 1999, S. 295. „Konfessionen liefern eigene Sozialisationskorridore, die auch von Kirchenfernen benutzt werden.“ Greiffenhagen, Martin und Sylvia: Der religiöse Faktor. Kirche und politische Kultur, in: dies.: Ein schwieriges Vaterland. Zur politischen Kultur im vereinigten Deutschland, München 1993, S. 208-220, hier: S. 211. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Identität und politische Identität in frühen Hochkulturen, 2. durchges. Aufl., München 1997, S. 60. Ebd., S. 37. Gustafsson, Lars, Die alten Steine werden wieder sichtbar, Antwort auf Jean Amérys Kritik der Regionalismus-Bewegung, in: Frankfurter Rundschau (8.8.1977), zitiert nach Brunn, Gerhard: Regiona-
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B. Landschaft und regionale politische Kultur
sondern nur überdeckt werden und gegenwartsrelevant bleiben. Das Erinnern der Gemeinsamkeiten ist sozial-konstruktive Leistung innerhalb eines Gedächtnisrahmens,92 bei dem Individuen oder Gemeinwesen irreduzibel auf Bilder, Symbole, Orte, Feste oder Rituale angewiesen sind, wollen sie sich ein Bild ihrer selbst verschaffen und dieses verstetigen. Kollektive Gedächtnisse bedürfen kontinuierlicher Versinnlichung, um Gruppenidentitäten zu festigen; kulturelle Zeugnisse übersetzen Vergängliches in zeitenthobene Phänomene und geben in verdichteter Form die Essenz dessen wieder, was Gesellschaften als ihre geteilte Grundlage ansehen. Externalisierte Symbole sind Träger entkörperter, nicht selbst gemachter Erfahrungen, die über jene wahrgenommen, angeeignet und weitergegeben werden können. Sie symbolisieren gruppenspezifische Gedächtnisspeicher und geronnene Sinnstrukturen, ermöglichen durch Betrachtung, Begehung oder Begegnung die Vergegenwärtigung zurückliegender Ereignisse und stellen emotional aufgeladene Gruppenbezüge her. Die Vergangenheit wird in den Dienst der Gegenwart gestellt, umgeformt und weitergegeben, um Gemeinschaft herzustellen. Dieses kulturelle unterscheidet sich insofern von dem kommunikativen Gedächtnis, als es nicht wie jenes unhintergehbar auf Menschen als Gedächtnisträger angewiesen ist. Symbolische Ausdehnung, die Entkopplung von den ursprünglichen und die kommunikative Verkopplung mit neuen Erinnerungsträgern ist Voraussetzung eines kollektiv-kulturellen Gedächtnisses; „das Gedächtnis entwächst einer Gruppe, deren Zusammenhang es stiftet.“93 Die rekonstruktive Wiederherstellung des Erinnerten führt jedoch zu Verformungen: Vergangenheit existiert nicht objektiv, sondern einzig in ihrer partiellen Vergegenwärtigung, ist interpretiert und gewertet, um die Gegenwart über die Historie zu legitimieren. Erinnerung und gemeinsame Traditionen werden aus dem geschichtlichen Zusammenhang herausgegriffen, sind wahr und stellen ein Angebot für die subjektive Aneignung dar, wenn sie gesellschaftlich als korrekt aufgefasst werden.94 Der Spracherwerb ist die zentrale Grundlage für die Einordnung in Erinnerungsgemeinschaften. Struktur und Wortschatz stellen Zusammenhänge her und überliefern spezifische Gedächtnisspeicher sowie kollektive Erfahrungen, Werte und Traditionen einer Gruppe; „Sprache vergegenständlicht gemeinsame Erfahrungen und macht sie allen zugänglich, die einer Sprachgemeinschaft angehören.“95
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lismus im (west-) europäischen Kontext, in: Informationen zur Raumentwicklung. Regionalgeschichte: Ein Ansatz zur Erforschung regionaler Identität, H. 11 (1993), S. 739-749, hier: S. 744. „Wo immer kollektiv homogenisierende Impulse festzustellen sind, die ein normatives Raster über die heterogenen individuellen Erinnerungen legen, ist die Wirkungsmacht sozialer oder politischer Gedächtnisrahmen am Werke.“ Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a. M. 1985, S. 158. Nora, Pierre: Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990, S. 12f. Vgl. die Unterscheidung von Gedächtnis als ars (Speicher), das Erinnerungen einlagert und von Gedächtnis als vis (Erinnern), die verschobene statt absolut identische Reaktivierung aus dem Speicher bei Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, 3. Aufl., München 2006, S. 28f. Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 72.
B.III. Identität
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B.III.3. Sprache Sprache liefert dem Menschen die Begriffe, um sich selbst zu denken, zu hinterfragen und Lebenswelten zu entwerfen; „kognitive Wirklichkeiten werden unter spezifischen sozialen und kulturellen Bedingungen konstruiert, wobei Sprache und Kommunikation eine entscheidende Rolle spielen.“96 Sie ist die Grundlage diskursiver Verständigung über Werte und Institutionen des Zusammenlebens, integriert oder trennt Personen unmittelbar im geteilten Wissen um Vokabeln und Grammatik sowie der unbewusst-alltäglichen Vertrautheit ihres Klangs. Sprache ist mehr als bloßes Kommunikationsmittel zur Weitergabe von Informationen, sie stiftet Verbundenheit unter denen, die sie beherrschen und verwenden, wobei nicht der Inhalt, sondern der Sprechakt an sich von entscheidender Bedeutung ist.97 Die unbewusste Übernahme interner Merkmale wie Aussprache, Satzbau und Wortschatz ordnet Individuen bestimmbaren Gruppen zu, fördert inneren Austausch, grenzt nach außen ab und verdeutlicht einer Sprachgemeinschaft ihre Eigen- und Andersartigkeit. Sprachliche Barrieren sind Interaktions- und Erinnerungs-, Wort- und Kulturgrenzen, sie begünstigen oder scheiden Verkehrsbeziehungen, führen Lebenswelten zusammen oder unterbrechen sie, verdeutlichen Herkunft unmittelbar und markieren Zugehörigkeit oder Differenz. Versteht man sich im doppelten Sinne nicht, wird man sich kaum auf ein gemeinsames Gesellschaftsbild einigen, Gruppenbezug oder kollektive Identität gewinnen; Sprach- geht deshalb mit einem Identifikationsbewusstsein seiner Sprecher einher.98 Idiome besitzen eine jeweils spezifische semiotische Funktion kognitiver, affektiver und sozialer Aspekte.99 Der Sprechakt ist wechselseitig-diskursive Vernunftleistung, die auch emotionale Nähe zulässt, je vertrauter der Klang ist. Die Sprechweise der Eltern und der Menschen einer Region sind langfristig nachwirkende, in tiefliegenden Bewusstseinsschichten lagernde Prägungen, anhand derer soziale Selbsteinordnung geschieht.100 Als Interaktionsrahmen ist Sprache transsubjektive Symbolebene, die die Eingliederung in größere menschliche Gebilde ermöglicht; ihr Code – dem sich zwingend bedienen muss, wer der (Sprech-) Gemeinschaft angehören möchte – vermittelt kollektive, vorstrukturierte und durch den Sprechakt wechselseitig garantierte, modifizierte und rekonstruierte Wertewelten, Weltverständnisse und Erfahrungen, stiftet und erhält in seiner Alltagsverwendung Gesellschaft, ohne sich ihrer Grundlagen stets substantiell aufs Neue vergewissern zu müssen. Historische Wissensbestände und konkrete gesellschaftliche Realität er96 97
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Vgl. Briesen, Historische Ausprägung und historischer Wandel von regionaler Identität, in: ders./Gans/Flender, Regionalbewusstsein in Montanregionen im 19. und 20. Jahrhundert, S. 42. Vgl. die Unterscheidung von Sprechen über und Sprechen mit bei Bossong, Georg: Sprache und Regionale Identität, in: ders./Erbe, Michael/Frankenberg, Peter/Grivel, Charles/Lilli, Waldemar (Hrsg.): Westeuropäische Regionen und ihre Identität. Beiträge aus interdisziplinärer Sicht, Mannheim 1994, S. 46-61, hier: S. 48. Vgl. Mattheier, Klaus J.: Gibt es eine regionale Sprachgeschichte des Rheinlandes?, in: Besch, Werner/Solms, Hans Joachim (Hrsg.): Regionale Sprachgeschichte. Sonderheft der Zeitschrift für deutsche Philologie 117 (1998), S. 144-151, hier: S. 147f. Vgl. Esser, Paul: Dialekt und Identität. Diglottale Sozialisation und Identitätsbildung, Frankfurt a. M./Bern 1983, S. 113f. Vgl. die Untersuchungen von Besch, Werner/Hufschmidt, Jochen/Kall-Holland, Angelika : Sprachverhalten in ländlichen Gemeinden. Ansätze zur Theorie und Methode, Forschungsprojekt Erp-Bericht, Band 1, Berlin 1981, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 107 (1985), S. 118120.
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fahren begriffliche Verarbeitung und Tradierung, Enkulturation und Spracherwerb vermitteln diesen spezifischen Speicher, der Sinneindrücke gemeinschaftsbezogen bewertet und vorfiltert. Zeichen, Ausdrücke und Intonation verbinden unbewusst und stellen auf Verstandes- wie Gefühlsbasis Nähe her, dienen der Selbst- wie Gruppenidentifizierung.101 Sprache ist demnach Vehikel, Ergebnis und Hüterin der Traditionsvermittlung und der Aufrechterhaltung kollektiver Gedächtnisse,102 die sie verwendenden Menschen sind die Träger mental-kultureller Grenzen und die durch sie geknüpften Kommunikationsrahmen limitische Raumaneignungen,103 die nach innen Bindungen stiften und nach außen abscheiden;104 staatliche Grenzen können sprachliche nachvollziehen oder die Grundlage ihrer Ausbildung sein.105 Isoglossen bilden solche historischen Siedlungsräume und Austauschbeziehungen ab und zeigen überlieferte soziokulturelle Zusammenhänge auf.106 Als Untergruppe einer Hochsprache vollziehen Dialekte jene Integrations- und Segregationsfunktion auf kleinerer Ebene nach. Als geographisch begrenztes sprachliches Subsystem mit primären und sekundären Mundartmerkmalen107 beschränkt sich ihre Verwendung auf einen regional verortbaren Personenkreis und mündlichen Gebrauch,108 womit sie ein Innen- und Außenverhältnis schaffen und das Zusammengehörigkeitsgefühl einer Gruppe stärken können. Dialekte sind zwar im Vergleich zu echten Fremdsprachen keine derart scharfen Scheidelinien, sondern lediglich Varianten desselben Idioms und haben sich über die zunehmende Verbreitung der Standardsprache stark angeglichen, doch verstehen sich etwa in Deutschland Dialektsprecher verschiedener Herkunft nach wie vor untereinander kaum, werden im Kommunikationsakt divergente (kulturelle) Herkünfte offenbar und eine kleine Barriere zwischen den Sprechern aufgebaut. Auch regionale Sprachgemeinschaften erleben als Gegenbewegung zu Globalisierung und enträumlichter 101
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Vgl. Flemming, Matthias: Regionalbewusstsein und regionale Identität in den Regionen Franken/BadenWürttemberg, in: Maier, Jörg (Hrsg.): Regionales Bewusstsein und regionale Identität als Voraussetzung der Regionalpolitik (Arbeitsmaterialien zur Raumordnung und Raumplanung 43), Bayreuth 1985, S. 6-14, hier: S. 9. Seinen Untersuchungen zufolge grenzen sich 90% der Hohenloher durch ihre sprachlichen Besonderheiten von ihrem Umfeld ab. Vgl. Nahodil, Otakar: Tradition als Sicherheit in einer pluralistischen und mobilen Gesellschaft, in: Weigelt, Klaus (Hrsg.): Heimat – Tradition – Geschichtsbewusstsein, Mainz 1986, S. 160-174, hier: S. 164. Vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 153. Vgl. Krüger, Rainer: Wie räumlich ist die Heimat – oder findet sich in Raumstrukturen Lebensqualität?, in: Geographische Zeitschrift 75 (1987), H. 3, S. 160-177, hier: S. 167. Untersuchungen zu Phonemsystemen und Vokalismen verweisen auf den Zusammenhang von Verwaltungs- und dialektalen Strukturgrenzen. Vgl. Niebaum, Hermann: Zur niederfränkischniedersächsischen Sprachgrenze im Duisburger Raum, in: Mihm, Arend (Hrsg.): Sprache an Rhein und Ruhr. Dialektologische und soziolinguistische Studien zur sprachlichen Situation im Rhein-Ruhr-Gebiet und ihrer Geschichte, Stuttgart 1985, S. 63-82, hier: S. 75f. So die wortgeographischen Untersuchungen Renate Schophaus’, vgl. dies.: Zur Wortgeschichte im niederfränkisch-niedersächsischen Grenzgebiet. Ein Vorbericht, in: Niederdeutsches Wort 11 (1971), S. 61-86. Primäre Merkmale sind bewusst genutzte oder vermiedene wie bestimmte Ausdrücken, sekundäre unbewusst in die Hochsprache übernommene wie die harte oder weiche Aussprache bestimmter Konsonanten, vgl. Rowley, Anton: Dialekte und regionale Kultur – Sprachen als Symbol des Ortsbewusstseins, in: Maier, Jörg (Hrsg.): Regionales Bewusstsein, S. 15-32, hier: S. 20, 23. Jedoch ist zunächst von einer diglossalen Situation, dem Nebeneinander beider Sprachformen in einer übergreifenden Gemeinschaft auszugehen. Vgl. zum Begriff Ferguson, Charles A.: Diglossie. in: Steger, Hugo (Hrsg.): Anwendungsbereiche der Soziolinguistik, Darmstadt 1982, S. 253–276.
B.IV. Das landschaftliche Begriffsmodell dieser Arbeit
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Kommunikation eine Aufwertung. Die Dialektrenaissance,109 diese „nostalgisch-eskapistische Wendung zum Natürlichen, Einfachen, Folkloristisch-Nativistischem“110 entspricht dem menschlichen Verortungsbedürfnis und ist einfachstes Mittel, um Kohäsion, Integration und Identität einer (Volks-)Gruppe zu stärken. Dialektale Rückbesinnung ist eine Form der Selbstvergewisserung im Nahraum, des Aufbegehrens gegen Entfremdungsängste und der Suche nach Geborgenheit und Überschaubarkeit;111 sie stärkt regionale Bindungen und entfaltet über die Sprache unmittelbar Gemeinsinn, wo dieser ansonsten fehlt.
B.IV. Das landschaftliche Begriffsmodell dieser Arbeit Während Regionen zunächst aus der Weite des Raumes herausgegriffene analytischmenschliche Ordnungskategorien sind, ist Identität autoreflexive Bewusstseinsleistung, individuelle oder kollektive Selbstvergewisserung in Auseinandersetzung mit sich und ihrer Umwelt. Regionen besitzen zunächst keine Identität, können diese aber über den Dreisprung aus menschlicher Wahrnehmung, Ausdeutung und vernetzter Kommunikation, dem Herausgreifen, Verdichten und Symbolisieren charakteristischer Elemente gewinnen. Raumgebundene „seinstranszendierende Vorstellungen“112 schaffen eine Imagi-Nation oder Region, binden Mensch und Territorium zusammen und stiften lebensweltliche Zusammenhänge; „es muss zunächst einen Ort geben, damit es auch eine Welt geben kann.“113 Die „gedankliche Repräsentation und emotional-affektive Bewertung jener räumlichen Ausschnitte der Umwelt“ ist ein potentielles Identitätsangebot, das „ein Individuum (oder eine Gruppe A.W.) in sein Selbstkonzept einbezieht, als Teil seines Selbst wahrnimmt.“114 Ein wesentliches Element jeder kollektiven Identitäts- ist die Differenzbildung, die diskursive Bestimmung und Verankerung räumlich-kultureller Außengrenzen zur Absetzung von einem Anderen. „Ohne Vielheit keine Einheit, ohne Andersart keine Eigenart.“115 Es sind zumeist Krisenzeiten, in denen Identitätsfragen an Bedeutung gewinnen: Gesellschaftliche Umbrüche beseitigen alte Gewissheiten, ohne bereits neue zu liefern und sind Nährboden individuell-kollektiver Selbstreflektion, bei der „die das soziale Leben stabilisierende Funktion räumlicher Umgebung immer neu gesucht und gebraucht“ wird.116 Der selektive Rückgriff auf die 109
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Vgl. zum Begriff und beschriebener Tendenz mangels aussagekräftiger und aktueller Studie Stolz, Matthias Die neue Dialektik. Warum sich die Deutschen nicht mehr für ihrer Mundarten schämen, in: Die Zeit, Magazin 26 (2008), S. 14f. Esser, Dialekt und Identität, S. 67. Vgl. Gloy, Klaus: Ökologische Aspekte der Dialekt-Verwendung – Ein Beitrag zur neuen Dialektwelle, in: Ammon, Ulrich/Knoop, Ulrich/Radtke, Ingulf: Grundlagen einer dialektorientierten Sprachdidaktik Theoretische und empirische Beiträge zu einem vernachlässigten Schulproblem, Weinheim/Basel 1978, S. 81-83 Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie (1929), 7. Aufl., Frankfurt a. M. 1985, S. 184. Dollé, Jean Paul: Fureurs de ville, Paris 1990, S. 129. Frankenberg, Peter/Schuhbauer, Jörg: Raumbezogene Identität in der Geographie im Lichte neuerer Veröffentlichungen: Theoretische Grundlagen, Maßstabsfragen und konzeptionelle Zugänge, in: Bossong et. al., Westeuropäische Regionen und ihre Identität, S. 13-35, hier: S. 17f. Vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 135f. Herlyn, Ulfert: Individualisierungsprozesse im Lebenslauf und städtische Lebenswelt, in: Friedrichs, Jürgen (Hrsg.): Soziologische Stadtforschung, Opladen 1988, S. 111-131, hier: S. 115.
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B. Landschaft und regionale politische Kultur
Geschichte und ihre Ausdeutung, die Beschwörung gemeinsamer Traditionen und Werte dient der Selbstvergewisserung und Schaffung eines kollektiven Wir, das – vermeintlich autochthon-organisch – Sicherheit, Aktivität, soziale Interaktion und Individuation verheißt;117 die bewusste Rückbesinnung liefert Anlehnungsmuster und kommt dem Bedürfnis nach Verwurzelung und Überschaubarkeit nach.118 Fremdgebildete Stereotype sind als „dichtestes Bild des Regionalen“119 Mittel, um diese Gemeinsamkeiten plakativ herauszustreichen; sie zeichnen sich durch einen relativen Wahrheitsgehalt, eine Orientierungsfunktion und eine realitätsstiftende Wirkung aus: Wirklichkeit wird subjektiv-kollektiv wahrgenommen, interpretativwertend überverallgemeinert und zugespitzt wiedergegeben, Sachverhalte in ihrer Komplexität reduziert, überschaubar gemacht und selbst geschaffen; die hieraus entspringenden stereotypen Identifikationsangebote liefern Motive, die Individuen und Gruppen zum Teil in ihr Selbstbild aufnehmen.120 Regionale Identität und Landschaftsbewusstsein transportieren als kognitiv-affektive Bindungen an einen Raumausschnitt ein Gefühl von Heimat. Dieses „systemimmanente Strukturprinzip des Sozialen“121 vermittelt Geborgenheit und Selbstverständlichkeit, stellt der Unüberschaubarkeit des Weltganzen eine Übersichtlichkeit und Handlungssicherheit versprechende Welt im Kleinen gegenüber, die „im schroffsten Gegensatz zu der Geworfenheit im Sinne Heideggers“122 steht. Auch Heimat ist ein Mentalkonstrukt, das aus der Wechselwirkung räumlicher, politischer, historischer, sozialer, kultureller und psychischer Aspekte hervorgeht. Zwischenmenschliche Kontakte vertiefen faktische Raumbeziehungen, erhalten durch gemeinsame Sprache, Sitten und Werte Bestand und stellen Nähe her; ihre alltägliche, unbewusste Reproduktion integriert Individuen, Gemeinschaft und Raum zu einer Landschaft und unterlegt sie mit einer emotionalen Komponente.123 Landschaft ist demnach „ein Geflecht gegenseitiger Kenntnis, von Zusammenhangswissen und ästhetischen Erfahrungen, das geeignet ist, eine ‚moralische Region’ wechselseitiger Verantwortung zu schaffen.“124 Da Welt zunächst in 117
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Das kognitive Identifizieren einer Region reduziert Komplexität und setzt stabile Ankerpunkte, die Voraussetzung aktiven Handelns sind. Feste mentale Referenzobjekte stimulieren die Nutzung der Naturpotentiale zur Selbstverwirklichung und zur Sinnbeimessung für Mensch und Raum. Die geteilte Sinnebene, die Gemeinschaftsbezug und Zugehörigkeit transportiert, erleichtert die Interaktion, gemeinsames Handeln und die Hineinlegung von Werten und Bedeutung in den Raum; dieser wird Identifikationsobjekt, das Halt und Orientierung verspricht und Grundlage für das Selbstbild darstellt. Vgl. Weichhart, Raumbezogene Identität, S. 20ff. Vgl. die vom Kölner Rheingold-Institut „Psychologische Studie zur Bedeutung von ‚Heimat’“ im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks (WDR) vom 10. 10. 2008, einsehbar unter http://www.wdr.de/unternehmen/presselounge/pressemitteilungen/2008/10/img_pdf/ WDR_Rheingold__Heimat. pdf (23.4.2010). Scharte, Sebastian: Westfalenbilder und Westfalenbewusstsein. Die Herausforderung ‚Regionale Kulturpolitik’ und ‚Verwaltungsstrukturreform’, Münster u. a. 2003, S. 11. Vgl. Bausinger, Hermann: Name und Stereotyp, in: Gerndt, Helge (Hrsg.): Stereotypvorstellungen im Alltagsleben. Beiträge zum Themenkreis Fremdbilder – Selbstbilder – Identität, München 1988, S. 13-19, hier: S. 13. Weichart, Die Region in: Brunn, Region und Regionsbildung in Europa, S. 39. So Eduard Spranger, zitiert nach: Weigelt, Klaus: Heimat – Der Ort personaler Identitätsfindung und sozio-politischer Orientierung, in: ders. (Hrsg.): Heimat und Nation. Zur Geschichte und Identität der Deutschen, Mainz 1984, S. 15-25, hier: S. 16. Vgl. Spiegel, Erika: Heimat, in: Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.): Handwörterbuch der Raumordnung, 4. Aufl. Hannover 2005, S. 447-451, hier: S. 448f. Ipsen, Detlev: Region zwischen System und Lebenswelt, in: Brunn, Region und Regionsbildung in Europa, S. 112-118, hier: S. 118.
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der Familie erlernt und gedeutet wird, sind die hier gemachten Erfahrungen von großer Tiefenwirkung für Heimatbindungen: Das unbewusste Eintreten in einen vorgegebenen Kontext lässt dessen natürlich-kulturelle Bedingungen als selbstverständlich aneignen und affektiv aufladen. Heimat kann aber auch durch gemeinsames Wirken innerhalb geteilter Raumbezüge aktiv geschaffen werden; die geteilte Umformung, sinnliche Aufladung und Aneignung der regionalen Lebenswelt stiftet Bindungen an Menschen und Raum und macht diesen zur Heimat. Landschaftskonstruktionen folgen der „Neigung, sich mit äußerlichen Zeichen, Symbolen und Mythen zu identifizieren, eine Merkmalhaftigkeit zu betonen und hervorzukehren“,125 um persönliche und kollektive Identität zu gewinnen. Komplexitätsreduktionen und konzentrische Gefühle der Verbundenheit gewährleisten Orientierungssicherheit als Voraussetzung für Vertrauen und Handlungsbereitschaft,126 ein Jedermannswissen von Eigenschaften und Strukturen der unhinterfragten Alltagswelt fundiert Erwartungshaltungen und Verhaltenssicherheit und ist Grundbestandteil persönlicher wie gesellschaftlicher Stabilität; es erlaubt die „Kontextualisierung“127 sozialer Prozesse, stiftet Vertrauen und begünstigt Interaktion wie Kohäsion. Landschaftliche Identität und Aktivität sind demnach zusammenhängende Faktoren: Das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gemeinschaft oder einem Raum fördert das Engagement innerhalb dieser, wie umgekehrt das Einbringen in Gruppe und Region die Bindung an beide erhöht.128 Landschaftsbewusstsein ist demnach Grundbedingung für das „zentrale menschliche Bedürfnis nach sinnerfülltem Handeln in einer vertrauten sozialen und physischen Umwelt“,129 der Mensch sucht Halt im Raum, in der Region, in menschlich gemachten Traditionen und Werten. Auch Zuwanderer übernehmen – wollen sie in neuer Umgebung Anschluss finden – zunächst die dort vorhandenen Grundmuster; erst über Generationen nähern sich die Weltbilder der Alteingesessenen und der Zuzügler an und konstruieren auf der Basis gemeinsamer und unterschiedlicher Erfahrungen geteilte Gesellschaftsbilder, ohne dass beide in – modifizierter Form fortlebenden – Perspektiven je ganz verschwinden. 125
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Elkar. Rainer S.: Regionalbewusstsein – Identität – Geschichtsbewusstsein. Einige kritische Bemerkungen aus regionalistischer Veranlassung, in: ders. (Hrsg.): Europas unruhige Regionen. Geschichtsbewusstsein und europäischer Regionalismus, Stuttgart 1981, S. 50-79, hier: S. 73. Die Entwicklungspsychologie untersucht die räumlichen Orientierungsprozesse der Menschen von der Mikro- (Familie) über die Meso- (Schule) bis hin zur Makroebene (Staat). Verbundenheit zu bestimmten Gruppen und räumlichen Umgebungen wird konzentrisch gedeutet: Von der kleinsten Einheit, der Familie, die die stärkste Beziehung und Solidarisierung erfährt, ziehen sich weitere Kreise (Straße, Stadtviertel, Stadt, Landkreis, Land, Bund), die aus persönlicher Betroffenheit, Vertrautheit und der persönlichen Mitgestaltung resultieren. Die Erfahrung der Identität und Sicherheit innerhalb der Familie und das hier gewonnene (Selbst-)Vertrauen gelten als Voraussetzung für die spätere Hinwendung zu größeren, fremden Gebilden, die der Persönlichkeit durch den Umgang in Menschengruppen weitere Facettenhinzufügen. Vgl. Bronfenbrenner, Urie: Recent Advances in Research on the Ecology of Human Development, in: Silbereisen, Rainer K./Eyferth, Klaus/Rudinger, Georg (Hrsg.): Development as Action in Context, Heidelberg 1986, S. 287-310. Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, S. 430. Vgl. Pankoke, Eckart: Regionalkultur? Muster und Werte regionaler Identität im Ruhrgebiet, in: Informationen zur Raumgeschichte, H. 11 (1993): Regionalgeschichte: Ein Ansatz zur Erforschung regionaler Identität, S. 759-769, hier: S. 763. Molt, Walter: Heimat und Region – Chancen sozialer Identität?, in: Weigelt, Heimat und Nation, S. 227237, hier: S. 234f.
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B. Landschaft und regionale politische Kultur
Zeit und Raum sind zentrale Elemente jeder Landschaftsgenese, sind konstitutiv für die sozial-geographische Regions- und Identitätsbildung und beeinflussen Handeln wie Habitus.130 Landschaften entstehen aus dem Wechselspiel „von historischen Elementen und Strukturen, ihrer Verteilung und Anordnung (sowie A.W.) in der Zusammenschau mit dem Naturraum und der assoziativen Ebene;131 sie sind „Ergebnis der Wechselwirkung zwischen naturräumlichen Gegebenheiten und menschlicher Einflussnahme im Laufe der Geschichte.“132 Als Geschichtslandschaft erfuhr der Raum ähnliche politische, wirtschaftliche und kulturelle Prägungen, die ihn nach innen homogenisieren und nach außen unterscheiden. Die topographischen Bedingungen, die der Raum dem Menschen auferlegt, sowie dessen Antworten auf jene verleihen Regionen einzigartige, an die Geschichtslandschaft angelehnte Faktorenmischungen und machen sie zu Kulturlandschaften; die kollektive Reflektion jener Erfahrungen und Bedingungen wie die Selbstverortung innerhalb dieser erweitern sie zu Bewusstseinslandschaften.133 Automatismen sind hierbei zurückzuweisen: Geschichtsräume liefern Prädispositionen, die Menschen aufnehmen und zur Landschaftsbildung nutzen können; diese Vorbedingungen haben nicht zwingend jene Folgen, der Mensch wird durch sie beeinflusst, aber nicht gesteuert. Charakteristisch ist, dass Landschaften keiner staatlichen Verfasstheit bedürfen, sondern aus geographischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Scheidelinien und Kommunikationsnetzen, aus intensiven, vielfältigen und dauerhaft gewachsenen menschliche Raumbeziehungen entstehen. Sie finden ihre Wahrnehmungs- und Empfindungsgrenzen in den sie tragenden Menschen und sind zunächst „kognitiv-normative Landkarte(n), die die Welt geistig absteck(en) und strukturier(en)“;134 politische Gemarkungen können hinzukommen und durch die Festlegung von Interaktionsrahmen Landschaftsbildungen ihrerseits anstoßen. Landschaften stehen in Traditionszusammenhängen, die ihr Verständnis losgelöst von dem „geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstandes“135 nicht zulässt. Sie sind bedingt durch das Wechselverhältnis spezifischer Raumelemente und historisch-kultureller Prägungen, aus dem Zusammenspiel materieller Bedingungen und anthropogener Deutungsleistungen in Raum und Zeit; hieraus abgeleitete kollektive Werte- und Lebensvorstellungen machen sie zu „homogene(n) Gebiete(n) mit physischen und kulturellen Eigenschaften, die sie von den angrenzenden Gebieten unterscheiden, die als Teil eines nationalen Territoriums hinreichend einheitlich sind, ein Bewusstsein ihrer Bräuche und Wertvorstellungen besitzen und das Gefühl einer eigenständigen Identität haben.“136 Landschaften weisen in Rechtsverhältnissen, Sitten, Spra130 131
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Vgl. Loer, Thomas: Die Region. Eine Begriffsbestimmung am Fall des Ruhrgebiets, Stuttgart 2007, S. 7ff. Landschaftsverband Rheinland/Landschaftsverband Westfalen-Lippe (Hrsg.): Erhaltende Kulturlandschaftsentwicklung in Nordrhein-Westfalen. Grundlagen und Empfehlungen für die Landesplanung, Köln/Münster 2007, S. 17. Zitiert aus dem 16. Positionspapier der Vereinigung der Denkmalpfleger in der Bundesrepublik Deutschland: Denkmalpflege und historische Kulturlandschaft, S. 1, abrufbar unter http://www.denkmalpflege-forum.de/download/Nr16.pdf (18.9.2010). „Der Mensch bringt durch seine gedankliche Reflektion Landschaft hervor. Im Gegenzug prägt der physisch-materielle Teil der Landschaft den Menschen bzw. dessen Perzeption und Handeln.“ Vgl. Tress, Gunther: Zu Begriff und Theorie der Landschaft, in: ders.: Die Ferienhauslandschaft. Motivationen, Umweltbeeinträchtigungen und Leitbilder im Ferienhaustourismus in Dänemark, Roskilde Universitetcenter 2000, S. 21-38, hier: S. 33. Rohe, Karl: Politische Kultur und ihre Analyse, in: Dornheim/Greiffenhagen, Identität und politische Kultur, S. 110-126, hier: S. 111. Horkheimer, Max: Traditionelle und kritische Theorie (1937), Frankfurt a. M. 1977, S. 17. Klepsch, Eugen: Europa der Regionen, in: Matheus, Michael (Hrsg.): Regionen und Föderalismus, Stuttgart 1997, S. 81-92, hier: S. 81.
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chen, Siedlungsformen und Konfession eigenständige Entwicklungspfade auf, die – zum Teil ihres ursprünglichen Charakters oder Hintergrunds entkleidet – über die weitgehend unbewusste Enkulturation ihrer Bewohner in Grundzügen erhalten bleiben; der alltägliche Umgang mit ihnen ist eine Selbstverständlichkeit, die die gemeinsame Ordnung aufrechterhält, ohne sie rational-intentional jeden Tag aufs Neue zu bekräftigen. „Da die Gestaltbildung unbewusst ist, erscheint sie uns nicht als soziale Konstruktion, sondern als Wirklichkeit.“137 Symbolische Markierungen machen Räume und Regionen nicht allein kognitiv erkennbar, sondern auch affektiv annehmbar. Regionale Identität als „Selbstbeschreibungskategorie der Moderne“138 bedarf geteilter formeller wie materieller Bezugspunkte, die durch alltägliche Kontakte bestätigt und tradiert werden. Landschaft ist demnach eine in dialektischem Prozess geschaffene, mit Sinn erfüllte Ordnung dreier simultaner Komponenten, der Externalisierung, Objektivation und Internalisierung:139 Sprache und Kommunikation sind Voraussetzung für die soziale Aneignung des Raumes, seiner normativen Ausdeutung und Sinnausfüllung. Orte oder Bauten verdeutlichen geteilte Horizonte, machen diese wahrnehm-, erinner- und vermittelbar und wirken auf das Individuum zurück. Die selbstverständliche Erfahrbarkeit der Kulturlandschaft, der wechselseitige Austausch über sie wie ihre Gestaltung stellen kollektive Bezüge her, stiften Verbundenheit und Zusammengehörigkeitsempfinden. Eine einmal etablierte Wirklichkeit besteht jedoch keineswegs für alle Zeiten, sondern ist mit den Menschen veränderbar. Ein Landschaftsverständnis bleibt nur so lange existent, wie die es erschaffenden oder tradierenden Personengruppen dieses diskursivhandelnd stützen und „sich als kulturelle Subjekte konstituieren, also als historisch, kulturell, religiös und geographisch gewordene Räume oder Landschaften“.140 Außenstehenden bleiben diese „umgrenzte(n) Sinnprovinzen“141 uneinsichtig, da sie nicht in ihren Konstruktions- wie Kommunikationsprozess eingebunden waren; „der Naive kann die Landschaft nicht sehen, denn er hat ihre Sprache nicht gelernt.“142 Die Gewordenheit des Raumes, die selektive Ausdeutung und kollektive Aneignung von Traditionen spiegelt sich in den mentalen Wertestrukturen der Menschen und ist gesellschaftlich anerkannte Geschichte. Unter Hinzuziehung sprach- und kulturgeschichtlicher Aspekte soll Landschaft folglich eine von innen wie von außen als Ganzheit wahrgenommene Raumeinheit wechselseitig aufeinander bezogener Einzelelemente sein; sie ist durch Aktion und Reflektion geschaffenes Beziehungsgeflecht, das mit den sie tragenden Menschen entsteht, besteht und vergeht. Ihrer Bildung liegt das Wechselverhältnis von Natur und Kultur, ein spezifischhistorisch bedingtes Faktorengeflecht geographischer, politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Entwicklungen zugrunde: Ausgehend von der physisch-biotischen Natur137 138 139 140
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Ipsen, Detlev: Ort und Landschaft, Wiesbaden 2006, S. 31. Buß, Eugen: Regionale Identitätsbildung zwischen globaler Dynamik, fortschreitender Europäisierung und regionaler Gegenbewegung. Die Bedeutung für Westfalen, Münster 2002, S. 13. Vgl. Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 139. Flender, Armin/Pfau, Dieter/Schmidt, Sebastian: Regionale Identität zwischen Konstruktion und Wirklichkeit. Eine historisch-empirische Untersuchung am Beispiel des Siegerlandes, Baden-Baden 2001, S. 20. Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 28. Burckhardt, Lucius: Landschaftsentwicklung und Gesellschaftsstruktur (1977), in: ders.: Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft, hrsg. v. Markus Ritter u. Martin Schmitz, Kassel 2006, S. 19-33, hier: S. 20.
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B. Landschaft und regionale politische Kultur
umwelt fasst sozial-konstruktivistische Verständigung Ausschnitte aus der relationaldinglichen Anordnung materieller Substrate zu Regionen, zu aufeinanderbezogenen Wahrnehmungsgesamtheiten zusammen, die nicht für sich bestehen, sondern „nur im Auge des Betrachters Realität“143 haben. Landschaften sind in der Bevölkerung verfasst und verankert und durch ein enges Bindungsverhältnis, eine affektive Vertrautheit an Raum und Mitmenschen und eine kollektive Identität gekennzeichnet; diese sind Voraussetzung für die individuelle Handlungsorientierung und -bereitschaft innerhalb des Raumes und einer Personengruppe. Als unmittelbar erfahrbares Lebensumfeld gehen sie mit besonderen, aus ihrer Genese verständlichen Denk- und Verhaltensformen einher, in die man hineingeboren und über die Sozialisation eingeführt wird, und die sie nach außen unterscheiden. Ohne dies abschütteln zu können, steht der Mensch im Strom der Geschichte, die zwar nicht determinierend, aber doch konditionierend in das Alltagshandeln hineinspielt. Landschaftsbewusstsein bedarf schließlich dreier Komponenten: Eine kognitive Raumwahrnehmung, die Identifikation mit dieser sowie eine emotionale Bindung an jenen Ausschnitt, an die Menschen wie die über den Raum vermittelten kollektiven Gedächtnisse und Sozialverhältnisse. Da menschliche Denkweisen, Werte und Verhaltensmuster Reaktionen auf die sie bedingende Umwelt sind, sind Landschaft und politische Kultur zwei eng aufeinander bezogene Begriffe; politische Kultur ist abgeleitetes Merkmal der Landschaftsgenese und nur aus dem Rekurs auf diese zu verstehen, wie auch politisches Agieren Rückschlüsse auf die sie bedingende Landschaft erlaubt.
B.V. Regionale politische Kultur Seit der Pilotstudie Gabriel Almonds und Sydney Verbas144 geht es der politischen Kulturforschung um die politische Mikroebene des subjektiven Faktors, um kognitive und emotionale Haltungen gegenüber dem politischen System sowie ihrer Bedeutung für Stabilität und Funktionieren der institutionellen Makroebene. Sehen die einen in dieser Forschungsrichtung den „Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln“145 oder einen „catch-all-term“,146 der als Residualkategorie politische Phänomene erläutert, verwechseln andere den Termi143 144
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Zur Philosophie der Kunst (1803-1817), in: ders.: Sämtliche Werke, hrsg. v. Manfred Schröter, Bd. 3, 3. Aufl., München 1984, S. 171-210, hier: S. 195. Vgl. Almond, Gabriel A./Verba, Sydney: The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations, Princeton/New York 1963. Almond und Verba gingen der Frage nach dem Zusammenbruch der Weimarer Republik und dem Aufstieg des Nationalsozialismus nach und suchten zu erklären, warum Großbritannien oder die USA eine andere Entwicklung als das Deutsche Reich nahmen und keine Radikalisierung in der Zwischenkriegszeit erlebten. Ihren Anfang nahm die politische Kultur-Forschung also in normativer Weise: Gefragt wurde nach den Bestimmungsfaktoren, die für eine Demokratie förderlich oder abträglich seien, da die Makroebene, eine gute Verfassung, keine alleinige Garantie lieferte. Kaase, Max: Sinn oder Unsinn des Konzepts ‚Politische Kultur’ für die vergleichende Politikforschung, oder auch: der Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln, in: ders./Klingemann, Hans-Dieter: Wahlen und politisches System. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 1980, Opladen 1983, S. 144172. Bergem, Wolfgang: Tradition und Transformation. Eine vergleichende Untersuchung zur politischen Kultur in Deutschland, Opladen 1993, S. 29.
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nus – in der Tradition des geistig-ästhetischen und intellektuell-politikfernen deutschen Kulturbegriffs – mit politischem Stil, den sie beim Parteigegner vermissen.147 In Absetzung hiervon ist politische Kultur im Sinne dieser Arbeit die „historisch gewachsene Gesamtheit der in einer Gemeinschaft geteilten Vorstellungen über die Welt des Politischen sowie die damit verknüpften Handlungsnormen…(sie bezieht sich auf A.W.) Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster, die die politische Praxis der Akteure weitgehend steuern, ohne sie jedoch vollständig zu determinieren.“148 Die Art und Weise, wie und mit welchen Inhalten Politik betrieben wird, die politische Kultur eines Gemeinwesens entspringt weder physisch-natürlichen Determinismen149 noch Nationalcharakteren,150 sondern ist abgeleiteter Teilaspekt landschaftlicher Prägungen und konstruktivistisches Ergebnis zwischenmenschlicher Selbstverständigung. Sie ist Ergebnis der wechselseitigen Ausdeutung naturräumlicher, historischer, politischer, ökonomischer, sozialer und kultureller – und somit veränderlicher – Prägungen und Resultat der aufgrund jener Bedingungen ausgebildeten tiefliegenden gesellschaftlichen Vorstellungen; politische Kultur liefert Grundannahmen, die politischem Verhalten und Inhalten längerfristig, über situative Fragen hinaus zugrunde liegen und die tagesaktuelle Ansichten und Einstellungen überdauern.151 Das Wie politischen Agierens wird hierbei um das Was ergänzt: Politische Kultur meint neben der Form der Auseinandersetzung die dominanten Normen, Inhalte und materiellen Grundinteressen, die für eine Gemeinschaft fundamentale Bedeutung besitzen und im politischen Prozess maßgeblich berücksichtigt werden müssen. Diese „spezifische Selektivität“152 ist gesellschaftliches Vorfeld der Politik, das Ablaufprozesse steuert und einzuhaltende Spielräume eröffnet, das einzuhalten ist, um Erfolg und Legitimität zu erringen; sie liefert Selbstverständlichkeiten, Normalitätserwartungen und ungeschriebene Regeln als Grundlagen öffentlichen Handelns.153 Politische Kultur ergänzt die geschriebene durch eine ungeschriebene Verfassung, durch ein System von „Regeln und Verfahrensweisen…das den Ablauf der politischen Gestaltung und der politischen Verfahren…mitbestimmt.“154
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Vgl. Sontheimer, Kurt: Deutschlands politische Kultur, München 1990, S. 12. Dörner, Andreas: Zwischen organisationstreue und Bürgergesellschaft. Politische Kultur in NRW, in: Canaris, Jörn/Canaris, Ute (Hrsg.): Kultur in Nordrhein-Westfalen. Zwischen Kirchturm, Förderturm & Fernsehturm, Stuttgart u.a. 2001, S. 67-75, hier: S. 67. Anfänge finden sich bereits bei den Äußerungen Aristoteles’ über die Zusammenhänge von Klima und Mentalität in Buch VII seiner Politik. Beginnend 1742 mit David Humes Schrift Of National Characters, wurden Nationen bestimmte Eigenschaften zugeschrieben und als genetischer Teil ihres Nationalcharakters angesehen. Vgl. Wehling, Hans-Georg: Regionale und lokale Strukturen der Politischen Kultur in der Bundesrepublik. Die Bedeutung regionaler Politischer Kultur-Forschung unter besonderer Berücksichtigung Württembergs, in: Berg-Schlosser, Dirk/Schissler, Jakob (Hrsg.): Politische Kultur in Deutschland. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Opladen 1987, S. 259-266, hier: S. 261f. Rohe, Karl: Politik. Begriffe und Wirklichkeiten. Eine Einführung in das politische Denken, 2. überarb. u. erw. Aufl., Stuttgart u.a. 1994, S. 169. Vgl. ders.: Politische Traditionen im Rheinland, in Westfalen und Lippe, in: Landeszentrale für politische Bildung NRW, Politische Landeskunde, S. 15ff. Grass, Karl Martin: Politischer Stil als Erscheinungsform einer Kultur der Politik. Die Darbietung politischen Handelns am Beispiel rheinland-pfälzischer Ministerpräsidenten, in: Sarcinelli, Ulrich et. al. (Hrsg.): Politische Kultur in Rheinland-Pfalz, Mainz/München 2000, S. 415-435, hier: S. 416.
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B. Landschaft und regionale politische Kultur
Politische Strukturen und politisches Verhalten sind wechselseitig bedingte Faktoren, die ihre strukturellen Grundlagen in der Landschaftsgenese finden.155 Die historische Gewachsenheit politischer Kultur verneint eine Stunde Null, in anderem Kontext ausgebildete Maximen ragen trotz Fortfalls ihrer Bedingungsfaktoren in abgeschwächter Form in Gegenwart und Zukunft hinein und bestimmen diese mit.156 Da die „geistig-moralische Verfassung“157 eines Gemeinwesens Ergebnis jenes Faktorengeflechts ist, das Landschaft und Bevölkerung geprägt hat, ermöglicht die Herausarbeitung landschaftsgenetischer Bedingungsmuster die idiographische Ableitung politischer Kulturelemente; naturräumliche und sozioökonomische Bedingungen, die Einwirkung politischer oder kultureller Eliten in der geschichtlichen Entwicklung sind nachzuzeichnen, will man Menschen, ihr soziales und politisches Verhalten verstehen. Voraussetzung für die Ausbildung unterschiedlicher politischer Kulturen ist jenes – in seinen Einzelaspekten einzigartige – Zusammenspiel in einem durch unterschiedliche Grenzen bestimmbaren Raum, das unterschiedliche, territorial fokussierte Einflüsse erlaubte, Kommunikations- und Interaktionsbahnen sowie die Ideendiffusion strukturierte. Regionale politische Kultur bewegt sich innerhalb eines nationalen Rahmens und teilt mit diesem Grundparameter, weißt jedoch – im Vergleich zu erschließende –inhaltliche Besonderheiten auf. Sie ist gebunden an einen Teilraum, der durch geographisch-menschliches Wechselspiel zu einer benennbaren Landschaft geformt wurde und bezieht aus dieser ihre konkrete, veränderliche Ausprägung. Der Mensch wird in Landschaft und politische Kultur hineingeboren und durch primäre Sozialisationsagenten wie Familie, öffentliche Einrichtungen und politisches System in einen spezifischen gesellschaftlichen Wertekosmos eingeführt. Politische Kultur ist demnach Subelement und abgeleitete Größe sozialer Grundnormen, die nur im Zusammenhang allgemeiner landschaftlicher Paradigmen gesehen werden kann; Eigenschaften, die als spezifische Antworten auf die Landschaftsgenese entwickelt wurden, sind auch politisch wirksam. Von grundlegender Bedeutung ist die tiefenmentale Verankerung jener Verhaltensmuster, die als alltägliche Selbstverständlichkeit politisches Denken und Handeln mitbestimmen, ohne jeweils bewusst-reflektierter Entscheidung zu folgen: In der Erziehung erlernte und als Welt schlechthin anerkannte landschaftliche Grundmuster fundieren und steuern im Zusammenspiel mit tagesaktuellen Konstellationen öffentliches Agieren im Rahmen der politischen Kultur; jene mental verankerten Dispositionen sind dem Denken und Handeln vorgelagerte, konditionierende Kategorien und die Prinzipien, die aktuellen Einstellungen zugrunde liegen. Eine wichtige Rolle innerhalb des Zusammenspiels aus gesellschaftlichen und politischen Wertemustern, bei der kollektiven Bildung von Normen und Gewissheiten spielten bis in das 20. Jahrhundert hinein (politische) Milieus; diese übersetzten als „soziale Einheiten, die durch eine Koinzidenz mehrerer Strukturdimensionen wie Religion, regionale Tradition, wirt155
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„Wie die polity einerseits kulturelle Muster erzeugt, beeinflusst und verändert, wirken politische Orientierungen und Werthaltungen auf diese Strukturen zurück.“ Korte, Karl-Rudolf/Florack, Martin/Grunden, Timo: Regieren in Nordrhein-Westfalen. Strukturen, Stile und Entscheidungen 1990 bis 2006, Wiesbaden 2006, S. 26. Vgl. Greiffenhagen, Sylvia: Politische Kultur Isnys im Allgäu. Auf den Spuren einer Freien Reichsstadt, Kehl am Rhein u.a. 1988, S. 10f. Wehling, Hans-Georg: Föderalismus und politische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland, in: ders./ Schneider, Herbert (Hrsg.): Landespolitik in Deutschland. Grundlagen – Strukturen – Arbeitsfelder, Wiesbaden 2006, S. 87-107, hier: S. 90.
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schaftliche Lage, kulturelle Orientierung, schichtspezifische Zusammensetzung der intermediären Gruppen gebildet“158 wurden, spezifische Interessenlagen in politische Forderungen. M. Rainer Lepsius sah die deutsche Parteienlandschaft des Kaiserreichs als Abbild vierer Milieus – dem konservativ-protestantischen, dem liberal-protestantischen, dem katholischen und dem sozialdemokratischen – die sich politisch formten und ihnen organisatorischen Ausdruck verliehen; insbesondere Klasse und Religion waren ihm Fundamente, die vorpolitische Gemeinschaften auf die Gesellschaftsebene hoben.159 Erweitert wurde dieser Ansatz durch Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan, deren Cleavage-Theorie die europäische Parteienlandschaft des 19. Jahrhunderts als Folge gesellschaftlicher Grundkonflikte – zwischen Staat und Kirche, Stadt und Land, Kapital und Arbeit sowie Zentrum und Peripherie – deutete; die Durchsetzung der hinter den ideologischen Grundstreitpunkten liegenden Interessen trieb demnach Parteigründungen an.160 Bereits zuvor zog Max Weber eine Verbindungslinie zwischen Sozialstruktur, Kultur und politischem Verhalten und betonte den Zusammenhang von sozialer Lage und politischen Forderungen, sah ihnen jedoch eine – etwa kirchlich geprägte – ideelle Grundauffassungen von Politik und Gesellschaft vorgelagert, die materiell-objektivem Klasseninteresse widersprechen könne; Menschen seien in ihrem Denken und Handeln nicht allein auf dieses zu reduzieren.161 Diese „Rationalität des Irrationalen“162 erklärt Verhaltensweisen, die aus der äußeren Lage nicht unmittelbar ersichtlich erscheinen, aber ihre eigene, nachvollziehbare Logik besitzen. Soziale Milieus, von außen als einheitliche Subkulturen wahrgenommen, benötigen innere Sinnzusammenhänge, um politische Wirksamkeit zu entfalten. Anstatt von einer naturwüchsigen Übertragung in den politischen Raum auszugehen, bedarf es der Aufnahme, Ausdeutung und Verankerung objektiver sozialer Gemeinsamkeiten und der Bereitstellung eines Identitätsangebots, um kollektives Handeln zu ermöglichen; Organisationsstrukturen wie Vereine, Verbände und Medien sowie Deutungseliten stützen und stabilisieren Milieu und Identität. Zu berücksichtigen sind ebenso spezifische Sperrfaktoren, die 158
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Lepsius, Mario Rainer: Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Abel, Wilhelm et. al. (Hrsg.): Wirtschaft, Geschichte und Wirtschaftsgeschichte, Stuttgart 1966, S. 371-393, hier: S. 383. Diesbezügliche Theorien sind zwar statisch, vermögen kurzfristige Veränderungen des Wahlverhaltens nicht zu erklären und sind durch den Bedeutungsverlust politischer Milieus in Frage gestellt, doch sind diese weiterhin von mentaler Relevanz: Die Einfärbung der Landkarte nach politischer Präferenz hebt konservativ-katholische von sozial-progressiv dominierten Regionen ab, gewinnt die CDU eher in ehemaligen Zentrumshochburgen, die SPD in alten Gewerkschaftskreisen. Vgl. ders.: Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der Deutschen Gesellschaft, in: Ritter, Gerhard A. (Hrsg.): Deutsche Parteien vor 1918, Köln, 1973, S. 56–80 sowie Mergel, Thomas: Milieu und Region. Überlegungen zur Ver-Ortung kollektiver Identitäten, in: Retallack, James (Hrsg.): Sachsen in Deutschland. Politik, Kultur und Gesellschaft 1830-1918, Bielefeld/Gütersloh 2000, S. 265-279, hier: S. 265. Vgl. Lipset, Seymour Martin/Rokkan Stein: Cleavage Structures, Party Systems and Voter Alignments. An Introduction, in: dies. (Hrsg.): Party Systems and Voter Alignments. Cross-National Perspectives, New York 1967, S. 1–64. „Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ‚Weltbilder’, welche durch ‚Ideen’ geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte.“ Weber, Max: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie (1920), Bd. 1, 8. Aufl., Tübingen 1986, S. 252. Rohe, Karl: Wahlen und Wählertradition in Deutschland. Kulturelle Grundlagen deutscher Parteien und Parteiensysteme im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1992, S. 15.
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B. Landschaft und regionale politische Kultur
milieuhaften Zusammenschlüssen entgegenstehen: Trotz ähnlicher gesellschaftlicher Position unterscheiden sich die Interessenlagen kirchengebundener von kirchenfernen Arbeitern, heben sich katholische Stadt- von katholischen Landbewohnern ab; die Vorstellung eines schematischen, klassengerechten politischen Verhaltens ist deshalb zurückzuweisen. Eigenständige Erklärungsvariablen für unterschiedliches Wahlverhalten sind zudem – trotz vergleichbarer soziostruktureller Lebensverhältnisse – abweichende historische Erfahrungen und kulturelle Hintergründe sowie die aktive geistige Auseinandersetzung mit diesen; die Stimmabgabe für dieselbe nominelle Partei auf Gesamtstaats- oder Regionalebene kann durch die „kulturelle Überformung materieller Interessen“163 unterschiedlichen Sinnbezügen folgen, da Regionalableger an landschaftliche Traditionen anknüpfen müssen, um bei Abstimmungen erfolgreich zu sein. Das Wissen um die Bedeutung spezifischer landschaftlicher Entwicklungslinien erfordert eine Analyse, welche Partei mit welchem Programm und welcher Strategie wo Erfolg hat. Milieutopologisch werden jene Grundprägungen in politische Verhaltensmuster übersetzt; öffentliches Handeln und die Beziehung zum Staat sind für Individuen wie für Gruppen abgeleitete Phänomene, die zum einen aus dem Fundus kollektiver regionaler Gedächtnisse, zum anderen aus schichtenspezifischen Wertetableaus gewonnen werden. Sind staatserhaltend-konservative Weltbilder und die Verteidigung hergebrachter Vorrechte gegenüber einem aufstrebendem Bürgertum eher beim Adel zu erwarten, so sind jenem eine erhöhte Staatsskepsis, Leistungsbereitschaft oder der Wunsch nach wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Selbstbestimmung so lange eigen, bis der erreichte Wohlstand im Bündnis mit der Herrschaft verteidigt und diese zunehmend bejaht wird; Beamte werden den Status quo eher verteidigen und Bildungsbürger diesen kritisch hinterfragen, während Wirtschaftsbürger ihren individuellen Vorteil innerhalb der Grundordnung suchen. Arbeiter können aufstiegsorientiert, aber auch obrigkeitstreu, kritisch gegenüber dem unterdrückenden wie bejahend gegenüber dem leistenden Staat sein. Um jedoch keine allzu schematisch-mechanistischen Behauptungen anzustellen, müssen im Einzelfall stets landschaftsprägende Faktoren in die Analyse einbezogen werden, um die lokal-regionalen Gesellschaften auf mögliche politische Konnotationen zu durchdringen.164
B.VI. Landschaften und politische Kultur in Nordrhein-Westfalen Der Ausgangsthese, Nordrhein-Westfalen sei Behälterraum, der eine Vielzahl an geschichtlich ausgebildeter Landschaften umfasse, ohne selbst eine zu sein, und auch infolgedessen nicht zusammenwachse, ist im Folgenden mithilfe historischer Tiefenbohrungen 163 164
Ebd., S. 24. Vgl. Geiling, Heiko: Soziale Milieus, politische Lager und Wahlverhalten, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Lagertheorien und Lagerpolitik Sozialwissenschaftliche Befunde und politische Argumente zur Strategie der Bündnis-Grünen, Berlin 2004, S. 45-52. Wichtig ist hervorzuheben, dass es sich im Folgenden mehr um Annahmen und Plausibilitäten denn um quantitativ verifizierbare Fakten handelt, nur ausschnittartig sollen mögliche Korrelationen angerissen werden, ohne breit Zusammenhänge zu diskutieren. Unerlässlich ist der Hinweis, dass keine Determinationen oder naturwüchsige Zusammenhänge zwischen Umständen und Eigenschaften behauptet werden, sondern diese als Möglichkeiten unter anderen zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit beanspruchen.
B.VI. Landschaften und politische Kultur in Nordrhein-Westfalen
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nachzugehen. Freizulegen sind die für die Landschaftsbildungen maßgeblichen, übereinanderlagernden Geschichts- und Bewusstseinsschichten und aufzuzeigen, wie und wo sich „verhaltensmäßig verfestigte Orientierungen des Denkens, Fühlens und Handelns im geschichtlichen Prozess so verdichtet haben, dass zwischen einer Region und ihrer Umwelt eindeutig kulturelle Unterschiede existieren.“165 Unerlässlich ist ein vorangestellter grundlegender Blick auf die diesem Prozess zugrundeliegenden räumlichen Grundbedingungen, um Verständnis für unterschiedliche Genesefaktoren, hieraus entspringende Scheidelinien sowie divergente regionale politische Kulturen zu gewinnen; über sie ragt die Vergangenheit in die nordrhein-westfälische Gegenwart hinein und bestimmt deren Zukunft zum Teil mit.
165
Rohe, Karl: Vom Revier zum Ruhrgebiet. Wahlen – Parteien – Politische Kultur, Essen 1986, S. 64.
C. Räumliche Strukturierungsmerkmale Das Wechselverhältnis aus naturräumlichen Grundprämissen und politischen, kirchlichkulturellen sowie sozioökonomischen Genesefaktoren formte im geschichtlichen Prozess auf dem Gebiet des historischen Nordrhein-Westfalens landschaftliche Gräben, die in das heutige Bundesland hineinreichen und sein Zusammenwachsen erschweren. Unhintergehbar für die Durchdringung der im Alten Reich angelegten, im weiteren Verlauf überformten Partialräume und ihre spezifischen Pfadabhängigkeiten ist zum einen die Bestimmung der geographisch-topographischen Fundamentalbedingungen mitsamt ihres ermöglichenden wie beschränkenden Einflusses auf Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur, zum anderen – angesiedelt zwischen Raum und Geschichte – die Ausdeutung des fränkischsächsischen Dualismus’, der zwar selbst historisches Teilmoment, jedoch zugleich grundlegende Formierungskondition der weiteren Landschaftsentfaltung war. Ohne genealogische Termini bedienen oder ein organisches Fortpflanzen landsmannschaftlicher Kollektivpsychen behaupten zu wollen, ist doch unerlässlich, solche Weggabelungen und Schlüsselereignisse heranzuziehen, um die Ursprünge gegenwärtiger nordrhein-westfälischer Strukturgegensätze zu bestimmen. Zwar kann keine Gerade von der Varusschlacht bis nach Nordrhein-Westfalen gezogen werden, doch darf gleichsam nicht verkannt werden, dass bereits hier Weichen gestellt wurden, die den Landesteilen unterscheidbare Entwicklungswege vorzeichneten: Städtegründungen, zivilisatorische Impulse oder die Einbeziehung in weitläufige, arbeitsteilig organisierte Austauschbeziehungen blieben infolge des allmählichen Rückzugs des römischen Imperiums auf die Rheingrenze ab dem Jahr 9 nach Christus weitgehend auf die linksrheinischen Gebiete beschränkt und legten ein Fundament, an das die sich in Spätantike und Frühmittelalter von Westen her ausbreitenden Franken anknüpften. Anstelle eines festen Staatsterritoriums etablierten sie eine sich nach Nordosten verfestigende Stammes-, Kultur- und Sprachgrenze gegenüber dem im Westen des sächsischen Stammesgebiets lebenden Heeresverband der Westfalen,166 die im weiteren Geschichtsverlauf sowohl zwischen dem Herzogtum Niederlothringen und dem Herzogtum Sachsen, den ihnen nachfolgenden Territorialstaaten wie in einer noch heute bestehenden Dialektscheide hindurchschimmerte.167 Beide Darstellungen, die der Umweltvoraussetzungen wie der Nukleus der rheinischwestfälischen Strukturgrenze, sind deshalb den historischen Tiefenbohrungen voranzustellen; hier wurzeln die Keime, die das nordrhein-westfälische Panorama bis heute bestimmen. Die an sie anschließenden Herrschafts-, Kirchen- und Kultur- sowie Wirtschafts166
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Erste Erwähnung fanden die Westfalai in den karolingischen Reichsannalen und wurden von den im Osten des sächsischen Stammesgebiets siedelnden Ostfalen wie den in der Mitte lebenden Engern geschieden. Hier heißt es: „Vor allem ist offensichtlich, dass die ganze Geographie des Landes, die Unterscheidung von Westfalen und Ostfalen westlich und östlich der Engern, von der Weser aus gesehen ist“, vgl. Brandi, Karl: Karls des großen Sachsenkriege, in: Lammers, Walther (Hrsg.): Die Eingliederung der Sachsen in das Frankenreich, Darmstadt 1970, S. 3-28, hier: S. 25.Vgl.auch Annales regni Francorum, in: Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte, Teil 1, neu bearb. v. Reinhold Rau, Darmstadt 1974, S. 9–155, hier: S. 31f. Der an Paderborn und Arnsberg anschließende östliche Raum war engrisches Gebiet und somit nicht zu Westfalen im hier gemeinten Sinne zu rechnen. Vgl. Nonn, Christoph: Geschichte Nordrhein-Westfalens, München 2009, S. 18. Vgl. ebenso Putzger Historischer Weltatlas, hrsg. v. Walter Leisering, 102. Aufl., Berlin 1992, S. 37, S. 42. Vgl. auch die anschließenden Ausführungen zur Sprachlandschaft.
C.I. Naturräumliche Grundbedingungen
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und Sozialgeschichten generierten unterscheidbare Landschaften und prägten Raum, Menschen und Identitäten in Absetzung voneinander; notwendig ist, sie in ihrer Relevanz für das Heute zu erkennen und zu gewichten. Ohne den Anspruch einer vollständigen Erfassung des historischen Nordrhein-Westfalens zu erheben, werden schlaglichtartig maßgebliche Ereignisse und strukturelle Neuausrichtungen aufgegriffen, um durch gegenüberstellende Vergleiche Einsicht in die innere Heterogenität NRWs zu gewinnen und die Ursprünge der historisch-kulturellen Einzelteile auszumachen, in die das Land bis heute zerfällt. Der Fokus liegt auf den herausragenden Einflüssen, die die übereinandergelagerten, wechselseitig aufeinander bezogenen Prägungsebenen des Alten Reiches, der Franzosenzeit, der Preußenzeit und der britischen Besatzungsherrschaft auf Rheinland, Westfalen, Lippe und Ruhrgebiet sowie die nordrhein-westfälische Landschaftsentwicklung nahmen.168
C.I. Naturräumliche Grundbedingungen Geographisch-topographische Prämissen sind unabweisliche Faktorenbündel menschlicher Entwicklung: Sie grundieren die Alltagsgestaltung, untergliedern den Raum in Gunstund Ungunstgebiete, liefern unterschiedliche Rahmenvoraussetzungen und strukturieren Kommunikations- wie Austauschbeziehungen.169 Wo fruchtbare Böden das Überleben sichern, Rohstoffquellen ökonomische Nutzungsmöglichkeiten offerieren und schiffbare Fließgewässer den wirtschaftlichen und kulturellen Kontakt erleichtern, befördert das Vorhandensein jener Faktoren zivilisatorische Sesshaftwerdung, beeinflusst Lebenschancen, Sitten und Normen sowie die Ausbildung politischer Macht- und kultureller Ausstrahlungszentren. Den Einwohnern von Handelsstädten ist aufgrund des häufigeren Zusammentreffens mit auswärtigen Kaufleuten eine erhöhte Aufgeschlossenheit, Kommunikationsfähigkeit und Flexibilität abverlangt, um den eigenen Wohlstand zu halten; der stetige Blick über den Tellerrand relativiert eigene Lebensentwürfe, gibt geistige Anstöße und erfordert mentale Offenheit und Toleranz. Demgegenüber erschwert das Leben in abgelegenen Gebirgsregionen oder mit kargen Böden die Sicherung des Lebensunterhalts,
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Der Verständlichkeit halber seien im Folgenden die - mit Blick auf die historischen Tiefenbohrungen weitgehend anachronistischen - Bezeichnungen Rheinland, Westfalen, Ruhrgebiet und Lippe verwendet, um die Räume zu kennzeichnen, mit denen sich die Ausführungen beschäftigen. Rheinland und Westfalen wurden erstmals nach 1815, das Ruhrgebiet bis heute nicht administrativ eingegrenzt, die Begrifflichkeiten sind also Kunstgriffe. Auch sind die folgenden Ausführungen paradigmatisch zu verstehen. Sie sollen einen groben Überblick über die räumlichen Grundverhältnisse ermöglichen, ohne sie im Detail erfassen zu können. Keineswegs darf dies zu der Behauptung führen, man könne den Rheinländer von dem Westfalen, den Lipper von dem Ruhrgebietler unterscheiden. Der Zusammenhang von Raum, Natur und Mensch, den die Kulturraumforschung behauptete, ist kein kausaler, sondern ein ermöglichender, der menschlicher Umformung bedarf. Die in einem bestimmten Territorium lebenden Menschen werden keine absolute Homogenität und Identität erreichen, aber vor dem Panorama spezifischer umweltlicher Gegebenheiten ihren Alltag ähnlich organisieren. Vergleichbare Voraussetzungen können, müssen aber nicht zu gleichen Ergebnissen führen - es kommt stets auf den menschlichen Faktor und individuelle Dispositionen an. Erinnert sei an den Deutungscharakter einzelner Äußerungen.
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C. Räumliche Strukturierungsmerkmale
die abseitige Lage mindert Außenkontakte, schmälert mentale Erfahrungshorizonte und begleitet das Festhalten an unhinterfragten, hergebrachten Lebens- und Denkformen. Die herausragenden Gunstgebiete des historischen Nordrhein-Westfalens lagen an Rhein und Hellweg:170 Während der Rhein den Anliegerstädten transeuropäische Kontakte und Austausch, Handel und relativen Wohlstand ermöglichte, war der zwischen Duisburg, Dortmund und Paderborn verlaufende Westfälische Hellweg fruchtbarer Landstrich und Teil eines zwischen Aachen und Goslar verlaufenden Transferwegs, der jedoch mit dem nach Osten verkehrshemmenden Wesergebirge an relativer Bedeutung gegenüber dem Rhein einbüßte.171
C.I.1. Rheinland Der namensgebende Fluss hatte wesentliche Bedeutung für die Entwicklung des Landesteils; er trennte einen fruchtbaren Westen von einem unzugänglicheren Osten, begünstigte die Bildung des rheinischen Städtebandes und verband als Mittler den oberdeutschen mit dem niederländischen Raum. Das Einzugsgebiet des Rheins und seiner Nebenarme war bereits von den Römern besiedelter Gunstraum, der die politische, wirtschaftliche und kulturelle Vorrangstellung des Rheinlands und insbesondere der Rheinanliegerstädte gegenüber den anderen späteren Landesteilen begründete. Geographisch ist das Gebiet in den Niederrhein, das Rheinische Städteband sowie das Rheinische Schiefergebirge zu gliedern. Der Niederrhein ist das nordwestlich von Bonn einsetzende, flussdurchzogene und weitgehend flache Rheinumlandgebiet, das seiner topographischen Weite und Offenheit zahlreiche politische, wirtschaftliche und kulturelle Impulse, seinen fruchtbaren Böden eine lange landwirtschaftliche Tradition verdankt. Das nördliche, morphologisch gering gegliederte und durch weite Grünlandebenen und ertragreiches Ackerland gekennzeichnet Niederrheinische Tiefland war aufgrund enger wirtschaftlicher und kultureller Beziehungen insbesondere zu den Niederlanden historischer Vermittlerraum nach Westeuropa und ebenso wie die anschließende, nach Süden hügeligere und wasserreiche Niederrheinische Bucht frühbesiedeltes Gunstgebiet; zweitere bot entlang der Jülich-Zülpicher Bördengebiete ausreichendes Ernährungspotential und war aufgrund einer leistungsstarken Landwirtschaft sowie der Bodenschätze des Höhenzugs der Ville – Braunkohle bei Brühl und Hürth, Ton bei Frechen oder Meckenheim – ein klassisches Einfalls-, Durchzugs- und Vermittlungsgebiet. Im Alten Reich waren die Herzogtümer Kleve und Jülich sowie das Kurfürstentum Köln die wichtigsten niederrheinischen Staaten, Mönchengladbach, Krefeld, Kleve, Wesel und Jülich herausragende niederrheinischen Städte. Das weitgehend verstädterte und zusammengewachsene Rheinische Städteband erstreckt sich von Bonn über Köln bis nach Düsseldorf; der Strom zog seit der Römerzeit Men170 171
Vgl. Steinberg, Heinz Günter: Menschen und Land in Nordrhein-Westfalen. Eine kulturgeographische Landeskunde, Köln u.a. 1994, S. 6. Allgemein sei, wenn nicht anders vermerkt, für die folgenden Ausführungen auf das Gutachten der Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe verwiesen, vgl. dies. (Hrsg.): Erhaltende Kulturlandschaftsentwicklung in Nordrhein-Westfalen. Grundlagen und Empfehlungen für die Landesplanung, Köln/Münster 2007.
C.I. Naturräumliche Grundbedingungen
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schen an und ermöglichte den Anliegern wirtschaftlichen Wohlstand und rasches Wachstum. Geographisch nicht abgrenzbar, ist die Region aufgrund der Bedeutung ihrer Städte aus dem Umland hervorzuheben, die als politische, wirtschaftliche und kulturelle Fixpunkte das Umland dominierten und in dieses ausstrahlten. Mit dem seit 1597 permanent in Bonn residierenden Kölner Kurfürsten und der Reichsstadt Köln verfügte das Städteband über zwei der bedeutendsten politischen und kulturellen Mächte des Alten Reiches, während Düsseldorf Residenzstadt des ebenfalls raummächtigen Herzogtums Jülich-Berg war. Das Rheinische Schiefergebirge umschließt Niederrhein und Rheinschiene und bildet nach Süden eine natürliche Raumgrenze. Höhenzüge, Niederschlagsmenge und unzugängliche Böden erschwerten seine wirtschaftliche Nutzung sowie den Anschluss an überregionale Verkehrsnetze und machten das Gebiet zu einer peripheren Region. Wasserreichtum, hoher Waldanteil und Rohstoffreichtum charakterisieren die südwestlich gelegene, durch Hohes Venn und Ahrgebirge eingefasste Eifel, deren Eisen-, Bleierz- und Holzvorräte die schlechte Verkehrslage relativierten und für Austauschbeziehungen mit den großen Rheinstädten sorgten; die starke Verheidung infolge von Waldabholzung und Köhlerei erschwerte ebenso wie der Grenzgebietscharakter die (land-)wirtschaftliche Nutzung des zersplitterten Eifelraums, aus dem das Monschauer, auf den Import auswärtiger Wolle angewiesene Tuch- und Textilgewerbe hervorstach. Das nordwestlich gelegene, durch seine Bodenschätze geprägte Aachener Land entwickelte sich auf der Basis von Thermalquellen zu einem frühbesiedelten Gebiet, das sich mit der Nutzung von Buntmetallen, Erzen und Steinkohle als gewerbliche Verdichtungszone aus dem Umland abhob. Die geographische Nähe zu den Niederlanden erhöhte die Absatzmöglichkeiten für die Gewerbeprodukte Eschweilers oder Stollbergs, deren Vertreib ebenso wie die der Aachener Tuche vornehmlich über die Kaiserstadt erfolgte. Das sich rechtsrheinisch zwischen Ruhr und Sieg erhebende, nach Süden ansteigende Bergische Land ist ein durch Höhenzüge und Täler gegliederter, spätbesiedelter Mittelgebirgsraum mit weitgehend geringwertigen Böden, dessen Wasserreichtum, Holzbestände, Eisenerz- und Kohlevorkommen eine frühgewerbliche Entwicklungen in den Flusstälern von Wupper oder Agger begünstigte; erschlossen wurde das kleinteilig-dezentral organisierte Land durch Handelswege wie Brüderoder Eisenstraße.172 In das Schiefergebirge fügten sich das Herzogtum Jülich-Berg und die Reichsstadt Aachen ein, Aachen, Monschau, Barmen und Elberfeld stachen politisch und wirtschaftlich hervor.
C.I.2. Westfalen Das binnenländischere Westfalen verfügte über keine dem Rhein vergleichbare Lebensader, die dem Raum eine ebenbürtige politische, wirtschaftliche oder kulturelle Bedeutung verliehen hätte. Westfälischer Bucht/Tiefland, Ostwestfälischem Bergland und Rheinischem Schiefergebirge entgingen seit der Errichtung der römischen Rheingrenze zivilisatorische Formierungsanstöße, sie lagen abseitiger von den großen Handels-, Verkehrs- und Kommunikationsnetzen, der Informations- und Innovationsströme. 172
Während die Brüderstraße Köln mit Siegen verband, war die Eisenstraße Zwischenglied der zwischen Antwerpen, Köln und Leipzig liegenden Handelsstraße.
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C. Räumliche Strukturierungsmerkmale
Westfälische Bucht und Westfälisches Tiefland sind geographisch getrennte Teile der Norddeutschen Tiefebene, zwischen die sich Teutoburger Wald und Wiehengebirge schieben und die Bucht nach Norden, das Tiefland nach Süden abschließen. Flache Gestalt und weitgehend fruchtbare Böden machten sie zu agrarisch genutzten Gebieten mit offenen Übergängen nach Westen und Norden. Das weitgehend mit der Westfälischen Bucht gleichzusetzende Münsterland ist in seinem Kern ein durch fruchtbare Lehmböden gekennzeichnetes, flussdurchzogenes und flaches Grün- und Ackerland, das durch sandigere, gleichwohl landwirtschaftlich genutzte Ausläufer ergänzt wird. Während die geographische Offenheit dem westlichen Teil enge wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen zu den Niederlanden erlaubte, war der ansonsten abseitig gelegene Raum hauptsächlich durch Münster an überregionale Handelsströme angebunden. Anteil an der Westfälischen Bucht haben die flachwelligen, äußerst fruchtbaren Hellwegbörden, deren Agrarprodukte und Salzressourcen über den alten Handelsweg überregional vertrieben wurden und der ländlichkleinstädtischen Region relativen Wohlstand bescherten; nordöstlich der Hellwegbörden schließt die sandig-unfruchtbare Senne an. Das Westfälische Tiefland verfügt entlang des Wiehengebirges und der Weser über ertragreiche, gegenüber dem sandigeren Nordwesten früher besiedelte Auen- und Ackerebenen; Ton-, Eisenerz- und Steinkohlevorkommen und deren Produkte wurden hauptsächlich über den bei Bielefeld den Teutoburger Wald überquerenden Handelspass nach Südwesten oder durch Mindener Kaufleute über die Weser vertrieben. Staatlich fügten sich im Alten Reich das Fürstbistum Münster, das Fürstbistum/Fürstentum Minden und die Grafschaft Mark in Bucht und Tiefland ein, wichtigste Städte waren Münster, Minden, Hamm und Soest. Das Ostwestfälische Bergland ist mit den Mittelgebirgszügen des Teutoburger Waldes, des Egge- und Wiehengebirges sowie des Weserberglandes in seiner Gestalt zerklüftet, die topographischen Verhältnisse erschwerten wirtschaftliche Betätigung und kulturellen Austausch. Das nordwestlich liegende Tecklenburger Land blieb auf nach Südosten hin hügeligeren, fruchtbareren Böden Übergangsraum zwischen Norddeutschem Tiefland und Mittelgebirgsraum und weitgehend ackerbaulich bestimmt, wenngleich auf der Ibbenbürener Schafbergplatte frühzeitig Bodenressourcen wie Steinkohle, Eisenerze, Sandstein oder Kalk abgebaut wurden; gleichwohl behielten selbst die Mittelpunkte Tecklenburg und Ibbenbüren ihren dörflichen Charakter. Das östlich zwischen Wiehengebirge und Teutoburger Wald gelegene Ravensberger Land ist hügelige, von Bächen durchzogene fruchtbare Agrarlandschaft, deren dichtestbesiedelte Wegachse entlang des bei Bielefeld den Teutoburger Wald überquerenden, zur Weser verlaufenden historischen Handelspass entstand; er erlaubte Bielefelder Kaufleuten den Vertrieb Ravensberger Leinenprodukte nach Dortmund und Köln und begründete die Vorrangstellung der Stadt. Südöstlich hiervon erstreckt sich über Sintfeld, Eggegebirge und Weserbergland das nach Osten hin bergigere Paderborn-Höxtener Land, in dem neben der landwirtschaftlichen Nutzung der nach Osten hin ertragsreicheren Gegend der Abbau von Eisenerzen und Kupfer Wirtschaftsfaktor war; trotz des Weserzugangs blieb die Region um die Vorderstadt Paderborn von den großen Verkehrsströmen abgehängt und entbehrte weiterer bedeutender Gewerbe- und Siedlungskerne. Staatsrechtlich hatten bis 1803 die Grafschaften Tecklenburg und Ravensberg sowie die Fürstbistümer Paderborn und Corvey Anteil, wichtigste Städte des Ostwestfälischen Berglands waren Bielefeld und Paderborn.
C.I. Naturräumliche Grundbedingungen
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Der westfälische Teil des Rheinischen Schiefergebirges mit seinen äußeren Koordinaten Ardeygebirge, Haarstrang und Rothaargebirge ist durch nach Osten hin zunehmende Höhenlagen, einen großen Waldbestand und hohe Niederschlagsmengen charakterisiert, die zahlreiche Flüsse mit Wasser speisen. Trotz ähnlicher Grundbedingungen – erschwerter landwirtschaftlicher Nutzung sowie dem Vorhandensein natürlicher Ressourcen – sind zunächst Märkisches und Kurkölnisches Sauerland voneinander zu unterscheiden. Der dichter besiedelte, an überregionale Verkehrsströme angebundene märkische Teilbereich erfuhr auf der Grundlage von Eisenerzen, Wasserkraft und Holzkohlen eine dem Bergischen Land vergleichbare frühgewerbliche Entwicklung, während der peripherer gelegene kurkölnische Teil vor allem zum östlichen Rothaargebirge von den überregionalen Verkehrsströmen abgeschnitten blieb; zwar wurde etwa auf den Briloner Hochflächen Blei abgebaut, ohne jedoch bedeutende Industriegebiete zu entwickeln. Sodann schneiden Rothaargebirge und Freudenberger Bergland das Siegen-Wittgensteiner Land nach Norden ab und erschweren ebenso wie die bis zu 70% bewaldete, durch Höhenlagen und von zahlreichen Flüssen durchzogene Lage die (land-)wirtschaftliche Raumnutzung. Während die bergbaulich erschlossenen Siegerländer Erzressourcen mithilfe der Holzvorkommen und Wasserkraft zu Eisenprodukten verarbeitet und über die Eisenstraße vertrieben wurden, erreichte der Schieferabbau des höher gelegenen, bewaldeteren und abschüssigeren Wittgensteiner Landes nur beschränkte Bedeutung. In den westfälischen Teil des Rheinischen Schiefergebirges fügten sich das Herzogtum Westfalen, das Fürstentum Siegen und die Grafschaften Mark und Wittgenstein sowie die wichtigsten Städte Hagen, Iserlohn, Arnsberg und Siegen ein.
C.I.3. Ruhrgebiet Das eindeutiger naturräumlicher Grenzen entbehrende, in seiner Gestalt disparate Ruhrgebiet hat Anteil am Niederrheinischen Tiefland, der Westfälischen Bucht und dem Rheinischen Schiefergebirge und greift über Rhein, Ruhr und Emscher bis zur Lippe aus. Während die Lössböden des südlichen Hellwegs eine ertragreiche landwirtschaftliche Nutzung und frühere Besiedlung erlaubten, waren die Flächen des nördlichen Ruhrgebiets von geringerer Qualität; dementsprechend gruppieren sich die ältesten Ruhrgebietsstädte entlang des von Duisburg über Mülheim, Essen und Bochum nach Dortmund verlaufenden, Handel, Einkommen und Kontakte verschaffenden Hellwegs. Von den frühgewerblichen Anfängen des südlichen Ruhrtals, dem Abbau bodennaher Erz- und Kohlevorkommen wanderte der Bergbau im 19. Jahrhundert nordwärts und überformte das agrarischkleingewerbliche Emschergebiet. Politisch war es im Alten Reich auf die Herzogtümer Kleve und Berg, die Herrschaften Styrum und Broich, das Vest Recklinghausen, das Kloster Werden, das Reichsstift Essen, die Grafschaft Mark, das Fürstbistum Münster sowie die Reichsstadt Dortmund aufgeteilt, Duisburg, Essen und Dortmund seine wichtigsten Städte.
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C. Räumliche Strukturierungsmerkmale
C.I.4. Lippe Das geographisch dem Niedersächsischen Bergland zuzurechnende, durch Weserbergland und Teutoburger Wald eingesäumte Lipperland verfügt neben ertragreichen Lösslehmböden im Nordwesten über Anteile an der sandigen südwestlichen Senne und ist durch bewaldete Höhenzüge gekennzeichnet. Die ungünstige Verkehrslage erschwerte seine Einbeziehung in überregionale Austauschprozesse, an die primär die an den Handelsstraßen zwischen Bremen und Frankfurter sowie Köln und Magdeburg gelegenen Städte Detmold und Lemgo partizipierten; das Lipperland ist mit der ehemaligen Grafschaft LippeDetmold gleichzusetzen.
C.II. Sprachliche Grundbedingungen In ihrer Bedeutung gleichrangig für die nordrhein-westfälische Landschaftsformierung stehen neben den räumlichen die im Frühmittelalter angelegten sprachlich-kulturellen Grundbedingungen; sie sind zwar keine naturgegebenen Strukturmerkmale, jedoch auf diese zurückbezogen und stehen mit ihrer gesellschaftskonstitutiven wie -dissoziativen Bedeutung vor aller anthropogenen Entwicklung. Flüsse oder Gebirgszüge begünstigten oder behinderten zwischenmenschliche Kontakte genauso wie politische Grenzziehungen oder wirtschaftliche Handelsbeziehungen; sie etablierten innengerichtete, nach außen abgegrenzte und in ihrem Wortschatz gemeinsame Erfahrungen spiegelnde Kommunikationsbeziehungen, entschieden über Kontakte und geteilte Welterfahrungen. Auch dieses basale Scheidungsmerkmal ist dem historischen Abriss in groben Grundzügen voranzustellen, da es den Rahmen vom 5. Jahrhundert bis in die Gegenwart spannt. Bereits das Frankenreich Chlodwigs grenzte sich nach 486 in etwa auf der Höhe der heutigen rheinisch-westfälischen Administrativlinie von den östlich lebenden Sachsen ab. Einmal etabliert, verfestigte sich diese Stammes-, Kultur- und Sprachgrenze, schied noch im 10. und 11. Jahrhundert die Herzogtümer Niederlothringen und Sachsen und überdauerte auch die im historischen NRW nach 1180 forcierte Territorialisierung.173 Politische und religiöse Obrigkeiten gaben in der Folge Kommunikationsformen vor, wirtschaftliche und kulturelle Kontakte leiteten einen im Alltagsgebrauch verfestigten Sprachwandel ein und überformten den rheinisch-westfälischen Sprachraum.174 Autochthone Idiome wurden vornehmlich in den (Residenz-) Städten durch entstehende Standardvarianten ersetzt,175 173 174
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Vgl. Leisering, Putzger Historischer Weltatlas, S. 37, 42, 74. So verwiesen die Handelsbeziehungen zunehmend auf den prosperierenden süddeutschen Raum, prägten die dort residierenden kaiserlichen Kanzleien als auch die Lutherbibel ein Schriftdeutsch, das die Grundlage für das Hochdeutsche darstellte. Um den Austausch zu erleichtern, hatte man sich an diese Formen anzupassen. Auf religiösem Gebiet ist der Einfluss der bairisch-katholischen Wittelsbacher, der niederdeutsch-calvinistischen Niederländer und des ostmitteldeutsch-lutherischen Preußens zu sehen. Vgl. hierzu Eickmans, Heinz: Zur regionalen Sprachgeschichte des nördlichen Rheinlands, in: Besch, Werner/Solms, Hans Joachim (Hrsg): Regionale Sprachgeschichte. Sonderheft der Zeitschrift für deutsche Philologie, 117. Band (1998), S. 36-49, hier: S. 43-45. Überschichtungsvorgänge lassen sich in historischen Dokumenten nachverfolgen, in denen landfremde Wortformen mit auswärtigen Kontakten Eingang in die Sprech- und Schreibsprache fanden. Solche
C.II. Sprachliche Grundbedingungen
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insbesondere gesellschaftliche Oberschichten wendeten sich vom Niederdeutschen ab und der prestigeträchtigeren oberdeutschen Variante zu, während bäuerliche Landbewohner mit dieser bis in das 19. Jahrhundert und der endgültigen Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht kaum in Berührung kamen.176 Dialektverwendung war nach 1815 Mittel, um sich den neuen preußischen Landesherrn sprachlich zu entziehen;177 deren Staatsdiener waren den einheimischen Sprachen nicht mächtig und vermittelten bereits mit ihrem ostmitteldeutschen Tonfall eine Distanz zur Bevölkerung. Die Erfahrung dialektaler Gemeinsamkeiten in der Rheinprovinz oder die im 17. Jahrhundert einsetzende, in preußischer Zeit ausgeweitete Abwertung und Unterdrückung westfälischer Dialekte – des Plattdeutschen178 – förderten ein nach innen gerichtetes Eigenbewusstsein auf dialektaler Basis. Gab es bis in das 20. Jahrhundert hinein Sprachinseln mit nur geringen Außenkontakten und Sprachanpassungen, so führten moderne Verkehrs- und Kommunikationsmittel, Flüchtlings- und Zuwanderungswellen zu Anpassungsprozessen, doch erhielten sich hierbei die autochthonen Grundstöcke.179
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Änderungen lassen sich bereits in den Akten der Düsseldorfer Schöffen im späten 14. Jahrhundert finden; aus einem niederfränkischen wurde ein ripuarischer Grundcharakter. Vgl. Elmentaler, Michael: Sprachgrenzen und Sprachschichtungen im Rheinland. Zur sprachlichen Genese des ‚Rheinischen’, in: Grimm, Gunther E./Kortländer, Bernd (Hrsg.): Rheinisch. Zum Selbstverständnis einer Region, Düsseldorf 2005, S. 117-142, hier: S. 128ff. Das Oberdeutsche ist der Großdialekt des süddeutschen Raumes. Es hat die Zweite Lautverschiebung in besonderem Maße vollzogen und wird aufgrund seiner Herkunft als Hoch(=Ober)deutsch bezeichnet. Zahlreiche Übersetzungen aus dem Hochdeutschen in die sassesche sprake verweisen auf die relative Überlegenheit des süddeutschen über den norddeutschen Raum. Vgl. Peters, Robert: Zur Sprachgeschichte des niederdeutschen Raumes, in: Besch/Solms, Regionale Sprachgeschichte, S. 108-127, hier: S. 120. Aus der Bedeutung, die die katholische Konfession am Niederrhein besaß, erfolgte die Übernahme des Deutschen schleppend; insbesondere katholische Gemeinden sahen die Verwendung des Niederländischen als einen Akt der Insubordination gegenüber den neuen-alten Landesherrn. Vgl. Mattheier, Die rheinische Sprachgeschichte und der ‚Maikäfer’, in: Nikolay-Panter, Marlene/Janssen, Wilhelm/Herborn, Wolfgang (Hrsg.): Geschichtliche Landeskunde der Rheinlande. Regionale Befunde und raumübergreifende Perspektiven, Köln/Weimar/Wien 1994, S. 534-562, hier: S. 557. Vgl. Peters, Zur Sprachgeschichte des niederdeutschen Raumes, in: Besch/Solms, Regionale Sprachgeschichte, S. 124. Der Begriff drückte eine gewisse Abwertung aus und zeigte den Prestigeverlust auf, den die Sprache und der norddeutsche Raum im Verhältnis zum süddeutschen erlitten. Plattdeutsch kann sowohl auf die niederdeutsche Wurzel, aber auch den im Vergleich zum höhergelegenen oberdeutschen Raum flacheren Landschaftscharakter und die geringere Bedeutung der hier liegenden Städte und Länder verweisen. Trotz wechselseitiger Anpassungsprozesse von Einheimischen und Zuwanderern und der Etablierung einer allgemeinverständlichen Ausgleichssprache passten sich die Neuankömmlinge stärker an die einheimischen Dialekte an. Die Heimischwerdung in neuer Umgebung erfordert ein größeres Entgegenkommen, als dies für den etablierten Langansässigen gilt. Die Übernahme sprachlicher Elemente ist eine Prestige- und Machtfrage, bei der die zumeist herablassend betrachteten, sozial schwachen Zuwanderer den kulturell als höherstehend aufgefassten Einheimischen gegenüberstehen und ihre Sprache schneller aufgeben. Mit den Flüchtlingswellen des Zweiten Weltkriegs fanden (ost-) mitteldeutsche Dialektformen Eingang in die fränkisch-sächsische Sprachwelt, doch das geringe Sozialprestige der Vertriebenen trug zur Ablehnung deren Heimatkultur und -sprache bei. Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Der Einfluss von Zuwanderung auf die deutsche Gesellschaft. Deutscher Beitrag zur Pilotforschungsstudie ‚The Impact of Immigration on Europe´s Societies’ im Rahmen des Europäischen Migrationsnetzwerks, Nürnberg 2005, S. 55f., einsehbar unter http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/EN/Migration/Publikationen/Forschung/Forschungsberic hte/fb1-einfluss-zuwanderung,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/fb1-einflusszuwanderung.pdf (13.10.2010) sowie Kift, Dagmar: Aufbau West in Nordrhein-Westfalen. Eine Indust-
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C. Räumliche Strukturierungsmerkmale
Die staatliche Zersplitterung des historischen NRWs trug zur Ausdifferenzierung der rheinisch-westfälischen Sprachlandschaft bei, doch geht diese im Kern auf eine jahrhundertealte Strukturscheide zurück; Nordrhein-Westfalen ist in zwei Dialektfamilien unterteilt, deren wichtigstes Differenzierungsmerkmal die Einheitsplurallinie zwischen fränkischen und sächsischen Dialekten ist.180 Wortgeographisch, strukturgeographisch oder durch Vokalismusuntersuchungen lässt sich eine Linie herausarbeiten, die trotz fließender Übergänge und Weiterentwicklungen in ihren Grundlagen etwa entlang der alten Siedlungsgrenze der frühmittelalterlichen Stammesgebiete – und somit der Administrativgrenze zwischen Nordrhein und Westfalen – verläuft.181 Werden im Rheinland nieder- und mittelfränkische Dialekte gesprochen, so gehören Westfalen und Lippe dialektal dem niederdeutsch-sächsischen Sprachraum an; letzter erfuhr die Zweite Lautverschiebung nicht und markiert die Unterscheidung der südlichen mitteldeutschen von den nördlichen niederdeutschen Dialekten.182 Erweitert wird diese Grobgliederung durch die Benrather und die Uerdinger Linie, die den Übergang der mittel- zu den niederdeutschen Sprachformen spie-
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riegeschichte mit Flüchtlingen und Vertriebenen, in: dies. (Hrsg.): Aufbau West. Neubeginn zwischen Vertreibung und Wirtschaftswunder, Essen 2005, S. 14f. Während die fränkischen Dialekte zwei Pluralformen im Präsens der Verben kennen (wij mak-en, jij mak-t, zij maken), existiert im (nieder-) sächsischen Dialekt eine einzige Endung (wi make-t, gi make-t, se make-t). Vgl. Ernst, Dieter: Deutsche Sprachgeschichte. Eine Einführung in die diachrone Sprachwissenschaft des Deutschen, Wien 2005, S. 78. Wortgeographisch zeigt Renate Schophaus dies anhand der Isoglossen zwischen den sächsischen Wörtern drinken, pund, harken, dorp, knoppe auf der einen und den fränkischen Wörtern drenken, pond, härken, dörp, knopp auf der anderen. Vgl. dies.: Zur Wortgeographie im niederfränkisch-niedersächsischen Grenzgebiet. Ein Vorbericht, in: Niederdeutsches Wort. Beiträge zur niederdeutschen Philologie 11 (1971), Karte 1, S. 71. Zwar zeichnet ein Isoglossenbündel in seiner Verteilung zunächst Siedlungsbewegungen, wirtschaftliche und kulturelle Zusammenhänge nach, lässt aber dennoch Mundartgrenzen nachvollziehen Strukturgeographisch beschrieb Peter Wiesinger durch die Untersuchung der Verteilung von Langvokalen und Diphtongen das (Ost-) Bergische als Teilbereich des ripuarisch-niederfränkischen Übergangsgebiet und grenzte es gleichsam vom westfälisch-sächsischen ab. Vgl. ders.: Strukturgeographische und strukturhistorische Untersuchungen zur Stellung der bergischen Mundarten zwischen Ripuarisch, Niederfränkisch und Westfälisch, in: Göschel, Joachim/Veith, Werner (Hrsg.): Neuere Forschungen in Linguistik und Philologie (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, Beiheft 13), Wiesbaden 1975, S. 17-82, insb. Karte 7, S. 82. Die Vokalismusuntersuchungen Heinrich Niebaums interessierten sich für den Teilbereich der Lautgrenzen ungerundeter palataler Längen und wies besonders von Duisburg an entlang der Verwaltungsgrenze auch strukturelle Lautunterschiede nach. Vgl. ders.: Zur niedersächsisch-niederdeutschen Dialektscheide. Ein Versuch anhand der ungerundeten palatalen Längen, in: Niederdeutsches Wort 11 (1971), S. 45-60, insb. Karte 6, S. 59. Verschoben wurden zwischen dem 6. und 8. Jahrhundert von Süden kommend Lautverwendungen, so p zu f/pf (slapen – schlafen, Peper - Pfeffer), t zu s/z (dat – das, Tiet – Zeit) und k zu ch (ik – ich). Die nicht von der Zweite Lautverschiebung erfassten nördlichen Gebiete stellen somit eine ältere Sprachform dar. Sie wird auch als maken-machen-Linie bezeichnet: Die nördlich dieser Dialektgrenze gelegenen niederfränkischen Gebiete verwenden den K-Laut in Worten wie maken, Kerk oder Lock, während die südlichen, ripuarischen machen, Kirche oder Loch sagen. Ebenso unterscheiden sich die Räume in der Verwendung von p und f bzw. t und s/z: Sagen niederfränkische Sprecher Piep, lope oder Water, so ripuarische Pief‚ lofe oder Wasser. Insgesamt ist aber von fließenden anstatt trennscharfer Übergänge zu reden, blieben im Ripuarischen und Moselfränkischen Wörter wie dat oder wat unverschoben. Vgl. Niebaum, Hermann/Macha, Jürgen: Einführung in die Dialektologie des Deutschen, 2. neubearb. Aufl., Tübingen 2006, S. 222.
C.II. Sprachliche Grundbedingungen
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geln.183 Insgesamt sind – dem LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte folgend – in Nordrhein-Westfalen acht Dialektgruppen voneinander zu unterschieden: Das Nordniederfränkisch-Kleverländische, das Südniederfränkische, das Ostbergische, das Ripuarische, das Moselfränkische, das Westfälische und das Ostfälisch-Niedersächsische;184 hinzu kommt die in Wittgenstein gesprochene hessische Dialektvariante:
Auch wenn es sich nur um Dialekte derselben Grundsprache handelt, ihnen aufgrund der verbreiteten Nutzung eines regional eingefärbten Standarddeutsches kaum noch die Bedeutung zukommt, die sie in früheren Zeiten besaßen und die nordrhein-westfälische Bevölkerung bei der Dialektverwendung im bundesdeutschen Vergleich an letzter Stelle rangiert,185 sind die Dialekte doch bis heute landschaftsbildende Elemente; Mundarten zeigen durch eine spezifische Einfärbung des Hochdeutschen die regionale Herkunft eines Sprechers unmittelbar auf und tragen zu Ein- und Abgrenzungen bei, wo sie in früheren Zeiten den wechselseitigen Austausch noch stark einschränkten und kulturlandschaftliche Eigenentwicklungen begleiteten. 183
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Vgl. allgemein zu den beiden Linien und ihren Unterscheidungsmerkmalen: LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte: Dialekte im Rheinland, einsehbar unter http://www.rheinische-landeskunde.lvr.de/sprache/sprachen/dialekte.htm (20.9.2011). Vgl. Von der Mundart zum Regiolekt, Hörfunkbeitrag des Sprachforschers Georg Cornelissen auf WDR 2 vom 2.12.2002, abrufbar unter http://www.wdr.de/themen/politik/nrw02/60_jahre_nrw/nrw_60/infobox/html.php?block=2&artnr= 8&blockoff=1 (24.9.2009). Die obige Kartennutzung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des LVR-Instituts für Landeskunde und Regionalgeschichte, dem ehemaligen Amt für rheinische Landeskunde Bonn. Hierbei handelt es sich um grob gezeichnete Unterscheidungen; in der Regel ist von Übergangsräumen auszugehen, anstatt scharfe Grenzen ziehen zu können. Auch sollen die großen Dialekträume nicht auf ihre ortsspezifischen Varianten hin untersucht werden. Das Hochdeutsche hat die verschiedenen Dialekte allein schon durch die allgemeine Schulpflicht weitgehend überwölbt, so dass eher von regionalen Varianten der Standardsprache auszugehen ist. Während es im Standardeutschen Es bleibt heute nichts über und im Dialekt Et blief hück nix övver heißt, nimmt die rheinische Variante Et bleibt heute nix übber eine Mittelstellung ein. Vgl. Cornelissen, Georg: Rheinisches Deutsch. Wer spricht wie mit wem und warum, Köln 2005, S. 19f. Die Aussage „Ich spreche eigentlich immer Dialekt“ bejahten in NRW lediglich 10%, während in Bayern 45% der Befragten zustimmten, vgl. Institut für Demoskopie Allensbach: allensbacher berichte 4 (2008), S. 5, einsehbar unter http://www.ifd-allensbach.de/pdf/prd_0804.pdf (30.9.2010).
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C. Räumliche Strukturierungsmerkmale
C.II.1. Rheinland Die Sprachentwicklung des frühbesiedelten, offenen Vorzugsraums und seiner Einwohner war insbesondere entlang des Rheins durch wirtschaftliche und kulturelle Außenkontakte beeinflusst; er wurde Übergangsgebiet, in dem sich – nach Norden abnehmend – sowohl nieder-, mittel- als auch oberdeutsche Sprachformen ausbreiteten.186 Vor allem die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zentren Bonn, Köln und Düsseldorf sowie ihre erzbischöflichen, städtischen oder herzoglichen Kanzleien übernahmen infolge enger Kontakte nach Mittel- und Oberdeutschland, personeller Verbundenheit Kurkölns und des Herzogtums Jülich-Berg mit den bayerischen Wittelsbachern sowie wirtschaftlicher Beziehungen dortige Sprachentwicklungen und verbreiterten sie über Beamte, Dekrete und Handelskontakte sprachnormierend in der weiteren Umgebung.187 Als Resultat setzte sich die hochdeutsche Schriftsprache im Rheinland früher durch als in Westfalen oder Lippe.188 Die rheinische Dialektlandschaft besitzt mit dem rheinischen Fächer eine größere Bandbreite als die westfälische.189 Den Mundarten liegt zwar eine fränkische Dialektstruktur zugrunde, aus der sich jedoch aufgrund regionaler Sonderbedingungen verschiedene Formen entwickelten; es gibt nicht den rheinischen Dialekt, sondern rheinische Dialekte mit gemeinsamer fränkischer Wurzel, die sie von Westfalen abhebt.190 Der Sprachraum erhält seine Struktur durch die auf die Zweite Lautverschiebung zurückgehende, von Aachen über Düsseldorf-Benrath nach Olpe verlaufende Benrather Linie, die niederfränkische Sprachformen und ripuarischen Dialekt voneinander abgrenzt. Das Niederfränkische – das deutliche Nähen zum Niederländischen aufweist191 – ist in sich durch die zwischen Viersen, KrefeldUerdingen, Mülheim-Mintard, Wuppertal-Elberfeld, Wipperfürth und Gummersbach 186
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So verwendet man im ripuarischen Sprachraum häufiger ein süddeutsch anmutendes nitt, während sich nach Norden hin nich stärker behauptet. Auch fällt das d bei bestimmten Artikeln (aufde-aufe Kirmes, hastehasse) nach Norden hin weg oder wird bei Ortsbestimmungen anstatt des norddeutschumgangssprachlichen nach eher das süddeutsch beeinflusste zum verwendet. Vgl. Cornelissen, Rheinisches Deutsch, S. 94f, 109. Von Bedeutung waren die lutherische Bibelübersetzung, der kaiserliche Hof, der seit 1438 fast durchgängig in Habsburger Hand und somit im oberdeutschen Raum lag sowie die wittelsbachische Sekundogenitur in Kurköln seit 1583. Vgl. hierzu auch Mattheier, Die rheinische Sprachgeschichte und der ‚Maikäfer’, in: Nikolay-Panter et. al., Geschichtliche Landeskunde der Rheinlande, S. 543. So fanden sich nach der Einrichtung der wittelsbachischen Sekundogenituren in den Akten der kurkölnischen oder fürstbischöflich-münsterschen Kanzleien vermehrt bairische ‚jh’- oder ‚ai’-Laute, aber auch Synkopierungen in Lexemen wie in ‚gnug’ als in denen der Reichsstadt Köln oder anderen Umlandgemeinden. Vgl. Macha, Jürgen: Schreivariation und ihr regional-kultureller Hintergrund: Rheinland und Westfalen im 17. Jahrhundert, in: Besch/Solms, Regionale Sprachgeschichte, S. 50-66, hier: S. 62ff. Der auch in der obigen Grafik ersichtliche rheinische Fächer ist ein System gedachter Linien, die die verschiedenen Subdialekte des Rheinlands voneinander separiert und nach Osten hin fächerartig zusammenläuft. Behandelt werden an dieser Stelle allerdings nur die für Nordrhein-Westfalen bedeutenden Linien. Vgl. LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte: Rheinischer Fächer, einsehbar unter http://www.rheinische-landeskunde.lvr.de/sprache/tonarchiv/dialektaufnahmen/3fc624aa-f767-4094bfe3-87164e7689cd.htm (20.9.2011). Vgl. Elmentaler, Sprachgrenzen und Sprachschichtungen im Rheinland, in: Grimm/Kortländer, Rheinisch, S. 125f. Vgl. Cornelissen, Georg: Niederrheinische Sprachgeschichte von 1700 bis 1900, in: Macha, Jürgen/Neuss, Elmar/Peters, Robert (Hrsg): Rheinisch-Westfälische Sprachgeschichte, Köln u.a. 2000, S. 277-292.
C.II. Sprachliche Grundbedingungen
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verlaufende Uerdinger Linie in das Nordniederfränkisch-Kleverländische192, das Südniederfränkische193 und das zwischen Mülheim, Remscheid-Lennep und Gummersbach gesprochene Ostbergische194 gespalten. Das Ripuarische gehört seinerseits bereits dem mittelfränkischen Dialektraum an;195 vor allem die Kölner Mundart wurde ab dem späten 16. Jahrhundert von der oberdeutschen Schriftsprache der bayerischen Erzbischöfe überlagert und nahm süddeutsche Merkmale auf, die mit dem Einflussbereich des Kurfürstentums weitere Verbreitung erlangten.196
C.II.2. Westfalen Sprachlich weißt das dem niederdeutsch-sächsischen Sprachraum zugehörige Westfalen eine größere Homogenität auf als das Rheinland. Trotz des binnendifferenzierenden Einflusses topographischer Hindernisse, unterschiedlicher Kirchenzugehörigkeiten oder politischer Territorialisierung197 erhielt sich mit dem Westfälischen ein einheitliches Dialektgebiet, das in hohem Maße mit dem heutigen Landesteil kongruiert; der Sprachraum ist – bis 192
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Das Kleverländische weißt eine große sprachliche Nähe zum benachbarten Niederländischen, besondere Worte (Look – Zwiebel, Pogg – Schwein) sowie die fehlende Diphtongierung des I (Iss – brabantisch Ies – Eis) auf. Vgl. Cajot, José: Zwischen Brabant und Westfalen: Kleverländisch?, in: ders./Kremer, Ludger/Niebaum, Hermann (Hrsg..): Lingua Theodisca. Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft, Münster/Hamburg 1995, S. 405-417. Das Südniederfränkische ist als Übergangsgebiet zu kennzeichnen, das sowohl niederdeutsche als auch mitteldeutsche Elemente aufweist. Vom Ripuarischen trennt es sich durch die Verwendung von maken, vom Kleverländischen jedoch durch ich/ech, während nördlich der Uerdinger Linie ek gebraucht wird, wobei diese Trennung nicht auf die Zweite Lautverschiebung zurückzuführen ist. Vgl. Goossens, Jan: Die Gliederung des Südniederfränkischen, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 30 (1965), S. 79-94. Hier findet z.B. anders als im Südniederfränkischen ek Verwendung. Die topographischen Gegebenheiten des Bergischen Landes, seine zerklüftete Struktur trugen zur Ausbildung einer variantenreichen Nutzung bei, die in ihren Einzelheiten keine Vertiefung erhalten können. Vgl. allgemein zur bergischen Dialektvielfalt bereits Wenker, Georg: Das rheinische Platt. Den Lehrern des Rheinlandes gewidmet, Düsseldorf 1877, S. 10f. Ripuarisch ist von lat. ripa, Ufer, abgeleitet. Ripuarier waren in spätrömischer Zeit an Rheins, oberer Maas, niederer Sieg sowie an Ahr, Erft und Rur siedelnde germanische Franken, die im 5. Jahrhundert Köln eroberten. Zeitgenössische Dokumente wie das Oeckmüllendorfer hundschaftsbaurgerichtsnachbarbuch aus anno 1581 bis ins Jahr 1710 aufs neue abgeschrieben, eine gemeinderechtlichen Handschrift, zeichnen sich durch die dVerhärtung (trenge, betrengt) oder das nus-Suffix (begräbnus, ärgermus) aus; auch erzbischöfliche Kanzleischriften weisen Ähnlichkeiten zum Bairischen auf. Vgl. Elspaß, Stephan: Rheinische Sprachgeschichte von 1700 bis 1900, in: Macha et. al., Rheinisch-Westfälische Sprachgeschichte, S. 247—276, hier: S. 253. Die süddeutschen Merkmale äußern sich in der Aussprache. Der schriftsprachliche Zug wird in Norddeutschland Zuch, im ripuarischen sowohl Zuuch als auch Zuck, in Süddeutschland eher Zuuk ausgesprochen. Auch in den Verkleinerungsformen –l oder –chen bzw. –ken besteht eine größere Nähe des Ripuarischen nach Süden. Vgl. Cornelissen, Rheinisches Deutsch, S. 81, 83. Das Weserbergland erhielt verstärkte Einflüsse aus dem hessischen, ostfälischen und norddeutschen Raum und trennte sich in der Entwicklung teilweise vom Kernmünsterland. Das Westmünsterland weißt durch seine landschaftliche Offenheit nach Westen eine deutliche Nähe zum Niederländischen auf. Während das Münsterland dem Kölner Erzbistum unterstand, gehört Paderborn zu Mainz und kam stärker mit oberdeutschen Sprachformen in Kontakt; die protestantischen Gebiete waren entweder stärker in die reformierten Niederlande oder das lutherische Brandenburg-Preußen und an den jeweiligen Sprachformen orientiert. Sprachnormierend wirkten sowohl oberdeutsche Wittelsbacher als auch ostmitteldeutsche Preußen. Vgl. hierzu auch die weiteren historischen Ausführungen.
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auf das Westmünsterland – durch die Isoglosse der westfälischen Brechung eingefasst.198 Zwar ist das Westfälische entlang bestimmter lautlicher Erscheinungen in das Westmünsterländische, das Münsterländische, das Ostwestfälische und das Südwestfälische untergliedert,199 doch verschafft der Brechungsdiphtong dem Dialekt eine einheitliche Besonderheit, die ihn innengerichtet ebenso aus der niederdeutschen Sprachfamilie heraushebt wie die verspätete Übernahme hochdeutscher Varianten;200 altertümliche Relikte blieben im Westfälischen länger erhalten,201 es besitzt einen größeren Abstand zur heutigen Standardsprache.202 Zwar strahlte diese aus den Hauptstädten Münster, Paderborn oder Arnsberg, aus der Handelsstadt Köln und durch das in Personalunionen mit Westfalen verbundene Kurköln in die westfälische Landschaft aus, doch verhinderten die geringere Bedeutung hiesiger Residenzstädte, reduzierte wirtschaftliche Kontakte nach Oberdeutschland, der allgemein ländlichere Charakter und die geringe Anzahl an überregional bedeutenden Zentren ihre rasche Ausbreitung. Deutlich wird bereits in der binnenwestfälischen Vierteilung der Zusammenhang von Verkehrsbeziehungen, geographischen Gegebenheiten und sprachlichen Unterscheidungen; stärker noch kommt dies mit den von Nordosten nach Westfalen hineinragenden ostfälischen und nordniederdeutschen Idiomen203 sowie dem administrativ an Westfalen ange198
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Die westfälische Brechung meint die Besonderheit der Brechungsdiphtonge. Diphtongiert und damit länger sind die Kurzvokale in offenen, auf Vokalen endenden Stammsilben, der Kurz- wird durch einen Nebenvokal ergänzt. Während im sonstigen niederdeutschen Sprachraum eine stärkere Angleichung der Kurz- und Nebenvokale stattfand, erhielt das Westfälische die Brechung. Finden sich allgemein im Niederdeutschen die Begriffe Bäke, Beek, Beeke für Bach, so heißt es im Westfälischen Bieke; für gebrochen findet sich im Westfälischen broake’, während das Niederdeutsche brokken oder braoken kennt. Vgl. hierzu Taubken, Hans: Niederdeutsche Sprache – westfälische Mundarten, abrufbar unter http://www.lwl.org/LWL/Kultur/Westfalen_Regional/Gebiet_Identitaet/Identitaet/Mundarten/ (24.9.2010) sowie zur Wahrnehmung der Brechung Niebaum, Hermann: Westfälische Sprachgeschichte von 1620-1850, in: Macha et. al., Rheinisch-Westfälische Sprachgeschichte, S. 225-246, hier: S. 239f. Vgl. hierzu die Karte Mundartregionen Westfalen, hrsg. v. der Geographischen Kommission für Westfalen des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, einsehbar unter http://www.lwl.org/komuna/pdf/mundartregionen_westfalens.pdf (15.10.2010). Erhalten blieben Sonderformen wie die Akkusativform -t im Dativ (upt feld – auf dem Feld). Vgl. Goossens, Jan: Sprache, in: Kohl, Wilhelm (Hrsg.): Westfälische Geschichte in drei Textbänden. Band 1: Von den Anfängen bis zum Ende des Alten Reiches, Düsseldorf 1983, S. 56-80, hier: S. 69f. Gegenüber dem Ostfälischen und dem Nordniedersächsischen bewahrte das Westfälische sieben der ursprünglich neun (a, ae, ä, e, i, u, ü, o, ü) Kurzvokale vor losem Anschluss, die heutigen westfälischen Brechungsdiphtonge. Beispiele für die bestehen gebliebenen sieben Kurzvokale sind maken, eaten, wieten, Fuegel, Süene, koaken und Höawe. Auch das inlautende –sk wurde gegenüber dem hochdeutschen -sch beibehalten, es heißt im Westfälischen bis heute wasken oder Büske. Vgl. Niebaum, Hermann: Geschichte und Gliederung der sprachlichen Systeme in Westfalen, in: Petri, Franz/Schöller, Peter/Hartlieb von Wallthor (Hrsg): Der Raum Westfalen. Band VI, 1: Fortschritte der Forschung und Schlussbilanz, Münster 1989, S. 5-31, hier: S. 27f. Lautsprachlich kennzeichnet das westfälische Deutsch eine andere Verteilung von Lang- und Kurzvokalen (Músik), ein spiratisches G (Zuch), die Vokalisierung des R (waaten), fehlende Affrikanten (Fanne) oder Sekundärdiphtonge (geärne) aus. Auch in grammatikalischen Satzmustern zeigen sich Anpassungen an das Hochdeutsche: Hieß es ursprünglich Gao sitten, so veränderte sich der Terminus mit zunehmender Ausbreitung des Hochdeutschen zu Sett di. Vgl. hierzu Kremer, Ludger: Westfälische Sprachgeschichte von 1850 bis zur Gegenwart, in: Macha et. al., Rheinisch-Westfälische Sprachgeschichte, S. 311-335, hier: S. 327, 329. Vgl. Foerste, William: Geschichte der niederdeutschen Mundarten, in: Stammler, Wolfgang (Hrsg.):Deutsche Philologie im Aufriß, 2. überarb. Aufl., Bd. 1, Berlin 1957, Sp. 1729-1898, hier: Sp. 1830ff. Neben der fehlenden Diphtongierung sowie dem Zusammenfall des altlang-velaren und dem
C.II. Sprachliche Grundbedingungen
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gliederten Siegen-Wittgenstein zum Vorschein, das als Teil des Rheinischen Fächers sprachstrukturell außerhalb der westfälischen Brechung steht. Die Eifelbarriere trennt etwa entlang der Landesgrenze zu Rheinland-Pfalz das Ripuarische von dem im Siegerland gesprochenen Moselfränkischen,204 der hier gesprochene Dialekt ist eine mitteldeutsche Sonderform, in der sich die Zweite Lautverschiebung nur zum Teil durchsetzte;205 das durch die Hunsrück-Schranke vom benachbarten Siegerländischen getrennte Hessische ist rheinfränkischer Dialekt des Wittgensteiner Landes, der die Zweite Lautverschiebung ebenfalls nur teilweise erfuhr.206
C.II.3. Ruhrgebiet Das Ruhrdeutsche ist kein eigener Dialekt, sondern Teil der rheinisch-westfälischen Sprachlandschaft. In seiner Gesamtheit dem niederdeutschen Raum zugehörig, werden im westlichen Ruhrgebiet (nieder-)fränkische, im östlichen (nieder-)sächsische Dialekte gesprochen; Grenzgebietscharakter und territoriale Zersplitterung förderten die dialektale Ausdifferenzierung auf engem Radius.207 Auch sprachlich hob sich das Ruhrgebiet mit der Industrialisierung von seinem rheinisch-westfälischen Umland ab, ohne die fränkisch-sächsischen Wurzeln zu kappen. Die Montanbetriebe zogen Arbeitskräfte aus dem historischen Nordrhein-Westfalen, aus Mittel- und Ostdeutschland oder Österreich an, deren Verständigung in Betrieb und Alltagsleben die Ausbildung einer die verschiedenen Elemente integrierenden, kommunikationserleichternden mündlichen Verkehrsform erforderte; aus diesem Prozess ging mit dem Ruhrdeutschen eine charakteristische Neukonstruktion hervor.208 Den größten Einfluss auf
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tonlang-palatalen a zeichnen sich beide Dialekte durch die fehlende westfälische Hiattilgung aus. Ein Hiat entsteht, wenn in zwei aufeinanderfolgenden Silben der letzte Laut der ersten und der erste Laut der zweiten Silbe ein Vokal sind und durch die Einschiebung eines Konsonanten getrennt werden. So findet sich im Westfälischen etwa schreggen für schreien. Diese wird auch als Dorp-Dorf-Linie bezeichnet. Die Verschiebung von p zu pf wird im Moselfränkischen in postliquider Stellung (nach rund l) durchgeführt, dann zu f assimiliert (dorp - dorpf - dorf ). Vgl. Institut für Deutsche Literatur und ihre Didaktik der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt: Mittelhochdeutsche Kurzgrammatik, einsehbar unter http://www.uni-frankfurt.de/fb/fb10/IDLD/ADL/data/Kurzgrammatik.pdf, S. 10 (14.10.2010). Die p – f/pf- bzw. t – s/z-Verschiebung hat nur zum Teil stattgefunden (Appel - Abbel, slapen - schloafe) statt das wird dat verwendet. Die k-ch-Verschiebung hingegen hat stattgefunden, ech wird anstelle von ek gebraucht. Vgl. allg. Heinzerling, Jakob/Reuter, Hermann: Siegerländer Wörterbuch, Siegen 1968. Diese gilt auch als dat-das-Linie. Während im Siegerland dat gesagt wird, findet sich in Wittgenstein das. Vgl. Geuenich, Dieter: Soziokulturelle Voraussetzungen, Sprachraum und Diagliederung des Althochdeutschen, in: Besch, Werner/Betten, Anne/Reichmann, Oskar/Sonderegger, Stefan (Hrsg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, Bd. 2, Berlin/New York 2000, S. 1144-1154, hier: S. 1151f. Vgl. Mihm, Arend: Dialekte in der Industriezone. Untersuchungen zum Sprachgebrauch im Duisburger Stadtgebiet, in: Gesellschaft der Freunde der Niederrheinischen Universität Duisburg (Hrsg.): Universität Duisburg, Jahrbuch 1982/83, Duisburg 1984, S. 32 – 50, hier: S. 39. Vgl. Menge, Heinz H.: War das Ruhrgebiet auch sprachgeschichtlich ein Schmelztiegel?, in: Mihm, Arend (Hrsg.): Sprache an Rhein und Ruhr. Dialektologische und soziolinguistische Studien zur sprachlichen Situation im Rhein-Ruhr-Gebiet und ihrer Geschichte, Stuttgart 1985, S. 149-162, hier: S. 153f. Als Charakteristika des Ruhrdeutschen wurde bereits in den 1930er Jahren die Nichtbeherrschung der RAussprache festgehalten. Anstatt ein uvulares, rachenbetontes R zu sprechen, war das apikale, Zungenspit-
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C. Räumliche Strukturierungsmerkmale
dessen Ausbildung nahmen die niederfränkisch-niedersächsischen Dialektwurzeln,209 an die sich auch nicht-deutsche Sprachgemeinschaften wie die polnischstämmigen Preußen anpassten; sie erlernten das Deutsche situativ, übernahmen Elemente der vorherrschenden Muster im Spracherwerbsprozess und gaben diese in der Erziehung weiter.210 Begriffe und Ausdrucksformen flossen nicht allein aus der Arbeitswelt, sondern auch aus dem Polnischen in die gemeinsame Verständigungssprache ein, Wortschatz und Grammatik spiegelten aus der Regionalgeschichte abzuleitende Eigentümlichkeiten, die das Ruhrdeutsche zu einem Idiom eigener Art machten.211 Die Umgangsvariante überformte die einheimischen Mundarten, erhielt jedoch deren maßgebliche Ausdrucks- und Sprachformen.212
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zen-R die ursprüngliche Dialektvariante im Ruhrgebiet. Im Übergang zum Hochdeutschen wurde dieses Ruhrgebiets-R vokalisiert, werden kurze Vokale durch ausgefallenes R in die Länge gezogen. So hört man im Ruhrgebiet waaten anstatt warten, wenngleich diese Verwendung nicht auf das Ruhrgebiet begrenzt ist, sondern in einem Großteil Norddeutschlands anzutreffen ist. Vgl. Menge, Heinz H.: Sprachgeschichte des Ruhrgebiets, in: Macha et. al, Rheinisch-Westfälische Sprachgeschichte, S. 337-347, hier: S. 342f. Weitere Stilelemente sind das spirantisierte -g im Auslaut (kricht statt kriegt) eine Okklusion des J (getzt), das unreflektierte attributive Adjektiv (mit sein Kind), das Einfügen eines Fugen-s bei Diminutiven, Kompositionen und Kontraktionen: (Stöcksken), die Kontraktion von Präposition und Konjunktion sowie bestimmtem und unbestimmtem Artikel (an-e, mit-m) oder Possessivkonstruktionen mit Akkusativus possesoris, teilweise mit Präpositionalkonstruktion mit von und Akkusativ (den seinen Stock, ihm sein Stöckchen). Vgl. hierzu: Becker, Anne Katrin: „Ruhrdeutsch“. Die Sprache des Ruhrgebiets in einer umfassenden Analyse (Diss. Freiburg 2002), S. 395ff., abrufbar unter http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/703/pdf/diss_aktuell_ohne.pdf (4.10.2010), S. 395ff. Konstruktionen wie am laufen (am laopen), die einheitliche Dativ-Akkusativverwendung (mej/mej statt mir/mich) das Verkleinerungssuffix -ken oder das Festhalten am -t im Auslaut (dat) finden sich auch im Niederdeutschen. Vgl. Menge, Heinz H.: Regionalsprache Ruhr: Grammatische Variation ist niederdeutsches Substrat. Eine forschungsleitende Hypothese, in: Mihm, Sprache an Rhein und Ruhr, S. 194 – 200, hier: S. 198, 200. Vor allem die Kontrastnivellierung, die die Distanz zwischen Dialekt und Standardsprache überwindet, indem Elemente aus der nieder- in die hochdeutsche Form übernommen werden (sej segge die Kender guje Nach - sie sagen den Kindern gute Nacht - sie sagen die Kinder gute Nacht), erweist sich als häufige Ursprungsform grammatikalischer Besonderheiten und Kasusunsicherheiten des Ruhrdeutschen. Vgl hierzu Mihm, Arend: Zur Entstehung neuer Sprachvarietäten. Ruhrdeutscher Kasusgebrauch und seine Erklärung, in: ders., Sprache an Rhein und Ruhr., S. 245 – 276, hier: S. 247ff. Vgl. ebd., S. 272. Immer wieder gehörtes Beispiel ist der Mottek, der Hammer. Vgl. hierzu Kellermeier, Birte: Gibt es in Duisburg auch (noch) eine Sprachbarriere?, in: Stellmacher, Dieter (Hrsg.): Dialektologie zwischen Tradition und Neuansätzen. Beiträge der Internationalen Dialektologentagung, Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, Beiheft 109 (2000), S. 126-135, hier: S. 130. Ausdrücke wie Kumpel oder Schicht im Schacht verweisen auf den Bergbau und wurden aus den Gruben in Familien und Freizeitaktivitäten befördert. Eine frühe Quelle für den Kumpel findet sich in einem Brief von 1908, in dem der Kohlenhauer Max Lotz aus Gladbeck schreibt, Cumpel sei ein „üblicher Ausdruck für Kamerad, wohl eine Ableitung von dem Wort Cumpan.“ Vgl. Levenstein, Adolf (Hrsg.): Aus der Tiefe. Arbeiterbriefe. Beiträge zur Seelenanalyse moderner Arbeiter, Berlin 1909, S. 29. Vgl. Thies, Udo: Die gesprochene Sprache im Ruhrgebiet – Eine ‚Monovarietät’? Korpus- und Analysebeschreibung des Bochumer Projekts, in: Mihm, Sprache an Rhein und Ruhr, S. 107-148, hier: S. 117.
C.III. Landschaftliche Bedingungsmuster
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C.II.4. Lippe Staatsrechtliche Unabhängigkeit, territoriale Abgeschiedenheit, geringe wirtschaftliche Außenkontakte sowie die eigene Landeskirche beeinflussten zwar den lippischen Sprachkosmos, doch blieb das Lippische stets Teil des allgemeinen westfälischen Dialektraums.213 Größtes Unterscheidungsmerkmal ist das Fehlen der westfälischen Brechung, als Teil des Ostwestfälischen wurde es stärker über die Weser von sprachlichen Neuerungen erfasst, die sich nicht über den Teutoburger Wald nach Kernwestfalen fortsetzten;214 zahlreiche andere Isoglossen gliedern das Lippische dennoch grundlegend dem Westfälischen an.215
C.III. Landschaftliche Bedingungsmuster Die räumlichen Strukturierungsmerkmale Natur und Sprache lieferten die Ausgangsverhältnisse für die landschaftliche Ausdifferenzierung des historischen NordrheinWestfalens. Sie lieferten begünstigende wie restringierende Basisphänomene menschlicher Sinnkonstrukte, stifteten Zusammenhänge oder fundierten Disparitäten und bestimmten die heutige Binnengliederung des Landes mit. Während Westfalen und Lippe zumindest sprachlich relative Homogenität aufwiesen, waren Rheinland und Ruhrgebiet bereits in diesen der geschichtlichen Entwicklung vorausliegenden Bedingungsmustern deutlich gespalten. Die historischen Tiefenbohrungen greifen diese Befunde auf, erschließen vor ihrem Hintergrund den weiteren landschaftlichen Formierungsprozess und sein Hineinragen in die Gegenwart.
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Vgl. allgemein die Karte Mundartregionen Westfalen der Geographischen Kommission für Westfalen, ebd. Vgl. Foerste, Geschichte der niederdeutschen Mundarten, in: Stammler, Deutsche Philologie im Aufriß, Sp. 1843–1847. Das allgemeine Wort für Hund, Rüe, die Hiattilgung sowie die Unterscheidung zwischen altlangem velaren a und tonlangem palatalen a schließt den lippischen in den westfälischen Sprachraum ein. Im Westfälischen tendiert das altlange a zu einem ao/o-Laut (Schop –Schaf), das tonlange a wird lang gesprochen (Water), es werden also zwei Formen unterschieden, was sich im übrigen niederdeutschen Sprachgebiet nicht findet. Vgl. Niebaum, Hermann: Geschichte und Gliederung der sprachlichen Systeme in Westfalen, in: Petri et. al, Der Raum Westfalen VI, 1 S. 5–31, insb. S. 26–28.
D. Das historische Nordrhein-Westfalen – Altes Reich Nach den Weichenstellungen des ersten Jahrtausends bildete die Zeit des Alten Reiches die historische Tiefenschicht, deren politische, religiös-kulturelle, wirtschaftliche und gesellschaftliche Traditionslinien die rheinisch-westfälische Landschaftsentwicklung maßgeblich bestimmten. Staatliche Rahmensetzungen, obrigkeitliche Gesetzgebungen, kirchlichalltägliche Wertekanons und sozioökonomische Alltagsverhältnisse waren Genesefaktoren, die im Zusammenspiel mit den räumlichen Strukturierungsmerkmalen differenzierte Entwicklungspfade beförderten. Als täglich erfahrbare Lebensbedingungen standen sie in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis, waren Ordnungsmaximen und lieferten Denk- und Handelskorridore, deren Grundströmungen Rheinland, Westfalen, Lippe und Ruhrgebiet sowie ihre Subeinheiten in Absetzung voneinander prägten.216 Nicht die Staaten an sich, sondern die jeweiligen landschaftlichen Faktorenbündel lieferten Bausteine für nachwirkende Identitäten und Orientierungen; die hier angelegten Prägungsstränge bilden das Fundament des heutigen Nordrhein-Westfalens und ragen in abgeschwächter Form in dieses hinein.
D.I. Schlaglichter der Landschaftsentwicklung D.I.1. Staaten und Politik Historische Landkarten manifestieren den territorialen Flickenteppich, der sich nach 1180 über das historische Nordrhein-Westfalens legte. Mit dem Reichstag von Gelnhausen wurde Heinrich dem Löwen das Herzogtum Sachsen entzogen und in seinen westlich-westfälischen Teilen dem Kölner Erzbischof Philipp von Heinsberg unterstellt.217 Der folgende Ausbau der Machtposition Kurkölns im deutschen Westen wurde – unter Beteiligung einer rheinischwestfälischen Adelskoalition – mit der Schlacht von Worringen 1288 gebremst und die bereits zuvor begonnene Territorialisierung endgültig freigesetzt. Spätestens nach der Soester Fehde, mit der das Kölner Kurfürstentum 1444/49 die Kontrolle über Soest und Xanten einbüßte, stand die Raumgliederung fest, die dem historischen NRW bis 1803 sein Gepräge gab.218 216
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Der Einfachheit halber verwende ich die heutigen Termini, um Verständnis und Nachvollziehbarkeit zu erhöhen; gemeint sind die historischen Gebiete, die zusammengefasst die gegenwärtigen Landschaften umfassen. In der Gelnhäuser Urkunde hieß es: „Friedrich (I. Barbarossa A.W.) beurkundet, er habe das Herzogtum WestfalenEngern (Sachsen), das ihm infolge der Verurteilung des ehemaligen Herzogs Heinrich ebenso wie Bayern und die anderen Reichslehen des Löwen zugefallen war, aufgrund eines Spruches der Fürsten mit Zustimmung des Herzogs Bernhard geteilt, den im Bereich der Bistümer Köln und Paderborn gelegenen Teil der Kölner Kirche geschenkt und ihm dem Erzbischof Philipp zu Lehen gegeben.“ Vgl. Monumenta Germaniae Historica. Die Urkunden Friedrichs I., hrsg. v. Heinrich Appelt, Bd. 10,3: 1168-1180, Hannover 1985, Nr.795, S. 360. Der Kölner Erzbischof regierte fortan über das später so bezeichnete Herzogtum Westfalen. Die auf der folgenden Seite abgebildete historisierte Landkarte der Territorien auf dem Gebiet des heutigen Nordrhein-Westfalens vor 1800 ist entnommen Ribhegge, Wilhelm: Preußen im Westen. Kampf
D.I. Schlaglichter der Landschaftsentwicklung
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Ohne die Strukturen formell zu verändern, erfolgten um das Jahr 1600 markante Einschnitte in die Landschaftsentwicklung: Mit Ernst von Bayern wurde 1583 der erste Wittelsbacher zum Kölner Kurfürsten gewählt, der Vertrag von Xanten beendete 1614 den JülichKlevischen Erbfolgestreit und machte mit dem Hohenzollern Johann Sigismund von Brandenburg sowie dem Wittelsbacher Wolfgang Wilhelm von Pfalz-Neuburg zwei weitere ausländische Dynasten zu Landesherrschern, die dem Raum für die nächsten 200 Jahre neue Impulse gaben: Während die Wittelsbacher süddeutsch-barocke Lebensart, Sinnlichkeit und Frömmigkeit zunächst ins Rheinland – sie residierten in Bonn und Düsseldorf – und über Personalunionen nur mittelbar nach Westfalen einbrachten,219 gingen von der preußischen Staatsspitze vornehmlich calvinistisch-reformierte und pietistische Anstöße aus.220 Charakteristischstes Unterscheidungsmerkmal innerhalb der Staatenlandschaft war das weltimmanent-rationaler und überweltlich-geistiger Herrschaftsformen.221 Diesseitsorien-
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um den Parlamentarismus in Rheinland und Westfalen 1789-1947, Münster 2008, S. 827. Nutzung mit freundlicher Genehmigung des Aschendorff-Verlags Münster. Vgl. hierzu auch die weiteren Ausführungen. Vgl. Engelbrecht, Jörg: Landesgeschichte Nordrhein-Westfalen, Stuttgart 1994, S. 158 sowie Hartlieb von Wallthor, Alfred: Das Verhalten der Westfalen in den geistigen Umwälzungen der Neuzeit bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts., in: Der Raum Westfalen. Band IV, 1: Wesenszüge seiner Kultur, Münster 1958, S. 297-390, hier: S. 334. Insbesondere Kurfürst Friedrich Wilhelm förderte ab 1640 die Einstellung reformierter Staatsbeamter und späthumanistisch-neostoisches, sein Enkel Friedrich I. pietistisches Staats- und Rechtsdenken. Friedrich Wilhelm verbrachte vier entscheidende Jahre in den Niederlanden und wurde zwischen 1634 und 1638 stark von jenen Werten beeinflusst. Im seinem Staats- und Rechtsdenken spielten Machtstaatspolitik, rationale Verwaltung, die Erhabenheit des Gesetzes, Selbstdisziplin, der Pflichtgedanke und Nüchternheit eine große Rolle, die später als allgemeine preußische Charakteristika galten. Vgl. Clark, Christopher: Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600-1947, Bonn 2007, S. 62. Vgl. hierzu auch die weiteren Ausführungen. Unterschieden werden Staaten, die einen gewählten (katholischen) Fürstbischof an der Spitze hatten von solchen, die dynastischen Erbfolgen ihren Aufstieg verdankten, wobei die Jenseitsorientierung selbstverständlich auch für die weltimmanent orientierten Staaten oberstes Ziel war. Notwendigerweise müssen hier Einschränkungen getroffen werden. Je nach Landesteil werden in unterschiedlichem Maße Territorien einbezogen; ein Gebiet wie das Essener Kloster Werden wird aufgrund des städtischen Charakters
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D. Das historische Nordrhein-Westfalen – Altes Reich
tierte Staaten schränkten ständische Privilegien stärker ein, bauten modernere, effizientere Verwaltungsstrukturen auf und betrieben eine zielgerichtetere Gewerbeförderung als jenseitsgerichtete; beide der Form nach monarchisch, tendierten weltliche Staaten zu einem absolutistischen, geistliche zu einem Ständesystem. Der Machtanspruch der Fürstbistümer war eingeschränkt durch das fehlende dynastische Element und die in Wahlkapitulationen festgehaltenen Rechte der Domkapitel – Bischofswahl, die Besetzung wichtiger Amtsstellen sowie das allgemeine Gesetzgebungsrecht –, die intermediären Einspruchsrechten ein größeres Eigengewicht verliehen und eine machtpolitische Durchdringung verhinderten. Das Rheinland besaß ein Übergewicht weltlicher Herrschaftsgebiete, während in Westfalen flächenmäßig das geistige Element überwog; Lippe-Detmold blieb seit der ersten Erwähnung der Edelherrn zur Lippe 1123 weltlicher Staat, auf dem Gebiet des heutigen Ruhrgebiets bestand ein Gleichgewicht beider Herrschaftsformen.
D.I.2. Kirche und Religion Während die in römischer Zeit begonnene Christianisierung des fränkischen Rheinlands bereits um das Jahr 700 weitgehend abgeschlossen war, durchdrang der christliche Glaube Westfalen und Lippe erst ab 772 mit den Sachsenkriegen Karls des Großen.222 Bischofssitze, Klöster und Missionssprengel durchdrangen den Raum und wurden aus den rheinischen Herrschaftszentren betriebene Grundlagen westfälischer Städtegründungen. Mit dem Kölner Erzbischof residierte eine der mächtigsten kirchlich-politischen Institutionen des Alten Reiches im Rheinland, die große Teile des historischen Nordrhein-Westfalens überspannte und prägte – durch direkte Herrschaft, die Mönchsausbildung in Ordenshochschulen Kurkölns oder aufgrund hier erlassener gemeinsamer Kirchenordnungen. Ausländische Dynasten, Personalunionen oder die Zugehörigkeit zur Kölner – im Falle Paderborns zur Mainzer – Kirchenprovinz nahmen Westfalen die geistig-kulturelle Eigenständigkeit und machten es von auswärtigen Impulsen abhängig. Als Reaktion auf die mit dem Ausbau der kirchlichen Fürstbistümer einhergehende Verweltlichung des Klerus entstand in den burgundischen Niederlanden im 14. und 15. Jahrhundert die religiöse Erneuerungsbewegung der Devotio moderna, die auch im historischen NRW aufgrund geographischer Nähe, verwandtschaftlicher Beziehungen und fließender Grenzen den Boden für reformatorisch-humanistische Bestrebungen bereitete. Das Bürener Kloster Böddeken wurde ein Zentrum ihrer Verbreitung und förderte klosterähnliche, hierarchieferne Laien- und Lebensgemeinschaften,223 die einen subjektivistischen Glaubensansatz verfolgten, kontemplativ-verinnerlichte Gotteserfahrung und gemeinschaftli-
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des heutigen Ruhrgebiets genannt, wenngleich es aufgrund seiner geringen Größe in anderen Landesteilen keine Erwähnung fände. Zahlreiche Kleinstherrschaften (wie die Herrschaften Kerpen oder Steinfurt), aber auch solche, die von außen in das historische NRW hineinragten, ihren Schwerpunkt aber außerhalb dessen hatten (etwa das Herzogtum Luxemburg), müssen unberücksichtigt bleiben Vgl. Engelbrecht, Landesgeschichte, S. 68. Das Stift war eng mit der die Devotio verbreitenden Zwoller Windesheimer Kongregation verbunden, vgl. Rüthing, Heinrich: Frömmigkeit, Arbeit, Gehorsam. Zum religiösen Leben von Laienbrüdern in der Windesheimer Kongregation, in: Schreiner, Klaus (Hrsg.): Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter, München 1992, S. 203-226.
D.I. Schlaglichter der Landschaftsentwicklung
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ches Bibelstudium auch außerhalb der verfassten Kirche predigten,224 jedoch trotz aller Weltabgewandtheit auch eine sozial-praktisch ausgerichtete weltliche Frömmigkeit betrieben.225 Insbesondere in Westfalen erhielten sich Strukturen der Devotio moderna bis in die Säkularisationszeit,226 wie sich auch das mit ihr verwandte Beginentum länger als in anderen Landschaften erhielt.227 In dieser Tradition war das Zeitalter der Glaubenskämpfe im historischen NRW stark von den Ideen Erasmus’ von Rotterdam, seiner vermittelnden Position und seinem biblischem Humanismus beeinflusst,228 es dominierte die Suche nach einem dritten Weg der Kirchenreform ohne Spaltung.229 Insbesondere der Hof der Herzöge von Jülich-Kleve-Berg setzte auf die erasmianische via media, auf Bildung, Innerlichkeit und Harmonie anstelle konfrontativer Gegenüberstellung und vermittelte diesen Geist in seine rheinischwestfälischen Ländereien;230 auch die im Zusammenhang des Jülich-Klevischen Erbfolgestreits geschlossenen Religionsabkommen sicherten den Territorien relative religiöse Toleranz, die wechselseitige Überwachung ungestörter Religionsausübung und setzten für die Erblande den Augsburger Grundsatz cuius regio, eius religio außer Kraft. Eine rigorose Glaubenspolitik fiel für diesen Teil des historischen NRWs fort und ermöglichte ein verhältnismäßig friedliches Nebeneinander der Religionen, erlaubte unabhängige Gemeindeentwicklungen und eine Mannigfaltigkeit an Kirchenordnungen und kultischen Mischformen. Über Glaubensflüchtlinge stieß aus den habsburgischen, wirtschaftlich fortschrittlichen Niederlanden seit den 1530er Jahren der Calvinismus in den Raum und drängte das Luthertum zugunsten des reformierten Bekenntnisses zurück; insbesondere die Städte öffneten sich den Exulanten aufgrund sprachlich-geographischer Nähe und dem Interesse an
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Vgl. Elm, Kaspar: Die ‚Devotio moderna’ und die neue Frömmigkeit zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit, sowie Kock, Thomas: Per totum Almanicum orbem: Reformbeziehungen und Ausbreitung der niederländischen ‚Devotio moderna’, in: Derwich, Marek/ Staub, Martial (Hrsg.): Die ‚Neue Frömmigkeit’ im Spätmittelalter in Europa, Göttingen 2004, S. 15-30, S. 31-56. So etwa die Brüder vom gemeinsamen Geiste (Fraternherren). Das durch Heinrich von Ahaus gegründete Haus Zum Springborn wurde 1401 die erste Niederlassung der Devotio moderna auf deutschem Boden; in der Folge wurden Fraterhäuser in Köln und Wesel, Schwestergemeinschaften unter anderem in Borken, Coesfeld oder Münster-Niesing gegründet, von wo aus sie zur Verbreiterung des Glaubens beitrugen. Vgl. Klueting, Edeltraud: Monasteria semper reformanda. Kloster- und Ordensreformen im Mittelalter, Münster 2005, S. 67. So etwa in Herford oder Niesing bei Münster (=Kloster Marienthal). Vgl. hierzu Hölscher, Ludwig: Reformationsgeschichte der Stadt Herford, Gütersloh 1888, S. 41 sowie Schwarz, Wilhelm Eberhard: Studien zur Geschichte des Klosters der Augustinerinnen Marienthal genannt Niesing zu Münster, in: Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde, Bd. 72, Münster 1914, S. 47-151. So erhielten sich in Minden und Münster die ordensähnlichen weiblichen Hausgemeinschaften besonders lang. Vgl. Zuhorn, Karl: Die Beginen in Münster. Anfänge, Frühzeit und Ausgang des münsterschen Beginentums, in: Westfälische Zeitschrift 91 (1935), S. 1-149, hier: S. 144. Vgl. Heimann, Heinz-Dieter: Die niederländisch-westfälische Nachbarschaft im späten Mittelalter. Politische Distanz versus Wirtschaftsverband und kulturelle Dynamik, in: Hermans, Jos M.M./Peters, Robert (Hrsg.): Humanistische Buchkultur. Deutsch-Niederländische Kontakte im Spätmittelalter (14501520), Münster 1997, S. 19-36, insb. S. 30 und passim. Aufschlussreich für das Verständnis von Kirchenreform, der Beziehung zur Devotio moderna und allgemeiner Einflussnahme auf die Reformation sei verweisen auf Augustijn, Cornelis: Erasmus. Der Humanist als Theologe und Kirchenreformer, Leiden u. a. 1996, insb. S. 26-40, 73-93 sowie 141-153. Vgl. Petri, Franz: Im Zeitalter der Glaubenskämpfe, in ders./Droege, Georg (Hrsg.): Rheinische Geschichte in drei Bänden. Bd. 2: Neuzeit, 2. Aufl., Düsseldorf 1976, S. 1-218, hier: S. 30f.
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D. Das historische Nordrhein-Westfalen – Altes Reich
der Stimulation der eigenen Gewerbestruktur.231 Weiter und eigenständiger als das geistlich dominierte Westfalen, in dem der die Domkapitel und Stifte beschickende Landadel kein Interesse an der reformatorischen Beseitigung jener ihn versorgenden (katholischen) Strukturen haben konnte und der Protestantismus infolgedessen stärker hierarchisch durchgesetzt wurde, berührte die calvinistische Glaubenserneuerung das bürgerlichere, städtischere Rheinland von unten.232 Innerhalb des Protestantismus gewannen seit dem 17. Jahrhundert pietistische Erweckungsbewegungen an Bedeutung und forderten die Macht der organisierten Kirche durch ihre chiliastische Weltabwendung, verinnerlichte außerkirchliche Gotteserfahrung und häusliche Glaubensausübung heraus. In die preußischlutherischen Länder sickerten aus Halle die Ideen Philip Jacob Speners und August Hermann Franckes ein, die die Streitigkeiten zwischen den Konfessionen, die doktrinäre Starre des Luthertums sowie die Vernachlässigung der Bedürfnisse der einfachen Gläubigen anprangerten und hierauf mit der Gründung frommer Gesprächskreise und arbeitsorientierter Fürsorgeeinrichtungen antworteten;233 mit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms I. gewann diese Form des Pietismus nach 1713 vernehmbar Einfluss auf die Staatsgeschicke.234 Auf reformierter Seite infiltrierten pietistische Glaubensinhalte die Gemeinden stärker von unten. Ihr zentraler Impulsgeber war der zwischen 1660 und 1668 in Mülheim amtierende Pfarrer Theodor Undereyck, der außerkirchliche Konventikel und personalisierte Heilssuche förderte; Nachfolger wie Gerhard Tersteegen verbreiterten pietistisches Gedankengut als Wanderprediger und förderten sozialfürsorgliches Engagement.235 Auch die katholischen Kirche versuchte, stärker auf die Bedürfnisse der Menschen einzugehen und verlorengegangenes Territorium mithilfe eines durch den Jesuitenorden aufgebauten Bildungswesens, durch Predigten in der Volkssprache und intensive Sozialarbeit, aber auch durch Kulturförderung, repräsentative Bauten sowie die Aufbereitung und Popularisierung kirchlicher Traditionen zurückzugewinnen.236
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Die mit der lutherischen Bibelübersetzung entstehende hochdeutsche Sprache wurde in den niederfränkisch-niedersächsischen Dialektgebieten des historischen Nordrhein-Westfalens schlechter verstanden als die auf niederdeutschen Wurzeln ruhende niederländisch-reformierte Glaubensverbreitung. Reformierte Prediger hatten einen sprachlichen Vorsprung vor lutherischen und begünstigten die Ausprägung dieser Bekenntnisform. Vgl. Tervooren, Helmut: Die sprachliche Situation am Niederrhein im 16. bis 18. Jahrhundert, in Geuenich, Dieter (Hrsg.): Der Kulturraum Niederrhein. Band 1: Von der Antike bis zum 18. Jahrhundert, Bottrop/Essen 1996, S. 27-42, hier: S. 36. Vgl. Schröer, Alois: Die Reformation in Westfalen. 2 Bde., Bd. 2: Der Glaubenskampf einer Landschaft, Münster 1979, S. 73. Vgl. Brecht, Martin: Philipp Jakob Spener. Sein Programm und dessen Auswirkungen, in: ders. (Hrsg.): Geschichte des Pietismus, 4 Bde, Bd. 1: Der Pietismus vom 17. bis zum frühen 18. Jahrhundert, Göttingen 1993, S. 278-389. Vgl. auch das Hauptwerk Speners, in dem er seine Ideen entwickelt: ders.: Pia Desidiria oder Hertzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirche, in: ders.: Schriften, hrsg. v. Erich Beyreuther, Bd. 1, Hildesheim 1979, S. 123-308, hier: S. 250 und passim. Der Besuch der Haller Universität wurde zur Pflicht vor Eintritt in den Staatsdienst, pietistische Geistliche wurden in Kirchenämter berufen, pädagogische Stifte und Schulen nach Halleschem Vorbild die die Selbstdisziplin und Eigenverantwortung durch die Betonung persönlicher Arbeit stärken wollten errichtet sowie das Offizierskorps in diesen Einrichtungen ausgebildet Vgl. Clark, Preußen, S. 163f. Vgl. zu Personen und Werken Raupp Werner: Undereyck, Theodor, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL), hrsg. v. Traugott Bautz, Bd. 17, Herzberg 2000, Sp. 1439–1443 sowie Janzen, Wolfram: Tersteegen, Gerhard, in: BBKL, Bd. 11, Herzberg 1996, Sp. 674-695. Pars pro toto zu nennen sind Werke wie die zwischen 1570 und 1575 von Laurentius Surius herausgegebene und sodann in weiteren, erweiterten Auflagen erschienene Hagiographensammlung De probatis
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Waren Katholizismus und Luthertum stärker auf den Staat bezogen – hier als Fürstbistum, dort mit dem Landesherrn als Summepiskopat –, trug der Calvinismus dort, wo er nicht landesherrlich dekretiert wurde, ein freiheitliches Element in die Kirchen- und Lebensgestaltung hinein; presbyterial-synodale Selbstverwaltungselemente und antihierarchisches, staatsfernes Kirchenverständnis unterschieden sich diametral von der Bedeutung der Oberhäupter in katholischen und lutherischen Ländern. Ordneten diese sowohl die staatlichen als auch die kirchlichen Lebensbereiche, war Calvinisten zumindest in Gemeindeangelegenheiten ein gewisser Freiraum gewährt; bedeutete Kritik am Staat in katholischlutherischen Ländern zugleich Kritik an der Kirche und umgekehrt, existierte dieser – konservativ-quietistischem Beharren zuträgliche – Nexus in reformierten Gemeinden in geringerem Maße. Die Erweckungsbewegungen delegitimierten durch ihre außerkirchliche Glaubensübung und Gesprächskreise zwar zunächst den verfassten, mit der Kirche verbundenen Staat, bestärkten jedoch in ihrer antiaufklärerischen, verinnerlichten Haltung zugleich restaurative Tendenzen.237 Pietistische Tugenden wie Fleiß, Bescheidenheit, Selbstdisziplin, Gehorsam und Sparsamkeit drangen – im 18. Jahrhundert durch den preußischen Staat gefördert – in Gemeinden und Gesellschaften ein, wurden Handlungsmaßstab gesellschaftlicher Eliten bei der Lenkung der Staatsgeschicke und beeinflussten vermittelt auch die breite Bevölkerung.238
D.I.3. Wirtschaft und Gesellschaft Mit der Eingliederung des linksrheinischen Gebiets in das Römische Reich ging sein wirtschaftlicher und zivilisatorischer Vorsprung gegenüber dem rechtsrheinischen Raum einher, der demgegenüber trotz bestehender wirtschaftlicher und kultureller Austauschbeziehungen länger in traditionellen Arbeits- und Sozialformen verharrte.239 Über den Rhein drangen überregionale Impulse in die Anliegersiedlungen, strömten Waren und Ideen ein, Zollgrenzen verschafften verlässliche Einnahmen und begünstigten städtischen Wohlstand sowie Machtposition. Westfalen und Lippe waren vergleichbare Entwicklungen erschwert, sie blieben von Verkehrs- und Handelsströmen stärker abgeschnitten und verblieben hierüber vergleichsweise rückständig. Die Landwirtschaft spielte die überragende Rolle für den Alltag der Menschen. Die sie prägende Villikationsverfassung240 – freien Bauern, die Eigentümer von Ländereien waren, standen von der Leibeigenschaft befreite Erbpächter gegenüber, die weiterhin grundherr-
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Sanctorum historiis oder die zwischen 1618 und 1679 gebaute Kirche St. Mariä Himmelfahrt in Köln. Vgl. Petri: Zeitalter der Glaubenskämpfe, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 187f. Vgl. Engelbrecht, Landesgeschichte, S. 159 Vgl. Clark, Preußen, S. 163f. Vgl. Nonn, Geschichte Nordrhein-Westfalens, S. 25 Gleichsam darf nicht übersehen werden, dass genannte Entwicklungen sich auf wenige Städte beschränkten und nicht das heutige Rheinland als Ganzes jene Punkte für sich in Anspruch nehmen kann. Es sind notwendigerweise Überzeichnungen, die nicht für den ganzen Raum, doch aber für Teile von ihm zutreffen. Gemeint ist die Grundherrschaft. Um einen adligen Fronhof gruppierten sich abhängige Höfe, die ausgegeben und selbst bewirtschaftet wurden, zugleich aber die Bindung an den Ausgebenden bedeuteten. Geld- und Sachleistungen waren zu erbringen, zugleich übte der Besitzer die Rechtssprechung aus.
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schaftlichen Pflichten unterlagen; die größte Gruppe bildeten eigentumslose, schollengebundene Eigenbehörige, die Geld- und Sachleistungen erbringen mussten, aber auch obrigkeitliche Schutzleistungen erwarten konnten,241 während mit wachsender Bevölkerung und fehlenden agrarwirtschaftlichen Nutzungsflächen die bäuerlichen Unterschichten der Kötter oder Heuerlinge242 anwuchsen, die auf weitere Erwerbsquellen angewiesen waren – bestimmte das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben und löste sich im Rheinland früher auf als in Westfalen und Lippe.243 Charakteristische ländliche Organisationsform war hier die Rentengrundherrschaft: Der Adel verpachtete seine Ländereien, anstatt diese selbst oder über abhängige Höfe zu bewirtschaften, Patronats- und Gerichtsrechte, Fron- und Gelddienste wurden;244 anders als in weiten Teilen Westfalens waren hierüber Feudalordnung, Grundherrschaft und persönliche Abhängigkeit eingeschränkt und größere wirtschaftliche Freiheiten ermöglicht.245 Während in Westfalen bis ins 19. Jahrhundert Patrimonialgerichte existierten und die Aufrechterhaltung – im Vergleich zu Ostelbien gelockerter – bäuerlicher Abhängigkeiten und der Adelsmacht kennzeichneten, waren sie im Rheinland bereits vollkommen unbekannt.246 Ein weiterer Grund für die höhere Bedeutung der Landwirtschaft in Westfalen war das hier zuvörderst geltende Anerbenrecht, das im Todesfall die ungeteilte Übergabe des elterlichen Hofes zumeist an den ältesten Sohn nach sich zog und den Erhalt leistungsstarker Höfe versprach; im Rheinland und südlichen Westfalen war die Realteilung stärker verbreitet, die im Erbfall sämtlichen Kindern ein Stück des elterlichen Eigentums sicherte und zu Besitzzersplitterung und ertragsschwächeren Einzelländereien führte.247 Die großen Städte waren als Markt- und Handelsorte Mittelpunkte des Wirtschaftslebens. Ältere, verkehrsgünstig gelegene Städte des Rheinlands besaßen Standort- und Wachstumsvorteile und waren weiter entwickelt als jüngere, in die Güter, Ideen und Ent241 242
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Vgl. Spannhoff, Christoph: ‚In Gnaden erlaßen und in völlige Freyheit gesetzet’. Freibriefe für Lienener Einwohner als genealogisch und sozialhistorische Quelle, Norderstedt 2009, S. 23f. Unterschieden werden müssen regional unterschiedliche Begriffe bei ähnlichem Status. Sie waren Mieter anstatt Eigentümer von Hütten und Ackerflächen und zu Dienstleitungen gegenüber dem Vermieter verpflichtet. Sie standen in einem Pacht-Arbeits-Verhältnis, sie besaßen in der Bauernschaft kein Stimmrecht, die Nutzung der Gemeinheiten war ihnen verwehrt. Vgl. Rösener, Werner: Agrarwirtschaft, Agrarverfassung und ländliche Gesellschaft im Mittelalter, München 1992, S. 26 Vgl. ebenso Hanschmidt, Alwin: Das 18. Jahrhundert (1702-1803) in: Kohl, Westfälische Geschichte 1, S. 605-686, hier: S. 661. Vgl. Petri, Franz: Im Zeitalter der Glaubenskämpfe (1500-1648), in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 1-218, hier: S. 159. Vgl. North, Michael: Von der atlantischen Handelsexpansion bis zu den Agrarreformen (1450-1815), in: ders. (Hrsg.): Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Ein Jahrtausend im Überblick, 2. völlig überarb. u. erw. Aufl., München 2005, S. 112-196, hier: S. 134. Vgl. Wienfort, Monika: Preußische Patrimonialrichter im Vormärz: Bildungsbürgertum auf dem Lande zwischen staatlichem Einfluss und gutsherrlichen Interessen, in: Tenfelde, Klaus/Wehler, Hans-Ulrich (Hrsg.): Wege zur Geschichte des Bürgertums, Göttingen 1994, S. 57-77, hier: S. 60. Genauer als die rheinisch-westfälische Trennlinie erscheint der Rekurs auf die Sprachräume: Während in niederdeutschen Sprachgebieten, zu dem Westfalen und der nördliche Niederrhein zählen, das Anerbe kannten, dominierte im mitteldeutschen Rheinland und im südlichen Westfalen die Realteilung. Allerdings lässt sich diese Sprach- und Erbgrenze nur für das historische NRW ziehen; im oberdeutschen Bayern etwa war auch das Anerbe maßgeblich, während im oberdeutschen Baden die Realteilung existierte. Vgl. die kartographische Darstellung des Erbrechts in Deutschland bei Huppertz, Barthel: Räume und Schichten bäuerlicher Kulturformen in Deutschland: Ein Beitrag zur deutschen Bauerngeschichte, Bonn 1939, S. 166.
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wicklungsimpulse aufgrund schlechterer geographischer Lage nur verzögert eindrangen.248 Daneben waren Städte Kultur- und Bildungszentren, hier konzentrierten sich das kirchlich und kommunal-kaufmännisch getragene Schulwesen sowie einige Hochschulen. Dem ländlich-agrarischeren Westfalen mangelte es in seiner Gesamtheit gegenüber dem Rheinland an bedeutenden überregionalen Bildungseinrichtungen,249 der Rhein ermöglichte einen schnelleren Transport von Neuigkeiten und Gedanken, beförderte überregionalen Austausch und verhalf den Anliegerstädten zu einem breiteren Resonanzboden; vor allem Köln war als offene Handelsstadt Zeitungs- und Druckereistandort und wichtigster Vermittler auswärtiger Schriften, wie hier auch ein breiteres Bürgertum als Nachfrager und Rezipient entstand.250 Mit der Reformation spaltete sich das historische NRW nicht allein konfessionell, sondern zugleich auch auf wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Gebiet. Neben der stärkeren Zurückdrängung ständischer Mitsprache und Vorrechte, der administrativen Rationalisierung, Effizienzsteigerung und systematischen Wirtschaftsförderung in den weltlichprotestantischen Staaten waren religiös-wirtschaftsethische Dispositionen Grundlagen für die Auseinanderentwicklung und den Modernisierungsrückstand geistiger Staaten. Luthers Verständnis weltlicher Berufe als Dienst an Gott, sein personalisiertes, gewissensverpflichtetes Gottesverhältnis sowie die dem Calvinismus unterstellte Wirtschaftsgesinnung mitsamt innerweltlicher Askese und Arbeitsethik251 verwiesen stärker auf die aktive Weltgestaltung, als dies für die auf Hierarchie, Dogma und Gottergebenheit beruhende katholische Kirche galt. Die zentrale Bedeutung der Bibel für die protestantische Gottesoffenbarung erforderte das Erlernen des Lesevermögens, um die Schrift zu verstehen, förderte Bildungsanstrengungen und einen Bildungsvorsprung, der die wirtschaftliche Entwicklung protestantischer Regionen positiv beeinflusste.252 Unverkennbar – wenngleich nicht unmit248
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Deutlich wird der Entwicklungsvorsprung rheinischer Städte durch den Vergleich der Einwohnerzahlen: Während Köln um das Jahr 1800 über 45.000 Einwohner verfügte, in Aachen 25.000, in Düsseldorf und Barmen-Elberfeld jeweils 20.000 Menschen lebten, hatte Münster 14.000, Paderborn 5000 und Arnsberg 1843 Einwohner. Vgl. hierzu Hartlieb von Wallthor, Alfred: Das Verhalten der Westfalen in den geistigen Umwälzungen der Neuzeit bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Aubin/Petri/Schlenger, Der Raum Westfalen IV 1, S. 297-389, hier: S. 340. Genannt werden die jeweils wichtigsten Städte, zumeist Hauptstädte, die über die größten Einwohnerzahlen verfügten und somit einen guten Vergleichsmaßstab abgeben. Vgl. Engelbrecht, Landesgeschichte, S. 213. Vgl. Engelbrecht, Jörg: Das Rheinland und die Rheinländer. Struktur und Identität des Nordrheinlandes und seiner Menschen, in: ders./Kühn, Norbert/Mölich, Georg/Otten, Thomas/Wiemer, Karl Peter: Rheingold. Menschen und Mentalitäten im Rheinland. Eine Landeskunde, Köln u.a. 2003, S. 3-50, hier: S. 17. In der berühmten Studie Max Webers zeichnet dieser den Zusammenhang von protestantischer, calvinistischer Religion und Kapitalismus. Weber sieht die Prädestinationslehre als zentrales Dogma des Calvinismus, die dem Einzelnen Unsicherheit ob seiner Auserwähltheit auferlege. Auf der Suche nach Gewissheit sei beruflicher Erfolg Zeichen Gottes, ohne den Erwerb um seiner selbst Willen zu genießen. Kapitalakkumulation schaffe Investitionsmittel, die ihrerseits wirtschaftlich Modernisierung erlaube. Vgl. ders.: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, hrsg. u. eingeleitet v. Dirk Kaesler, 2. durchgeseh. Aufl., München 2006, insb. S. 144 und passim. Vgl. Becker Sascha/Wößmann, Ludger: Was Weber wrong? A Human Capital Theory of Protestant Economic History, Diskussionspapier Nr. 1987, 2007, insb. S. 13-23, abrufbar unter http://www.cesifogroup.de/pls/guestci/download/CESifo%20Working%20Papers%202007/CESifo%20Working%20Pap ers%20May%202007/cesifo1_wp1987.pdf (8.5.2010). Die Forscher untersuchen anhand von Daten zu preußischen Landkreisen um das Jahr 1870 den Zusammenhang von wirtschaftlicher Prosperität und
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telbar auf die Religion zurückzubeziehen – ist der Einfluss, den niederländische Exulanten auf die städtische Wirtschaftsentwicklung nahmen, sie transferierten weitreichende Handelsbeziehungen und fortschrittliche Produktionstechniken in ihre neue Heimat und stimulierten hierdurch Wachstum.253 Eine besondere Hochschätzung der Arbeit und weltlichen Gestaltungswillens kannte zudem der Pietismus: Zum einen aus Speners Überzeugung, Armut durch Bildung, Arbeit und Selbstdisziplin zu beseitigen, zum anderen aus seiner aktivistischen Sorge um die Mitmenschen.
D.I.4. Politische und gesellschaftliche Selbstverwaltung Landstände oder Landschaften254 bremsten auf politischem Gebiet staatliche Alleinherrschaft und Willkür. Landadlige Ritterschaft und Städte, in geistlichen Staaten zudem die Domkapitel wirkten bei Steuererhebung, Beamtenbestellung und auswärtigen Angelegenheiten mit und gerierten sich aufgrund regionaler Ansässigkeit vor allem nach der Regierungsübernahme auswärtiger Herrscherhäuser als wahre Interessenvertreter des Landes. In ihrer Selbständigkeit eingeschränkt durch landesherrliches Einberufungs- und Vorlagerecht, waren die zumeist auf ein Jahr beschränkten Geldbewilligungen ein mächtiger Hebel, um Mitsprache zu erlangen. Auch das Indigenatsrecht, die Besetzung von Beamten- und Verwaltungsstellen durch Landsässige, setzte landesherrlichem Willen Schranken, verlangsamte die Zurückdrängung intermediärer Gewalten und sicherte den Anspruch ständischer Teilhabe. Die zunehmende Landferne der meisten Herrschergeschlechter, ihre durch Stellvertreter ausgeübte Landesverwaltung und deren partielle Rücksichtnahme auf rheinischwestfälische Besonderheiten erlaubte die Wahrung gewisser Frei- und Eigenheiten,255 doch schränkten die bewusste Nichtbeachtung des Indigenats, die Nichteinberufung des Landtags und die Ausweitung staatlicher Institutionen im 18. Jahrhundert vor allem in den brandenburg-preußischen Ländern landständische Rechte zunehmend ein.256
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vorherrschender Konfession und kommen auf der Basis der Humankapitaltheorie zu dem Schluss, es bestehe ein Zusammenhang zwischen Protestantismus, höheren Alphabetisierungsquoten, besserer Bildung, höherer Produktivität und wirtschaftlichem Erfolg. Vgl. allg. zum Einfluss niederländischer Glaubensflüchtlinge auf deutsche Städte Schilling, Heinz: Niederländische Exulanten im 16. Jahrhundert. Ihre Stellung im Sozialgefüge und im religiösen Leben deutscher und englischer Städte, Gütersloh 1972. Vgl. zum weitgehend synonym zu gebrauchenden Terminus Krüger, Kerstin: Die Landständische Verfassung, München 2003, S. 71. Oftmals scheiterte die vorbehaltlose Übertragung auswärtiger Verwaltungspraktiken, die rheinischwestfälischen Verwaltungstraditionen zuwiderliefen So erwies sich der preußische Wille, die Verwaltungsrechte des Landadels auszuweiten, aufgrund des weitgehenden Abbaus adliger Patronatsrechte vor allem im Rheinland als schwerlich durchsetzbar. Vgl. Opgenoorth, Ernst: Die rheinischen Gebiete Brandenburg-Preußens im 17. und 18. Jahrhundert, in: Baumgart, Peter (Hrsg.): Expansion und Integration. Zur Eingliederung neugewonnener Gebiete in den preußischen Staat, Köln u.a. 1984, S. 33-44, hier: S. 40. Auch die Übertragung ostelbischer Domanialgerichte scheiterte aufgrund verstreuterer und freierer Besitzrechte des Landadels in den Westprovinzen, vgl. Hartlieb von Wallthor, Alfred: Die landschaftliche Selbstverwaltung Westfalens in ihrer Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert. 1. Teil: Bis zur Berufung des Vereinigten Landtags (1847), Münster 1965, S. 35. Geschaffen wurden Kriegs- und Domänenkammern, vergrößerte Verwaltungsdistrikte und unter Nichtbeachtung des Indigenats mit landfremden Beamten besetzte Steuer- und Amtsräte. Die Kammern waren verantwortlich für den materiellen Unterhalt der Armee in den Provinzen und den hierfür notwen-
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Die Städte waren eigene, Kaiser oder Landesherr verpflichtete und ihrer Aufsicht unterstehende Rechts- und Verwaltungsbereiche, die mit Ratswahl, Befestigungs-, Markt-, Münz- oder Steuerrechten über einen selbstbestimmten Aktionsradius verfügten. Trotz verschiedener Wahlmuster – nach Viertel, Gilden oder Zünften –herrschte zumeist die immergleiche Ansammlung einiger weniger, durch wirtschaftlichen Erfolg und ererbte Machtstellung bevorteilter Familien; das Wahlrecht war an Vermögen und Herkunft verknüpft, so dass nur ein kleiner Teil der Einwohner seine Interessen in die oligarchische Stadtpolitik einbringen konnten. Insbesondere auf preußischem Herrschaftsgebiet erlebten die Städte im 18. Jahrhundert durch die Einführung ernannter Magistrate, die Begrenzung ihrer Kompetenzen und der Entsendung staatlicher Kommissar eine deutliche Ausweitung obrigkeitlicher Kontrolle und Einschnitte in das Selbstverwaltungsrecht. Außerhalb der Städte existierten im rheinischen Raum die auf die fränkische CentenaOrganisation zurückgehende Honnschaften. Ämter, Pfarreien und Landgerichte setzten sich aus verschiedenen Hundertschaften und einem gewählten Vorsteher zusammen, der die staatlicherseits von der Gesamthonnschaft verlangten Abgaben auf die Einzelhöfe übertrug und an den Landesherrn abführte; ebenso waren sie für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zuständig.257 Im sächsisch-westfälischen Raum ordneten Bauernschaften die lokal-regionale Ebene. Die Versammlung war ein Rechtsorgan, das Streitfälle schlichtete und die Umsetzung landesherrlicher Verordnungen gewährleistete. Die Umlegung der Steuerzahlungen, die Sorge um den Gemeinbesitz und den gemeinsamen Haushalt lag in den Händen des Bauernrichters, der zunächst aus der Mitte der Versammlung gewählt, später staatlich eingesetzt wurde.258 Hofbesitz und langjährige Ansässigkeit waren auf beiden Seiten Kriterien für aktives und passives Wahlrecht; bis auf die Bezeichnung und den historischen Ursprung unterschieden sich die dörflichen Selbstverwaltungsorgane in ihrem Aufgabenkreis somit kaum.259 Hinzu kamen Kirchspielstage, die unter Vorsitz des Amtsdrosten die vom Landtag beschlossenen Steuern auf die ansässigen Gutshöfe verteilten; auch soziale Belange wie Einquartierungen oder Armenlasten wurden hier geregelt.
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digen Steuereinzug; sie verwalteten die staatlichen Güter sowie den Einzug der Pachtzahlungen und den Einzug der indirekten Verbrauchssteuern, der Akzise, die landständische Mitsprache obsolet machte. Mit dem staatlichen Ausbau von Verwaltungsaufgaben verdrängten juristisch geschulte Bürgerliche den Landadel aus seiner jahrhundertelangen dominanten Position. Landräte standen seit der 1734 begonnenen Kreiseinteilung an der Spitze von Verwaltungsdistrikten, die für die allgemeine Verwaltung (Policey) und lokale Steuererhebung die Aufsicht ausübten; auf Dorfebene sorgte die staatliche Aufsicht über ernannte Dorfvorsteher seit 1755 für die Kontrolle der Gemeindefinanzen sowie die Durchführung der Armenpflege, des Straßenbaus und des Feuerschutzes. Zwar sicherte das ständische Wahlrecht sowie Anhörungsrechte gewisse Einflussnahme auf diese Position, da es aber der Bestätigung bedurfte, war diese sogleich wieder eingeschränkt. Die neuen Kreiseinteilungen zerschnitten zum Teil hergebrachte Raumordnungen, brachen mit alten und förderten Bindungen an den preußischen Staat. Auf kommunaler Ebene wurde die Zahl der Magistratsmitglieder eingeschränkt und die Finanzhoheit einem staatlichen Kommissar untergeordnet. Vgl. Kroeschell, Karl: Hundert, Hundertschaft, in: Lexikon des Mittelalters in 9 Bänden, Band V: HieraMittel bis Lukanien, München 2003, Sp. 214-215. Vgl. Rösener, Werner: Bauer, Bauerntum. Allgemeine Problematik, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. I: Aachen bis Bettelordenskirchen, Sp. 1563-1571, insb. S. 1567. Vgl. zu Honnschaften und Bauernschaften auch Wesoly, Kurt: Das Interesse der weltlichen Obrigkeiten, der Konfessionen und der Eltern am Elementarunterricht im Herzogtum Berg vom 16. bis ins 18. Jahrhundert, in: Musolff, Hans-Ulrich/Jacobi, Juliane/Le Cam, Jean Luc (Hrsg.): Säkularisierung vor der Aufklärung? Bildung, Kirche und Religion 1500-1750, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 157-178, hier: S. 174.
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Adlige Grundherren, Vertreter des Kirchenbesitzes und bürgerliche Besitzer von Bauerngütern waren auf den zumindest zweijährig stattfindenden Tagungen stimmberechtigte Mitglieder; hinzu kamen gewählte Kirchspielsvertreter und Bauernrichter als stimmlose Teilnehmer.260 Auf gesellschaftlicher Ebene existierten zunächst im Wirtschaftsleben frühbürgerliche Selbstorganisation, wo städtische Zünfte und Gilden Marktzugang, Gewerbeausübung und soziale Hilfsmaßnahmen regelten; von größerer Bedeutung jedoch waren institutionalisierte Partizipationsmöglichkeiten innerhalb der Kirchen. Auf katholischer Seite verfügten die adlig dominierten Domkapitel in den geistigen Ständestaaten über weitgehende Mitspracherechte, wohingegen die einzelnen Gemeindemitglieder sich in die hierarchische Organisationsgewalt von Bischof und Pastoren einfügen mussten. Ausgebauter und institutionalisiert waren innerkirchliche Selbstverwaltungsrechte auf protestantischer Seite, die antihierarchische Gemeindeorganisationsformen kannte und ihren Mitgliedern Teilhabemöglichkeiten bot. Im historischen Nordrhein-Westfalen entstand eine in dieser Tiefe weitgehend singuläre, „vom landesherrlichen Territorialismus weithin unabhängige kirchliche Ordnung presbyterial-synodalen Charakters.“261 Calvinistische Glaubensflüchtlinge transferierten dieses System in den deutschen Westen und machten es zum Vorbild für ihre Aufnahmegemeinden. Festgeschrieben wurde auf dem Weseler Konvent von 1568 und der Emdener Synode von 1571 der Aufbau der Kirche bottom-up, der – zunächst nur für die niederländisch-reformierten Kirchen maßgeblich – auf der Duisburger Generalsynode 1610 auch für die reformierten Kirchen des Herzogtums Jülich-Kleve-Berg und somit eines großen Teils des historischen NRWs übernommen wurde. Sie baute sich von den mit weitreichenden Selbstverwaltungsrechten ausgestatteten Einzelgemeinden über die überörtliche Classis, deren Zusammenfassung in Regionalsynoden bis zur Generalsynode auf, wobei die durch gewählte Presbyter und Diakone geleitete unterste Stufe als volle Kirche galt; Zusammenschlüsse besaßen nur subsidiären Charakter, ohne Überordnungsverhältnisse zu etablieren oder Selbständigkeiten zu beschneiden.262 Zwar war mit dem Anspruch des allgemeinen Priestertums auch im Luthertum der Keim dieses Kirchenverständnisses angelegt, doch widersprach die lutherische Territorialkirche mit dem Staatsoberhaupt als Summepiskopat dem reformierten Kirchenverständnis, das Mitwirkung, die Ablehnung von Hierarchien und individuelle Freiheitsrechte hochhielt.263 Spezifisch für das historische NRW war der Einfluss des reformierten 260 261
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Vgl. zu den Kirchspielstagen Symann, E: Die politischen Kirchspielsgemeinden des Oberstifts Münsters. Eine verfassungs- und verwaltungsgeschichtliche Studie, Münster 1909, insb. S. 9f., 19f. u. 42f. Mehlhausen, Joachim: Presbyterial-synodale Kirchenverfassung,, in: Theologische Realenzyklopädie in 36 Bänden, Bd. 27: Politik/Politikwissenschaft – Publizistik/Presse, Berlin/New York 1997, S. 331–340, hier: S. 335. Vgl. Brämik, Reinhold: Die Verfassung der lutherischen Kirche in Jülich-Berg, Cleve-Mark-Ravensberg in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Düsseldorf 1964, S. 5 und passim. Da das Wort in Luthers Auffassung Kirche begründete, war dessen Verkündigung von eminenter konstitutiver Bedeutung, da sie das unsichtbare Glaubensband in der Versammlung sichtbar machte. Der ursprünglich freiheitliche Charakter resultierte aus dem allgemeinen Priestertum durch die Taufe, unabhängigen Einzelgemeinden mit Predigerwahl wie Prüfrecht über das Evangelium als auch der Ansicht, Pfarrer seien Beauftragte statt Übergeordnete. Das gleichsam postulierte Recht wie die Pflicht des Landesherrn, im Notfall zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung in weltliche wie geistliche Belange einzugreifen, war Ausgangspunkt für das spätere landesherrliche Kirchenregiment, das hierarchische
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Modells auf die lutherische Kirchenorganisation, innerhalb derer sich Gemeinden des Herzogtums Kleve in Dinslaken und der Grafschaft Mark in Unna 1612 zu ihren Gründungssynoden formierten.264 Die Ausbreitung des presbyterial-synodalen Kirchenmodells gelang zunächst, wo niederländische Flüchtlinge aufgenommen wurden; deren Zahlen lagen – nicht zuletzt aufgrund geographischer Nähe und entwickelterer Wirtschaftssituation – im Rheinland höher. Hilfreich war eine bedächtige Religionspolitik wie die des Herzogtums Jülich-KleveBerg, während die Entwicklungsmöglichkeiten in den zentralistischeren brandenburgpreußischen Ländern oder in solchen, in denen die Reformation obrigkeitlich durchgesetzt und gesteuert wurde, eingeschränkter waren.265 Die presbyterial-synodale Kirchenstruktur und das dahinterliegende freiheitliche Selbstverständnis prägten den rheinisch Protestantismus stärker als den westfälischen, da das reformierte Bekenntnis dort stärker aus den Gemeinden heraus anstatt obrigkeitlich durchgesetzt wurde; in Westfalen, wo der Calvinismus vornehmlich durch herrschaftliche Dekrete Verbreitung erlangte, waren deshalb auch die hoheitlichen Eingriffsrechte stärker. Dennoch waren beide protestantische Konfessionsgruppen vergleichsweise obrigkeitsfern organisierte Gebilde, in denen der Staat Aufsichts-, aber keine Leitungsrechte besaß. Das für das Luthertum typische landesherrliche Kirchenregiment spielte im historischen Nordrhein-Westfalen eine geringere Rolle, das 1713 geschaffene reformierte Kirchendirektorium und das 1750 eingerichtete lutherische Oberkonsistorium waren von Berlin aus einzig für Minden-Ravensberg und Tecklenburg zuständig.266 Ohne eine vollausgebaute gemeindliche Selbstverwaltung zu etablieren – der Anspruch eines landesherrlichen Beteiligungs- oder Bestätigungsrechts an den Gemeindewahlen zeigte sich stärker in den brandenburg-preußischen als jülich-bergischen Ländern –, ermöglichten die Strukturen eine vergleichsweise breite Einübung staatsferner Eigenverantwortung.267
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Strukturen begünstigte. Die Radikalisierung der Reformation durch Bauernkrieg und Münsteraner Täufer ließ nach Ordnung streben, so dass aus der Nothilfelehre die Machterweiterung der Regenten wurde. Die Vermengung von diesseitigen Stabilitätssaufgaben und christlicher Hilfeleistung wurde umso leichter hingenommen, als dass die vorrangige Bedeutung der unsichtbaren Glaubensgemeinschaft Eingriffe in die verfasste diesseitige Kirche hinnehmen ließ. Calvinistisch-reformierte sahen hingegen allein Christus als Herrscher an, es dürfe keine menschliche Hierarchie in der Kirche geben. Die Einrichtung kollegialer Kirchenposten wie Pastoren, Doktoren, Älteste oder Diakone brachte ein ausgleichendes Moment; Gemeinden, Classis und Synoden waren Ort kirchlicher Mitregierung. Der Minderheitscharakter sowohl gegenüber dem Katholizismus als auch innerhalb des Protestantismus stärkte den Freiheitswillen von obrigkeitlichen Eingriffen. Vgl. Rauschenbusch, August E.: Ueber die religiösen Eigenthümlichkeiten der Evangelischen in den Ländern des ehemaligen Jülichschen Staats und deren historischen Ursprung, Essen 1826, S. 27. Vgl. Maurer, Wilhelm: Zur Vorgeschichte der Rheinisch-Westfälischen Kirchenordnung von 1835, in: ders.: Die Kirche und ihr Recht. Gesammelte Aufsätze zum evangelischen Kirchenrecht, hrsg. v. Gerhard Müller und Gottfried Seebaß, Jus Ecclesiasticum 23, Tübingen 1976, 279–309, hier: S. 285. Maurer bezieht diese Analyse auf die Grafschaft Moers, doch ist dieser Tatbestand auch auf die Grafschaften Tecklenburg oder Lippe zu übertragen. Vgl. Müller, Gerhard (Hrsg.): Theologische Realenzyklopädie, Bd. 35: Vernunft III – Wiederbringung aller, Berlin 2003, S. 687. Vgl. Frost, Herbert: Der Konvent von Wesel im Jahre 1568 und sein Einfluss auf das Entstehen eines deutschen evangelischen Kirchenverfassungsrecht, in: ders.: Ausgewählte Schriften zum Staats- und Kirchenrecht, hrsg. v. Manfred Baldus, Martin Heckel und Stephan Muckel, Jus Ecclesiasticum 65 Tübingen 2001, S. 63-115.
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D. Das historische Nordrhein-Westfalen – Altes Reich
D.II. Ländergeschichte im Alten Reich Die Schlaglichter auf die groben Linien der allgemeinen Raumgenese bedürfen der Ergänzung durch den Blick auf die Besonderheiten einzelner Länder. Das historische NRW glich je länger je mehr einem Flickenteppich politischer, religiös-kultureller, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungspfade, die in ihrem einzigartigen Zusammenspiel die Landschaften begründeten, die bis heute als mentale Grenzen nachwirken; allein die pointierte Freilegung jener Prägungsstränge ermöglicht, Verständnis zu wecken für den Plural an Identitäten in Nordrhein-Westfalen.268
D.II.1. Rheinland D.II.1.1. Kurfürstentum Köln269 Nachdem der christliche Glaube mit den Römern in die Stadt gelangte, gründete das spätere Kurfürstentum auf der Erhebung Kölns zum Bistumssitz 313 sowie dessen Erweiterung zum Erzbistum 450. Seit der Wahl Bruns, des Bruders Ottos I., zum Erzbischof gelang den Kölner Kirchenoberen zwischen 953 und 1288 der Ausbau ihres weltlichen Machtbereichs,270 dem im Alten Reich neben dem rheinischen Kerngebiet politisch das Herzogtum Westfalen und das Vest Recklinghausen, kirchlich die Bistümer Minden, Münster und Osnabrück unterstanden.271 Sancta Colonia272 war Wallfahrtsort und geistiges Zentrum Europas,
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Falls nicht anders erwähnt, basieren die allgemeinen Angaben zu den Ländern auf Köbler, Gerhard: Historisches Lexikon der deutschen Länder. Die deutschen Territorien vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 7. vollst. überarb. Aufl., München 2007.Wichtig hierbei ist, den Grad zu finden zwischen notwendiger historischer Tiefenbohrung und bewusster Auslassungen. Die Breite der Thematik erfordert die Konzentration auf wesentliche Ereignisse und Territorien und verlangt die Vernachlässigung nachrangiger Fälle. Im Einzelfall schwierig und diskussionswürdig, ist zum einen die Größe des Territoriums, zum anderen die Relevanz der hier herauslesbaren Entwicklungswege für landschaftliche Identitäten Entscheidungskriterium, das das Übergehen zahlreicher Klein- und Kleinstterritorien begründet. Während die Herrschaften Gimborn oder Homburg im Rheinland oder Rheda und Rietberg in Westfalen zumindest erwähnt werden, wird das nicht viel größere, aber für die landschaftliche Vielfalt und seine markanten Prägungen bedeutendere Wittgenstein tiefer behandelt; Kleinstherrschaften wie etwa Gemen oder Elten müssen allerdings aufgrund mangelnder Relevanz gänzlich außen vor bleiben. Das Ruhrgebiet ist spezieller Fall, in dem die Vorläufer der heutigen Städteregion jeweils aus dem Charakter der Region aufgenommen werden müssen. Eine Stadt wie Köln muss aufgrund ihrer Bedeutung stärker berücksichtigt werden als Aachen. Die Kerngebiete des Kurfürstentums lagen linksrheinisch zwischen Andernach und Kempen. Das Gebiet um Rheinberg, das Vest Recklinghausen sowie das Herzogtum Westfalen bildeten kurkölnische Exklaven. Seinen Vorgängern war der Erwerb von Grundherrschaften zwischen Remagen und Xanten geglückt. Brun wurde mit dem Herzogtum Lothringen belehnt; in der Folge gelang die Akkumulation weiterer Grundherrschaftsrechte, etwa 1180 über Teile des späteren Herzogtums Westfalen und 1230 über das spätere Vest Recklinghausen. Nach 1288 gelang mit dem Erwerb der Grafschaft Arnsberg 1368 die Arrondierung des Herzogtums, doch musste 1449 der Verlust des wohlhabenden Soests hingenommen werden. Zeitweise beherrschten die Fürstbistümer durch Personalunionen noch weitere Gebiete. Verwiesen sei auf Max Heinrich, der 1650 Erzbischof von Köln und 1683 Bischof in Münster wurde, Clemens August, der 1723 als Monsieur de Cinq Églises neben Kurköln die Bistümer Münster, Paderborn, Hildesheim und Osnabrück beherrschte oder Maximilian Friedrich von Königsegg-Rothenfels, der 1761 zugleich in Köln und Münster den Thron bestieg.
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Eckpfeiler des nordwestdeutschen Katholizismus sowie als Kurfürstentum überragende Macht im Alten Reich; aufgrund jener Zusammenhänge war jede Entwicklung, die für Kurköln von Bedeutung war, auch von Belang für das historische Nordrhein-Westfalen. Politisch war Kurköln ein Ständestaat mit monarchischer Spitze: Der Kurfürst hing als Staatsoberhaupt in seiner Regierungspraxis von dem ihn wählenden Domkapitel ab, die Landstände – Domkapitel, Ritter und Städte – wirkten seit 1437 im Herzogtum Westfalen, seit 1463 im rheinischen Herrschaftsgebiet als Erblandesvereinigung an der Landesregierung mit. Während die wichtigsten Verwaltungsstellen – so auch das Domkapitel – nach der Worringer Niederlage in Köln verblieben, übersiedelten die Kurfürsten zunächst zeitweise, ab 1597 permanent nach Bonn. Die hier zentralisierte Landesadministration, die Errichtung von Hofkammer und Geheimem Rat beschränkte ständische Mitsprache, ohne die Zustimmungsrechte der Erblandesvereinigungen formell zu beseitigen. Die religiös-katholische Bedeutung Kurkölns wurde in dem 1583 durch bayerischspanische Heere geführten Krieg gegen Gebhard Truchsess von Waldburg deutlich, der die Reformationsversuche des Erzbischofs gewaltsam stoppte und mit der Inthronisierung Ernst von Bayerns die bis 1761 andauernde Regentschaft der Wittelsbacher initiierte. Mit ihr gingen entschlossene Rekatholisierungsmaßnahmen einher, die die nach ersten Reformationsversuchen Hermann von Wieds eingeleiteten Maßnahmen des 1544 mit Beschluss der rheinischen Erblandesvereinigung in Köln angesiedelten Jesuitenordens fortsetzten. Bis zu seiner Aufhebung 1773 gewährleistete er die religiös-sittliche Erziehung der Bevölkerung und verlieh Kurköln eine entscheidende geistig-kulturelle Prägung.273 Im Zusammenspiel mit der 1388 gegründeten Kölner Universität – die sich in der Tradition der vorherigen Klosterschule zu einer Hochburg der Scholastik und des Dominikanerordens entwickelte und Bollwerk gegen Reformation und neuzeitlichen Humanismus wurde –274 erhielten die Jesuiten die dogmatische Strenge in Kurköln, die erst mit der Gründung der Bonner Akademie 1777, deren Aufwertung zur Universität 1786 und einer katholisch-aufgeklärten Berufungspraxis unter Maximilian Friedrich von Königsegg-Rothenfels und Maximilian Franz von Österreich aufgebrochen wurde.275 Die Residenzstadt wurde zur fortschrittlich-regsamsten Kommune Kurkölns und zum Zentrum bürgerlicher Lesegesellschaften, während sich im restlichen Staatsterritorium hergebrachte Lebensweisen stärker konservierten.276 Von der geistigen erhofften sich die Regenten auch eine wirtschaftliche Erneuerung des Kurstaates. Zwar verfügte er über Anteile an den landwirtschaftlich nutzbaren linksrheinischen Gebieten der Ville und der Zülpicher Börden, deren Tonlagerstätten sowie an den Brühler Braunkohlevorräten; insgesamt aber hinkte das Stammland des Kurfürstentums in seiner ökonomischen Entwicklung hinter protestantischen Ländern hinterher. Das Wirtschaftsleben erfuhr bis auf die Residenzstadt Bonn geringe Fördermaßnahmen, und auch
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So der Beiname des Wallfahrtsorts. Vgl. Bennack, Jürgen: Warum „Hellijes Kölle“? Sancta Colonia – Su kom et (met dem hellije Kölle), in: ders. (Hrsg.): Sancta Colonia. Betrachtungen über „Et hellije Kölle“, Köln 2007, S. 16-22. 1164 gelang die Überführung der Gebeine der Heiligen Drei Könige nach Köln. Vgl. Petri, Im Zeitalter der Glaubenskämpfe, in ders./Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 100, 187f. Vgl. ebd. S. 22, 174 sowie Engelbrecht, Landesgeschichte, S. 118f. Vgl. Engelbrecht, Landesgeschichte, S. 211 sowie ders.: Das Rheinland und die Rheinländer, in: ders. et. al.: Rheingold, S. 24. Vgl. Petri, Im Zeitalter der Glaubenskämpfe, in ders./Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 296ff., 306, 310.
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hier gelangten eigens eingerichtete Manufakturen kaum jemals zur Blüte.277 Die Ansiedlung italienischer Kaufleute im 18. Jahrhundert diversifizierte das Wirtschaftsleben der Stadt, verschaffte ihr Handelskontakte und öffnete ihr intellektuelles Milieu,278 während andere Städte des Erzstifts auf dem Status kleinerer Ackerbürgerstädte verblieben.279 Erst nach dem Abgang der Wittelsbacher verstärkten sich die Bemühungen um wirtschaftlichen Aufbruch, wurden erste Fabriken konzessioniert und von Abgaben und Zöllen befreit.280 D.II.1.2. Reichsstadt Köln281 Köln war das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum, der Sitz weltlicher und geistlicher Macht sowie die überragende Metropole des historischen NRWs. Seit 50 nach Christus mit dem höchsten römischen Colonia-Stadtrecht ausgestattet und 313 zum Bischofssitz erhoben, legten die zivilisatorischen Impulse des Weltreichs den Grundstock für die weitere Entwicklung der Siedlung. Die günstige Rheinlage machte die Stadt zu einem Verkehrsund Handelsknotenpunkt, der in Wohlstand, Größe, Außenkontakten und Bedeutung aus dem Umland herausragte. Nach der Schlacht von Worringen de facto von kurfürstlicher Oberherrschaft befreit, erhielt die größte Ballung des Alten Reichs de jure 1475 den Staus einer Reichsstadt.282 In ihrem Inneren hatten sich das Kölner Stadtpatriziat und das erzbischöflich ernannte Schöffenkollegium bereits 1183/84 zur Richerzeche zusammengeschlossen und dominierten bis zu ihrem Sturz 1396 die Stadtverwaltung. Der ihr folgende Verbundbrief schrieb das Ratswahlrecht der in Gaffeln organisierten städtischen Gewerbetreibenden und Händler fest;283 ergänzt wurde die Verwaltungsordnung 1513 mit dem Transfixbrief, der die Kontroll- und Bürgerrechte gegenüber dem Rat erweiterte,284 ohne jedoch eine erneute Oligarchisierung an der Stadtspitze verhindern zu können. Die an die Mitgliedschaft in den Gaffeln, Vermögensbesitz und persönliche Ehrbarkeit gebundenen Wahlvoraussetzungen machten die Organe zu geschlossenen, kaufmännisch-aristokratischen Kollegien, die bis zu ihrer Abschaffung 1794 die Stadt beherrschten.285 Die Rheinanliegerschaft ermöglichte Köln die Knüpfung weitreichender Wirtschaftsbeziehungen und begründete seine Prosperität. Seit 1259 mit dem Privileg des Stapelrechts 277
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Der Kölner Kanonikus Johann Arnold Joseph von Franz bemängelte 1786 in seinen Gedanken über Förderung von Handel und Gewerbe im Erzstift Köln eine fehlende merkantilistische Wirtschaftspolitik, die dem wirtschaftlichen Abstieg des Staates zugrunde liege. Vgl. Schulte, Paul-Günther: Handel, Handwerk und Gewerbe im kurkölnischen Niederstift, in: Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (Hrsg.): Kurköln. Land unter dem Krummstab. Essays und Dokumente, Kevelaer 1985, S. 133-144, hier: S. 133. Angestoßen wurden Schokoladen- oder Tabakproduktion, vgl. Engelbrecht, Landesgeschichte, S. 166f. Vgl. Flink, Klaus: Die rheinischen Städte des Erzstiftes Köln und ihre Privilegien; in: NordrheinWestfälisches Hauptstaatsarchiv, Kurköln, S. 145-170, hier: S.147. Vgl. Schulte, Handel, Handwerk und Gewerbe, in: ebd., S. 139. Das Herrschaftsgebiet der Reichsstadt umfasste den Kern des heutigen Kölns. Köln beheimatete bereits im 13. Jahrhundert etwa 40.000 Einwohner. Vgl. Ennen, Edith: Die europäische Stadt des Mittelalters, 4. Aufl., Göttingen 1987, S. 227. Vgl. Dietmar, Carl: Die Chronik Kölns, Dortmund 1991, S. 121 Die Gaffeln waren 22 Zusammenschlüsse der Zünfte und Gilden, innerhalb derer der Mehrheitsentscheid galt. Vgl. ebd., S. 154. Vgl. Engelbrecht, Landesgeschichte, S. 63f., 106f.
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ausgestattet,286 wurde die Stadt im 15. Jahrhundert zum Vorort des westfälischpreußischen Hansedrittels. Da die Gründung auswärtiger Produktionsstätten und die Verlagerung von Gewerbezweigen ins bergische Umland zur Umgehung der städtischen Zunftschranken die eigenen Wirtschaftsgrundlagen allmählich ausdünnte, bestimmte der Handel das Wirtschaftsleben; der Vertrieb heimischer wie auswärtiger Erzeugnisse erfolgte über Kölner Kaufleute und führte der Stadt und ihren Bürgern Einnahmen zu. Köln wurde hierdurch primäres Einfallstor und Informationsknotenpunkt des deutschen Westen, da mit auswärtigen Händlern fremde Ideen und Weltbilder in die Stadt strömten, die über lokale Druckereien in den weiteren Raum verbreitet wurden.287 Auf der anderen Seite verschloss sich der Stadtrat nicht nur aufgrund der starken Zünfte, Gilden und Gaffeln und dem hohem wirtschaftlichen Entwicklungsstand, sondern auch infolge des religiösen Einflusses des Erzbischofs und der 1388 gegründeten Universität – die erste auf deutschem Boden mit bürgerschaftlichem Ursprung –288 der Aufnahme calvinistischer Glaubensflüchtlinge; diese geistige Verschlossenheit konterkarierte die sonstige Offenheit der Stadt und nahm ihr wichtige Modernisierungsimpulse, doch kennzeichnete Köln insgesamt ein protobürgerlicher Charakter, der trotz aller oligarchisch-aristokratischer Tendenzen aus der adelsbestimmten Umgebung hervorstach. D.II.1.3. Reichsstadt Aachen/Aachener Reich289 Das 1166 zur Reichsstadt erhobene Aachen zog seine Reputation aus der Verbindung zu Karl dem Großen sowie seiner zwischen 936 und 1531 bestehenden Funktion als Hauptkrönungsort der deutschen Könige. Der Erbrat, ein Gremium aus königlich ernannten Schöffen, Beamten, Patriziat sowie adligen Abgesandten des Aachener Reiches, übernahm ab 1250 die unumschränkte Stadtregentschaft, bis der bis 1794 gültige Gaffelbrief den zu Wohlstand gekommenen Bürger und den wichtigsten städtischen Zünfte Regenten ab 1450 verbriefte Mitspracherechte einräumte.290 Ohne die Sternzunft – Adel und grundbesitzendes Patriziat – vollauf zu entmachten, schlugen politisch vollberechtigte Bürger fortan über die Gaffeln ihre Vertreter vor, aus denen sich die bestehenden Ratsgremien kooptier-
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Durchziehende Kaufleute waren gezwungen, ihre Waren für drei Tage abzuladen und in der Stadt zum Verkauf anzubieten; von hier aus wurden sie sodann faktisch gewinnbringend weiterverkauft. Der erste Buchdruck ist für Köln auf das Jahr 1466 datiert; zehn Jahre später existierten bereits 22 Druckereien in der Stadt. Vgl. Merlo, Johann Jakob: Beiträge zur Geschichte der kölner Buchdrucker und Buchhändler des 15. und 16. Jahrhunderts, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 19 (1868), S. 61-75, hier: S. 59. Zuvor hatten nur Kaiser oder Kurfürsten den Anstoß zu Universitätsgründungen gegeben. Vgl. hierzu Universität zu Köln: Kleine Kölner Universitätsgeschichte, einsehbar unter http://www.portal.unikoeln.de/universitaetsgeschichte.html (10.5.2011). Zum Aachener Herrschaftsgebiet, dem Aachener Reich, gehörten die Aachener Heide, der Stadtbusch, der Reichswald sowie die sieben um Aachen liegenden Quartiere Berg, Haaren, Orsbach, Soers, Vaals, Weiden und Würselen. Geistliches Nachbarterritorium war die 814 durch Benedikt von Aniane und Ludwig dem Frommen gegründete, reichsunmittelbare und bis 1802 bestehende Benediktinerabtei Kornelimünster, eine Wallfahrtsstätte von herausragender Bedeutung. Vgl. hierzu Sobania, Michael: Das Aachener Bürgertum am Vorabend der Industrialisierung, in: Gall, Lothar (Hrsg.): Vom alten zum neuen Bürgertum. Die mitteleuropäische Stadt im Umbruch, München 1991, 183-228, insb: S. 190-193.
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ten; einzig die Vertreter des Tuchgewerbes konnten ihre Abgesandten ohne Umweg über ihre Gaffeln in den Rat wählen. Mit den von dem Konfessionswechsel einflussreicher Stadtbürger, Gewerbetreibender und dem Zuzug niederländischer Glaubensflüchtlinge 1530 einsetzenden Aachener Reformationsunruhen gewannen protestantische Bekenntnisformen in Kommunalpolitik, Zünften und Bürgertum an Gewicht. Anstatt eines Ausgleichs kam es zu wiederholten Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen, so dass erst eine zweite Reichsacht unter Mithilfe spanischer Truppen 1614 zur endgültigen Vertreibung der Protestanten aus der Stadt und der Wiederherstellung des alten Glaubens bis zum Ende des Alten Reiches führte.291 Die Erteilung der Markt- und Münzrechte durch Friedrich I. Barbarossa leitete 1166 den wirtschaftlichen Aufschwung Aachens ein. Insbesondere das Tuchhandwerk wurde zum wichtigsten Gewerbezweig und die Wollenambacht, die Zunftorganisation der Walker, Färber und Leinenweber, zur politischen Macht in der Stadt.292 Erzvorkommen in und um Aachen erlaubten die Entstehung von Kupfer- und Messingproduktionsstätten,293 die günstige Verkehrslage die Beteiligung am Handel zwischen den Niederlanden und dem östlichen Deutschland. Das Aachener Umland erhielt mit der Vertreibung protestantischer Gewerbetreibender wirtschaftliche Entwicklungsimpulse, doch blieb auch Aachen im Kern bürgerlich bestimmt.294 D.II.1.4. Herzogtum Jülich-Berg295 Eine Nebenlinie der 1356 in den Herzogsstand aufgestiegenen Grafen von Jülich regierte seit 1348 in der 1380 zum Herzogtum erhobenen Grafschaft Berg; in Personalunion seit 1423 verbunden, wurde Düsseldorf zur jülich-bergischen Residenzstadt. Durch Heirats- und Verwandtschaftsbeziehungen entstand in der Folge der größte weltliche Territorialkomplex im historischen NRW: Bereits 1346 erwarben die bergischen Grafen das westfälische Ravensberg, 1521 gelang – unter märkischem Herrschergeschlecht – die Vereinigung mit dem Herzogtum Kleve-Mark. Die von Düsseldorf regierten Vereinigten Herzogtümer Jülich-Kleve-Berg wurde nach dem Tod Johann Wilhelms 1609 und dem folgenden Jülich-
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Vgl. allg. Molitor, Hansgeorg: Reformation und Gegenreformation in der Reichsstadt Aachen, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 98/99 (1992/93), S. 185–204. Begünstigt wurde es durch Wasserreichtum zum Waschen und Walken von Wolle, den Zugang zum Brennstoff Eifelholz, um sie zu Färben und die Nähe zu den niederländischen Absatzmärkten. Vgl. Buschmann, Walter: Textilindustrie in Aachen, in: Rheinische Industriekultur, einsehbar unter http://www.rheinische-industriekultur.de/objekte/aachen/Textil/textil.html (17.5.2010). Vgl. Bruckner, Clemens: Die wirtschaftsgeschichtlichen und standorttheoretischen Grundlagen der industriellen Tätigkeit innerhalb des Regierungsbezirks Aachen, Stolberg 1924, S. 19f. Mit dem stadtnahen Galmeiberg verlor Aachen allerdings bereits 1439 eine wichtige Rohstoffquelle für die Messingherstellung an die Burgunderherzöge. Vgl. Pohl, Hans: Montanunternehmer und Montanunternehmen im Rheinland vom Spätmittelalter bis ins 18. Jahrhundert, in: ders.: Wirtschaft, Unternehmen, Kreditwesen, soziale Probleme. Ausgewählte Aufsätze, Teil 1, Stuttgart 2005, S. 227-241, hier: S. 231. Vgl. Braubach, Max: Vom Westfälischen Frieden bis zum Wiener Kongress (1648-1815), in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 219-366, hier: S. 315. Das Herzogtum Jülich verlief linksrheinisch und umfasste die Kreise Heinsberg, Düren und Euskirchen sowie den südlichen Teil des Kreise Viersen, den westlichen Rhein-Erfts sowie Teile des Aachener Kreises; das Herzogtum Berg lag auf dem Gebiet der heutigen Kreise Mettmann, Rheinisch-Bergischer Kreis, Oberbergischer Kreis sowie des Rhein-Sieg-Kreises.
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Klevischen Erbfolgestreit mit dem Vertrag von Xanten 1614 aufgeteilt, wobei Jülich-Berg an den Wittelsbacher Wolfgang Wilhelm von Pfalz-Neuburg fiel. Die mit Wolfgang Wilhelm begonnene, im 17. und 18. Jahrhundert forcierte absolutistische Durchdringung des Landes – Philipp Wilhelm setzte 1653 die Teilhabe der Hofkanzlei an den Landtagsverhandlungen durch, Karl Philipp schränkte nach 1716 die Steuerbewilligungs- und Beschwerderechte der Stände ein – war durchlöchert durch die zunehmende Landferne der Herzöge: Nach der Erlangung der Kurpfalz 1685 verlegte das Herrschergeschlecht seinen Schwerpunkt in den deutschen Südwesten; ab 1716 wurde Jülich-Berg aus Mannheim, ab 1778 aus München regiert. Die adlig besetzte Ämterverfassung und das schwindende Interesse des pfälzischen Herrscherhauses an seinen rheinischen Besitztümern sicherten den Landständen größere Freiheiten und Einflussnahme gegenüber den kurfürstlichen Statthaltern. Unter dem Einfluss gelehrter Hofräte folgten die Düsseldorfer Herzöge Johann III. und Wilhelm V. in der Reformationszeit der via media. Die Humanisten Konrad Heresbach und Johann von Vlatten transferierten die erasmianische Lehre in das Herzogtum und begleiteten dessen liberal-ausgleichende und bedächtige Religionspolitik; selbst dem alten Glauben treu, ließ das Herrscherhaus seinen Untertanen mit einer auf Ausgleich bedachten Kirchenordnung von 1532 und der Anerkennung des Luthertums relative Freiheiten.296 Trotz der dem Herzogtum durch Karl V. im Vertrag von Venlo 1543 aufoktroyierten Verpflichtung, die Reformation zu bekämpfen und den Katholizismus zu stärken, unterbanden Hof und Räte Konfessionswechsel zumindest bis zur fortschreitenden Erkrankung Wilhelms V. 1566 nur zögerlich. Der Zuzug niederländischer Glaubensflüchtlinge, der hiesige Weseler Konvent und die Duisburger Generalsynode verbreiterten reformierte Kirchenvorstellungen, bis der ein Jahr zuvor zum Katholizismus zurückgekehrte Wolfgang Wilhelm – als Konvertit besonders motiviert – ab 1614 Rekatholisierungsmaßnahmen einleitete. Der Berufung von Jesuiten und Kapuzinern, dem Verbot nichtkatholischer öffentlicher Religionsausübung und der Ausweisung protestantischer Geistlicher waren allerdings durch die ausgleichenden Traditionen und Religionsvergleiche mit Brandenburg-Preußen Grenzen gesetzt, die 1666/72 gegenseitige Aufsichtsrechte, freie Glaubensausübung und Gemeindeleben festschrieben.297 Während die Gegenreformation durchaus Fortschritte machte, blieb die von unten gewachsene protestantische Gemeindevielfalt vor allem im Bergischen weitgehend erhalten; in ihrem Freiraum gestärkt durch presbyterial-synodale Selbstverwaltungsstrukturen, erleichterten diese im 17. und 18. Jahrhundert das Einsickern pietistischer Erweckungsbewegungen.298 Wirtschaftlich unterschieden sich die Entwicklungswege der Teilherzogtümer: Während das linksrheinische jülichsche Territorium über landwirtschaftlich ertragreiche Bördenzonen verfügte, besaß der rechtsrheinische bergische Landesteil vornehmlich karge Böden, war hügeliger und zerklüfteter; Erzvorkommen, die Nutzung der Wasserkraft und des Holzreichtum stießen hier – etwa entlang der Wupper – protoindustrielle, eisen- und me296
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Vgl. Smolinsky, Heribert: Jülich-Kleve-Berg, in: Schindling, Anton/Ziegler, Walter (Hrsg.): Die Territorien des Reiches im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500-1650, 7 Bde., Bd. 3: Der Nordwesten, Münster 1991, S. 86-106, hier: S. 90f. Vgl. ebd., S. 101, 103. Vgl. Braubach, Vom Westfälischen Frieden bis zum Wiener Kongress, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 239, 305.
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tallverarbeitende Gewerbeentwicklungen auch unabhängig von staatlicher Förderung an.299 Beide Landesteile erfuhren zudem Entwicklungsimpulse aus den Nachbarstaaten: Die Vertreibung protestantischer Gewerbetreibender aus Aachen und Köln, die Zuwanderung niederländischer Exulanten und die Gründung Kölner Produktionsstätten im Bergischen stimulierten die Textilherstellung in Monschau, Barmen oder Elberfeld, die insbesondere in letzteren Orten durch die Einräumung eines landesherrlichen Privilegs auf das Bleichen, Zwirnen und Handeln von Leinenerzeugnissen 1527 verstetigt wurde. Düsseldorf übernahm neben Köln den Handel der Erzeugnisse, war aber weit weniger auf den Rhein ausgerichtet und vornehmlich durch die höflichen Bedürfnisse bestimmte Beamtenstadt.300 D.II.1.5. Herzogtum Kleve301 1398 mit der Grafschaft Mark vereinigt und 1417 zum aus Kleve regierten Herzogtum erhoben, gehörte dieses ab 1521 zum Staatengebilde Jülich-Kleve-Berg. Nachdem das Herzogtum 1614 an Brandenburg-Preußen fiel, konnten die klevischen Stände hergebrachte Mitwirkungsrechte wie die Beachtung des Indigenats, des Steuerbewilligungs- wie des Selbstversammlungsrechts gegenüber den neuen Herrschen zunächst weitgehend verteidigten;302 Landadel und freie Bauern wurden mit den – in Kleve stärker als in anderen deutschen Ländern ausgebauten –303 jährlichen Erbentagen an der Steuerumlage, der Zuweisung von Geldern für Wege- und Brückenbau sowie an sozialen Hilfsleistungen in Amtsbezirken und Kirchspielen beteiligt.304 Obwohl der Zugriff Berlins wie überall in Preußen
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Vgl. ebd., S. 317. Bis in das 19. Jahrhundert hinein war Düsseldorf in erster Linie auf die bergische Düssel, sodann erst auf den deutsch-europäischen Rhein ausgerichtet. Vgl. Hüttenberger, Peter: Vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, in: Weidenhaupt, Hugo (Hrsg.): Düsseldorf. Geschichte von den Ursprüngen bis ins 20. Jahrhundert, 4 Bde., Bd. 3: Die Industrie- und Verwaltungsstadt, Düsseldorf 1989, S. 7-262, hier: S. 64f. Das Herzogtum Kleve umfasste in etwa das Gebiet der heutigen Kreise Kleve, Wesel, die nördlichen Teile des Viersener Kreises sowie Duisburgs. Vor allem das Interesse des kurfürstlichen Statthalters Moritz von Nassau-Siegen an der Unterhaltung der Truppen aus Landesmittel sorgte für entgegenkommende Kompromissbereitschaft. Vgl. Kloosterhuis, Jürgen: Preußen, Rheinland und Westfalen. Leitlinien einer Wechselbeziehung sowie Langhoff, Helmut/Veltzke, Veit: Im Westen viel Neues. Als Nordrhein-Westfalen preußisch war, in: Sensen, Stephan/Trox, Eckhard/Perrefort, Maria/Renda, Gerhard/Veltzke, Veit (Hrsg.): Wir sind Preußen. Die preußischen Kerngebiete in Nordrhein-Westfalen 1609-2009, Essen 2009, S. 5-10 sowie 11-88, hier: S. 8, 17. Vgl. Opgenoorth, Die rheinischen Gebiete Brandenburg-Preußens im 17. und 18. Jahrhundert, in: Baumgart, Expansion und Integration, S. 37f. Kurfürst Friedrich Wilhelm erließ 1647 die Verfügung zur Mitwirkung der so genannten Meistbeerbten bei der Steuerumlage, mit der in Ämtern und Kirchspielen, die die Erhebung der von den Landständen bewilligten Steuern an die Teilhabe der Meistbeerbten knüpfte. Zwar etablierte der Kurfürst hiermit kommunale Selbstverwaltungsorgane, beschnitt aber zugleich die Rechte der Landstände und die gemeindliche Selbstverwaltung. Vgl. Institut für westfälische Regionalgeschichte des Landesverbandes WestfalenLippe/Stiftung Westfalen-Initiative: Westfälische Geschichte. Verfügung zur Mitwirkung der so genannten Meistbeerbten bei der Steuerumlage, einsehbar unter http://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/portal/Internet/finde/langDatensatz.php?urlID= 761&url_tabelle=tab_chronologie (18.5.2010).
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zusehends ausgeweitet wurde, ermöglichten bereits die geographische Distanz sowie Statthalterregentschaften eine graduelle Eigenentwicklung Kleves.305 Räumliche Nähe und Austauschbeziehungen machten das Herzogtum zu einem besonderen Aufnahmegebiet für kulturelle Impulse aus den Niederlanden. Devotio moderna, Humanismus und Calvinismus strömten von dort nach Kleve und errangen über die schwankende Kirchenpolitik Jülich-Kleve-Bergs und den Herrschaftswechsel von 1614 hinaus an Bedeutung. Die 1555 im Geiste des erasmianischen Humanismus errichtete Hohe Schule in Duisburg und deren Erhebung zur reformierten Landesuniversität 1655,306 die Übernahme der synodal-presbyterialen Kirchenstruktur und des Heidelberger Katechismus durch die Duisburger Generalsynode 1610, das 1613 zum Calvinismus konvertierte preußische Herrscherhaus sowie die bevorzugte Einstellung reformierter Landesbeamter durch den in den Niederlanden ausgebildeten Friedrich Wilhelm I. wie seines langjährigen Statthalters Johann Moritz von Nassau-Siegen stärkten die Bekenntnisform, doch herrschte in Kleve ein durch die Religionsabkommen mit Jülich-Berg gesicherter Katholizismus in Glaube und Brauchtum vor.307 Herzog Wilhelm V. symbolisierte mit seinem Beinamen der Reiche den wirtschaftlichen Wohlstand Kleves; der Rhein begünstigte Handel und Gewerbe der Anliegerstädte und die Erträge der niederrheinischen Landwirtschaft. Die Hansestädte Duisburg und Wesel prosperierten, wurden unter niederländischem Einfluss Zentren der Tuch- und Textilherstellung, bildeten bedeutende Warenumschlagplätze und verschafften dem Staat hohe Steuereinnahmen.308 Kleve gehörte zu den rheinischen Territorien, in denen bäuerliche Abhängigkeitsverhältnisse eine vergleichsweise geringe Rolle spielten; anders als im restlichen rheinischen Raum galt im – niederfränkischen – Kleve das Anerbenrecht.309 1702 erbte das preußische Kleve die seit 1560 protestantische, 1578 reformierte Grafschaft Moers, die 1594 in den Besitz Moritz von Oraniens und unter einhundertjährigen niederländisch-oranischen Einfluss geraten war. Die in den konfessionellen Auseinandersetzungen zwischen den niederländischen Generalstaaten und den spanischen Habsburgern für neutral erklärte Grafschaft wurde Zufluchtsort protestantisch-mennonitischer Glaubensflüchtlinge; insbesondere Krefeld gelang mit ihrer Hilfe der Aufstieg zur Seidenund Textilstadt, der durch Unternehmer wie den 1656 aus Radevormwald zugewanderten Adolf von der Leyen sowie durch preußische Monopole verstetigt wurde.310 1713 fielen zudem Teile des alten habsburgisch-niederländischen Herzogtums Geldern an Kleve.311
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So besuchte Friedrich II. in seiner 46-jährigen Regentschaft ganze zwei Male seine Westprovinzen. Vgl. Braubach, Vom Westfälischen Frieden bis zum Wiener Kongress, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 280. Vgl. Petri, Glaubenskämpfe, in: ders./Droege, Rheinische Geschichte 2, hier: S. 182. Vgl. Smolinsky, Jülich-Kleve-Berg, in: Schindling/Ziegler, Die Territorien des Reiches 3, S. 102. Vgl. Kriedte, Peter: Taufgesinnte und großes Kapital. Die niederrheinisch-bergischen Mennoniten und der Aufstieg des Krefelder Seidengewerbes, Göttingen 2007, S. 51f. Vgl. Huppertz, Räume und Schichten bäuerlicher Kulturformen in Deutschland, S. 166. Kriedte, Taufgesinnte und großes Kapital, S. 152ff. Der Zugewinn umfasste die Gebiete um Goch, Geldern und Straelen.
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D. Das historische Nordrhein-Westfalen – Altes Reich
D.II.2. Westfalen D.II.2.1. Fürstbistum Münster312 Der durch Karl den Großen mit der Sachsenmission beauftragte Liudger legte 793 mit der Gründung eines Klosters (lat. monasterium) den Grundstein des späteren Münsters, für den größten westfälischen Flächenstaat sowie das ausgedehnteste geistliche Territorium des Alten Reiches.313 Zwischen 1532 und 1535 durch Reformationsversuche Franz von Waldecks und die Wirren des Täuferreichs in Fragegestellt, führte das Interesse an der Erhaltung dieser katholischen Vormacht 1585 zur erstmaligen Personalunion mit Kurköln; Münster war fortan wiederholt die politische Unabhängigkeit genommen.314 Innerhalb des Ständestaats garantierte das 1309 durch Bischof Konrad erteilte Landesprivileg die politische Teilhabe der münsterschen Landstände,315 doch gelang Christoph Bernhard von Galen ab 1650 die gewaltsame Durchsetzung der Zentralgewalt und die fortan maßgebliche deutliche Einschränkung ständischer Mitwirkungsrechte.316 Auf dem flachen Land banden Kirchspielstage adlige und bäuerliche Grundherrn ein.317 Kirche und Katholizismus prägten das Münsterland. Zwar bildete sich in der Landeshauptstadt 1401 die erste deutsche Niederlassung der Devotio moderna und wurde die Domschule unter Rudolf von Langen ab 1485 zu einem Zentrum des Humanismus,318 doch wurde gerade die Negativerfahrung des Täuferreichs Urgrund der Ablehnung jedweder Glaubensreform. Reformatorische Bekenntnisse blieben im Münsterland relativ unbedeutend, da die kurkölnischen Landesherrn das Fürstbistum rekatholisierten, den Jesuitenorden für Domschule und Gymnasium anwarben und das Bürgerrecht auf den katholischen Glauben beschränkten;319 unter Fürstbischof von Galen gelang die weitgehende Bekeh-
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Das Gebiet des Hochstifts umfasste den heutigen Regierungsbezirk Münster bis auf den östlichen Kreis Steinfurt und die jenseits der Lippe gelegenen Gebiete. Es war aufgeteilt in Hoch- und Niederstift; maßgeblich für das historische NRW ist das Gebiet des Hochstiftes. Das östlich des Hochstifts gelegene Amt Reckenberg war Exklave des Osnabrücker Fürstbistums, das seit dem Westfälischen Frieden abwechselnd durch katholische und evangelische Fürstbischöfe regiert wurde; letztere entstammten stets dem Hause Braunschweig-Lüneburg. Vgl. Scholz, Klaus: Das Spätmittelalter, in: Kohl, Westfälische Geschichte 1, S. 403-468, hier: S. 433f. Das Fürstbistum war aufgeteilt in Hoch- und Niederstift; maßgeblich für das historische NRW ist das Gebiet des Hochstiftes. Personalunionen mit Kurköln bestanden unter Ernst von Bayern 1585-1612, Ferdinand von Bayern 1612-1650, Maximilian Heinrich von Bayern 1683-1688, Clemens August von Bayern 1719-1761, Maximilian Friedrich von Königsegg-Rothenfels 1762-1784 und Maximilian Franz von Österreich 1784-1801. Vgl. zum Täuferreich allg. Kirchhoff, Karl-Heinz: Das Phänomen des Täuferreichs zu Münster 1534/35, in: Petri et. al., Der Raum Westfalen VI,1, S. 278–413. Kohl, Wilhelm: Germania sacra. Historisch-statistische Beschreibung der Kirche des Alten Reiches, Bd. 7, 1: Das Bistum Münster. Die Diözese, Berlin/New York 1999, S. 408ff. Vgl. Wolf, Manfred: Das 17. Jahrhundert, in: Kohl, Westfälische Geschichte 1, S. 537-604, hier: S. 586ff., 592. Vgl. Hartlieb von Wallthor, Die landschaftliche Selbstverwaltung Westfalens, S. 52ff. Vgl. Scholz, Spätmittelalter, in: Kohl, Westfälische Geschichte 1, S. 463, 481ff. sowie Hanschmidt, 18. Jahrhundert, ebd., S. 673f. Vgl. Körber, Esther-Beate: Gegenreformation, oder: Wie der Katholizismus zur Religion wurde, in: Faber, Richard (Hrsg.): Katholizismus in Geschichte und Gegenwart, Würzburg 2005, S. 79-96, hier: S. 94.
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rung des zum Protestantismus konvertierten Adels.320 Trotz aller Beharrungskräfte wurde das Fürstbistum unter dem ab 1762 durch Franz von Fürstenberg geleiteten Kurkölnischen Provinzialministerium für Münster zum Vorreiter innerer Schulreformen und der katholischen Aufklärung. Im Wirtschaftsleben war insbesondere im Kernmünsterland die Landwirtschaft der bestimmende Sektor, während im umliegenden Sandmünsterland ländliche Textilgewerbe entstanden; anstelle staatlicher Fördermaßnahmen stießen die aus den Niederlanden emigrierten und infolge des Täuferreichs aus Münster vertriebenen Mennoniten die Produktion an. Die allmähliche Verbesserung des Warentransports durch Friedrich Christian von Plettenbergs Straßenbaumaßnahmen erfuhr durch den 1724 begonnenen, nicht fertiggestellten Bau des Max-Clemens-Kanals keine Ergänzung und verhinderte die Anbindung an das holländische Wasserstraßennetz und die Nordsee; die relative Verkehrsferne erschwerte den Austausch von Waren und Ideen und hemmte die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung. Abseits der bürgerlicheren Hanse- und Verwaltungsstadt Münster lebten im Fürstbistum insbesondere eigenbehörige Bauern mit einer breiten Heuerlingsschicht.321 D.II.2.2. Fürstbistum Paderborn322 Das 799 durch Papst Leo III. und Karl dem Großen zum Bistumssitz erhobene Paderborn schaffte mit unter Bernhard V. zur Lippe (1321-1341) den endgültigen Aufstieg zur Territorialmacht. Von ihm betriebene Städtegründungen durchdrangen das kirchenrechtlich der Mainzer Kirchenprovinz, politisch aber frühzeitig und mehrfach dem Kölner Kurfürstentum unterstehende Land und sicherten die territorialen Herrschaftsrechte.323 Das 1326 ausgestellte Privilegium Bernhardi sicherte den Landständen ihr Selbstversammlungsrecht, die Mitbestimmung über Steuerfragen und Beamtenbesetzungen sowie die Befreiung von Bede und Akzise. Im Zusammenspiel mit der Verbannung Bürgerlicher aus dem Domkapitel 1341, der Aufrechterhaltung der Patrimonialgerichtsbarkeit über das Alte Reich hinaus und fehlender lokaler Selbstverwaltungselemente324 erhielt es das Übergewicht des Landadels im Paderborner Land; im rheinisch-westfälischen Vergleich kennzeichneten das Fürstbistum die ausgeprägtesten feudalen Züge.325 320 321
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Vgl. Kohl, Germania sacra 7, 1, S. 274f. Vgl. Kohl, Wilhelm: Im Zeitalter der Glaubenskämpfe, in: ders., Westfälische Geschichte 1, S. 469-536, hier: S. 487f.; Hanschmidt, 18. Jahrhundert, ebd., S. 660f. sowie Mayr, Alois: Die Wirtschaftsräume Westfalens im Überblick, in: Kohl, Wilhelm (Hrsg.): Westfälische Geschichte. Bd. 3: Das 19. und 20. Jahrhundert. Wirtschaft und Gesellschaft, Düsseldorf 1984, S. 1-40, hier: S. 18. Das Fürstbistum Paderborn umfasste bis auf das Gebiet des Fürstbistums Corvey die heutigen Kreise Paderborn und Höxter. Nachbargebiet Paderborns war die 822 nahe des Königsguts Huxori durch Mönche aus dem französischen Corbie begründete Abtei Corvey, die der geistigen Jurisdiktion Paderborns unterstand und bis auf den weitgehend autonomen Vorort Höxter bis zu seiner Säkularisation 1794 dem katholischen Glauben treublieb. Vgl. Scholz, Spätmittelalter, in: Kohl, Westfälische Geschichte 1, S. 425f. sowie Kohl, Glaubenskämpfe, ebd., S. 519f. Zeitgleich in Kurköln und Paderborn herrschten Dietrich III. von Moers (1415-1463), Hermann I. von Hessen (1498-1508), Hermann II. von Wied (1532-1547), Salentin von Isenburg (1574-1577), Ferdinand von Bayern (1618-1650) sowie Clemens August von Bayern (1719-1761). Vgl. Hartlieb von Wallthor, Landschaftliche Selbstverwaltung, S. 51, 54. Vgl. Kraayvanger, Theodor: Die Organisation der preußischen Justiz und Verwaltung im Fürstentum Paderborn 1802-1806, Münstersche Beiträge zur Geschichtsforschung 17 (1905), S. 16.
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Neben Paderborn wandten sich in der Reformationszeit zahlreiche Städte und Ritter dem neuen Glauben zu, bis das Fürstbistum unter Heinrich von Sachsen-Lauenburg (15771585) fast gänzlich protestantisch war. Erst sein Nachfolger Dietrich IV. von Fürstenberg stoppte diese Entwicklung, unterwarf die Landeshauptstadt 1604 gewaltsam und schaffte die Bekenntnisfreiheit ab; er förderte das Paderborner Theodorianum und eine 1614 gegründete Theologisch-Philosophische Hochschule – die erste Universität Westfalens –, um mithilfe der Jesuiten den alten Glauben zu stärken.326 Vor allem die Kirchenpolitik Dietrichs, aber auch die seiner Nachfolger sicherte den katholischen Charakter des durch zahlreiche Klöster durchdrungenen Landes und seiner Bevölkerung.327 Trotz Weserzugangs lag das Fürstbistum Paderborn abseits der großen Handels- und Ideenströme. Neben der auf weitgehend minderwertigen Böden betriebenen Landwirtschaft erlaubten Wälder- und Holzreichtum sowie Bodenschätze wie Eisen oder Salz die gewerbliche Nutzung des Landes, ohne die relative sozioökonomische Rückständigkeit des durch den Dreißigjährigen Krieg stark in Mitleidenschaft gezogenen Landes zu überwinden. Trotz relativer bäuerlicher Freiheiten blieben Reste adliger Patrimonialgerichtsbarkeit bis in das 19. Jahrhundert hinein bestehen und tradierten das klerikal-adlige Gesicht des Fürstbistums.328 D.II.2.3. Herzogtum Westfalen329 Nach der Worringer Niederlage arrondierte der Kauf der Grafschaft Arnsberg 1368 die 1180 erlangten westfälischen Besitzrechte Kurkölns, die einzig 1444/49 den Abfall Soests erfuhren. Ernannte Marschälle übten die stellvertretende Landesherrschaft aus und banden das kölnische Sauerland an das Kurfürstentum, ohne dass dieses vollauf in jenem aufging. Das Herzogtum blieb bis 1802 ein Ständestaat mit relativer Unabhängigkeit, die stellvertretende Landesverwaltung beließ ihm Freiräume und hemmte seine absolutistische Durchdringung. Städte und Ritter machten bereits mit der 1437 gegen den Erzbischof geschlossenen, 1463 bestätigten Erblandesvereinigung Mitspracherechte geltend; zudem erhielt das Gebiet eine aus Landdrost und bürgerlich-adligen Räten bestehende eigene Regierung, einen eigenen Landtag – auf dem das Kölner Domkapitel regulär nicht mit Sitz und Stimme vertreten war – und 1662 die Zusage, sämtliche Verwaltungsstellen einzig mit landsässigen Katholiken zu besetzen. Der Einfluss des katholischen Landadels zeigte sich auch in der an Landbesitz gebundenen Teilhabe an ländlichen Gemeindeversammlungen.330 Die Reformation ging weitgehend am Herzogtum vorbei, gegenreformatorische Ordensanwerbungen stärkten Klosterlandschaft und Religiosität genauso wie die Bindung
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Vgl. Kohl, Glaubenskämpfe, in: ders., Kohl, Westfälische Geschichte 1, S. 514ff. Ansässig waren die Benediktiner, die Zisterzienser, die Franziskaner, die Dominikaner sowie die Augustiner-Chorherren. Vgl. Wolf, 17. Jahrhundert, in: Kohl, Westfälische Geschichte 1, S. 596f. Nachdem das Fürstbistum 1802 an Preußen gefallen war, herrschte bei den einrückenden Herrschern großes Entsetzen ob der Rückständigkeit des Landes. Vgl. zur Rückständigkeit Heggen, Alfred: Staat und Wirtschaft im Fürstentum Paderborn im 18. Jahrhundert, Paderborn 1978, S. 14-34. Das Herzogtum Westfalen überspannte die heutigen Kreise Olpe und Hochsauerlandkreis, bis auf die Vorstadt große Teile des Kreises Soest sowie Randgebiete des Märkischen Kreises um Menden und Balve. Vgl. Hartlieb von Wallthor, Die landschaftliche Selbstverwaltung Westfalens, S. 21.
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öffentlicher Ämter an das katholische Bekenntnis;331 auch die unter Landdrost Franz Wilhelm von Spiegel betriebene geistige Öffnung verschaffte dem Herzogtum zum Ende des Alten Reichs nur spärliche Modernisierungsanstöße.332 Zurückhaltende staatliche Gewerbeförderung – Manufakturen wurden erst 1791 vom Zunftzwang befreit – und naturräumliche Benachteiligung bedingten den wirtschaftlichen Entwicklungsrückstand des kölnischen Sauerlandes, dessen periphere Lage es von überregionalen Austauschbeziehungen abschnitt und dem mit der Soester Fehde fruchtbare Bördenzonen, Salzvorkommen und ein wohlhabender Handelsstandort genommen war.333 Holz- oder Erzressourcen wurden primär in die bergisch-märkischen Gewerbekerne exportiert, einzig Balve oder Olpe taten sich als Eisenerzeuger und -verarbeiter hervor.334 Obwohl die hohe Zahl an Kolonaten und Erbpächtern bäuerliche Abhängigkeiten minderte, existierten bis 1803 vierzehn Patrimonialgerichte und unterstrichen die adelsbestimmten Gesellschaftsstrukturen.335 D.II.2.4. Fürstbistum/Fürstentum Minden336 Das 799 durch Karl den Großen gegründete Fürstbistum war eines der kleinsten geistlichen Herrschaftsgebiete des Alten Reiches. 1648 säkularisiert und in den brandenburgischen Staat eingegliedert, wurden die 1353 in einer Wahlkapitulation festgeschriebenen Mitwirkungsrechte des Domkapitels sowie die Landtagsvertretung von Landadel und Städten über den Bruch von 1648 hinübergerettet und in dem Homagialrezess von 1650 sowie dem Reinebergischen Rezess von 1667 bestätigt;337 Brandenburg-Preußen sicherte in dem fortan weltlichen Territorium auch Kirchenvertretern landschaftliche Mitsprache, bis sie im Zuge der Verwaltungsreformen des 18. Jahrhunderts deutlich beschnitten wurden. Die relative religiöse Offenheit Brandenburg-Preußens folgte dem besonderen Charakter Mindens, der den brandenburgischen Staat nicht herausforderte: Bereits 1530 hatte sich die Hauptstadt als erste in Westfalen eine lutherische Kirchenordnung gegeben, 331
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Vgl. Klueting, Harm: Das kurkölnische Herzogtum Westfalen als geistliches Territorium im 16. und 18. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.): Das Herzogtum Westfalen. Bd. 1: Das kurkölnische Westfalen von den Anfängen kölnischer Herrschaft im südlichen Westfalen bis zu Säkularisation 1803, Münster 2009, S. 443518, hier: S. 468f. sowie Baulmann, Klaus: Jesuiten - Minoriten - Franziskaner - Kapuziner: Klöster und Ordenswesen in der frühen Neuzeit, in: Ebd., S.519-543. Vgl. Saal, Friedrich Wilhelm: Das Schul- und Bildungswesen, in: Kohl, Westfälische Geschichte 3, S. 533618, hier: S. 537, 554ff. Der bergige Südosten machte ca. 80% der Landesfläche aus und erschwerte die landwirtschaftliche Nutzung des Gebiets. Vgl. Reininghaus, Wilfried: Salinen, Berg- und Hüttenwerke, Gewerbe und Handel im Herzogtum Westfalen, in: Klueting, Das kurkölnische Herzogtum Westfalen 1, S. 719–760. Vgl. Gorißen, Stefan: Ein vergessenes Revier. Eisenerzbergbau und Eisenhüttenwesen im Herzogtum Westfalen im 18. Jahrhundert, in: Ellerbrock, Karl Peter/Bessler-Worbs, Tanja (Hrsg.): Wirtschaft und Gesellschaft im südöstlichen Westfalen, Dortmund 2001, S. 27–47. Vgl. Selter, Bernward: Landwirtschaft, Waldnutzung und Forstwesen im Herzogtum Westfalen, in: Klueting, Herzogtum Westfalen S. 761-822 sowie Landschaftsverband Westfalen-Lippe: Aufbruch in die Moderne – Das Beispiel Westfalen. Adlige Gerichtsbarkeit, einsehbar unter http://www.lwl.org/LWL/Kultur/Aufbruch/themen_start/politik/verfassung/gleichheit/abschaffung_ privilegien/gerichtsbarkeit/index2_html (19.5.2010). Das Gebiet des Fürstbistums/Fürstentums Minden deckte sich weitgehend mit dem heutigen Kreis Minden-Lübbecke. Vgl. Nordsiek, Hans: Zur Eingliederung des Fürstentums Minden in den brandenburgisch-preußischen Staat, in: Baumgart, Expansion und Integration, S. 45-79, hier: S. 58f.
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Fürstbischof Franz von Waldeck (1530-1553) ließ die Reformation gewähren, zwischen 1554 und 1631 amtierten evangelische Administratoren aus den Häusern Braunschweig-Lüneburg und Schauenburg als Fürstbischöfe, seit 1583 war die Augsburger Konfession die alleinige im Lande;338 ein gemischtkonfessionelles Domkapitel stand fortan einem weitgehend lutherischen, von reformierten Einwanderungswellen kaum berührten Land gegenüber. Neben dem hohen Anteil an bäuerlichen Unterschichten waren die ertragsärmeren Sandböden und der auf ihnen betriebene Flachs- und Hanfanbau Ausgangspunkte der Entstehung heimgewerblicher Leinen- und Textilgewerbe.339 Preußische Förderprogramme vernachlässigten die wirtschaftliche Entwicklung des durch den Unabhängigkeitskampf des Dreißigjährigen Krieges finanziell ausgezehrten Fürstentums,340 und auch Minden – seit 977 im Besitz von Marktrechten und ab 1627 mit dem Stapelrecht ausgestattet – büßte seinen durch den Weserhandel erwirtschafteten frühbürgerlichen Wohlstand infolge seines Ausbaus zur Festungsstadt ein.341 D.II.2.5. Grafschaft Ravensberg342 Die 1140 erstmals bezeugte Grafschaft Ravensberg verlor nach dem Tod Bernhards 1346 ihre staatliche Unabhängigkeit und fiel an Gerhard von Jülich, ab 1348 Graf von Berg; als Bestandteil der Vereinigten Herzogtümer Jülich-Kleve-Berg ging Ravensberg 1614 an Brandenburg-Preußen. Trotz formaler Abhängigkeit gelang dem durch Stellvertreter regierten Land die Wahrung einer gewissen Eigenständigkeit und den Landständen die Beeinflussung der Landesentwicklung. Innerhalb der 1653 dezentralisierten Staatsverwaltung nahm der Sparrenberger eine Vorrangstellung gegenüber den drei weiteren Landdrosten ein, und die Ravensberger Regierungskanzlei war mit je zwei einheimischen adligen und bürgerlichen Räten besetzt, bis die administrative Zusammenlegung mit Minden diese hergebrachten Mitspracherechte beschnitt.343 Besondere religiöse Bedeutung besaß Herford: Seit 820 Sitz eines Frauenstifts, wurde die Stadt Heimat zahlreicher Klosterorden. Nachdem die Lateinschule der um das Stift entstandenen Siedlung Ausstrahlungspunkt für Humanismus und Reformation wurde, wandten sich nach 1530 infolge der Religionspolitik der Düsseldorfer Herzöge zunächst die umliegenden Städte, 1533 auch die reichsunmittelbare Abtei dem lutherischen Bekenntnis zu.344 Während der Calvinismus kaum nach Ravensberg eindrang, gewannen im 18. Jahrhundert pietistische Erweckungsbewegungen umso größeren Einfluss. Der zwischen 1751 und 1771 in Gohfeld wirkende Friedrich August Weihe war Pionier und Vor-
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Vgl. Kohl, Glaubenskämpfe, in: ders., Westfälische Geschichte 1, S. 500, 510f. Vgl. Hanschmidt, 18. Jahrhundert, in: Kohl, Westfälische Geschichte 1, S. 652, 661 sowie Mayr, Wirtschaftsräume, in: Kohl, Westfälische Geschichte 3, S. 35. Vgl. Nordsiek, Zur Eingliederung des Fürstentums Minden, in: Baumgart, Expansion und Integration, S. 53. Vgl. ebd., S. 64ff. Das Territorium der Grafschaft lag zwischen Wiehengebirge im Norden, Teutoburger Wald im Süden, der heutigen Landesgrenze zu Niedersachsen im Westen sowie der Grafschaft Lippe im Osten. Vgl. Renda, Gerhard: Preußens Spuren in Minden-Ravensberg, in: Sensen et. al, Wir sind Preußen, S. 195216, hier: S. S. 196f., 203. Vgl. Kohl, Glaubenskämpfe, in: ders., Westfälische Geschichte 1, S. 476ff., 494, 524.
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kämpfer jener Glaubenserneuerung, die dem Landstrich über das Alte Reich hinaus eine besondere religiös-kulturelle Prägung gab.345 Fruchtbare, ertragreiche Böden machten die Grafschaft zu einem stark landwirtschaftlich geprägten, dichtbesiedelten Raum, der aufgrund ähnlicher Voraussetzungen wie in Minden durch heimgewerbliche Garn- und Leinenherstellung ergänzt wurde. Unter staatlicher Qualitätskontrolle und Förderung – die hier höher ausfiel als in den anderen preußischen Westprovinzen –346 entwickelten sich Ravensberger Textilerzeugnisse zu Spitzenprodukten, die über die Kaufmannsstadt Bielefeld vertrieben wurden.347 Herford war spätestens seit 973 mit Markt- und Münzrechten ausgestattet und wurde unter kaiserlicher Förderung zur Hanse- und Handelsstadt. D.II.2.6. Grafschaft Mark348 Der bergischen Nebenlinie der Grafen von Altena – seit dem frühen 13. Jahrhundert nach ihrer bei Hamm gelegenen Burg Mark benannt – gelang nach der Schlacht von Worringen, dem Antritt des Klevischen Erbes 1368 und der Vereinigung der Länder 1398 der Aufstieg zur weltlichen westfälischen Vormacht. Innerhalb des Territorialkomplexes geriet die Grafschaft jedoch trotz der Besetzung des Herrscherhauses, dichterer Bevölkerung und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit zu einem Nebenland, da Kleve die wichtigsten Beamtenstellen besetzte; seit 1521 wurde sie als Teil Jülich-Kleve-Bergs aus Düsseldorf regiert.349 1614 trat Johann Sigismund die Herrschaft an und integrierte die weiterhin aus Kleve verwaltete Grafschaft in den brandenburg-preußischen Staat. Aufgrund der Beibehaltung getrennter Versammlungs- und Beratungsrechte blieb die erstmalig 1347 festgeschriebene Mitwirkung der märkischen Landstände auch nach der Vereinigung mit Kleve erhalten; ein dilatorischer Rezess bestätigte 1649 diese weitreichende Selbständigkeit zunächst, um sie jedoch bereits 1660 einzuschränken.350 Amts- und Erbentage waren – ähnlich dem Herzogtum Kleve – weitere, hier besonders stark ausgebaute Mitspracheelemente.351
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Vgl. Renda, Preußens Spuren in Minden-Ravensberg, in: Sensen et. al, Wir sind Preußen, S. 211. Das Interesse, das Preußen am Erhalt jenes Gewerbes hatte, zeigt sich am Beispiel der 1765 staatlich initiierten Leihekasse, die Kredite an Kaufleute zur Förderung des Leinengewerbes vergab. Auch drängte die Kriegs- und Domänenkammer auf die Einführung von Bleichen nach holländischem Vorbild. 1787 erfolgte die Stiftung eines Gnadenfonds, der den Fabriquengarten Bielefelder Kaufleute entwickeln helfen sollte. Vgl. ebd., S. 200, 205, 208. Vgl. auch Elkar, Rainer S.: Alte Ökonomie und neue Dynamik: Rheinland-Westfalen während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Briesen, Detlef/Brunn, Gerhard/Elkar, Rainer S./Reulecke, Jürgen: Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte Rheinlands und Westfalens, Köln u.a. 1995, S. 14-78, hier: S. 42 Die Grafschaft Mark erstreckte sich über den heutigen Märkischen Kreis, über den Ennepe-Ruhr-Kreis ins Bochumer Ruhrgebiet und griff über die Kreise Unna und Hamm bis nach Soest aus. Seit 1273 war die zwischen Bergneustadt, Gummersbach und Marienheide gelegene rheinisch-bergische Grafschaft Gimborn an die Grafschaft Mark gebunden, fiel jedoch 1550 an das mainfränkische Adelsgeschlecht Schwarzenberg, das dort ab 1560 die Reformation einführte. Vgl. Wolf, 17. Jahrhundert, in: Kohl, Westfälische Geschichte 1, S. 576. Die Mitwirkung erstreckte sich auf die Themenfelder Steuerbewilligung, Beamtenbesetzung und Auswärtiges. 1649 wurde den Landständen ein Selbstversammlungsrecht, das Verhandlungsrecht mit auswärtigen Mächten sowie der Verzicht auf Truppenstationierungen garantiert; letztere Recht wurden bereits 1660 aufgehoben. Vgl. Scholz, Spätmittelalter, in: Ebd., S. 420 sowie Wolf, 17. Jahrhundert, ebd., S. 573ff. Vgl. Hartlieb von Wallthor, Die landschaftliche Selbstverwaltung Westfalens, S. 13.
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Die unentschiedene Religionspolitik der Düsseldorfer Herzöge ließ Raum für die Ausbreitung der Reformation. Märkischer Landadel und Städte verteidigten ihre Hinwendung zu dem neuen Glauben gegen die gegenreformatorische Düsseldorfer Wende von 1566, doch wurde aus der Grafschaft auch infolge der Zusicherung von Gewissensfreiheit und freier Religionsausübung seitens Brandenburgs keineswegs eine konfessionelle Einheitslandschaft;352 charakteristisch wurde vielmehr – bei Dominanz des lutherischen Bekenntnisses – ein Nebeneinander der Bekenntnisse, das auch katholischen Klöstern und reformierten Synoden Platz bot.353 Aufgrund ihrer wirtschaftlichen Potenz war die Grafschaft Mark für den brandenburgischen Staat das Herzstück seines 1614 angetretenen Erbes; in seinen Grundbedingungen entlang der Ruhr zweigeteilt, stand einem fruchtbaren, landwirtschaftlich genutzten Norden ein bergiger, protoindustrieller und gewerblich fortschrittlicher Süden gegenüber.354 Im märkischen Sauerland waren Erzlagerstätten, Waldreichtum und die Nutzung der Wasserkraft von Ruhr und Lenne natürliche, weitgehende Zunftfreiheit, die Zuwanderung bergischer Fachkräfte sowie preußisch-staatliche Förderung gesellschaftliche Bedingungen für den Aufbau kleinbetrieblicher Eisen- und Metallproduktionsstätten etwa in Iserlohn, Altena oder Lüdenscheid sowie den Produktvertrieb über den Hellweg.355 Da die mit der Gewerbeausübung einhergehende Holzkohlenknappheit zunehmend die Eisenerzverhüttung behinderte, wurde mit der 1766 eingeführten Revidierten Bergordnung für das Herzogtum Kleve, das Fürstentum Moers und die Grafschaft Mark der Abbau der im märkischen Süden nur knapp unterhalb der Erdoberfläche liegenden Steinkohlevorkommen intensiviert und der Staat zum maßgeblichen Wirtschaftsakteur.356 Während sich nördlicher Landadel und freier Bauernstand auf die Landwirtschaft konzentrierten, wurde die Mark insgesamt zu einem proto(wirtschafts-)bürgerlichen Zentrum.357
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Vgl. Trox, Eckard: Preußen und der Aufbruch in den Westen. Die Grafschaft Mark zwischen Beharrung und Modernisierung – neue Wege der Forschung, in: Sensen et. al, Wir sind Preußen, S. 89-118, hier: S. 89. Vgl. Müller, Gerhard (Hrsg.): Theologische Realenzyklopädie, Bd. 35: Vernunft III – Wiederbringung aller, Berlin 2003, S. 690. Vgl. ebenso Kohl, Glaubenskämpfe, in: ders.: Westfälische Geschichte 1, S. 499, 523ff. Vgl. Trox, Preußen und der Aufbruch, in: Sensen et. al, Wir sind Preußen, S. 91. Vgl. Hanschmidt, 18. Jahrhundert, in: Kohl, Westfälische Geschichte 1, S. 663f. sowie Mayr, Wirtschaftsräume, in: Kohl, Westfälische Geschichte 3, S. 28ff. Die Bergordnung führte das Direktionsprinzip ein, das die staatlichen Aufsichtsrechte durch die Gründung von Bergbehörden und deren Führung der Zechen ergänzte, um die Wirtschaftsentwicklung zu fördern. Vgl. Handschmidt, 18. Jahrhundert, in: Kohl, Westfälische Geschichte 1, S. 676. Vgl. auch Trox, Preußen und der Aufbruch, in: Sensen et. al, Wir sind Preußen, S. 98ff.
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D.II.2.7. Grafschaft Tecklenburg/Obergrafschaft Lingen358 Ekbert von Tecklenburg leitete 1139 den Aufstieg des durch verschiedene Herrschaftswechsel gekennzeichneten Tecklenburger Grafenhaus – 1262 und erneut 1557 übernahmen die Grafen von Bentheim, 1328 die Grafen von Schwerin die Regentschaft – ein, der nach andauernden Auseinandersetzungen um die Vogtei über die Fürstbistümer Münster und Osnabrück mit dem Abtritt der nördlichen Territorialhälfte an Münster 1400 endete. Wo sich das Grafenhaus 1493 zunächst nur in die Linien Tecklenburg-Rheda und Lingen teilte, musste Tecklenburg 1547 infolge des Schmalkaldischen Krieges den endgültigen Entzug Lingens hinnehmen, in dem sich fortan spanisch-habsburgische und nassau-oranische Herrscher abwechselten. Nachdem Preußenkönig Friedrich I. 1702 Lingen erbte und 1707 Tecklenburg käuflich erwarb, wiedervereinte er die beiden Grafschaften administrativ. Da bedeutende Städte fehlten, waren als einzige die adligen Besitzer landtagsfähiger Güter an der Landesverwaltung beteiligt, sanken aber frühzeitig zur Bedeutungslosigkeit herab.359 Statthalter, Drosten und Kirchspielsvogteien setzten den landesherrlichen Willen durch, bis Tecklenburg-Lingen in preußischer Zeit – trotz einer 1769 geschaffenen eigenen Kammer – bis zum Ende des Alten Reiches faktisch der Mindener Kriegs- und Domänenkammer unterstand. Die Reformation wurde in Tecklenburg-Lingen obrigkeitlich eingeführt: Konrad von Tecklenburg setzte 1534 das lutherische Bekenntnis zunächst in Tecklenburg, 1541 auch in Lingen durch. Sein Tecklenburger Nachfolger Arnold II. von Bentheim-SteinfurtTecklenburg trat 1575 zum Calvinismus über und ersetzte 1588 die lutherische durch eine reformierte Kirchenordnung; die im selben Jahr in Schüttorf gegründete, später nach Burgsteinfurt übergesiedelte Hohe Schule ergänzte mit Gelehrten wie Johannes Althusius die Ausbreitung des Calvinismus. In Lingen verlief die Entwicklung facettenreicher: 1597 wurde mit der Besetzung durch Moritz von Nassau-Oranien der reformierte Glaube eingeführt und nach spanischer Rückeroberung 1605 der Katholizismus erneuert, um unter abermaliger oranischer Herrschaft ab 1634 zum Calvinismus zurückzukehren. Während sich im Tecklenburger Landesteil der reformierte Glaube weitgehend durchsetzte, wurde Lingen konfessionelle Mischlandschaft mit katholischem Übergewicht.360
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Tecklenburg und die Obergrafschaft Lingen deckten zwischen Recke, Ibbenbüren, Tecklenburg, Ladbergen und Lienen den östlichen Teil des heutigen Kreises Steinfurt ab. Seit der Regierungszeit Ottos VI. von Tecklenburg (1360/67–1388) war die um Rheda und Wiedenbrück gelegene Herrschaft Rheda an das Grafenhaus gebunden. 1527 lutherisch geworden, führte die seit 1557 regierende Bentheimer Linie 1588 das reformierte Bekenntnis ein, musste aber infolge des 1565 mit dem Fürstbistum Osnabrück geschlossenen Bielefelder Rezesses den Verbleib Güterslohs beim lutherischen Bekenntnis sowie Clarholz’ und Herzebrocks beim katholischen Glauben hinnehmen. Die wechselvolle Geschichte der um Iserlohn, Hagen und Schwerte gelegenen Grafschaft Limburg war ab 1592 ebenfalls mit der Bentheim-Tecklenburger Grafenlinie verbunden; Arnold IV., der Ehemann der Schwester des 1589 verstorbenen Limburger Grafen Adolf von Neuenahr, wurde mit der Grafschaft belehnt, und förderte den reformierten Glauben. Zeitgenössische Chroniken beklagten, „alles geschiehet von der Landesadministration ohne Mitwirkung der Stände.“ Vgl. Hartlieb von Wallthor, Die landschaftliche Selbstverwaltung Westfalens, S. 12f. Vgl. auch Leonhardi, Friedrich Gottlob: Erdbeschreibung der preußischen Monarchie, Bd. 4,2, Halle 1797, S. 67f. Vgl. Kohl, Glaubenskämpfe, in: ders.: Westfälische Geschichte 1, S. 521. Vgl. ebenso Evangelischreformierte Kirche: Niedergrafschaft Lingen, einsehbar unter http://reformiert.de/niedergrafschaftlingen.html (24.5.2010).
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D. Das historische Nordrhein-Westfalen – Altes Reich
In den stark ländlich geprägten Grafschaften Tecklenburg und Lingen war auf nach Südosten hin fruchtbareren Böden die Agrarwirtschaft wichtigster Erwerbszweig, doch zwangen die Hanglagen des Teutoburger Waldes und das Anerbenrecht die große Schicht der Heuerlinge zur Suche nach anderen Nahrungsquellen. Neben der Wanderarbeit – der Hollandgängerei – entwickelten sich auf den Grundlagen des Flachs- und Hanfanbaus in Heimarbeit betriebene Leinenproduktionen;361 Wanderhändler wie die Tüötten übernahmen den Vertrieb der im Winter hergestellten Waren. Die um Ibbenbüren vorhandenen Eisenerz- und Kohlevorkommen wurden zwar seit dem 16. Jahrhundert erschlossen, ohne dass sich hier dem bergisch-märkischen Raum vergleichbare Gewerbestrukturen entwickelten. D.II.2.8. Fürstentum Nassau-Siegen362 Die Kontinuität in der durch Abspaltungen und Vereinigungen gekennzeichneten Geschichte Nassau-Siegens war die Beziehung zum Fürstentum Nassau. Die 1303 begründete Siegener Linie – zwischen 1328 und 1606 mit Nassau-Dillenburg vereinigt – teilte sich 1623 in einen katholischen und einen evangelischen, 1664 zum Fürstentum erhobenen Landesteil, die gemeinsam 1743 an das niederländisch-oranische Nassau-Diez fielen. Eine landständische Mitverwaltung ist nicht auszumachen oder spielte keine bedeutende Rolle.363 Die 1533 lutherisch gewordene Grafschaft erfuhr durch eine Verfügung Johanns VI. von Nassau-Dillenburg den Übergang zum Calvinismus: Er berief 1569 den reformierten Pastor Gerhard Geldenhauer nach Herborn, machte ihn 1572 zum Nassauer Superintendenten und führte 1579 eine reformierte Kirchenordnung ein;364 die 1581 übernommenen Heidelberger Regularien verpflichteten die Landespfarrer auf das neue Bekenntnis und festigten die Einbindung der Kirche in den Staat.365 Mit der Gründung einer Hohen Schule wurde 1584 in Herborn ein geistiges Zentrum des Calvinismus geschaffen, das die Nassauer Pfarrer und – vermittelt über das Schulwesen – auch die Bevölkerung im neuen Glauben ausbilde-
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Vgl. Balzer, Manfred: Grundzüge der Siedlungsgeschichte, in: Kohl, Westfälische Geschichte 1, S. 231274, hier: S. 268. Vgl. ebenso Scholz, Mittelalter, ebd., S. 446 sowie Hanschmidt, 18. Jahrhundert, ebd., S. 660ff. Das Fürstentum Nassau-Siegen umfasste das Gebiet des zwischen 1817 und 1974 bestehenden Kreises Siegen. Der Einfachheit ob der vielen Spaltungen halber sei einheitlich von Nassau-Siegen gesprochen, um den Bezug auf Nordrhein-Westfalen deutlich zu machen. Vgl. Krüger, Kerstin: Die Landständische Verfassung, München 2003, S. 22. Vgl. auch Münch, Paul: Nassau, Ottonische Linien, in: Schindling, Anton/Ziegler, Walter (Hrsg.): Die Territorien des Alten Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500-1648, 7 Bde., Bd. 4: Mittleres Deutschland, Münster 1992, S. 234-252, hier: S. 237. Vgl. Schmitt, Sebastian: Glaube – Herrschaft – Disziplin. Konfessionalisierung und Alltagskultur in den Ämtern Siegen und Dillenburg (1538-1683), Paderborn 2005, insb. S. 200-207. So durften konsistoriale Schreiben fortan nur noch im Namen der weltlichen Obrigkeit veröffentlicht werden, vgl. Schmidt, Georg: Die „Zweite Reformation“ im Gebiet des Wetterauer Grafenvereins. Die Einführung des reformierten Bekenntnisses im Spiegel der Modernisierung gräflicher Herrschaftssysteme, in: Schilling, Heinz (Hrsg.): Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der „Zweiten Reformation“, Gütersloh 1986, S. 184-213, hier: S. 196.
D.II. Ländergeschichte im Alten Reich
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te.366 Ausgehend von dem Rektor der Siegener Lateinschule, Johann Henrich Reitz, etablierten sich ab 1703 zudem pietistisch-erweckte Zirkel im Siegerland.367 Dichte Wälder, Höhenzüge und Realteilung bestimmten die (land-)wirtschaftlichen Bedingungen des Siegerlandes, deren wichtiges Zwischenglied die Haubergswirtschaft, die genossenschaftliche Verwaltung, Rodung und Wiederanpflanzung des Forstbestands war. Die 1562 – mit der durch Johann VI. erlassenen Holz- und Waldordnung – begonnene nachhaltige Waldbewirtschaftung sicherte die Wirtschaftsgrundlagen der relativ freien Bauernschaft und versorgte das Land mit Brennholz und Holzkohle.368 Die Haubergswirtschaft begleitete die Entstehung des Gewerberaums, in dem sich auf der Grundlage reicher Eisenerzvorkommen, einem dichten Gewässernetz und ausreichender Brennmaterialien protoindustrielle Eisen- und Metallproduktionsstätten entwickelten, deren Produkte über die Eisenstraße vertrieben wurden. Von fundamentaler Bedeutung für den Aufschwung des (Erz-)Bergbaus war die 1559 durch Wilhelm von Nassau-Dillenburg verabschiedete Bergordnung, die die Beschäftigten von Diensten und Abgaben befreite.369 D.II.2.9. Grafschaften Wittgenstein370 In der wechselvollen Geschichte Wittgensteins war das Herrscherhaus Sayn ab 1357 die Klammer für den 1605 auf die Linien Wittgenstein-Berleburg und Wittgenstein-Laasphe aufgeteilten Besitz. In den durch keinerlei landständische Mitsprache gekennzeichneten Ländern – Landadel und Städten wurden die Steuererfordernisse mitgeteilt, anstatt sie zu verhandeln – besaßen Land und Güter den Charakter gräflichen Privatbesitzes, ohne durch intermediäre Gewalten gebremst zu werden.371 Die weitgehend unbeschränkte Grafenherrschaft erleichterte die Durchsetzung der Reformation.372 Nachdem Wilhelm I. von Sayn 1534 eine lutherische Kirchenordnung eingeführt hatte, überführte sein Nachfolger Ludwig I. die Grafschaft 1577 zum reformierten Bekenntnis. Unter kurpfälzischem Einfluss – dem damaligen Vorreiter des Calvinismus – 366 367 368 369
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Vgl. Schmitt, Glaube – Herrschaft – Disziplin, S. 210f. Vgl. Peters, Christian: Pietismus in Westfalen, in: Brecht, Martin (Hrsg.): Geschichte des Pietismus, Bd. 2: Der Pietismus im 18. Jahrhundert, S. 358-371, hier: S. 363. Vgl. NRW-Stiftung Natur - Heimat – Kultur: Historische Haubergswirtschaft im Siegerland, einsehbar unter http://www.nrw-stiftung.de/projekte/projekt.php?pid=585 (22.5.2010). Vgl. Nassau-Katzenelnbogische Bergordnung 1559, in: Holzborn, Timo: Die Geschichte der Gesetzespublikationen – insbesondere von den Anfängen des Buchdrucks um 1450 bis zur Einführung von Gesetzesblättern im 19. Jahrhundert, Berlin 2003, S. 123. Die Grafschaft Wittgenstein deckte sich territorial mit dem zwischen 1816 und 1974 bestehenden Kreis Wittgenstein. Mit dem Wittgensteiner Grafenhaus war seit 1259 die zwischen Nümbrecht und Wiehl gelegene rheinische Herrschaft Homburg verbunden, die nach der Reformation an die Berleburger Linie fiel. Ähnlich der Wittgensteiner Grafschaft, stand die um Holte, Verl und Rietberg gebildete Grafschaft Rietberg unter der Lehnsherrschaft der hessischen Landgrafen, die die Herrschaft den Grafenhäusern Ostfriesland und Kaunitz übertrugen. Unter hessischem Einfluss wurde 1535 die Reformation durchgeführt, doch wurde Rietberg ab 1600 Objekt der Gegenreformation. Vgl. Einige statistische und geographische Nachrichten von der Grafschaft Wittgenstein-Wittgenstein, in: Der Rheinische Bund. Eine Zeitschrift historisch-politisch-statistisch-geographischen Inhalts, 14. Bd., H. 40–42, Frankfurt a. M. 1810, S. 125–134, hier: S. 126f., einsehbar unter http://www.ub.unibielefeld.de/cgi-bin/navtif.cgi?pfad=/diglib/aufkl/rheinbund/187101&seite=00000131.TIF&scale=5 (24.5.2010). Vgl. Wolf, 17. Jahrhundert, in: Kohl, Westfälische Geschichte 1, S. 522.
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D. Das historische Nordrhein-Westfalen – Altes Reich
änderte der Regent Kirchenordnung und Liturgie und berief den Mitverfasser des Heidelberger Katechismus, Caspar Olevian, an seinen Hof; dieser entwarf einen auf das bäuerliche Landvolk zugeschnittenen Katechismus, um dem neuen Bekenntnis zum Durchbruch zu verhelfen.373 Befördert durch die Grafenhäuser, wurden beide Wittgensteins seit dem späten 17. Jahrhundert Zentren pietistischer Zuwanderung und Einflusses auf Kirchen- und Gesellschaftsleben.374 Bei ähnlichen Grundvoraussetzungen – topographischen Nachteilen aufgrund der Höhenzüge des Schiefergebirges, hohem Waldanteil, Erzvorkommen und Realteilungspraxis – verarmten die Grafschaften Wittgenstein weit stärker als das Siegerland und erlebten keine nennenswerte Gewerbeentwicklung. Es mangelte an gräflichen Fördermaßnahmen, die den von den überregionalen Handelsströmen abgeschnittenen Ländern innere Impulse verliehen hätten, der weitreichende Land- und Güterbesitz der Grafen hemmte individuelle Initiative und verhinderte die Entstehung privatgewerblicher Kerne. Einzig die gezielte Aufforstung der in Herrscherhand befindlichen Wälder lieferte wirtschaftlich verwertbare Rohstoffe, die das Wittgensteiner Land zum Lieferanten für die umliegenden Gewerbegebiete machten.375
D.II.3. Ruhrgebiet Der Raum des späteren Ruhrgebiets376 war in die auch für ihn geltenden Entwicklungsstränge der in dem Grenzgebiet aufeinandertreffenden Staaten einbezogen, so dass – bis auf das Vest Recklinghausen und die Reichsstadt Dortmund – nur äußert knapp auf weichenstellende Besonderheiten der größten Städte eingegangen sei.377
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Vgl. Burkardt, Johannes: Sayn-Wittgenstein, Ludwig der Ältere, in: BBKL, Bd. 19, Nordhausen 2001, Sp. 1190-1196. Vgl. ebenso Wittmütz Volkmar: Olevian, Casper, in: BBKL, Bd. 6, Herzberg 1993, Sp. 11971200. Vgl. Schneider, Hans: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, in: Brecht, Martin (Hrsg.): Geschichte des Pietismus. Bd. 3: Das 17. und frühe 18. Jahrhundert, Göttingen 1993, S. 391-439, hier: S. 420f. Vgl. Elkar, Alte Ökonomie, in: Briesen et. al., Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte, ebd., S. 35. Der heutige Kreis Siegen-Wittgenstein ist zu 2/3 mit Wald bedeckt und hiermit der waldreichste der Bundesrepublik, vgl. Kreis Siegen-Wittgenstein online, einsehbar unter http://www.siegen-wittgenstein.de/standard/page.sys/160.htm (8.6.2010). Das Ruhrgebiet sei abgegrenzt durch das Verbandsgebiet des heutigen Regionalverbands Ruhr. Ihm gehören die kreisfreien Städte Duisburg, Oberhausen, Mülheim, Bottrop, Essen, Gelsenkirchen, Herne, Bochum, Dortmund, Hagen und Hamm sowie die Kreise Recklinghausen und Unna. Im Falle der ebenfalls dem Regionalverband angehörenden Kreise Wesel und Ennepe-Ruhr-Kreis zählen allenfalls die unmittelbar an das zuvor beschriebene Verbandsgebiet grenzenden Teilräume in der Perspektive dieser Arbeit zum Ruhrgebiet. Grundsätzlich sei, wenn nicht anders vermerkt, bei der Darstellung auf Kracht, Peter: Ruhrgebiet (Regionen in Nordrhein-Westfalen. Bd. 4), Münster 2008, verwiesen.
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D.II.3.1. Vest Recklinghausen378 Die seit dem 13. Jahrhundert bestehenden Besitzrechte des Kurfürstentums Köln über das Gogericht (Vest) Recklinghausen waren über Statthalter an Kurköln gebunden. Vestische Ritter und Städte schlossen sich 1515 der rheinischen Erblandesvereinigung an, wirkten an der Steuerumlage und bei Beamtenbesetzungen mit, entbehrten jedoch eigener Regierungs- und Verwaltungsstrukturen.379 Durch die enge Bindung an Kurköln konnte die Reformation im Vest nur geringe Wurzeln schlagen, Adel und Städte öffneten sich dieser – wenn überhaupt – nur zurückhaltend; wo dies dennoch geschah, festigten der Mehrheitswille der Landstände zur Wiederherstellung des alten Glaubens, die Schaffung eines geistigen Kommissars 1612 sowie die Ausweisung von Nichtkatholiken 1614 den vestischen Katholizismus.380 Ähnlich dem kurkölnischen Kernland, erfuhr auch das ländlich strukturierte Vest durch das Erzbistum kaum wirtschaftliche Impulse. Die überwiegend freien Bauern waren oftmals auf Nebenerwerbsquellen angewiesen und vertrieben ihre in Heimarbeit hergestellten Baumwolle und Tuche über das seit 1423 mit dem Marktrecht ausgestattete Bottrop sowie das seit 1316 der Hanse angehörende Recklinghausen, ohne dass beide Orte über ackerbürgerliche Strukturen hinauskamen.381 D.II.3.2. Reichsstadt Dortmund382 Das auf einen karolingischen Reichshof zurückgehende Dortmund stach aus dem späteren Ruhrgebiet hervor: Insbesondere im Hohen Mittelalter errang die Kaufmannsstadt europaweite Bedeutung, 1226 den Status einer Reichsstadt und die herausgehobene Stellung einer Vorderstadt innerhalb der von ihr mitbegründeten Hanse.383 Die einzig Kaiser und kaiserlichem Grafen verpflichtete Stadt weitete ab 1240 sukzessive ihre Selbstverwaltungsrechte aus; erstmals bildete sich ein Stadtrat, an dessen Spitze noch ein gräflich ernannter Schöffe stand. Schnell dominierten die in der Reinoldigilde zusammengeschlossenen Dortmunder Kaufleute das Organ und setzten ihre wirtschaftliche in politische Macht um; das Ratswahlstatut von 1260 gestattete allein ihnen das passive Wahlrecht, während die sie – ab 1332 auf Lebenszeit wählenden – sonstigen Handwerkergilden nurmehr das aktive 378
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381 382 383
Das Vest entsprach in etwa dem Gebiet des heutigen Kreises Recklinghausen, doch gehörten auch Teile der heutigen Städte Gelsenkirchen, Oberhausen und Bottrop zum Vest, während Castrop-Rauxel, Dorsten und Haltern am See nicht zum Vest gehörten. Vgl. Hartlieb von Wallthor, Die landschaftliche Selbstverwaltung Westfalens, S. 22. Vgl. Wolf, 17. Jahrhundert, in: Kohl, Westfälische Geschichte 1, S. 548. Vgl. auch Linz, Carsten: 1200 Jahre Geschichte: Die Stadtgeschichte Recklinghausens, Recklinghausen 2005, S. 32, abrufbar unter http://www.recklinghausen.de/tourismusstadtinformation/Geschichte/GeschichteStadtundVest/Geschi chteRecklinghausenvonCarstenLinz.pdf (8.6.2010). Vgl. Linz, Die Stadtgeschichte Recklinghausens, S. 21. Vgl. auch Bette, Ludwig: Das Vest Recklinghausen in der arenbergischen und französischen Zeit 1802-13, Münster 1908, S. 70f. Das Herrschaftsgebiet der Reichsstadt umfasste den Kern des heutigen Dortmunds. Die Mitte des 13. Jahrhunderts festgelegte Ordnung des Ende des 12. Jahrhunderts in Novgorod gegründeten ersten Handelskontors legte Dortmund als eine von vier Vorderstädten – ihre Vertreter waren die als Oldermänner bezeichneten Vorsitzenden – fest. Vgl. Tenn, Volker: Lübisches Recht in den Auslandniederlassungen der Hanse, in: Lück, Heiner/Puhle, Matthias/Ranft, Andreas (Hrsg.): Grundlagen für ein neues Europa. Das Magdeburger und Lübecker Recht in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 49-66, hier: S. 53.
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Wahlrecht besaßen. Ab 1400 erlangten auch andere Gewerbetreibende Zugang zum 18köpfigen Ratsgremium, den bis zum Ende des Alten Reichs ebenso wie die Bürgermeisterstellen ausschließlich die Kaufmanns- und Handwerkergilden besetzten.384 Nachdem der Stadtrat 1533 erstmals evangelische Predigten genehmigte, setzte sich in Dortmund allmählich die Reformation durch. Als dem Kaiser unterstehende Reichsstadt suchte man zunächst einen Mittelweg zwischen dem alten und dem neuen Glauben, doch war das Zugeständnis der freien Abendmahlswahl an die Kirchengemeinden 1562 der nächste Schritt hin zur endgültigen Durchsetzung eines einheitlichen lutherischen Glaubensbekenntnisses 1570. Während der katholische Glaube weiterhin geduldet wurde, blieb das reformierte Bekenntnis bis zum Ende des Alten Reiches schwach.385 Der Aufstieg Dortmunds zur wichtigsten Handelsstadt entlang des Hellwegs setzte mit dem Erwerb der Marktrechte 990 und dem kaiserlichen Privileg der reichsweiten Zollfreiheit für Dortmunder Kaufleute ein.386 Die überregionale Bedeutung hiesiger Kaufleute kam in der Funktion Dortmunds als Hanse-Vorderstadt zum Ausdruck, die die Stadt erst im 15. Jahrhundert infolge ihres mit der Dortmunder Fehde 1388/98 eingeleiteten wirtschaftlichen und politischen Abstiegs an Köln verlor. Die Reichsstadt bezahlte ihren Unabhängigkeitskampf gegen Kurköln und die Grafschaft Mark mit einer hohen Verschuldung, die mitsamt der allmählichen Neuausrichtung des Handels auf den Atlantik, neuerlicher Belastungen durch den Dreißigjährigen Krieg sowie der Auswanderung Gewerbetreibender ihr wirtschaftliches Potential und ihre Einnahmen nachhaltig schwächte; Dortmund, in dem seit 1302 Kohlebergbau betrieben wurde, sank in der Folge auf den Status einer Ackerbürgerstadt herab.387 D.II.3.3. Sonstige Städte Das am Zusammenfluss von Rhein und Ruhr gelegene Duisburg wurde 740 Sitz eines fränkischen Königshofes und entwickelte sich aufgrund seiner günstigen Lage zu einem Handelszentrum. Zunächst Reichsstadt, leitete die um das Jahr 1000 begonnene allmähliche Verlagerung des Rheinbetts den Abschwung Duisburgs ein, bis es 1290 an die Graf384 385
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Vgl. Dusil, Stephan: Die Soester Stadtrechtsfamilie. Mittelalterliche Quellen und neuzeitliche Historiographie, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 174. Vgl. Dortmunder Stadtgeschichte: Reformation und 30-jähriger Krieg (16. und 17. Jahrhundert), einsehbar unter http://www.dortmund.de/de/leben_in_dortmund/stadtportraet/stadtgeschichte/anfnge17jahrhundert/ reformation/index.html (26.5.2010). Vgl. ebenfalls über die Situation der reformierten Gemeinde in Dortmund die Biographie des Pfarrers Stievermann, Dieter: Wedag, Friedrich Wilhelm, in: BBKL, Bd. 13, Herzberg 1998, Sp. 579-581. Sicher lässt sich das Privileg erst für 1236 belegen, vermutlich bestand es aber bereits seit 1145. Vgl. Landschaftsverband Westfalen-Lippe-Institut für westfälische Regionalgeschichte/Stiftung WestfalenInitiative: Westfälische Geschichte. 1236: Privileg Kaiser Friedrichs II. für die Dortmunder Bürger sowie 1152: Umritt König Friedrichs I. Barbarossa, einsehbar unter http://www.lwl.org/westfaelischegeschichte/portal/Internet/finde/langDatensatz.php?urlID=453&url_tabelle= tab_chronologie sowie http://www.lwl.org/westfaelischegeschichte/portal/Internet/finde/langDatensatz.php?urlID=428&url_tabelle=tab_chronologie (26.5.2010). Vgl. Naujoks, Hans-Georg: Spuren des historischen Steinkohlebergbaus südlich der Ruhr, Münster 1984, S. 5.
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schaft Kleve fiel und 1400 Zollfreiheit wie Messerecht verlor. Mithilfe niederländischer Exulanten setzte sich im 16. Jahrhundert weithin das calvinistische Bekenntnis durch, Duisburg beheimatete 1610 die erste reformierte Generalsynode und war seit 1655 Sitz einer reformierten Hochschule; die Glaubensflüchtlinge stimulierten ebenfalls das Wirtschaftsleben, entwickelten die Tuch- und Textilgewerbe Duisburgs und intensivierten den Handel mit den Niederlanden. Das infolge ertragsarmer Böden dünnbesiedelte Gebiet des erst 1847 gegründeten Oberhausens war im Alten Reich auf das Herzogtum Kleve, die Herrschaften Styrum und Broich, das Reichsstift Essen sowie das Vest Recklinghausen aufgeteilt und erhielt mit diesen seine katholische Grundprägung. Auf der 1758 durch den Münsteraner Domkapitular Franz von der Wenge gegründeten St. Anthony-Hütte wurden – auf vestischem Gebiet – die ruhrgebietsweit ersten kohlenbetriebenen Hochöfen zur Verhüttung umliegender Eisenerzvorkommen errichtet. Die Ursprünge Mülheims liegen in der links der Ruhr gelegenen, der Grafschaft Berg lehnsverpflichteten Herrschaft Broich und einem rechts der Ruhr angesiedelten, in Kurkölner Besitz liegenden Kirchen- und Klosterhügel. Die Daun-Falkensteinsche Herrschaft führte in Broich ab 1554 die Reformation durch, die jedoch ab 1598 infolge spanischer Besetzung eine partielle Rückabwicklung erfuhr und eine konfessionelle Mischlandschaft zur Folge hatte. Rechts der Ruhr wurde seit 1585 Kohle abgebaut und nach der Schiffbarmachung des Flusses ab 1770 verstärkt über diesen vertrieben, so dass sich Mülheim zu einem wichtigen Handels- und Umschlagplatz entwickelte. Historische Zentren Essens waren das 799 durch den friesischen Missionar Liudger gegründete Kloster Werden sowie das 850 durch den sächsischen Adligen Altfried eingerichtete Stift Essen. Die um das Damenstift angesiedelte Stadt Essen stand in unklarem Herrschaftsverhältnis zum diesem und wendete sich 1563 der Reformation zu, während Kloster und Stift katholisch blieben. Niederländische Glaubensflüchtlinge wie die Krupps wanderten im 16. Jahrhundert in die protestantische Stadt ein und belebten den Handel der seit 1041 mit dem Marktrecht ausgestatten Siedlung, in deren Süden seit 1317 Kohle abgebaut wurde. Die Vorläufer Gelsenkirchens waren im Alten Reich auf das Vest Recklinghausen und die Grafschaft Mark aufgeteilt. Der Raum war ein dünnbesiedelter, von Burgen gesäumter ländlich-agrarischer Landstrich mit ausgeglichenem Religionsverhältnis, in dem wesentliche wirtschaftliche Entwicklungen erst im 19. Jahrhundert einsetzten. Das auf einen karolingischen Reichshof zurückgehende Bochum fiel 1243 in großen Teilen an die Grafschaft Mark. Um 1570 setzte sich in der Stadt die Reformation durch, ohne dass eine Konfession die absolute Dominanz errang; bei lutherischem Übergewicht waren auch reformierte und katholische Gemeinden ansässig. Bochum blieb bis zum Ende des Alten Reichs – trotz des 1537 begonnenen Kohletagebaus und der Existenz von 35 Kleinzechen im Jahre 1735 – Ackerbürgerstadt, in der 1801 auf der Zeche Vollmond die erste Dampfmaschine des Ruhrkohlenbergbaus eingesetzt wurde.
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D.II.4. Lippe Die 1123 erstmals erwähnten Edelherren zur Lippe legten mit der Gründung Lemgos unter Bernhard II. 1190 und dem Aufbau der Detmolder Falkenburg 1192 den Grundstein ihrer Territorialherrschaft. Das 1528 zur Grafschaft und 1720/89 zum Fürstentum erhobene Kernland Lippe-Detmold wahrte – trotz Abspaltungen und Erbstreitigkeiten mit den Nebenlinien Lippe-Brake und Lippe-Alverdissen – bis zum Ende des Alten Reiches weitgehend seine territoriale Integrität und rechtliche Unabhängigkeit,388 da Simon III. die Landstände mit dem pactum unionis 1368 verpflichtete, einzig dem Landesherrn zu huldigen, auf den sich die Vorstädte Lemgo und Lippstadt einigten; Bestätigung und Erweiterung erfuhr die Regelung 1667 mit dem pactum tutorium.389 Formell zu Landtagen einberufen wurden die lippischen Landstände erstmals 1537; die Geldnöte der Grafschaft veranlassten die Vormundschaftsregierung Bernhards VIII., Landadel und Städte als Ausgleich für die Bewilligung von Steuerleistungen zusammentreten zu lassen.390 Absolutistische Tendenzen – die bewusste Nichteinberufung oder Umgehung der Landtage durch das Abhalten von Kommunikationstagen und der Anhörung ausgesuchter Ritter und Städte – waren gebremst durch das Dauerproblem mangelnder Haushaltsmittel und zwangen die lippischen Herrscher zur Kooperation: Die Landtagsabschiede von 1651/65 sicherten den Landständen das Indigenat sowie Mitsprache in Steuerangelegenheiten, die 1686 eingerichtete Landeskasse oblag weitgehend ihrer Aufsicht, doch waren sie zugleich durch das bloße Zugeständnis eines votum consultativums, einer nur beratenden anstatt beschließenden Mitsprache, in ihrer Gestaltungskraft eingeschränkt.391 Vor allem die Hansestadt Lemgo war Einfallstor und Zentrum der lippischen Reformation. 1533 erließ der Stadtrat eine lutherische Kirchenordnung und wurde – unter dem Schutz der Landgrafschaft Hessen – Vorbild für weitere Städte, so dass der Landtag in Zeiten der Stärke gegenüber der Vormundschaftsregierung für Bernhard VIII. 1538 die Einführung einer einheitlichen lutherischen Kirchenordnung für Lippe-Detmold beschloss. Bernhards Nachfolger, der humanistisch gebildete Simon VI., wendete sich nach seinem Regierungsantritt 1579 allmählich, 1605 endgültig dem Calvinismus zu; er besetzte freiwerdende Kirchenstellen mit reformierten Pfarrern und führte bis 1612 die zweite Glaubensneuerung durch. Das Land wurde größtenteils calvinistisch und unterstand einer eigenen, reformierten Landeskirche; einzig Lemgo, die seinerzeit größte und wohlhabendste Stadt der Grafschaft, wehrte sich erfolgreich gegen die Bekenntnisreform und sicherte sich mit dem Röhrentrupper Rezess 1617 freie Religionsausübung, freie Wahl der Geistlichen sowie ein eigenes Konsistorium.392 Im Gegensatz zum reformierten Kirchenverständnis war der lippische Landesherr gleichzeitig Summepiskopat, die Kirche hierarchisch auf ihn
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Das Gebiet Lippes entsprach weitgehend dem heutigen Kreis Lippe. Vgl. Scholz, Spätmittelalter, in: Kohl, Westfälische Geschichte 1, S. 427. Nitzschke, Peter: Von der Landeshoheit zur Landesherrschaft – die Grafschaft Lippe im Zeitalter der Aufklärung, in: Arndt, Johannes/Nitschke, Peter (Hrsg.): Kontinuität und Umbruch in Lippe. Sozialpolitische Verhältnisse zwischen Aufklärung und Restauration 1750-1820, Detmold 1994, S. 25-48, hier: S. 35. Vgl. ebenso Hartlieb von Wallthor, Die landschaftliche Selbstverwaltung Westfalens, S. 16. Vgl. Kittel, Erich: Heimatchronik des Kreises Lippe, 2. erg. Aufl., Köln 1978, S. 145f. Vgl. ebd., S. 122ff.
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ausgerichtet und wurde eine Synodalstruktur erst 1877 eingeführt.393 Zugleich war die Christliche Kirchen-Ordnung der Grafschaft Lippe von 1684 die einzige im deutschen Raum, in der pietistischen Glaubensformen landeskirchliche Gültigkeit zugesprochen wurde: Der zwischen 1677 und 1691 amtierende Superintendent Johann Jakob Zeller führte erweckungsbewegte Elemente in die Glaubensausübung ein, die fortan die Kirchen- und Gemeindepraxis begleiteten.394 Überwiegend fruchtbare Böden begründeten den ländlich-agrarischen Charakter des durch Teutoburger Wald und Weserbergland eingeschnürten Lipperlandes, wobei starke Feudalstrukturen, Realteilungspraxis sowie der – jedweder landwirtschaftlichen Privatbewirtschaftung entgegenstehende – weiträumige Landesbesitz des Detmolder Herrscherhauses395 die Bildung ertragsstarker Betriebe erschwerten und zu einem ausgeprägten Heuerlings- und Einliegerwesen beitrugen.396 Neben ausländischer Saisonarbeit entstand als Nebenerwerbsquelle deshalb auch in Lippe ein bäuerliches Leinen- und Textilgewerbe, deren Erträge jedoch vornehmlich den den Vertrieb übernehmenden Bielefelder Kaufleuten zugute kamen.397 Neben der Heeres- und Hofhaltung, der starken Stellung der Ritterschaft wie ihrer Steuerprivilegien belastete das 1410 geschlossene 70-jährige Privileg – das Handel und Handwerk auf dem Land bis 1713 verbot – die gräflichen Einnahmen, in deren Folge Finanzmittel für Landesbausbau und Wirtschaftsförderung fehlten.398 Nach Auslaufen der Regelung vernachlässigte das Grafenhaus den städtischen Handel und leitete Fördermaßnahmen auf das Land, da es hier unter Umgehung der Landstände direkten Zugriff auf die Abgaben hatte; der Zwang, sich in die städtischen Zunftrollen einzutragen und Gebühren abzuführen, hinderte allerdings die Ausbildung ländlicher Gewerbe.399 Erst Simon August versuchte, nach 1727 mithilfe verwissenschaftlichter Aufforstungspraktiken sowie der zahlen- und exportorientierten Bevorzugung schnellwachsender Nadelhölzer Arbeitsplätze zu schaffen und die Staatseinnahmen zu erhöhen,400 dennoch blieb Lippe bis auf die Hansestadt Lemgo und die Beamtenstadt Detmold weitgehend von frühbürgerlichen Modernisierungsimpulsen abgeschlossen.
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Vgl. Lippische Landeskirche: Geschichte der lippischen Landeskirche, einsehbar unter http://www.lippische-landeskirche.de/194-0-10 (26.5.2010). Vgl. zu Zeller Wenneker, Erich: Johann Jakob Zeller, in: BBKL, Bd. 19, Nordhausen 2001, Sp. 1570-1578. Meiereien, Rittergüter und landesherrliche Forstbezirke standen bis in die Weimarer Zeit außerhalb der Dorfgemeinden, im Jahre 1780 befanden sich knapp 67% des Landes in der Hand des Detmolder Herrscherhauses. Vgl. Stöwer, Herbert: Lippische Ortsgeschichte. Handbuch der Städte und Gemeinden des ehemaligen Kreises Detmold, Lemgo 2008, S. 20 sowie Krawinkel, August: Die Grundherrschaft in Lippe, in: Lippische Mitteilungen 15 (1935), S. 82-162, hier: S. 146. Vgl. Hanschmidt, 18. Jahrhundert, in: Kohl, Westfälische Geschichte 1, S. 660 sowie Mayr, Wirtschaftsräume, in: Kohl, Westfälische Geschichte 3, S. 20. Vgl. Kittel, Heimatchronik, S. 183. Vgl. Stöwer, Lippische Ortsgeschichte, S. 20. Vgl. Kittel, Heimatchronik, S. 180. Das Zunftwesen etwa wurde erst mit dem Beitritt zum Norddeutschen Bund 1869 komplett aufgehoben. „Armes Land! Armer Untertan! – Armer Untertan! Armer Regent!“ fasste Kammerrat Heistermann 1771 die Gedanken in einem Memorandum mit den Worten zusammen, die staatliche Förderungsmaßnahmen rechtfertigen sollten, vgl. Wehrmann, Volker: Die Aufklärung in Lippe. Ihre Bedeutung für Politik, Schule und Geistesleben, Detmold 1972, S. 52.
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D. Das historische Nordrhein-Westfalen – Altes Reich
D.III. Franzosenzeit Mittelbar besaß die Französische Revolution für das historische Nordrhein-Westfalen eine fundamentale Bedeutung. Mit dem Aufstieg Napoléon Bonapartes griffen die Ereignisse auf den rheinisch-westfälischen Raum aus und veränderten sein Gesicht grundlegend. Die Auswirkungen der Franzosenzeit brachen zwischen 1795 und 1815 mit der bisherigen Landschaftsentwicklung, sie stellten – trotz ihrer kurzen Dauer – grundlegende politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Weichen, die weit in die anschließende, nur vor diesem Hintergrund zu verstehende Preußenzeit hineinreichten. Die Franzosenzeit ist Mittelepoche zwischen den Prägungsschichten des Alten Reiches und der Preußenzeit, schloss die eine ab und leitete in die andere über, ohne die dort angelegten Genesepfade vollauf zu verlassen.401 Der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 war der formell nachhaltigste Eingriff in die rheinisch-westfälische Landkarte. Säkularisation und Mediatisierung zerschlugen die alten Reichsstrukturen, ordneten das zersplitterte Panorama aus weltlichen und geistlichen Fürstentümern, aus Duodezgrafschaften und Klöstern neu und fügten es zu neugebildeten Ländern zusammen. Der Zusammenbruch hergebrachter, Struktur und Orientierung bietender Alltagswelten nahm alte Gewissheiten, ohne den über die Institutionen vermittelten mentalen Erinnerungsschatz vollauf auszulöschen. Materiell waren mit der Übertragung des französischen Rechts, von Code Civil und Code de Commerce die Grundlagen für den ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Aufstieg des Bürgertums gelegt; sie setzten das Wirtschaftsleben frei, schafften Leibeigenschaft und Geburtsadel ab, verwandelten die ständischen in staatsbürgerliche Gesellschaften und ersetzten Herkunft und Abstammung allmählich durch leistungsbasierte Sozialgliederungsmechanismen.402 Wo das protobürgerlichere Rheinland diesen Umwälzungen offener gegenüber stehen konnte, widersprachen diese dem Grundcharakter des adlig-ständischeren Westfalens; vermochte das rheinische Wirtschaftsbürgertum von den Veränderungen nur zu profitieren, waren die jahrhundertealten Vorrechte des westfälischen Adels in Gefahr. Der durch geistige Staaten dominierte Raum musste in der säkularen, die Vernunft zum obersten Wert stilisierenden Revolution den größtmöglichen Gegner sehen, während die Handelsstädte des weltlicheren Rheinlands das liberal-freiheitliche Gedankengut kaum zu fürchten hatten.403
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Im Folgenden soll nicht im Einzelnen, mit Bezug auf jedes Land auf die Entwicklungen zwischen 1795 und 1815 eingegangen werden oder sämtliche – kurzlebigen – Änderungen referiert werden; vielmehr geht es um die maßgeblichen Prägungsfaktoren, die der weiteren Landschaftsgenese prägnante Impulse verliehen. Im Mittelpunkt steht erneut das historische NRW, so dass notwendige Feinheiten an dieser Stelle übergangen werden. Sie brachten liberalisierende Elemente wie die Vertragsfreiheit, die Gleichheit vor dem Gesetz, den Schutz des Privateigentums, die Abschaffung des Zunftwesens, die Einführung der Gewerbefreiheit und Freizügigkeit, legten den Grundstein für die Bildung von Aktiengesellschaften, sicherten mit der Einführung von Handelsgerichten und -kammern den Wettbewerb und förderten die gewerbliche Selbstorganisation Das Münsterland als westfälischer Kernraum schien „vor allen inneren Gefährdungen gänzlich und vor vielen anderen, insbesondere den hiesigen rheinischen Gegenden, gesichert zu sein.“ So Christian Konrad Wilhelm Dohm, zwischen 1786 bis 1794 preußischer Gesandter und bevollmächtigter Minister in Köln und Aachen. Vgl. Hansen, Joseph (Hrsg.): Quellen zur Geschichte des Rheinlandes im Zeitalter der Französischen Revolution, Band II: 1792/93, Nr. 368, S. 838f.
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D.III.1. Rheinland Die nachhaltigsten Umwälzungen jener Epoche erfuhr der für zwanzig Jahre unter französischer Kontrolle stehende linksrheinische Raum. Bereits 1794 besetzt, schrieb der Friede von Campo Formio 1797 den Rhein als französische Ostgrenze fest und wurde das Gebiet mit dem Friede von Lunéville 1801 offiziell in den französischen Staat einfügt. Massive Veränderungen trafen das Rechtsrheinische erst mit der weitgehenden Zusammenfassung der dortigen alten Staatenwelt in dem von Napoléon abhängigen Großherzogtum Berg 1806, ohne dass die französischen Reformen dort dieselbe Tiefenwirkung entfaltet hätten;404 zwar wurden sie hier auch durchgeführt, aber zeitlich deutlich später und inhaltlich nicht vollständig umgesetzt.405 Das seit 1794 okkupierte linksrheinische Gebiet wurde – bis auf Bonn – in dem 1798 gebildeten Département de la Roer zusammengefasst und nach französischem Vorbild neu geordnet, die Besatzer führten die zentralisierte französische Konsularverfassung und das Präfektursystem ein: Fortan galt eine dreistufige, nach Zweckmäßigkeit neu zugeschnittene Administrativstruktur, die hergebrachte Grenzen und Zentralorte relativierte. An der Spitze des in Aachen residierenden Departements stand ein Präfekt, der weisungsbefugt gegenüber den in Kleve, Krefeld, Aachen und Köln sitzenden und in Kantone untergliederten Arrondissements mit zumeist deutschen Unterpräfekten war; unterste Ebene und ebenso weisungsgebunden waren die von einem ernannten, deutschen Maire geleiteten Munizipalitäten. Traditionelle Selbstverwaltungsrechte entfielen zugunsten der aus wirtschaftlichen Honoratioren und Höchstbesteuerten gebildeten Departements-, Arrondissements- und Munizipalräten, die nur beratende Funktionen besaßen.406 Die Aufhebung geistiger Staaten und religiöser Einrichtungen erschütterte die rheinische Glaubenslandschaft, stärkte jedoch zugleich volkskirchliche Elemente und verinnerlichte aus dem Verzicht auf bischöfliche Instanzen das Glaubenserlebnis; die Kirchenbindung wurde sogar gefestigt, da sich infolge des Fortfalls offizieller Strukturen breite Bevölkerungsschichten mit der Institution und ihrem Bekenntnis solidarisierten und ihnen verbunden blieben.407 Erst mit dem zwischen Napoléon und Papst Pius VII. geschlossenen Konkordat von 1801 wurde die kirchliche Religionsausübung unter staatlicher Kontrolle wieder möglich, wie auch die Protestanten in den katholischen Territorien volle, obrigkeitlich beaufsichtigte Religionsfreiheit erhielten. Die Säkularisierung ermöglichte dem rheinischen Bürgertum die Aneignung kirchlicher Böden und Güter und legte den Grundstein einer nachhaltigen, Unternehmensgründungen befördernden Kapitalbildung.408 Code civil und Code de commerce, die administrative 404
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Vgl. Engelbrecht, Jörg: Bürgerliche Reformen und imperiale Machtpolitik am Niederrhein und Westfalen, in: Veltzke, Veit (Hrsg.): Napoleon. Trikolore und Kaiseradler über Rhein und Weser, Köln 2007, S. 91112, hier: S. 98f. Vgl. Braubach, Westfälischer Friede, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 333ff. sowie Ribhegge, Wilhelm: Preußen im Westen. Kampf um den Parlamentarismus in Rheinland und Westfalen 1789-1947, Münster 2008., S. 37. Vgl. Lademacher, Horst: Die nördlichen Rheinlande von der Rheinprovinz bis zur Bildung des Landschaftsverbands Rheinland (1815-1953), in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 475-866, hier: S. 513. Vgl. Ribhegge, Preußen im Westen, S. 29. Vgl. Lademacher, Die nördlichen Rheinlande, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 513.
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D. Das historische Nordrhein-Westfalen – Altes Reich
Zusammenfassung des linksrheinischen Raumes, der Fortfall von Binnengrenzen und zöllen sowie die Einbeziehung in den durch den Rhein nach Osten geschützten französischen Wirtschaftsraum stimulierten das Gewerbeleben, ein einheitliches Münz- und Maßwesen erleichterten Planung und Austausch. Unternehmer aus dem ökonomisch fortgeschrittenen, von Handelsströmen und Absatzmärkten abgeschnittenen Bergischen Land übersiedelten auf die andere Flussseite und stärkten insbesondere den linksrheinischen Textilsektor.409 Endgültig festgeschrieben wurden die ohnehin freieren rheinischen Besitzverhältnisse, der Fortfall adliger Oberaufsicht erweiterte bäuerliche Eigentums- und Freiheitsrechte.
D.III.2. Westfalen Mit dem Reichsdeputationshauptschluss wurde auch Westfalen in die Auswirkungen der Französischen Revolution einbezogen. Die seit dem Basler Friede von 1795 bestehende französische Zusage an Preußen, rechtsrheinisch für den Verlust seines westlichen Besitzes entschädigt zu werden, wurde 1803 eingelöst und brachte es in den Besitz der säkularisierten Fürstbistümer Münster und Paderborn; 1806/7 und 1810 wurde der westfälische Raum auf Frankreich, das Großherzogtum Berg und das Königreich Westphalen aufgeteilt und nun auch hier – zeitlich verzögert und weniger tiefgreifend – die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse nach französischem Vorbild umgestaltet. Da beim Aufbau des französischen Administrativsystems Besitz und Eigentum Grundlagen der Besetzung von Verwaltungsposten und Beratungsgremien waren, lag der Anteil des Adels an den einheimischen Honoratioren in Westfalen höher als im Rheinland; der Landadel konnte seine hergebrachte Dominanz stärker behaupten, da sich zuvor im größten Teil des agrarisch-ländlich bestimmten Raumes kein gleichrangiges Protobürgertum herausgebildet hatte.410 Die Abschaffung adliger Vorrechte gedieh nur gemindert, da die napoleonische Praxis der Dotationsgüter- und Titelvergabe – die aufgrund der völligen Umwälzung der Besitzverhältnisse im französischen Staatsgebiet vornehmlich in besetzten Gebieten wie Westfalen möglich war – die Beibehaltung gewisser Vorrechte erforderlich machte, um den Belehnten Status und Einnahmen zu verschaffen; anstelle einer staatsbürgerlichen Gleichstellung erlebte Westfalen eine relative Refeudalisierung.411 Die Säkularisierung von 1803 markierte einen tiefen Einschnitt in die Landschaftsgeschichte des geistigen Westfalens und beseitigte Strukturen, die den Charakter des Raumes und seiner Bevölkerung jahrhundertlang geprägt hatten; der Protestantismus wurde hingegen nachhaltig gestärkt, da Lutheranern wie Calvinisten erstmals freie Religionsausübung gewährt wurde und die Ausdehnung Preußens der in ihm verkörperten andersgelagerten Religion und Kultur Schutz versprach. Sozioökonomisch erlaubte die kürzere Zeitspanne französischen Einflusses nur eine oberflächlichere Durchsetzung jener Reformen, die die linksrheinische Landschaft so 409 410 411
Vgl. Braubach, Westfälischer Friede, in: Ebd., S. 340f. Vgl. Luhrkamp, Monika: Die französische Zeit, in: Kohl, Wilhelm (Hrsg.): Westfälische Geschichte. Bd. 2: Das 19. und 20. Jahrhundert. Politik und Kultur, Düsseldorf 1983, S. 2-43, hier: S. 30. Vgl. Wüstemeyer, Manfred: Jakobinertum und Bonapartismus an Rhein und Weser, in: Veltzke, Napoleon, S. 113-132, hier: S. 128.
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nachhaltig prägten. Bäuerliche Unfreiheiten wurden durch die Dotationsgütervergabe eher gemindert als aufgehoben, die den Kleinbesitz stärkende Realteilung nicht nach Westfalen ausgedehnt, sondern das Anerbe beibehalten;412 alte Zunftverfassungen wurden erst 1809/10 und somit in einer Zeit aufgehoben, in der die freie Gewerbeentfaltung durch verstärkten französischen Dirigismus bereits gehemmt war. Der größte Teil Westfalens verlieb – bis auf einen Streifen nördlich von Münster und Minden – außerhalb des französischen Staatsgebiets und durch die rheinische Zollgrenze sowie die Kontinentalsperre von französischen und überseeischen Handelsgebieten abgeschnitten. Westfalen erlebte keinen gleichwertigen Wirtschaftsaufschwung, der die Entstehung eines einflussreichen Bürgertums begleitet hätte; vielmehr ging der Adel durchaus gestärkt aus der Franzosenzeit hervor, da die Aufhebung kirchlichen Besitzes vornehmlich ihm Landerwerb und den Ausbau seiner hergebrachten agrarwirtschaftliche Position erlaubte.413
D.III.3. Ruhrgebiet Der zersplitterte Grenzraum des späteren Ruhrgebiets ging 1806 im Großherzogtum Berg auf und erfuhr hierdurch keine spezifischen, von den anderen Landesteilen abzuhebenden Anstöße für seinen weiteren Werdegang. Erstmals wurde zwar der Flickenteppich geistiger und weltlicher Territorien überwunden, der Raum unter einheitlicher Herrschaft zusammengefasst und unterschiedliche hergebrachte Identitäten überformt, ohne jedoch ihre mentalitätsbildende Kraft in der kurzen Zeitspanne zu überwinden. Während das Vest Recklinghausen, die Abtei Werden und das Stift Essen mit der Aufhebung geistiger Territorien und der Eingliederung in Preußen 1803 ihre religiösen Wurzeln aufgeben mussten und die Franzosen 1806 als Befreier begrüßten, stießen diese in den ehemals preußischen klevisch-märkischen Teilen des Ruhrgebiets auf deutliche Ablehnung; umgekehrt war dies bei der Befreiung von der Franzosenherrschaft 1813.414
D.III.4. Lippe Das Hauptaugenmerk Lippe-Detmolds galt in der Revolutionsepoche dem Erhalt seiner staatlichen Selbständigkeit; es lavierte pragmatisch zwischen den Machtpolen, überstand als einziges rheinisch-westfälisches Land die Flurbereinigung des Reichsdeputationshauptschlusses und erhielt seine territoriale Integrität. Zur Abwehr potentieller preußischer Annektionsabsichten trat Fürstin Pauline im März 1806 in Verhandlungen mit Napoléon, um unter seinem Schutz die Unabhängigkeit Lippes zu wahren; 1807 wurde das Land Mitglied des Rheinbunds, der das Land zwar einer eigenständigen Politik beraubte, jedoch sein formelles Fortbestehen garantierte. Der Austritt Lippe-Detmolds aus dem von Napoléon abhängigen Staatenbund erfolgte 1813 ebenso aus jenem übergeordneten Gesichtspunkt; Bündnisverträge mit Österreich, Russland und Preußen sicherten der Fürstin Sou412 413 414
Vgl. Kamphoefner, Walter D.: Westfalen in der Neuen Welt. Eine Sozialgeschichte der Auswanderung im 19. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 24. Vgl. Luhrkamp, Die französische Zeit, in: Kohl, Westfälische Geschichte 2, S. 27 und passim. Vgl. ebd., S.26
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D. Das historische Nordrhein-Westfalen – Altes Reich
veränität und Besitzrechte zu, die in der 1815 den Deutschen Bund begründenden Akte bestätigt wurden.415 Politisch und kirchenrechtlich erfuhr Lippe keine dem restlichen historischen NRW vergleichbare Erschütterungen; weder wurden Staat oder Landesverwaltung französischzentralistisch überformt, noch büßte die reformierte Landeskirche die Führung des Fürstenhauses oder Klerikalbesitz ein. Veränderungen trafen das Land allenfalls indirekt; die Beibehaltung der Herrschaftsverhältnisse schmälerte die Reformdichte gegenüber Staaten, die direkt von Frankreich regiert oder annektiert wurden und tradierte den Dualismus zwischen Landständen und Landesherrn.416 Fürstin Pauline setzte französische Modernisierungsanstöße allenfalls gemäßigt um und hob 1808 – gegen starke ständische Widerstände – die ohnehin schwache Leibeigenschaft formell auf, ohne die Bauern von Geldoder Dienstleistungen zu befreien.417 Bereits zuvor hatte sie mit der Gründung einer Detmolder Erwerbsschule für verwahrloste Kinder, einer Aufbewahrungsanstalt für kleine Kinder, eines Kranken- und eines Arbeitshauses für erwachsene Almosenempfänger versucht, die sozialen Missstände zu mildern, ohne die wirtschaftliche und gesellschaftliche Rückständigkeit Lippes zu beheben; anders als in den anderen Staaten jener Zeit wurde die volle Gewerbefreiheit erst 1869 eingeführt, der Landadel hielt an seinen hergebrachten Privilegien weitestgehend fest, so dass Lippe-Detmold sich seine starken feudalen Züge bewahrte.
D.IV. Landschaftliche Grundprägungen – Altes Reich Nach der Freilegung der ersten historischen Tiefenschicht des nordrhein-westfälischen Palimpsets – das zwar nur mittel-, aber doch nachvollziehbar aus dem Alten Reich in das heutige Bundesland hineinreicht – sollen an dieser Stelle erste synoptische Schlüsse gezogen werden, die Anhaltspunkte für die mangelnde Landesintegration liefern. Das historische NRW gliederte – und gliedert – sich in die vier Großgebiete Niederrhein, Rheinisches Schiefergebirge, Westfälische Bucht/Tiefland und Ostwestfälisches Bergland, die dem Behälterraum mitsamt der fränkisch-sächsischen Scheidelinie sowie den auf ihnen aufsetzenden neun Idiomsvarianten wesentliche Strukturierungsmerkmale für menschlichrelationale Regionsbildungen vorgaben. Das nach 1180 ausgebildete politische Spektrum glich je länger je mehr einem Flickenteppich, der nicht allein staatliche – bereits diese integrierten oder segregierten, steckten Einflussgebiete ab und beeinflussten Erfahrungen, Erinnerungen und Einordnungen – sondern auch mentale Grenzlinien mit sich brachte, da sämtliche Lebenswelten auf ihm aufsetzten. Spezifische strukturelle Entwicklungsbedingungen – geographisch-sprachliche, politisch-legislative, religiös-kulturelle und sozioökonomische – wurden Bausteine unterschiedlicher Landschaftsgenesen, kollektiver Ge415 416 417
Vgl. Niebuhr, Hermann: Die lippische Außenpolitik unter der Vormundschaft der Fürstin Pauline, in: Arndt/Nitschke, Kontinuität und Umbruch in Lippe, S. 49-66, hier: S. 62. Vgl. Siemann, Wolfram; Vom Staatenbund zum Nationalstaat. Deutschland 1806-1871, München 1995, S. 24. Vgl. Potente, Dieter: Ländliche Bevölkerung, Agrarkonjunkturen und Agrarreformen 1770-1808, in: Arndt/Nitschke, Kontinuität und Umbruch in Lippe, S. 187-201, hier: S. 200.
D.IV. Landschaftliche Grundprägungen – Altes Reich
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dächtnisse und Identitäten; als permanent erfahrbare, innengerichtete Alltagskonditionen eröffneten jene Formierungsprämissen besondere, individuell-kollektive Denk- und Handelskorridore, fundierten differente mentale Schätze an Werten und Grundeinstellungen und besitzen hierüber auch Relevanz für die Gegenwart. Formell verbunden und mit ähnlichen Erinnerungsschätzen ausgestattet war der größte Teil des historischen Nordrhein-Westfalens durch die Kölner Kirchenprovinz und das Kurfürstentum Köln. Neben der politischen Gesetzgebung verbanden Dokumente wie die 1629 erlassene Überrheinische und Westfälische Kirchenordnung Gemeinden und Menschen über die Binnengrenzen hinweg und begründeten ähnliche Weltverständnisse, Wahrnehmungen und Werte. Daneben näherte der brandenburgisch-preußische Staat seit dem 17. Jahrhundert Teile des historischen NRWs mit gleichgerichteter Gesetzgebung und Rahmensetzungen für das Alltagsleben an. Materiell vererbten die Kirchen dem Gesamtraum konfessionsübergreifend seelsorgerisch-sozialfürsorgliche Aktivitäten und die Hochschätzung karitativ-diakonischer Leistungen, wobei das zeitgenössische Sprichwort Unterm Krummstab ist’s gut leben den geminderten obrigkeitlichen Zugriff, geringere Dienst- und Abgabepflichten und die stärkere Sozialorientierung insbesondere in den katholischen Klerikalstaaten spiegelte,418 während auf protestantischer Seite christliche Nächstenliebe und handlungsorientierte Glaubensübung zunächst auf kommunaler Ebene sowie in staats- und obrigkeitsferne Fürsorgeanstalten geübt wurden. Für außerordentliche politisch-gesellschaftliche Selbstverwaltungstraditionen finden sich bislang nur wenige Anhaltspunkte: Zwar besaßen die Landstände mehr oder minder festgeschriebene Mitwirkungsrechte und waren die Städte mit Autonomierechten ausgestattet, doch bewegten sich diese im allgemeinen deutschen Rahmen ständisch-kommunaler Mitsprache und wurden vor allem in den weltlichen Staaten sukzessive eingeschränkt. Während politische Teilhabe allenfalls bedeutete, staatlichem Absolutismus unterschiedlich enge Grenzen zu setzen, existierten auf gesellschaftlicher Ebene durchaus herrschaftsferne Selbstorganisations- und Regelungsbereiche. Insbesondere die reformierten Kirchenstrukturen sicherten – in ihrer Reichweite zwar beschränkte, in ihrer Bedeutung aber weitreichende – Beteiligungsrechte und eröffneten den Gemeindemitgliedern eine eigenverantwortliche Perspektive, die aus der damaligen Alltagsrelevanz des Glaubens kaum zu unterschätzen ist: Die Gewöhnung an autonome Handlungsspielräume in dem für viele wichtigsten Lebensbereich, Kirche und Glaube, beeinflusst auch die Rolle, die Politik und Staatshandeln beigemessen wird. Das Verlangen nach Partizipation wird vor allem dort wachsen, wo persönliche Selbständigkeit erlernt wurde, weitgehende Mündigkeit auf der einen erscheint nur schwer vereinbar mit weitestgehender Unmündigkeit auf der anderen Seite; wem in Kirche und Religion Mitwirkung gestattet ist, wird dies langfristig auch für den politischen Bereich fordern.
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Vgl. hierzu Vgl. Tümmers. Horst Johannes: Der Rhein. Ein europäischer Fluss und seine Geschichte, 2. überarb. u. aktualis. Aufl., München 1999, S. 205 und passim sowie allgemein Quarthal, Franz: Unterm Krummstab ist's gut leben. Prälaten, Mönche und Bauern im Zeitalter des Barock, in: Blickle, Peter (Hrsg.): Politische Kultur in Oberschwaben, Tübingen 1993, S. 269-286.
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D.IV.1. Rheinland Der in römischer Zeit angelegte, fundamental auf den Fluss bezogene Genesevorsprung des linksrheinischen Raumes zog sich wie ein roter Faden durch die Ländergeschichte: Er begünstigte die wirtschaftliche Betätigung, brachte eine Vielzahl soziokultureller Einflüsse in die Anliegerstädte und machte sie zu politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Machtzentren. Geographische Offenheit, frühe Städtegründungen, höhere Bevölkerungsdichte und die Einbeziehung in arbeitsteilige Wirtschaftsnetze ermöglichten die Ausbildung enger Kommunikationsnetze und den schnellen Transport von Innovationen und Ideen; der Vermittlungsraum nahm äußere Impulse auf, verarbeitete und strahlte sie mit der Ausrichtung des Rheinlands auf das Rheinische Städteband auch in das flussferne Umland aus. Grob gezeichnet entsteht – bei aller notwendigen Binnendifferenzierung – das Bild des Vorzugsraumes, der in seiner Gesamtsicht zwischen 800 und 1800, zwischen der fränkischen Unterwerfung der Sachsen und der Auflösung des Alten Reiches, Westfalen und Lippe auf Distanz hielt; diese wurden erst durch rheinische Anstöße erschlossen, aus rheinischen Metropolen mitregiert, unterstanden der alterslegitimierten Präponderanz des rheinischen Katholizismus und entbehrten ähnlich breit gestreuter Handels- und Gewerbezentren. Trotz des Übergewichts weltlicher Staaten erfuhr insbesondere der linksrheinische Raum eine hohe formelle religiöse Prägung. Aus der langen, ungebrochenen Kontinuität des Kölner Erzbistums und seiner Kirchenprovinz erwuchs die Verchristlichung rheinischer Kultur- und Gesellschaftsformen, die in der bayerisch beeinflussten Gegenreformation, dem Transfer süddeutsch-barocker Sinnlichkeit sowie der Förderung von Prozessionen, Frömmigkeit und Symbolen eine anschaulich-greifbare Komponente erhielten.419 Das lange Festhalten an überlieferten Liturgie- und Frömmigkeitsformen420 sowie die Aufrechterhaltung religiöser Traditionen auch gegen Bischöfe und Landesherrn421 verdeutlichen den tief verwurzelten Glaubenscharakter in Kirche und Volk. Konfessionsübergreifend ist die Traditionslinie sozialfürsorglicher Weltzugewandtheit auszumachen. Zwar sind Caritas und Nächstenliebe Grundbestandteil aller christlichen Kirchen, doch drangen bereits mit der Devotio moderna und dem Humanismus erasmianischer Prägung ein besonderes Moment aktiver Hilfsbedürftigenunterstützung in die Landschaft ein; infolge der Infragestellung der verfassten Kirche griff diese Glaubenselemente der Devotio auf und verleibte sie sich ein, bis sie in der jesuitischen Gegenreformation neuen Auftrieb erhielten. Auch der rheinische Protestantismus fügte seinen Teil zu der Traditionslinie bei: Neben der die Ausbreitung des Calvinismus begleitete aktivistische Gemeindepflege – die inneren Selbstverwaltungselemente der Gemeinden erleichterten die 419 420
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Vgl. Rummel, Walter: Frömmigkeit im Rheinland. Zwischen Spätantike und Postmoderne, in: Engelbrecht et. al., Rheingold, S.147-234, hier: S. 200ff. So hielt man formal bis zum 1. Adventssonntag des Jahres 1950 an der vortridentinischen Agenda Coloniensis fest, vgl. Vollmer, Thomas: Agenda Coloniensis. Geschichte und sakramentale Feiern der gedruckten Kölner Ritualien, Regensburg 1994, S. 185. So wussten die Jesuiten um die besonderen gegenreformatorischen Mühen, die dem Volk statt allein ihren Führern zugewendet werden mussten, um sie zur Rückkehr zum Katholizismus zu bewegen. Vgl. Molitor, Hansgeorg: Mehr mit den Augen als mit den Ohren glauben. Frühneuzeitliche Volksfrömmigkeit in Köln und Jülich-Berg, in: ders. (Hrsg.): Volksfrömmigkeit in der Frühen Neuzeit, Münster 1994, S. 89105.
D.IV. Landschaftliche Grundprägungen – Altes Reich
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ortsnahe Übernahme konkreter Beistandsleistungen – legten auch die pietistischen Erweckungsbewegungen einen Schwerpunkt ihrer Arbeit auf öffentliche Wohlfahrt und die Versorgung sozial Schwacher. Ein weiterer wesentlicher landschaftsprägender Aspekt waren die in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur anzutreffenden freiheitlich-liberalen Stränge. Bereits die räumlichen Voraussetzungen verlangten Teilen des Rheinlands Offenheit und Aufnahmebereitschaft ab, waren sie doch Einfallstore auswärtiger Einflüsse und Kontakte, die ganz wesentlich die eigene Existenz mitbestimmten. Die Praxis adliger Landverpachtung schränkte Feudalordnung, Grundherrschaft und persönliche Abhängigkeit frühzeitig ein und ermöglichte unabhängigeres Wirtschaften; im Zusammenspiel mit den gewerblichen Wachstumskernen am Niederrhein, im Aachener Land oder im Bergischen Land sowie den Handelsbeziehungen der Rheinanlieger stießen sie protobürgerliches Selbstbewusstsein, ökonomische Selbständigkeit und Selbstbestimmung an, die auch in der Übersetzung wirtschaftlicher in politische Macht zum tragen kam. Zünfte oder Hansedrittel ermöglichten hiesigen Kaufleuten oder Handwerkern die Ordnung des nahen Lebensbereichs, Residenzkanzleien die Übernahme staatlicher Beamtenposten, wie auch die französischen Besatzer den Meistbesteuerten öffentliche Mitgestaltung eröffneten. Auch der reformierte Protestantismus, seine presbyterial-synodalen Strukturen und sein obrigkeitsfernes Kirchenverständnis fügten den rheinischen Landschaften ein freiheitliches Element bei. Bereits die Ausbreitung des Calvinismus folgte nicht landesherrlicher Verfügung, sondern weitgehend gemeindlicher Selbstbestimmung und offenbarte die Unabhängigkeit des rheinischen Protestantismus von Hierarchie und Fremdverfügung, die gerade auch durch seine spezifische innere institutionelle Ausgestaltung gestärkt wurde. Für die Städte der Rheinschiene waren kulturelle Offenheit, wirtschaftliche Flexibilität und ein Alltagspragmatismus notwendig, um nach außen die Versorgung sicherzustellen sowie nach innen die engen Verhältnis und das vielfältige Nebeneinander zu ordnen. Untereinander standen sie in Konkurrenz, unterschiedliche staatliche Zugehörigkeiten sowie der Wettbewerb um Handel und Güter betonten das Disparate und begründeten eine Beschränktheit im Kleinen bei Aufnahmebereitschaft im Großen. Allesamt waren sie mit dem hohen Anteil an Kaufleuten und Beamten eher bürgerlich denn adlig geprägt, politische Macht- und wichtige Bildungszentren. Die herausragende Metropole, ein wirtschaftlicher und kultureller Mittelpunkt, politisches Machtzentrum und größte Ballung wurde Köln, dessen Selbstverständnis und Eigenbewusstsein auf dem Status einer herausragende Hanse- und Reichsstadt, eines religiösen Vororts sowie einer Kommunikations- und Distributionsachse gründeten. Eine ähnliche Sonderrolle konnte allein die Kaiserstadt Aachen für sich beanspruchen. Den Niederrhein prägten hingegen die alltagsbestimmenden Elemente der Landwirtschaft, des Landadel, des Katholizismus und die kulturelle Nähe zu den Niederlanden; Erfahrungen und Weltbilder behielten in dem dünnbesiedelten Gebiet einen traditionelleren Charakter, den jedoch das verbreitete bäuerliche Pachteigentum aufgelockerte. Eine vergleichbare, wenngleich deutlich ausgeprägtere Reliktlandschaft war die Eifel, die als unzugänglicher politischer Grenzraum allenfalls Bedeutung als Rohstofflieferant, aber auch als geistig-religiöses Zentrum besaß.
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Geographische Abgeschiedenheit, kleinteilig-dezentrale Binnenstruktur und topographische Zerschnittenheit beförderten – unterstützt durch den konfessionellen Minderheitenstatus, die Vielzahl selbständiger Gemeinden sowie den Verweis auf eigene Apostel und Reformer –422 die Ausbildung eines „emotionalen Separatismus“423 des Bergischen Landes vom übrigen Rheinland. Protoindustrielle Gewerbestrukturen prägten Raum- und Gesellschaftsentwicklung ebenso wie die Aufnahme niederländischer Glaubensflüchtlinge, die Anstöße lieferten sowohl für die Ausbreitung des reformierten Bekenntnisses wie auch für das Wirtschaftsleben. Der zwanzigjährige französische Einfluss war vor allem für das Linksrheinische immens prägend; ohnehin bestehende strukturelle Ungleichgewichte gegenüber Westfalen und Lippe waren in der Franzosenzeit verstärkt, ihre Auseinanderentwicklung forciert worden; dieser Trend setzte sich nach 1815 unter neuen Prämissen fort. Ökonomische Zugewinne und die Übernahme von Verwaltungspositionen machten das Wirtschaftsbürgertum zur staatstragenden Schicht, wie auch die egalitären staatsbürgerlichen Rechtsverhältnisse vorhandene frühgewerblich-freiheitliche Entwicklungskeime freisetzten.424 Der Versuch, das diesen Status sichernde, französisch geprägte Rheinische Recht zu erhalten, bestimmte mitsamt des seit 1795 ausgebildeten bürgerliche Selbstverständnisses nach 1815 sein Verhältnis zu den preußischen Landesherrn und war Grundlage des rheinischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts. Angestoßen durch die Zusammenfassung und Neugliederung des linksrheinischen Gebiets, waren mit der Einführung der Pressefreiheit 1797 die überregionale Selbstverständigung, der Transport liberaler Ideen sowie die mentale Raumerschließung möglich und der Grundstein eines rheinischen Selbstbewusstseins gelegt. Die gemeinsamen Erfahrungen schufen eine Erinnerungsgemeinschaft, an die anzuknüpfen Baustein zur Ausbildung eines rheinischen Eigenbildes wurde; insbesondere das aufsteigende Bürgertum wurde Träger der Bemühungen, das Rheinische in Abgrenzung von Preußen und unter Rückbezug auf die Franzosenzeit zu bestimmen.
D.IV.2. Westfalen Bereits die Sachsenzüge Karls des Großen initiierten die Traditionslinie, Westfalen zu einem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Nebenland des Rheinlands zu machen. Abhängigkeit und Unterordnung äußerten sich in seiner aus Köln und Aachen betriebenen kirchlichen Durchdringung, in der direkten Herrschaft Kurkölns über Teilbereiche, dem Status Kölns als Hansevorort auch für westfälische Städte oder der Verwaltung rheinischwestfälischer Administrativgemeinschaften wie Kleve-Mark aus dem rheinischen Kleve. Das abseitig der großen Handels-, Verkehrs- und Kommunikationsströme gelegene West422
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Katholische Kirchenbauten bezogen sich stets auf den Heiligen Swidbert von Kaiserswerth, auch wenn dieser nur bis zur Ruhr vordrang. Vgl. Finger, Heinz: England und der Niederrhein, Düsseldorf 1991, S. 17 u. 59f.; Protestanten sahen in Adolf Clarenbach einen eigenen Reformator, obwohl Wesel und der Niederrhein dessen Haupttätigkeitsgebiet waren. Vgl. ders.: Reformation und katholische Reform im Rheinland, Düsseldorf 1996, S. 54f. Vgl. ders.: „Rheinische Kirche“ – Kirche im Rheinland, in: Grimm/Kortländer, Rheinisch, S. 29-50, hier: S. 43. Vgl. Engelbrecht, Landesgeschichte, S. 199.
D.IV. Landschaftliche Grundprägungen – Altes Reich
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falen konnte diesen strukturellen Nachteil nie kompensieren, wies einen Informationsund Innovationsrückstand auf und wahrte eine bewahrend-beharrende Grundtendenz; die verschiedenen Trends verstärkten sich wechselseitig und schrieben den Rückstand des Raumes über die Zeit fest. Die mit den fränkischen Bistumsgründungen in Minden, Münster und Paderborn gefestigte Christianisierung bildete den Ausgangspunkt für die territoriale Dominanz geistlicher Fürstbistümer und die dezidiert christlich-katholische Prägung Westfalens. Die herausragende Position und der relativ hohe Anteil jenseitsorientierter Herrschaftsgebiete untermauerte – standen sie in ihren Modernisierungsmaßnahmen doch hinter weltlichen Ländern zurück – die konservative Grunddisposition Westfalens, die erst seit dem 17. Jahrhundert mit der Ausbreitung Brandenburg-Preußens, der dynamischsten deutschen Macht, allmählich aufgewogen wurde; Neuerungen brauchten länger, bis sie sich durchsetzten und wurden häufig mit einer größeren Skepsis aufgenommen. Hieran anschließend, besaß auch in Westfalen der Caritasgedanke eine große Bedeutung; nicht allein der hohe Prozentsatz an Fürstbistümern, sondern auch die frühzeitige Ausbreitung der Devotio moderna wie des erasmianischen Humanismus’ verbreiterten die Botschaften christlicher Nächstenliebe und geminderter staatlicher Zugriffe. Auf evangelischer Seite beschnitten der größere Anteil des Luthertums sowie die vornehmlich obrigkeitliche Ausbreitung des Calvinismus die emanzipatorisch-freiheitlichen Aspekte reformierter Theologie und schmälerten zugleich auch die intensive Gemeindepflege gegenüber dem rheinischen Protestantismus. Mit dem preußischen sicherte zudem der Staat die westfälischen evangelisch-lutherischen Kirchen, der die obrigkeitliche Kontrolle im 17. und 18. Jahrhundert besonders ausbaute. Westfalen als Ganzes wurde sowohl abgehängte als auch abhängige Landschaft und blieb ein weitgehend agrarisch bestimmter Landstrich; es verharrte länger in ständischen Verhältnissen und nahm Ideen und Impulse allenfalls verzögert auf. Strukturelle Entwicklungsnachteile – die Stärke der Kirche und des Landadels sowie die abseitigere Lage – schwächten in ihrer Wechselbedingung die sozioökonomische Modernisierung und tradierten hergebrachte Lebenswelten. Vornehmlich die katholisch-agrarischen Gebiete des Münsterlandes, des PaderbornerHöxtener Landes und des Kölnischen Sauerlandes konservierten diese traditionalistischen Horizonte; ritterliche Herrschaftssitze und religiöse Institutionen, der Erhalt bäuerlicher Eigenbehörigkeit und Patrimonialgerichtsbarkeit manifestierten die nur geringfügig in Fragegestellte Machtposition von Landadel und Kirche, die die Räume über Jahrhunderte prägten. Es mangelte in den von den großen Verkehrsströmen abgehängten Gebieten an protoindustriellen Wirtschaftsbürgern und Auslandkontakten, die überlieferte Denk- und Handelsperspektiven relativiert hätten. Am nördlichen Rand Westfalens hoben sich Minden-Ravensberg und das TecklenburgLingener Land nicht allein durch die Ausläufer des Teutoburger Waldes, sondern auch aufgrund konfessioneller Unterschiede von diesem Umfeld ab. Beide vornehmlich protestantisch, wurde der reformierte Glaube im Tecklenburger Land obrigkeitlich eingeführt, während das lutherische Minden-Ravensberg breiteren pietistischem Einfluss unterlag. Neben der dominierenden Landwirtschaft bestimmte die heimgewerbliche Leinenproduktion das
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D. Das historische Nordrhein-Westfalen – Altes Reich
Wirtschaftsleben, aus dem vornehmlich in Ravensberg ein schmales Wirtschaftsbürgertum hervorging. Dichte Besiedelung und überörtliche Handelskontakte begleiteten die gewerbliche Fortschrittlichkeit des Märkischen Sauerlandes und erleichterten Wissens- und Ideendiffusion. Zwar entstand in der konfessionellen Mischlandschaft ein protoindustrielles, geistigen Neuerungen gegenüber aufgeschlossenes Bürgertum, das in seiner politischen Entfaltung jedoch durch die hier besonders ausgebauten Mitspracherechte des Landadels eingeschränkt war. Naturräumlich und kulturell hob sich der Siegen-Wittgensteiner Raum von Westfalen ab; mit seiner peripheren Lage nahm er einen eigenständigen Entwicklungsweg und war bereits sprachlich stärker auf Rheinfranken und Hessen ausgerichtet. Während das Siegerland auf der Grundlage seiner Rohstoffvorkommen am überregionalen Wirtschaftsaustausch beteiligt war, blieb das unzugänglichere Wittgenstein von diesem weitgehend abgeschnitten; erlebte das Siegerland einen frühen, wenngleich kleinbetrieblichen Gewerbeaufschwung, so blieb dieser in Wittgenstein aus. Insgesamt bereiteten die obrigkeitlich durchgeführte Reformation, die Ausbreitung erweckungsbewegter Zirkel sowie die bäuerlichkleinbürgerlichen Gesellschaftsstrukturen in beiden Fällen eher konservativ-beharrende Genesepfade. Die französischen Umwälzungen prägten Westfalen und seine Bürger weit geringer als das linksrheinische Gebiet. Liberale Anschauungen mussten an dem von Kirche, Adel und Bauerntum dominierten Landesteil weitgehend vorbeigehen, ständischer Einfluss blieb stärker erhalten, Freiheits- und Gleichheitsideen drangen schwächer durch und fanden weniger Rezipienten.425 Es mangelte an Bürgerkreisen, an Trägern und Unterstützern revolutionären Ideen wie dem Westphälischen Anzeiger, der vornehmlich in das Großherzogtum Berg ging, während Schriften, die die Revolution als Abfall von Gott ausmachten, eine größere Auflage erreichten.426 Kirche und Landadel gewannen je länger je mehr an Einfluss zurück; Westfalen nahm die im Alten Reich ausgebildeten konservativrückständigeren Grundzüge in die Preußenzeit mit und bildete sein Selbstverständnis weitgehend ohne Rückgriff auf die Franzosenzeit aus.
D.IV.3. Ruhrgebiet Der Grenzlandcharakter des Ruhrgebiets brachte eine landschaftliche Pluralität auf engem Raum mit sich, die einer harmonisierenden Zusammenschau entgegensteht. Die Reichsund Hansestadt Dortmund war bedeutendstes Oberzentrum, das sich von den umliegenden geistigen und weltlichen Monarchien unterschied und hieraus sein Selbstverständnis bezog. Auswärtige Wirtschafts- und Gesellschaftsimpulse erreichten das Ruhrgebiet vor-
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Die Protokolle der Münsterschen Landtagsverhandlungen offenbarten mit der Beibehaltung der Besteuerung nach Kurien die Beharrungskraft ständischer Einflüsse und die geringere Durchdringung der Gleichheitsidee, während die Verhandlungen in Kurköln allgemeine und gleiche Prinzipien verlangten. Vgl. Hartlieb von Wallthor, Das Verhalten der Westfalen, in: Der Raum Westfalen IV,1, S. 352. Vgl. ebd., S. 349, 354.
D.IV.5. Landschaften in NRW – Altes Reich
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nehmlich über den Hellweg, dessen Anliegerstädte hierüber einen Entwicklungsvorsprung gegenüber der Emschergegend errangen.
D.IV.4. Lippe Naturräumliche Abgeschiedenheit und staatliche Unabhängigkeit begründeten die eigenständige Genese Lippe-Detmolds im Alten Reich, spezifische Traditionsstränge enthoben das Lipperland einer westfälischen Vereinnahmung und unterstützten ein durch jene begründetes Sonderempfinden. Starre Staatstrukturen und Feudalverhältnisse fundierten die gegenüber seinem Umland bestehende lippische Verspätung: Politisch konnte es nicht mit den absolutistischen Umwälzungen seiner weltlichen Nachbarn mithalten, wirtschaftlich hemmten die ständischen Verhältnisse die Gewerbekraft, und gesellschaftlich wahrte die Vormacht des Adels die Unselbständigkeit der Bevölkerung. Auswärtige Anstöße erreichten die durch Teutoburger Wald und Wesergebirge eingesäumte Grafschaft nur verzögert und verstärkten ihrerseits die allgemeine Rückständigkeit. Mit der reformierten Landeskirche war seit 1605 eine kulturelle Scheidelinie gezogen, die Lippe trotz geographischer Nähe von seiner Umgebung absonderte; ihre obrigkeitliche Einführung minderte die Selbständigkeit der Gemeinden, die zugleich kaum von Glaubensflüchtlingen infiltriert wurden und kirchenferner Selbstverwaltungsimpulse entbehrten. Synodale Selbstverwaltungselemente spielten bis 1877 keine Rolle und verwehrten der Bevölkerung die Einübung unabhängiger Eigenverantwortung und persönlicher Mündigkeit im sozialen Alltag. Diese wechselseitig bedingten Strukturkonstanten erschwerten den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Umschwung und begünstigten das Festhalten an überlieferten Weltverständnissen. Die Entwicklung des Lipperlandes unterschied sich auch während der Revolutionszeit von den umliegenden Territorien; sie erfuhr weniger radikale Umbrüche und ist mehr im Fluss zu sehen. Land und Leute hatten keinen vergleichbaren Verlust an hergebrachten Orientierungen und Sinnordnungen zu verkraften, sondern durchliefen einen zwischen 1770 und 1830 verlaufenden, obrigkeitlich gesteuerten Reformkorridor, der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Lippe-Detmold aus sich heraus veränderte, ohne das Lipperland vollauf umzugestalten. Die fehlende Einführung der napoleonischen Gesetzesbücher erhielt die ständischen Gesellschaftsstrukturen, verwehrte dem Land sozioökonomische Impulse, seine innere Liberalisierung und die Entstehung breiterer Bürgerkreise. Als einziger Staat des historischen Nordrhein-Westfalens wurde Lippe-Detmold nach 1815 nicht preußisch und folgte auch weiterhin seinem eigenständigen landschaftlichen Genesestrang.
D.IV.5. Landschaften in NRW – Altes Reich Die Landschaften in Nordrhein-Westfalen existierten nicht bereits im Alten Reich, doch wurden hier die voneinander abgehobenen soziokulturellen Grundlagen angelegt, an die unterschiedliche Deutungskulturen im weiteren Geschichtsverlauf ansetzen konnten; durch das heutige Landschaftspanorama schimmert die bis 1794 bestehende Staatenwelt hin-
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D. Das historische Nordrhein-Westfalen – Altes Reich
durch, da die gemeinschaftliche kognitive und emotionale Verarbeitung der dort gemachten partiellen Grunderfahrungen, die aus ihnen gezogenen Schlüsse sowie die Weitergabe jenes landschaftlichen Wissens über die familiäre und gesellschaftliche Erziehung in abgeschwächter Form noch das Heute begründen und aus ihm herauszulesen sind. Auf den hier begründeten Strukturgräben setzte die Prägungsschicht der folgenden Preußenzeit auf, näherte sie partiell an, vertiefte und erweiterte sie jedoch zugleich; sowohl politisch als auch kulturell und wirtschaftlich differenzierte sich das Landschaftspanorama weiter aus und wirkte hierüber auf ohnehin bestehende mentale Kartierungen und Binnengliederungen zurück.
E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit Infolge des Wiener Kongresses fielen dem Königreich Preußen 1815 – bis auf LippeDetmold – sämtliche Gebiete des historischen Nordrhein-Westfalens zu. Mit ihm trat ein Akteur in die Raumgenese, der dieser bis 1945 einen maßgeblichen Stempel aufdrückte: Nach der Zusammenfassung zuvor unabhängiger Staaten und disparater Landschaften in der Rheinprovinz und der Provinz Westfalen wurden Identitäten um- und in Auseinandersetzung mit der Hohenzollernmonarchie neu ausgebildet. Die Preußenzeit fügte der Landschaftsformierung eine zweite wesentliche Prägungsschicht hinzu, setzte auf den im Alten Reich angelegten, in sie hineinragenden unterschiedlichen politisch-administrativen, religiös-kulturellen und sozioökonomischen Entwicklungslinien auf und überformte sie. Innerhalb der 130-jährigen Beziehungsgeschichte427 tradierten und vertieften die preußisch geschaffenen Administrativgebilde die Strukturgrenze zwischen Rheinland und Westfalen; neuentstehende relationale Raumbildungen wie das – deshalb gesondert behandelte – Ruhrgebiet erweiterten die ohnehin bestehende innere Vielgestaltigkeit. Weitgehend ausgenommen hiervon blieb das Fürstentum Lippe-Detmold, das seine staatsrechtliche Unabhängigkeit über 1815 hinaus wahrte und sich – trotz mannigfacher Berührungspunkte – in einem eigenen landschaftsbildenden Zeitrhythmus bewegte.
E.I. Schlaglichter der Landschaftsentwicklung – Staat und Politik E.I.1. Westprovinzen Nach den Zugewinnen des Wiener Kongresses galt es für Preußen, sein vergrößertes Territorium neu zu ordnen und in den Staat zu integrieren. Mit der Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzialbehörden vom 30. April 1815 wurden zehn Provinzen gebildet, deren Einteilung sich an der Staatenwelt des Alten Reiches wie an den Neuzuschnitten der Franzosenzeit orientierte. Die auf dem Gebiet des historischen NRWs geschaffenen Provinzen Jülich-Kleve-Berg und Großherzogtum Niederrhein sowie Westfalen bildeten die Westprovinzen, die in ihrem Inneren durch die – für den hier maßgeblichen, im Weiteren als Rheinland bezeichneten nördlichen Teil der Rheinprovinz – Regierungsbezirke Aachen, Düsseldorf und Köln sowie Arnsberg, Minden und Münster für Westfalen untergliedert waren.428 427
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Vgl. zum Begriff Mölich, Georg: Einleitung. Rheinland, Westfalen und Preußen – eine Beziehungsgeschichte, in: ders./Veitzke, Veit/Walter, Bernd (Hrsg.): Rheinland, Westfalen und Preußen. Eine Beziehungsgeschichte, Münster 2011, S. 7-11, insb. S. 7f. Vgl. die Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzialbehörden, einsehbar unter http://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/que/normal/que804.pdf (22.6.2010). Zur Verwaltungsstruktur allgemein und zu den einzelnen Kreisen, die hier nicht aufgezählt werden sollen, vgl. Hubatsch, Walther (Hrsg.): Grundriß zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1815–1945, Reihe A: Preußen, Bd. 7: Rheinland, bearb. v. Rüdiger Schütz, Marburg 1978, sowie Bd. 8: Westfalen, bearb. v. Walther Hubatsch, Marburg 1980. Die Rheinprovinz überschritt die Grenzen des historischen NRWs nach Süden und umfasste auch Gebiete des heutigen Rheinland-Pfalz’ und des Saarlands, Provinzhauptstadt war Koblenz. Maßgeblich für die weiteren Ausführungen sind allein die drei nördlichen Regierungsbezirke.
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
Innerhalb eines Bündels an politischen Konfliktlinien, die das beiderseitige Verhältnis bestimmten, war die Verfassungsfrage, die Forderung nach Begrenzung der Monarchenmacht und gesellschaftlicher Partizipation, die wichtigste; sie erhielt ihre Stoßkraft aus den infolge des Anschlusses gegebenen königlichen Verfassungsversprechen,429 aus dem Selbstverständnis, das insbesondere Bürgerkreise während der Franzosenzeit ausgebildet hatten, wie auch aus den restaurativen Tendenzen, mit denen der preußische Staat diesen Selbstbestimmungsansprüchen begegnete. Die Kreisordnung für die Rheinprovinzen und Westfalen vom 13. Juli 1827 machte neben Städten und Landgemeinden die mit einer ungeteilten Virilstimme ausgestatteten Besitzer mediatisierter reichsunmittelbarer Herrschaften sowie die in die Matrikel der Rittergutsbesitzer eingetragenen Adligen zu geborenen Mitgliedern der Kreisstände und erneuerte in modifizierter Form die alte ständische Ordnung, obwohl sie vor allem im Linksrheinischen nach Abschaffung des Geburtsadels in französischer Zeit der gesellschaftlichen Grundlagen entbehrte. Da für die Wahl zum Landrat ein hoher Zensus und Grundbesitz Wahlvoraussetzungen waren, begünstigten die Regularien in Westfalen den Landadel, während im Rheinland das Bürgertum stärker zum Zug kam.430 Mit der erstmaligen Einberufung des in seinen Gesetzgebungs- und Kontrollrechten eingeschränkten Vereinigten Landtags am 3. Februar 1847 und seiner Verstetigung in der okt-
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Die obige, leicht bearbeitete Grafik des Kartenservers IEG-Maps (Institut für Europäische Geschichte Mainz) ist angelehnt an die Karten bei Wilhelm Ribhegge, Preußen im Westen, S. 836 und 837. Nutzung und Bearbeitung mit freundlicher Genehmigung des IEGs Mainz. Zentrale Dokumente, auf die sich das liberale Bürgertum wie auch Adlige beriefen, wurden die Verordnung über die zu bildende Repräsentation des Volkes vom 30. Mai 1815 sowie die Verordnung wegen der künftigen Behandlung des gesamten Staatsschuldenwesens vom 17. Januar 1820. Wo die erste Verordnung die Provinzialvertretungen als Voraussetzung einer gesamtstaatlichen Versammlung bezeichnete, vgl. http://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/que/normal/que4635.pdf, bestimmte zweitere, dass der Staat künftige Kredite nur durch Hinzuziehung einer „künftigen reichsständigen Versammlung“ aufnehmen dürfe, vgl. www.uniheidelberg.de/institute/fak2/mussgnug/reform.doc, S. 6 (17.6.2010). Relativ hoch war dennoch auch im Rheinland der Anteil des Adels, wenngleich niedriger als in Westfalen; in der Rheinprovinz waren in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Hälfte, in Westfalen drei Viertel der Landratsposten in Adelshand. Vgl. Engelbrecht, Landesgeschichte Nordrhein-Westfalen, S. 243
E.I. Schlaglichter der Landschaftsentwicklung – Staat und Politik
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royierten Verfassung vom 5. Dezember 1848 auf der Basis des Dreiklassenwahlrechts431 wurden schließlich – aufgrund der Schwerpunktsetzung auf das historische NRW in ihrer Ausgestaltung nicht weiter interessierende – gesamtpreußische Mitbestimmungsforen eingerichtet. Die Provinzen Jülich-Kleve-Berg und Großherzogtum Niederrhein – 1822 zu den Rheinprovinzen, 1830 zu der Rheinprovinz vereint – fassten auf dem Gebiet des historischen NRWs mit den ehemaligen Herzogtümern Kleve und Jülich-Berg, dem Kurfürstentum Köln, den Reichsstädten Aachen und Köln sowie den säkularisierten Essener Territorien Gebiete zusammen, die sich aus ihrer Landschaftsentwicklung bereits untereinander und noch deutlicher vom ostelbischen Preußen unterschieden; Versuche, das Rheinland administrativ an sich zu binden, unterschätzten die Prägekraft der Rechts-, Verwaltungs- und Verfassungsreformen der Franzosenzeit und waren Ausgangspunkte zahlreicher Konflikte um die Verfassungsfrage. Bereits vor der Aachener Huldigungsfeier der rheinischen Stände und Städte vom 15. Mai 1815 erinnerte der 1814 durch Joseph Görres gegründete Rheinische Merkur den König an sein konstitutionelles Versprechen,432 wie auch der Besuch Friedrich Wilhelms III. in der Rheinprovinz zahlreiche Städte 1817 veranlasste, ähnliche Schriften zu veröffentlichen.433 Die Verfassungsfrage besaß hierbei einen Doppelcharakter: Zum einen war sie eine innerrheinische Auseinandersetzung zwischen der alten Elite des Adels und der neuen des Bürgertums: Eine die alten Korporationsrechte verteidigende Adelsdenkschrift von 1818 traf auf heftigen Widerstand bürgerlicher Kreise, die eine Restauration hergebrachter Vorrechten verhindern wollten,434 jedoch bereits mit der Kreisordnung von 1827 – die dem alten Adel mit einem Grundbesitzanteil zwischen 4 und 6% 1/3 der Mandate und seine gravierende Überrepräsentation sicherte –435 in ihrem Bestreben gebremst wurden. Zum anderen ging es um die Beibehaltung des Rheinischen Rechts, dessen bürgerliche Anhänger in ihm die angemessene Ordnung für eine liberale Partizipationsgesellschaft sowie den Garanten ihres wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstiegs sahen; der 431
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Eingeführt wurde das Dreiklassenwahlrecht mit der Verordnung betreffend die Ausführung der Wahl der Abgeordneten zur Zweiten Kammer vom 30. Mai 1849 und dem diese ausführenden Reglement über die Ausführung der Wahlen zum Hause der Abgeordneten, vgl. http://www.verfassungen.de/de/preussen/pwahlvo49.htm (21.6.2010). Zwar besaßen fast sämtliche männlichen Einwohner das Wahlrecht, doch zählten ihre Stimmen entsprechend ihrem direkten Steueraufkommen unterschiedlich. Jede Klasse stimmte für ein Drittel der Wahlmänner, die ihrerseits die Abgeordneten bestimmten. Alle drei Einkommensklassen konnten dieselbe Anzahl an Wahlmännern bestimmen, obwohl der ersten Klasse etwa fünf, der dritten aber 80% der Wähler angehörten. Konsequenz war, dass etwa Steuergesetzreformen von 1873/75 und 1891 die Arbeiterschaft zwar von Finanzpflichten entlastete, aber das Wahlrecht schmälerte. Innerhalb der Provinzen galten regionale und lokale Unterschiede für die Höhe, ab der die Zuordnung in eine bestimmte Klasse galt. Vgl. Clark, Preußen, S. 573f. Hier hieß es: „Der König hat in seinem Besitznahme-Patent den Einwohnern gelobet…wie er die Bildung einer Repräsentation anordnen, und die Steuern mit ihrer Zuziehung jedes Mal feststellen werde.“ Vgl. Die Huldigung von Aachen, Rheinischer Merkur vom 5.5.1815, in: Görres, Joseph: Rheinischer Merkur, 2 Bde., Bd. 2: 1815-1816, Gesammelte Schriften Bd. 6-11, hrsg. v. Wilhelm Schellberg, Karl d'Ester, Hans A. Münster, Paul Wentzke, Köln 1928, Nr. 223. Vgl. Petri, Franz: Preußen und das Rheinland, in: Först, Walter (Hrsg.):Das Rheinland in preußischer Zeit, Köln/Berlin 1965, S. 37-70, hier: S. 55, 64. So verlangte der Düsseldorfer Physikprofessor Johann Paul Brewer:„Die Gleichheit aller vor dem Gesetz – dieses ist der Grundsatz, welcher allen Ständeversammlungen Kraft und Leben einhauchen muss.“, zitiert nach: Faber, KarlGeorg: Die Rheinlande zwischen Restauration und Revolution. Probleme der Rheinischen Geschichte von 1814-1848 im Spiegel der zeitgenössischen Publizistik, Wiesbaden 1966, S. 300. Vgl. Lademacher, Die nördlichen Rheinlande, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 525.
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
Schiedsspruch einer infolge zahlreicher Eingaben aus der Bevölkerung lancierten Untersuchung seiner Zweckmäßigkeit und Angemessenheit für die rheinischen Verhältnisse durch eine Kölner Immediat-Justizkommission führte durch Kabinettsorder vom 19. November 1818 zum Erhalt der Rechtsverhältnisse für den links- wie rechtsrheinischen Raum bis zur Einführung der Bürgerlichen Gesetzbuchs 1900.436 Diese Besonderheiten prägten das rheinische Zivilleben in Absetzung vom restlichen Preußen und waren maßgeblicher Faktor für die Entstehung eines provinziellen Sondergeistes. Die Integration der aus dem Zusammenschluss der ehemaligen Fürstbistümer Münster, Höxter und Paderborn, des Herzogtums Westfalen, des Vests Recklinghausen, der Fürstentümer Minden und Siegen, der Grafschaften Mark, Ravensberg, Tecklenburg und Wittgenstein sowie der Reichsstadt Dortmund entstandenen Provinz Westfalen in den protestantischen preußischen Staat war auf der einen Seite aufgrund des hohen Anteils ehemals geistiger Territorien erschwert, durch den größeren Prozentsatz bereits vor 1815 preußisch gewordener, ebenfalls evangelischer Regionen jedoch relativiert.437 Eingliederungskonflikte und öffentliche Debatten rankten sich weniger um die Einlösung der Verfassungsversprechen – der ungeteilte Erhalt eines kulturell definierten Westfalens anstelle einer Aufteilung auf die Königreiche Preußen und Hannover spielte eine größere Rolle –438 und wurden infolge der differenten westfälischen Sozialstruktur zunächst fast ausschließlich aus Adelsschichten geführt; Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein, der sich in Cappenberg niedergelassen hatte, war wichtiger Motor dieser auf die Sicherung ihrer hergebrachten Rechte bedachten Kreise.439 Auch die Begünstigung des Adels durch die 1827 eingeführte Kreisordnung traf auf geringere Irritationen, da die stärkere Aufrechterhaltung der hergebrachten Stellung des Landadels über die Franzosenzeit hinweg sowie die schwächere gewerblichstädtische Entwicklung den höheren Anteil landsässiger Ritter an den Kreistagen und bei der Besetzung der Landratsposten zum Teil rechtfertigten. Die in den bäuerlich-adligen Provinzstrukturen zu Tage tretende größere Nähe Westfalens zum Hohenzollernreich kam auch in der Rückkehr zum 1793 erlassenen Allgemeinen Landrecht zum Tragen, das dem Alltagsleben andere Strukturen als dem Rheinland vorgab. 440
E.I.2. Lippe Lippe-Detmold bewegte sich in eigenen Zeitrhythmen, Identitäten bildeten sich vor allem aus der Kontinuität, dem weitgehend unbeschadeten Erhalt adliger Vorrechte und den nur 436 437 438
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Vgl. Leiser, Wolfgang, Code Civil, in: Erler, Adalbert/Kaufmann, Eckehard (Hrsg.): Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte I, Berlin, 1971, Sp. 623f. Vgl. Behr, Hans Joachim: Die Provinz Westfalen und das Land Lippe 1813-1933, in: Kohl, Westfälische Geschichte 2, S. 45-164, hier: S.49, 100f. Vgl. Hartlieb von Wallthor, Alfred: Die landschaftliche Selbstverwaltung Westfalens in ihrer Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert. 1. Teil: Bis zur Berufung des Vereinigten Landtags (1847), Münster 1965, S. 93f. Vgl. auch Behr, Die Provinz Westfalen und das Land Lippe, in: Kohl, Westfälische Geschichte 2, S. 146.Vgl. hierzu auch die Ausführungen zu Landschaftsbildern und Stereotypen. Vgl. Behr, Die Provinz Westfalen und das Land Lippe, in: Kohl, Westfälische Geschichte 2, S. 60, 164 Vgl. Deter, Gerhard: Das Preußische Allgemeine Landrecht in der Provinz Westfalen – Rezeption und Wirkung, in: Teppe, Karl/Epkenhans, Michael (Hrsg.): Westfalen und Preußen. Integration und Regionalismus, Paderborn 1991, S. 82-97.
E.I. Schlaglichter der Landschaftsentwicklung – Staat und Politik
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geringen gesellschaftlichen Umbrüchen infolge der Franzosenzeit. Allerdings bröckelte diese rechtliche Unabhängigkeit Lippes allmählich faktisch, es verlor mit dem Beitritt zum Norddeutschen Bund 1867 seine eigenständigen Auslandsvertretungen sowie die Hoheit über Wirtschafts-, Rechts- und Steuerfragen und trat zudem seine militärische Verpflichtungen an Preußen ab.441 Charakteristisch für Lippe-Detmold war der Dualismus von Landesherrschaft und Landeshoheit: Das Fürstenhaus musste sich bis weit in das 19. Jahrhundert hinein mit den Privilegien der Landstände arrangieren, die in den umliegenden Territorien bereits deutlich eingeschränkt waren; Versuchen Fürstin Paulines, den staatlichen Absolutismus mit einem Verfassungsvorschlag von 1819 auszubauen und ihre faktische Autokratie – Landtage wurden zwischen 1805 und 1815 mit Verweis auf die angespannte außenpolitische Lage Lippes nicht einberufen – rechtlich abzusichern, begegneten diese mit einer Klage vor der Bundesversammlung des Deutschen Bundes und verhinderten mit Verweis auf die Wahrung ihrer hergebrachten Rechte den Konstitutionserlass.442 Erst ihr Nachfolger Leopold II. erreichte 1831 in Verhandlungen mit den Landständen den Entwurf einer 1836 in Kraft getretenen Verfassungsurkunde, mit der der neuerrichtete Landtag keine gesetzgebende Gewalt, sondern allenfalls Zustimmungsrechte zu Verfassungsänderungen, der Ausschreibung von Steuern und der Schuldenaufnahme erhielt. Adlige und bürgerliche Besitzer landtagsfähiger Güter wählten als Ritterschaft ihre Vertreter unmittelbar, während Städte und Landgemeinden diese jeweils indirekt über Wahlmänner bestimmten; Grundbesitz blieb Wahlvoraussetzung, jede der drei Kurien entsandte sieben Vertreter in den Landtag. Da bereits vier Ritter ein Vetorecht besaßen, war das Fürstentum weitgehend gelähmt, Innovationen scheiterten in dem „reactionäre(n) Musterstaat“443 stets an dem auf Sicherung seiner Vormacht bedachten Landadel.444 Erst 1876 wurde mit der Einführung des Dreiklassenwahlrechts aus den Landständen der Landtag; anstelle dreier Kurien gab es fortan nur noch eine Kammer, in der nach Mehrheit abgestimmt wurde, Landadel und Großgrundbesitzer bestimmten in dem nach Einkommen gestaffelten, konservativ-agrarische Mehrheiten sichernden Wahlsystem nurmehr fünf von 21 Landtagsvertretern. Gebrochen wurde die Adelsmacht erst mit der Verfassung von 1920, die Lippe das freie, allgemeine und gleiche Wahlrecht und einen Landtag brachte, dem ein dreiköpfiges Landespräsidium verantwortlich war.
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Vgl. Kittel, Heimatchronik des Kreises Lipps, S. 246f. Zwar sollte der Landtag eine Erweiterung erfahren, sein Selbstversammlungsrecht aber verlieren und der Vorbehalt gegen landesherrliche Maßnahmen abgeschafft werden. Bereits 1817 versuchten die Landstände, die in Rheinbundzeit erlassenen Regelungen rückgängig zu machen und beriefen sich 1819 auf Artikel 56 der Wiener Schlussakte, nachdem die in anerkannter Wirksamkeit befindlichen Verfassungen nur auf verfassungsmäßigem Wege geändert werden sollten. Vgl. hierzu Nitschke, Peter: Verbrechensbekämpfung und Verwaltung. Die Entstehung der Polizei in der Grafschaft Lippe 1700-1814, Münster/New York 1990, S. 122 und passim sowie Kittel, Heimatchronik, S. 204ff. Zeitgenössische überspitzte Äußerungen liberal gesinnter Bürger sahen das Verfassungsbild Lippes „noch düsterer als selbst das von Mecklenburg und Kurhessen“, als „ein Gegenstand des Mitleids oder des Spotts verständiger Staatsmänner“ und die Bevölkerung des „in eine dumpfe Resignation versunken.“ Die Äußerungen finden sich bei Kittel: Heimatchronik, S. 238. Da jede Kurie aus sieben Mitgliedern bestand, waren vier Ritter in der Lage, die erste Kurie beschlussunfähig zu machen. Die sieben Vertreter landtagsfähiger Güter repräsentierten im Jahre 1869 nur noch elf Besitzer, während ihnen in der dritten Kurie eine Bevölkerungsmehrheit von 85% gegenüberstand, vgl. Behr, Die Provinz Westfalen und das Land Lippe, in: Kohl, Westfälische Geschichte 2, S. 112.
112
E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
E.II. Selbstverwaltung Provinziale und kommunale Selbstverwaltungsorgane waren in den preußischen Westprovinzen entscheidend an der Ausbildung von Eigenbildern und Identitäten beteiligt: Sie eröffneten eigenverantwortlich ausgefüllte, innengerichtete Gestaltungsspielräume und Kommunikationsrahmen in Absetzung vom Gesamtstaat, stellten relationale Bindungen zwischen den Akteuren her und dienten hiermit der kollektiven Selbstbestimmung; im Fürstentum Lippe hingegen existierten keine derartigen Selbstverwaltungsstrukturen, hier war der Landtag die einzige öffentliche Institution mit nur annähernd vergleichbarer Funktion.
E.II.1. Provinziale Selbstverwaltung in den Westprovinzen Insbesondere in den ersten Jahren der Zusammengehörigkeit bestand der Grundkonflikt zwischen Zentralismus und Regionalismus in Preußen: Das in den Westprovinzen artikulierte Streben nach weitgehender Unabhängigkeit und der Berücksichtigung von Partikularinteressen traf auf den staatlichen Anspruch, die Landesherrschaft uneingeschränkt durchzusetzen. Als Kompensation für die Verwehrung des Verfassungsversprechens ergänzte das Allgemeine Gesetz wegen Anordnung der Provinzialstände vom 5. Juni 1823 die staatliche Mittelinstanz Provinz durch selbstverwaltete Provinzialstände, die Preußen den Charakter eines „differenzierte(n) Einheitsstaat(es) mit starker provinzieller Komponente“445 gaben. Einberufen wurden die – Gesetzesentwürfe beratenden, mit Petitions-, allerdings ohne Gesetzgebungs- oder Steuerbewilligungsrechten ausgestatteten – Gremien durch den König in einem drei-, ab 1842 zweijährigen Turnus; ein ernannter Landtagsmarschall leitete die nichtöffentlichen Sitzungen, über deren Inhalte Oberpräsidenten und Bezirksregierungen entschieden. Trotz geringer Machtbefugnisse waren die aus Landadel, städtischem Bürgertum, großbäuerlichem Grundbesitz und ehemaligen Standesherrn gebildeten Versammlungen bis 1847 die einzigen öffentlichen Foren, die entgegen ihrer Zielrichtung auch gesamtstaatliche Fragen diskutierten und an der Zunahme eines politischen Bewusstseins sowie eines regionalen Eigenlebens beteiligt waren. Das auf den Charakter der agrarisch-ländlichen Ostprovinzen zugeschnittene Provinzialständegesetz und seine Ausführungsbestimmungen widersprachen mit ihrer Ausrichtung auf den adligen Grundbesitz, infolge ungleicher Beschickungsregularien – die Ritterkurie entsandte ihre Vertreter durch direkte, Städte und Landgemeinden jeweils durch indirekte Wahl, ehemalige Standesherrn waren geborene Mitglieder – aufgrund der Quotenregelungen446 sowie ungleicher Abstimmungsmuster – während sich die drei ersten Kurien eine gemeinsame Stimme teilten, verfügten die Standesherrn über ungeteilte Virilstimmen – jedoch den hiesigen Gesellschaftsverhältnissen: Der rheinische Geburtsadel musste durch Gesetz vom 18. Januar 1826 als Standesgruppe erst wiederhergestellt werden, um die Landtagskurie besetzen zu können, so dass bereits am 27. März 1824 spezielle Regelungen 445 446
Schütz, Rüdiger: Zur Eingliederung der Rheinlande, in: Baumgart, Expansion und Integration, S. 195226, hier: S. 226. Ein Schlüssel bestimmte, die Sitze zu 3/6 auf den ritterlichen Landbesitz, zu 2/6 auf die Städte und zu 1/6 auf die Landgemeinden zu verteilen. Vgl. Engelbrecht, Landesgeschichte, S. 245.
E.II. Selbstverwaltung
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für die Westprovinzen erlassen wurden. Unterschiedliche Zusammensetzungen und regionale Hintergründe trugen zur Entwicklung differenter Politikverständnisse sowie abweichender Antworten auf die Verfassungsfrage bei447 und äußerten sich insbesondere im Rheinland in bürgerlich-liberalem Gedankengut und provinziellem Sondergeist.448 1875 wurden aus den Provinzialständen kommunalisierte Provinzialverbände; fortan waren nicht mehr Besitz und Quoten, sondern Wahlen für die Beschickung des öffentlich tagenden Plenums maßgeblich. Die nach dem Dreiklassenwahlrecht gebildeten Stadtmagistrate und Landkreise wählten – gestaffelt nach Einwohnerzahl – die Abgeordneten, zu denen fortan auch nicht-grundbesitzende Schichten gehörten. Deutlich erweitert wurde durch ein Regulativ von 1871 sowie durch Dotationsgesetze von 1875 und 1902 die Leistungsverwaltung der zumindest alle zwei Jahre einberufenen Provinzialvertretung und ihres ständigen administrativen Unterbaus: Als wichtigste Posten unterlagen ihnen als überörtliche Selbstverwaltungsträger die Sorge um das Landarmenwesen, das Gesundheitswesen und die Armenfürsorge, den Straßenbau sowie die provinziale Kulturpflege. Die Reform wurde in den Westprovinzen zunächst nicht umgesetzt, da der preußische Staat fürchtete, diese in Kulturkampfzeiten den Ultramontanen und der von ihnen in geistiger Unselbständigkeit gehaltenen Bevölkerung auszuliefern.449 Erst 1886 wurde die Provinzialverbandsordnung in Westfalen, 1887 in der Rheinprovinz eingeführt und ihre Versammlung ab 1920 durch allgemeine, direkte Wahlen bestimmt. Das 1824 erlassene, die allgemeinen Bestimmungen ausführende Gesetz wegen Anordnung der Provinzial-Stände in den Rheinprovinzen berücksichtigte mit seinem besonderen Vertretungsquoten die spezifischen gesellschaftlichen Verhältnisse des Rheinlands, um Entgegenkommen zu signalisieren und die Integration in den preußischen Staat zu erleichtern. Die Versammlung bestand aus 80 Mitgliedern mit je 25 Vertretern der Ritter, Städte und Landgemeinden sowie aus fünf mediatisierten Standesherrn; dennoch stand das Repräsentationsschema weiterhin im Gegensatz zu den frühbürgerlichen rheinischen Sozialstrukturen, da der Landadel – dem mit 4-6% des Grundbesitzes 38% der Mandate zufielen – überrepräsentiert blieb, der Geburtsadel zur Besetzung der Ritterkurie erst wiederherge447
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Während Eingaben über die Bildung einer Gesamtrepräsentation 1845 im Düsseldorfer Plenum die erforderliche Zweidrittelmehrheit erreichten, verfehlte die Münsteraner Versammlung dieses Quorum. 55 Koblenzer Abgeordnete stimmten für und 16 gegen einen solchen Antrag, während in Münster 34 Befürwortungen 33 Ablehnungen gegenüberstanden. Vgl. Ribhegge, Preußen im Westen, S. 91f. Der Publizist Karl Biedermann begleitete die Beratungen des Vereinigten Landtags und analysierte seine Arbeitsweise. Bei den rheinischen Delegierten sah er etwa die Forderungen nach konstitutioneller Monarchie und einem allgemeinen freien Staatsbürgertum ohne trennende Standesunterschiede; dies waren ihm „Anschauungen, geschöpft theils aus dem eignen Gemeinwesen ihrer Provinz, wo einzelne jener Ideen längst zur Wirklichkeit geworden waren, theils aus den vielfachen Berührungen mit den freieren politischen Zuständen der westlichen Nachbarländer (…) Keine von allen Provinzen wetteiferte stärker in diesem Aufgeben provinzieller Eigenthümlichkeit an den Gedanken des gemeinsamen, einigen Vaterlandes, als die am meisten eines solchen Separatismus, einer Abwendung vom Hauptlande, wohl gar einer Hinneigung zu Frankreich verdächtige Rheinprovinz.“ Vgl. Biedermann, Karl: Geschichte des ersten preußischen Reichstags, Leipzig 1847, S. 489, 486. Stellvertretend hierfür betonte der nationalliberale Abgeordnete Heinrich von Sybel, die „Herrschaft des Krummstabes“ habe „die westlichen Provinzen für ein Jahrtausend in einem Stande der geistigen und materiellen Verkümmerung erhalten“, so dass die „geistig unmündige Bevölkerung“ nicht in den „Genuss starker politischer Freiheiten“ dürfe; diese werde nur den „herrschenden Diktatoren“, den Ultramontanen zugute kommen. Vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen der beiden Häuser des Landtags. Haus der Abgeordneten, Berlin 1875, S. 131
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
stellt werden musste und ehemalige reichsunmittelbare Herrscher ihr qua Geburt angehörten. Genausowenig berücksichtigten die Stimmenverhältnisse – 25 städtischen standen 55 ländliche Vertreter gegenüber – die in der Landschaftsentwicklung angelegten, traditionellfunktionalen wirtschaftlichen Verbindungen und fließenderen Übergänge zwischen Stadt und Land, die Aufhebung ihrer rechtlichen Trennung in der Franzosenzeit und die hieraus folgende stärkere Einebnung mentaler Stadt-Land-Unterschiede.450 Düsseldorf wurde ab 1826 Sitz der rheinischen Provinzialstände, für die als Hochburg der bürgerlich-liberalen Bewegung neben der Verfassungsfrage privatwirtschaftliche Interessen im Vordergrund standen; die Forderung nach einer Konstitution sollte zunächst Mitsprache, vor allem aber auch Besitz sichern.451 Das zahlenmäßige Übergewicht bürgerlicher Abgeordneter – die Mitglieder der städtischen und der ländlichen Kurie waren zumeist Gewerbetreibende, da zahlreiche, rechtlich als Landgemeinden geführte Kommunen protoindustrielle Gewerbestandorte waren – half bei Entscheidungen bei der Erreichung des vorgeschriebenen Zweidrittelquorums. Auch der rheinische Adel besaß ein hohes Interesse an der Einrichtung der Provinzialstände und einer Verfassung, da er über diese Partizipationsrechte errang, die in französischer Zeit deutlich herabgemindert wurden und ihm die Rückkehr in eine bestimmende gesellschaftliche Position ermöglichten. Nach der Revolution von 1848 zog sich das liberale Bürgertum auf seine Privatinteressen zurück oder engagierte sich im preußischen Landtag; verloren ging hiermit der politische Charakter der Provinzialstände. Mit der Reform von 1887 traten die Selbstverwaltungselemente endgültig in den Vordergrund, die nunmehr 155 Provinzialverbandsabgeordneten entstammten 13 Stadt- und 63 Landkreisen; fortan dominierten ländlichkonservative Mehrheiten, wenngleich das starke Bevölkerungswachstum – die Einwohnerzahlen waren Bemessungsgrundlage für die Abgeordnetenzahlen eines Regierungsbezirks – und der kommunalisierte Wahlmodus zunehmend die Städtevertreter stärkten. Auch das Gesetz wegen Anordnung der Provinzial-Stände für die Provinz Westphalen versuchte ab 1824, strukturelle Besonderheiten in den Repräsentationsquoten zu berücksichtigen. Bis zur Reform von 1886 waren – aufgrund der geringeren Bevölkerungszahl Westfalens gegenüber der Rheinprovinz – 71 Abgeordnete auf den Münsteraner Versammlungen vertreten, 20 Vertreter pro Stand sowie elf ehemalige Standesherrn; das Vertretungsschema spiegelte den ländlicheren Provinzcharakter sowie den größere Stellenwert, der dem Adel zukam. Dennoch widersprachen auch hier die Besitz- den Stimmenverhältnissen und wurde der Adel deutlich bevorzugt, da selbst ein 75%-iger Anteil am Bodeneigentum der Bauernschaft dieselbe Anzahl an Stimmen wie dem Adel einbrachte.452 Anders als im Rheinland, wo auch in der Landgemeindekurie bürgerlich-gewerbliche Vertreter saßen, kam der agrarischere Charakter Westfalens in der Zusammensetzung der Ständeversammlung deutlicher zu Tage.
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So schrieb der erste Oberpräsident Friedrich Graf zu Solms-Laubach 1816, dass „in der Provinz Niederrhein keine Trennung der Gewerbe wie in den Alt-Preußischen Staaten stattfindet“, zitiert nach Schütz, Eingliederung der Rheinlande, in: Baumgart, Expansion und Integration, S. 206. Vgl. Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1998, S. 299. Vgl. Behr, Die Provinz Westfalen und das Land Lippe, in: Kohl, Westfälische Geschichte 2, S. 61.
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Der westfälische Provinziallandtag beschäftigte sich in Petitionen und Debatten ebenso mit der Verfassungsfrage, doch waren bürgerlich-liberale Anträge hier aufgrund des Übergewichts adlig-bäuerlicher Vertreter mit geringeren Erfolgsaussichten verbunden. Verstärkt trat das Wirtschaftsbürgertum erst nach 1886 auf den Landtagen in Erscheinung, da die Bemessung der nunmehr 108 Sitze nach Bevölkerungszahl fortan die wirtschaftliche Entwicklung berücksichtigte, die insbesondere mit dem Einwohnerwachstum des im Arnsberger Bezirk liegenden Ruhrgebiets korrelierte. Der Versammlung gehörte nun eine größere Zahl von Gewerbetreibenden an, ohne ihren durch das Klassenwahlrecht begünstigten konservativen Charakter vollauf abzustreifen; der Provinzialtag galt zahlreichen Abgeordneten deshalb als „Zwangsjacke des Ostens“,453 da er die vergleichsweise moderneren westfälischen Sozialverhältnisse nur gebrochen wiedergab. Der erste westfälische Oberpräsident Ludwig von Vincke hatte die Idee, die Entschädigungsgelder für Verheerungen aus den Befreiungskriegen als Grundstock für die Einrichtung einer Provinzialhilfskasse zu verwenden. 1831 sprachen sich auch die Stände für eine Westfälische Provinzial-Hülfskasse aus, mit deren Hilfe gemeinnützige Aufgaben, bäuerliche Ablösungzahlungen oder der Straßenbau gefördert werden sollten. Früher als in der Rheinprovinz, in der eine solche Einrichtung erst 1853 erfolgte, wurde die Kasse maßgeblicher Selbstverwaltungsfaktor.454
E.II.2. Kommunale Selbstverwaltung in den Westprovinzen Die rechtliche Rahmenordnung kommunaler Selbstverwaltung bestimmte den Spielraum bürgerlicher Mitsprache und war der Hintergrund, vor dem politische Teilhabe vor Ort möglich war. Er strukturierte die Möglichkeiten öffentlichen Engagements und war Erfahrungsgegenstand, der Verhaltensweisen und Normen, die Frage des Wie der Politik, in unterschiedlichem Sinne auszubilden half. In Preußen war die Steinsche Städteordnung von 1808 der Anbeginn moderner kommunaler Selbstverwaltung,455 ohne eine volle demokratische Mitsprache durchzusetzen; Hausbesitz, ein Gewerbebetrieb oder Einkommen waren aktive und passive Wahlvoraussetzungen, das Bürgerrecht musste weiterhin beantragt werden. Die den exekutiven Magistrat wählende Stadtverordnetenversammlung legte die Zensusbestimmungen selbständig fest und sicherte hierüber die Position vermögender Bürger, sämtliche Personen bedurften staatlicher Bestätigung. Mit der revidierten Städteordnung von 1831 stärkte der Staat seine Aufsichtsrechte und die Magistrate gegenüber 453 454
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So der Freisinnige Abgeordnete Louis Wilhelm Uhlendorff aus Hamm. Vgl. Stenographische Berichte, Bd. 2, Berlin 1886, S. 2194. Die gegen Napoléon verbündeten Truppen hatten durch Einquartierungen und Requirierungen Kosten verursacht; bis auf Schweden leistete kein Land Entschädigungen, das 1818 160.000 preußische Taler überwies. Vgl. Wischermann, Clemens: An der Schwelle der Industrialisierung (1800-1850), in: Kohl, Westfälische Geschichte 3, S. 41-162, hier: S. 117f. Sie sollte die Bürgerschaft freisetzen, aus Untertanen freie und gleiche Staatsbürger machen und sie zur Mitwirkung im Gemeinwesen animieren, um durch den Einsatz für öffentliche Angelegenheiten den staatlichen Zusammenhalt von innen zu stärken. In der Nassauer Denkschrift von 1807 nannte Stein das Ziel der „Belebung des Gemeingeistes und des Bürgersinns, die Benutzung der schlafenden und falsch geleiteten Kräfte und zerstreut liegenden Kenntnisse, der Einklang zwischen dem Geist der Nation, ihren Ansichten und Bedürfnissen und denen der Staatsbehörden, die Wiederbelebung der Gefühle für Vaterland, Selbständigkeit und Nationalehre. Zitiert nach Fehrenbach, Elisabeth: Vom Ancien Regime zum Wiener Kongress, München 2001, S. 112.
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
den Verordneten, band das Wahlrecht enger an das Vermögen, erhielt jedoch die kollegiale Stadtverwaltung des ehrenamtlichen Plenums und beruflicher Dezernenten sowie die Mehrheitsabstimmungen innerhalb des Magistrats.456 Für die Landgemeinden kam zunächst keine vergleichbare Reform zustande, die rechtliche Trennung von Stadt und Land blieb aufrechterhalten. Die preußischen Bemühungen, diese Verwaltungsstrukturen auf das Rheinland auszudehnen, führten zu Konflikten mit dem hiesigen Wirtschaftsbürgertum und den Behörden. Obwohl die Steinsche Städteordnung mehr Mitsprachemöglichkeiten gegenüber der obrigkeitlicheren, in französischer Zeit eingeführten Maireverfassung offerierte und eher liberalen Forderungen nach politischer Mündigkeit entsprach, traf sie bei rheinischen Bürger auf Ablehnung. Sie hielten am Rheinischen Recht fest, um die in den Landgemeinden angesiedelten frühindustriellen Betriebe und ihre an diese gebundenen Profitinteressen mit der drohenden Aufhebung der rechtlichen Gleichstellung von Stadt und Land und der Verstärkung staatlicher Zugriffsrechte nicht zu benachteiligen; die Gemeinderepräsentation sollte zwar gewählt werden, aber wie in der Franzosenzeit die Vermögensverhältnisse widerspiegeln. Auch die Behörden argumentierten, das Stadt-Land-Gefälle und die soziale Hierarchie zwischen Gutsadel und abhängigem Kleinbauerntum seien im Rheinland nicht derart ausgeprägt wie in den Ostprovinzen, die rechtlichen Strukturen deshalb anzugleichen.457 Im übergeordneten Integrationsinteresse duldete der preußische Staat diese französisch beeinflusste Kommunalordnung ab 1817 und beförderte auch über diese Besonderheit ein rheinisches Sonderbewusstsein. 1845 erhielt die Rheinprovinz eine neue, für Städte und Landgemeinden gleichermaßen geltende Gemeindeordnung, in der auf Betreiben des Wirtschaftsbürgertums ein bereits seit 1842 praktiziertes, das Stimmrecht an Steuerleistung und Besitz bindendes Dreiklassenwahlrecht eingeführt wurde.458 Die Möglichkeit, die Höhe der zur Erlangung des Bürgerrechts notwendigen Steuerleistung frei festzulegen, sowie die Berücksichtigung von Einkommen jeder Art bei der Verleihung des Bürgerrechts459 sicherten plutokratische Interessen und führten zu weit strikteren Zugangsvoraussetzungen als im restlichen Preußen.460 Der Bürgermeister wurde weiterhin auf Lebenszeit staatlich ernannt und verfügte gegenüber dem Gemeinderat über eine herausgehobene Stellung; er war von diesem weitgehend unabhängig, vereinte Kompetenzen, die in der Magistratsverfassung aufgeteilt waren, und war gegenüber den Dezernenten weisungsberechtigt. Mit der rheinischen Städteordnung von 1856 wurde zwar die rechtliche Trennung von Stadt- und Landgemeinden 456
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Auch die Drittelung der Stimmklassen oblag mit der Einführung des Dreiklassenwahlrechts den Kommunen. Verstärkt wurde der plutokratische Charakter durch das Stimmrecht juristischer Personen wie Unternehmen und der Bedingung, dass die Hälfte der Gewählten Hausbesitzer sein mussten. Vgl. Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866-1918, 2 Bde., Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1998, S. 156. Vgl. Landschaftsverband Rheinland: Das Rheinland unter den Preussen. Daten, einsehbar unter http://www.wir-rheinlaender.lvr.de/rheinland_preussen/daten1814_1848.htm (30.6.2010). Erstmals fand dieses bei den rheinischen Kommunalwahlen 1842 Anwendung. In einer Stadt wie Köln waren von 85.000 Einwohnern nur 4045 wahlberechtigt; von diesen entfielen 533 auf die erste, 1262 auf die zweite und 2304 auf die dritte Klasse. Vgl. Ribhegge, Preußen im Westen, S. 70, 191. Vgl. Hoebink, Die Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung in Rheinland und Westfalen, in: Andersen, Kommunale Selbstverwaltung S. 42. Lademacher, Die nördlichen Rheinlande, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 515.
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eingeführt, bürgerliche Widerstände hiergegen aber mit erhöhten Zensusbestimmungen aufgefangen; sie galt zunächst für Gemeinden ab 10.000 Einwohnern, konnte aber auf Antrag an sämtliche Kommunen des Provinzialtags verliehen werden.461 Auf dem Land war fortan Grundbesitz Voraussetzung für das aktive und passive Wahlrecht, ein jährliches Grundsteueraufkommen von 50 Talern machte Landeigentümer zu geborenen Gemeinderatsmitgliedern. Ausgebaut wurde mit dieser Städteordnung die Stellung des nun gewählten Bürgermeisters, der nunmehr kaum noch Verantwortung gegenüber den Stadtverordneten trug;462 auch die Rheinische Kommunalverfassung der Weimarer Zeit sicherte die mächtige Position der Bürgermeister, der einzig hier zugleich Verwaltungschef und Leiter der Stadtverordnetenversammlungen war.463 Die in Westfalen mit der Rückkehr zum Allgemeinen Landrecht 1815 eingeführte Steinsche Städteordnung war aus der Nähe des Freiherrn zu dem Landstrich geprägt. In seiner langjährigen Praxis als preußischer Beamter464 hatte er die westfälisch-ständischen Verhältnisse kennengelernt und wollte diese bewahren, um die Eingliederung der neugewonnenen Gebiete in den preußischen Staat zu erleichtern.465 Ihre Geltung traf auf geringere Widerstände, da die Provinz und ihre Bürger keine vergleichbaren Erfahrungen mit dem französischen Recht gemacht und weniger Anlässe hatten, ihre Position abzusichern; vielmehr wurde aus den Provinzialständen heraus gefordert, die sozioökonomischen Strukturunterschiede zwischen Stadt und Land durch Einführung zweier getrennter Ordnungen zu berücksichtigen.466 Der Provinzialtag stimmte 1834 der Übernahme der revidierten Städteordnung von 1831 zu, 1856 übernahm Westfalen die preußische Städteordnung von 1853; beibehalten blieb hiermit der Dualismus von gleichberechtigtem anstatt herausgehobenen Bürgermeister und Magistrat, die Staatsaufsicht wurde verschärft und das Dreiklassen461
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Vgl. die Ausführungen Jürgen Herres’ auf der Tagung 150 Jahre Rheinische Städteordnung 1856 – 150 Jahre kommunale Selbstverwaltung in Köln am 30.10.2006, in: H-Soz-u-Kult (16.03.2007), einsehbar unter http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1503 (23.6.2011). Vgl. Hofmann, Wolfgang: Die Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung von 1848 bis 1918, in: Mann, Thomas/Püttner, Günter (Hrsg.): Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis. Bd. 1: Grundlagen und Kommunalverfassung, 3. Aufl., Berlin/Heidelberg 2007, S. 73-92, hier: S. 79. Vgl. ebenso Lademacher, Die nördlichen Rheinlande, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 518, 664 sowie Engelbrecht, Landesgeschichte, S. 244. Vgl. Matzerath, Horst: Der Nationalsozialismus und die Oberbehörden und Großstadtverwaltungen in Rheinland und Westfalen 1929-1933, in: Düwell, Kurt/Köllmann, Wolfgang (Hrsg.): RheinlandWestfalen im Industriezeitalter. Beiträge zur Landesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in vier Bänden. Band 3: Vom Ende der Weimarer Republik bis zum Land Nordrhein-Westfalen, Wuppertal 1984, S. 116-136, hier: S.126. Bereits 1780 wurde er Referendar im märkischen Bergwerks- und Hüttendepartement, ab 1784 Leiter des Bergwesens Wetter. Später wurde Stein Kammerpräsident für Cleve, Hamm, Minden und nach 1802 verantwortlich für die Neuorganisation der Verwaltung in den an Preußen gefallenen geistlichen Territorien. Nach dem Reichsdeputationshauptschluss waren Preußen die meisten säkularisierten Gebiete zugesprochen worden, bis sie 1806/7 wieder verloren gingen. Stein war Beauftragter für die Überführung der neugewonnenen Gebiete in die preußische Verwaltung, die nach 1815 erneut an Preußen fielen. Deutlich wurden die Vorstellungen in einem Brief vom 11.9.1802: „Ich muss dringend bitten, die ständische Verfassung vorläufig zu lassen – sie hat in Westfalen das Zutrauen der Eingesessenen, und durch sie erhält die Landesverwaltung ein Mittel (…) sich die Kenntnisse und Erfahrungen der großen Grundbesitzer…zu eigen zu machen (…) ein Mittel, das Publikum immer in Verbindung mit der Landesadministration zu erhalten. Zitiert nach Lamprecht, Karl: Deutsche Geschichte, 12 Bde., Bd. 11/2, Berlin 1908, S. 317f. Vgl. Hartlieb von Wallthor, Die landschaftliche Selbstverwaltung Westfalens, S. 111.
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
wahlrecht eingeführt. Zugleich stieg der Einfluss Gewerbetreibender, da die Hälfte der Magistratsverordneten Hausbesitzer sein mussten und Unternehmen mit hohen Steuerleistungen ein eigenes Wahlrecht erhielten.467 Eine Landgemeindeordnung für Siedlungen unter 2500 Einwohnern wurde in Westfalen 1841 eingerichtet. Ihnen saß ein ernannter Amtmann vor, Hausbesitz und Steuerleistung waren Voraussetzungen für das aktive und passive Wahlrecht; Rittergüter – mit einer Virilstimme ausgestattet und geborene Gemeinderatsmitglieder – blieben von der Polizeigewalt des Ortsvorstehers ausgenommen. Nach einer Revision galt seit 1856 auch hier das Dreiklassenwahlrecht, der Gemeindevorsitzende war nun frei wählbar, allerdings nur, wenn sich kein angesehener Eingesessener bereit fand, das Amt ehrenhalber zu übernehmen. Ausgeweitet wurde mit der Ordnung das passive Wahlrecht für ansässige Steuerzahler, die allerdings höchstens 1/3 der Sitze einnehmen durften.468 Städte- und Landgemeindeordnung verankerten unter Einfluss des ständisch dominierten Provinziallandtags eine Herrschaft der Wohlhabenden und der Feudalinteressen, die in Westfalen bis in Weimarer Zeit oftmals noch zusammenfielen.
E.II.3. Selbstverwaltung in Lippe Aufgrund seiner geringen Größe entbehrte Lippe-Detmold vergleichbarer Provinzen mit Selbstverwaltungsrechten und Einrichtungen, die in Konkurrenz zum Staat partikulare Identitäten auszubilden halfen; in dem in Verwaltungsbezirke untergliederten Fürstentum existierten bis 1928 auch keine Landkreise, bis auf die größeren Städte gehörten sämtliche Gemeinden Ämtern an, die bis zu ihrer Trennung in unabhängige Verwaltungsämter und Amtsgerichte 1879 – 60 Jahre später als in Preußen – zugleich für Verwaltungs- und Justizaufgaben zuständig waren.469 Gesellschaftliches Eigenengagement war – bis auf den ständisch beherrschten Landtag – innerhalb der aus dem Alten Reich tradierten Strukturen so von vornherein eingeschränkt. Den lippischen Städten blieben aufgrund des Widerstands der Landstände erweiterte Selbstverwaltungsrechte lange verwehrt, erst 1843 wurde eine am Steinschen Vorbild orientierte Städteordnung etabliert. Haus- und Grundbesitzer sowie Gewerbetreibende mussten ab einer örtlich verschieden hoch angesetzten Vermögensquelle das Bürgerrecht erwerben, das ihnen die aktive und passive Teilhabe an den Gemeindewahlen ermöglichte. Der aus den für sechs Jahre gewählten Stadtverordneten hervorgehende, unter Aufsicht fürstlicher Regierungsvertreter gebildete Magistrat wählte den Bürgermeister, der wie diese staatlicher Bestätigung bedurfte.470 Eine revidierte Fassung führte 1886 das Dreiklassen467
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Vgl. hierzu die Städteordnung für die Provinz Westphalen vom 19. März 1856, einsehbar unter http://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/que/normal/que1312.pdf sowie Hoebink, Die Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung in Rheinland und Westfalen, in: Andersen, Kommunale Selbstverwaltung, S. 38. Vgl. Behr, Provinz Westfalen, in: Kohl, Westfälische Geschichte 2, S. 97 sowie Hoebink, Die Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung in Rheinland und Westfalen, in: Andersen, Kommunale Selbstverwaltung, S. 38f. Steinbach, Peter: Der Eintritt Lippes in das Industriezeitalter. Sozialstruktur und Industrialisierung des Fürstentums Lippe im 19. Jahrhundert, Lemgo 1976, S. 267. Vgl. ebd., S. 268f.
E.III. Kirche und Kultur
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wahlrecht ein, Bestätigungs- und Präsenzrechte erweiterten die staatliche Kontrolle, das Bürgerrecht blieb an Einkommen und Wohneigentum gekoppelt. Auf dem Land standen bis zur Einführung einer Landgemeindeordnung die durch die Grundbesitzer gewählten Bauernrichter den Dörfern vor, die für öffentliche Sicherheit, allgemeine Verwaltung und Rechtsprechung zuständig waren. 1841 wurden Bauernschaften und Gutsbezirke unter der Leitung eines staatlich ernannten Amtmanns zusammengefasst, der fortan die juristische und administrative Gemeindegewalt bis 1879 in seiner Hand vereinigte. Bauernschaftsvorsteher, Rittergutsbesitzer und fürstliche Meiereien bildeten zusammen den Amtsgemeinderat, der beratenes Gremium für Wegebau, Armenwesen und Kommunalwirtschaft war.471 Seit der Verabschiedung der Dorfsgemeindeordnung von 1893 mitsamt des sie begleitenden Dreiklassenwahlrechts wählten die Bauernschaften den Gemeindeausschuss, der seinerseits den staatlicherseits bestätigten Dorfvorsteher ins Amt brachte. Nach dem Sturz des Fürstenhauses wurde die Kommunalverfassung 1919 demokratisiert und das allgemeine, freie und gleiche Wahlrecht eingeführt. Sowohl die städtischen als auch die ländlichen lippischen Selbstverwaltungsordnungen sicherten die Vorrangstellung des Landadels und des mit ihm zumeist in Eins fallenden ländlichen Großgrundbesitzes und waren hiermit Ausweis der gesellschaftlichen Strukturen. Die vergleichsweise späte Einführung des Dreiklassenwahlrechts – ein knappes halbes Jahrhundert nach der Rheinprovinz – spiegelte zudem den politischen, ökonomischen und sozialen Modernitätsrückstand des Fürstentums gegenüber den Westprovinzen und verwies auf seinen spezifischen Geneserhythmus.
E.III. Kirche und Kultur Trotz des massiven Einschnitts der Säkularisierung blieben die Kirchen auch im 19. Jahrhundert maßgebliche Erziehungsinstanzen, die Leben und Denken der Menschen strukturierten; Kirchenzugehörigkeit und Konfessionalität waren eigene Sozialisationspfade, die individuelle und kollektive Weltbilder auch abweichend von der objektiven Lebenslage prägten. Auf der einen Seite stand die katholische Kirche sowohl glaubensinhärent wie aus der Verlusterfahrung der Franzosenzeit der Moderne mitsamt ihres gemeinschaftszersetzend-liberalen Individualismus’ skeptisch gegenüber, stellte ihnen überlieferte Dogmen, Hierarchien und Sozialbindungen entgegen und wendete sich stärker als zuvor dem breiten Volk zu; ihr erweitertes sozialpolitische Engagement war neben der religionsimmanenten Solidarität handfestes Kalkül, um die eigene Position zu festigen.472 Auf der anderen Seite harmonierte der Protestantismus eher mit dem bürgerlich-liberalen Zeitalter, da seine Glaubengrundsätze wie sola scriptura oder sein allgemeines Priestertum ihm einen gewissen rational-individualistischen Zug verliehen, eine stärkere subjektive Hinterfragung der Heiligen Schrift verlangten und vermeintlichen Gewissheiten die innere Gewissensüberzeu-
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Vgl. ebd., S. 270. Vgl. Ribhegge, Preußen im Westen, S. 83.
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
gung, die persönliche Prüfung und Entscheidung auch gegen Autoritäten gegenüberstellten.473
E.III.1. Westprovinzen Die kirchliche Prägung des historischen Nordrhein-Westfalens war zwar während der Franzosenzeit institutionell zusammengebrochen, lebte aber kulturell-mental fort. Konfessionsübergreifend trug das Verhältnis von Politik und Religion zur Identitätsbildung, zur affektiv besetzten Selbst- wie Fremddefinition bei und festigte hergebrachte landschaftliche Bindungen. Protestantische Rheinländer oder Westfalen hatten am katholischen Streit genausowenig Anteil wie umgekehrt; anstatt gesamtprovinzielle wurden somit milieuspezifische Selbstbilder gefördert. Während die Auseinandersetzungen der vornehmlich katholischen Westprovinzen mit dem protestantischen Preußen ihre Integration in den Hohenzollernstaat behinderten und zu innengerichteten Abgrenzungen beitrugen, war auch das Verhältnis protestantischer Regionen zu den neuen Landesherrn mit Irritationen verbunden. Religiöse Aspekte spielten zudem eine große Rolle für die Politisierung der Bevölkerung: Aus katholischer Sicht erwuchs die Notwendigkeit, die eigenen Rechte und Interessen gegen den protestantischen Mehrheitsstaat aktiv zu verteidigen, während protestantische Zusammenschlüsse vornehmlich als Reaktion auf die katholische Selbstorganisation und ihre Dominanz in den Westprovinzen erfolgte. Vornehmlich im ländlichkleinstädtischen Raum vermochten die Kirchen ihre dominante Stellung zu behaupten und Wertvorstellungen wie Milieus bis in das 20. Jahrhundert zu prägen. Vor allem der katholische Bevölkerungsteil stieß sich am preußischen Staat. Reformiertes Herrscherhaus und weltlich-säkularer Politikstil widersprachen hergebrachten Traditionen, dessen Angriffe auf die vermeintliche Rückständigkeit katholischer Regionen, den behaupteten Zusammenhang von Konfession, Bildungsrückstand und Wirtschaftsschwäche oder deren ultramontane Papstorientierung474 lancierten trotz der formellen Regelung der Beziehungen 1821 wechselseitiges Misstrauen.475 Um die Kirche in den Auseinandersetzun473
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Auszugehen ist von einer Konzentration dieses Grundzugs auf die Pfarrhäuser; das breite Kirchenvolk kann kaum als rationalistischer als das katholische angesehen werden, hier bestanden einfache Glaubensgewissheiten genauso fort. Auch waren es eher städtisch-bürgerliche Kreise, die sich diesem Modell verpflichtet fühlten. Exemplarisch für einen liberalen Protestantismus war Theologie Friedrich Daniel Schleiermachers, der Glaube und Vernunft vereinte. Das persönliche Gewissen habe jede, auch religiöse Autoritäten zu prüfen, um einen freien Glauben zu gewährleisten. Jede Zeit brauche ihre spezifische Glaubensdeutung, es sei nicht von ewig geltenden Grundsätzen auszugehen. Anstatt einseitig Moral zu predigen, sollten Kirchen Teil der öffentlichen Sinnreflektion sein. Vgl. zum Gesamtkomplex Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866, S. 405ff , 427ff. Vgl. Hegel, Eduard: Die katholische Kirche in den Rheinlanden 1815-1945, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte, Bd. 3: Wirtschaft und Kultur im 19. und 20. Jahrhundert, Düsseldorf 1979, S. 329-412, hier: S. 373, 390. Eine Vereinbarung mit dem Vatikan schrieb die Notwendigkeit staatlicher Kontrolle für sämtliche kirchlicher Veröffentlichungen und Erlasse, die über das preußische Kultusministerium erfolgende Korrespondenz deutscher Kirchen mit dem Vatikan sowie das landesherrliche Kirchenpatronat fest. Das Recht des Domkapitels auf Bischofswahl wurde gewährleistet, eine außerhalb des Vertrages vereinbarte Regelung enthielt aber die Bestimmung, dass der Kandidat das Vertrauen des Königs genießen sollte; die Kandidatenliste war deshalb vor der Abstimmung vorzulegen.
E.III. Kirche und Kultur
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gen zu stärken, dem Minderheitenstatus im preußischen Gesamtstaat zu begegnen und das eigene Milieu zu festigen, wurde auf katholischer Seite seit den 1830er Jahren versucht, eine Brücke zwischen Amtskirche und Volksfrömmigkeit zu schlagen, Pilgerreisen und Wallfahrten zu fördern sowie Mysterien und Wunderglaube mit traditioneller Theologie zu verbinden.476 Am Nachhaltigsten auf die antiborussische Identitätsbildung wirkten der Mischehenstreit und das mit ihm verbundene Kölner Ereignis.477 Die Verhaftung des Kölner Erzbischofs Clemens August Droste zu Vischering 1837 löste unter den Katholiken standesübergreifend Bestürzung aus und führte zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Staatsgewalt. Schriften wie der von Joseph Görres herausgegebene Athanasius und eine Vielzahl von Flugblättern mobilisierten die Kirchenanhänger, das konfessionelle Bewusstsein stellte ein solidarisierendes Band dar und integrierte katholischen Bevölkerungsteil und Amtskirche.478 Innerhalb der Provinzialstände fanden sich in der Sorge um die Kirchenrechte erstmals Abgeordnete unter konfessioneller Fahne zusammen, verbanden die Freiheitsforderungen des katholischen Bürgertums mit dem Traditionalismus des katholischen Adels und erreichten eine in die Gesellschaft ausstrahlende Politisierung des Streits.479 Beigelegt wurde dieser 1841, die Behandlung der Mischehen den Bischöfen überlassen; der 1842 beschlossene Weiterbau des Kölner Doms sollte Symbol der Aussöhnung sein.480 476 477
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Vgl. Weber, Christoph: Aufklärung und Orthodoxie am Mittelrhein 1820-1850, München 1973, S. 46f. Durch die Zunahme von Ehen zwischen Einheimischen und zugezogenen Staatsdienern stellte sich die Frage, wie diese gemischtkonfessionellen Brautpaare behandelt werden sollten. Von staatlicher Seite gab es hier keine Regelungen, die Kirche verlangte die katholische Taufe und Erziehung der Kinder. 1825 kam es hier zum Konflikt, als die Praxis aus den Ostprovinzen, die Kinder gemäß der Konfession des Vaters zu erziehen, auf den Westen ausgedehnt und Geistlichen verboten wurde, das eigene Versprechen einzufordern. Allerdings handelte es sich nicht um eine Muss-Bestimmung, so dass ein Rundschreiben Spiegels die Pfarrer unterrichtete, ein freiwilliges Versprechen sei nicht verboten und somit Voraussetzung für die kirchliche Trauung. Trotz Verhandlungen mit dem Papst kam es zu keiner zufriedenstellenden Einigung und daraus folgenden Rechtsunsicherheiten. Eine Konvention zwischen dem Kölner Metropoliten Graf Spiegel und dem preußischen Staat von 1834, die im Sinne der Obrigkeit ausfiel, akzeptierte der seit 1835 amtierende Nachfolger auf dem Kölner Erzbischofsstuhl, der Münsteraner Clemens August Droste zu Vischering nicht. Ebenso wenig beachtete er die darauf folgenden Aufforderungen der preußischen Regierung, sein Amt niederzulegen, so dass er am 20.11.1837 festgenommen und in Minden interniert wurde. Vgl. hierzu Lademacher, Die nördlichen Rheinlande, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 529ff.; Hegel, Eduard: Die katholische Kirche 1800-1962, in: dies., Rheinische Geschichte 3, S. 358ff. sowie Behr, Die Provinz Westfalen und das Land Lippe, in: Kohl, Westfälische Geschichte 2, S. 69f. Vgl. die Äußerungen eines rheinischen Geistlichen:„Religions-, Gewissenfreiheit und persönliche Sicherheit sind gefährdet, jeder Einzelne fühlt sich in der Person des Erzbischofs verletzt“, in: Vogel, Paul: Beiträge zur Geschichte des Kölner Kirchenstreits, Bonn 1913, S. 79. In der Rheinprovinz war es die direkte Betroffenheit, die dem Ereignis seine Relevanz verschaffte; in Westfalen solidarisierte man sich aufgrund der westfälischen Herkunft des Erzbischofs mit den Geschehnissen. Zudem wurde Droste zu Vischering 1810 Generalvikar und 1827 Weihbischof von Münster. Einzelpersonen wie Wilhelm Emanuel von Ketteler fanden durch den Konflikt zur Politik Ketteler brach sein juristisches Referendariat ab und wurde Pfarrer statt Staatsdiener. Vgl. Ribhegge, Preußen im Westen, S. 85. Vgl. Becker, Winfried: Der politische Katholizismus in Rheinland-Westfalen vor 1890 – Programmatische Entwicklung und regionale Verankerung, in: Düwell, Kurt/Köllmann, Wolfgang (Hrsg.): RheinlandWestfalen im Industriezeitalter. Beiträge zur Landesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in vier Bänden. Bd. 1: Von der Entstehung der Provinzen bis zur Reichsgründung, Wuppertal 1983, S. 271-292, hier: S. 271, 273.
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
Eine weitere Streitfrage war das Schulwesen. Jahrhundertelang waren die Kirchen für die Einrichtung und Unterhaltung von Bildungsstätten zuständig gewesen und hatten sich so die Möglichkeit, junge Menschen in ihrem Sinne zu erziehen, gesichert. Bestrebungen des preußischen Staates, dieses Verhältnis zu seinen Gunsten zu ändern, beantworteten katholische Paulskirchenabgeordnete 1848/49 mit innerparlamentarischen Gegenanträgen, um für die Sicherung der Kirchen- und Schulrechte einzutreten,481 erlitten jedoch eine Abstimmungsniederlage. Das – bis auf die Garantie der preußischen Verfassung von 1850, lokale Konfessionsverhältnisse bei der Einrichtung unterer Bildungseinrichtungen zu berücksichtigen – Scheitern dieser Forderungen war wichtige Grunderfahrung und Ausgangspunkt für die skeptische Haltung des politischen Katholizismus gegenüber der liberalen Demokratie.482 Entscheidend trug zwischen 1871 und 1878 der Kulturkampf zur Festigung des katholischen Milieus und seiner Politisierung bei.483 Die Angriffe des Staates nährten eine Abwehrhaltung, um die Rechte und Eigeninteressen der Kirche, ihrer Strukturen und Gläubigen zu verteidigen und beförderten den Ausbau des kirchlichen Organisationswesens. Das um sie gesponnene Netzwerk aus Vereinen und Verbänden integrierte den katholischen Bevölkerungsteil in ein System aus Unterstützung, Gemeinschaft und Glaubensstärkung und sorgte für den Zusammenhalt nach innen wie den Abschluss nach außen. Vor allem auch das 1870 gegründete Zentrum profitierte hiervon und wurde endgültig zur führenden politischen Richtung der Westprovinzen. Der Protestantismus war im historischen Nordrhein-Westfalen ein in sich gespaltenes, nach 1815 an Gewicht gewinnendes Minderheitenbekenntnis mit lutherischen, calvinistischen und pietistischen Zentren; war der preußische Staat zunächst Schutzmacht, die den Diasporacharakter der evangelischen Gemeinden abschwächte, so entwickelte sich im Gegenzug aus der geteilten Frontstellung gegenüber dem westdeutschen Mehrheitskatholizismus ein innerkirchlicher, staatsnaher Konservatismus.484 Insbesondere nach 1871 bestand eine ideelle Einheit von Protestantismus, preußischem König und Nationalstaat,
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Gefordert wurde die „vollkommen freie und unabhängige Bewegung der Kirche in allen Beziehungen auf Lehre, Disziplin, Verfassung, ungefährdeten Besitz und sichere Verwaltung des Kirchen-, Schul- und Armenvermögens.“ So die Generalversammlung der katholischen Vereine Deutschlands (Katholikentag), die diese Forderungen am 3.10.1848 in Mainz stellte, abgedr. in Bergsträsser, Ludwig: Der politische Katholizismus. Dokumente seiner Entwicklung, 2 Bde, Bd. 1, München 1921, S. 153. Vgl. Hegel, Die katholische Kirche in den Rheinlanden in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 3, S. 359. Stationen der Auseinandersetzung waren die Kanzelparagraphen, die es ab Dezember 1871 Geistlichen verboten, mit ihren Predigten den „öffentlichen Frieden“ zu gefährden. Das Jesuitengesetz verbot dem Orden 1872 die Niederlassung im Deutschen Reich, im gleichen Jahr wurde die geistliche Schulaufsicht durch eine staatliche ersetzt. Seit den Maigesetzen von 1873 kontrollierte der Staat Ausbildung und Einstellung der Geistlichen, 1875 wurde allein die Zivilehe gültige Eheschließung. Das Brotkorbgesetz desselben Jahres entzog der Kirche staatliche Zuwendungen, das Klostergesetz löste Klöstergemeinschaften in Preußen weitgehend auf. Vgl. allgemein Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 2, S. 364-381. Die Minderheitensituation des Protestantismus in den preußischen Westprovinzen begünstigte je länger je mehr Parteien, die Staatsnähe und Dominanz über den politischen Katholizismus versprachen. Vgl. Gemein, Gisbert Jörg: Politischer Konservatismus am Rhein und in Westfalen in der Weimarer Zeit, am Beispiel der Deutschnationalen Volkspartei, in: Düwell/Köllmann Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 3, S. 62-75, hier: S. 65f.
E.III. Kirche und Kultur
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bildete sich ein Pastorennationalismus, der diese aufeinander bezogene Trias betonte;485 abgesichert wurde diese durch ein kirchennahes, auch überprovinziell ausgerichtetes Organisationswesen, das jedoch innerhalb der pluralistischeren Bekenntnisform nie derart eng geschnürt wurde wie auf katholischer Seite.486 Partiell war der westprovinzielle Protestantismus der ideellen, durch wechselseitige Unstimmigkeiten getrübten Glaubenseinheit allerdings auch enthoben, da die rheinisch-westfälischen Gemeinden durch Devotio moderna, Calvinismus und Pietismus wahrnehmbar beeinflusst hatten und Traditionen anlegten, die dem preußisch-lutherischen Protestantismus unbekannt waren. Maßgeblicher, wiederkehrender Streitpunkt war der um die Kirchenordnung. 1817 proklamierte Friedrich Wilhelm III. – aus lutherischer Kirchentradition sowohl Staatsoberhaupt als auch oberster Kirchenherr – die Union von Lutheranern und Reformierten; beide Bekenntnisformen sollten zu einer evangelischen Kirche mit gemeinsamer Liturgie, Gottesdienstgestaltung und Ritualen vereinigt werden.487 Vor allem Regionen mit starker calvinistischer Prägung lehnten diese Pläne ab und verlangten aus ihrem synodalen Kirchenverständnis, eine solche Entscheidung über die Union könne nur vor Ort entschieden werden. Stärkere Meinungsverschiedenheiten ergaben sich aus der Frage der Agenda. 1822 versuchte der König, die Bekenntnisformen als Vorstufe zur Union durch Rückgriff auf alte, an lutherisch-katholische Praktiken angelehnte Symbole – Kruzifixe und das Niederknien beim Abendmahl sollten wieder Geltung erlangen – anzugleichen, traf hiermit jedoch erneut auf Widerstand, da diese dem wortbetonten calvinistischen Gottesdienst widersprachen; der Monarch setzte sich in dieser Frage jedoch durch und die erneuerte Agende 1828 in der Rheinprovinz, 1831 in Westfalen in Geltung. Auch die Einführung eines Generalsuperintendenten 1828, der die geistige Leitung der Provinzkirchen übernahm, widerstrebte dem antihierarchischen rheinisch-westfälischen Kirchenbild mit ihren selbständigen Handlungsspielräumen; zahlreiche Gemeinden kämpften um die Aufrechterhaltung ihrer hergebrachten Synodalstrukturen und Gottesdienstordnungen, bis unter Vermittlung des Generalsuperintendent beider Provinzen, Wilhelm Johann Gottfried Roß, 1835 eine für die westlichen Verhältnisse angemessenere, jedoch auch den königlichen Interessen entsprechende Regelung gefunden und als Rheinisch-Westfälische Kirchenordnung verabschiedet wurde: Unter dem gemeinsamen Dach der Unierten Kirche waren verschiedene Bekenntnisformen garantiert, Presbyterien und Synoden wurden – bei eingeschränkten
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Vgl. zum Pastorennationalismus Kuhlemann, Frank-Michael: Pastorennationalismus in Deutschland im 19. Jahrhundert. Befunde und Perspektiven der Forschung, in: Haupt, Heinz-Gerhard/Langewiesche, Dieter (Hrsg.): Nation und Religion in der deutschen Geschichte, Frankfurt/Main 2001, S. 548-586, insb. S. 572ff. Vgl. ebenso Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866-1918. Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1998, S. 478, 487f. Zeitschriften oder Verbände organisierten sich häufig gemeinsam für beide Landesteile. So gab es die Monatsschrift für die evangelische Kirche der Rheinprovinz und Westphalens, das Evangelische Gemeindeblatt aus und für Rheinland und Westphalen, den Verein für christliche Volksbildung für Rheinland und Westfalen oder den RheinischWestfälischen Jünglingsbund. Vgl. Goebel, Klaus: Evangelische Kirchengeschichte seit 1815, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 3, S. 413-464, hier: S. 431, 440. Hier spielte vor allem auch der Aspekt der inneren Stärkung des Protestantismus eine Rolle angesichts des gewachsenen Katholikenanteils in Preußen sowie der zentrifugalen Kräfte der zahlreichen Erweckungsbewegungen. Vgl. Clark, Preußen, S. 477f.
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
Selbstverwaltungsrechten sowie Erhalt der Generalsuperintendenten und Konsistorien – beibehalten.488 In der Folge schränkten weitere Reformen die vormals freiheitlicheren Kirchenverhältnisse deutlich ein. Dem 1850 gebildeten Oberkirchenrat wurden die Provinzialsynoden unterstellt und ihre Eigenverantwortung beschnitten, die 1872 eingeführte Kirchenverfassung ergänzte innere Wahlgremien durch eingesetzte Amtsträger.489 Zwar war die Aufrechterhaltung der synodalen Elemente ein Zugeständnis an die rheinisch-westfälischen Traditionen und eine Einschränkung des episkopalen Charakters der Kirchenordnung, doch wurde aus dem ursprünglichen Aufbau der evangelischen Kirchen aus der Gesellschaft heraus eine staatlich-obrigkeitliche Organisation, die Selbstverwaltung und Mitbestimmung auf Anhörung und Stellungnahmen zurückdrängte. Erst die RheinischWestfälischen Kirchenordnung von 1923 stärkte erneut die ursprünglichen demokratischen Selbstverwaltungsgedanken.490 Pietismus und Erweckungsbewegung beeinflussten auch im 19. Jahrhundert den rheinischwestfälischen Protestantismus und stützten mit ihrer antirationalistischen, antirevolutionären Stoßrichtung und der Betonung von Ordnung und Arbeitsamkeit den Obrigkeitsstaat. Gründungen wie der Barmener Rheinisch-Westfälische Jünglingsbund von 1848 vertieften jedoch auch aktivistische Nächstenliebe und soziale Fürsorgebereitschaft insbesondere in ihrer traditionellen Hochburg, dem Bergischen Land.491 Gottfried Daniel Krummacher, seit 1816 Pfarrer in Elberfeld, war führender Kopf bei der Verbreitung pietistischen Gedankengutes492 und regte – angetrieben durch frühindustrielle Gewerbeentwicklung und soziale Folgeerscheinungen – gemeinsam mit Karl August Döring die kirchliche Vereins- und Jugendarbeit sowie Missionarsseminare im Wuppertaler Raum an, um der Not zu begegnen.493 Bedürftige sollten um ihrer selbst, aber auch um der Ordnung willen aufgefangen werden, da ihm die Obrigkeit Schutz vor Liberalismus und Säkularisation versprach. Krummachers Neffe Friedrich Wilhelm führte dessen Arbeit fort und verpflanzte den pietis-
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Die auf Provinzebene organisierten Kirchenvertreter waren nurmehr beratende Gremien, deren Beschlüsse fortan der Bestätigung durch den Staat bedurften. Vgl. Engelbrecht, Landesgeschichte, S. 271. In den Gemeinden gab es gewählte Kirchenräte, die ihrerseits die Kreissynode bestimmten; dieser gehörten zugleich sämtliche Pfarrer an. Die Provinzialsynoden waren ebenso paritätisch aus geistlichern und Laien besetzt; hier waren auch staatlich ernannte Mitglieder tätig. Die Generalsynoden wurden ähnlich gebildet. Die Beibehaltung von Generalsuperintendenten und Provinzialkonsistorien stärkte die staatlichen Kontrollrechte. Vgl. Stupperich, Robert: Die evangelischen Kirchen seit 1803, in: Kohl, Westfälische Geschichte 2, S. 385-416, hier: S. 391f. Auf den verschiedenen Ebenen blieben Synoden ebenso wie Konsistorien und Generalsuperintendenten bestehen. Ausgeweitet wurde das Wahlrecht zu Presbyterien und Synoden; das aktive Wahlrecht erhielten fortan 24-jährige Gemeindemitglieder, das passive Wahlrecht erforderte die Vollendung des 30. Lebensjahres. Zwischen den Synoden gab es nun einen Provinzialkirchenrat, der die Kirchenleitung übernahm. Kellenbenz, Herrmann: Wirtschafts- und Sozialentwicklung der nördlichen Rheinlande seit 1815, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 3, S. 124f. Vgl. Goebel, Evangelische Kirchengeschichte, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 3, S. 432f. Vgl. Leu, Urs: Gottfried Daniel Krummacher, in: Bautz, Traugott (Hrsg.): BiographischBibliographisches Kirchenlexikon (BBKL), Band IV, Herzberg 1992, Sp. 716-720. So z. B. der Barmer Sonntagsverein für junge Handwerker und Fabrikarbeiter von 1836 oder die Rheinisch-Westfälische Gefangenengesellschaft in Elberfeld von 1826. Vgl. Goebel, Evangelische Kirchengeschichte, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 3, S. 423.
E.III. Kirche und Kultur
125
tischen Geist in das weitere Umland.494 Der gesellschaftliche Einfluss des Pietismus’ auf das Bergische Land zeigte sich etwa in der hier 1853 eingeführten kommunalen Sozialfürsorgearbeit, die mit ihren Grundprinzipien der Dezentralisierung, Ehrenamtlichkeit und der Hilfe zur Selbsthilfe als Elberfelder System bekannt wurde.495 Im Siegerland übernahm Tillmann Siebel die Führung der Erweckungsbewegung, nachdem er in dem mit der Region wirtschaftlich verbundenen Wuppertal gearbeitet und dort durch die Predigten Krummachers und den Erbauungskreis Johann Peter Diederichs’ Zugang zum erweckten Glauben gefunden hatte.496 Als Mitglied der Barmer Missionsgesellschaft gründete er in Freudenberg einen Leseverein, um dem Pietismus eine breitere Basis zu verschaffen, aus dem sich der das Siegerland durchdringende Missionshilfeverein mit Ablegern in Weidenau, Müsen, Littfeld und Burbach entwickelte. Mit der Gründung von Jünglingsvereinen versuchte Siebel, die Jugend für den Glauben zu gewinnen und sittlich zu erziehen, wie auch der Verein für Reisepredigt nach 1853 die pietistische Evangelisierung des Siegerlandes und Wittgensteins förderte. Ein erneuertes Christentum sollte Basis für die Veränderung der Kirche von innen sein, Missionsfeste und Hausbesuche halfen, den erweckten Glauben zu stabilisieren; fortgesetzt wurde Siebels Wirken durch seine Neffen Jakob Gustav und Friedrich Albrecht sowie seinem Großneffen Walter Alfred.497 Das von reformierten Glaubensinhalten weitgehend unberührte Minden-Ravensberg erlebte durch Johann Heinrich Volkening – dessen Eltern Anhänger der Ideen Gerhard Tersteegens waren – seine pietistische Erweckung.498 Der Prediger trug den 1818 in Barmen gewonnenen inneren und äußeren Missionsgedanken in seine Heimat und verbreiterte diesen zwischen 1822 und 1869 mit Stationen als Pfarrer in Schnathorst, Gütersloh und Jöllenbeck. Kirchennäher als im Bergischen Land und in Siegen-Wittgenstein, scharte der Theologe durch Predigten und soziales Engagement vor allem Angehörige unterer sozialer Schichten um sich und gewann sie für ein verinnerlichtes Christentum, indem er deren Bedürfnisse in den Mittelpunkt seiner Tätigkeit stellte. Die Gemeinschaft mit Gott wurde zwar eher privat, abseits der Amtskirche gesucht, doch nutzte Volkening seine seelsorgerischen Predigten, um die Bevölkerung für einen erneuerten Glauben zu erwecken; mit der Wiederaufnahme von mit der Aufklärung verschwundener Kirchenlieder in die Gesangbücher stellte er diesen eine emotionale Komponente an die Seite.499 Volkenings Söhne Bernhard und August führten das Werk ihres Vaters als Theologen und Pfarrer in Ostwestfalen fort, wie auch die Stärkung der Inneren Mission und der Diakonie – die mit dem Bielefelder Pastor Friedrich von Bodelschwingh einsetzte – an diese Verbindung von wort- und tatorientiertem Christentum anknüpfte.500 494
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Vgl. Benrath, Gustav Adolf: Die Erweckung innerhalb der Landeskirchen 1815-1888. Ein Überblick, in: Gäbler, Ulrich (Hrsg.): Geschichte des Pietismus, 4 Bde., Bd. 3: 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 150-271, hier: S. 194ff. Vgl. zum Elberfelder System Deimling, Gerhard: 150 Jahre Elberfelder System. Ein Nachruf, in: Geschichte im Wuppertal 12 (2003), S. 46-57. Vgl. Heinrichs, Wolfgang: Siebel, Tillmann(us), in: Bautz, BBKL, Band X, Herzberg 1995, Sp. 36-39. Vgl. Benrath, Die Erweckung innerhalb der Landeskirchen, in: Gäbler, Geschichte des Pietismus, hier: S. 200. Vgl zu Person und Arbeit Volkenings Rahe, Wilhelm: Johann Heinrich Volkening, in: Steffens, Wilhelm/Zuhorn, Karl (Hrsg.): Westfälische Lebensbilder, Band VI, Münster 1957, S. 99-117. Vgl. Benrath, Die Erweckung innerhalb der Landeskirchen, in: Gäbler, Geschichte des Pietismus, S. 196. Vgl. Götzelmann, Arnd: Die soziale Frage, in: Ebd., S. 272-307, hier: S. 299f.
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
E.III.2. Lippe Lippe war eine homogene Bekenntnislandschaft, die sich mit etwa 95%-iger Zugehörigkeit zur reformierten Landeskirche von ihren katholischen und lutherischen Nachbarterritorien abhob.501 Auch in dieser Hinsicht erlebte das Land nach 1815 keinen massiven Umbruch, weder bildete sich in Reaktion auf obrigkeitliche Unterdrückung eine konfessionell bestimmte Partei, noch entstanden individuelle und kollektive Selbstbilder in Abgrenzung von neuen, andersgläubigen Landesherren. Die Landeskirche war vielmehr Fundament des Staates, unterstrich die Selbständigkeit Lippe-Detmolds und unterstützte die Wahrnehmung landschaftlicher Eigenheit. Kämpften die rheinisch-westfälischen Protestanten um den Erhalt ihrer Synodalstrukturen, so existierten solche in Lippe überhaupt nicht; landesherrliche Aufsichts- und Eingriffsrechte waren – nachdem bereits 1571 ein Konsistorium eingesetzt worden war, das Grafen und Fürsten als Summepiskopat den Zugriff auf Gläubige und Bevölkerung ermöglichte – stattdessen stark ausgebaut. In Widerspruch zum reformierten Kirchenverständnis sicherte auch die Kirchenordnung von 1684 umfangreiche Einflussrechte auf Landeskirche und Gemeinden; die Landesherrn nahmen bis 1876 nahezu uneingeschränkt das Berufungsrecht von Pfarrern und Kirchenangestellten wahr,502 Presbyter wurden auf Vorschlag des Pfarrers, der Magistrate oder landesherrlicher Beamter ernannt und nicht durch gemeindliche Wahl bestimmt.503 Erst innerhalb der allgemeinen Ausgleichspolitik Fürst Woldemars wurde 1877 eine Synodalverfassung eingeführt, die sich an die 1873 für die östlichen – und somit konservativeren – preußischen Landesteile beschlossene Ordnung anlehnte.504 Mit der Abdankung des Fürstenhauses und dem Verlust des Summepiskopats weitete erst eine 1931 neu verabschiedete Kirchenordnung die Gemeindemitbestimmung aus.505 Die Lippische Landeskirche war unmittelbares Element fürstlicher Staats- und Erziehungspolitik. Nachdem im frühen 19. Jahrhundert zunächst ein kirchlicher Rationalismus die Landeskirche beeinflusste, der auf der Grundlage des Christlichen Lehrbuchs für Bürgerund Landschulen des Generalsuperintendenten Ludwig Friedrich August von Cölln von 1801 die moralische Menschenbildung und christlich-humanistische Lebensgestaltung vor Glaubensgrundsätze stellte,506 gewannen ab den 1830er Jahren – beeinflusst durch Missionare 501
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Vgl. Steinbach, Eintritt Lippes in das Industriezeitalter, S. 194f. Lemgo war im Röhrentrupper Rezess 1617 der Fortbestand des lutherischen Bekenntnisses zugestanden worden; die mit Paderborn geteilte Samtherrschaft über Schwalenberg brachte eine katholische Exklave in das Staatsgebiet ein. Vgl. Butterweck, Wilhelm: Die Geschichte der Lippischen Landeskirche, Schötmar 1926, S. 169ff. Neuser, Adolf: Die Kirchenordnung von 1684, in: Wehrmann, Volker (Hrsg.): Die Lippische Landeskirche 1684-1984. Ihre Geschichte in Darstellungen, Bildern und Dokumenten, Detmold 1984, S. 95-112, insb. S.102-105 Ausgeweitet wurden gemeindliche Selbstbestimmung, Wahlrecht und Wirkungskreis. Pfarrer konnten nun aus einem Kreis gewählt werden, den das Konsistorium benannte, festgeschrieben wurde die Mitwirkung der Landessynode an den Konsistorienbeschlüssen. Neben staatlich ernannte traten nun weitere gemeindlich bestimmte Prediger und Laien in das Gremium ein. Gestärkt wurde das synodale Element durch Einführung einer zusätzlichen entscheidenden Stimme (4:3) im staatlichen Landeskirchenrat, dem zugleich einzig ein suspensives Veto gegen Synodalbeschlüsse zukam. Vgl. Kittel, Heimatchronik, S. 318. Vgl. allg. zum kirchlichen Rationalismus in Lippe: Arndt, Johannes: Das Fürstentum Lippe im Zeitalter der Französischen Revolution 1770-1820, Münster 1992, S. 376-382.
E.IV. Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung
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aus Minden-Ravensberg und dem Bergischen Land – pietistische Glaubenszirkel an Einfluss auf die Gemeinden; zunächst bekämpft, näherte sich der lippische Staat ihnen nach der Revolution von 1848 an, um ihre antidemokratischen und antirevolutionären Glaubenselemente der eigenen Stabilität dienlich zu machen. In Personalpolitik, Kirchen und Schulen ermöglichte die landesherrliche Berufungspraxis die multiplikatorischen Ausstrahlung des erweckten Glaubens; bereits in jungen Jahren vermittelt, sollte er der Bindung der Lipper an das Herrscherhaus dienen und die Anerkennung der gottgewollten, staatlichen Ordnung sowie Gehorsam lehren.507
E.IV. Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung Kein anderer Faktor besaß für die Entwicklung von Politik, Gesellschaft und Kultur einen vergleichbaren Stellenwert wie die im 19. Jahrhundert einsetzende Industrialisierung. Aus Dörfern wurden Großstädte, der Zuzug ländlich-bäuerlicher, ungelernter Arbeitskräfte aus dem näheren oder weiteren Umland machte – bei landschaftlichen Unterschieden – aus einer weitgehend agrarischen Standes- eine urbanisierte Klassengesellschaft, durchbrach hergebrachte Sozialstrukturen und brachte diese mit fremden Denk- und Lebensstilen in Kontakt. Der unterschiedlich frühe Anschluss an die Eisenbahnstrecken verwies zunächst auf die unterschiedliche Bedeutung der Wirtschaftsregionen und beeinflusste ihre Teilhabe an modernisierenden Kommunikations- und Informationsnetzen. Wirtschafts- und Gesellschaftsverhältnisse standen in enger Wechselbeziehung: Als alltäglich erfahrbarer Lebensumstand beförderte das Arbeitsleben die Ausbildung divergenter, organisatorisch verfestigter Milieus mit ähnlicher Sprache und Verhaltensgewohnheiten, Sinninterpretationen und Wertprioritäten. Mithilfe eines aufgefächertes Vereins- und Verbandswesen bildeten sich kleine Netzwerke, die über die objektiv bestehenden Gemeinsamkeiten wie Beruf oder Wohnsituation das Bewusstsein von diesen auszuprägen halfen, Zusammengehörigkeit vermittelten und die Politisierung gemeinsamer Interessen ermöglichten.
E.IV.1. Westprovinzen Rheinprovinz und Westfalen bildeten Flickenteppiche „aus alten Gewerbelandschaften, die sich entweder erfolgreich industrialisierten oder stagnierten, (mit A.W.) unterschiedlich strukturierten agrarischen Gebieten, neuen krass von der Industrie geprägten Ballungszentren mit hoher Eigendynamik und einzelnen kleineren Nachzüglerräumen.“508 Dennoch verband das Wirtschaftsleben die sozioökonomisch gegenüber dem agrarischeren östlichen Preußen fortschrittlichen Westprovinzen in besonderem Maße, da die auf ihrer relativen Progressivität beruhenden Ähnlich-
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Nach der Revolution von 1848 verfügte Leopold III. – allerdings erfolglos –, 1/3 der Unterrichtszeit für religiöse Unterweisung aufzuwenden. Vgl. Steinbach, Eintritt Lippes in das Industriezeitalter, S. 292. Reulecke, Jürgen: Rheinland-Westfalen von den 1850er Jahren bis 1914, in: Briesen et. al., Gesellschaftsund Wirtschaftsgeschichte, S. 79-128, hier: S. 87.
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
keiten die Ausbildung eines gewissen überprovinziellen Eigenbewusstseins beförderten.509 Die in den 1820er Jahren aufkommende Bindestrichbezeichnung Rheinland-Westfalen wurde Attribut zahlreicher provinzübergreifender wirtschaftsbezogener Vereinigungen und Synonym für die funktionale Verbundenheit der Landesteile.510 Verbindend wirkte beispielsweise auch die übergreifende Bedeutung wirtschaftsbezogener Bildungsinhalte. Der Aufbau der Schulzüge orientierte sich primär an regionalen Gewerbevoraussetzungen sowie dem von Bürgertum und Wirtschaftskammern angemeldeten Fachkräftebedarf und führte zu einer Vernachlässigung der Gymnasien zugunsten realorientierter Einrichtungen wie den seit 1818 existierenden Provinzialgewerbeschulen, die ebenso wie die entstehenden Real- und Höheren Bürgerschulen die fachlich-praktische Wissensvermittlung in den Vordergrund stellten.511 Nicht zuletzt die auf wirtschaftsbürgerlichunternehmerischer Initiative basierende, 1870 in Aachen gegründete Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule sowie die 1901 in Köln gegründete Handelshochschule sollten den Mangel an fähigen Arbeitskräften lindern.512 1921 wurden gewerbliche, kaufmännische und landwirtschaftliche Bildungsanstalten zu einheitlichen Berufsschulen zusammengefasst, deren Einrichtung und Unterhaltung entweder von Kommunen, Kreisen, Zweckverbänden oder Kammern getragene Selbstverwaltungsaufgabe war. Auch im Kulturbereich überspannte die von Unternehmern und Wirtschaftsbürgertum getragene Kunstförderung die West509
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Vgl. Köllmann, Wolfgang: Pauperismus in Rheinland-Westfalen im Vormärz, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen 1, S. 148-157, hier: S. 152f. Ausländische Beobachter attestiertem den Westprovinzen ein kaltes Verhältnis zur Reichsgewalt. Industrie und Unternehmer, nicht Politik und Verwaltung seien die wahren Herrscher, die aus ihrem Erfolg Führungsanspruch und Eigenbewusstsein ableiteten. Vgl. Huret, En Allemagne, S. 231. Als landschaftsübergreifende Verbände sind – ausschnittsweise – zu nennen: Der 1872 gegründete Rheinisch-Westfälische Grubenarbeiterverband, der Verband Rheinisch-Westfälischer Bergleute (1877), der Verband Rheinisch-Westfälischer Grubenarbeiter (1889), die Bergisch-Märkische Industrie-Gesellschaft zur Förderung der Industrialisierung (1871), das Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk AG (1898), der Kommunale Elektrizitätsverband Westfalen-Rheinland (1920) oder die Gewerbe-Ausstellung für Rheinland, Westfalen und umliegende Gebiete von 1880. Im gesellschaftlichen Bereich zu nennen sind der Kunstverein für Rheinland und Westfalen von 1828, die Rheinisch-Westfälische Kirchenordnung (1835), die Rheinisch-Westfälische Zeitschrift für Politik, Handel und Gewerbe von 1858 oder die Zeitschrift des Vereins für rheinische und westfälische Volkskunde von 1904. In Aachen gründete man zur Ausbildung des wirtschaftlichen Nachwuchses 1870 die Rheinisch-Westfälische Polytechnische Schule. Vgl. Düwell, ‚Rheinisch-westfälisch’ und verwandte Bezeichnungen, in: Petzina/Reulecke, Bevölkerung, Wirtschaft, Gesellschaft seit der Industrialisierung, S. 311-319. Vgl. Schiersmann, Christiane: Die Provinzial-Gewerbeschulen in den rheinischen und westfälischen Provinzen Preußens im 19. Jahrhundert, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter, Bd. 4: Zur Geschichte von Wissenschaft, Kunst und Bildung an Rhein und Ruhr, Wuppertal 1985, S. 86-95, hier: S. 89. Im Rheinland waren die Schulen vor 1850 in Aachen, Elberfeld und Köln angesiedelt, in Westfalen in Bielefeld, Hagen und Münster; nach der Jahrhundertwende kamen Barmen und Krefeld hier sowie Bochum und Iserlohn dort hinzu. Aus den Interessen des Wirtschaftsbürgertums wurde aus privaten Spenden und kommunalen Mitteln 1870 die Rheinisch-Westfälische Polytechnische Schule gegründet, deren Unterhaltung und Entwicklung maßgeblich durch die rheinisch-westfälischen Industrie gefördert wurde. 1880 erfolgte die Aufwertung der Einrichtung zur Technischen Hochschule, die nach dem Ersten Weltkrieg mit Mitteln der Industrie erneut aufgebaut wurde. Auch in Köln führten kommunale und bürgerliche Bemühungen 1901 zur Gründung einer Handelsschule. Unternehmer wie Gustav Mevissen sorgten sich um die Verbesserung der kaufmännischen Ausbildung in der Handelsstadt. Aus dem wirtschaftlichen Bedürfnis heraus nahm sich die Stadt der Initiative an und richtete die Handelsschule rasch ein, um der lokalen Wirtschaft den notwendigen Nachwuchs zu verschaffen. 1919 fasste die kommunal-bürgerlich begründete und getragene Universität zu Köln die bestehenden Hochschulen der Stadt zusammen. Vgl. Düwell, Kurt: Das Schul- und Hochschulwesen der Rheinlande, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 3, S. 465-552, hier: S. 502ff.
E.IV. Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung
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provinzen, unterstützte aber auch die Städtekonkurrenz,513 da die entstehenden Heimatoder Historischen Vereine gegeneinander abgesetzte Erinnerungsräume schufen, die Regionalbewusstsein und Selbstverständnis maßgeblich beeinflussten. Trotz aller Bindungen war die in Abgrenzung von Preußen erfolgende rheinischwestfälische Selbstdefinition eine negative, die positiver, integrierender Sinngebung entbehrte; insgesamt wurden die im Alten Reich angelegten Strukturgräben in der Preußenzeit eher vertieft als angeglichen. Trotz der im Zuge der Bauernbefreiung beschlossenen Ablöseregelungen erhielten sich bäuerliche Abhängigkeiten und adlige Vorrangstellung in der Preußenzeit insbesondere in Westfalen; die vorgesehenen Geldzahlungen wurden oftmals durch Landabtretung beglichen, die den Altbesitzern – zumeist dem Adel – die Erweiterung ihrer Anbaufläche und die Anhäufung großen Grundbesitz ermöglichten, während tatsächlich geleistete Finanztransfers gewinnbringend reinvestiert werden konnten.514 1825 erneuerte Regularien, die das Bestehenbleiben persönlicher Pflichten aufgrund bäuerlicher Bodennutzung bestätigten, brachten die Abschaffung der Leibeigenschaft in Westfalen deshalb erst um 1850 und somit deutlich später als im Rheinland zum Abschluss.515 Während die Eisen- und Metallgewerbe im Großen und Ganzen von der Industrialisierung profitierten – sie lieferten die Rohstoffe für den Ausbau von Eisenbahnen und Schienennetz und wurden selbst in überregionale Handelsbeziehungen einbezogen–, differenzierte sich die Lage im Textilsektor aus. Schneller und dynamischer ergriffen rheinische, maschinell besser ausgestattete Produzenten die sich bietenden Chancen der Marktausweitung, während man in Westfalen oftmals bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts traditionellen Herstellungstechniken treu blieb.516 Die westfälische Textilproduktion war heimgewerbliches Standbein neben der Landwirtschaft,517 während sie im Rheinland frühzeitiger zu spezialisierten, quantitätsorientierten Industrien heranwuchs.518 Auch im Handelsund Finanzsektor vertieften sich alte Scheidelinien: Neben der alten Kaufmannsmetropole Köln etablierte sich Düsseldorf ab 1811 als Messe- und 1853 als Börsenplatz; waren westfälische Geschäftmacher primär auf den Nahraum ausgerichtet und an Grund und Boden gebunden, bestanden im Rheinland traditionell weiterreichende Groß- und Fernhandels-
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Der Düsseldorfer Kunstverein für Rheinland und Westfalen von 1828 oder das Hagener Folkwang-Museum von 1899 waren Beispiele für Bürgerengagement, kommunale Verantwortung und städtischen Wettbewerb. Vgl. Hartlieb von Wallthor, Alfred: Konservativer Adel in den Rheinlanden und in Westfalen nach den Befreiungskriegen, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen 1, S. 19-26, hier: S. 21. Vgl. Wischermann, An der Schwelle der Industrialisierung, in: Kohl, Westfälische Geschichte 3, S. 63f. Vgl. die Tabellen zu Hand- und Kraftwebstühlen und mechanischen Spinnereien in den preußischen Provinzen 1861 bei Teuteberg, Hans Jürgen: Vom Agrar- zum Industriestaat (1850-1914), in: Kohl, Westfälische Geschichte 3, S. 163-312, hier: S. 205. Vgl. Borscheid, Peter: Westfälische Industriepioniere der Frühindustrialisierung, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen 1, S. 158-176, hier: S. 167. Vgl. Hoth, Wolfgang: Die Industrialisierung einer rheinischen Gewerbestadt – dargestellt am Beispiel Wuppertal, Köln 1975, S. 163f. sowie Mager, Wolfgang: Protoindustrialisierung und agrarischheimgewerbliche Verflechtung in Minden-Ravensberg während der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 8 (1982), S. 435-474, hier: S. 471.
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
kontakte.519 Ein hieraus abgeleitetes finanzielles rheinisches Übergewicht äußerte sich etwa in einer höheren Dichte an privaten Bankhäusern, die zur Abwicklung des Wirtschaftsgeschehens und Kapitalbeschaffung zunehmend an Bedeutung gewannen.520 Auch bei der Gründung von Aktiengesellschaften, die durch ihre Kapitalakquirierungsfunktion von eminenter Bedeutung für unternehmerisches Wachstum waren, besaß das Rheinland einen Vorsprung, da diese hier bereits seit der Einführung des Code de Commerce 1807 weitgehend erlaubt waren, während die Ausgabe solcher Inhaberanteile in Westfalen bis zur Inkraftsetzung des preußischen Handelsgesetzbuches 1861 staatlicher Genehmigung bedurfte und Gemeinwohlorientierung verlangte.521 Monetäre Ausstattung – die auch in den höheren Spareinlagen rheinischer Bürger zum Ausdruck kam –522 und Wirtschaftsentwicklung befruchteten sich wechselseitig, provinzübergreifende Institute wie die RheinischWestfälische Wechsler- und Kommissionsbank oder die Rheinisch-Westfälische Genossenschaftsbank saßen seit 1871 in Köln, während in Westfalen primär die seit 1831 bestehende, auf Landwirtschaft und gemeinnützliche Zwecke ausgerichtete Provinzialhilfskasse als zahlungskräftige Einrichtung existierte. Nicht zuletzt infrastrukturell besaßen insbesondere die am Rhein gelegenen Städte Standortvorteile; die Rheinschifffahrtsakten von 1831 und 1869 beseitigten letzte Handelshemmnisse, während Westfalen Bauten wie den DortmundEms-Kanal von 1899 oder den 1914 eröffneten Rhein-Herne-Kanal benötigte, um den Nachteil der Binnenlage auszugleichen und Meeresanbindung zu erlangen. Wichtigste Neuerung im Verkehrsbereich wurde die Eisenbahn, deren bevorzugter Investitionsstandort im Rheinland lag, da der zunächst privat vorangetriebene Ausbau zunächst dem Gewinninteresse und den dichteren rheinischen Wirtschaftsbeziehungen folgte.523 Aufbauend auf jenen Strukturvorteilen, schaffte das Rheinland auch nach der Jahrhundertwende den schnelleren Anschluss an aufstrebende, konsumgüterorientierte Wirtschaftszweige wie die Chemie-, Automobil- und Maschinenbauindustrie, während Westfalen länger von den allmählich stagnierenden Montan- und Textilgewerben geprägt blieb.524 Insbesondere die Regierungsbezirke Minden und Münster erhielten ihren ländlicheren 519
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Vgl. Wischermann, An der Schwelle der Industrialisierung, in: Kohl, Westfälische Geschichte 3, S. 144; Teuteberg, Vom Agrar- zum Industriestaat, in: Ebd., S. 237 sowie Borscheid, Peter: Vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg (1914-1945), in: Ebd., S. 313-438, hier: S 402f. Zentral waren die Kölner Bankhäuser Oppenheim, Schaaffhausen oder A&L Camphausen, in Elberfeld die Institutionen von der Heydt, Wichelhaus oder Brink. Vgl. Kellenbenz, Wirtschafts- und Sozialentwicklung der nördlichen Rheinlande, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 3, S. 1-192, hier: S. 107ff. Vgl. Teuteberg, Vom Agrar- zum Industriestaat, in: Kohl, Westfälische Geschichte 3, S. 258. Rheinische Spareinlagen und -konten übertrafen die der Provinz Westfalen vor Eintritt in die Weltwirtschaftskrise deutlich, wenngleich die Aufschlüsselung für die gesamte Rheinprovinz gilt, von der nur der nördliche Teil hier als Rheinland gilt, übertraf die Westfalens vor Eintritt der Weltwirtschaftskrise 1929 wie vor Beginn des Zweiten Weltkriegs deutlich. Vgl. Kellenbenz, Wirtschafts- und Sozialentwicklung, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 3, S. 150f. Der 1835 gegründeten Düsseldorf-Elberfelder Eisenbahn-Gesellschaft folgte 1839 die Rheinische EisenbahnGesellschaft zwischen Köln und Aachen. Die 1847 gegründeten Bergisch-Märkische Eisenbahn-Gesellschaft und die Köln-Mindener Eisenbahn-Gesellschaft banden erstmals Westfalen in die Streckenführung ein, die 1848 gegründete Münster-Hammer Eisenbahn-Gesellschaft verband erstmals zwei innerwestfälische Städte. Vgl. Kellenbenz, Wirtschafts- und Sozialentwicklung, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 3, S. 54, 102 sowie Teuteberg, Vom Agrar- zum Industriestaat, in: Kohl, Westfälische Geschichte 3, S. 219ff. Vgl. Kellenbenz, Wirtschafts- und Sozialentwicklung, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 3, S. 15 sowie Borscheid, Peter: Vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg (1914-1945), in: Kohl, Westfälische Geschichte 3, S. 313-438, hier: S. 366.
E.IV. Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung
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Grundcharakter und wiesen bis 1933 durchgehend einen höheren Erwerbstätigenanteil in der Landwirtschaft auf als sämtliche rheinischen Bezirke, die bei Industrie und Dienstleistungen vorne lagen.525 Vor allem letzterer wurde ein zunehmend wichtiger Wachstumssektor mit herausragenden Standorten in Köln und Düsseldorf,526 wohingegen alte Gewerbelandschaften wie Mönchengladbach oder das Wuppertal neben dem aufstrebenden Bielefeld die industrielle Überformung ihrer Textilstandorte und hohe Wachstumszahlen erlebten.527 Die Rheinprovinz wurde zur wirtschaftsstärksten preußischen Gewerberegion, innerhalb derer die Rheinschiene weiterhin eine Führungsstellung einnahm. Schrittmacher der rheinischen Industrialisierung wurde der Eisenbahnbau; die 1838 gegründete Düsseldorf-Elberfelder Eisenbahn-Gesellschaft und die Rheinische Eisenbahn-Gesellschaft von 1839 erschlossen zunächst die protoindustriellen rheinischen Gewerberegionen und stimulierten auf den vor 1815 eingeschlagenen Pfaden weiteres Wachstum. Das durch Kohleabbau, Textilproduktion und Handel bestimmte Aachener Land baute seinen frühindustriellen Status durch die Ansiedlung von Komplementärsektoren wie dem Maschinenbau oder der Gründung der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule aus und war seit 1841 über eine Eisenbahnstrecke mit Köln, seit 1843 mit Belgien verbunden. Aus den landwirtschaftlich geprägten, fruchtbaren Ebenen des Niederrheins stachen gewerbliche Solitäre wie Mönchengladbach-Rheydt oder Krefeld heraus, deren Textil- und die Entwicklung komplementärer Maschinenbau- oder Chemiegewerbe sowie eines breiteren Wirtschaftsbürgertums stimulierten.528 Mit dem linksrheinischen Braunkohlerevier erwuchs eine weitere Industrieregion, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Bedeutung bereits seit 1841 an die Eisenbahnverbindung zwischen Aachen und Köln angeschlossen war, während der ländlichere Klever Raum erst 1863, die Eifel 1868 an Köln angeschlossen wurden. Entlang der Rheinschiene bleib Köln die überragende Metropole, musste sich jedoch allmählich der Konkurrenz Düsseldorfs erwehren; der Sitz des Provinziallandtags war als Messe- und Börsenplatz zunehmend auch wirtschaftliches Zentrum, die Erschließung des Rheins stimulierte industrielles Wachstum und den Handel,529 während die Beamten- und Kunststadt zugleich ihrer administrativen Tradition als Sitz zahlreicher Ver525
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Die westfälischen Regierungsbezirke Münster und Minden wiesen die höchsten Werte auf, während in Arnsberg das Ruhrgebiet die Industriequote zur herausragend bedeutendsten machten. So lag der Anteil an Erwerbstätigen in der Landwirtschaft im Bezirk Münster in den Jahren 1907, 1925 und 1933 bei 37, 27 und 30%, in Minden bei 41, 34 und 36%. In Arnsberg hingegen betrug der Industriebeschäftigtenanteil in denselben Jahren 69, 61 und 48%. In Westfalen insgesamt schwankte der Wert an hauptberuflich in der Landwirtschaft beschäftigten zwischen 25, 20 und 25%. Im Rheinland war der Düsseldorfer Bezirk der wichtigste industriell bestimmte, Aachen wies die höchsten agrarischen Elemente auf. Hier arbeiteten im Bezirk Aachen in den genannten Jahren 31, 24 und 28 in der Landwirtschaft, während im Düsseldorfer Bezirk die Industriearbeiterquote bei 67, 61 und 50% lag. Im Rheinland waren über die Jahre nur 17, 11 und 15% der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft tätig. Vgl. die Tabelle zu den hauptberuflich Erwerbstätigen nach Wirtschaftsbereichen bei Schulz, Günther: Gesellschaftliche Veränderungen in RheinlandWestfalen zur Zeit der Weimarer Republik, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 3, S. 35-50, hier: S. 41. Vgl. Steinberg, Heinz Günter: Zur Sozialgeschichte des Reviers, in: Först, Walter (Hrsg.): RheinischWestfälische Rückblende, Köln/Berlin 1967, S, 229-274, hier: S. 240. Vgl. Nonn, Christoph: Geschichte Nordrhein-Westfalens, München 2009, S. 51. Vgl. Kellenbenz, Wirtschafts- und Sozialentwicklung, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 3, S. 32 Vgl. Hüttenberger, Vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, in: Weidenhaupt, Düsseldorf, S. 64f. Zu nennen sind Industrielle wie Fritz Henkel oder Friedrich G. Conzen.
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
bände und Unternehmen, als „Schreibtisch des Ruhrgebiets“ treu blieb.530 Köln schaffte seinerseits den Wandel von einer reinen Handels- zur Industriestadt, ohne seine Wurzeln vollends abzustreifen: Seit 1811 bestand eine Handelsbörse in der Stadt, 1901 erfolgte die Gründung einer Handelsschule zur Verstetigung der Traditionen. Als Kaufmannsort schwang sich Köln zum überragenden Banken- und Versicherungsstandort auf und blieb mit Publikationsorganen wie der Kölnischen Zeitung bedeutendster Vermittlungsraum, während die Beamten- und Universitätsstadt Bonn wichtiges geistig-liberales Zentrum blieb. Erschlossen und gewerblich modernisiert wurde die Rheinschiene mit der 1847 fertiggestellten Köln-Mindener Eisenbahnstrecke sowie dem 1932 eingeweihten, ersten Autobahnabschnitt zwischen Köln und Bonn. Im Bergischen Land erweiterte vor allem das Städteviereck Barmen-Elberfeld-Solingen-Remscheid sein wirtschaftliches Leistungspotential. Barmen und Elberfeld – 1929 zu Wuppertal vereinigt – bauten ihre eisen- und metall- sowie textilgewerblichen Anfänge aus und wiesen 1861 die höchste Fabrikarbeiterdichte aller deutschen Städte auf. Knapp 75% aller Beschäftigten arbeiteten im Textilsektor, der komplementär den Maschinenbau und die Chemieindustrie beförderte,531 während Solingen und Remscheid ihren Status als kleinbetriebliche Messer- und Werkzeugstädte festigten. Mit der Düsseldorf-Elberfelder Eisenbahnstrecke begann 1841 auch seine verkehrstechnische Durchdringung. Die Wirtschaftskraft Westfalens stand hinter der des Rheinlands zurück. Erstmals 1848 an das überregionale Eisenbahnnetz angebunden, zeigte die spätere infrastrukturelle Erschließung den ländlicheren, kleingewerblicheren und abgelegenere Charakter des Landesteils sowie den alten Strukturgegensatz auf. Das Münsterland blieb landwirtschaftlich bestimmt und allenfalls in Grundzügen industriell entwickelt. Traditionelle Textilgewerbe hielten sich vor allem im westlichen Münsterland mit seiner Nähe zur prosperierenden niederländischen Twente,532 während die Verwaltungs- und – ab 1902 – Universitätsstadt Münster erst nach der Eröffnung des Dortmund-Ems-Kanals 1899 eine allmähliche industrielle Überformung erfuhr.533 Münster wurde 1848 über die Eisenbahnlinie nach Hamm mit der Köln-Mindener Strecke verbunden. Im nördlichen Ostwestfalen stach innerhalb des – durch Qualitätsorientierung und Zurückweisung moderner Maschinen ausgelösten – Niedergangs des Ravensberger Heimgewerbes die aufstrebende Wirtschaftshochburg Bielefeld heraus, in der sich protoindustrielle Wurzeln zu einer ausdifferenzierten Gewerbelandschaft mit komplementären Betriebsstrukturen wandelten.534 Preußische Fördergelder und die Errichtung der ersten mechanischen Flachsspinnerei Vorwärts durch die zuvor in Irland tätigen Unternehmer Carl und Theodor Boszi 1850 setzten den Startpunkt, der 530
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Vgl. Engelbrecht, Jörg: „Rheinschiene“ versus „Ruhrgebiet“ – Aspekte einer wechselvollen Beziehung im 19. und 20. Jahrhundert, in: Ditt/Tenfelde, Das Ruhrgebiet in Rheinland und Westfalen, S. 353-362, hier: S. 358. Vgl. Hoth, Wolfgang: Die Entwicklung der Industrien in Wuppertal, unter besonderer Berücksichtigung der Textilindustrie und der Zuliefererindustrien, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 1, S. 96-113, hier: S. 100, 105. Vgl. Wischermann, An der Schwelle der Industrialisierung, in: Kohl, Westfälische Geschichte 3, S. 59. Vgl. Krabbe, Wolfgang R.: Wirtschafts- und Sozialstrukturen einer Verwaltungsstadt des 19. Jahrhunderts. Das Beispiel der Provinzialhauptstadt Münster, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 1, S. 197-206, hier: S. 200. Vgl. die Tabelle Gewerbeentwicklung in den Kreisen Minden-Ravensbergs bei Mooser, Josef: Der Weg vom protoindustriellen zum fabrik-industriellen Gewerbe in Ravensberg 1830-1914, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 1, S. 73-95, hier: S. 76, 84f.
E.IV. Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung
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auch auf das Umland ausstrahlte.535 Mit der Eröffnung der Köln-MindenerEisenbahnstrecke 1847 und dem Anschluss an die rheinischen Gewerbezentren verdichtete sich das Städteband zwischen Gütersloh, Bielefeld, Herford und Minden und stieß neben weiteren Textilgewerben auch die Holzindustrie an. Der Süden Ostwestfalens erfuhr hingegen als durch adlig-agrarische Gutsbetriebe sowie ackerbürgerliche Kleinstädte geprägter Raum selbst nach dem bereits 1853 zwischen Warburg an Hamm erfolgenden Anschluss an das Eisenbahnnetz nur zögerliche Industrialisierungsimpulse.536 In Südwestfalen waren Märkisches Sauerland und Siegerland durch protoindustrielle Eisen- und Metallgewerbe, kleinbetrieblich-handwerkliche Strukturen und traditionalistische, ständischzünftige Unternehmenskulturen geprägt.537 Pioniere wie Friedrich Harkort, der ab 1819 auf Burg Wetter die fabrikmäßige Dampfmaschinenproduktion aufnahm verliehen der Stahlproduktion des entstehenden Ruhrgebiets mit der Einführung des Puddelverfahrens 1826 wichtige Anstöße, während im Siegerland die Beibehaltung der zünftigen Gewerbeordnung – die die Integration des alten Nassauer Fürstentums in den preußischen Staat erleichtern sollte – die Modernisierung des Eisengewerbes schwächte und zu seinem Niedergang beitrug.538 Beide Regionen verlagerten sich aus der Konkurrenz des Ruhrgebiets entweder auf die Spezialisierung ihrer Nadel-, Draht- und Blechbetriebe oder wurden zu Rohstofflieferanten; der Anschluss an Elberfeld und Dortmund 1849 sowie die Errichtung der Ruhr-Sieg-Eisenbahn 1861 waren hierfür Voraussetzungen. Die Eisenerzressourcen des Kölnischen Sauerlands wurden schließlich eher den Großindustrien des Ruhrgebiets zugeführt, anstatt eigene Industriebetriebe aufzubauen; einzig das zwischen Mark und Siegerland gelegene Olpe wurde auf protoindustriellen Wurzeln ein Zentrum der Blechindustrie. Schloss die Obere Ruhrtalbahn das Kölnische Sauerland zwischen Bestwig und Arnsberg 1872 an das Ruhrgebiet an, gelang dem Wittgensteiner Land zwischen Bad Laasphe und Erndtebrück erst 1889 die Anbindung an das überregionale Eisenbahnnetz; monostruktureller als der Nachbarraum, blieb das dichtbewaldete Wittgensteiner Land auf seine Holzressourcen beschränkt, deren Verarbeitung und Export wichtigster Gewerbezweig wurde.539 Wirtschaftsstrukturen und Erwerbschancen beeinflussten die regionale Bevölkerungsverteilung, die Einwohnerzahlen spiegelten ökonomisch divergente Entwicklungen. Waren die rheinisch-westfälischen Provinzen im innerpreußischen Maßstab vergleichsweise ver535 536 537
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Vgl. Teuteberg, Hans-Jürgen: Westfälische Textilunternehmer in der Industrialisierung, Sozialer Status und betriebliches Verhalten im 19. Jahrhundert, Dortmund 1980, S. 24f., 45. Vgl. Wischermann, An der Schwelle der Industrialisierung, in: Kohl, Westfälische Geschichte 3, S. 65. Vgl. Borgscheid, Peter: Westfälische Industriepioniere in der Frühindustrialisierung, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 2, S. 158-174, hier: S. 159. Karl Heinrich Kaufhold beschrieb die Grundhaltung des märkischen Wirtschaftsbürgertums als „abwägend, hausväterlich, sparsam, patriarchalisch, beharrend“; Vgl. ders.: Das Metallgewerbe der Grafschaft Mark im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Dortmund 1976, S. 60. Mit dem Regulativ zur Verwaltung des Berg-, Hütten- und Hammerwesens im Lande Siegen von 1830 wurden berufs- und marktbeschränkende Regelungen aufrechterhalten, die gegenüber der übermächtigen Konkurrenz eine Benachteiligung bedeuteten. Vgl. übergreifend Wischermann, Schwelle der Industrialisierung, in: Westfälische Geschichte 3, S. 100 sowie Teuteberg, Vom Agrar- zum Industriestaat, ebd., S. 206ff. Vgl. Kracht, Peter: Sauerland, Siegerland und Wittgensteiner Land (Regionen in Nordrhein-Westfalen, Bd. 1), Münster 2005, S. 16.
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
städtert,540 wies der überwiegende Teil Westfalens eine geringere Verdichtung auf als das Rheinland, das mit seinen prosperierenden Städten und Gewerbezentren einen beständigen Zuzug erlebte;541 auch die höhere rheinische Auskreisungsgrenze von 40.000 Einwohnern gegenüber 30.000 in Westfalen verdeutlichte,542 dass Großstädte im ländlicheren Westfalen eher neue Phänomene waren. Das Städtewachstum folgte in erster Linie industriellen Interessen und den von ihnen geschaffenen Raumstrukturen: Eisenbahnanschlüsse und urbane Randbezirke wurden bevorzugte Ansiedlungspunkte, aus dem Anschluss von Schachtanlagen an das überregionale Transportnetz entstanden Industriedörfer, die zu faktischen Großstädten heranwuchsen; Stadtrechte wurden diesen durch Arbeiter- und Wirtschaftsbürgertum geprägten rechtlichen Landgemeinden allerdings nur zögerlich verliehen, da mit diesem erweiterte Selbstverwaltungsrechte und geminderte staatliche Aufsichtsbefugnisse über potentiell sozialistische oder liberale Unruheherde einhergingen.543 Mit der wirtschaftlichen Prosperität des Rheinlands wuchsen seine Bevölkerungszahlen; lebten zu Beginn der Preußenzeit 947.000 Menschen im nördlichen Teil der Rheinprovinz, so steigerte sich die Zahl bis 1910 auf knapp 5.400.000. Insbesondere die Rheinschiene und das nördliche Bergische Land wurden zu dichtbesiedelten Gewerberegionen, während der Niederrhein weitgehend seinen ländlichen Charakter wahrte. Die hohe Bevölkerungsdichte des Düsseldorfer Regierungsbezirks – hier kamen vor Beginn des Ersten Weltkriegs 625 Menschen auf einen Quadratmeter, während sich im Kölner 214 und im Aachener 166 Personen ballten – resultierte nicht allein aus seinem Anteil am westlichen Ruhrgebiet, sondern vor allem auch aus Industrieorten Barmen und Elberfeld, die zur Mitte des 19. Jahrhunderts die rheinische Metropole Köln an Einwohnern übertrafen und zusammengenommen drittgrößte Ballung Preußens waren. Ihre Dynamik versiegte jedoch mit dem sektoralen Wandel gegenüber den diversifizierteren Gewerbestrukturen der Rheinschiene, so dass die Städte 1925 mit 405.000 Einwohnern hinter Köln (700.000) und Düsseldorf (465.000) zurückfielen. Die größte niederrheinische Ballung Mönchengladbach-Rheydt kam zur selben Zeit nur auf 194.000 Personen.544
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1925 lebte mit 12,06 Millionen Einwohnern ein knappes Drittel der 37,3 Millionen Preußen in den Westprovinzen; 7,28 waren in der Rheinprovinz, 4,78 in Westfalen und übergreifend 3,8 Millionen im Ruhrgebiet ansässig. Bereits 1910 lebten in den sechs Regierungsbezirken Aachen, Düsseldorf, Köln, Arnsberg, Minden und Münster, die später das Land Nordrhein-Westfalen bilden sollten, 85% der Bevölkerung in Orten über 2.000 Einwohnern, wobei das Rheinland voranschritt. Während Köln um 1910 517.000, Düsseldorf 358.000, Essen 294.000 und Duisburg 229.000 Einwohner aufwiesen, zählte Dortmund als größte westfälische Stadt 214.000 Ansässige. Gelsenkirchen folgte mit 169.000, Bochum mit 137.000. Die alte westfälische Metropole Münster hingegen wies gerade einmal 90.000 Bewohner auf. Vgl. Ribhegge, Preußen im Westen, S. 249f., 392. Vgl. Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.): Deutscher Planungsatlas. Bevölkerungsentwicklung 1837-1970 in den Gemeinden, Band 1: Nordrhein-Westfalen, Hannover 1978, S. 38 und passim. Aus der schneller wachsenden Städtelandschaft und der damit verbundenen Furcht vor sozialdemokratischer Vorherrschaft versprach man sich von erhöhten Auskreisungskriterien einen Ausgleich städtischer Radikalisierungen im Kreistag durch ländliche Einflüsse sowie durch erhöhte staatliche Aufsichtsrechte. Vgl. Hoebink, Die Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung in Rheinland und Westfalen, in: Andersen, Kommunale Selbstverwaltung und Kommunalpolitik in Nordrhein-Westfalen, S. 48. Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 2, S. 155. Vgl. zum Gesamtkomplex Bevölkerung Kellenbenz, Wirtschafts- und Sozialentwicklung, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 3, S. 17f., 77f., 118.
E.IV. Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung
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Auch in Westfalen zeigte sich eine deutliche Korrelation von Wirtschafts- und Bevölkerungsentwicklung; zählte die Provinz 1816 1.000.000 Einwohner, so wuchs die Bevölkerung bis 1910 auf 4.100.000 Personen an. Die stärksten Zuwachsraten erlebte mit seinem Anteil am östlichen Ruhrgebiet der Regierungsbezirk Arnsberg, während der katholische Münsteraner Bezirk mit seinem – wohl auch religiös begründeten – traditionellen Geburtenverhalten spürbare, der Mindener eher moderate Steigerungszahlen verzeichnete. Die hiesige Verstädterung blieb gegenüber dem Rheinland deutlich zurück: Vor 1910 verfügte keine westfälische Stadt – ausgenommen ist stets das Ruhrgebiet – über mehr als 100.000 Einwohner, während im Rheinland bereits sechs Großstädte diese Marke erreichten;545 die Provinzhauptstadt Münster war mit 90.000 Menschen größte Ballung, hinter der sich das industriell verdichtete Bielefeld mit 79.000 Einwohnern einreihte. Alte Landeshauptstädte wie Minden, Paderborn oder Siegen rangierten mit rund 30.000 gemeldeten Personen weit abgeschlagen.546 Die Unterscheidung von Stadt und Land war insofern von Bedeutung, als sich auf dem Land hergebrachte Lebensweisen länger konservierten. Der Rhythmus der Jahreszeiten, die höhere Sozialkontrolle und Bedeutung der Kirchen unterstützten den Erhalt traditionellerer Wertehorizonte, als dies für die vielerlei Einflüssen unterliegenden Städte galt. Während sich Denk- und Handlungshorizonte im Rheinland mit seinen fließenderen Stadt-Land-Übergängen stärker anglichen, bauten sich diese strukturellen Unterschiede in Westfalen verstärkt erst nach dem Ersten Weltkrieg ab.547 Moderne Verkehrs- und Kommunikationstechniken näherten städtische und ländliche Lebenswelten an, die mentale Urbanisierung schwächte die Bindungen an überlieferte Sinnstifter wie die Kirchen und deren verhaltenssteuerndes Organisationswesen, ohne jedoch hergebrachte Grundprägungen vollauf aufzulösen.548
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Vgl. Grafik Bevölkerungsentwicklung der nordrhein-westfälischen Großstädte des Jahres 1910, einsehbar unter http://www.nrw2000.de/gruender/bevoelkerung.htm (4.7.2010). Stiegen die Bevölkerungszahlen im Münsteraner Regierungsbezirk im selben Zeitraum von 351.000 auf 989.000 und im Mindener von 339.000 auf 736.000, explodierten die Zahlen im Arnsberger von 377.000 auf 2.334.000. Vgl. insgesamt zum Komplex Bevölkerungsentwicklung Wischermann, An der Schwelle der Industrialisierung, in: Kohl, Westfälische Geschichte 3, S. 44 sowie Teuteberg, Vom Agrar- zum Industriestaat, ebd., S. 166. Annäherungen in der Lebensweise wurden durch neue Medien wie des Radios, gestiegener Mobilität oder der stetigen Zunahme an Pendlern, die in der Stadt arbeiteten, aber auf dem Land wohnten, möglich Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866, S.176, Teuteberg, Vom Agrar- zum Industriestaat, in: Kohl, Westfälische Geschichte 3, S. 237 sowie Borscheid, Vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg, in: Ebd., S. 331f. Kleidungsstile näherten sich ab den 1920er Jahren deutlich an, man konnte „keine Bauernmagd mehr von einem Stadtmädel unterscheiden (…) obwohl viele Leute dagegen eifern und meinen, das sei gegen die Religion“. Vgl. zur Annäherung der Lebenswelten Sievers, Kai Detlef (Hrsg.): Friedenszeiten und Kriegsjahre im Spiegel zweier Lebenserinnerungen. Sophie und Fritz Wiechering berichten, Münster 1984, S. 111. Deutlich wurde die dominierende Rolle der katholischen Kirche hingegen selbst in einer Metropole wie Köln. Hier erregte ein Stück wie die Ballettpantomime Der wunderbare Mandarin von Béla Bartók am 27. November 1926 die gesellschaftlichen Gemüter, so dass Oberbürgermeister Konrad Adenauer weitere Aufführungen untersagte. Nach der Aufführung war es zu lautstarken Protesten gekommen, in der Presse galt das Werk als „Dirnenund Zuhälterstück mit Orchestertamtam", vgl. http://www.emserchronik.at/Einzelansicht.44+M529ad42ce97.0.html (20.7.2010). Auch das Kulturleben des Ruhrgebiets wirkte – aus dem pulsierenden Berlin aus gesehen – provinziell und öde; Beobachter konstatierten, der Kirche sei gelungen, Kultur, Moralauffassung und kleinbürgerliches Leben auf dem
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
E.IV.1.1. Gesellschaftliche Milieus und Selbstorganisation Das Aufbrechen der ständischen Gesellschaft in der Franzosenzeit ermöglichte dem Bürgertum – dem sich, da wirtschaftliche Selbständigkeit als Ausweis bürgerlicher Existenz galt, auch Handwerksmeister zurechneten –549 im 19. Jahrhundert seinen gesellschaftlichen Aufstieg; Werte wie Leistung, Bildung und ökonomischer Erfolg gewannen an Wertschätzung gegenüber sozialen Privilegien qua Geburt und wurden Maßstab für die soziale Stellung. Adel und Kirche pochten hingegen auf ihre hergebrachten Rechte und lehnten individuell-liberale Freiheitsrechte zugunsten ständisch-korporativer Eingliederungsvorstellungen ab, wohingegen sich in der Industrialisierung entstehende Arbeiterklasse beide Blickwinkel fanden. Diese großen Gesellschaftsgruppen schufen sich in einem zunehmend parlamentarisierten Staat ein – hier eng, dort weiter geknüpftes – Organisationsnetz, über das sie eigene Interessen vertraten. Maßgeblicher Faktor dieser gesellschaftlichen Selbstorganisation war ihre Scheidung entlang des Konfessionsfaktors: In Absetzung voneinander schufen Katholiken wie Protestanten verbandsgestützte Milieus, um in Kirchen- und Gesellschaftsfragen glaubensgestützten Einfluss auszuüben.550 Mit der industriellen Überformung der frühgewerblichen Kernregionen Rheinschiene, Aachener und Bergisches Land, Märkisches Sauerland oder Ravensberg errang das Wirtschaftsbürgertum eine herausragende Position innerhalb der Westprovinzen, denen es demgegenüber mit dem einzigen Universitätsstandort Bonn sowie nachrangiger Verwaltungsstandorte an bildungsbürgerlichen Elementen fehlte. Unternehmerischer Erfolg war Grundlage wachsenden Selbstbewusstseins, von Mitbestimmungsforderungen und dem Anspruch einer – durch das Zensuswahlrecht beförderten – gesellschaftlichen Führungsrolle, doch wurde aus seiner anfänglichen Gegnerschaft zum monarchischen Staat nach der Revolution von 1848 eine Übereinkunft aus der geteilten Sorge vor sozialistischen Umstürzen.551 Die Teilhabe an den Provinzialständen trat in den Hintergrund zugunsten der Konzentration auf das Wirtschaftsleben und die Lokalpolitik, über die das eigene Gewerbeumfeld unmittelbar beeinflusst werden konnte.552 Die Bedeutung des Adels geriet demgegenüber zunehmend in den Hintergrund; als Stand während der Franzosenzeit aufgelöst, galt sein Hauptaugenmerk nach 1815 der Restauration der angestammten Führungsposition.553 Unterstützt durch den preußischen
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Stand von 1850 zu erhalten. Vgl. Schwarz, Georg: Kohlenpott. Ein Buch von der Ruhr, Berlin 1931, S. 16. Vgl. Henning, Hannsjoachim: Handwerk und Industriegesellschaft. Zur sozialen Verflechtung westfälischer Handwerksmeister 1870-1914, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen 2, S. 177-188, hier: S. 177. In Westfalen lag der Katholikenanteil 1925 bei 49,8% gegenüber 66,8% in der Rheinprovinz. Analog hierzu waren Protestanten in Westfalen weit stärker vertreten, 47,3% bekannten sich im Vergleich zu den 30% in der Rheinprovinz zu diesem Bekenntnis. Vgl. Ribhegge, Preußen im Westen, S. 392. Vgl. Engelbrecht, Landesgeschichte, S. 300ff. Vgl. ebd., S. 253ff. In altständisch-restaurativer Absicht bildeten sich adlige Vereinigungen, um das königliche Verfassungsversprechen in ihrem Sinne einzufordern. Als Hauptinitiator versammelte Karl Freiherr vom Stein Adelsvertreter aus den ehemaligen Ländern Kleve, Jülich, Berg und Mark, um in einer Denkschrift an Staatsminister August von Hardenberg 1818 die Wiederherstellung verlorengegangener Vorrechte einzufordern. Auch nach der rechtlichen Absicherung der Standesmacht ersuchten Adelsgruppen wie die 1837 gegründete Genossenschaft des rheinischen ritterbürtigen Adels oder der westfälische Verein katholischer Edelleute von 1857 die Stärkung des Zusammenhalts, um sich in bürgerlicher Umgebung zu behaupten. Vgl. Engelbrecht, Lan-
E.IV. Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung
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Staat – er und stattete mediatisierte Fürsten mit erneuerten Vorrechten und Domänenbesitz aus, befreite den Adel von Steuerleistungen und räumte ihm begrenzte lokale Gerichtsrechte zu; Fideikommisse von 1826/36 schützten die freie Verfügung über das ungeteilte Erbe –,554 erlaubten Vermögen und Besitz dem Adel vor allem auf lokaler und regionaler Ebene die Tradierung seiner angestammten Vorrangstellung und die Geltendmachung seines Einflusses: Infolge der mit der Bauernbefreiung verbundenen Ablöseregelungen fielen ihm Land oder Geldzahlungen zu, die den Aufbau einer potenten Landwirtschaft und die Erringung von Leitungsposten in den entstehenden landwirtschaftlichen Vereinen ermöglichten.555 Insbesondere in Westfalen vermochten Adelskreise ihre hergebrachte Stellung über die Französische Revolution weitgehend zu erhalten, hier lagen – bei regionalen Unterschieden – noch immer rund 30% des Landes in Adelshand, während seine rheinischen Standesgenossen allenfalls 4-6% des Bodens besaßen.556 Dem Ziel, die eigene Vorrangstellung zu bewahren, diente – bei einem Übergewicht in Westfalen – auch die Übernahme staatlicher Verwaltungspositionen wie dem Landratsposten.557 Stärkste dieser Reliktlandschaften blieben das Münster- und Paderborner Land sowie das kölnische Sauerland.558 Im Umkehrschluss spielte die entstehende Arbeiterschaft in diesen Regionen kaum eine Rolle. Vornehmlich Städte mit protoindustriellen Grundlagen zogen Zuwanderer aus den umliegenden Regionen an und boten ihnen in den entstehenden Industriebetrieben eine Anstellung, für die sie auf soziale Sicherung, zurückgelassenen Besitz und gesellschaftliche Bindungen weitgehend verzichteten. Diese schlechten Lebensverhältnisse begünstigten zwar die Organisationsbereitschaft, ohne jedoch ein proletarisches Gesamtmilieu zu erschaffen; vielmehr blieben die unterschiedliche Herkunft sowie konfessionelle Differenzen Scheidelinien, die einem geteilten Wertehorizont und Klasseninteresse lange entgegenstanden. Trotzdessen blieb die Arbeiterklasse eine in sich gespaltene Gesellschaftsgruppe, deren Einheit allein in vergleichbaren Arbeits- und Lebensumständen wurzelte, deren Neben- und Gegen- statt Miteinander jedoch eine effektive Interessendurchsetzung hemmte.
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desgeschichte, S. 311; Lademacher, Die nördlichen Rheinlande, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 491 und passim. Vgl. auch Weitz, Reinhold K.: Der niederrheinische und westfälische Adel in der Auseinandersetzung um Verfassung und Status, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter, Bd. 1, S. 27-38. Vgl. Behr, Die Provinz Westfalen und das Land Lippe, in: Kohl, Westfälische Geschichte 2, S. 54. Vgl. auch Schütz, Rüdiger: Preußen und das französisch-napoleonische „Erbe“ in den westlichen Provinzen, in: Veltzke, Trikolore und Kaiseradler über Rhein und Weser, S. 495-520, hier: S. 505. Vgl. hierzu Reif, Heinz: Adel und landwirtschaftliches Vereinswesen im katholischen Westfalen 18191862, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 1, S. 39-60, hier: S. 44, 48f. Vgl. hierzu auch die weiteren Ausführungen. Vgl. Weitz, Reinhold K.: Der niederrheinische und westfälische Adel im ersten preußischen Verfassungskampf 1815-1823/24. Die verfassungs- und gesellschaftpolitischen Vorstellungen des Adelskreises um den Freiherrn vom Stein, Bonn 1970, S. 14f., 45. In Westfalen nahmen Adlige zur Mitte des 19. Jahrhunderts etwa ¾ der Stellen der Landratsstellen ein; im Rheinland hingegen waren nur etwa ½ der Stellen mit Adligen besetzt. Vgl. Engelbrecht, Landesgeschichte, S. 337f. Vgl. Behr, Die Provinz Westfalen und das Land Lippe, in: Kohl, Westfälische Geschichte 2, S. 66.
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
Die der wirtschaftlichen Entwicklung folgende gesellschaftliche Ausdifferenzierung war Ausgangspunkt der Bildung von Vereinen oder Verbänden, die zu wichtigen Orten von Geselligkeit wurden und das eigene Selbstverständnis in der Gemeinschaft Gleichgesinnter bestätigten; man war in ihnen nicht nur organisiert, sondern lebte in ihnen.559 Diese Milieustrukturen waren Ordnungsfaktoren eigener Art, die das Gemeinwesen auf freiwilliger Grundlage, auf der Basis geteilter Interessen und Weltbilder gliederten, Mentalitäten und Lebensführungen prägten, Halt boten und Identitäten in Abgrenzung voneinander stabilisierten; sie spiegelten gruppenbezogene politische Vorstellungen, ermöglichten die Einübung von Verantwortung in einem Teilbereich des Staatsganzen und waren soziales Pendant zur politischen Selbstverwaltung. Wirtschaftsbürgerliche Partizipationsinstitutionen existierten im Rheinland früher als in Westfalen, in dem Handelskammern seit der Franzosenzeit die staatliche Wirtschaftspolitik berieten und eingeschränkte Selbstverwaltungsrechte besaßen.560 Zunächst geduldet, führten bürgerliche Forderungen nach Erhalt der Institutionen sowie das zunehmende Interesse Preußens, diese seiner Modernisierung nutzbar zu machen, 1830 zur ersten offiziellen Neugründung einer Handelskammer für Barmen und Elberfeld sowie 1831 zur Handelskammerverordnung für das Rheinland. Auf westfälischer Seite hingegen kam es erst 1844 zur Bildung einer Handelskammer in Hagen, die 1848 durch eine gesamtprovinzielle Kammerordnung ergänzt wurde.561 Die genehmigungsbedürftigen Einrichtungen waren fortan öffentlich-rechtliche Körperschaften, die Handwerk, Handel und Gewerbe auf regionaler Ebene verbindlich zusammenschlossen; ihre Vertreter wurden von Unternehmerseite gewählt, um neben staatlich übertragenen Aufgaben – im Ausbildungswesen oder der Gutachtenerstellung für den Staat – Selbstverwaltungs- und Interessenartikulationsfunktionen wahrzunehmen. Angeleitet durch – zumeist adlig besetzte – Vorstände, ergänzten Landwirtschaftskammern seit 1894 diese städtisch-bürgerlichen Vereinigungen und vertraten in Absetzung von jenen ständisch-organische Gesellschaftskonzeptionen, die dem Selbstverständnis der überlieferten adligen Vorrangstellung entsprachen.562 Mit der Industrialisierung erwuchsen zudem provinzübergreifende Industrieverbände, die das politische Betätigungsfeld des Bürgertums erweiterten. Auf dem Land versuchten Ökonomische Sozietäten seit Ende des 18. Jahrhunderts, die landwirtschaftliche Produktion durch die Vermittlung von Anbaukenntnissen zu heben; an sie knüpften in der Preußenzeit staatlich geförderte Landwirtschaftliche Vereine an, um die Entwicklung der vornehmlich katholischen, wirtschaftlich rückständigen Regionen zu stimulieren. Ihr primäres Zielgebiet war die ländlichere Provinz Westfalen, in der sich unter Federführung des Oberpräsidenten von Vincke 1819 die Coesfelder landwirtschaftliche Lesegesellschaft gründete und Vorbild für weitere Lesevereine in den umliegenden Landkreisen wurde. Nachdem der Münstersche Verein auf Betreiben des Regierungspräsidiums seit 1842 deren Führung übernahm, wurde die Provinzhauptstadt auch Sitz des 1854 gegrün559 560 561 562
Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 1, S. 169. Vgl. Kellenbenz, Wirtschafts- und Sozialentwicklung, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 3, S. 29. Vgl. Wischermann, Schwelle der Industrialisierung, in: Kohl, Westfälische Geschichte 3, S. 145. Die Hauptversammlungen wurden von den besitzbestimmten landwirtschaftlichen Kreisversammlungen bestimmt. Erst der Fortfall des Klassenrechts ermöglichte die Ausweitung der Interessenvertretung in Weimarer Zeit. Vgl. Flemming, Jens: Landwirtschaftskammer und ländliche Organisationspolitik in der Rheinprovinz 1918-1927. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der „Grünen Front“, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 2, S. 314-352, hier: S. 317.
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deten Landwirtschaftlichen Provinzialvereins, der analog zu den lokalen Ablegern in seinen Führungspositionen adlig beherrscht war und ihn in diesem Sinne prägte.563 Zwar besaß auch die Rheinprovinz bereits seit 1833 einen Landwirtschaftlichen Verein mit ähnlichen Zielen, doch spielte dieser für die Landschaftsprägung eine vergleichsweise geringere Rolle und war eher Teil der Gewerbeentwicklung als der Adelsrestauration.564 Arbeitervereinigungen setzten sich im Zuge von Industrialisierung und sozialer Verelendung für die Rechte und Interessen des städtischen Proletariats ein und versuchten, durch den Aufbau von Hilfskassen dessen Nöte abzumildern. Die Zusammenschlüsse ermöglichten die Einübung von Solidarität und Selbsthilfe, beförderten Bildungsanstrengungen und wirkten als Kommunikationszentren an der allmählichen Politisierung mit. Ein frühes Agitationsfeld sozialistischer Vordenker wurden insbesondere die protoindustriellen rheinischen Gewerberegionen: 1848/49 versuchte ein Kölner Arbeiterkongress, die Bildung proletarischer Vereine voranzutreiben, mit der Barmer und Elberfelder Türkischrotfärber-Gesellschaft entstand 1848 eine Vorform späterer Gewerkschaften, und Ferdinand Lassalle begann im Bergischen Land in den 1850er Jahren seine politische Bildungsarbeit; ebenso entstanden hier zahlreiche Gemeinden des Bundes der Kommunisten.565 In Westfalen brauchte die Arbeiterbewegung hingegen länger, um sich zu etablieren; zwar existierte zwischen 1844 und 1848 das demokratisch-sozialistische Intellektuellenorgan Westphälisches Dampfboot, erreichte jedoch nicht die kaum vorhandene Arbeiterschaft, und erst Carl Wilhelm Tölcke – der Vorsitzende der 1868 gegründeten Allgemeinen Genossenschaft der Berg-, Hütten- und Salinenarbeiter – verbreitete in den 1860ern Lassalles Ideen im Märkischen Sauerland oder in Ravensberg.566 Das christliche Vereinswesen nahm seinen Anfang in den 1840er Jahren auf katholischer Seite: Die 1845 in Bonn begründeten Borromäusvereine förderten die Verbreitung katholischer Literatur und Bildung, die 1846 in Elberfeld durch Johann Gregor Breuer initiierten Gesellenvereine begründeten das Kolpingwerk und verbanden konkrete Hilfsdienste für bedürftige Arbeiter mit religiöser und charakterlicher Bildung, Piusvereine und ihre Mainzer Dachorganisation, der Katholische Verein Deutschlands, trachteten seit 1848 nach der Sicherung katholischer Belange.567 Ihr gemeinsamer Nenner war das Eintreten für die Rechte der Kirche und die Betonung ihrer gesellschaftsimmanenten Funktion; diese sollte moralische Grundlage zur Beantwortung tagesaktueller Fragen sein.
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1848 waren 80% der Kreisvorsitzendenposten in Adelshand, 1860 noch 65%. Vgl. Reif, Heinz: Adel und landwirtschaftliches Vereinswesen im katholischen Westfalen 1918-1862, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 1, S. 39-60, hier: S. 42. Ausweis der Gründung ist das 1934 in Bonn vom Landwirtschaftlichen Verein für Rheinpreußen herausgegebene Werk Ein Jahrhundert landwirtschaftliche Technik in der Rheinprovinz. Rückblick auf die Geschichte und Tätigkeit des landwirtschaftlichen Vereins für Rheinpreußen 1833-1933. Rheinische Vereinsgründungen wiesen in Namen und Zielsetzung oftmals die Zusammenhänge zwischen Landwirtschaft und Gewerbe auf. Verweisen sei auf den Verein für gemeinnützige Bemühungen zur Förderung der Landwirtschaft, des Gewerbefleißes, der Intelligenz und Sittlichkeit in der Eifelgegend von 1832 oder den Oberbergischen landwirtschaftlichen und industriellen Verein von 1834. Vgl. Lademacher, Die nördlichen Rheinlande, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 567f. Vgl. Behr, Die Provinz Westfalen und das Land Lippe, in: Kohl, Westfälische Geschichte 2, S. 114. Vgl. Hegel, Die katholische Kirche in den Rheinlanden in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 3, S. 358, 368f.
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In den Westprovinzen war die katholische Assoziationsbewegung für die auf Unabhängigkeit vom preußischen Staat bedachten adlig-katholischen Grundbesitzer Möglichkeit, mithilfe genossenschaftlicher Zusammenschlüsse und dem Aufbau ländlicher Spar- und Darlehenskassen Abhilfe zu schaffen gegen vermeintlichen moralischen Verfall und den Bedeutungsverlust der Landwirtschaft. Sie setzte sich für eine organische, korporativberufsständische Staats- und Gesellschaftsgliederung ein, differierte jedoch im Detail: Verfocht Peter Reichensperger die freie rheinische Agrarverfassung sowie die Veräußerlichkeit und Teilbarkeit des Grundbesitzes, hielt Burghard Freiherr von Schorlemer-Alst an der statischeren, durch ständische Traditionen und katholische Konfession gebundenen westfälischen Landwirtschaft fest.568 Diese antigouvernemental, antiliberal und antikapitalistisch ausgerichtete Selbstorganisation des westfälischen Bauerntums festigte sich ab 1862 mit dem durch Schorlemer-Alst gegründeten Steinfurter Bauernverein, der die Bildung weiterer Kreisverbände anstieß. Landschaftshistorisch bedingt, zeichneten sich diese durch die Übermacht des Adels in den Führungspositionen, die Betonung des katholischen Glaubens sowie die Ablehnung allgemeiner Demokratisierungs- zugunsten altständischtraditioneller Verfassungsbestrebungen aus.569 Der 1871 gebildete Westfälische Bauernverein wurde gemeinsames Dach, unter dem die wirtschaftliche Interessenvertretung zugunsten religiöser Bezüge an Bedeutung gewann, ohne dessen konservativ-katholische Grunddisposition grundlegend abzuschleifen; Indiz hierfür war der erst 1887 erfolgende Anschluss des Minden-Ravensberger Ablegers mitsamt seiner divergenten landschaftlichen Traditionen. Anstelle ähnlich gelagerter ideeller Motive erfolgte die Gründung des ebenfalls adlig beherrschten Rheinischen Bauernvereins 1882 mit unmittelbarer Ausrichtung auf die Vertretung ökonomischer Belange;570 der zeitliche Abstand zwischen den rheinischen und westfälischen Gründungen verwies zudem auf die unterschiedliche Stellung von Landwirtschaft und Adel in den Provinzen. Die in den 1860er Jahren aufkommenden, durch Priester oder Diakone geleiteten Arbeitervereine versuchten, die sozialpolitische Interessenvertretung des Proletariats mit religiöser Unterweisung zu verbinden, die Industriebeschäftigten von der atheistischen Sozialdemokratie fernzuhalten und das katholische Milieu auf Grundlage der katholischen Soziallehre zu festigen: Sie betonten die Sicherung der Menschenwürde und des Eigentums, subsidiäre Selbstorganisation und -hilfe, Gemeinwohl und Solidarität sowie die harmonische Sozialpartnerschaft.571 Aus der doppelten Frontstellung gegen einen Kapitalismus, der den Menschen zur Ware mache, und einen Sozialismus, der das Eigentum und die Religion nicht anerkenne, verfolgten die Arbeitervereine einen dritten Weg des Interessenaus568
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Vgl. Jürgens, Arnulf: Politischer Konservatismus im ländlichen Bereich. Das Bäuerliche Genossenschaftswesen in Westfalen und im Rheinland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 2, S. 127-147, hier: S. 129. Schorlemer-Alst betonte ein organisches Staats- und Gesellschaftswesen und sah Demokratie, Liberalismus und Kapitalismus als Hauptgegner, die ein stilisiertes bäuerliches Ideal bedrohten. Mit der Betonung von Tradition und Konfession versuchte er, das bäuerliche Lager zu einen, religiöse Normen wurden modernindividuellen Freiheiten gegenübergestellt. Vgl. die Motive, die Schorlemer-Alst der Gründung des Steinfurter Bauernvereins voranstellte, bei Stegmann, Franz Josef/Langhorst, Peter: Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Katholizismus, in: Grebing, Helga (Hrsg.): Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland, 2. Aufl., Essen 2005, S. 599-866, hier: S. 627. Vgl. Jürgens, Politischer Konservatismus im ländlichen Bereich, in: Düwell/Köllmann, RheinlandWestfalen im Industriezeitalter 2, S. 137. Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866, S. 383f.
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gleichs; da der Klassenkampf als unchristlich abgelehnt wurde, lag ihr Fokus auf sozialpolitischen Veränderungen durch Kompromiss statt durch Konfrontation.572 Neben den kirchlichen entstanden Arbeitervereine auf Betrieben des Wirtschaftsbürgertums, die – neben fürsorglichen Impulsen – dem Interesse folgten, sozialistische Arbeiterparteien abzuwehren und revolutionäre Gefahren zu bannen. Zusammenschlüsse wie der 1880 durch den Mönchengladbacher Textilfabrikanten Franz Brandts gegründete Verband katholischer Industrieller und Arbeiterfreunde (Arbeiterwohl) waren Ausweis der Bemühungen, den Arbeitern Unterstützungsleistungen zu bieten, aber auch Gottesfurcht, Sparsamkeit, Ordnungs- und Obrigkeitsdenken zu vermitteln und die gesellschaftlichen Verhältnisse zu stabilisieren. Die Einbindung in normsetzende soziale Subsysteme sollte disziplinierende Zwänge ausüben, um den Staat und das kapitalistische Wirtschaftssystem durch karitative Reformen absichern.573 1903 wurden die katholischen Arbeitervereine – die ihren Schwerpunkt in industriell überformten Gegenden des Niederrheins, des Aachener Raums sowie in Münster besaßen –574 im Westdeutschen Verband der katholischen Arbeiter-, Arbeiterinnen- und Knappenvereine zusammengefasst; auch dieser vertrat jenen harmonistischen Grundzug und erstrebte die konsensuale Einigung von Arbeitern und Unternehmern, doch erschwerte dieses Harmonieideal die Konfliktbereitschaft und begünstigte paternalistische Bevormundung: Anstatt eigenständig für Verbesserungen einzutreten, wurden Arbeiterinteressen unter kirchlicher Kontrolle vertreten und status quo-orientiert abgeschwächt. Der 1890 in Köln durch Franz Brandts und den Geistlichen Franz Hitze gegründete Volksverein für das katholische Deutschland förderte das katholische Vereinsleben maßgeblich, überwölbte das katholische Organisationswesen, organisierte Schulungen und erstrebte die Sicherung des Milieuzusammenhalts durch den Ausbau des katholischen Pressewesens.575 Der in Mönchengladbach ansässige Verein – der insbesondere Arbeiter und untere Mittelschichten durch sozialpolitisches Engagement einband –576 hatte seinen Schwerpunkt in Rheinland-Westfalen und sah ein Hauptanliegen darin, der Sozialdemokratie „mit vereinter und fest organisierter Kraft furchtlos entgegenzutreten…(um A.W.) die Gedanken und Anregungen einer christlichen Sozialreform in immer weitere Kreise zu tragen.“577 Der Ansatz, sozialpolitische Interessen innerhalb des Systems durchzusetzen, minderte revolutionäre Anliegen und versöhnte die katholische Arbeiterschaft mit dem Staat.
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Vgl. Aretz, Jürgen: Katholische Arbeiterbewegung und Nationalsozialismus. Der Verband katholischer Arbeiter- und Knappenvereine Westdeutschlands 1923-1945, Mainz 1978, S. 33 und passim. Vgl. Reulecke, Rheinland-Westfalen von den 1850er Jahren bis 1914, in: Briesen et. al., Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte, S. 109. Aretz, Jürgen: Die katholischen Arbeiter an Rhein und Ruhr im Dritten Reich: Profil und Geschichte, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 3, S. 137-147, hier: S. 137, 144. In den 1920er Jahren existierten in der Rheinprovinz etwa 100, in Westfalen knapp 60 katholische Tageszeitungen; größere Bedeutung besaß aber allein die Kölnische Volkszeitung, vgl. Morsey, Rudolf: Die Zentrumspartei in Rheinland und Westfalen, in: Först, Walter (Hrsg.): Aus Politik und Landschaft. Beiträge zur neueren Landesgeschichte des Rheinlands und Westfalens, Bd. 3, Köln/Berlin 1969, S. 1150, hier: S. 41. Die Mitgliederzahlen stiegen in Rheinland-Westfalen von 109.000 im Jahr 1891auf 625.000 im Jahr 1910. Vgl. Klein, Gotthard: Der Volksverein für das katholische Deutschland 1890-1933. Geschichte, Bedeutung, Untergang, Paderborn u.a. 1996, S. 420f. So der Gründungsaufruf vom 20.12.1890, abgedr. in Heitzer, Horstwalter: Der Volksverein für das katholische Deutschland im Kaiserreich 1890-1918, Mainz 1979, S. 307f.
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
Auch infolge pluralistischerer Binnenstrukturen war das protestantische Organisationswesen weiter geknüpft als das katholische, jedoch zugleich enger auf den Staat bezogen. Die – etwa im Evangelischen Bund zur Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen von 1886 zum Ausdruck gebrachte – größere Nähe der Amtskirche zum Preußenkönig band auch die kirchennahen Vereine und Mitglieder stärker an diesen, neben der Festigung des Glaubens und der öffentlichen Ordnung gegen religiösen und sittlichen Verfall stand das Grundinteresse, dem sich verfestigenden, romtreuen katholischen Milieu ein nationalprotestantisches entgegenzustellen.578 Innerhalb der Westprovinzen war der Mönchengladbacher Pfarrer Ludwig Weber maßgeblicher Vorreiter eines evangelisch-sozialkonservativen Vereinswesens. Aufbauend auf einem ersten Essener Zusammenschluss von 1883, war Weber Initiator weiterer Gründungen im rheinisch-westfälischen Raum, um Ultramontanismus und Sozialdemokratie mithilfe kirchlicher Integrationsmaßnahmen einzudämmen.579 Beeinflusst von den Ideen Victor Aimé Hubers und des Berliner Hofpredigers und Politikers Adolf Stoecker, setzte er sich für genossenschaftliche Selbsthilfe, betriebliche Mitbestimmung und unternehmerische Gewinnbeteiligung der Arbeiterschichten ein, um ihre Situation zu verbessern.580 Größere Bedeutung erlangten Organisationen wie der 1885 in Bochum etablierte Rheinisch-Westfälische Verband evangelischer Arbeitervereine, der unter Einfluss Hermann Wageners oder Theodor Lohmanns – Protagonisten des evangelischen Sozialkonservatismus – versuchte, die soziale Frage durch ein sozialreformerisches Königtum zu beantworten.581 Arbeiter- und Sozialinteressen sollten in Anlehnung an den Staat, im Ausgleich mit der Unternehmerschaft umgesetzt, Klassenkämpfe durch Glaubensförderung und Bildungsvermittlung überwunden werden, anstatt sie sozialdemokratisch auszufechten.582 Die christlichen Arbeitervereine beider Konfessionen stießen mit ihrer politischen Passivität in der Arbeiterschaft zunehmend auf Ablehnung; ihre sozialreformerischen Bemühungen erschienen als paternalistische Pazifizierungsinstrumente im Dienste der herrschenden Ordnung, die die Interessen der Industriebeschäftigten nur unzureichend durchsetzten und ihre Emanzipation hemmten. Als Reaktion gründete sich 1894 in Dortmund die erste christliche Gewerkschaft, der Gewerkverein christlicher Bergarbeiter, der – bei formeller Überkonfessionalität – insbesondere die katholischen Bergleute des Ruhrgebiets anzog, um ihre Belange unabhängig von der Sozialdemokratie zu vertreten; diese standen nicht mehr unter der Leitung Geistlicher, waren jedoch über personelle Doppelmitgliedschaften Teil 578
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So erfolgte die Gründung eines evangelischen Arbeitervereins in Gelsenkirchen 1882 explizit mit dem Zweck, „dem mächtigen Gegner (den Katholiken A.W.) Grenzpfähle (zu) stecken“ und „Treue zu halten gegen Kaiser und Reich.“ Vgl. hierzu den Artikel aus der Emscherzeitung vom 20. Mai 1882 sowie die Vereinsstatuten, abgedruckt bei Brakelmann, Günter: Die Anfänge der Evangelischen Arbeitervereinsbewegung in Gelsenkirchen 1882-1890, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 2, S. 40-55, hier: S. 41, 43. Vgl. Flesch, Stefan: Ludwig Weber (1846-1922). Sozialreformer, Portal Rheinische Geschichte, einsehbar unter http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/persoenlichkeiten/W/Seiten/LudwigWeber.aspx (30.6.2010). Vgl. Beckers, Lothar: Die Errichtung der dritten Pfarrstelle. Pfarrer Ludwig Weber und die evangelische Arbeiterbewegung, Evangelisches Mönchengladbach. Geschichte, einsehbar unter http://www.ekimg.de/geschichte/geschlw.htm (30.6.2010). Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 1, S. 496f. Vgl. ders., Deutsche Geschichte 1800-1866, S. 736f.
E.IV. Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung
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des kirchlich-katholischen Milieus. Protestanten wendeten sich zwar ebenfalls den auf weitere Sektoren ausgeweiteten christlichen Gewerkschaften zu, doch blieben diese vornehmlich katholisch bestimmt.583 Da der konfessionell-kirchliche Sperrfaktor über die Klassenlage dominierte, standen die christlichen Gewerkschaften – deren Organisationsschwerpunkt in den preußischen Westprovinzen lag –584 bei der Organisation der Arbeiterschaft fortan an erster Stelle.585 Geprägt durch die katholische Soziallehre und in dem Bewusstsein, Teil der Gesellschaft zu sein, diese verändern, aber nicht revolutionieren zu wollen, war aber auch ihre Agitation vergleichsweise gemäßigt. Die christlichen Gewerkschaften orientierten sich am sozialpartnerschaftlichen Ausgleich innerhalb des Systems, anstatt dieses revolutionär umzustürzen; der Staat sollte aus einem ständischharmonischen Weltverständnis heraus im Interesse der Arbeiter verändert werden, aber als Garant der weltlichen Ordnung bestehen bleiben. Da sie schrankenlose Kapitalisierung und Proletarisierung ablehnten, aber dem Eigentum und der Arbeit eine christliche Rechtfertigung gaben, wurden die christlichen Gewerkschaften in der Folge die bevorzugten Ansprechpartner für Arbeitgeber und Politik.586 Ihre Organisationsstärke erklärte mitsamt ihres reformistisch-harmonistischen Wirkens die relative soziale Ruhe und Abwesenheit von Arbeitskonflikten, die Rheinland-Westfalen trotz des formell hohen – und potentiell sozialistisch-radikalen – Arbeiteranteils an der Bevölkerung bis zum Ersten Weltkrieg auszeichneten.587
E.IV.2. Lippe „Die lippische Wirtschafts- und Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts ist die Geschichte einer Verspätung.“588 Geographische Abgeschiedenheit und mangelhafte Verkehrsanbindung, ständische Besitzverhältnisse und die Dominanz der Landwirtschaft verzögerten die sozioökonomische Modernisierung Lippes und begründeten seinen Entwicklungsrückstand gegenüber den Westprovinzen; hergebrachte Arbeits- und Lebensmuster wirkten nicht nur 583
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Vgl. Aretz, Jürgen: Katholische Arbeiterbewegung und christliche Gewerkschaften. Zur Geschichte der christlich-sozialen Bewegung, in: Rauscher, Anton (Hrsg.): Der soziale und politische Katholizismus. Entwicklungslinien in Deutschland 1803-1963, 2 Bde., Bd. 2, München/Wien 1982, S. 159–214, hier: S. 172. 1903 stellten die rheinisch-westfälischen Verbände 77% der gesamtdeutschen Mitglieder. Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 2, S. 328. Nach der Jahrhundertwende gehörten knapp 33% der Gewerkschaftsmitglieder der Rheinprovinz und fast 45% der westfälischen Gewerkschafter christlichen Verbänden an. Vgl. Henning, Hansjoachim: Die Gewerkschaften am Niederrhein vor dem Ersten Weltkrieg. Richtungsgewerkschaften im ländlichen Raum, in: Geuenich, Dieter (Hrsg): Der Kulturraum Niederrhein, 2 Bde., Bd. 2: Im 19. und 20. Jahrhundert, Bottrop/Essen 1997, S. 103-122, hier: S. 105. Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 2, S. 327f., 462. 1925 waren 77,2% der rheinischen Erwerbsbevölkerung in Bergbau, Industrie und Handwerk beschäftigt, während ¼ der westfälischen Gesamtbevölkerung in Industrie und Handwerk beschäftigt waren. Vgl. Lademacher, Die nördlichen Rheinlande, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 718 sowie Borscheid, Vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg, in: Kohl, Westfälische Geschichte 3, S. 333, 395. Steinbach, Der Eintritt Lippes in das Industriezeitalter, S. 381. Das an dieser Stelle häufig herangezogene Werk Steinbachs ist eine unersetzliche Quelle für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung Lippes im 19. und 20. Jahrhundert; die Gefahr der Einseitigkeit oder Unausgewogenheit erscheit ob der inneren Vielfalt und Vielseitigkeit des Werks begrenzt.
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
faktisch, sondern auch rechtlich länger fort und wiesen eher in die Zeit vor 1789 als in das 19. Jahrhundert. Das Herrscherhaus blieb bis 1919 größter Grundbesitzer und entzog weite Landesteile der Bewirtschaftung,589 Zünfte und Großbauern behinderten bis zur Einführung des Dreiklassenwahlrechts 1876 und dem Anwachsen bürgerlicher Abgeordneter Reformen, die ihren Status gefährdet hätten, wie auch die innovationshemmende fürstliche Wirtschaftspolitik einem breiten ökonomischen Aufschwung im Wege stand;590 nahezu jede Gewerbeausübung bedurfte staatlicher, stetig zu erneuernder Konzessionierung, die Erweiterung bestehender Unternehmen und Rationalisierungsinvestitionen wurden durch erhöhte Steuerforderungen eingedämmt.591 Gewerbe- und Zunftfreiheit traten in Lippe-Detmold erst 1869 – etwa 60 Jahre später als im rheinisch-westfälischen Umland – nach dem Beitritt zum Norddeutschen Bund in Kraft; im selben Jahr fiel auch erst das seit 1470 wiederholt bestätigte – bereits besprochene – 70-jährige Privileg. Mitursächlicher Ausgangspunkt und zugleich Folge der lippischen Verspätung, des stockenden Handels wie der schwachen Gewerbeproduktion, war die nur zögerliche Einbindung des Fürstentums in das überregionale Verkehrsnetz: Die Aufwertung des 1711 angelegten Weserhafens Erder scheiterte an preußischen Wirtschaftsinteressen,592 LippeDetmold blieb bis 1842 außerhalb des 1834 gegründeten Deutschen Zollvereins. Schwaches Exportangebot und Kapitalarmut bedingten sich gegenseitig und bremsten mitsamt der geographisch abgeschnittenen Lage den Infrastrukturausbau, der vor dem Ersten Weltkrieg zu den dünnsten im Deutschen Reich zählte;593 erst der Stichbahnanschluss Detmolds an Herford 1880 verband die lippischen Wirtschaftszentren mit Ravensberg und erlaubte die Verbesserung der Austauschbedingungen. Um die sozioökonomischen Verhältnisse dennoch zu heben, bereicherten seit dem späten 18. Jahrhundert Handarbeitsund Industrieunterricht die Lehrpläne, um Fleiß, Arbeitswille und Sparsamkeit im Volk zu verbreiten,594 und auch die Gymnasien in Detmold und Lemgo betonten gegenüber ihrem neuhumanistischen preußischen Vorbild die Rolle der anwendungsorientierten Naturwissenschaften stärker,595 bis auch sie sie nach der 1848er-Revolution zugunsten religiöser 589
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Große Teile des lippischen Waldes waren selbst nach dem Beitritt Lippes zum Norddeutschen Bund und dem infolge des Beitrittsvertrages geschlossenen Domanialabkommens der Bewirtschaftung entzogen. Nur knapp 35% Waldflächen konnten allgemein genutzt werden, um der zuvor fürstlich protegierten Holzbewirtschaftung einen industriellen Charakter zu verleihen. Vgl. Steinbach, Der Eintritt Lippes in das Industriezeitalter, S. 46f. Ressourcen und Maschinen wurden steuerlich belastet, um die klammen Kassen durch Ausweitung der steuerlichen Basis zu sanieren, behinderten aber die allgemeine Modernisierung des Wirtschaftslebens. Auch verfügte die Rentkammer, dem Fürsten stünde die Verfügungsgewalt über die zum Maschinenbetrieb nötigen Gewässer und Lüfte zu. Vgl. Tiemann, Richard: Das lippische Gewerbe im Lichte der Gewerbepolitik des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur lippischen Wirtschaftspolitik, Detmold 1929, S. 44ff. Vgl. Kittel, Heimatchronik, S. 422f. Der lippische Hafen Erder stand in Konkurrenz zum preußischen Vlotho; Preußen versagt Lippe den angedachten Ausbau und Anschluss von Straßen und Chausseen an Paderborn und richtete im Grenzort Lippspringe nur eine Grenzstation 2. Ranges ein, die Frachtverkehr nicht abfertigte. Ausfuhr und Verkehrsströmen waren somit enge Grenzen gesetzt. Vgl. Niebuhr, Lippische Außenpolitik, in: Kontinuität und Umbruch, S. 63. Vgl. Steinbach, Der Eintritt Lippes in das Industriezeitalter, S. 98. Vgl. Wehrmann, Die Aufklärung in Lippe, S. 323ff. Das Detmolder Gymnasium richtete bereits 1841 Realklassen ein; es war Gelehrten- wie Bürgerschule zugleich, die in den höheren Klassen nach Berufsziel differenzierte. Vgl. Saal, Das Schul- und Bildungswesen, in: Kohl, Westfälische Geschichte 3, S. 573.
E.IV. Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung
145
Unterrichtselemente zurückgedrängt wurden.596 Der wirtschaftlichen Unterentwicklung folgte die weitverbreitete Wanderarbeit, der lippische Ziegler wurde Synonym einer fleißigen und sparsamen Arbeitskraft, die sich im Ausland verdingte und nur in den Wintermonaten in der Heimat weilte. Für das Fürstentum bedeutete der Rückfluss der andernorts verdienten Gelder einen Zuwachs an Kaufkraft – das Sparvermögen lag in Lippe deutlich höher als in Preußen –, einen Beitrag zur Gesundung der Staatsfinanzen und die Entlastung von sozialen Nöten.597 Obwohl weite Landesteile und die hochwertigsten Böden in den Händen des Herrscherhauses und des Landadels lagen, blieb die Landwirtschaft bis 1945 wichtigster Erwerbszweig.598 Die in Lippe aufgrund der Realteilungspraxis vorherrschenden Kleinsthöfe boten zahlreichen Menschen ein Auskommen, doch stand der gleichsam entstehende zersplitterte Besitz ihrer ertragssteigernden Rationalisierung im Wege.599 Im Gewerbebereich waren zunächst die im Alten Reich entstandenen heimgewerblichen, dem ausländischen Konkurrenzdruck zunehmend nicht gewachsenen Leinenproduktionsstätten mitsamt der in Fürstenhand befindlichen Holz- und Forstwirtschaft die wichtigsten Wirtschaftszweige, deren Erzeugnisse – ebenso wie die in Salinen und Ziegeleien verarbeiteten Ressourcen Salz und Ton – vor allem als Exportwaren dienten.600 Industriell überformt wurde vornehmlich das Gebiet zwischen Werre und Bega, wobei insbesondere die 1850 in dem 1914 zum Kurort erhobenen Salzuflen gegründete Stärkefabrik Heinrich Salomon Hoffmanns den Anstoß für die Entstehung komplementärer, konzerneigener Elektrizitäts-, Papp- und Druckereigewerbe gab: Allein die Stärkefabrik beschäftigte um 1880 20%, mitsamt anhängiger Betriebe etwa 40% der gesamten lippischen Arbeiterschaft.601 Detmolder
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Angestrebt wurde der „organisatorische, geschichtliche Anschluss an die früheren, bereits vorhandenen Vorschriften, damit unsere Schulen nach ihrer Bestimmung ‚als Pflanzgarten der Kirche Gottes und gemeinen christlichen Weltregiments’ durchaus wohl bestellt und dem weiteren segensreichen Gedeihen für beide entgegengeführt werden.“ Wehrmann, Die Aufklärung in Lippe, S. 418. So lag das Pro-Kopf-Guthaben in Lippe 1910 bei 1000 Reichsmark (RM), während es in Preußen 267 RM betrug. Vgl. Hoffmann, Walter G.: Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1965, S. 436. Waren im Rheinland in den Jahren 1907, 1925 und 1933 17, 11 und 15%, in Westfalen 25, 20 und 25% aller Erwerbstätigen in der Landwirtschaft beschäftigt, wies Lippe in den Jahren einen Anteil von 48, 35 und 36% auf. Während in Westfalen der Mindener Bezirk am Ehesten mit Lippe gleichauf lag (41,34, 36%), ähnelte im Rheinland der Aachener Regierungsbezirk am stärksten den lippischen Zahlen (31, 24, 28%). Vgl. die Tabelle zu den hauptberuflich Erwerbstätigen nach Wirtschaftsbereichen für Rheinland, Westfalen und Lippe bei Schulz, Günther: Gesellschaftliche Veränderungen in Rheinland-Westfalen zur Zeit der Weimarer Republik, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 3, S. 35-50, hier: S. 41. Vgl. Kittel, Heimatchronik, S. 209. Vgl. Schäfer, Ingrid: Die Einführung der wissenschaftlichen Forstwirtschaft in Lippe. Ein Beitrag zur anthropogenen Umweltforschung und Alltagsgeschichte, in: Kontinuität und Umbruch, S. 107-128, hier: S. 120ff. Das Textilgewerbe war aufgrund kleinbetrieblicher Strukturen dem ausländischem Konkurrenzdruck nicht gewachsen; das Festhalten an zunftbestimmter Qualitätsorientierung und handarbeitlichen Produktionsformen verringerte im Zusammenspiel mit geringen staatlichen Förderleistungen die Wettbewerbsfähigkeit und machte vielerorts eine Umorientierung auf die Tabakverarbeitung notwendig. Vgl. auch Steinbach, Der Eintritt Lippes in das Industriezeitalter, S. 63f Waren um 1900 etwa 1100 Personen in Hoffmanns Stärkefabrik angestellt, gab es in Lippe insgesamt nur 5005 Arbeiter. Noch 1907 ging die vorherrschende Betriebsgröße in Lippe nicht über 3 Beschäftigte hinaus; bei 9689 Gesamtbetrieben gehörten 3662 dieser Gruppe an. Vgl. ebd., S. 102, 106, 111f., 117ff.
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
Holzbetriebe wurden ergänzt durch Lemgoer Meerschaumpfeifenfabrikationsstätten sowie die die auf Bielefeld ausgerichteten Webereien Oerlinghausens. E.IV.2.1. Gesellschaftliche Milieus und Selbstorganisation Weit stärker als die Westprovinzen blieb Lippe eine ständisch-agrarische Gesellschaft, Landleben und Adelsmacht blieben stetiger Erfahrungshorizont, dem sich nur die Wanderarbeiter entziehen konnten. Erst mit dem Fall der Gewerbeschranken und dem Anschluss Lippes an das überregionale Eisenbahnnetz löste sich diese relative Statik auf, führte zu einem Bevölkerungsanstieg und einer allmählichen Klassenbildung.602 Auch im Fürstentum korrelierten Wirtschafts- und Bevölkerungsverhältnisse: Vor allem der lippische Nordwesten schritt ökonomisch voran und verzeichnete zwischen Salzuflen, Oerlinghausen, Detmold und Lemgo die größten Zuwächse, ohne jedoch den Verstädterungsgrad maßgeblich nach oben zu treiben; noch 1910 wurden 70% der Einwohner der Landbevölkerung zugerechnet, Detmold war mit rund 15.000 Einwohnern die größte Stadt.603 Lippe-Detmold blieb ein eigener Kosmos, der hergebrachte Denk- und Verhaltensweisen ungebrochener tradierte und aufgrund seiner verspäteten sozioökonomischen Ausdifferenzierung deutlich homogener als die in festere Milieus gespaltenen Westprovinzen blieb. Die wichtigste Gesellschaftsgruppe blieb bis zur Abdankung des Fürstenhauses der landsässige Adel, der überlieferte Privilegien weit weniger gegen ein aufstrebendes Wirtschaftsbürgertum verteidigen musste als seine rheinisch-westfälischen Standesgenossen. Die Auflösung des Lehnswesens zog sich hier bis in das 20. Jahrhundert hinein604 und erlaubte einer Bevölkerungsgruppe, die kaum mehr als 2% der Einwohner ausmachte – und dennoch bis 1876 ein Drittel, fortan ein Viertel der Landtagssitze besetzte – ihren Einfluss überproportional geltend zu machen.605 Eng verbunden mit dem Adel war die rechtlich 1808, faktisch 1838 mit der Verordnung, die Ablösung der Dienste, Zehnten, Korn- und Viehabgaben betreffend von der Leibeigenschaft befreite Landbevölkerung, die noch 1914 70% der Einwohner Lippes ausmachte. Ihre Lebenshorizonte blieben traditioneller bestimmt, hier hatten keine Betriebe das abseits der Stadtgrenzen liegende Umland gewerblich überformt und war die Bauernschaft nicht in urbane Ballungen integriert, die Modernisierungsimpulse ausstrahlten. Infolge der geringen Verstädterung und der ökonomischen Rückständigkeit spielten Bürgertum und Arbeiter eine vergleichsweise geringe Rolle in Lippe. Ein gebildetes Beamtentum sammelten sich in erster Linie in der Residenzstadt Detmold und war – trotz durchaus vorhandenem liberalen Gedankentums –606 dem Fürstenhaus verbunden, während die im lippischen Nordwesten konzentrierten selbständigen Wirtschaftsbürger kaum das Gewicht derer der Westprovinzen besaßen; stattdessen bestimmten kleinbürgerliche, lokal verwurzelte Handwerker oder Krämer die Stadtbilder. Auch eine erkennbare Arbei602 603 604
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Die Bevölkerung wuchs zwischen 1816 und 1910 von 69.000 auf knapp 150.000. Vgl. ebd., S. 170. Vgl. Steinbach, Der Eintritt Lippes in das Industriezeitalter, S. 184. 1847 begann – bei Ausschluss der landtagsfähigen Rittergüter – die Allodifikation, die Überführung von Lehen in Privateigentum; völlig bereinigt wurden diese Strukturen allerdings erst durch verschiedene Gesetze 1919/22. Vgl. Kittel, Heimatchronik, S. 210. So gab es 1865 bei einer Gesamtbevölkerung von 111.336 Personen nur 28 landtagsfähige Güter. Vgl. Steinbach, Der Eintritt Lippes in das Industriezeitalter, S. 170, 204. Vgl. Behr, Die Provinz Westfalen und das Land Lippe, in: Westfälische Geschichte 2, S. 117.
E.IV. Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung
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terschicht bildete sich demzufolge erst seit der Wende zum 20. Jahrhundert. Zwar waren soziale Nöte stark verbreitet, doch verlangsamten der im Nebenerwerb genutzte Landbesitz, die Wanderarbeit und die schwachen Industriestrukturen die Entstehung eines Proletariats. Ihre wichtigste Teilgruppe waren die Ziegler, von denen sich im Jahr 1900 14.000 im Ausland verdingten, während im restlichen Fürstentum nur 5.000 Personen als Arbeiter beschäftigt waren.607 In der reformierten Einheitslandschaft Lippes war die konfessions-, nicht aber die kirchengebundene Komponente von untergeordneter Bedeutung für die Entstehung des gesellschaftlichen Organisationswesens; die Lippische Landeskirche war als einzige gesellschaftsübergreifende Institution vielmehr maßgeblich an diesem beteiligt. Es bildete sich zunächst dort heraus, wo es im staatlichen Interesse lag, die durch Lehrer und Pastoren – und somit Staatsbedienstete – lancierten Geselligkeitsangebote verfolgten primär das Ziel der Glaubensfestigung und der Wahrung der sittlichen Zustände, um über die religiöse Gesinnung die fürstliche Herrschaft abzusichern.608 Prägnantestes Beispiel hierfür war der 1875 gebildete Lippische Zieglerverein. Auch aus der Furcht um den Import sozialistischen Gedankenguts bemühten sich Pfarrer wie der die Saisonkräfte begleitende Alexander Zeist um den Aufbau genossenschaftlicher Verbindungen unter den Wanderarbeitern in der industrialisierten Ferne, um sie innerhalb eines christlich-konservativen Rahmens von sozialistischen Einflüssen und der atheistischen SPD fernzuhalten. Zudem ersuchte der Zieglerverein die Linderung sozialpolitischer Nöte auf legalem Wege, innerhalb des Staates und – Arbeitgebervertreter waren im Vorstand des Vereins vertreten – einvernehmlich, anstatt sozialdemokratische Konfliktmuster zu übernehmen.609 Aus dem Verein ging 1896 der Gewerkverein der Ziegler in Lippe hervor, der 1906 seinen organisatorischen Höhepunkt mit 4.000 Mitgliedern erlebte. Ähnlich eng mit der Obrigkeit verbunden war der 1844 nach preußischem Vorbild gebildete Landwirtschaftliche Hauptverein, hinter dem Grundbesitzer und Beamte standen und versuchten, die Agrarproduktion durch Wissensvermittlung und moderne Anbaumethoden zu heben. Hohe Mitgliedsbeiträge machten ihn zu einer Interessenvertretung vermögender, zumeist ritterlicher Großbauern, die auch im Vorstand überproportional vertreten waren und – in geteilten traditionalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsvorstellungen – mit dem Thron verbunden waren;610 das 1868 durch Leopold III. ausgesprochene Protektorat über den Hauptverein symbolisierte und betonte dieses Bündnis. Durch die Nähe zu Staat und Verwaltung erreichte die Organisation die vorrangige Berücksichtigung eigener Positionen und vermochte die Lage der Bauern durch das Einwerben von Fördergeldern durchaus zu verbessern; nach innen nährte der Hauptverein hierüber den adlig-großbäuerlichen Zusammenhalt und die Ausbildung eines ständi607 608 609
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Vgl. International Institute of Social History: Die lippischen Ziegler, einsehbar unter http://www.iisg.nl/migration/ziegler/geschichte.php (6.7.2011). Vgl. Steinbach, Der Eintritt Lippes in das Industriezeitalter, S. 240. Die Vertretung der Arbeitgeber im Vorstand des Vereins sollte die Interessenharmonie von Kapital und Arbeit zum Ausdruck kommen. 1898 berichtete der Vorstand, dass „das Verhältnis zwischen den Arbeitgebern und Arbeitnehmern, welches in Deutschland in Folge der Klassenhetze der Socialdemokratie ein so ungesundes geworden ist, (im Gewerkverein A.W.) ein gutes und auf Anerkennung der gegenseitigen Interessen beruhendes ist“, vgl. Archiv des ehemaligen Gewerkvereins der Ziegler Lage: Vereinsbericht des Gewerkvereins der Ziegler in Lippe über das Jahr 1898, zitiert nach ebd., S. 355f. Vgl. ebd., Steinbach, Der Eintritt Lippes in das Industriezeitalter, S. 321.
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
schen, staatsgerichteten Eigenbewusstseins.611 Dritte in enger Beziehung zu Fürstenhaus und Staat stehende Gruppe waren die Kriegervereine; in ihren Statuten auf Treue zum Fürstenhaus und patriotische Gesinnung festgelegt, waren in ihnen vornehmlich gesellschaftliche Eliten und Multiplikatoren vereint, die die Landschaft national-konservativ überformten.612 Das vornehmlich im lippischen Nordwesten ansässige Wirtschaftsbürgertum brauchte vergleichweise lang, um sich und seine Interessen zu organisieren. Initiator wurde der 1878 in Detmold gegründete Handels- und Gewerbeverein, der sich 1899 für weitere Städte öffnete und im folgenden Jahr die hoheitliche Anerkennung als offizieller lippischer Wirtschaftsverband erreichte. Er diente fortan der Fortbildung seiner Mitglieder sowie der Teilhabe an der Willensbildung von Regierung und Verwaltung und ging 1904 in der lippischen Handelskammer auf, in der finanzstarke Unternehmen aufgrund des nach Steuerklassen differenzierten Wahlsystems überproportional vertreten waren. Da die institutionalisierte Mitarbeit in den Augen der Mitglieder weitgehend positiv bewertet wurde – die Hauptforderung des Infrastrukturausbaus wurde seit den 1890er Jahren sukzessive erfüllt – unterblieben Konkurrenzgründungen, die die staatliche Einhegungsstrategie relativiert hätten.613 Einzig in der entstehenden Arbeiterschicht gelang es dem Staat zunehmend weniger, Zusammenschlüsse selbst zu fördern und hierüber Konflikte präventiv zu verhindern. Wachsende Pendelbeziehungen in das industrialisierte, von sozialdemokratischer Agitation berührte Ravensberg enthoben die lippischen Wanderarbeiter staatlicher Kontrolle und trugen zur allmählichen Ablehnung der quietistisch-harmonistischen Konzepte des obrigkeitsnah-kirchlichen Gewerkvereins bei.614
E.V. Ruhrgebiet Mit dem Ruhrgebiet schob sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine montanindustriell verwobene Wirtschaftsregion über die rheinisch-westfälische Provinzgrenze, die aufgrund ihrer spezifischen Genese zum vierten großen Teilraum des historischen NordrheinWestfalens wurde, jedoch in ihrem Inneren zerklüftet blieb. Bereits landschaftshistorisch ging geographische nicht mit kultureller Nähe einher, während Industrialisierung und Zuwanderung bereits bestehende Strukturgegensätze noch erweiterten; disparate Erinnerungsschätze und Erfahrungshorizonte wurden allenfalls überformt, nicht aber vollauf überlagert, so dass die im Alten Reich angelegte Polyzentralität des Raumes in der Preußenzeit keineswegs an Relevanz verlor.
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Bereits bei der Gründung des Hauptvereins vertrat der Hauptinitiator, Kanzleirat Friedrich Leopold Petri, die Auffassung, „die Lehre vom Staate und seinen Einrichtungen, von seiner Verfassung und seiner Verwaltung, ist unzertrennlich von der Lehre dessen, was der Landwirtschaft frommt.“ Vgl. ebd., S. 323ff., 326f. 1910 waren von 149.458 Lipper zwar nur 9.812 in einem Kriegerverein Mitglied, doch stellten sie etwa 1/3 der Wahlberechtigten des Fürstentums. Vgl. ebd., S 170, 255ff. Vgl. ebd., S.328 und passim. Abspaltungen wie der 1913 gegründete Gewerkverein der Ziegler manifestierten die Abwendung von christlich-obrigkeitsnahen Organisationen. Vgl. ebd., S. 372.
E.V. Ruhrgebiet
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Bestimmten bis in die 1840er Jahre unverbundene Kleinstädte und Dörfer das Bild des späteren Ruhrgebiets, wurden diese seither Teil einer wirtschaftsinduzierten Ballungsregion;615 Voraussetzung der Raumbildung, der montangewerblichen Erschließung und Überwölbung der Ortschaften zwischen Ruhr und Emscher, war der in preußischer Zeit forcierte Ausbau der Verkehrsinfrastruktur. Trassenverlauf und Haltestellen der KölnMindener- wie der Bergisch-Märkischen Eisenbahn-Gesellschaft beförderten die Ansiedlung nun belieferbarer Großbetriebe, an deren wirtschaftlichen Notwendigkeiten sich seinerseits der Städtebau orientierte.616 Montanindustrie und Eisenbahn gingen ein Komplementärverhältnis ein und waren in ihrem Ausbau wechselseitig aufeinander angewiesen; Kohleabbaustätten, Hüttenwerke und Streckennetze formten die Umrisse des mit dem Zuzug auswärtiger Arbeitskräfte anwachsenden größten europäischen Industriegebiets. Rechtlich zumeist Dörfer, wuchsen die Orte zu Großstädten heran, proletarische ergänzten kleinbürgerlich-bäuerliche Lebensformen und formten ein einzigartiges Faktorengeflecht, das das Ruhrgebiet aus seinem rheinisch-westfälischen Umfeld heraushob. Da das entstehende Ruhrgebiet auf die Regierungsbezirke Arnsberg, Düsseldorf und Münster, die Rheinprovinz und Westfalen aufgeteilt war, behinderte der preußische Staat den Raumwerdungsprozess eher, als ihn zu befördern; eine überörtliche Planung wurde durch die zersplitterte Gebietshoheit ebenso erschwert wie durch die unterschiedlichen Rechtsordnungen entlang der Provinzgrenze. Die Schaffung eines Ruhrbezirks wurde mit dem Hinweis abgelehnt, den proletarisch-industriellen Städten innerhalb des bestehenden Systems einen ländlich-agrarischen Ausgleichsraum hinzuzugesellen, um ihre Lebensfähigkeit zu erhalten, doch stand hierbei freilich die Verhinderung einer sozialdemokratischradikalen Problemregion im Vordergrund.617 Die Aufteilung auf drei Regierungsbezirke versprach drei staatliche Aufsichtsorgane, wie auch die zögerliche Verleihung der Stadtrechte – die erweiterte Selbstverwaltungskompetenzen bedeuteten – an die Industriedörfer derselben Furcht folgte.618 Administrativ umschlossen wurde der Raum deshalb erstmals von der 1904 gegründeten Emschergenossenschaft und dem Ruhrverband von 1913, die den Anliegern die Zuständigkeit für die Regulierung beider Flüsse und die Anlage eines Kanalisationssystems übertrugen, sowie mit dem 1920 gebildeten Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk (SVR). Aus der Einsicht in das weitgehend ungesteuerte Wachstum des Ruhrgebiets sprachen sich Reichsregierung, preußischer Landtag und Ruhrgebietsstädte für die Schaffung des in Essen angesiedelten, mit gemeinsamem Direktor, einer Vertreterversammlung sowie einem anhängenden Behördenapparat ausgestatteten Zweckverbands aus, der die überörtliche Gebiets- und Bebauungsplanung übernahm, ohne jedoch die Entscheidungsgewalt eines Regierungspräsidiums zu besitzen. Die innere Zusammenarbeit des SVRs war 615
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Selbst die ehemalige Reichsstadt Dortmund wies im Jahre 1843 nur 7.620 Einwohner auf, wuchs aber durch den Zustrom auswärtiger Arbeitskräfte bis 1905 auf 172.873 Ansässige an. Vgl. Köllmann, Wolfgang: Die Bevölkerung Dortmunds im 19. Jahrhundert, in: Luntowski, Gustav (Hrsg.): Dortmund. 1100 Jahre Stadtgeschichte, Dortmund 1982, S. 231-248, hier: S. 233. Vgl. Kellenbenz, Wirtschafts- und Sozialentwicklung, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 3, S. 81f. Küster, Thomas: Das Ruhrgebiet in staatlicher Perspektive 1870-1930, in: Ditt/Tenfelde, Das Ruhrgebiet in Rheinland und Westfalen, S. 127-162, hier: S. 142. Vgl. Alemann/Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, S. 48. Dabei hatte die Entstaatlichung des Ruhrgebiets bereist 1886/87 eingesetzt: Die in Rheinland-Westfalen geltenden Auskreisungsgrenzen von 30.000 bzw. 40.000 Einwohnern ermöglichte zahlreichen Kommunen die Erlangung der Kreisfreiheit und nahm ihnen den staatlich eingesetzten Landrat als Aufsichtsbehörde.
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
durch das Konkurrenzdenken der von den Bergwerksgesellschaften abhängigen Kommunen wie auch deren Grundbesitz erschwert, die einer hoheitlichen Raumplanung Grenzen setzten.619
E.V.1. Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung Aus dem zersplitterten Grenzgebiet des Alten Reichs ragten dort angelegte unterschiedliche Vorbedingungen in die Preußenzeit hinein: Während Kohleabbau und Eisenverarbeitung entlang der Ruhr eine lange Tradition besaßen, blieb das Emschergebiet zunächst landwirtschaftlich bestimmt; waren Duisburg oder Dortmund alte Handelsstädte, verharrte etwa Herne bis zur ersten Zechenabteufung 1872 in dörflichen Verhältnissen. Erst die Wanderung des Bergbaus von den knapp unterhalb der Erdoberfläche lagernden Abbaustätten südlich der Ruhr hin zu den in bis zu 1.000 Metern Tiefe liegenden Steinkohleschichten nördlich der Emscher initiierte die montanindustriell-monokulturelle Aus- und Überformung des Ruhrgebiets. Nach 1815 galten auf dem Gebiet des Ruhrgebiets zunächst die hergebrachten Bergordnungen weiter: Kannten die kurkölnische von 1669 oder die jülich-bergische von 1719 einzig hoheitliche Aufsichtsrechte, zeichnete sich die kleve-märkische von 1766 durch eine staatlich-dirigistische Bergbaulenkung mit obrigkeitlichem Direktionsprinzip aus. Insbesondere das preußische Bergrecht hemmte unabhängige Unternehmerinitiative, bis die privatwirtschaftliche Verantwortung seit den 1850er Jahren schrittweise gestärkt, die Bergbaubestimmungen vereinheitlicht und der Staat auf eine Inspektorenrolle zurückgeführt wurde;620 parallel hierzu wuchsen die Produktionsziffern: Wurden im Ruhrgebiet 1816 erst 500.000 t und 1850 1.500.000 t Steinkohle gefördert, so stiegen die Zahlen bis 1913 auf etwa 114.000.000 t an.621 Hatte der preußische Staat mit der Einführung der ersten Dampfmaschine 1801 auf der Bochumer Zeche Vollmond einen wichtigen Impuls zur Entwicklung des Bergbaus gegeben – sie erlaubte das Abteufen, die Erschließung tiefer Gesteinsschichten durch das Abpumpen des Grundwassers aus den Schächten –, wurden Privatunternehmer zunehmend wirtschaftliche Schrittmacher; Friedrich Harkort nahm auf Burg Wetter ab 1819 die fabrikmäßige Dampfmaschinenproduktion auf und verlieh der Stahlproduktion mit der Einführung des Puddelverfahrens 1826 wichtige Anstöße, die mit dem 1849 durch Julius Römheld auf der Mülheimer Friedrich Wilhelms-Hütte eingeführten ersten Kokshochofen ihren Durchbruch schaffte. Voraussetzung hierfür war wiederum 619
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Vgl. Ditt, Karl: Die Entwicklung des Raumbewusstseins in Rheinland und Westfalen, im Ruhrgebiet und in Nordrhein-Westfalen während des 19. und 20. Jahrhunderts: Charakteristika und Konkurrenzen, in: ders./Tenfelde, Das Ruhrgebiet in Rheinland und Westfalen, S. 405-476, hier: S.440. Das Miteigentümergesetz erlaubte den Bergwerkbesitzern seit 1851 die selbständige Betriebsleitung und Preisfestsetzung, das Freizügigkeitsgesetz führte freie Arbeitsverträge ein und beschnitt die den Bergleuten zuvor eingeräumten Privilegien und Schutzbestimmungen; mitsamt anderer Liberalisierungen beschränkte das Allgemeine Berggesetz für die Preußischen Staaten von 1865 den Staat endgültig auf eine Inspektorenrolle. Vgl. Krampe, Hans-Dieter: Der Staatseinfluss auf den Ruhrkohlenbergbau in der Zeit von 1800-1865, Köln 1961, S. 15ff., 30. Vgl. Holtfrerich, Carl-Ludwig: Quantitative Wirtschaftsgeschichte des Ruhrkohlenbergbaus im 19. Jahrhunderts, Dortmund 1973, S. 19.
E.V. Ruhrgebiet
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die durch die Dampfmaschinen ermöglichte Durchstoßung der Mergeldecke, die 1834 auf der Hanielschen Zeche Franz in Essen-Borbeck erstmals gelang und den Hochöfen die zur Verarbeitung der Erze notwendige Fettkohle erschloss.622 Die montanindustrielle Durchdringung des Ruhrgebiets folgte der Ansiedlung auswärtiger Eisen- und Stahlunternehmer, die zur Verhüttung der Eisenerze auf die Kohlevorkommen des Industriereviers angewiesen waren;623 mit der Wanderung stieg der Anteil der Roheisenproduktion des Ruhrgebiets an der gesamtdeutschen Leistung bereits zwischen 1850 und 1870 von 5 auf 26%.624 Innerhalb dieses Prozesses äußerte sich auch im Ruhrgebiet der rheinisch-westfälische Strukturgegensatz: Die auf Erzlieferungen angewiesenen Eisen- und Stahlunternehmen siedelten sich bevorzugt im westlichen Ruhrgebiet an, um über den Rhein aus dem Ausland versorgt zu werden. Neben Konzern- und Verbandszentralen in Düsseldorf spielte Köln als Bankenzentrum eine wichtige Rolle für die Finanzierung der kapitalintensiven Montanwirtschaft, wie auch die diversifizierteren rheinischen Wirtschaftsstrukturen engere Nachfrage- und Zuliefererbeziehungen zur Folge hatten.625 Den Höhepunkt ihres kontinuierlichen Aufstiegs erlebte die Ruhrindustrie mit dem Ersten Weltkrieg, dessen Folgen jedoch auch die erste tiefe Zäsur bedeuteten. Restriktionen wie die Abtretung Lothringens oder Oberschlesiens, die das Deutsche Reich infolge des Versailler Vertrags trafen, erhöhten das relative Gewicht des Ruhrgebiets an der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, da bedeutende Kohlegebiete verloren gingen; dieser Notlage geschuldet, wurde die hiesige Schwerindustrie in der Folge einseitig, auf Kosten zukunftsträchtigerer Sektoren ausgebaut, in denen die Beschäftigtenzahlen des Ruhrgebiets in der Folge anderen Regionen hinterherhinkten.626 Da jedoch aufgrund des Kriegsendes, Ruhrbesetzung und Inflation sowie der allgemeinen wirtschaftlichen Baisse die Nachfrage nach Montanerzeugnissen spürbar sank, wurde der Ruhrbergbau 1926 erstmals zu einem verlustbringenden Geschäft, das erst mit der nationalsozialistischen Aufrüstung eine deutliche Erholung erfuhr.627 Mit der wirtschaftlichen Expansion ging eine deutliche Steigerung der Einwohnerzahlen einher: Lebten zu Beginn der Industrialisierung 1850 400.000 Menschen im Ruhrgebiet, erhöhte sich die Zahl bis 1925 auf 3.800.000.628 Speiste sich die Arbeitsmigration zunächst aus dem rheinisch-westfälischen Umland, gewannen im Laufe der Jahre Zuwanderer aus 622 623
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Vgl. Eyll, Klara van: Aspekte der Industrialisierung im 19. Jahrhundert – unter Berücksichtigung der Eisen- und Stahlindustrie, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen 1, S. 186-196, hier: S. 188f. Die Eisen- und Stahlindustrie nahm insbesondere in den ersten Jahren ineffizienteren Wirtschaftens bis zu 40% der gesamten Kohlenproduktion des Ruhrgebiets in Anspruch. Vgl. Holtfrerich, Quantitative Wirtschaftsgeschichte des Ruhrkohlenbergbaus, S. 139f. Vgl. Steinberg, Heinz-Günther: Die Entwicklung des Ruhrgebiets. Eine wirtschafts- und sozialgeographische Studie, Düsseldorf 1967, S. 22. So war etwa der Maschinenbau im Rheinland weiter ausgebildet als in Westfalen und belieferte die Ruhrbetriebe. Vgl. Mayer, Wirtschaftsräume Westfalens, in: Kohl, Westfälische Geschichte 3, S. 31ff. sowie Teuteberg, Vom Agrar- zum Industriestaat, in: ebd., S. 190. Zu nennen sind Branchen wie Elektrotechnik oder der Maschinenbau, die i Rheinland stärker ausgebaut waren. Vgl. Brunn, Gerhard: Die Zeit der Krisen 1914-1955, in: Briesen et. al, Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte, S. 129-201, hier: S. 129f. Vgl. Borscheid, Vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg, in: Kohl, Westfälische Geschichte 3, S: 357ff. Vgl. Metropole Ruhr: Bevölkerungsstruktur und –entwicklung, einsehbar unter http://www.metropoleruhr.de/metropole-ruhr/daten-fakten/bevoelkerung.html (9.7.2010).
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
den östlichen Provinzen Preußens, aus Österreich-Ungarn oder Russland an Gewicht; zur größten Zuwanderungsgruppe wuchsen hierbei die preußischen Polen heran.629 Aus einer agrarisch geprägten wurde in der Folge eine industriell bestimmte Region, in der Dörfer mit der Nordwanderung der Montanindustrien zu Großstädten anwuchsen und die Arbeiterschaft mitsamt ihrer Angehörigen zur zahlenmäßig dominanten Bevölkerungsgruppe wurde.630 Neben die Klassen- trat die landsmannschaftliche und konfessionelle Differenzierung der Ruhrgebietsgesellschaft: Zugewanderte Landbewohner transferierten ihre Wertehorizonte in die Industrieregion und konservierten ländliche Lebensweisen in neuem Umfeld; innerhalb dieses Prozesses gewannen die Kirchen in der ohnehin bekenntnisreichen Mischlandschaft an Bedeutung: Katholische und evangelische Organisationsnetze boten den Menschen in ungewohntem Umfeld eine Sinnperspektive, Geborgenheit und blieben eigener Sozialisationspfad;631 sie gaben ihr spezifisches, vorindustriell gefärbtes Weltbild weiter, prägten Lebensvorstellungen auch abweichend von der konkreten Lebenslage und stabilisierten überlieferte „prä-individualistische, traditionalistische und korporative“632 Gesellschaftsverständnisse. Trotz äußerer Verstädterung blieb das Ruhrgebiet eine Region „defizienter“ Urbanisierung,633 innerhalb derer ländlich-vormoderne Verhaltensmuster eine Relevanz behielten, die in anderen Städten weit früher abgebaut wurden. Dieses Nebeneinander unterschiedlicher Milieus und Identitäten auf engem Raum wurde Charakteristikum des Ruhrgebiets, und gerade weil die verdichtete Lebensweise kaum räumliche Distanz zuließ, mussten kulturelle Scheidelinien umso deutlicher betont werden und wuchs das Bedürfnis nach Abgrenzung und Selbstdefinition.634 E.V.1.1. Gesellschaftliche Milieus und Selbstorganisation Rund 100 Burgen, Schlösser und Herrenhäuser manifestierten die einstige Macht des Landadels in dem ehemaligen Schnittpunkt weltlicher und geistiger Staaten,635 dessen Bedeutung jedoch bereits im Alten Reich schwand: Wo im märkischen Sauerland protobour629
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Vor dem Ersten Weltkrieg – der Maßstab sein soll, weil nach ihm eine starke Rückwanderung in den wiederbegründeten polnischen Staat einsetzte – lebten rund 350.000 Polen im Ruhrgebiet. Vgl. Deutsches Historisches Museum: Zuwanderungsland Deutschland. Ruhrpolen, einsehbar unter http://www.dhm.de/ausstellungen/zuwanderungsland-deutschland/migrationen/rooms/0306.htm (9.7.2011). 1925 arbeiteten bei einem Erwerbstätigenanteil von 41,1% (1.561.800) allein in den Kernfeldern Kohle und Stahl 623.360 Personen Vgl. Tenfelde, Klaus: Strukturwandel des Ruhrgebiets: Historische Aspekte, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 3 (1988), S. 129-141, hier: S. 132, 134. Tenfelde geht bei seinen Berechnungen allerdings nur von einer Bevölkerungszahl von 3.462.227 Personen in den Kernkreisen Dortmund, Bochum, Essen, Duisburg und Recklinghausen aus. Vgl. Ditt, Die Entwicklung des Raumbewusstseins, in: ders./Tenfelde, Das Ruhrgebiet in Rheinland und Westfalen, ebd., S. 438. Vgl. Rohe, Vom Revier zum Ruhrgebiet, S. 22. Brüggemeier, Franz J./Niethammer, Lutz: Schlafgänger, Schnapskasinos und schwerindustrielle Kolonie. Aspekte der Arbeiterwohnungsfrage im Ruhrgebiet vor dem Ersten Weltkrieg, in: Langewiesche, Dieter/Schönhoven Klaus (Hrsg.): Arbeiter in Deutschland. Studien zur Lebensweise der Arbeiterschaft im Zeitalter der Industrialisierung, Paderborn 1981, S. 139-172, hier: S. 141. Vgl. Rohe, Vom Revier zum Ruhrgebiet, S. 72. Vgl. zu den mehr als 100 Zeugnissen der Adelskultur im heutigen Ruhrgebiet Metropole Ruhr: Burgen und Schlösser zeugen von vorindustrieller Geschichte, einsehbar unter http://www.metropoleruhr.de/entdecken-erleben/ausflugsziele/burgen-schloesser.html (27.7.2010).
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geoise Existenzformen auch in seine Kreise einbrachen und das Hellweg-Städteband von Ackerbürgern und Handwerkern bestimmt war, vermochte der alte Adel im Zuge der Industrialisierung allenfalls im Emscherraum einen bestimmenden Einfluss zu erhalten, wurde aber auch hier mit dem ökonomischen Erfolg zumeist protestantischer, zugewanderter und kapitalkräftiger Unternehmer als regionale Führungsschicht zurückgedrängt; prägend für das Ruhrgebiet wurde deshalb nicht der Standes-, sondern der wirtschaftsbürgerliche Geldadel.636 Zuzugsbarrieren existierten hier – anders als in anderen Landstrichen, in denen auswärtige Gewerbetreibende die hergebrachte Wirtschafts- und Sozialordnung durchbrachen und aus der Furcht um Arbeitsplatzverluste und maschinelle Rationalisierung auf Widerstand stießen –637 aufgrund der schwächer ausgebildeten Milieustrukturen kaum, Schlotbarone wurden zur tonangebenden Gesellschaftsschicht der wachsenden Städte und zogen ihr hohes Sozialprestige aus der zunehmenden Bedeutung, die ökonomischer Erfolg für das Ansehen spielte. Patriarchen wie Franz Haniel oder Alfred Krupp ahmten jedoch den adligen Lebensstil nach und refeudalisierten die Landschaft unter bürgerlichen Vorzeichen, während sie die innerbetrieblich auf sie zentrierten Hierarchien in dem Interesse, treue Mitarbeiter heranzuziehen sowie den innerbetrieblichen Frieden zu wahren, durch Sozialleistungssysteme, Unterstützungskassen und Arbeiterwohnsiedlungen ergänzten. Abgeleitetes Phänomen der Großunternehmen war die wachsende Schicht der Angestellten, die sich als Kleinbürgertum zwischen Großbürger und Arbeiter schoben.638 Die Arbeiterschaft wurde infolge der mit der Industrialisierung steigenden Erwerbsmigration der mit Abstand größte Bevölkerungsteil. Trotz quantitativer Überlegenheit639 entstand jedoch keine proletarische Einheitslandschaft, sondern behaupteten sich innerhalb des Lagers innengerichtete Subeinheiten; obwohl man im Betrieb ähnlichen Tätigkeiten nachging, lebte man in unterschiedlichen Welten. Der geteilte Erfahrungshintergrund des Industriearbeiters und betrieblicher Autoritätsverhältnisse – „der Geist der Fabrik war teils von einem handwerklichen und gutsherrlichen Paternalismus, teils von bürokratisch-militärischen Autoritätsmodellen deutscher Traditionen bestimmt“ –640 verband nur oberflächlich, da ihm landsmannschaftliche und konfessionelle Sperrfaktoren entgegenstanden. Stärkste Binnenhomogenität und Standesbewusstsein wiesen hierbei die Bergmänner auf, deren ehemals landesherrlich privilegierter Status – sie genossen eine eigene Gerichtsbarkeit, waren steuerlich begünstigt und erhielten im Krankheitsfall in Preußen bereits seit 1767 einen bis zu achtwöchigen vollen Lohnausgleich – ihre mentale Abgrenzung von Tagelöhnern und Fabrikarbeitern sowie eine hieraus bedingte Nähe zur Obrigkeit beförderte, selbst nachdem dieser
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Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866, S. 206f. Vgl. Pierenkemper, Toni: Die westfälischen Schwerindustriellen 1852-1913. Soziale Struktur und unternehmerischer Erfolg, Göttingen 1979, S. 41. Als Resultat entstand ihre bald geläufige Fremdbezeichnung als Schlipsträger. Vgl. Reif, Heinz: „Ein seltener Kreis von Freunden.“ Arbeitsprozesse und Arbeitserfahrungen bei Krupp 1840-1914, in: Tenfelde, Klaus (Hrsg.): Arbeit und Arbeitserfahrungen in der Geschichte, Göttingen 1986, S. 51-91, hier: S. 51, 57 Bereits ohne Berücksichtigung familiären Anhangs waren 1925 bei einer Gesamteinwohnerschaft von 3.800.000 allein etwa 1.000.000 Menschen im produzierenden Gewerbe beschäftigt. Vgl. Tenfelde, Strukturwandel des Ruhrgebiets, Gewerkschaftliche Monatshefte, S. 132, 134ff. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 1, S. 310.
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
in den 1850er und 60er Jahren abgebaut wurde.641 Zwar glichen wachsende Verelendung, schwindende Differenzen und ein geteiltes Arbeitsethos, das Leistung und Einsatz höher schätzte als künstliche Rangunterschiede, die Arbeiterschichten objektiv an, ohne jedoch hierüber ein homogenes Klassenbild zu entwerfen. Charakteristisch für die versäulte Ruhrgebietsgesellschaft war ein dichtes Organisationswesen, das die eng nebeneinander lebenden Milieus voneinander abgrenzte und nach innen zusammenhielt; die Bildung jener Netzwerke ermöglichte zum einen die Behauptung der eigenen Kultur, zum anderen die effektive Durchsetzung geteilter Interessen. Gerade letzter Aspekt zählte vornehmlich für das Wirtschaftsbürgertum und äußerte sich frühzeitig mit dem 1858 in Essen gebildeten Verein für die bergbaulichen Interessen im Oberbergamtsbezirk Dortmund, mit dem die Kohleunternehmer über ein erstes ruhrgebietsweites Interessenorgan zur Beeinflussung der Politik verfügten; das bereits damals verfolgte Ziel, hierdurch Absatzprobleme zu lindern und Abgaben zu senken, fand seinen massivsten organisatorischen Ausdruck in der Bildung des Rheinisch-Westfälischen Kohlen-Syndikats 1893 in Bochum.642 Dessen Mitgliedsunternehmen förderten ab 1904 nahezu 99% der Ruhrkohle, beseitigten nahezu jeglichen Wettbewerb und nutzten ihre Monopolstellung zur Festlegung von Produktionszahlen, Preisen und Vertriebswegen;643 mit ähnlicher Blickrichtung folgte ihm das seit 1897 in Düsseldorf residierende Rheinisch-Westfälische Roheisen-Syndikat. Zahlreiche rheinisch-westfälische Interessenorganisationen644 übersprangen die Provinzgrenze aufgrund ökonomischer Interessen und potenzierten die wirtschaftliche, politische und gesamtgesellschaftliche Macht der Ruhrunternehmer. Eine geschlossene Arbeiterbewegung trat dem Wirtschaftsbürgertum im Ruhrgebiet zunächst nicht entgegen, da innere Konflikte und Sperrfaktoren einer einheitlichen, schlagkräftigen Organisationswelt entgegenstanden. Maßgeblich wurde auch hier vornehmlich das katholische Vereinswesen, das bis 1872 auf 230 Gruppierungen mit 46.000 Mitgliedern kam, wohingegen auf sozialdemokratischer Seite bis dahin gerade 30 Vereine und 2.300 Mitglieder existierten.645 Standen für sie zunächst die Traditions- und Geselligkeitspflege im Vordergrund, wurde Essen in den 1870er Jahren zum Mittelpunkt ihrer Politisierung und rote Kapläne646 sprichwörtlich für die Bemühungen, katholische Arbeiter in ein Netzwerk kirchennaher Vereinigungen zu integrieren, ihre politischen Belange zu vertreten und das eigene Milieu durch Sozialengagement und Seelsorge zu stärken. Die christlich-soziale Arbeitervereinsbewegung band insbesondere die katholische Arbeiterschaft und hielt sie vom religionsskeptischen Liberalismus und Sozialismus fern; an die641
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Vgl. Lademacher, Die nördlichen Rheinlande, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 628f.; Wischermann, An der Schwelle der Industrialisierung, in: Kohl, Westfälische Geschichte 3, S. 154f. S. 628f. sowie Teuteberg, ebd., S. 276f. Vgl. Reulecke, Rheinland-Westfalen von den 1850er Jahren bis 1914, in: Briesen et. al., Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte, ebd., S. 101. Vgl. Petzina, Dietmar: Selbstreflektion und Sicht im Ruhrgebiet auf Rheinland, Westfalen und NordrheinWestfalen, in: Ditt/Tenfelde, Klaus, Das Ruhrgebiet in Rheinland und Westfalen, S. 221-224, hier: S. 248. Vgl. zur Vielzahl der Verbände Düwell, ‚Rheinisch-westfälisch’, in: Petzina/Reulecke, Bevölkerung, Wirtschaft, Gesellschaft, S. 311-319. Vgl. Budde, Heiner: Die roten Kapläne, Köln 1978, S. 7. Vgl. zum Begriff ders.: Man nannte sie rote Kapläne. Priester an der Seite der Arbeiter, Köln 1989, insb. S. 10-46.
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sem Ansinnen scheiterten auch erste Versuche, die Bergarbeiterschaft überkonfessionell und unter Einbeziehung sozialdemokratischer Vertreter in dem Rheinisch-Westfälischen Grubenarbeiterverband von 1872 oder dem Verband Rheinisch-Westfälischer Bergleute von 1877 zu organisieren.647 Erst der zweite große Ruhrstreik nach 1872, an dem sich bis zu 90% der Bergarbeiter beteiligten, mobilisierte 1889 die übergreifende Organisationsbereitschaft der Arbeiterschaft. Der überparteiliche und -konfessionelle Verband zur Wahrung und Förderung bergmännischer Interessen in Rheinland und Westfalen (Alter Verband) integrierte unter Vorsitz Fritz Buntes katholische, evangelische und sozialdemokratische Arbeiter, rief jedoch aufgrund der Verbannung religiöser Bezüge und seiner Nähe zur Sozialdemokratie den Widerstand des katholischen Kirchenmilieus hervor. Bereits im folgenden Jahr spalteten sich auf Betreiben der Zentrumspolitiker Johannes Fusangel, Felix Lensing und Gerhard Stötzel katholische Arbeiter vom Alten Verband ab und schlossen sich dem Rheinisch-Westfälischen Bergarbeiterverein Glück-Auf zur Wahrung und Förderung der bergmännischen Interessen im Oberbergamtsbezirk Dortmund an; ihn beerbte 1894 der durch August Brust geleitete Gewerkverein christlicher Bergarbeiter für den Oberbergamtsbezirk Dortmund, der trotz formaler Bekenntnisoffenheit katholisch bestimmte Gewerkschaft wurde. Gefördert durch den Mönchengladbacher Volksverein und in Anerkennung des in der Enzyklika Rerum novarum Papst Leos XIII. formulierten sozialpolitischen Kirchenengagements wurde der Gewerkverein – der seinen Zweck in der „Hebung der moralischen und sozialen Lage der Bergarbeiter auf christlicher und gesetzlicher Grundlage und (der A.W.) Anbahnung und Erhaltung einer friedlichen Übereinkunft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern“ sah –648 Vorbild weiterer christlicher Gewerkschaftsgründungen, die im Ruhrgebiet wie im restlichen historischen NRW zur bestimmenden Arbeitervertretung wurden.649 In Absetzung von sozialdemokratischem Klassenkampf und Atheismus befürworteten sie solidarische, subsidiäre und sozialpartnerschaftliche Gesellschaftsstrukturen und die Kooperation mit Staat und Arbeitgebern; Streiks wurden nicht rundweg abgelehnt, doch beteiligten sich christliche Gewerkschafter im Vergleich zu freien Gewerkschaftern signifikant geringer.650 Sozialdemokratische Gewerkschaften besaßen ihre Hochburgen in den älteren, durch Handwerk und Facharbeiter geprägten Ruhrgebietsstädten sowie in protestantischen Bevölkerungskreisen, während ihnen das Eindringen in das katholische, durch Zuwanderung geprägte Milieu aufgrund ihrer religionsfernen Grundhaltung schwer fiel.651 Erst mit der Zuspitzung sozialer Probleme, der Enttäuschung über die harmonistische Interessenver647
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Vgl. Pomykaj, Gerhard: Bergarbeiterbewegung und Sozialdemokratie an der Ruhr vor und nach dem Streik von 1889, in: Herzig, Arno/Linde, Erdmann (Hrsg.): Vor hundert Jahren: Die Arbeiterbewegung in Westfalen und an der Ruhr unter dem Sozialistengesetz. Darstellung und Dokumentation, Dortmund 1978, S. 41-57, hier: S. 43. Vgl. Schneider, Michael: Die Christlichen Gewerkschaften 1894 -1933. Ein Überblick, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 32 (1981), S. 709-728, hier: S. 712. Von den zur Jahrhundertwende etwa 70.000 christlichen Gewerkschaftsmitgliedern in den preußischen Westprovinzen – dies waren 77% des gesamten Reiches – stammten 27.000 aus dem Industrierevier. Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 1, S. 328. Führten christliche Gewerkschaften zwischen den Jahren 1903 und 1913 reichsweit 2.061 Angriffsstreiks durch, so lag die Zahl bei den freien Gewerkschaften bei 14.435. Vgl. Schneider, Michael: Das Streikverhalten der Christlichen Gewerkschaften vor 1914, in: Mommsen, Wolfgang J./Husung Hans-Gerhard (Hrsg.): Auf dem Wege zur Massengewerkschaft. Die Entwicklung der Gewerkschaften in Deutschland und Großbritannien 1880-1914, Stuttgart 1984, S. 354-374, hier: S. 360. Rohe, Vom Revier zum Ruhrgebiet, S. 52.
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
tretung christlicher Verbände und der allmählichen Auflösung des festgefügten katholischen Organisationsnetzes gewannen auch SPD-nahe Verbände an Zuspruch und Mitgliederzahlen.652 Abgelegt wurde mit diesem Schwenk die quietistische Strategie jener kirchennahen Vereinigungen, der sich in den zunehmend radikalen Auseinandersetzungen der Jahre 1919/20, den Forderungen nach einer Sozialisierung des Bergbaus sowie der Bildung einer Roten Ruhrarmee äußerte. Trotz konfessioneller Gemeinsamkeiten integrierte sich die zumeist katholische polnische Minderheit kaum in die bestehenden christlich-katholischen, sondern gründete eigene Verbände, auch um landsmannschaftliche Sitten aufrechtzuerhalten. Gründungen wie dem Gelsenkirchener St. Barbara-Verein von 1883 folgten unter maßgeblicher Anfangsförderung des Bochumer Vikars Franz Liss weitere, bis 1912 wuchs die Zahl polnischer Verbände auf etwa 1.000 mit rund 120.000 Mitgliedern an.653
E.V.2. Städte Die wichtigsten Ruhrgebietsorte entwickelten sich in der Preußenzeit auf der Grundlage unterschiedlicher Prämissen: Waren einige Hellwegstädte zwischen Duisburg und Dortmund bereits im Alten Reich von überregionaler Bedeutung, entwickelten sich die Emschersiedlungen Oberhausen oder Gelsenkirchen erst infolge der Industrialisierung und ihres Eisenbahnanschlusses; geschichtlich angelegte strukturelle Unterschiede fundierten die starke Polyzentralität des Landstrichs.654 Duisburg, 1815 bei rund 4.500 Einwohnern, wuchs mithilfe seiner die Versorgung und Betriebsansiedlungen erleichternden Schnittlage zwischen Rhein und Ruhr bis 1904 zur Großstadt mit einer Bevölkerungszahl von über 100.000 heran. Wichtiger Industrialisierungsimpuls waren die Eröffnung der Haniel-Werfft in dem – 1905 mit Duisburg vereinigten – Vorort Ruhrort 1828 sowie der Anschluss an die Köln-Mindener Zugstrecke 1846, bis zur Fertigstellung der Kölner Dombrücke 1859 war Duisburg zudem der einzige Eisenbahnübergang über den Niederrhein. Die Ansiedlung des Phoenix AG-Hüttenwerks 1852, der Ausbau der 1891 durch August Thyssen erworbenen Zeche Gewerkschaft Deutscher Kaiser zu einem integrierten Hüttenwerk sowie die Errichtung eines Kruppschen Hochofenwerks in Rheinhausen folgten den Standortvorteilen und machten Duisburg zum wichtigsten Stahlproduzenten des Ruhrgebiets. Der hier 1899 durch Franz Wieber gegründete Christliche Metallarbeiterverband manifestierte die Bedeutung von Stahlindustrie und Katholizismus. In Mülheim, 1815 mit rund 4.900 Einwohnern größte Ruhrgebietsstadt und ab 1908 Großstadt, wurden auf den Zechen Wiesche und Sellerbeck bereits 1811 die ersten Tiefbauschächte abgeteuft. Aus der 1820 durch Johann Dinnendahl gegründeten Mülheimer Eisen652
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1912 waren bereits 70.000 Bergarbeiter Mitglied freier Gewerkschaften, während die christlichen Verbände nur noch 40.000 Personen vertraten. Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 1, S. 328 Vgl. Deutsche und Polen: Polen im Ruhrgebiet, einsehbar unter http://www.deutsche-und-polen.de/ereignisse/ereignis_jsp/key=ruhrpolen_1880.html (12.7.2010). Die folgenden Schilderungen folgen, wenn nicht anders angegeben, der Überblicksdarstellung Peter Krachts, Ruhrgebiet (Regionen in Nordrhein-Westfalen 4).
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schmelze – in der 1849 das erste Roheisen in einem Kokshochofen des Ruhrgebiets hergestellt wurde – ging 1852 die Friedrich-Wilhelms-Hütte hervor, August Thyssen begründete 1871 hier sein Montanunternehmen. Die 1898 durch August und Joseph Thyssen sowie Hugo Stinnes gegründete Mülheimer Bergwerks-Verein AG fasste die wichtigsten städtischen Zechen zusammen und wurde zu einem der größten deutschen Bergbauunternehmen. Mit dem Bau der Strecke Witten-Duisburg wurde die Stadt 1862 schließlich an das Eisenbahnnetz der Bergisch-Märkischen Eisenbahn-Gesellschaft angeschlossen. Essen, 1815 bei rund 4.700 Einwohnern und seit 1896 Großstadt, war seit 1811 Sitz der ersten Gussstahlfabrik Friedrich Krupps. Mithilfe der in den 1830er Jahren erweiterten örtlichen Bergwerke – 1834 gelang Franz Haniel in Essen-Schönebeck erstmals die Durchstoßung der Mergeldecke, die den Ausgangspunkt der 1847 gegründeten Zeche Zollverein bildete – und dem Köln-Mindener Bahnanschluss 1847 gelang seinem Sohn Alfred der Aufbau eines integrierten Kohle- und Stahlkonzerns, der zum größten deutschen Arbeitgeber heranwuchs; daneben existierte in Essen seit 1898 die Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk AG (RWE). Der 1870 aus den Knappenbünden Essens, Borbecks, Stoppenbergs und Altenessens entstandene lokale Arbeiterverein wurde ein Mittelpunkt der christlichsozialen Bewegung und blieb maßgeblich an ihrer weiteren Ausbildung beteiligt. Trotz der in Bochum – in die Preußenzeit mit 2.100 Einwohnern gestartet und 1905 die Großstadtgrenze überschreitend – seit 1801 im Bergbau eingesetzten Dampfmaschinen wurde der erste lokale Tiefbauschacht erst 1842 auf der Zeche Vereinigte Präsident errichtet, dem sich bis zur Jahrhundertwende etwa 50 weitere Schachtanlage hinzugesellten. Aufgrund der guten Kohlenversorgung gründete Jacob Mayer im selben Jahr die Gussstahlfabrik Mayer & Kühne, aus der 1854 der Verein für Gussstahlfabrikation hervorging. Nachdem Bochum 1860 zwischen Witten und Dortmund den Anschluss an die Bergisch-Märkische Eisenbahntrasse erhielt, boten seine integrierten Zechen und Stahlwerke zeitweise bis zu 20.000 Menschen Beschäftigung und machten den Betrieb zum größten Arbeitgeber der Stadt. Der traditionelle Bergmannsort bot sozialdemokratischen Arbeitervereinen und Gewerkschaften ein fruchtbares Umfeld und wurde 1890 Sitz des Alten Verbandes. Dortmund, von 4.500 Einwohnern 1815 auf 100.000 im Jahre 1895 angewachsen, wurde mit der Eröffnung der Köln-Mindener Eisenbahn 1847 und der Bergisch-Märkischen Strecke nach Elberfeld 1849 regionaler Verkehrsknotenpunkt und glich hierdurch ebenso wie mit dem 1899 eröffneten Dortmund-Ems-Kanal die Standortnachteile gegenüber rheinnahen Orten aus. Bereits 1839 hatte Hermann Diedrich Piepenstock in – im 1928 eingemeindeten – Hörde die Hermannshütte errichtet, die 1852 in dem Hörder Bergwerks- und HüttenVerein aufging; weitere wichtige Montanunternehmen wurden das 1871 gegründete Eisenund Stahlwerk Hoesch oder der 1872 etablierte Zechen- und Hüttenverbund Dortmunder Union. Daneben stieg die Brauereiwirtschaft – seit 1293 war der Stadt die Bierherstellung erlaubt –655 erneut zu einem bedeutenden Standbein auf. Als Gründungsort des Alten Verbandes, vorwiegend protestantische Stadt und Wohnort des „Vaters der westfälischen Sozialde-
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Bestätigt wurde dieses durch Adolf von Nassau verliehene Monopol 1332 durch Kaiser Ludwig IV. Vgl. hierzu Planet Wissen: Bierstadt Dortmund, einsehbar unter http://www.planet-wissen.de/alltag_gesundheit/trinken/biergeschichte/dortmund.jsp (5.3.2011).
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
mokratie“,656 Carl Wilhelm Tölcke, stand die Dortmunder Arbeiterschaft der freien Gewerkschaftsbewegung näher als christlich-katholischen Vereinigungen. Abseits des Hellwegs entwickelte sich die Wiege der Ruhrindustrie, das 1862 aus mehreren Kommunen zusammengelegte, bis 1914 auf 100.000 Einwohner angewachsene Oberhausen mit seinem Eisenbahnanschluss 1847 zu einer Industriestadt. Beginnend mit der Eisenerzverhüttung auf der St- Anthony-Hütte 1758, wurde Oberhausen Sitz von Stahlunternehmen wie der Gutehoffnungshütte und – nach der ersten Schachtabteufung auf der Zeche Concordia 1850 – Standort ergänzender Bergwerke. In der katholischen, durch Zuwanderung geprägten Stadt besaß die christliche Arbeiterbewegung deutliche Organisationsvorteile. Gelsenkirchen, durch Eingemeindungen von rund 500 Einwohnern 1819 auf 100.000 im Jahr 1913 angewachsen, blieb bis zu seinem Anschluss an die Köln-Mindener Eisenbahn 1847 ein ländlich-agrarisch bestimmtes Gebiet. In Bahnhofsnähe teufte der Ire Thomas Mulvany 1855 den ersten Tiefbauschacht ab und gründete die Zeche Hibernia, der bis 1914 40 weitere Abbaustätten folgten. 1925 war die Hälfte aller Gelsenkirchener Beschäftigten im Bergbau angestellt, neben die sich integrierte Stahlwerke wie der 1872 durch Friedrich Grillo gegründete Schalker Gruben- und Hüttenverein gesellten. Unter Einfluss des Essener Vorbilds konstituierte sich 1869 der erste Christlich-Soziale Verein Gelsenkirchens. Die zu Beginn der Preußenzeit aus verschiedenen Teilen zusammengesetzte Bürgermeisterei Recklinghausen brauchte bis 1949, um zur Großstadt heranzuwachsen. Vor der Errichtung der Zeche Clerget 1869 und dem Anschluss an das Köln-Mindener Eisenbahnnetz 1870 blieb die Stadt kleinhandwerklich bestimmt, während der Bergbau sodann über den Zweiten Weltkrieg hinaus der wichtigste Arbeitgeber wurde. In der katholischen Stadt erreichte die christliche Arbeiterbewegung die größte Organisationsdichte.
E.VI. Politische Grundströmungen Parteiensysteme und Wahlverhalten waren im historischen Nordrhein-Westfalen aufs Engste mit landschaftlichen Grundprägungen und ihren Überformungen in der Preußenzeit verknüpft; vor ihrem Hintergrund erwuchsen sowohl formell wie auch materiell divergierende regionale politische Kulturen. Das Spektrum liberaler, konfessioneller, konservativer und sozialdemokratischer Glaubensbekenntnisse war bis in das 20. Jahrhundert hinein weltanschaulich-ideologisch bestimmt und in scharfer Abgrenzung voneinander begriffen. Insbesondere der konfessionelle Faktor ragte in die politische Sphäre hinein und überwölbte sie, kirchlich transferierte Werte- und Verhaltensschemata beeinflussten Zusammenschlüsse und ihre inhaltliche Ausrichtung. Kein anderer Punkt war noch in der Weimarer Republik sowohl bei Wählern als auch bei Gewählten derart einflussreich wie die
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Vgl. Dortmunder Stadtgeschichte: Industriebevölkerung und „soziale Frage“, einsehbar unter http://www.dortmund.de/de/leben_in_dortmund/stadtportraet/stadtgeschichte/1819jahrhundert/arbei terbewegung/industriebevoelkerung.html (12.7.2010).
E.VI. Politische Grundströmungen
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Zugehörigkeit zu einer der großen Religionsgruppen; sie war Sperrfaktor, die andere Aspekte dominierte.657 Er schob sich zuvörderst in heterogenen Bekenntnisregionen in den Vordergrund, während in homogenen Gebieten die Kirchenrechte nicht explizit verteidigt werden mussten und das Klasseninteresse früher hervortrat.658 Zweiter wesentlicher Strukturierungsfaktor des politischen Betriebs war das Wahlrecht. Die Möglichkeit, Interessen in die Volksvertretungen einzubringen und durchzusetzen, war abhängig von den Zugangsregelungen, politische Vereinigungen bildeten sich nur dort, wo sie Chancen auf parlamentarische Repräsentation sahen; fehlte die gesellschaftliche Verankerung oder waren die Hürden zu hoch gesteckt, entstanden sie entweder gar nicht oder fristeten ein Schattendasein.659 Das im historischen Nordrhein-Westfalen – im Rheinland seit 1842, in Westfalen seit 1848, in Lippe seit 1876 – geltende Dreiklassenwahlrecht gab ein verzerrtes Bild der gesellschaftlichen Interessengruppen wieder und bevorteilte einseitig die vermögenden, (wirtschafts-) liberal-konservativen Gesellschaftsgruppen;660 die realen Parteipräferenzen spiegelte hingegen eher das seit 1871 auf Reichsebene geltende gleiche Wahlrecht wieder. Die Parteienlandschaften unterschieden sich somit in dem Zeitpunkt wie den Gründen ihres Entstehens sowie in ihrer inhaltlichen Ausrichtung, wobei die Verfassungsfrage und der Kirchenstreit zumindest in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die wichtigsten Katalysatoren der allmählichen Politisierung der Westprovinzen abgaben: Die strukturellen Unterschiede – bürgerlich-liberalere Gesellschaftsstrukturen und der dominierende Katholizismus – gegenüber dem (ost-)preußischen Staat wurden zu Formierungskonstitutionen, aus denen der (National-)Liberalismus und der Politische Katholizismus ihre Kraft bezogen. Eine besondere Bedeutung gewann mit der Industrialisierung zudem die soziale Frage, ohne dass hierdurch die Sozialdemokratie zur dominanten Partei wurde; vielmehr überlagerte auch in dieser Angelegenheit die Konfessions- die Klassenlage. Für die lippische Parteienlandschaft wurde die Auseinandersetzung mit dem Herrscherhaus die maßgebliche Tatsache; „der dominierende Zug in der innenpolitischen Entwicklung des Landes liegt in einer starken und permanenten Opposition, und diese wurde seit der Jahrhundertmitte vom Liberalismus getragen.“661 In der Gegenüberstellung erlebte das Rheinland die früheste Politisierung der vier Landesteile, die seinem sozioökonomischen Vorsprung wie seinem entwickelteren Presse- und Kommunikationswesen gegenüber Westfalen, Lippe und dem Ruhrgebiet entsprach. 657
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Im Umkehrschluss war aber auch dezidierte Areligiösität ausschlaggebend für Bevölkerungsgruppen, die aus den kirchlichen Organisationsnetzen herausfielen. Deutlich wird die Bedeutung mit Blick auf die konfessionelle Zusammensetzung der Fraktionen im preußischen Landtag, wie sie 1921 noch gegeben war. Von 114 SPD-Abgeordneten waren 49 Dissidenten und 22 konfessionslos, von 31 KPDlern waren 17 Dissidenten und 9 Konfessionslose, 15 der 28 USPDler bezeichneten sich als Dissidenten und 7 als konfessionslos, alle 84 Abgeordneten des Zentrums waren katholisch, während von den 75 Abgeordneten der DNVP sich 69 dem evangelischen Bekenntnis zuwendeten. Vgl. Kienast, Ernst (Hrsg.): Handbuch für den Preußischen Landtag. Ausgabe für die 1. Wahlperiode, Berlin 1921, S. 440. Vgl. Rohe, Vom Revier zum Ruhrgebiet, S. 53. Wo der Minderheitenfaktor das katholische Milieu im preußischen Staat eng zusammenschloss, bestand auf protestantischer Seite keine derart enge Beziehung zwischen Konfession und politischer Orientierung; hier spielten soziale Motive früher eine wahlentscheidende Rolle. Vgl. ders., Wahlen und Wählertradition in Deutschland, S. 130f. Vgl. zum Themenkomplex Nohlen, Dieter: Wahlrecht und Parteiensystem. Zur Theorie und Empirie der Wahlsysteme, 5. überarb. u. erw. Aufl., Opladen/Farmington Hills 2007, insb. S. 61 und passim. Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 2, S. 513. Kittel, Heimatchronik, S. 268.
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
E.VI.1. Liberalismus Der rheinisch-westfälische Liberalismus nährte sich aus den Verfassungsversprechen der Jahre 1815/20, aus der Erfahrung unternehmerischer Selbstbestimmung und aus gewerblichem Erfolg. In erster Linie das protestantische Wirtschaftsbürgertum des Rheinlands und die hiesigen Provinzialstände waren Träger eines bürgerlichen Selbstbewusstseins sowie eines auch als rheinisch apostrophierten Liberalismus,662 dessen Protagonisten wie die Aachener Kaufleute Ludolf von Camphausen und David Hansemann in politische Macht umzusetzen versuchten. Der rheinische Liberalismus artikulierte politische Teilhabeansprüche, doch rangierten ihm stets die ökonomischen vor den gesellschaftlichen Freiheitsrechten:663 Die Einforderung des Verfassungsversprechens diente deshalb primär der Absicherung der in französischer Zeit errungenen Position wie des wirtschaftsfreundlichen Rheinischen Rechts; anstelle einer Fundamentaldemokratisierung artikulierte er die Interessenharmonie von Bürgertum und Staat bei der Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit wie der Eindämmung der entstehenden Arbeiterschaft664 und sprach sich für öffentliche Erziehungsmaßnahmen aus, um die Energien der breiten Bevölkerung sowie deren materielle Eigenbewusstsein einzudämmen.665 Rheinische Abgeordnete stellten einen hohen Anteil an den liberal-demokratischen Vertretern in der Frankfurter Paulskirche,666 Camphausen und Hansemann leiteten 1848 als Ministerpräsident bzw. Finanzminister zeitweise Berliner Ministerien, während auf westfälischer Seite neben dem Landrat des Märkischen Kreises, Georg von Vincke, der märkische Unternehmer Friedrich Harkort herausragte, sich jedoch
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Die maßgeblichen Protagonisten stammten aus diesem Landstrich oder hatten hier ihren Hauptwirkungskreis. Aus Westfalen war vor allem der Hagener Friedrich Harkort liberaler, wenngleich sozial gebundener Vorkämpfer. Vgl. hierzu auch Fehrenbach, Elisabeth: Rheinischer Liberalismus und gesellschaftliche Verfassung, in: Hahn, Hans-Werner/Müller, Jürgen (Hrsg.) Politischer Umbruch und gesellschaftliche Bewegung. Ausgewählte Aufsätze zur Geschichte Frankreichs und Deutschlands im 19. Jahrhundert, München 1997, S. 111-132. „Der rheinische Liberalismus war ‚bürgerlicher’ als der ostpreußische und weniger ‚bildungsbürgerlich’ und damit weniger ‚idealistisch’ als der südwestdeutsche Liberalismus.“ Winkler, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen. 2 Bde., Bd. 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Demokratie, München 2000, S. 92. Die in Reaktion auf die Aachener Maschinenstürmereien von Hansemann verfasste Denkschrift Über Preußens Lage und Politik am Ende des Jahres umschrieb 1830 das Programm, das trotz aller Freiheitsbekundungen das volle Demokratisierung ablehnte; das Volk sollte zwar im eigenen Sinne mobilisiert, aber nicht freigesetzt werden. Hansemann empfahl dem preußischen Staat, die Gewerbefreiheit und Abschaffung der Feudalrechte durch die freie Meinungsäußerung zu ergänzen, um sein eigenes Überleben zu sichern. Presse und Provinzialstände sollten die großen politischen Fragen diskutieren dürfen, da Streit hier zivilisierter gelöst werden könne und andernfalls eine Revolution drohe. Die Gesamtrepräsentation sollte gesamtgesellschaftliches statt ständisches Abbild sein und besser als bisher den Realitäten entsprechen; zugleich warnte er vor den Gefahren des Anwachsens sozialer Unterschichten. Umfassende Informationen seien unerlässlich für Handel und Gewerbe, die vermittelt auch den Staat stärkten Vgl. Hansen, Joseph: Rheinische Briefe und Akten zur Geschichte der politischen Bewegung 1830-1850 (1919), 3 Bde., Bd. 1, Osnabrück 1998, S. 23 und passim. Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866, S. 723. Zu den 35 rheinischen Abgeordneten zählten etwa der Krefelder Bankier Hermann von Beckerath, der Kölner Unternehmer Gustav Mevissen, der Anwalt Carl Stedmann, die Bonner Professoren Johann Dahlmann und Ernst Moritz Arndt der Düsseldorfer Anwalt Hugo Wesendonck oder der Kölner Redakteur Franz Raveaux. Vgl. Ribhegge, Preußen im Westen, S. 140
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mit seiner sozialpolitischen Grundausrichtung von rheinischen Vertretern abhob.667 Nach der gescheiterten Revolution von 1848 schwand das politische zugunsten des ohnehin ausgeprägteren ökonomischen Bewusstseins; der Einsatz für den nationalen, einheitlichen Wirtschaftsraum, für ökonomische Freiheiten und die Abwehr kleinbürgerlicher Angriffe auf die Eigentumsordnung gewannen zusehends an Bedeutung und waren nur mit statt gegen den Staat zu erreichen. Die 1867 gegründete Nationalliberale Partei (NLP) wurde Ausdruck dieser Annäherung, die in den Westprovinzen bei Reichtagswahlen bis zur Jahrhundertwende, auf Provinzebene noch darüber hinaus zweitstärkste politische Kraft wurde.668 Ihre absoluten und relativen Abgeordnetenzahlen lagen auf Reichs- wie Provinzebene im Rheinland stets höher als in Westfalen, wichtigste Zentren waren Köln, Düsseldorf, Elberfeld oder Hagen.669 Die Nationalliberale Partei repräsentierte den Mehrheitsliberalismus in den Westprovinzen und war weniger eine bildungs- als eine besitzbürgerliche Partei, der es anstelle gesamtgesellschaftlicher Partizipation und Bürgerrechte um den Schutz der Wirtschaftsund Eigentumsordnung ging; das Dreiklassenwahlrecht sicherte diese Interessen der sie tragenden Honoratioren ab und bevorteilte eine zwar wachsende, in absoluten Zahlen aber kleine Bevölkerungsschicht. Freiheitlich-liberale Wurzeln wie die Forderung nach konstitutiver Staatsbeschränkung schliff die NLP zugunsten seiner Stärkung ab, sie wurde Partner der Obrigkeit, um katholische oder sozialdemokratische Ansprüche abzuwehren. In den Westprovinzen besaßen die Nationalliberalen den Charakter von ErsatzKonservativen, da sie die Stimmen derer sammelten, die weder Zentrum noch SPD wählten; die Minderheitenposition der evangelischen Kirchen machte Parteien attraktiv, die die Nähe zum protestantischen preußischen Staat verkörperten, Programmpunkte wie der Antikatholizismus, die Stärkung von Reich und Nation sowie die Sicherung der bürgerlichen Eigentumsordnung waren Anknüpfungspunkte sowohl für Konservative als auch ein evangelisches Kleinbürgertum. Dem rheinisch-westfälischen Mehrheitskatholizismus stand mit der NLP eine Partei gegenüber, die das nationalprotestantische Pendant zum katholischen Milieu verkörperte und die Sicherung konfessioneller Interessen versprach.670 Ihre Nähe zur evangelischen Kirche und deren Vereinswesen ermöglichte es auch Arbeitern,
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Harkort sprach sich für ein Kinderarbeitsverbot, die Festlegung maximaler Arbeitszeiten, den Bau von Arbeitersiedlungen, die Verbesserung des Schulsystems und die Gründung von Konsumvereinen aus. Vgl. Lampert, Heinz/Althammer, Jörg: Lehrbuch der Sozialpolitik, 7. Aufl., Berlin u.a. 2007, S. 54. Vgl. die Tabelle Wahlergebnisse ausgewählter Parteien in Rheinland-Westfalen bei den Reichtagswahlen 1871-1912, in: Engelbrecht, Landesgeschichte Nordrhein-Westfalen, S. 263 sowie Ribhegge, Preußen im Westen, S. 255f. Folgende Anteile erreichten die Nationalliberalen – berücksichtigt wurde nur der nördliche Teil der bevölkerungsstärkeren Rheinprovinz und ihrer höheren absoluten Sitzzahlen – bei den Reichstagswahlen: Im Rheinland bei 35 Sitzen: 1871: 5, 1874: 5, 1877: 6, 1903: 3, 1907: 2, 1912: 3; in Westfalen bei 17 Sitzen: 1871: 0, 1874: 3, 1877: 1, 1903: 1. 1907: 2, 1912: 1. Bei den Landtagswahlen sah das Verhältnis anders aus. Im Rheinland erreichte die NLP bei 61 (ab 1903: 60) Sitzen: 1870: 13, 1873: 11, 1876: 13, 1903: 11, 1908: 12, 1913: 11; in Westfalen bei 31 Sitzen: 1870: 2, 1873: 3, 1876: 4, 1903: 7, 1908: 6, 1913: 10. Vgl. Ribhegge, Preußen im Westen, S. 227, 255f. Vgl. auch Lademacher, Die nördlichen Rheinlande, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 596f. sowie Behr, Die Provinz Westfalen und das Land Lippe, in: Kohl, Westfälische Geschichte 2, S. 121. Vgl. hierzu Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 2, S. 318ff., 523, 527.
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eine Partei zu wählen, die ihren objektiven Interessen entgegenstand; der konfessionelle überlagerte erneut den sozioökonomischen Wahlfaktor.671 Mit der Demokratisierung des Wahlrechts, dem Aufstieg der Arbeiterbewegung, der Zersplitterung des Parteiensegments sowie der zahlenmäßigen Unterlegenheit des Wirtschaftsbürgertums verlor der Liberalismus der Westprovinzen in der Weimarer Republik an Boden, die Wahlergebnisse der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), der Deutschen Volkspartei (DVP) und der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) lagen hier stets unter dem preußischen wie dem Reichsschnitt.672 Anstatt aus der einstigen Stärke der Nationalliberalen eine liberale Grundprägung der Westprovinzen herauszulesen, machten ihr Regionscharakter sowie das Fehlen originär konservativer Parteien – sie wurden als ostelbischagrarisch wahrgenommen –673 die hiesige NLP zur protestantischen Sammlungspartei mit konservativem Profil. Weniger noch als in den gewachsenen rheinisch-westfälischen Städten war die NLP im Ruhrgebiet eine rein liberale Partei; bis auf den Wirtschaftssektor überwog das Nationale das Liberale, suchten Schwerindustrielle über die Partei die Nähe zu Staat und Obrigkeit, um der starken Ballung proletarischer Schichten zu begegnen. Gleichwohl drang die NLP hier ebenso in diese Schichten ein: Da sie bei Reichstagswahlen bis zu 38% der Wählerstimmen und somit eine Spitzenposition errang,674 erklärt sich diese – aufgrund der quantitativen Unterlegenheit des Bürgertums – einzig durch das Festhalten an konfessionellen Wahlgesichtspunkten in den evangelischen Arbeiterschichten.675 Die Nationalliberalen waren im Ruhrgebiet durch personelle Querverbindungen mit dem evangelischen Kirchenwesen und dessen traditionalistisch-christlichem Weltbild gekennzeichnet und nicht mehr als eine „modernisierte Variante des Konservatismus“,676 die auf hergebrachten Wertemustern bei Bergmännern und Fabrikarbeitern mit ländlicher Herkunft aufbauten.677 Als Resultat der lippischen Verspätung lagen Grundbesitz und Vermögen in Lippe-Detmold weitgehend in der Hand des Landadels, so dass das hiesige Dreiklassenwahlrecht diesen
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Vgl. Rohe, Karl: Die „verspätete“ Region. Thesen und Hypothesen zur Wahlentwicklung im Ruhrgebiet vor 1914, in: Steinbach, Peter (Hrsg.): Probleme politischer Partizipation im Modernisierungsprozess, Stuttgart 1982, S. 231-251, hier: S. 235ff. Vgl. Ribhegge, Preußen im Westen, S. 340, 345f. Vgl. Rohe, Vom Revier zum Ruhrgebiet, S. 27. Vgl. Tabelle 4: Reichstagswahlen im Ruhrgebiet 1871-1912, in: Rohe, Vom Revier zum Ruhrgebiet, S. 109. Dem katholischen Zentrumsmilieu wurde über die NLP ein nationalprotestantisches entgegenhielten, das auch Arbeiter wählten. So erfolgte die Gründung eines evangelischen Arbeitervereins in Gelsenkirchen 1882 explizit mit dem Zweck, „dem mächtigen Gegner (den Katholiken A.W.) Grenzpfähle (zu) stecken“ und „Treue zu halten gegen Kaiser und Reich.“ Vgl. hierzu den Artikel aus der Emscherzeitung vom 20. Mai 1882 sowie die Vereinsstatuten, abgedruckt bei Brakelmann, Die Anfänge der Evangelischen Arbeiterbewegung, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 2, S. 41, 43. Vgl. Niethammer, Lutz: Alltagserfahrung und politische Kultur. Beispiele aus dem Ruhrgebiet, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 3, S. 362-379, hier: S. 367. Vgl. Rohe, Karl: Vom alten Revier zum heutigen Ruhrgebiet. Die Entwicklung einer regionalen politischen Gesellschaft im Spiegel der Wahlen, in: ders./Kühr Rohe, Karl/Kühr, Herbert (Hrsg.): Politik und Gesellschaft im Ruhrgebiet. Beiträge zur regionalen Politikforschung, Königstein/Ts. 1979, S. 21-73, hier: S. 40ff.
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und weniger ein städtisches Bürgertum begünstigte;678 bei Reichstagswahlen hingegen dominierten den Wahlkreis stets linksliberale Parteien und stellten ab 1871 – bis auf zwei Ausnahmen – sämtliche lippischen Reichstagsabgeordnete.679 Trotz des schwach ausgebildeten Bürgertums und dem sozioökonomischen Modernisierungsrückstand war der Liberalismus eine feste Größe der lippischen Politik, die ihren Blick weniger auf wirtschaftsbürgerliche Anliegen als auf urliberale Forderungen wie dem Kampf um eine Verfassung, um gesamtgesellschaftliche Mitsprache und gegen fürstlich-ständische Privilegien richtete. Die durch Franz Hausmann, Wilhelm Büxten und Adolf Neumann-Hofer repräsentierten Linksliberalen banden sowohl Kleinbürgertum als auch Arbeiterschichten und wurden Sammelbewegung derer, die Fürst und Landständen entgegenstanden und weder konservative Parteien noch die SPD wählen wollten.680 Aus ihrer Multiplikatorfunktion spielte die Lehrerschaft eine gewichtige Rolle für den Aufstieg des Linksliberalismus. Sie war intellektuelle Führungsschicht, die auf einen Großteil der Bevölkerung unmittelbar einzuwirken vermochte und – obgleich staatlich angestellt – eine relative Distanz zum Landesherrn wahrte. Neben dem Versuch, sich kirchlichobrigkeitlicher Kontrolle zu entziehen, warnten die Lehrer vor einer verfehlten Schulpolitik, die einseitig auf Anpassung und christliche Unterrichtung blicke und hierdurch die Rückständigkeit Lippes konserviere; ebenso wiesen sie auf die Zusammenhänge zwischen Armut, unfähiger Verwaltung sowie der Konzentration auf den fürstlichen Domanialbesitz hin und forderten die Steigerung des allgemeinen Bildungsniveaus als Voraussetzung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Erneuerung.681 Die Landeskirche mit dem Fürsten als Summepiskopat und seine antiliberale Berufungspraxis wurden als Teil der reaktionären Herrschaftspraxis ausgemacht, Kirchen- und Verfassungsfrage als zusammenhängende Probleme wahrgenommen, die dem Linksliberalismus aus seiner Gegnerschaft zum Fürstenhaus und zu konservativ-pietistischen Zirkeln an der Spitze der Landeskirche Aufwind verlieh.682 Lippe-Detmold konservierte bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein Konfliktmuster, die in Preußen bereits zur Mitte des 19. Jahrhunderts ausgetragen worden waren;683 hatte dort die durch den Nationalliberalismus vertretene Bourgeoisie ihren Frieden mit dem Staat geschlossen, legten die lippischen Linksliberalen ihren Fokus weiterhin auf die Brechung adlig-staatlicher Vormacht. Deutsche Fortschrittspartei (DFP), Deutsche Freisinnige Partei (DFP) und Freisinnige Volkspartei (FVp) drückten die schichtenübergreifende Opposition gegen die vergleichsweise rückständigen gesellschaftlichen Verhältnissen aus, ohne ihre 678 679 680 681 682
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Vgl. Behr, Die Provinz Westfalen und das Land Lippe, in: Kohl, Westfälische Geschichte 2, S. 121. Vgl. Tabelle III: Reichstagswahlen Land Lippe im Kaiserreich, in: Alemann, Parteien und Wahlen in Nordrhein-Westfalen, S. 42. Vgl. ebenfalls Kittel, Heimatchronik des Kreises Lippe, S. 268, 270f. Vgl. Ditt, Die politische Arbeiterbewegung in Ostwestfalen, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 2, S. 241. Vgl. auch Steinbach, Der Eintritt Lippes in das Industriezeitalter, S. 368ff. Vgl. Wolf, Martin: Geschichte der lippischen Volksschule. Ein Beispiel für die Emanzipation der deutschen Volksschule und ihrer Lehrer, Lemgo 1964, S. 127 und passim. Oppositionelle wie Wilhelm Büxten stellten fest: „Den Trägern des absoluten Staatssystems mag es vielleicht als probates Mittel erscheinen, wenn sie ihre ‚geliebten Untertanen’ durch einen verdummenden Religionsunterreicht vom Interesse am Staatsleben ab und zum krassen Pietismus führen (…) Wir…bedauern eine Deduction wie die: dass die aufrichtige und ungeheuchelte Liebe zu Gott mit derselben Liebe zum Landesherrn zu identificieren sei…“ Vgl. ders, in: Die Sonntagspost 20. Eine Zeitschrift zur Belehrung und Unterhaltung für Jedermann (17.5.1863), zitiert nach Steinbach, Eintritt Lippes in das Industriezeitalter, S. 289. Vgl. Rohe, Wahlen und Wählertradition in Deutschland, S. 67, 69.
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formelle Stärke einem bürgerlich-liberalen Grundimpetus zu verdanken; in einem ständisch-agrarischen Land wie Lippe, in dem 85% der Bevölkerung der dritten Bevölkerungsklasse angehörten und dem proletarisch-industrielle Strukturen fehlten, war der Linksliberalismus die einzige Möglichkeit, um Widerstand gegen das alles durchdringende Fürstenhaus zu üben. Die Linksliberalen hielten unterschiedliche Bevölkerungsgruppen aufgrund der gemeinsamen Frontstellung gegenüber Staat und Adelsherrschaft zusammen, während die Nationalliberalen mit ihrer Orientierung auf den preußisch dominierten Gesamtstaat dem lippischen Eigenbewusstsein widersprachen und keine Alternative darstellten.
E.VI.2. Politischer Katholizismus Trotz gewisser Anknüpfungspunkte wie dem Interesse an der Einhegung des Staates und der konstitutionellen Absicherung eigener Rechte war der politische Katholizismus der Hauptgegner des (National-)Liberalismus, dessen Ideen von der Autonomie des Individuums, der Befreiung von Autoritäten und Korporativen sowie der Vorrangstellung der Vernunft gegenüber dem Glauben kirchliche Vorstellungen fundamental in Frage stellten: Sahen die Katholiken die föderale Hemmung der protestantischen Macht für erforderlich, um den eigenen Status zu behaupten, wollten die Nationalliberalen den Staat stärken; liberale Forderungen nach Volkssouveränität, Säkularisierung sowie Demokratisierung bedrohten den katholischen Minderheitenstatus mit potentiellen Abstimmungsniederlagen. Der politische Katholizismus hielt Wirtschaftsliberalismus und industriellem Massenelend christliche Werte wie Solidarität und Moral sowie eine naturrechtlich-harmonistische Gesellschaftskonzeption entgegen, forderte korporativen Ständeausgleich und Bedürfnisorientierung anstelle freier Gesellschaftsorganisation und reiner Marktmechanismen ein; er brachte mit dem Zentrum eine originär rheinisch-westfälische Partei hervor, die in den Westprovinzen eine ihrer Hochburgen fand, während er im calvinistisch-reformierten Lippe keinerlei nennenswerte Rolle spielte. Bereits nach dem Kölner Ereignis schlossen sich Katholiken auf den ständischen Provinzialversammlungen erstmals schichtenübergreifend zusammen, um durch Anträge und Petitionen für die Rechte ihres Glaubens einzutreten; auch in den Debatten der Paulskirche folgten katholische Abgeordnete – verteilt auf verschiedene Gruppierungen – diesem Ansinnen und distanzierten sich in dem von August Reichensperger initiierten Katholischen Klub von radikalen demokratischen Äußerungen.684 Nachdem ein Erlass des preußischen Kultusministers Karl Otto von Raumer 1852 das katholische Theologiestudium und die Volksmission starken Reglementierungen unterwarf, bildete sich schließlich im preußischen Landtag der erste feste fraktionelle Zusammenschluss katholischer Abgeordneter mit deutlicher rheinisch-westfälischer Dominanz.685 Die meisten ihrer Mitglieder ent684
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Vgl. hierzu Lademacher, Die nördlichen Rheinlande, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 529ff.; Behr, Provinz Westfalen und das Land Lippe, in: Kohl, Westfälische Geschichte 2, S. 69f. sowie Hegel, Eduard: Die katholische Kirche 1800-1962, ebd., S. 341-384, hier: S. 358ff. 1853 zählten 36 von 63 Rheinländern und 16 von 31 Westfalen zur 64-köpfigen katholischen Fraktion. Vgl. Grünthal, Günther: Parlamentarismus in Preußen 1848/49-1857/8. Preußischer Konstitutionalismus - Parlament und Regierung in der Reaktionsära, Düsseldorf 1992, S. 404.
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stammten den Regierungsbezirken Düsseldorf und Münster, die bereits aufgrund ihrer quantitativen Überlegenheit die Grundausrichtung der durch die rheinischen Brüder August und Peter Reichensperger sowie den Münsterländer Wilhelm Emmanuel von Ketteler geführten Fraktion – die Wahrung der Kirchenrechte, die Gegnerschaft zum Liberalismus, die Abwehr der protestantischen Zentralgewalt, regionale Autonomie sowie die Kritik am unbeschränkten Kapitalismus – maßgeblich mitbestimmten.686 Vor allem Ketteler näherte die Fraktion und das katholische Milieu mit Schriften zur Sozialpolitik und zur Verfassungsfrage dem anfänglich kritisch beäugten preußischen Staate an und lieferte Schlagwörter, die die Politik des späteren Zentrums prominent mitbestimmten. Aufbauend auf dem Sozialkatholizismus,687 betonte der in Mainz tätige Bischof die subsidiäre Bedeutung kleiner Gesellschaftseinheiten sowie föderaler Selbstbestimmung und forderte die Eingliederung der Katholiken in den preußischen Staat innerhalb eines ständisch-harmonischen Gesellschaftsausgleichs, um Religionsrechte durch aktive Mitwirkung zu sichern. Ketteler war ebenso ein Initiator des Weges, Sozialreformen innerhalb der bestehenden Ordnung zu erreichen und forderte die Kirche auf, soziale Verbesserungen in Anerkennung der Leistungen des freien, industriellen Wirtschaftslebens durch eine organisierte Arbeiterschaft zu erreichen; Reformen sollten sozialpartnerschaftlich beschlossen werden, um den Arbeitern ihre Menschenwürde und ein angemessenes Eigentum zu gewährleisten.688 Anstöße zur Gründung einer festen katholischen Partei kamen schließlich aus Westfalen: Auf den von Hermann von Mallinckrodt 1863 angestoßenen Soester Konferenzen trafen sich Vertreter katholischer Arbeiter- und Bauernvereine sowie Politiker, um in Anerkennung des parlamentarischen Systems und seiner mehrheitsbasierten Funktionsweise einen stärkeren Zusammenschluss zur Durchsetzung eigener Interessen vorzubereiten. Grundlage für die Bildung des Zentrums wurde das 1870 verabschiedete Soester Programm, das die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Kirche sowie föderale Gewaltenteilung forderte und den Ausgleich von Kapital, Grundbesitz und Arbeit sowie den moralischen und körperlichen Schutz der Arbeiterschaft betonte.689 Bei geringeren Werten in Westfalen, wurde
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So vermerkte der rheinische Abgeordnete August Reichensperger: „Die adligen Herren, meist Westfalen, bilden…die äußerste Rechte, die Rhein- und Moselbewohner die Linke, die Westfalen das Zentrum“, zitiert nach Becker, Der politische Katholizismus in Rheinland-Westfalen vor 1890, in: Düwell/Köllmann, RheinlandWestfalen 1, hier: S. 277. Der Sozialkatholizismus betonte die christliche Distanz zu Reichtum und Konkurrenz. Aus dem Christentum wurde zu Solidarität und Gerechtigkeit aufgerufen, Wirtschaftsfreiheit aus der Förderung von Konkurrenz und Egoismus abgelehnt. Die liberale Wirtschaftsfreiheit stehe so den Interessen der Arbeiter entgegen, da sie in einer schwächeren Position seien. Korporative Zusammenschlüsse, Bildungsmaßnahmen sowie staatliche Eingriffe in Eigentums- und Arbeitsrecht sollten die Not lindern helfen. Zu nennen sind als Vorläufer etwa Adam Müller, Franz von Baader und Franz Joseph Buss; im Kaiserreich waren der Professor für christliche Soziallehre Franz Hitze aus Münster, der für das rheinische Zentrum in Landtag und Reichstag saß, und der frühere Arbeitersekretär Johannes Becker aus Olpe prononcierte Vertreter des Sozialflügels. So in den Schriften Deutschland nach dem Kriege von 1866, Die Katholiken im deutschen Reiche von 1873 sowie Die Arbeiterfrage und das Christentum von 1864. Vgl. hierzu auch Nipperdey, Deutsche Geschichte 18661918, Bd. 2, S. 455f., 459f. Vgl. Soester Programm - Wahlprogramm der Zentrumspartei ‚Für Wahrheit, Recht und Freiheit!’ vom 20.10.1870, in: Bachem, Karl: Vorgeschichte, Geschichte und Politik der Deutschen Zentrumspartei. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Katholischen Bewegung, sowie zur allgemeinen Geschichte des
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
das Zentrum fortan die bei Reichs- wie Landtagswahlen konstant stärkste Partei in den Westprovinzen und integrierte die katholische Bevölkerung schichtenübergreifend.690 Kirche und Klerus wurden zu den bedeutendsten, wählermobilisierenden vorpolitischen Instanzen, die die Gläubigen in ein katholisches Milieu einbanden und die Stimmabgabe für deren Parlamentskandidaten sicherten; neben Sonntagspredigten gewährleisteten die um die Kirchen gebildeten Vereine – zwar organisatorisch vom Zentrum getrennt, aber durch gleichgelagerte Weltanschauung, personale Doppelmitgliedschaften sowie die äußere Bedrohung des Kulturkampfes verbunden – den inneren Zusammenhalt.691 Vor dem Hintergrund divergenter landschaftlicher Grundprägungen und ihres föderalen Grundcharakters fielen die ersten Wahlprogramme der Partei unterschiedlich aus: Während das Zentrum im Rheinland an liberalere Traditionsstränge anknüpfte, überwogen in Westfalen agrarisch-konservativere Positionen;692 kamen in rheinischen Wahlaufrufen eher bürgerlich-liberale Freiheitsforderungen und die Berücksichtigung des Allgemeinwohls zum Tragen, propagierten westfälische Wahlkomitees stärker die Berücksichtigung katholischer Ordnungsvorstellungen als Grundlage von Staat und Gesellschaft.693 Sogar noch während des Ersten Weltkriegs unterstützte der stärker durch christlich-soziale
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neueren und neuesten Deutschland, Bd. 3: Das neue Zentrum und der Kulturkampf in Preußen 18701880 (1927), ND Aalen 1967, S. 113f. Von den 35 rheinischen Sitzen fielen 23, von den 17 westfälischen 8 dem Zentrum zu. 1874 holte es 27 Sitze in der Rheinprovinz und in Westfalen 8; 1877 gewann die Partei im Rheinland 27, in Westfalen weiterhin 8 Sitze; 1903 gewann das rheinische Zentrum 29, 1907 28 und 1912 27 Sitze, das westfälische in denselben Jahren 9, 9 und 8. Bei den Landtagswahlen gewann das rheinische Zentrum - bei 61 Sitzen – 1870 21, 1873 38, 1876 38, 1903 44, 1908 37 (von nun 51) und 1913 36 Sitze, das westfälische 1870 15, 1873 15, 1876 15, 1903 14, 1908 17 (von nun 32) und 1913 15 Mandate. Vgl. Ribhegge, Preußen im Westen, S. 227, 255f. Der höhere Protestantenanteil Westfalens erklärt die stetig schwächeren Erfolge des Zentrums in dieser Provinz; im Gegenzug war die katholische Milieubildung hier trotzdem stärker als in der Rheinprovinz, gelangen auch in den oberen Steuerklassen und in den Städten Wahlerfolge; die direktere Konfrontation mit dem Protestantismus sowie die geringeren wirtschaftsbürgerlichen Interessen förderten den eigenen Zusammenschluss und die primäre Berücksichtigung der Konfession statt ökonomischer Eigeninteressen. Vgl. hierzu auch Rohe, Wahlen und Wählertradition, S. 54. Vgl. Hehl, Ulrich von: Zum politischen Katholizismus in Rheinland-Westfalen 1890-1918, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 2, S. 56-71, hier: S. 58, 61f. Vgl. Rohe, Wahlen und Wählertradition, S. 83. Ersichtlich wurde der stärkere konservative Einfluss, den der Adel in Westfalen nahm; auch waren westfälische Vertreter stärker konfessionell gebunden. Das konservativ-adlige Vereinswesen war in den drei früheren Kirchenstaaten besonders stark, so dass das katholische Milieu hier einen festen Zusammenhalt unter traditionellen Vorzeichen wahrte. In der Rheinprovinz hingegen äußerte sich ein gegenwartsnäheres Politikverständnis, das auch der alltäglichen Erfahrung bürgerlich-industrieller Lebensweisen auch den Kurs der Partei ableitete. Der Blick auf soziokulturelle Grundmuster und Traditionen vermag somit landschaftliche Unterschiede zu explizieren. Die Hochburgen des politischen Katholizismus, das Münsterland, das Paderborner Land und das kölnische Sauerland, waren agrarisch dominierte Landschaften, in denen der Landadel seine Position länger halten konnte, die industrielle Entwicklung und die Entstehung eines Proletariats traten verzögert ein. In der Rheinprovinz hingegen hatte das Zentrum seine Vormachtstellung zwar auch in den ländlichen Gebieten des Niederrheins, die jedoch traditionell engere strukturelle Bindung an die städtischen Gewerbe und deren soziale Probleme, die fortgeschrittenen Gewerbestrukturen besaßen; der allgemein bürgerlichere Charakter der Landschaft wirkten aber auch in den ländlichen Raum hinein. Bezug genommen wird auf die Wahlaufrufe 1874, vgl. Lepper, Herbert: Volk, Kirche und Vaterland. Wahlaufrufe, Aufrufe, Satzungen und Statuten des Zentrums 1870 – 1933. Eine Quellensammlung zur Geschichte insbesondere der Rheinischen und Westfälischen Zentrumspartei, Düsseldorf 1998, S. 170177.
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Arbeitervereine geprägte rheinische Teil die Anwendung des gleichen Reichstagswahlrechts auch in Preußen, während der dem konservativem Parteiflügel angehörende, stärker aus dem hiesigen Landadel besetzte westfälische Verband dies ablehnte, da dieses die großstädtisch-industriellen Ballungsgebiete und die parlamentarische Linke gestärkt hätte.694 Insbesondere katholisch-ländliche Regionen, in denen die Kirche ihre Macht länger als in den säkularisierten Städten zu erhalten vermochte, bescherten der Partei sowohl auf Provinz- wie auf Reichsebene große Erfolge. Vor allem agrarisch-mittelständisch geprägte Kleinstädte und Gemeinden entlang des Niederrheins, im Münster- und Paderborner Land sowie im kurkölnischen Sauerland waren Hochburgen des Zentrums, schließlich vertrat auch der katholische rheinisch-westfälische Adel – im Unterschied zu seinen protestantisch-ostpreußischen Standesgenossen – seine Interessen primär über Kirche und Zentrum und relativierte die Standesgenossenschaft zum Königshaus.695 Urbanisierung, Säkularisierung und nachlassende äußere Bedrohung durch den preußischen Staat begleiteten einen schleichenden Mentalitätswandel, der das katholische Milieu allmählich unterminierte; mit der nachlassenden Bindungskraft der Kirche ging die alltagsstrukturierende und orientierende Funktion jener Organisationsnetze verloren, das Wahlverhalten folgte zusehends anderen als konfessionellen Kriterien, so dass sich die Zentrumsdominanz abnahm, ohne jedoch ihr Übergewicht einzubüßen.696 Stärker als den anderen Parteien gelang es dem politischen Katholizismus, sein hiesiges Wählerpotential an sich zu binden und gegensätzliche gesellschaftliche Positionen durch das gemeinsame Interesse an der Sicherung der Kirchenrechte zusammenzuhalten. Zwar erforderte die heterogene Anhängerschaft die oftmals schwierig zu vereinbarende Aufnahme sozialer, wirtschaftliberaler und konservativer Forderungen, um die Partei für alle Kreise wählbar zu machen, doch überlagerte das gemeinsame konfessionelle Interesse vor allem in den Anfangsjahren sämtliche Strukturvariablen und steuerte das Wahlverhalten stärker als die soziale Herkunft. Trotz aller Auflösungserscheinungen blieb das Zentrum bis zum Ende der Weimarer Republik die wichtigste rheinisch-westfälische Partei mit maßgeblichem Einfluss auf den preußischen Gesamtverband; die Kölner Carl Trimborn und Wilhelm Marx besetzten bis 1928 die Partei- und Fraktionsspitze und stärkten mitsamt der zumeist aus den Westprovinzen stammenden christlichen Gewerkschaftern in der Fraktion den sozialpolitischen Kurs der Partei. 697
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Unterstützt wurde diese Sicht vom preußischen Episkopat. Vgl. Patemann, Reinhard: Der deutsche Episkopat und das preußische Wahlrechtsproblem 1917/18, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 13 (1965), S. 345-371. Vgl. Weitz, Der niederrheinische und westfälische Adel, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 1, S. 34f. Bis etwa 1900 war die Kirche in der Lage, diese Integration zu gewährleisten. In der Folge schwächte sich die soziale und kulturelle Einbindungskraft ab, so dass sich Einheimische und Zugewanderte nicht mehr entlang der Kirche, sondern ihren persönlichen Interessen organisierten. Der parallel stattfindende Aufstieg der Sozialdemokratie unterstreicht dies. Vgl. Rohe, Wahlen und Wählertradition in Deutschland, S. 80. In der Rheinprovinz holte sie 48,1%, in Westfalen 36,3% im Gegensatz zum Reich, wo es auf 19,7% kam. Von den 81 Abgeordneten des ersten frei gewählten Landtags von 1921 kamen 51 aus den Westprovinzen, bei den Wahlen zum rheinischen Provinziallandtag fielen 1921 von den 159 Sitzen 73 an das Zentrum, 26 an die SPD und 19 an die DVP; in Westfalen gewann das Zentrum 49 von 134 Sitzen, der SPD fielen 32 und der DVP 18 zu. Vgl. Ribhegge, Preußen im Westen, S. 390. Selbst bei den letzten
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
Selbst im industrialisierten Ruhrgebiet vermochte die Partei Stimmenanteile und einen Großteil der Arbeiter für sich zu gewinnen.698 Im Vergleich zu Stimmkreisen wie München oder Köln, die ebenso über einen hohen Katholikenanteil und eine ausgebildete Wirtschaftsstruktur verfügten, zeichnete sich das Ruhrgebietszentrum durch deutlich höhere Wahlerfolge aus, da es von der Beibehaltung ländlich-agrarischer Verhaltensmuster innerhalb des industriell-städtischen Umfelds profitierte.699 Dessen ansonsten typische klassenbezogene Scheidelinien bildeten sich hier allenfalls zeitlich verzögert aus, das ausgebaute katholische Vereinswesen integrierte die Menschen in das netzwerkartige kirchliche Milieu, das Weltbilder und Wahlverhalten abseits der sozialen Lage aufrechterhielt. Neben dem Konfessionsfaktor band der ausgesprochen soziale Charakter des rheinisch-westfälischen Zentrums – die in den Arbeitervereinssekretariaten tätigen Mitarbeiter bildeten oftmals den linken Flügel des Zentrums – zahlreiche Arbeiter an die Partei.700 Soziale Unterstützung und programmatische Rhetorik immunisierten sie vor sozialistischen Parteien und erschwerten der SPD den Aufstieg, wie auch der Volksverein für das katholische Deutschland wichtigste Bastion eines linken Katholizismus war, der durch sozialreformerisches Wirken die Arbeiterschaft an das Zentrum band.
E.VI.3. Arbeiterbewegung Die für die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (seit 1890: SPD) vordergründig günstigen bevölkerungsstrukturellen Kennziffern korrelierten im historischen Nordrhein-Westfalen kaum mit entsprechenden Wahlerfolgen. Trotz der bereits Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Industrialisierung und dem Anwachsen der Arbeiterschichten bestand kein unmittelbarer Konnex zwischen – zweifelsohne vorhandenem – Proletariat und proletarischer politischer Interessenvertretung; der konfessionelle Sperrfaktor sowie die sozialpolitischen Aktivitäten der Kirchen verhinderten den Aufstieg der atheistischen Arbeiterbewegung, die zwar lokal an Bedeutung gewann, ohne im Gesamtraum eine Hochburg zu besitzen. Katholische Industriebeschäftigte blieben bis zum Ersten Weltkrieg eng an das amtskirchliche Organisationsnetz, an christliche Gewerkschaften und Zentrum gebunden, während Fabrikarbeiter aus pietistisch geprägten Regionen häufig zu einem „christlich-
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freien Wahlen zum preußischen Landtag 1932 blieb das Zentrum in der Rheinprovinz und in Westfalen trotz ungünstiger gesamtstaatlicher Entwicklungen vor der NSDAP, vgl. ders., S. 305f., 511f. Nichts verdeutlicht den katholischen Grundcharakter der Region besser als die einzigartige Mehrheit, die das Zentrum im Stadtrat Münsters besaß; ansonsten dominierten in den Städten liberal-bürgerliche Parteien. Vgl. Ribhegge, Preußen im Westen, S. 238. Zwischen 1871 und 1912 schwankte das Zentrum im Ruhrgebiet grob um die 30%-Marke und war in den Jahren 1890-1902 stärkste Kraft im Ruhrgebiet. Vgl. die - freilich nicht nach Schichten untergliederte – Tabelle IV: Reichstagswahlen historisches NordrheinWestfalen ohne Ruhrgebiet/mit Ruhrgebiet im Kaiserreich bei Rohe: Karl: Die Vorgeschichte. Das Parteiensystem in den preußischen Westprovinzen und in Lippe-Detmold 1871-1933, in: Alemann, Ulrich von (Hrsg.): Parteien und Wahlen in Nordrhein-Westfalen, Köln u.a. 1985, S. 22-47, hier: S. 43. So lag die Mobilisierungsrate katholischer Wähler für das Zentrum 1898 bei 17,8% in München, bei 34,6% in Köln und bei 67,3% im Ruhrgebiet. Vgl. Rohe, Vom Revier zum Ruhrgebiet, S. 45. Vgl. Lademacher, Die nördlichen Rheinlande, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 722 sowie Kellenbenz, Wirtschafts- und Sozialentwicklung der nördlichen Rheinlande seit 1815, in: dies., Rheinische Geschichte 3, S. 122.
E.VI. Politische Grundströmungen
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konservativen Anti-Kapitalismus“ tendierten und andere Parteien bevorzugten.701 Ihre größten Erfolge errang die SPD in traditionellen Gewerbegebieten mit protestantischer Bevölkerungsmehrheit und hohem Handwerks- und Facharbeiteranteil wie im Bergischen Land, im Märkischen Sauerland und in Ravensberg;702 folglich wendete sich der Dortmunder Rheinisch-Westfälische Arbeitertag 1875 auch eher an jene Kleinbürger anstatt an das entstehende Fabrikproletariat.703 Frühestes Agitationsfeld sozialistischer Gruppierungen wurde die rheinisch-bergische Gewerberegion. Die von Karl Marx und Moses Heß getragene Neue Rheinische Zeitung trieb von Köln die 1848er Revolution an, half bei der Veranstaltung eines Arbeiterkongresses und sandte kommunistische Impulse an den lokalen Arbeiterbildungsverein, die durch den von Carl Wilhelm Klein mitgetragenen Bund der Kommunisten und die von Stephan Born initiierte Allgemeine Deutsche Arbeiterverbrüderung insbesondere in das bergische Städteviereck Barmen, Elberfeld, Remscheid und Solingen ausstrahlten.704 Aus Düsseldorf leistete Ferdinand Lassalle seit den 1850er Jahren politische Bildungsarbeit, gründete bergische Kassen- und Unterstützungsvereine und machte diese zu Kommunikationszentren, die unter der entstehenden Arbeiterschaft die Entstehung eines solidarischen Gemeinschaftsbewusstsein lancierten.705 Lassalle sah Demokratie und allgemeines Wahlrecht als Vorbedingungen der Lösung der sozialen Frage und Produktivassoziationen als Gegenmittel zur Unternehmermacht, die aber staatlich finanziert und gesichert werden sollten; der Staat sollte nicht absterben, sondern war ihm notwendiges Mittel auf dem Wege der Befreiung der Arbeiterschaft.706 Die Lassallesche Aufbauarbeit und die von ihm postulierten Werte wie Solidarität, Selbsthilfe oder Arbeiterbildung bereiteten das Feld für Organisationserfolge seines Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV), dessen Mitglieder sich 1864 zu 60% im Rheinland und zu 40% aus dem Bergischen Land rekrutierten; dem ADAV schlossen sich Arbeitervereinigungen aus Köln, Düsseldorf, Barmen, Elberfeld und Solingen, aber keine aus Westfalen an.707 Während mit Johann Baptist von Schweitzer im Wahlkreis Elberfeld-Barmen 1867 der erste sozialistische Abgeordneter in den Norddeutschen Reichstag gewählt wurde und Arbeitervertreter die ersten Reichstagswahlen im bergischen Städteviereck für sich entschieden,708 701 702 703 704 705 706
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Mooser, Josef: Der Weg vom proto-industriellen zum fabrik-industriellen Gewerbe in Ravensberg 18301914, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 1, S. 73-95, hier: S. 88. Vgl. Reulecke, Rheinland-Westfalen von den 1850er Jahren bis 1914, in: Briesen et. al., Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte, S. 117. Vgl. Herzig, Arno: Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein in der deutschen Sozialdemokratie. Dargestellt an der Biographie des Funktionärs Carl Wilhelm Tölcke (1817-1893), Berlin 1979, S. 315-319. Vgl. Lademacher, Die nördlichen Rheinlande, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 565ff., 567f.,618. Vgl. Dowe, Dieter: Zur Frühgeschichte der Arbeiterbewegung im Bergischen Land bis 1875, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 2, S. 148-169, hier: S. 153f. Am 1. März 1863 veröffentlichte Lassalle auf Anfrage der Berlin-Leipziger Arbeiterkongresse zur Verfassung eines Arbeiterprogramms ein offenes Antwortschreiben, in dem diese Grundzüge auftauchten. Vgl. hierzu auch Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 1, S. 741ff. Vgl. Ferdinand Lassalle gründet Arbeiterpartei, in: Chronik-Verlag (Hrsg.): Die Chronik der Deutschen, Gütersloh/München 2007, S. 239 sowie Becker, Bernhard: Geschichte der Arbeiter-Agitation Ferdinand Lassalle`s. Nach authentischen Aktenstücken (1875) ND Berlin/Bonn 1978, S. 299f. Vgl. Kellenbenz, Wirtschafts- und Sozialentwicklung, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 3, S. 30. sowie Dowe, Zur Frühgeschichte der Arbeiterbewegung, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 2, S. 162.
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
entfaltete sich die Arbeiterbewegung in Westfalen langsamer. Der Iserlohner Carl Wilhelm Tölcke veranstaltete in den 1860er Jahren Arbeitertage im entstehenden Ruhrgebiet, im Märkischen Sauerland und in Ravensberg, um die Ideen Lassalles zu verbreiten, ohne dieselbe Resonanz zu ernten; folglich war auf dem Vereinigungsparteitag des ADAV mit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) 1875 nur ein westfälischer Abgeordnete vertreten.709 Wo in Teilen des Ruhrgebiets der katholische, in Ravensberg oder dem Siegerland der pietistische Sperrfaktor Erfolgen entgegenstand, gedieh die Idee der Produktionsassoziation dennoch allmählich in heimgewerblich geprägten Gebieten mit ihren der industriellen Konkurrenz unterlegenen Kleinbetrieben. Iserlohn, Hagen oder Bielefeld entwickelten sich zu Hochburgen der Sozialdemokratie und vermochten auch ihr Umland für diese zu gewinnen, wobei insbesondere die Bielefelder Sozialdemokratie hieraus ihren spezifischen Charakter entwickelte und auf die ländlich-agrarische und pietistische Herkunft einpendelnder Arbeiterbauern einging, um innerhalb der Ravensberger Landschaft Erfolg zu haben; sie gab sich eine gemäßigte Programmatik, die die ostwestfälische SPD prägte und die Regionalpartei über Personen wie Carl Severing dem reformistischen Flügel der Gesamt-SPD zuordnete.710 Seit der Jahrhundertwende wurde die Partei bei den Reichstagswahlen zwar zur zweitstärksten Kraft innerhalb der preußischen Westprovinzen, vermochte bei den Wahlen zum preußischen Landtag hingegen nicht zu reüssieren; das Klassenwahlrecht behinderte Wahlerfolge.711 Traditionell dominierte sie – zuletzt mit Friedrich Ebert – den Wahlkreis Elberfeld-Barmen, seit 1903 mit Philipp Scheidemann auch Solingen; 1903 und 1912 gewannen die Sozialdemokraten in Remscheid-Lennep-Mettmann, 1912 in Köln-Stadt sowie in Düsseldorf-Stadt. Während die Arbeiterbewegung in Westfalen nur allmählich mit Ortsgruppen Fuß fasste und diese seit 1907 den Bielefelder Wahlkreis Carl Severings, 1912 zudem die Wahlkreise Hagen und Altena gewannen, dehnte sich das sozialdemokratische Organisationswesen im südlichen Ostwestfalen und im Paderborner Land erst nach dem Ersten Weltkrieg aus; ähnlich dem Siegerland, erwiesen sich beide Regionen für dessen Propaganda als weitgehend unzugänglich.712 709 710
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Vgl. Behr, Die Provinz Westfalen und das Land Lippe, in: Kohl, Westfälische Geschichte 2, S. 115. Die Bielefelder Sektion war Paradebeispiel für einen regionalisierten Parteicharakter. Aus der besonderen regionalen Struktur mit bäuerlichem Umland und ausgebildetem ländlichen Heimgewerbe betonte die SPD stärker bäuerliche Interessen, anstatt die Vergesellschaftung von Großbetrieben zu propagieren. Die eher konservative Klientel mit traditionalistischem Wertehorizont eignete sich kaum für sozialistische Ideologien, sondern war an praktischen Lösungen für die örtlichen Probleme interessiert. In pragmatischer Herangehensweise wurde Kooperation vor Klassenkampf gestellt. Zudem wurde versucht, christliche Erweckungsbewegung und Sozialdemokratie zu vereinen. Die Tradition der Verinnerlichung, des Rückzugs statt aktiver Änderung der Verhältnisse, machte den Verweis auf die unmoralisch-unchristliche Haltung der Arbeitgeber notwendig, um Protestpotential freizusetzen. Karl Kautsky bemerkte hierzu 1880: „Um bei den Bauern, die noch sehr dem Einfluss der Kirche unterliegen, ein offenes Ohr zu finden, müssen die sozialdemokratischen Agitatoren ihre atheistische Grundgesinnung zu Hause lassen…Der Boden für diese Erkenntnis (des besseren Lebens auf Erden A.W.) kann nur bereitet werden, wenn die Bauernagitation höchst vorsichtig – wenn es sein muss, im religiösen Gewand – zu Werke gehen“, vgl. hierzu Schaaf, Fritz: Der Kampf der deutschen Arbeiterbewegung um die Landarbeiter und werktätigen Bauern 1848-1890, Berlin 1962, S. 232. Im Rheinland gewann die SPD 1903 2, 1907 3 und 1912 5 von 35, in Westfalen 2, 3 und 3 von 17 Sitzen. Vgl. Ribhegge, Preußen im Westen, S. 255. Ditt, Arbeiterbewegung in Ostwestfalen, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 2, S. 235, 240f. sowie Behr, Die Provinz Westfalen und das Land Lippe, in: Westfälische Geschichte 2, S. 115.
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Mit zunehmender Abwendung der einstmals konfessionell gebundenen Arbeiter von den Kirchen wurden die SPD sowie die infolge des Ersten Weltkriegs entstehende USPD/KPD zu „Ersatz-Religion(en)“,713 innerhalb derer der zuvor enge Nexus von Glaube und Wahlverhalten unter Extraditionalisierungsvorzeichen fortgesetzt wurde: Auf der Suche nach neuen Leitbildern boten sich ihnen anscheinend Organisationen an, die über ein ähnlich homogenes Ordnungsgefüge wie die katholische Kirche verfügten: Signifikant häufiger gewann die KPD in Weimarer Zeit mit ihrem geschlossen-sozialistischen, Orientierung und Halt versprechenden Gedankensystem katholische Wahlkreise vor der SPD,714 während sich der begonnene Aufholprozess der SPD sich gegenüber starken Zugewinnen der Kommunisten verlangsamte.715 Kirchlich geprägte Arbeiter blickten traditionell stärker auf den Staat und auf materielle Verbesserungen innerhalb des Systems, als dieses zu revolutionieren; die Nichterfüllung sozialer Forderungen auf harmonistischem Wege, die Enttäuschung über die staatsnahe, reformistische Politik der Nachkriegs-SPD – die revolutionäre Umstürze verhinderte und eine parlamentarische Demokratie anstelle einer klassenlosen Gesellschaft anstrebte –, wirtschaftliche Turbulenzen sowie der Zustrom junger, ungelernter und nur gering integrierter Arbeitskräfte trugen zur Radikalisierung der Wählerschaft bei und weckten Frustpotential, das extremen Parteien zukam.716 Neben diesem Entwurzelungsphänomen wurden Regionen mit tiefreichenden sozialistischem Wurzeln wie das Bergische Land zu USPD/KPD-Hochburgen, während solche mit reformistischeren Traditionen wie Ostwestfalen eher der SPD verhaftet blieben; am stärksten schnitt die KDP infolgedessen im Wahlkreis Düsseldorf-Ost ab.717 Im Ruhrgebiet gelang der SPD mit den Reichstagswahlen von 1903 der Durchbruch; hiernach steigerte sie kontinuierlich ihren Wähleranteil und vereinte hier bald ein Drittel der Stimmen auf sich. Im Vergleich zum restlichen historischen Nordrhein-Westfalen rangierten die Ruhrverbände etwa 10 Prozentpunkte vor den anderen Regionen, ohne der Partei jedoch annähernd die Werte zu verschaffen, die dem Sozialprofil der Industrieregion entsprochen hätten.718 Am Höchsten lagen die Erfolgschancen sozialdemokratischer Bewer713 714 715
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Kellenbenz, Wirtschafts- und Sozialentwicklung, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 3, S. 83. Vgl. Rohe, Wahlen und Wählertradition in Deutschland, S. 131. Bei den Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung 1919 gewann die SPD im Rheinland 25,2%, die USPD 5,5%; in Westfalen kam die SPD auf 35,4%, die USPD auf 3,9%. Dieser Vorsprung der SPD schmolz bis zu den Reichstagswahlen im November 1932. Während die SPD im Rheinland 11,6% gewann, gelang der KPD ein Stimmanteil von 19,2%; in Westfalen erreichte die SPD 15,9%, die KPD schaffte 19,9%. Vgl. Ribhegge, Preußen im Westen, S. 306, 336. Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 1, S. 240. Die Entwurzelungsthese versuchte, auf die Proteste der Arbeiter eine Antwort zu geben. Durch Abwanderung aus der abgestammten Heimat, dem Teilverlust der eigenen Identität, ohne in neuer Umgebung dieselbe Geborgenheit vorzufinden, sei erst der Impuls zu gewaltsamen Auseinandersetzungen gegeben worden. Vor allem zugewanderte Arbeiter, die nicht auf Grundbesitz zurückgreifen konnten, waren anfällig für Proletarisierung und radikale Proteste. Vgl. Tilly, Richard: Unruhen und Proteste in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: ders.: Kapital, Staat und sozialer Protest in der deutschen Industrialisierung, Göttingen 1980, S. 143-174, hier: S. 164. Diesem gehörten die Städte und Landkreise Düsseldorf, Mettmann, Barmen, Elberfeld, Solingen, Remscheid, Lennep und Essen an. Vgl. Ribhegge, Preußen im Westen, S. 532. Vgl. Tabelle IV: Reichstagswahlen historisches Nordrhein-Westfalen ohne Ruhrgebiet/mit Ruhrgebiet im Kaiserreich bei Rohe: Karl: Die Vorgeschichte. Das Parteiensystem in den preußischen Westprovinzen und in LippeDetmold 1871-1933, in: Alemann, Ulrich von (Hrsg.): Parteien und Wahlen in Nordrhein-Westfalen, Köln u.a. 1985, S. 22-47, hier: S. 43.
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ber in protestantischen Hellwegstädten: Franz Lütgenau war bereits 1895 gelungen, für Dortmund in den Reichstag einzuziehen, auch 1898 wurde die SPD in Dortmund sowie dem 1928 eingemeindeten Hörde stärkste Kraft;719 Bochum fiel 1903 und 1907, Duisburg 1907 an sozialdemokratische Bewerber. Die traditionell katholische Hellwegsstadt Essen entsandte in den genannten Jahren hingegen Politiker wie den dem linken Zentrumsflügel zugehörigen ehemaligen christlichen Gewerkschafter Johannes Giesberts in den Reichstag, und auch im ehemals vestischen Emschergebiet war das Zentrum die stärkste Kraft.720 Infolge der Radikalisierung der Arbeiterschaft nach dem Ersten Weltkrieg überflügelte die KPD die SPD im Ruhrgebiet ab 1930 um bis zu 10 Prozentpunkte. In der Industrieregion ballten sich Wirtschaftsprobleme, Arbeiterschichten und Extraditionalisierungserfahrungen, die die Ruhr-KPD zur stärksten politischen Kraft machten.721 Aus seiner sozioökonomischen Rückständigkeit stellte sich die soziale Frage in Lippe allenfalls verspätet und gewann die Arbeiterbewegung hier erst nach dem Ersten Weltkrieg an Bedeutung. Zwar kamen die lippischen Wanderarbeiter frühzeitig mit sozialistischem Gedankengut in Kontakt, doch dämmten die von Staat und Kirche organisierten antisozialdemokratischen Zieglermissionen ihre Prägekraft lange ein. Innerhalb des nur allmählich industrialisierten, ländlich-agrarischen Landes wurde soziales Konfliktpotential mit der Saisonarbeit nach außen abgeleitet, die auswärtigen Verdienste minderten die Armut der Bevölkerung, wie auch der hohe Anteil an kleinparzellierter Landwirtschaft half, politisierbares Elend zu mindern; trotz allmählicher sozialdemokratischer Wahlerfolge blieben selbst untere gesellschaftliche Schichten zunächst vornehmlich Teil der gegen Fürstenhaus und ständische Verhältnisse gerichteten Agitation des lippischen Linksliberalismus.722 Erst nach der Erreichung des übergeordneten Ziels der Brechung der Adelsprivilegien überflügelte das Klasseninteresse auch in Lippe andere Strukturvariablen, die SPD gewann 1919 unter freiem Wahlrecht eine absolute Mehrheit und sicherte sich seither bis 1933 bei jeder Landtagswahl die meisten Mandate.723 Insbesondere die Bielefelder SPD hatte maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung der lippischen Sozialdemokratie.724 Der mit dem Ausbau der Verkehrsinfrastruktur eingeleitete Anschluss Lippes an das Ravensberger Industriegebiet – 1896 wurde die Teilstrecke Lemgo-Bielefeld eingerichtet – initiierte wachsende Pendelbeziehungen und den Transfer sozialdemokratischer Agitation über die Arbeitskräfte nach Lippe, so dass sich ab dem frühen 20. Jahrhundert ein anfängliches Arbeitermilieu bildete, das sich innerhalb des gemäßigtreformistischen Bielefelder Rahmens bewegte. Das Eingehen der Bielefelder SPD auf die 719
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Vgl. Dortmunder Stadtgeschichte: Industriebevölkerung und „soziale Frage“. Veränderung der städtischen Infrastruktur und Anfänge der Arbeiterbewegung, einsehbar unter http://www.dortmund.de/de/leben_in_dortmund/stadtportraet/stadtgeschichte/1819jahrhundert/arbei terbewegung/industriebevoelkerung.html (15.7.2010). Vgl. Ribhegge, Preußen im Westen, S. 255f. Vgl. die Tabellen VII: Reichstagswahlen von 1920 bis 1933 in Nordrhein-Westfalen ohne Ruhrgebiet/Ruhrgebiet, in: Alemann, Parteien und Wahlen in Nordrhein-Westfalen, S. 46; Tabelle 7: Reichstagswahlen im „historischen Nordrhein-Westfalen“ ohne Ruhrgebiet 1920-1933 sowie Tabelle 8: Reichstagswahlen im Ruhrgebiet 1920-1933, in: Rohe, Vom Revier zum Ruhrgebiet, S. 114f. Vgl. Ditt, Die politische Arbeiterbewegung in Ostwestfalen, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 2, S. 235, 241, 247. Vgl. die Wahlergebnisse bei Kittel, Heimatchronik, S. 290. Vgl. Rauchschwalbe, Karl: Geschichte der lippischen Sozialdemokratie, Bielefeld 1980, S. 83f.
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Belange der traditionsverhafteten Arbeiterbauern Ravensbergs entsprach dem lippischen Landschaftskosmos und machte ihre Positionen auch hier besonders aufnahmefähig, wie auch die fehlende Erfahrung politischer Verfolgung infolge der hier kaum anzuwendenden Sozialistengesetze radikale Bestrebungen minderte. Diese wechselseitigen Vernetzungen wurden besonders nach der Abdankung Leopolds IV. 1918 und der Steuerung des Übergangs durch den SPD-beherrschten Bielefelder Arbeiter- und Soldatenrat deutlich.725
E.VI.4. Konservatismus Parteigebunden spielte der Konservatismus in den Westprovinzen keine bedeutende Rolle: Weder im Kaiserreich, noch in Weimarer Zeit vermochten Deutschkonservative Partei oder Deutschnationale Volkspartei (DNVP) hier ähnliche Erfolge wie im östlichen Preußen zu erringen. Die hiesigen soziostrukturellen Voraussetzungen widersprachen dem ansonsten zu beobachtenden protestantisch-agrarisch-adligen Grundcharakter jener Parteien, diesem stand in Rheinland-Westfalen stets zumindest ein Sperrfaktor entgegen: Ländlichständische Regionen waren im historischen Nordrhein-Westfalen zumeist katholisch, protestantische Regionen wirtschaftlich entwickelt; konservative rangierten als fünftstärkste Kraft abgeschlagen hinter anderen Parteien726 und vermochten allenfalls in Westfalen sowohl bei Reichs- wie bei Landtagstagswahlen zu reüssieren, während sie im Rheinland auf Erfolge bei den Landtagswahlen beschränkt blieben.727 Dennoch existierten auch in den Westprovinzen innerhalb des Parteienspektrums konservative politische Ansichten. Die anfängliche restaurative Interessengemeinschaft rheinisch-westfälischer Standesherrn mit dem preußischen Staat wandelte sich seit dem Kölner Ereignis zwar zu einer Distanzierung des katholischen Landadels vom Königshaus; der Glaube wurde Sperrfaktor, der die hiesige Noblesse von ihren ostpreußischprotestantischen Standesgenossen schied und die von diesen beherrschte, 1848 gegründete Konservative Partei (Kreuzzeitungspartei) aus den Westprovinzen fernhielt. Wichtiger als eine solche originär parteiliche Vertretung wurde fortan vor dem Hintergrund landschaftlicher Prägungen der innerparteiliche Konservatismus: Die Nationalliberale Partei war in den Westprovinzen weniger liberal denn national, war modernisierte Variante des Konservatismus und Auffangbecken für Bürger, die weder Zentrum noch SPD wählten; die Ersatzkonservativen wurden nationalprotestantisches Pendant zum katholischen Milieu, sammelten schichtenübergreifend die Stimmen evangelischer Unternehmer, Kleinbürger und Arbeiter und bildeten die nationale Konfliktstellung gegenüber dem Katholizismus regional ab. Auch das Zentrum war Sammelpartei mit breitem innerparteilichem Spektrum, das in den 725 726
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Vgl. Kittel, Heimatchronik, S. 272, 283f. Vgl. Tabelle IV: Reichstagswahlen historisches Nordrhein-Westfalen ohne Ruhrgebiet/mit Ruhrgebiet im Kaiserreich sowie Tabelle VII: Reichstagswahlen von 1920 bis 1933 in Nordrhein-Westfalen ohne Ruhrgebiet/Ruhrgebiet, in: Alemann, Parteien und Wahlen in Nordrhein-Westfalen, S. 43, 46. Während konservative Parteien im Rheinland bei den ersten Reichstagswahlen kein Mandat gewannen, errangen sie in Westfalen 1871 3, 1874 2 und 1877 1 Sitz; 1907 fiel ein rheinisches Mandat an die Konservativen, in Westfalen 1903 2, 1907 1 und 1912 keins. Bei Landtagswahlen erlangten konservative Parteien in Westfalen 1870 6, 1873 1 und 1876 keins, bei den Wahlen 1903, 1908 und 1913 jeweils sechs Mandate und mussten sich im Rheinland mit je 2 Sitzen bei den letzten drei Wahlgängen begnügen. Vgl. Ribhegge, Preußen im Westen, S. 227, 255f.
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westdeutschen Verbänden neben sozialpolitischen Aspekten auch katholischen Adel und Bürgertum integrierte. Vor allem das westfälische Zentrum war dem konservativen Parteiflügel zuzurechnen, wenngleich auch der rheinische Verband Teil des katholischen Weltbildes und seiner ständisch-hierarchischen Strukturen war, die den politischen Konservatismus nährten. Eine progressive Partei wie die SPD stand solch beharrenden Positionen zunächst ferner, wenngleich vor allem der ostwestfälische Verband gemäßigt-bewahrende Positionen vertrat und auf dem rechten Flügel der Reichspartei stand. Anders als die soziostrukturellen Daten dies vermuten ließen, errangen konservative Parteien verstärkt in frühindustrialisierten Gebieten wie Ravensberg oder dem Siegerland Wahlerfolge. Die Einwohner beider pietistisch geprägten Regionen kennzeichnete ein stärkeres Festhalten am Bewährtem, eine Grundskepsis gegenüber Neuem sowie eine zögerliche Aufnahme moderner Fertigungstechniken,728 wie auch die erweckungsbewegte Betonung von Arbeitsamkeit, Askese und gottgewollter staatlicher Ordnung die hiesige Industriearbeiterschaft und ländliche Bevölkerung vor liberal-demokratischem Gedankengut sowie sozialistischem Radikalismus immunisierte und konservativere Positionen nährte.729 Sowohl in Minden-Ravensberg als auch im Siegerland reüssierten die 1878 gegründete Christlich-Soziale Partei (CSP) und ihre aus dem evangelischen Sozialkonservatismus – dieser sah die Antwort auf die proletarische Verelendung in einem sozialen Königtum, in staatlich befördertem Arbeiterschutz, Selbstorganisation und Solidarität, um radikale Umstürze zu verhindern – beeinflussten Positionen, deren Hauptfigur Adolf Stoecker von 1879 bis 1898 Landtagsabgeordneter Minden-Ravensbergs war und zwischen 1881 und 1893 sowie 1898 und 1908 den Reichstagswahlkreis Siegen-Wittgenstein gewann. In den kleinbetrieblich strukturierten Gebieten war die CSP parteilicher Ausdruck der Verbindung konservativer Staatsorientierung und solidarisch-pietistischer Bedürftigenfürsorge; sie propagierte einen Dritten Weg, der „Eigentum, staatliche Ordnung und christlichen Glauben nicht angriff,…aber sich als Partei des ‚kleinen Mannes’ zu profilieren suchte und eine arbeiter- und kleinbauerliche Politik versprach.“730 Stoeckers Grundanliegen, die Arbeiterschaft von der atheistischen SPD fernzuhalten und an die evangelische Kirche zu binden, traf sich mit dem christlich-konservativen Anti-Kapitalismus und der Obrigkeitsorientierung pietistischer Gemeinden; er erblickte im werterelativierenden Liberalismus den politischen Hauptgegner und forderte den Staat auf, sich seiner sozialen Verantwortung zu stellen, um ihn als solchen zu erhalten. Das ebenfalls pietistisch geprägte Bergische Land ließ die kleingewerblichen Strukturen Ravensbergs und des Siegerlandes hingegen früher hinter sich, hier dominierte seit dem Wirken Lassalles der Klassen- früher über den Konfessionsfaktor. 728
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Vgl. die Aussage des Oberbergrats Ludwig Wilhelm Cramers, das Siegerland sei „provinciell“ in: ders.: Vollständige Beschreibung des Berg-, Hütten- und Hammerwesens in den sämtlichen Hochfürstlich Nassau-Usingischen Landen nebst einigen statistischen und geographischen Nachrichten, Frankfurt a. M. 1805, S. 154. Vgl. Ditt, Karl: Industrialisierung, Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung in Bielefeld 1850-1914, Dortmund 1982, S. 40 und passim. Watermann, Karl Friedrich: Politischer Konservatismus und Antisemitismus in Minden-Ravensberg 1879-1914. in: Mitteilungen des Mindener Geschichtsvereins 52 (1980), S. 11-64, hier: S. 20f. Soziale Reformen sollten einvernehmlich durchgesetzt werden, das Eigentumsrecht wurde trotz antikapitalistischer Rhetorik befürwortet. Evangelische Pastoren predigten eine enge Partnerschaft von Thron und Altar und den Ausgleich von Kapital, Staat und Arbeit. und banden Arbeiterschichten durch Sozialleistungen in das protestantische Vereinswesen ein.
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In Weimarer Zeit zeigten sich organisatorisch und personell deutliche Kontinuitäten der Christlich-Sozialen Partei zur DNVP.731 Die Deutschnationalen wurden Sammelbecken konservativer Vorgängerparteien und integrierten in der Ablehnung von Demokratie und Republik und vor nationalprotestantischen Hintergrund Adel, Beamtentum und Militär sowie lutherische Geistlichkeit. Aus der Minderheiten- und Diasporasituation rheinisch-westfälischer Protestanten, der staatstragenden Rolle, die das Zentrum in der Weimarer Republik einnahm, dem Verlust protestantischer Gebiete im Osten des Reiches sowie dem Sturz des protestantischen Monarchen erwuchs auch hier ein nationalkonservatives Milieu, das der DNVP Auftrieb verlieh.732 In den Westprovinzen wendeten sich vor allem Kirchengebundene der Partei zu, die ebenjene Einschnitte auszugleichen versprach,733 doch blieben die Wahlergebnisse der Partei hier insgesamt unterdurchschnittlich, sie lag stets etwa nur bei der Hälfte der Stimmen, die sie im Reich und in Preußen gewann.734 Ihre Schwerpunkte lagen erneut in den pietistisch überformten Regionen, die sich auch als vergleichsweise anfällig für radikale politische Forderungen und Führungspersönlichkeiten erwiesen: Wo die NSDAP im Reichsvergleich in den Westprovinzen sowie im Ruhrgebiet unterdurchschnittlich abschnitt, feierte sie ihre größten Erfolge im Bergischen Land, im Siegerland und in Minden-Ravensberg. 735 Anders als in den Westprovinzen, dominierte die durch das Wahlrecht begünstigte Deutschkonservative Partei in Lippe bis 1908 den Landtag, gewann jedoch auf Reichsebene mit August Riekehof-Böhmer den Wahlkreis Lippe-Detmold einzig 1983.736 Auch ohne parteiliche Abbildung bewegten sich Staat und lippische Bevölkerung in konservativen Bahnen: Die dem Fürstenhaus unterstellte Landeskirche und ihr Erziehungssystem waren stark auf die Glaubensvermittlung und die öffentliche Ordnung abgestellt, Zieglermissionen umsorgten die Wanderarbeiter und hielten sie von der Sozialdemokratie fern, und auch diese bildete einen eher reformistischen Charakter aus. Nach dem Ersten Weltkrieg äußerte sich der traditionalistische Grundzug Lippes in dem Aufstieg der Deutschnationalen Volkspartei, die als originär konservative Vereinigung zur zweitstärksten politischen
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Vgl. am Beispiel Düsseldorfs die Untersuchung Gisbert-Jörg Gemeins: Die DNVP in Düsseldorf 19181933, Düsseldorf 1969, S. 104 und passim. Vgl. Clark, Preußen, S. 723. In Weimarer Zeit besaßen die hiesigen Verbände der DNVP gegen den Willen der Berliner Parteileitung eine enge Bindung an die evangelischen Kirchen, deren Mitglieder in Partei und Gremien drängten. Den Charakter der Landesverbände bestimmte auch die Zusammenarbeit mit evangelischen Arbeitervereinen. Vgl. Gemein, Gisbert Jörg: Politischer Konservatismus am Rhein und in Westfalen in der Weimarer Zeit, am Beispiel der Deutschnationalen Volkspartei, in: Düwell/Köllmann, Rhenland-Westfalen 3, S. 62-75, hier: S. 65f. Vgl. Ribhegge, Preußen im Westen, S. 345f. Wo die NSDAP im Juli 1932 mit 37,3% ihr bestes Reichstagswahlergebnis ereichte, errang sie im Rheinland 26,7, in Westfalen 25,5% und im Ruhrgebiet 21,2%. Im Wahlkreis Düsseldorf-Ost – dem Bergischen Städtedreieck - lag sie hingegen mit 31,6% ebenso an der Spitze wie in Westfalen-Süd – dem Regierungsbezirk Arnsberg - wo sie 27,2% schaffte. Düsseldorf-Ost war bereits 1930 an die NSDAP gefallen, Siegen-Wittgenstein war vor Minden-Ravensberg westfälischer Pionier bei nationalsozialistischen Mehrheiten. Vgl. Ribhegge, Preußen im Westen, S. 523; Kellenbenz, Wirtschafts- und Sozialentwicklung, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 3, S. 122 sowie Hey, Bernd: Die nationalsozialistische Zeit, in: Kohl, Westfälische Geschichte 2, S. 211-268, hier: S. 214ff. Vgl. Kittel, Heimatchronik, S. 268.
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
Kraft wurde.737 In ihr sammelten sich nach der Abdankung des Fürstenhauses adligmonarchistische Grundbesitzer sowie die Stützen des alten Staates aus Justiz, Polizei und Verwaltung, für die weder bürgerlich-liberale Parteien wie die DDP noch die SPD wählbar erschienen.738 Der seit 1928 amtierende DNVP-Parteivorsitzende Alfred Hugenberg nutzte die von ihm kontrollierte Lippische Tageszeitung zur Verbreitung konservativnationalistischen Gedankengutes und trug dazu bei, dass Lippe-Detmold – hier fehlte der katholische Sperrriegel, der andernorts den Aufstieg des Nationalsozialismus bremste, und auch die Gewöhnung an obrigkeitliche Politikgestaltung sowie die Verwehrung gesellschaftlicher Selbstverwaltungselemente beförderte die Akzeptanz von Führerfiguren – zu den Territorien gehörte, die sich frühzeitig und nachhaltig der NSDAP zuwendeten.739
E.VII. Landschaftliche Grundprägungen – Preußenzeit Die 130-jährige preußische Herrschaft über den Großteil des historischen NordrheinWestfalens überwölbte die aus dem Alten Reich tradierten landschaftlichen Grundprägungen und fügte Raum und Regionen eine zweite, an jene rückgebundene Identitätsschicht hinzu. In anderem Kontext ausgebildete Traditionen und Lebensformen, mentale Landkarten und kollektive Gedächtnisse behielten ihre Relevanz, wurden jedoch umgeformt und in neu ausgebildete Selbstverständnisse überführt. Diese Prozesse knüpften an bestehende Entwicklungspfade an und erweiterten hierüber hergebrachte kulturräumliche Gräben, überwanden sie aber auch auf einigen Feldern.740 Die Landschaftsentwicklung in Rheinland, Westfalen, Ruhrgebiet und Lippe blieb in der Preußenzeit durch innere Merkmalsdifferenzen gesteuert: Gesetzgebung und Vorschriftenkataloge schrieben spezifische Bedingungsmomente fest und hegten die politischen, sozioökonomischen und kulturellen Formierungsprozesse durch abweichende Gestaltungsplanken ein. Rheinland und Westfalen trennten unterschiedliche Rechtssysteme, das Ruhrgebiet hatte durch seine provinzübergreifende Ausbildung Anteil an beiden und erweiterte hierüber seine historische Zerklüftung, während das weitgehend eigenstän737 738
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1919 holte sie 5, 1921 5, 1925 6 und 1929 3 von 21 Mandaten; stärker war jeweils nur die SPD (11, 8, 8, 9). Vgl. ebd., S. 270, 290. Vgl. Hartmann, Jürgen: „Gegen die Juden und gegen die Republik!“ Die antidemokratische Rechte in Detmold 1914-1933, in: Niebuhr, Hermann/Ruppert, Andreas (Bearb.): Krieg – Revolution – Republik. Detmold 1914-1933. Dokumentation eines stadtgeschichtlichen Projekts. Bielefeld 2007, S. 263-297, hier: S. 273. Erreichte die NSDAP in der Rheinprovinz bzw. in Westfalen bei der Reichstagswahl vom 31.7.1932, bei der die Partei ihr bestes reichsweites Stimmergebnis mit 37% Zustimmung schaffte, lediglich 26,7 bzw. 25,5%, so errang sie in Lippe hingegen 39% der Stimmen; auf kommunaler Ebene besaßen bis auf Oerlinghausen bereits 1932 sämtliche Städte nationalsozialistische Mehrheiten. Vgl. Ribhegge, Preußen im Westen, S. 523 sowie Kittel, Heimatchronik, S. 300, 302. Bewusst herausgehalten werden weitestgehend die Jahre zwischen 1933 und 1945, da die Jahre der nationalsozialistischen Diktatur dem historischen NRW keinen spezifisch landschaftlichen Erfahrungsschatz hinzufügten, sondern diese eher einebneten. Die Gleichschaltung von Parlamenten und Verbänden uniformierte die Landschaften und unterdrückte Traditionen, ohne diese vollauf beseitigen zu können; mentale Landkarten und kollektive Gedächtnisse reichten so – wenngleich abgeschwächt und gebrochen – nach 1946 auch in das neugebildete Land Nordrhein-Westfalen hinein.
E.VII. Landschaftliche Grundprägungen – Preußenzeit
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dige Rechtswesen Lippes die lippische Verspätung prolongierte. Die administrative Zusammenfassung verschiedener Vorgängerterritorien zu preußischen Provinzen griff die in fränkisch-sächsischer Zeit angelegte rheinisch-westfälische Strukturgrenze auf und vertiefte sie; erst mit der Hervorhebung eines konkreten geographischen Ausschnitts und seiner namentlichen Bennennung konnte ein gegeneinandergerichtetes Raumbewusstsein entstehen, Rheinprovinz und Westfalen wurden zu Orientierungsgrößen, die die persönliche und kollektive Selbstverordnung zumindest begleiteten. Beide begegneten im alltäglichen Umgang mit staatlichen Einrichtungen und wurden abgrenzbare Einheiten, die ein oberflächliches Wissen um Herkunft, Zugehörigkeit und Distanz vermittelten. Mit den Provinzialständen existierten ab 1824 öffentliche Kommunikationsforen, die die innengerichtete Selbstverständigung sowie die Ausbildung eines provinziellen Sondergeistes unterstützten und mit ihrer Kultur- und Heimatpflege eine nicht nur verstandes-, sondern auch gefühlsgeleitete Bindung an jene Verwaltungsgebilde ermöglichten; sie beteiligten sich in vorderster Linie an der kulturräumlichen Erforschung Rheinlands und Westfalens sowie an der Etablierung kollektiver Identitätskonstrukte, die ein Wir von einem Die trennten. Das provinzübergreifende Ruhrgebiet entbehrte einer solchen sinnstiftenden Einrichtung; als ehemals zersplitterter Grenzraum war es nach 1815 auf drei Regierungsbezirke aufgeteilt und erhielt mit dem Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk erst 1920 eine übergreifende Planungsbehörde, die jedoch mehr Zweckverband als Selbstbespiegelungsforum war. Lippe schließlich wahrte seinen eigenen, alltagsrelevanten Erfahrungshorizont: Territoriale Integrität, Herrscherhaus und Landeskirche dienten einem lippischen Eigenbewusstsein ebenso wie die fehlenden gesellschaftlichen Umbrüche, das Land folgte seinem eigenen Entwicklungspfad, der – es ermangelte gesellschaftlicher Selbstverwaltungsorgane – vor allem staatlich bestimmt war. Gleichwohl wurden bestehende Strukturgräben in Teilen auch überwunden. Vornehmlich auf der Grundlage konfessioneller und ökonomischer Eigenheiten entwickelte sich seit den 1820er Jahren eine zusammenhängende Betrachtung der Westprovinzen und die Bindestrichbezeichnung Rheinland-Westfalen, da ähnliche Lebensverhältnisse – das dominante katholische Bekenntnis, das entwickeltere Gewerbeleben, eine bürgerlichere Kultur sowie die frühzeitigere Relevanz der sozialen Frage – die bereits geographisch vom adligagrarisch-protestantischen Ostelbien abgetrennten Westprovinzen zusammenschweißten und ihre Sonderrolle im preußischen Staat fundierten; ähnliche Grundkonflikte beförderten geteilte Irritationen, die ansatzweise ein innengerichtetes, durch institutionelle, provinzübergreifende Zusammenschlüsse abgebildetes rheinisch-westfälisches Wir-Gefühl erzeugten: Mit dem Zentrum entstand eine eng an den Raum gebundene Partei, die in Katholizismus, Subsidiarität und Sozialpolitik die Interessenwelt eines Großteils der Westprovinzen spiegelte, das Wirtschaftsleben schloss die Provinzen zusammen und harmonisierte Interessen gegenüber dem Gesamtstaat, das Ruhrgebiet wurde zum provinzübergreifenden Gravitationszentrum. Je länger je mehr wuchsen die Westprovinzen zwar in den preußischen Staat hinein, doch attestierten ihnen ausländische Beobachter noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein kaltes Verhältnis zu Preußen, Reich und Kaiser.741 Rheinischwestfälisch wurde so zum festen Begriff einer – bis auf Lippe – integrierten Außensicht, die 741
Für den französischen Journalisten Jules Huret waren Unternehmer und Industrie die wahren Herrscher in den Westprovinzen und nicht Politik oder Verwaltung. Vgl. ders.: En Allemagne. Rhin et Westphalie, Paris 1907, S. 231.
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
allerdings nicht unmittelbar mit der Innenperspektive übereinstimmte: Der Fokus richtete sich vornehmlich auf das Ruhrgebiet und weniger auf den Gesamtraum, rheinischwestfälische Organisationswelten folgten funktionalistischer Notwendigkeit anstatt intrinsischer Motivation und waren zuvörderst negative Integrationen aufgrund eines geteilten Gegners. Das historische Nordrhein-Westfalen blieb landschaftlich zersplittertes Gebiet, das Gemeinsamkeiten besaß – ein reiner Liberalismus setzte sich beispielsweise niemals durch; zu stark wirkte das katholisch-antikapitalistische Erbe, als dass ein schrankenloser Wettbewerb akzeptiert worden wäre –, die jedoch kaum eine deutungskulturell vermittelte Zusammengehörigkeit beförderten. Landschaftsbildungsprozesse, die kognitive Wahrnehmung, emotionale Bejahung sowie die subjektive wie kollektive Selbsteinordnung in abgesonderte Raumausschnitte liefen weiterhin auf subregionaler Ebene ab; insbesondere die zumeist bürgerlich getragenen Geschichts- und Heimatvereine wirkten an der Ausdeutung und Bereitstellung spezifischer Eigenbilder mit, trugen zur innengerichteten Selbstverständigung wie -verortung bei und standen hierbei in einem Spannungsverhältnis zu den großräumigeren Aktivitäten der Provinzialverbände.
E.VII.1. Landschaftsbilder Räume und Regionen, soziokulturelle Gemeinsamkeiten und Zusammenhänge bedürfen deutungskultureller Ausleuchtung, um sie von innen wie von außen, kognitiv wie affektiv als Landschaften wahrzunehmen. Innen- und Außenstehende tragen zu diesen Identitätsbildungsprozessen bei, indem sich erstere einen selbstbezogenen geistigen Überbau erschaffen und zweitere wahrnehmbare, der eigenen Herkunft fremde Charakteristika einer Gegend und ihrer Lebensformen weiterkommunizieren; diese Heterostereotype wirken zugleich auf die Selbstwahrnehmung ersterer zurück. Erst innerhalb des Nationsbildungsprozess des 19. Jahrhunderts beförderten die Errichtung regionaler Heimatmuseen, Geschichtsvereine und Forschungseinrichtungen sowie die sie begleitende literarische und kartographische Darstellungen die bewusste Gegenüberstellung von Rheinland, Westfalen, Ruhrgebiet und Lippe und die Erschaffung spezifischer, gegenseitig abgehobener Landschaftsbilder;742 sie erweiterten die seit dem Alten Reich objektiv bestehenden oder als solche empfundenen Strukturgräben und konstruierten die Stereotype, die bis heute die vermeintliche Gegensätzlichkeit der nordrhein-westfälischen Landesteile und ihrer Regionen untermalen. Charakteristische Aspekte einer Landschaft wurden herausgegriffen, verdichtet und den Einwohnern kollektiv zugeschrieben, überzeichnete Grundstöcke an
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Regionalisierungsprozesse begleiteten die deutsche Nationalstaatsbildung, ein „föderativer Nationalismus“ machte das Kaiserreich auch für seine ursprünglichen Gegner annehmbar, weil er auf regionalen Selbstverortungen aufbaute und das Reich über seine Regionen von innen stärkte. Vgl. hierzu Weichlein, Siegfried: Von der Exklusion zur Inklusion. Das Verhältnis von Nation und Region in der neueren deutschen Geschichte, in: Groten, Manfred (Hrsg.): Die Rheinlande und das Reich, Düsseldorf 2007, S. 235-254, insb. S. 243-245 sowie Langewiesche, Dieter: Föderativer Nationalismus als Erbe der deutschen Reichsnation. Über Föderalismus und Zentralismus in der deutschen Nationalgeschichte, in: ders./Schmidt, Georg (Hrsg.): Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000, S. 215-242, hier: S. 241.
E.VII. Landschaftliche Grundprägungen – Preußenzeit
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diffusem Wissen und Allgemeinplätzen trennte ein Wir von einem Die.743 Die spätestens in der Preußenzeit errichteten kulturellen und wissenschaftlichen Landschaftsbilder lieferten einen Einblick in die Raumgegebenheiten und ließen Vorstellungen entstehen, die über Generationen weitergegeben wurden; sie sind allerdings keine creatio ex nihilo, sondern bedurften realer Rückbezüge, um Bestand zu haben. E.VII.1.1. Rheinische Landschaftsbilder Wenngleich auf kulturellem Feld vorbereitet, begleitet und fortgesetzt, war die Etablierung der Rheinprovinz 1822/30 Voraussetzung der Bildung eines rheinischen Landschaftsverständnisses. Bis auf den Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreis hatte es zuvor keine kartographisch-begriffliche Raumperspektive gegeben, die ein vereinheitlichendes Rheinlandverständnis geweckt hätte; als Rheinland galt im Alten Reich der Landstrich beiderseits des Stroms zwischen dem niederländischen Woerden und der Nordseeküste, rheinländisch und rheinisch waren Bezeichnungen für Längenmaße wie Ruthe oder Schuh, wurden aber auch für die Rheinische Bank im Reichstag oder den Rheinischen Gulden verwendet.744 In der Preußenzeit machten diese Rheinlandbegriffe einen Wandel durch und oszillierten zwischen ästhetischer Naturwahrnehmung und politisch-völkischem Gebietsanspruch.745 Der Fluss war die Lebensader der Region und stellte einen gemeinsamen Bezug der Anliegerstädte her, seine romantische Entdeckung, das Zusammenspiel aus sinnlichemotionaler Landschaftsbeschreibung und die Verortung germanisch-deutscher Mythen entwarfen eine geistige Landkarte und stießen regionale Identitätsbildungsprozesse an. Auch der preußische Staat selbst spielte eine kaum zu unterschätzende Rolle für die Konstitution eines rheinischen Selbstverständnisses, griff die in der Franzosenzeit angestoßene Raumerschließung auf und führte sie unter politischen Vorzeichen fort. „Erst durch die Eingliederung in den großen preußischen Staat wurden sich die preußischen Untertanen an Rhein und Mosel – gleichsam im Kontrast zu einer real wie mental anders strukturierten politischen Ordnung – ihrer Gemeinsamkeiten bewusst.“746 Das Rheinland wurde Paradebeispiel einer preußisch-deutschen Konstruktion, deren wissenschaftliche Flankierung versuchte, „die kulturellen Phänomene eines Gebietes historisch zu erweisen, dessen Grenze nicht mehr als die Verwaltungsgrenzen der Rheinprovinz des preußischen Königreiches nach dem Wiener Kongress waren“;747 zugleich rieb sich vor allem das rheinische Bürgertum an den preußischen Landesherrn und bildete in den Auseinandersetzungen sein Selbstverständnis aus, das zur gesamtrheinischen Identitätsbildung bei-
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Stereotype sind „bewertete Vorstellungen, die auf Vorurteilen beruhen, die jedenfalls in einem Spannungsverhältnis, einer Differenz zur erfahrbaren Realität stehen.“ Gerndt, Helge: Zur kulturwissenschaftlichen Stereotypenforschung, in: ders. (Hrsg.): Stereotypvorstellung im Alltagsleben. Beiträge zum Themenkreis Fremdbilder – Selbstbilder – Identität, München 1988, S. 9-12, hier: S. 11. Vgl. Zedler, Johann Heinrich (Hrsg.): Großes vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 31 (Rei-Ri), Leipzig/Halle 1742, Sp. 1121-24, einsehbar unter http://www.zedlerlexikon.de/blaettern/einzelseite.html?seitenzahl=489&bandnummer=55&dateiformat =1&supplement=0&view=100 (25.9.2010). Vgl. Blotevogel, Hans Heinrich: „Rheinische Landschaft“. Zur geographischen Konstruktion des Rheinlands 1871-1945, in: Grimm/Kortländer, Rheinisch, S. 51-78, hier: S. 51. Janssen, Wilhelm: Kleine Rheinische Geschichte, Düsseldorf 1997, S. 11. Dross, Fritz: Von der Erfindung des Rheinlands durch die rheinische Landesgeschichte. Eine Polemik, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte, Band 23 (2005), S. 13-34, hier: S. 33.
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
trug.748 Nicht zuletzt die Sonderrolle, die das Rheinland nach dem Ersten Weltkrieg spielte,749 enthob dieses der preußischen Vereinnahmung und verstärkte die Bemühungen um das rheinische Selbstverständnis; eine Organisation wie die Rheinische Volkspflege veranstaltete etwa zwischen 1920 und 1930 Fortbildungstagungen für Deutsch-, Geschichts- und Erdkundelehrer und bildete hierüber Multiplikatoren für die National- und Heimaterziehung heran.750 Ein sich über die teilräumlichen Orientierungen legendes Rheinlandbewusstsein lässt sich seit dem späten 18. Jahrhundert nachvollziehen. Vor allem Nicht-Rheinländer prägten – da sie den Strom im Gegensatz zu den Anwohnern nicht als alljährlich über die Ufer tretende Bedrohung wahrnahmen – das Bild des romantischen Rheins;751 während für Einheimische oder vorbeiziehende Händler seine Nutzenorientierung überwog und sie von mußevoller Landschaftsbetrachtung abhielt, erblickten Reisebeschreibungen oder malerische Darstellungen – allerdings auf den Mittelrhein fokussiert – die Landschaft allein unter ästhetischen Gesichtspunkten.752 Die verstärkte Suche nach volkstümlichen Wurzeln un-
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Das verbreitete rheinische Gefühl der Fortschrittlichkeit und Überlegenheit trug zu Fremdbildern bei, die den Rheinländern Attribute wie Eitelkeit, Selbst- und Habsucht sowie eine kulturelle Nähe zu Frankreich attestierten. Karl Freiherr vom Stein behauptete, „der gute Rheinländer“ habe „etwas Ähnliches mit (seinen französischen A.W.) Nachbarn, Eitelkeit und Leichtsinn und halbe Bildung. Vgl. Rusinek, Bernd A.: „Rheinische“ Institutionen, in: Engelbrecht u.a., Rheingold, S. 109-148, hier: S. 125. Die vornehmlich das Rheinland treffenden Friedensregelungen wurden Teilelemente rheinischen Eigenbewusstseins; der Raum kam erneut unter starken Einfluss Frankreichs, das versuchte, seine mentale Separierung vom Deutschen Reich zu befördern. Linksrheinisch und 50 km östlich des Rheins durften keine deutschen Militärs stationiert werden, die Alliierten (F, GB, BEL, USA) besaßen gestaffelte Besatzungsrechte. Das Rheinstatut, ein Anhang des Friedensvertrages, schuf zur Verwaltung des linksrheinischen Gebiets eine Zivilbehörde mit Vertretern der vier Länder; die Haute Commission Interalliée des Territoires Rhénans konnte Verordnungen mit Gesetzeskraft zu erlassen. Seit 1921 galt ein besonderes Zollregime für die besetzten rheinischen Gebiete, die sie wirtschaftlich vom Reich trennte. Die französische Bildungs- und Kulturpolitik zielte auf eine Annäherung des Rheinlands an Frankreich, Studienreisen, Sprachkurse und Zeitschriften sollten die gemeinsamen kulturellen Grundlagen aufzeigen. Vgl. Papst, Klaus: Der Vertrag von Versailles und der deutsche Westen, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 2, S. 271-289, hier: S. 279f. Zugleich galt die verstärkte Anlehnung an Preußen als Garant, um den Verbleib im Reich zu sichern So hielt eine Erklärung des rheinischen Provinziallandtags im Juni 1923 fest, „die offen zutage tretenden Bestrebungen Frankreichs beweisen, dass jede Lockerung des staatsrechtlichen Verhältnisses der Rheinprovinz zu Preußen eine Lösung der Bande bedeutet, die uns mit der deutschen Republik verbinden.“ Zitiert nach Horion, Johannes: Die Entwicklung der provinziellen Selbstverwaltung in der Rheinprovinz, in: Ders. (Hrsg.): Die Rheinische Provinzial-Verwaltung, ihre Entwicklung und ihr heutiger Stand, Düsseldorf 1925, S. 9-79, hier: S. 54f Vgl. Blotevogel, „Rheinische Landschaft“, in: Grimm/Kortländer, Rheinisch, S. 62.. Zur Gegenüberstellung deutscher und englischer Sichtweisen am Beispiel Georg Fosters Ansichten vom Niederrhein von 1790 und der Reisebeschreibungen Ann Radcliffs von 1794 vgl. Grosser, Thomas: Der romantische Rheinmythos. Die Entdeckung einer Landschaft zwischen Politik und Tourismus, in: Gassen, Richard W./Holeczek, Bernhard (Hrsg.): Mythos Rhein. Ein Fluß zwischen Kitsch und Kommerz, Ludwigshafen 1992, S. 11-38, insb. S. 14ff. Erste wichtige Reisebeschreibungen waren die 1796 auf Deutsch erschienene ‚Malerische Rhein-Reise von Speyer bis Düsseldorf’ von Aurelio de Giorgio Bertòla oder die zwischen 1812 und 1818 erschienene Childe Harolds Pilgerfahrt von George Gordon Byron; bereits im 17. Jahrhundert war der Rhein zum Motiv niederländischer Maler wie Hermann Saftleven, im späten 18. Jahrhundert folgten etwa Laurenz Janoschs, 1798 veröffentlichte Fünfzig malerische Ansichten des Rheinstroms von Speyer bis Düsseldorf. Vgl. Schulz, Wolfgang: Die Rheinreise niederländischer Künstler, in: Honnef, Klaus/Weschenfelder, Klaus/Haberland,
E.VII. Landschaftliche Grundprägungen – Preußenzeit
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terstützte Versuche, der Rheinprovinz einen inneren Sinn zu geben; „den Rhein hat die Romantik eigentlich entdeckt, ja man kann sagen, geschaffen.“753 Frühromantiker wie Heinrich von Kleist, Friedrich von Schlegel, Achim von Arnim oder Clemens Brentano besangen zunächst unpolitisch-ästhetisch die Grazie des Rheintals und überführten die sachliche in eine poetischgefühlsbetonte Landschaftsbeschreibung:754 „Natur und Kultur wurden durch den Perspektivwechsel zu einem aufeinander bezogenen Kunstwerk, einer Landschaft“755 und einem subjektivistischen Sinn-Bild, das mit der topographischen Realität nicht übereinstimmen musste; sie bezogen Landschaft und Natur, Geschichte und Geist aufeinander und luden sie wechselseitig sinnhaft-emotional auf. Die künstlerisch-kulturelle Befassung mit dem Raum versammelte sämtliche Elemente, die auch für das heutige Rheinlandbild von Bedeutung sind. Sie transportierte ein Panorama aus Felsen, Tälern und Burgen sowie einer weinbasierten rheinischen Fröhlichkeit, Redseligkeit und Offenheit. Eine Schifffahrt auf Vater Rhein, auf den Spuren der Loreley und des Nibelungenlieds wurde zum Bestandteil bürgerlicher Bildungsreisen und durch die Verbilligung des Transports auch breiteren Schichten zugänglich. Wiederentdeckte oder neugebildete Symbole und Mythen führten ein vermeintlich gemeinsames Erbe vor Augen, Literaten trugen Sagensammlungen zusammen und zur volkstümlichen Verbreiterung der Stoffe bei. Die Machtlosigkeit der Deutschen gegenüber der napoleonischen Expansion wurde zunächst kompensiert durch die romantisch verklärte Beschwörung einstmaliger Größe, doch setzten zunehmend auch Bemühungen ein, den Rhein als deutschen Fluss zu vereinnahmen; aus romantischer Melancholie wurde nationale Inbesitznahme. Die Rheinliedbewegung antwortete auf französische Annektionsbestrebungen der 1840er Jahre und war stärker noch als theoretische Schriften geeignet, Emotionen zu wecken und ein breites Publikum zu erreichen; bereits seit 1817 existierten in Aachen, Düsseldorf und Köln rheinische Musikfeste, die einem rheinisch-deutschen Gemeinschaftsgefühl Vorschub leisteten.756 Auch nach der Reichseinigung 1871 wurde das Rheinland preußisch-deutsch vereinnahmt: Antifranzösische Lyrik, Opern und Bauten betonten seine nationale Zugehörigkeit und manifestierten seine Bindung an das Reich.757 Dennoch gelang es nicht, das Rheinland unter einem einheitlichen Landschaftsbild zu integrieren. Bereits die Charakteristik des nördlich Bonns anschließenden Niederrheins, sein breitmäanderndes Flussgebiet sowie die ihn umgebende Weite standen in Kontrast zu einem anschlussfähigen Rheinlandbild, wie es die romantische Ausdeutung seines mittle-
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Irene (Hrsg.): Vom Zauber des Rheins ergriffen. Zur Entdeckung der Rheinlandschaft vom 17. bis 19. Jahrhundert, München 1992, 147-168. Vgl. Oellers, Norbert: Geschichte des Literatur in den Rheinlanden, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 3, S. 553-696, hier: S. 567. „Der Raum am Strom wurde zur Landschaft im Text“, vgl. Kiewitz, Susanne: Poetische Rheinlandschaft. Die Geschichte des Rheins in der Lyrik des 19. Jahrhunderts, Köln u.a. 2003, S. 23. Vgl. Tümmers, Horst Johannes: Der Rhein – ein europäischer Fluß und seine Geschichte, München 1994, S. 209. Das 1840 von Nikolaus Becker getextete Lied Der deutsche Rhein beschwor „Sie sollen ihn nicht haben den freien deutschen Rhein.“ Neu aufgelegt wurde 1841 auch das bereits 1813 von Ernst Moritz Arndt veröffentlichte Der Rhein. Teutschlands Strom, nicht aber Teutschlands Gränze mit seiner gegen Frankreich gewendeten Botschaft. Vgl. ebd., S. 223, 257. Zu nennen sind das Niederwald-Denkmal in Rüdesheim, das Deutsche Eck in Koblenz oder Richard Wagners Nibelungenlied. Auch der Weiterbau des Kölner Domes ab 1842 war eine der ersten symbolischen Gesten, die das Rheinland mit Preußen versöhnen sollte.
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
ren Abschnitts erschaffen hatte. Landschaftshistorische Klüftungen, die etwa das Bergische Land vom Linksrheinischen schieden, kam auch in kulturellen Äußerungen und Erzählstoffen zum Vorschein: So versammelten sich etwa in dem Wuppertaler Dichterkreis um Friedrich Emil Rittershaus oder Adolf Schults ab 1850 Kaufleute des Barmen-Elberfelder Industriegebiets, die in pietistisch geprägter Fürsorgemanier mit sozialengagierter Poesie auf ihr frühproletarisches Lebensumfeld antworteten.758 Auch der Niederrhein erfuhr eigene Ausdeutungen, die die Weite des Raumes, die relative Ruhe, die kulturelle Nähe zu den Niederlanden sowie die Bedeutung der Landwirtschaft und des Katholizismus für die Region hervorgehoben.759 Unbeteiligt an jenen Ausdeutungsprozessen blieb die Rheinschiene mit der historisch überlieferten Vielgestaltigkeit ihrer Metropolen. Wissenschaftliche Rheinlanddeutungen waren im 19. Jahrhundert mehr an der Verifizierung vorab festgelegter Tatbestände als an vorurteilsfreien Untersuchungen interessiert. Vereinigungen wie die 1881 auf Initiative Gustav von Mevissens gegründete Bonner Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde versuchten, über die räumliche Zersplittertheit im Alten Reich hinweg rheinische Gemeinsamkeiten und Zusammengehörigkeit zu behaupten. Mitwirkende wie der Historiker Moritz Ritter betrieben Siedlungs- und Namensforschung, bestimmten die Wechselwirkung von Natur und Kultur und konstatierten „eine Gemeinsamkeit der Bedingungen und Bestrebungen geistiger und wirtschaftlicher Natur, die stark genug ist, um politisch getrennte Glieder zu verbinden und in ihrem Weiterwirken gemeinsame Ordnungen von Recht und Verwaltung hervorzurufen – und eine solche Einheit steht über der Mannigfaltigkeit der rheinischen Geschichte.“760 Das Problem der fehlenden einheitlichen Landesgeschichte wurde überspielt durch die Behauptung einer der rheinischen Bevölkerung zugrundeliegenden Wesenheit, die sie über alte Grenzen hinweg verbinde; Fundament dieser Kulturraumforschung wurde die im späten 19. Jahrhundert einsetzende Rückbeziehung des deutschen Volks auf germanische Stämme, die die Rheinländer zu Nachkommen der Franken und als Keimzelle der Deutschen stilisierte.761 Landschaftsgeschichtliche Genesestränge vermengten sich in einer Stammesideologie, die dem Rheinländer „Lebendigkeit, Beweglichkeit und Geschäftigkeit (…), Leichtlebigkeit und Oberflächlichkeit (…sowie A.W.) Geselligkeit und Fröhlichkeit“ attestierte.762 758
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Zum Ausdruck kam in Werken wie Adolf Schults’ Gedicht Ein neues Lied von den Webern von 1845 neben der Beschreibung der Lebensumstände eine Kritik an diesen: „Die Weber haben schlechte Zeit doch wer ist Schuld an ihrem Leid? Die Morgenstund hat Gold im Mund, früh aufstehn ist dem Leib gesund; sie sollten wach sein früh am Tag, Punkt Viere mit dem Glockenschlag: Sie sollten, statt zu schlafen, weben, so könnten sie gemächlich leben.“ Vgl. Wehner, Walter: Heinrich Heine: „Die schlesischen Weber“ und andere Texte zum Weberelend, München 1980, S. 51. So meinte der Journalist Joseph Roth in der Frankfurter Zeitung vom 31. Mai 1925 mit Bezug auf Kleve: „Sie regen sich nicht gern auf, sie könnten ganz gut Holländer sein (…) Die kleinen Hügel wagen nicht, aufzutreten, die Erde weitet sich flach und grün und fett und speist den wandernden Blick des Betrachters mit reichlicher, endloser HorizontNahrung. Blühende Obstbäume sind zwischen die Wiesen gestreut (…)Wenn es einen landschaftlichen Ausdruck für Pazifismus gäbe - hier ist er (…)Denn die Menschen sind fromm in Kleve, sie stehen vor der überfüllten Kirche und hören mit einem, aber keineswegs halbem Ohr die Predigt und mit dem anderen schon die Glocken.“ Zitiert nach Heimat Kleve//Niederrheinlande: Joseph Roth - In Kleve…, einsehbar unter http://www.heimatkleve.de/zitate/roth_joseph.htm (9.10.2010). Zitiert nach Dross, Von der Erfindung des Rheinlands, Jahrbuch für Regionalgeschichte, S. 28. Vgl. Tuckermann, Walther: Landeskunde der Rheinprovinz, in: Hansen, Joseph (Hrsg.): Die Rheinprovinz 1815-1915. Hundert Jahre preußischer Herrschaft am Rhein, 2 Bde., Bd. 1, Bonn 1917, S. 57-86, hier: S. 75f. Hashagen, Justus: Rheinischer Volkscharakter und rheinische Geistesentwicklung, Bonn 1926, S. 26ff.
E.VII. Landschaftliche Grundprägungen – Preußenzeit
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Ein Rheinländertag beschwor 1914 die „historische Stammeseinheit der ‚Rheinländer’“, ihre „frische, fröhliche rheinische Art…(und A.W.) das Bewusstsein, eines Blutes zu sein“,763 ohne zu thematisieren, wo das Rheinland beginne oder ende. Institutionen wie der 1906 in Köln gegründete Rheinische Verein für Denkmalspflege und Heimatschutz, das 1920 an der Bonner Universität etablierte Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande griffen Heimatidee und Stammesgedanken auf und unterstützten ebenso wie der der Universität zu Köln 1921 erteilte Lehrauftrag für Rheinische Volkskunde die mentale Ausdeutung des Rheinlands.764 Zugleich wurden aber auch Trennlinien zwischen links- und rechtsrheinischen Bewohnern gezogen: Attestierten Schriftsteller wie Hermann Ritter den Bewohnern des linksrheinischen Raums aufgrund seiner seit der Römerzeit bestehenden internationalen Kontakte eine bewegliche Anpassungsfähigkeit, galten ihm die rechtsrheinisch-bergischen Rheinländer als germanisch-treue und abgeschlossene Wesen.765 Das französische Ansinnen, das Rheinland nach dem Ersten Weltkrieg an sich zu binden, verstärkte auf deutscher Seite Aktivitäten, es als „deutsche Kulturstraße erster Ordnung“766 für sich zu reklamieren. Aus dem Wissen um die fehlende geschichtliche Einheit wurde das Rheinland als eine über die Zerrissenheit des Bodens bestehende Gefühlsgemeinschaft mit starker katholischer Prägung und einer Beharrungskraft gegen die französische Aufklärung gezeichnet.767 Bei der Jahrtausendfeier 1925 versicherte man sich, „die Rheinländer (haben A.W.) die große und kulturgeschichtlich höchst bedeutsame Aufgabe erfüllt, unter Wahrung ihres deutschen Herzens und Blutes immer so viel vom romanischen Geist aufzunehmen, zu verarbeiten und weiterzugeben, dass kein hemmungsloser Einbruch westlichen Kulturgutes erfolgte.“768 Die Untersuchung rheinischer Kultur- und Geschichtsräume sowie ihrer Konstanz über politische Umbrüche erfolgte mit revanchistischer Ausrichtung und in Abkehr von der Strategie, die Nähe des bürgerlichen Rheinlands zu Frankreich und die hieraus abgeleitete Fortschrittlichkeit gegenüber (Ost-)Preußen zu betonen.
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Hansen, Joseph: Rheinland und Rheinländer, in: Westdeutsche Monatshefte für das Geistes- und Wirtschaftsleben 1 (1925), S. 273-312, hier: S. 273f. Das preußische Kultusministerium erteilte den Lehrauftrag, um einer französischen Durchdringung des Rheinlands wie dessen „Verwelschung“ abzuwenden. Vgl. hierzu Löffelsender, Michael: Möglichkeiten und Grenzen eines nationalsozialistischen Modefachs. Deutsche Volkskunde an der Universität Köln 19191921, in: Geschichte um Westen 23 (2008), S. 89-117, hier: S. 96f. Vgl. zur Arbeit des Instituts bis 1945 Nikolay-Panter, Marlene: Geschichte, Methode, Politik. Das Institut für Geschichtliche Landeskunde der Rheinlande 1920-1945, in: Rheinische Vierteljahresblätter 60 (1996), S. 233-262. Vgl. Ritter, Hermann: Bergisches Land, in: Wentzcke, Paul/Lux, Hans Arthur (Hrsg.): Rheinland. Geschichte und Landschaft. Kultur und Wirtschaft der Rheinprovinz, Düsseldorf 1925, S. 113-120, insb. S. 113f. Eckert, Max: Politische Geographie der Rheinlande, in: Philippson, Alfred (Hrsg.): Düsseldorfer geographische Vorträge und Erörterungen. Teil 2: Zur Geographie der Rheinlande, Breslau 1927, S. 3243, hier: S. 40. Eckert sah am Rhein die wichtigste katholische Achse des Deutschen Reiches, dessen ehemalige Erzbistümer für das Heilige Römische Reich deutscher Nation von großer Bedeutung gewesen seien. Vgl. Spahn, Martin: Rheinländertum und Preußen, in: Volz, Wilhelm (Hrsg.): Der deutsche Volksboden. Aufsätze zu den Fragen des Westens, Breslau 1925, S. 182-196, hier: S 183. So der Kunsthistoriker Paul Ortwin Rave, zitiert nach Dross, Erfindung des Rheinlands, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 23/2005, S. 28. Gefeiert wurde die im Jahre 925 angeblich endgültige Integration Lothringens in das Ostfränkische Reich, als Begründung wurde seine Unterwerfung unter die Herrschaft des Sachsenkönigs Heinrich I. 925 herangezogen.
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
Die Reichweite des Rheinlandbegriffs bestimmte der räumliche Zuständigkeitsbereich rheinischer Forschungseinrichtungen: Staatlich-provinziell oder privat getragene, den rheinischen Raum ausleuchtende Institutionen zeigten wirtschaftliche, soziale und kulturelle Gemeinsamkeiten auf, lieferten Identifikationsbilder und trugen zum Erwachen des Rheinlandbewusstseins bei. Die Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde oder der 1925 gegründete Bonner Verein für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande mussten sich jedoch subregionaler Landschaftsvermesser wie dem 1854 gebildeten Historischen Verein für den Niederrhein oder dem Bergischen Geschichtsverein von 1863 erwehren, die ihre Bemühungen um eine gesamtrheinische Identität konterkarierten. Rheinland und Rheinländer blieben deshalb uneindeutige Kategorien, da sie kaum auf historischen Vorläufern ansetzten, sondern Neukonstruktionen waren; nicht nur sprachlich-dialektal bleib die Provinz ein Rahmen für „aufgereihte Kulturprovinzen“ anstelle einer in sich verbundenen Landschaft.769 E.VII.1.2. Westfälische Landschaftsbilder Trotz fehlender staatlicher Konturierung waren bereits im Alten Reich ein kulturelles Westfalenbewusstsein sowie ein materiell bestimmtes Westfalentum existent, die sich von dem politischen, in preußischer Zeit geprägten Westfalenbegriff abhoben. Seit der frühen Neuzeit wurde von innen wie von außen ein relativ gleichbleibender Territorialausschnitt als Westfalen benannt, der über politische und konfessionelle Klüfte hinweg als lebensweltliche Einheit galt. Eine konstante Staatenlandschaft ordnete sich dem Westfälischen zu, Landfriedensbünde oder Hansevereinigungen spiegelten in der Namensgebung ein westfälisches Gemeinschaftsbewusstsein, das sich aus einer als gemeinsam empfundenen Herkunft, der kulturell-dialektalen Ausdrucksweise und der Vorstellung einer geteilten Lebenswelt speiste.770 Die Verbreitung des Soester Stadtrechts, adlige Besitzstreuungen und Verwandtschaftsbeziehungen über staatliche Grenzen hinweg, Eigenheiten wie die Femegerichtsbarkeit – Rothe Erde war bereits seit 1404 ein geläufiger Ausdruck für das historische Westfalen –771 sowie das bäuerliche Kolonatsrecht772 verbanden die Erfahrungs- und Handlungshorizonte westfälischer Länder und leisteten ihrer relativen Homogenität Vor769 770
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Mölich, Georg: Regionale Geschichtskultur oder Geschichtsraum? Anmerkungen zum rheinischen Selbstverständnis in historischer Perspektive, in: Grimm/Kortländer, „Rheinisch“, S 23-28, hier: S. 23. Vgl. Petri, Franz: Die Funktion der Landschaft in der Geschichte vornehmlich im Nordwestraum und mit besonderer Berücksichtigung Westfalens, in: Hartlieb von Wallthor/Quirin, „Landschaft“ als interdisziplinäres Forschungsproblem, S. 72-95, hier: S. 84f. In einer Urkunde zur Berufung von Freischöffen für die in Westfalen verbreiteten Femegerichte wird „Westphalen“ als „rothe Erde“ bezeichnet. Vgl. Wanzeck, Christiane: Zur Etymologie lexikalisierter Farbwortverbindungen, Amsterdam 2003, S. 63. Unklar ist die Herkunft dieser Zuschreibung. Eine Möglichkeit ist, dass sie sich auf die Todesstrafen der Feme bezieht, die den Boden in Blut tränkte. Diese für schwere Straftaten oder Eigentumsfragen zuständigen Gerichte übten im Spätmittelalter ihre über das gesamte Reich aus und leiteten diesen Anspruch aus dem karolingischen Grafenamt, der unmittelbaren Übertragung jener regionalen Gerichtsrechte im königlichen Auftrag, ab, während sie in anderen Reichsteilen untergegangen waren. Vgl. zur Einrichtung der Feme in Westfalen Fricke, Eberhard: Die Feme. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte, in: Westfälische Zeitschrift 156 (2006), S. 25-65. Dass das Kolonatsrecht im westfälischen Raum von besonderer Bedeutung war, zeigten noch die Beratungen des Bürgerlichen Gesetzbuches, wo es in Anträgen zu Neuerungen des Besitzrechts heißt: „Unberührt bleibt das in (Westfalen und) Lippe geltende Kolonatsrecht.“ Vgl. Jakobs, Horst Heinrich/Schubert, Werner (Hrsg.): Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuchs in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen, Berlin 1990, S. 887.
E.VII. Landschaftliche Grundprägungen – Preußenzeit
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schub. Noch 1798 strich der seit 1784 in Westfalen weilende preußische Beamte Karl Freiherr vom Stein die über die Teillandschaften bestehenden gemeinsamen Grundzüge der westfälischen Territorien heraus,773 wie auch zeitgenössische Lexika zahlreiche Hinweise auf Westfalen und seine Eigenarten lieferten.774 Die über die Jahrhunderte zu verfolgende Kontinuität topographischer Vermessungen Westfalens zeigte die Persistenz einer Raumvorstellung abseits der Staatsgrenzen auf.775 Ließ sich der Westfalenbegriff bis zu den Westfalai – dem im westlichen Teil des sächsischen Stammesgebiets lebenden Heeresverband der karolingischen Reichsannalen – zurückverfolgen, fand dieser in der Ebstorfer Weltkarte Gervasius’ von Tilbury um 1235 eine erste, wenngleich ungenaue kartographische Erwähnung.776 Eine einflussreiche Weichenstellung für die Verortung Westfalens nahm 1240 Bartholomaeus Anglicus vor, der es in seinem Liber de proprietatibus rerum „zwischen Rhein und Weser“ und durch Hessen und Thüringen im Süden, Sachsen im Osten, dem Rhein im Westen und Friesland im Norden eingeschlossen sah;777 Werner Rolevinck präzisierte diese Einteilung, klammerte die rheinischen Herzogtümer Kleve und Berg explizit aus778 und lieferte eine Einhegung, die die 1579 in Abraham Ortelius’ weitverbreitetem Weltatlas Theatrum orbis terrarum publizierte Westfalenkarte Christian s’Grootens von 1564 vertiefte.779 Zwar bekam das kulturelle Westfalenverständnis mit der neuzeitlichen Territorialisierung politische Konkurrenz, staatliche Raumbildungen und ihre klaren Grenzen traten der eher unscharfen Landschaft Westfalen entgegen; gleichwohl differenzierten Herausgeber kartographischer Sammlungen wie Matthäus Merian oder Jean Hubner zwischen dem Gebiet des 1500/12 errichteten NiederrheinischWestfälischen Reichskreises und der lebensweltlich bestimmten Landschaft Westfalen.780 Die 773
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Neben dem geographischen Zusammenhang verwies Stein auf Handelsbeziehungen und ähnliche innere Verfassungen der bäuerlichen Eigenbehörigkeit sowie der weitgehenden Behauptung ständischer Institutionen. Vgl. hierzu Hartlieb von Wallthor, Die landschaftliche Selbstverwaltung Westfalens, S. 8, 57. So fanden sich in Zeidlers Universallexikon Einträge zum Westfälischen Gericht und verwandter Begriffe, die sich auf die Feme-Praxis beziehen, westfälische Maße und Waren, aber auch die westfälische Landschaft innerhalb des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Vgl. Johann Heinrich Zeidlers Grosses vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 55: Wene-Wiee, Leipzig/Halle 1748, Sp. 484-496. Vgl. zu den verschiedenen Raumverständnissen insb. Casser, Paul: Der Raum Westfalen in der Literatur des 13-20. Jahrhunderts, in: Aubin, Hermann/Schulte, Eduard (Hrsg.): Der Raum Westfalen. Band II, 2: Untersuchungen zu seiner Geschichte und Kultur, Berlin 1934, S. 1-32. Hier finden sich auch kartographisch dargestellt die im Folgenden beschriebenen Raumvorstellungen. Vgl. die Abbildung der Ebstorfer Weltkarte der Universität Lüneburg, einsehbar unter http://weblab.unilueneburg.de/kulturinformatik/projekte/ebskart/content/start.html (24.9.2010). Vgl. Schönbach, Anton E.: Des Bartholomaeus Anglicus Beschreibung Deutschlands gegen 1240, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 27 (1906), S. 54-90, hier: S. 79. Es ist davon auszugehen, dass Rolevinck diese Unterscheidung im Hinblick auf die fränkisch-sächsische Stammesgrenze vornahm, da er deren Ausbreitung nur knapp bis zum Rhein sah. Vgl. ders. Vom Lobe des alten Sachsens, nun Westfalen genannt (1478), hrsg. v. Ludwig Troß, Köln 1865, S. 17, 37. Vgl. die Karte Westphaliae totius, Finitimarumque Regionum accurata Descriptio (Eine neue und genaue Karte von Westfalen, welche auch die Nachbargebiete, Grafschaften und Fürstentümer korrekt enthält) des Theatrum Orbis Terrarum, gedruckt zu Nuermberg durch Johann Koler Anno MDLXXII, einsehbar unter http://www.vintage-maps.com/zoomify/template.php?zoomifyimage=10628_0.jpg (24.9.2010). Merian verortete in seiner Topographia Westphaliae von 1650 Westfalen weiterhin zwischen Friesland, dem Rhein, der Weser und dem hessischen Gebirge, vgl. Merian, Matthäus Topographia Westphaliae. Das ist Beschreibung der vornembsten, und bekantisten Stätte, und Plätz, im hochlöbl: westphälischen Craiße,
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
größte Herausforderung für den Erhalt dieses hergebrachten Westfalenbegriffs wurde die 1815 gegründete Provinz Westfalen; hielten historische Vereine zunächst am überlieferten Bild fest und zählten auch die verlorengegangenen Gebiete zwischen Osnabrück und Friesland weiterhin zu ihrem Forschungsgebiet,781 harmonisierte die administrative Ausformung Westfalens allmählich ein Raumverständnis, das mit der zunehmenden Leistungsverwaltung des Provinzialverbandes sowie seiner Sozial- und Kulturpflege auch die breitere Bevölkerung erreichte, anstatt Sache gebildeter Eliten zu sein.782 Die Tradierung des kulturellen Westfalenbegriffs in Literatur oder landsmannschaftlichen Zusammenschlüssen stützte die historisch-traditionelle und lebensnahe Regionsauffassung.783 Vor allem erstere hatte der Kartographie seit dem späten Mittelalter die Grundlage des kulturellen Raumbegriffs geliefert, der sich über die als westfälisch wahrgenommenen Einzelländer spannte. Obwohl Westfalen „im hohen Maße eine Idee war“, die aber bereits „seit dem Spätmittelalter diskutiert wurde, prägte sie das Bewusstsein und entwickelte damit eine eigene interpretierende und handlungsleitende Kraft.“784 Reiseberichte,785 staatsmännische Äußerungen786
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einsehbar unter http://www.digitalis.uni-koeln.de/Merianw/merianw_index.html, S. 2 (24.9.2010). Hier findet sich auf dem Titelblatt bereits das weiße Pferd auf rotem Grund als Insignum Westfalens. Hubner unterschied zwischen dem kurkölnischen Herzogtum, dem Reichskreis und dem alten Westfalen, das er innerhalb der traditionellen Kulturgrenzen verortete. Das landschaftliche Westfalen hob sich für Hübner in Sitten, Wohnen, Speisen und Kleidungen von den übrigen deutschen Nationen ab. Vgl. ders.: La géographie universelle, où l'on donne une idée abrégée des quatre parties du monde et des différens lieux qu'elles renferment. Tome 6: Qui Traite De La Westphalie; De La Basse- & De La Haute-Saxe, Basel 1761, 8. Buch: Du cercle de Westphalie, S. 1f., einsehbar unter http://www.bsb-muenchendigital.de/~web/web1043/bsb10430422/images/index.html?digID=bsb10430422&pimage=5& v=100&nav=0&l=de (12.10.2010). So heißt es im Westfälischen Urkundenbuch, das die Münsteraner und Paderborner Geschichtsvereine herausgaben, man breite die Arbeit über sämtliche ehemaligen westfälischen Territorien aus, selbst wenn diese zur Zeit staatsrechtlich voneinander geschieden seien. Vor allem lebensweltlich, anhand von Kleidungsstilen, Mundarten, Sagen und Brauchtümern versuchte man einen kulturellen Westfalenbegriff aufrechtzuerhalten; auch Erinnerungsfeste und westfälisch-landsmannschaftliche Zusammenschlüsse im Königreich Hannover verwiesen auf die fortbestehende mentale Selbstverortung zahlreicher Menschen in Westfalen. Vgl. Casser, Der Raum Westfalen in der Literatur des 13.-20. Jahrhunderts sowie ders.: Das Westfalenbewußtsein im Wandel der Geschichte, in: Aubin, Hermann /Bühler, Ottmar /Kuske, Bruno /Schulte, Aloys: Der Raum Westfalen, Bd. II, 2, Berlin 1934, S. 1-32 sowie 211-306, hier: S. 21, 272. An dieser Stelle nicht weiter zu untersuchen ist, ob der preußische Staat „für das Zustandekommen eines Westfalenbewusstseins und eines westfälischen Regionalismus (tatsächlich A.W.) mehr getan hat als alle literarischen publizistischen Wortführer eines Westfalentums.“ Vgl. Gollwitzer, Heinz: Zum deutschen politischen Regionalismus des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Hartlieb von Wallthor/Quirin, „Landschaft“ als interdisziplinäres Forschungsproblem, S: 54-58, hier: S. 55. In Gemeinschaftsordnungen, Liedern oder Fahnen drückten westfälische Studenten an ausländischen Universitäten die Verbundenheit mit ihrer Herkunftsregion aus. Vgl. Fabricius, Wilhelm: Die Deutschen Corps. Eine historische Darstellung mit besonderer Berücksichtigung des Mensurwesens. Mit zahlreichen authentischen Illustrationen im Text und Vollbildern, Berlin 1898, S. 15, 187. Ditt, Karl: Wissenschaft als politisches und soziales System. Der Volkstumsansatz in der Westfalenhistoriographie des 20. Jahrhunderts, in: Büschenfeld, Jürgen/Franz, Heike/Kuhlemann, Frank-Michael (Hrsg.): Wissenschaftsgeschichte heute, Bielefeld 2001, S. 11-37, hier: S. 36. So heißt es etwa: „In Hinsicht auf…die Schönheit der Gegenden…die Bildung der Menschen erträgt Westphalen, besonders der an der Weser und Ems liegende Teil des Landes, bei weitem keine Vergleichung mit anderen Strichen Teutschlands (…) Wer kennt nicht, sey es auch nur vom Hörensagen, die schlechten Wege und die noch schlechteren Gasthöfe“. Vgl. Depping, Georg Bernhard: Bemerkungen eines Reisenden über Westphalen, in besonderer Beziehung auf Geschichte und Altertümer, in: Bader, Joseph/Pohl, Johann Gottfried von (Hrsg.): Herda. Erzählungen und Gemälde aus der deutschen Vorzeit für Freunde der vaterländischen Geschichte, 4 Bde., Bd. 1, Karlsruhe 1811, S. 141-203, hier: S. 141f.
E.VII. Landschaftliche Grundprägungen – Preußenzeit
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oder das Westfalenlied von 1790787 erlaubten die Knüpfung eines geistigen Bandes über staatliche Grenzen hinweg und die Persistenz einer kognitiv-affektiv besetzten Vorstellung von Westfalen, ein westfälisches Raum- und Wir-Gefühl. Westfalenbilder entstanden vornehmlich in der Auseinandersetzung, durch Aufnahme oder Zurückweisung fremdgeprägter Heterostereotype, unter Rückgriff auf die wiederentdeckte taciteischen Germania und die positive Aneignung der dort hervorgehobenen germanischen Eigenschaften.788 Äußerungen Auswärtiger wie die Enea Silvio Piccolominis, die ein Unbehagen an dem rauen und rückständigen Landstrich äußerten und auf diesen herabblickten,789 wurden zur negativen Referenzgröße apologetischer Westfalenbilder, wie sie Erasmus von Rotterdam und Werner Rolevinck zeichneten.790 Dieses Wechselspiel aus Kritik und Rechtfertigung tauchte erneut im Zeitalter der Aufklärung auf und weckte neuerlichen Selbstbehauptungsgeist: Während Voltaire sich in seinem Candide über die ungebildeten, bäuerlich-kulturlosen und ungeschliffen Westfalen belustigte,791 strich der 786
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So lobte der Osnabrücker Staatsmann Justus Möser in einem Brief an seinen Münsteraner Kollegen Franz von Fürstenberg 1777 dessen Bildungsreformen, die zum Wohle „unsers so weit zurückgebliebenen Westfalens“ gereichten. Vgl. Möser, Justus: Briefe, hrsg. v. Ernst Beins und Werner Pleister, Hannover/Osnabrück 1939, Nr. 182. Hier heißt es: „Wir sind deutsch, und was noch schöner tönet, Wir sind Westphälinger.“ Vgl. Broxtermann, Theobald Wilhelm: Sämmtliche Werke, hrsg. v. Eduard Wedekind, Osnabrück 1841, S. 20. Der Freiheitswille oder die einfach-unverdorbene Lebensweise wurden in der Folge wiederholt auftauchende Motive. Vgl. allg. zur Bedeutung der Germania für die Entstehung deutscher Kollektivbilder Kloft, Hans: Die Idee einer deutschen Nation zu Beginn der frühen Neuzeit. Überlegungen zur ‚Germania’ des Tacitus und zum ‚Arminius’ Ulrichs von Hutten, in: Wiegels, Rainer/Woesler, Winfried (Hrsg.): Arminius und die Varusschlacht. Geschichte, Mythos, Literatur, Paderborn 1995, S. 197-210. Piccolomini, der spätere Papst Pius II., war ab der Mitte des 15. Jahrhundert päpstlicher Legat im Heiligen Römischen Reich und Archidiakon von Xanten. Er hob das kalte Klima, das schwer genießbare schwarze Brot und den Bierkonsum hervor und hielt dem die schönen rheinischen Landschaften und den dortigen Weinanbau entgegen. Vgl. Pius II: Opera omnia, Basel 1571, S. 432 (lateinische Ausgabe). In einem Brief an Thomas Morus von 1521 heißt es bei Erasmus über die Westfalen: „Mag dieses Volk auch gewöhnlich für ungebildet gehalten werden, (…so ist A.W.) kein anderer Menschenschlag ausdauernder bei der Arbeit; er empfiehlt sich vornehmlich durch seine Treue und Sittenreinheit, durch seine schlichte Klugheit und wohlbedachte Einfachheit.“ Vgl. Opus Epistolarum Erasmi Roterdami, 11 Bde., Bd.4: 1519-1521, hrsg. v. Percy Stafford Allen u. Helen Mary. Allen, Oxford 1922., Nr. 1220, S. 546. Der aus dem Münsterland stammenden Kölner Karthäusermönch Rolevinck verteidigte in seiner westfälischen Kulturgeschichte De laude antiquae Saxoniae nunc Westfaliae dictae von 1478 die westfälische Lebensweise, betonte die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Landwirtschaft und lobte Treue, Anspruchslosigkeit und konservative Gläubigkeit der Menschen. Vgl. van Beek, Paula: Wesensart der Westfalen nach Werner Rolevinck, in: Zeitschrift des Vereins für rheinische und westfälische Volkskunde (1930), S. 137-150, hier: 137ff. Verspottend heißt es „Der Freiherr war einer der ansehnlichsten Landedelleute Westfalens, denn sein Schloß war mit Thorweg und Fenstern versehen, ja den großen Saal zierte sogar eine Tapete (...) Die gnädige Frau, die etwa 350 Pfund wog, hatte sich dadurch in hohes Ansehen gesetzt und machte bei Gelegenheit die gnädige Wirthin mit einer Würde, wodurch sie noch größere Ehrfurcht einflößte (…) Der Sohn des Freiherrn schien in allen Stücken seines Papas würdig. Der Hauslehrer Pangloß war das Orakel des Hauses, und der kleine Kandid hörte auf seinen Unterricht mit der treuherzigen Leichtgläubigkeit, die sein Alter und seine Gemüthsart mit sich brachte. Pangloß lehrte die Metaphysikotheologokosmonarrologie. Er bewies auf unübertreffliche Weise, daß es keine Wirkung ohne Ursache gebe, und daß in dieser besten aller möglichen Welten das Schloß des gnädigen Herrn das beste aller möglichen Schlösser und die gnädige Frau die beste aller möglichen gnädigen Freifrauen sei. „Es ist erwiesen,“ sagte er, „daß die Dinge nicht anders sein können: denn da Alles zu einem Zweck geschaffen worden, ist Alles nothwendigerweise zum denkbar besten Zweck in der Welt. Bemerken Sie wohl, daß die Nasen geschaffen wurden, um den Brillen als Unterlage zu dienen, und so tragen wir denn auch Brillen. Die Beine sind augenscheinlich so eingerichtet, daß man Strümpfe darüber ziehen kann, und richtig tragen wir Strümpfe. Die Steine wurden gebildet, um behauen zu werden und Schlösser daraus zu bauen, und so hat denn auch der gnädige Herr ein prachtvolles Schloß; der größte Freiherr im ganzen westfälischen Kreise mußte natürlich am besten wohnen, und da die Schweine
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
Osnabrücker Justus Möser im Umkehrschluss den Eigenwert der verspotteten Kulturverhältnisse heraus.792 Nicht zuletzt innerhalb eines allgemeinen deutschen Erwachens stärkte die romantische Rückbesinnung auf das Eigene, auf geschichtlich-gewordene Traditionen und organische Volksverbundenheit in Sprache und Sitten das derart gezeichnete Westfalentum. Dichter besangen die Bevölkerung als urtypisch germanisch-deutsch793 und beschworen den unverdorbenen Bauern, der sich römischen, fränkischen oder preußischen Zivilisationsversuchen widersetzt habe,794 westfälisch-germanische Freiheitsliebe, Treue und Redlichkeit wurden zu einem ländlich-ursprünglichen Idealbild stilisiert.795 Maßgebliches Werk für die Verbreitung solcher westfälischen Stereotype wurde das zwischen 1839 und 1841 herausgebrachte Werk Das malerische und romantische Westphalen. Den Herausgebern Ferdinand Freiligrath und Levin Schücking war Westfalen „ein Land des Bestandes; sein Fortschritt ein langsamer, aber nachhaltiger; ein Land ruhiger, der That zugewendeter Vernunft, fast mehr der Wirklichkeit zugewendet, als gut, fast weniger dem Streben nach Höherem geneigt, als schön ist; mehr der Beharrlichkeit, die begründet, als der Vielseitigkeit, die umfasst, aber nicht verdaut, zugewendet.“796 Die Westfalen galten ihnen als „derber, urkräfttiger Menschenschlag“797 der konservativen Beharrung, sie lieferten hiermit Topoi, die Friedrich Wilhelm Weber, Heinrich Heine oder Wilhelm Lyra aufgriffen und weitergaben.798 Früh zeigte sich das bis heute durchscheinende Grundmotiv, das Westfälische in Absetzung von dem Rheinischen zu bestimmen. Neben dem Vorwurf, Rheinländer seien national
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geschaffen wurden, um gegessen zu werden, essen wir Schweinefleisch Jahr aus, Jahr ein.“ Vgl. Voltaire: Kandid oder die beste Welt. Von Voltaire, Leipzig 1844, S. 39-41. Möser betont die Angemessenheit der agrarischen Wirtschaftsweise und des Wohnens. Vgl. Möser, Justus: Patriotische Phantasien, Bd. I, Frankfurt/Leipzig 1780, insb. S. 239-246; Möser: Patriotische Phantasien III, in: ders.: Sämmtliche Werke, Berlin 1842, S. 143-145. Die im 18. und 19. Jahrhundert beschworene Germanencharakteristik, die Eigenschaften wie Redlichkeit, Einfachheit, Freiheitsdrang, Treue und Tapferkeit beschwor, wurde mit der Verortung germanischen Widerstands im westfälisch-lippischen Teutoburger Wald auf die dort lebenden Menschen übertragen. Vgl. allgemein zum damaligen Germanenverständnis: Titzmann, Michael: Die Konzeption der ‚Germanen’ in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, in: Link, Jürgen/Wülfing, Wulf (Hrsg.): Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten zur nationalen Identität, Stuttgart 1991, S. 120-145, hier: S. 127. Als Gegensatzpaar wurde „westfälische Ursprünglichkeit und südländische Überfeinerung“ konstruiert, so etwa in Christian Dietrich Grabbes Geschichtsdramas Die Hermannsschlacht von 1835/36, zitiert nach Huge, Walter: Literatur, in: Kohl, Westfälische Geschichte 2, S. 543-555, hier: S. 546. Verwiesen sei auf Carl Leberecht Immermanns Roman Münchhausen von 1839, in dessen Oberhof-Teil die westfälische Ursprünglichkeit beschworen wird. Vgl. hierzu Hasubek, Peter: Oberhofgeschichten. Zur Literarisierung westfälischer Landschaft in Immermanns Münchhausen, in: Literatur in Westfalen. Beiträge zur Forschung, Bd. 1, hrsg. v. Walter Gödden und Winfried Woesler, Paderborn 1991, S. 9-30. Freiligrath, Ferdinand/Schücking, Levin: Das malerische und romantische Westphalen, neu bearb. v. Levin Ludwig Schücking, 4. Aufl., Paderborn 1898, S. 196. Ebd., S. 11. Weber beschrieb die Westfalen als „zäh, doch bildsam, herb, doch ehrlich.“ Vgl. ders.: Dreizehnlinden (1878), Paderborn 1908, S. 4. Heine sah „die lieben, guten Westfalen, ein Volk, so fest, so sicher, so treu, ganz ohne Gleißen und Prahlen“, vgl. ders.: Deutschland. Ein Wintermärchen, in: ders.: Neue Gedichte, Hamburg 1844, S. 277-421, hier: S. 326. Der Osnabrücker Komponist Lyra beschrieb das westfälisch Platt als „sau deftig un kräftig, as wuol nich Ene, bidoonsk, wüöhntlick, trüühartig un eerlick as de ächten Westphalen van Aulens hier auch e wiesen sind.“ Vgl. Lyra, Wilhelm: Plattdeutsche Briefe, Erzählungen, Gedichte, u.s.w. Mit besonderer Rücksicht auf Sprichwörter und eigenthümliche Redensarten des Landvolks in Westphalen, Osnabrück 1845, S. 71.
E.VII. Landschaftliche Grundprägungen – Preußenzeit
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unzuverlässig,799 beförderten die im Westfalenlied beschworene westfälische Benachteiligung sowie die Überhöhung und positive Umdeutung negativer Heterostereotype die innengerichtete Integration und Identitätsbildung.800 Bereits seit 1825 manifestierten der in Münster und Paderborn beheimatete Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalens oder die Mindener Westfälische Gesellschaft für Vaterländische Kultur das gegenüber dem Rheinland früher erwachende westfälische Landschaftsbewusstsein. Volkstümliche Forschungsansätze ermittelten mittels der Heranziehung kulturell-lebensweltlicher Zeugnisse eine die Binnenklüftungen überwölbende westfälische Einheit und ersannen, diese der Bevölkerung zu erschließen. Im Anschluss an jene Wurzeln wurde die Provinz im 20. Jahrhundert ein Schwerpunkt der Kulturraumforschung; zuvörderst das 1928 mit rheinischer Unterstützung – Hermann Aubin, Bruno Kuske und Aloys Schulte transferierten das Forschungskonzept von Bonn nach Münster – begründete Münsteraner Provinzialinstitut für Westfälische Landes und Volksforschung nahm sich der Aufgabe an, eine die westfälischen Strukturgrenzen überspannende kulturelle Einheit wissenschaftlich zu erforschen. In Absetzung vom Rheinland galt Westfalen als Teil des alten sächsischen Stammesgebiets, Hermann der Cherusker und Widukind als Gründungsmythen und besondere Vertreter des westfälischen Charakters; ihr Widerstand gegen auswärtige Einfälle und die Verteidigung der ursprünglichen, freien und bäuerlichen germanischen Lebensweise wurden romanisch-rheinischer Zivilisation entgegengehalten.801 Die Vorstellung einer durch gemeinsame soziokulturelle Stammeszüge verbundenen Region Westfalen leitete auch die Arbeit des 1929 durch den Provinzialverband in Auftrag gegebenen, zwischen 1932 und 1996 in zahlreichen Bänden erschienen Werkes Der Raum Westfalen; die zunächst stark von völkischem Denken getragene Reihe konstruierte durch Teiluntersuchungen zu Geschichte, Volkskultur oder Geographie eine „geistig-seelische Landschaft“802 Westfalen, die sich aus dem Einheitsgefühl des westfälisch-sächsischen Teilstammes über die Jahrhunderte behauptet habe. Ihre geographischen Leitbilder wurden die vier Aubinschen Westfalenbegriffe.803 799
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Der erste westfälische Oberpräsident Ludwig von Vincke schrieb dem preußischen Staatskanzler von Hardenberg in seinem Versuch, das altwestfälisch-kulturelle Gebiet in die neue Provinz zu retten, „ein Ostfriese sei mehr wert als zwanzig halbfranzösische Rheinländer“, zit. nach Ditt, Die Entwicklung des Raumbewusstseins in Rheinland und Westfalen, im Ruhrgebiet und in Nordrhein-Westfalen, in: Ditt/Tenfelde, Das Ruhrgebiet in Rheinland und Westfalen, S. 427. Im von Emil Rittershaus gedichteten Westfalenlied von 1869 heißt es: „Ihr mögt den Rhein, den stolzen, preisen…Wir haben keine süßen Reden und schöner Worte Überfluss. Und haben nicht so bald für jeden den Brudergruß und Bruderkuss. Wenn Du uns willst willkommen sein, So schau auf´s Herz, nicht auf den Schein, Und schau uns grad hinein ins Aug´, gradaus, das ist Westfalenbrauch!“. Vgl. zum Westfalenlied www.lwl.org/lwldownload/westfalenseite/Westfalenlied.rtf (24.9.2010). Vgl. Casser, Das Westfalenbewußtsein im Wandel der Geschichte, in: Aubin et. al., Der Raum Westfalen, Bd. II, 2, S. 291f. Casser, Das Westfalenbewußtsein im Wandel der Geschichte, in: Aubin et. al., Der Raum Westfalen, Bd. II, 2, S. 212. Das erste Westfalen war ihm das Siedlungsgebiet des sächsischen Teilstamms der Westfalen, das sich zwischen Friesland, Rheinfranken, Hessen und Engern erstreckte. Das zweite, vom 12. bis zum 16. Jahrhundert bestehende Westfalen, breitete nach Aubin den westfälischen auf den engrischen Raum bis an die Weser aus. Ein kulturelles Gesamtbewußtsein habe sich auf die Gebiete der Bistümer Münster, Paderborn, Minden und Osnabrück, die Verbreitung der Vemegerichte, des westfälischen Stadtrechts und wirtschaftlicher Hansebündnisses bezogen. Das dritte Westfalen sei durch den im Jahre 1512 geschaffenen
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
Personelle Kontinuitäten in der Forschergemeinde transferierten das Kulturraumdenken über den Zweiten Weltkrieg und prägten auch in der frühen Bundesrepublik ihr Westfalenverständnis. Nach wie vor galt ihnen der Kampf, der sächsische Widerstand gegen die Franken, als verbindender westfälischer Gründungsakt,804 der den geographisch abgeschiedenen Raum vom den Entwicklungsimpulsen des Rheins abgeschnitten hatte805 und Westfalen zu einem Land der passiven, konservativen Gesinnung machte.806 Dem Westfälischen wurde eine besondere Beharrungskraft und die Betonung überlieferter Ordnungen angehängt, ihr Ursprung in der agrarischen Prägung vermutet.807 Personell und ideell eng mit dem Provinzialverband und der Kulturraumforschung verbunden war – aus dem geteilten Interesse, Westfalen historisch zu legitimieren und innerhalb Preußen-Deutschlands zu stärken – der Westfälische Heimatbund (WHB). Er erhielt sich bis in die 1970er Jahre ein der Inbeziehungsetzung von Natur und Kultur entspringendes organologisches Westfalenbild – aufbauend auf dem ländlicheren Charakter der Provinz, unterstützte der WHB das Bild des sächsisch-bäuerlichen Erbes, dessen Traditionen charakteristische westfälische Eigenschaften folgten –, dessen Schutz und Pflege er sich zur Aufgabe machte.808 Unverkennbar sind die intensiveren Bemühungen, eine westfälische Identität und Zusammengehörigkeit zu reklamieren und diese gegen äußere In Fragestellung zu verteidigen. Westfalen war seit dem späten Mittelalter ein fester Begriff, dessen räumliche Ausdehnung und innere Verfassung sich zunehmend auf einen gleichbleibenden Kern verdichteten: Abgeschiedenheit, Natur, Bauerntum und Konservatismus wurden zu festen Bestandteilen sowohl innerer als auch äußerer Perspektiven, die bis heute Bestand haben. Aufschlussreich sind die bis heute nachzuvollziehenden Abgrenzungsstrategien gegen das Rheinland, das als ewiger Konkurrent stets einen Vorsprung zu besitzen schien und als Distanzierungsobjekt Teil innengerichteter Selbstverständigung war. Die Rückbeziehung auf alte Stammesgrenzen, die Behauptung ethnisch-kultureller Zusammenhänge oder die Veranstaltung von Westfalentagen stülpten über die Teillandschaften ein Westfalenbild, das
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westfälischen Reichskreis bestimmt worden, auf das Gebiet zwischen Maas und Weser, der Nordsee und Hessen. Das vierte Westfalen war ihm die seit 1815 bestehende preußische Provinz Westfalen. Vgl. Aubin, Hermann: Die geschichtliche Entwicklung, in: ders./Bühler, Ottmar/Kuske, Bruno /Schulte, Aloys: Der Raum Westfalen. Bd. I: Grundlagen und Zusammenhänge, Berlin 1931, S. 7-27. Aubin, Hermann: Ursprung und ältester Begriff von Westfalen, in: ders./Schulte, Eduard (Hrsg.): Der Raum Westfalen, B. II,1: Untersuchungen zu seiner Geschichte und Kultur, Münster 1955, S. 1-35, hier: S. 29. „Während am Rhein Weltläufigkeit und Aufgeschlossenheit für fremde Anregungen den Zuschnitt des Lebens und die kulturellen Erscheinungsformen bestimmen, nimmt der Westfale im allgemeinen nur auf, was er als ihm gemäß empfindet und sucht es sich anzuverwandeln.“ Petri, Franz: Von den Landschaften zum Land, in: ders.: Zur Geschichte und Landeskunde der Rheinlande. Westfalen und ihrer westeuropäischen Nachbarländer. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten, hrsg. v. Edith Ennen, Alfred Hartlieb von Wallthor und Manfred van Rey, Bonn 1973, S. 932-946, hier: S. 939. „Im Grunde genommen kann man die Individualität des Landes Westfalen einzig und allein ableiten aus seiner Lage im küsten- und stromfernen gebirgigen Binnenwinkel.“ Vgl. Müller-Wille, Wilhelm: Westfalen. Landschaftliche Ordnung und Bindung des Landes, Münster 1952, S. 29. Vor allem das Kernmünsterland galt MüllerWille als Passivraum, während er den Randgebieten des West- und Ostmünsterlandes bzw. des Hellwegs eine fortschrittlichere Gesinnung beimaß, vgl. ebd., S. 70. Vgl. Zender, Matthias, Die kulturelle Stellung Westfalens nach den Sammlungen des Atlas der deutschen Volkskunde, in: Aubin, Hermann/Bühler, Ottmar/Kuske, Bruno/Schulte, Aloys (Hrsg.): Der Raum Westfalen IV,2, Münster 1965, S. 1-69, hier: S. 67. Vgl. hiezu Hertleif, Andrea: Zwischen Ross und Ruhr. Das Westfalenbild des Westfälischen Heimatbundes, in: Westfälischer Heimatbund (Hrsg.): Heimatpflege in Westfalen 1 (2007), S. 5-9.
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nicht nur durch den Zustrom auswärtiger Arbeitskräfte in das Ruhrgebiet, sondern auch aufgrund innerwestfälischer Entwicklungsdifferenzen einen künstlichen Charakter besaß. Bereits die neun Teilverbände des WHBs – es existieren die Organisationen Hellweg, Kurkölnisches Sauerland, Märkisches Sauerland, Minden-Ravensberg, Münsterland, Paderborn-Corvey, Ruhrgebiet, Siegerland-Wittgenstein und Vest Recklinghausen – beanspruchen geschichtlich bedingte Eigenrechte und unterstreichen die unterhalb des Dachverbands bestehenden Wahrnehmungs- und Bewusstseinsunterschiede. Sie fassen ihrerseits subregionale Heimatverbände mit spezifischen mental maps und kulturellen Gedächtnissen zusammen und manifestieren den mehr erzwungenen denn lebensweltlich fundierten Anspruch einer westfälischen Einheit. Anstatt ein breites Fundament in der Bevölkerung zu besitzen, sind solche Westfalenbilder ein „artifizielles und extrem pflegebedürftiges Konstrukt handverlesener Eliten“ geblieben.809 E.VII.1.3. Landschaftsbilder Ruhrgebiet So schmal die historischen Landschaftsbilder, so zahlreich Vorurteile und Fremdbilder. War ein Ruhrgebiet bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts unbekannt, formte sich mit der Industrialisierung ein Raum, der insbesondere von außen als zusammenhängende Einheit wahrgenommen wurde; dominierte zunächst die Bezeichnung Rheinisch-Westfälisches Industriegebiet, so fand der erstmals in den 1860er Jahren gebrauchte Begriff Ruhrgebiet erst in den 1920ern breitere Verwendung in dem Bemühen, der Region eine positive Identität zu verleihen.810 Doch bereits zuvor konstatierte der Außenblick Gemeinsamkeiten in Lebensund Arbeitsweise, prägte ein nachhaltiges Bild der Region und seiner Menschen und beförderte aus der Zusammenschau von Infrastruktur, Absatz- und Lieferbeziehungen, Unternehmens- und Gewerkschaftszusammenschlüssen die Perspektive einer schwerindustriellen rheinisch-westfälischen Einheitslandschaft, eines Städtemeers mit geringer Lebensqualität, das vorherige Perspektiven allmählich überformte und überlagerte.811 Die literarische Beschäftigung mit dem Ruhrgebiet verweist auf den Wandel, den die Landschaft im 19. Jahrhundert durchmachte. Frühe Reisebeschreibungen priesen die schöne, ländliche und fruchtbare Umgebung der Hellwegstädte und luden zu Wanderungen oder poetischen Spaziergängen ein;812 vor allem das hügelige Ruhrtal wurde zahlreich
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Vgl. Oberkrome, Willi: Der Raum und seine Regionen. Anspruch und Grenzen westfälischer Kulturraumkonzeptionen 1920-1950, in: Ditt/Tenfelde, Klaus, Das Ruhrgebiet in Rheinland und Westfalen, ebd., S. 363-376, hier: S. 376. Vgl. Croon, Helmut: Vom Werden des Ruhrgebiets, in: Först, Walter (Hrsg.): Rheinisch-Westfälische Rückblende, Köln/Berlin 1967, S. 173-226, hier: S. 176. Vgl. hierzu auch die Ausführungen Landschaftsbilder und Stereotype. Vgl. hierzu Rasch, Manfred: Zwei Provinzen – ein Wirtschaftsraum? Zur Wahrnehmung des „Ruhrgebiets“ durch Montanindustrielle im 19. Jahrhundert, in: Ditt/Tenfelde, Das Ruhrgebiet in Rheinland und Westfalen, S. 225-262, hier: S. 228f. sowie insbesondere die Auflistung Verwendung der Bezeichnung „Rheinisch-Westfälisch“ bzw. „Niederrheinisch-Westfälisch“ vom 19. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, S. 259-261. Vgl. hierzu Steinhoff, Dieter: Unbekanntes Ruhrgebiet. Land der Kontraste und Merkwürdigkeiten. Land der Vergangenheit und Zukunft, Münster 1990, S 13. Vgl. allg. Löbker, Gerhard: Wanderungen durch das Ruhrtal, Münster 1852 oder Nonne, Johann Heinrich Christian: Poetische Spaziergänge oder Wanderungen durch Duisburgs Flure, Duisburg 1807.
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besungen, während die Emschergegend als sandig, trostlos und einsam galt.813 Mit der industriellen Überformung verflüchtigten sich diese Eindrücke und rückte innerhalb dieser „ödesten Sandgegend“ der Blick auf die emporwachsenden Industriebetriebe und die „nordamerikanisch“ anmutenden Städte in den Vordergrund.814 Das Ruhrgebietsbild oszillierte fortan zwischen Faszination und Abneigung,815 aus den Wanderungen durch das liebliche Ruhrtal wurden solche durch den leistungsfähigen rheinisch-westfälischen Industriebezirk.816 Prägend für die Ruhrgebietswahrnehmung wurden im Zeichen des Realismus geschriebene Reportagen. Erik Reger zeichnete das Bild einer „chaotischen Landschaft“ aus Schornsteinen und Zechentürmen, erblickte verwahrloste Höfe und verdreckte Mietskasernen.817 Er beschrieb die aus einer Vielzahl von Völkern zusammengesetzte Einwohnerschaft als durch Unterwürfigkeit im Betrieb und provinzielles Denken im Alltag bestimmt, die in untereinander konkurrierenden Städten lebten; im Streben nach Prestige und Größe betone man – trotz des Wissens um geographische und kulturelle Schwächen – trotzig den eigenen Glanz, die Schönheit und künstlerische Vielfalt. Das Ruhrbürgertum ziehe den Nutzen aus der wirtschaftlichen Potenz, blicke aber mit Verachtung auf die Industrielandschaft und weigere sich, sich auf diese einzulassen.818 Auch Heinrich Hauser konstatierte ein infrastrukturelles Konglomerat aus Verkehr und Montanbetrieben und sah fließende Übergänge zwischen Städten amerikanischen Stils, über denen anhaltender Industriequalm hänge. Als Charakteristik strich er die „Konkurrenz der Städte“ und eine „Verbohrtheit des Geistes“ heraus; die Bevölkerung sei „nicht im geringsten großstädtisch“, hier wohne ein „schwerer, bäuerisch zufriedener Menschenschlag“, dessen „Geistesabwesenheit stumpfer Ermüdung“ entspringe. Die zumeist ländliche Herkunft der eingewanderten, ungebildeten Industriearbeiterschaft prägte das Bild des Ruhrmenschen, der einfältig seiner Arbeit nachging und Werte wie Fleiß und Hilfsbereitschaft schätzte.819 Als Gegenbewegung setzten bereits in Weimarer Zeit Versuche ein, der Ruhrgebietslandschaft eine eigene Ästhetik zuzuschreiben. Die Bilder der zerstörten Natur und der kulturlosen Bewohner erfuhren eine positive Umdeutung, indem technischer Fortschritt, die Einsatzbereitschaft der Industriearbeiter und die Erhabenheit der Fabrikkulissen be-
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Vgl. Droste-Hülshoff, Annette von: Westphälische Schilderungen aus einer westphälischen Feder (1845), in: dies.: Sämtliche Werke, hrsg. v. Bodo Plachta u. Winfried Woesler, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1994, S. 64f. Vgl. Schücking, Levin: Von Minden nach Köln, Leipzig 1856, S. 149f. So heißt es bei dem französischen Journalisten Jules Huret: „Die geschwärzten Mauern der Häuser, die von chemischen Bestandteilen vergifteten Flüsse, die man in diesem Erdenwinkel findet, machen einen durchaus nüchternen und doch wieder auch imposanten Eindruck und kennzeichnen die Zivilisation des Landes.“ Vgl. ders.: Das Ruhrgebiet um 1900. Zu Besuch bei Krupp und Thyssen, Essen 1998, S. 8f. Die hier abgedruckten Eindrücke entstammen der Reisereportage En Allemagne, die Huret erstmals 1907 in das rheinisch-westfälische Industriegebiet führten. Vgl. Luther, Bernhard: Wanderungen durch den Rheinisch-westfälischen Industriebezirk, Berlin 1913. Vgl. Reger, Erik: Ruhrprovinz (1928), in: ders.: Kleine Schriften, hrsg. v. Erhard Schütz, Bd. 1, Berlin 1993, S. 52-61. „Der Ruhrkohlenpott ist für die Vorstellungswelt des deutschen Bürgers, was der Mist für seinen Garten ist: eine zum Gedeihen notwendige Nährgabe, aber unangenehm von Aussehen und Geruch. Man zieht den Nutzen daraus, doch man sieht nicht gern hin.“ Vgl. ders.: Reporter im Kohlenpott (1930), in: Ebd., S. 146-154, hier: S. 150. Vgl. Hauser, Heinrich: Schwarzes Revier, Berlin 1930. Die Zitate im laufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe, vgl. S. 29, 93, S. 141f.
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tont wurden.820 Dem industriellen wurden literarische Ruhrgebietsbilder zur Seite gestellt und ein Fundus an Sagen und Märchen wiederentdeckt, der die negativen Außenperspektiven durch weichere Themenfelder erweiterte.821 Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Ruhrgebiet folgte dem funktionalistischen, an die unscharfen Wirtschaftsstrukturen angelehnten kartographischen Raumverständnis des rheinisch-westfälischen Industriegebiets.822 Einer ruhrgebietseigenen Deutungskultur stand die relative Schwäche des Bürgertums als traditioneller Träger historischer Selbstvergewisserung entgegen, das sich weniger mit der durch die Arbeiterschaft geprägten Landschaft identifizierte, sondern sich im nationalen Rahmen verortete; die erst seit den 1920er Jahren – und somit deutlich später als im rheinisch-westfälischen Umland – verstärkte Entstehung von Heimatmuseen und Geschichtsvereinen war weniger um die ruhrgebietsweite Integration der verschiedenen Lebenswelten als um lokale und milieuspezifische Ausleuchtung bemüht.823 Das administrativ auf drei Regierungsbezirke aufgeteilte Ruhrgebiet entbehrte eines Provinzialverbandes, dessen Kulturarbeit ein vereinheitlichendes Band über Städte und Milieus gezogen hätte, und auch die an der Volkskundlichen Kommission des Münsteraner Provinzialinstituts für westfälische Landes- und Volkskunde angesiedelte Forschungsstelle für das Volkstum im Ruhrgebiet vermaß unter der Leitung Wilhelm Brepohls zwischen 1935 und 1941 den Ruhrmenschen von außerhalb des Ruhrgebiets. Vor nationalsozialistischem Hintergrund erblickten die Forscher an der Ruhr die Entstehung eines Industriemenschen aus der Verschmelzung west- und ostdeutscher sowie slawischer Bevölkerungsteile und dem Einfluss der alles bestimmenden Arbeitswelt, der sich durch Gemeinsamkeiten in Sprache und Lebensstil auszeichne.824 Dass dennoch zwischen Emscher und Ruhr ein eigenständiger Landschaftsbildungsprozess stattgefunden hatte, der es aus seinem rheinisch-westfälischen Umland heraushob, dokumentierte der gescheiterte Versuch des Westfälischen Heimatbundes, den westfälischen Teil des Ruhrgebiets in seine Kulturraumarbeit einzubeziehen. Die Heterogenität der Ruhrgebietsgesellschaft, ihre mannigfache Zerklüftung und andersgelagerte Sozialstruktur machte Strategien, sie in eine organologische westfälische Einheit zu integrieren,
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Herausgegriffen sei Bernhard Schulte, bei dem es heißt: „Das Ruhrland…ist die bewunderte Herzkammer der deutschen Industrie geworden. Mit Staunen überblickt der Reisende, der im Berliner D-Zug die Strecke Duisburg-Hamm durchfährt, die ragenden Fördertürme, die glühenden Koksbatterien, die rauchenden Schlote, die gewaltigen Hochöfen ..., die volkreichen Ortschaften ...das Gewirre der Eisenbahnüberführungen ...daneben erinnern wogende Getreidefelder an die Fruchtbarkeit der Landschaft. Das Auge des Schauenden kommt nicht zur Ruhe; sein Herz aber wird höher schlagen bei dem Gedanken: ‚Hier ist das Land der Arbeit.’“ Vgl. ders.: Westfalen, das Land der Arbeit. Seine Wirtschaft und sein Gemeinschaftsleben, Dortmund 1931, S. 145. So etwa Grasreiner, Reinhold: Im Herzen des Ruhrlandes, 2 Bde., Wattenscheid 1925 sowie Broermann, Karl: Zwischen Ruhr und Lippe. Geschichten und Sagen, Essen 1926. „Nicht scharf und genau lässt sich der Bezirk abgrenzen, den man rheinisch-westfälisches Industriegebiet nennt. Jedenfalls ist er keine ‚isolierte Industrieprovinz’, die abgeschlossen für sich allein steht…Die eigentliche Provinzgrenze hat also nur noch politische Bedeutung, wogegen sie wirtschaftlich völlig verwischt ist.“ Vgl. Wilden, Joseph: Die Volkswirtschaft des Rheinlands, in: Wentzel/Lux, Rheinland, S. 341-359, hier: S. 342f. Vgl. Grütter, Heinrich Theodor: Kaiser und Krieg, Bismarck und Bourgeoisie. Denkmalskultur und bürgerliche Identität im Ruhrgebiet im 19. Jahrhundert, in: Ruhrland Museum Essen (Hrsg.): Die Erfindung des Ruhrgebiets. Arbeit und Alltag um 1900, Essen 2000, S. 271-285. Vgl. Weyer, Johannes: Die Forschungsstalle für das Volkstum im Ruhrgebiet (1935-1941) – Ein Beispiel für Soziologie im Faschismus, in: Soziale Welt 35 (1984), S. 124-145.
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
zu einem aussichtslosen Unterfangen;825 die Bildung des WHB-Teilverbands Ruhrgebiet folgte schließlich dieser Einsicht. Die Dominanz jener bis heute nachzuvollziehenden Heterostereotype war Resultat einer verzögerten endogenen Ruhrgebietsdeutung. Ein funktionalistisches Raumverständnis stand subjektiver wie kollektiver Identifikation ebenso entgegen wie die gesellschaftliche Zerklüftung und das zahlenmäßig schwache, sich eher absondernde denn integrierende (Bildungs-)Bürgertum. Gewerkschaften und Unternehmensverbände organisierten sich zwar raumübergreifend, waren aber mehr Interessenvertreter denn identitätsstiftende Organisationen. Die Industrieregion firmierte bis in die 1920er als rheinisch-westfälisches Industriegebiet und erhielt erst mit dem Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk eine ruhrgebietsweite Institution, deren eng umrissene Selbstverwaltungsaufgaben den Bemühungen um die positive Ausdeutung eines auch begrifflich erfassten Ruhrgebiets ebenso entgegenstanden wie die kommunal verfasste, durch starke Städterivalität gekennzeichnete Verbandsversammlung;826 zudem behinderte die – administrativer Fremdbestimmung folgende – „fortgesetzte Entmündigung des Ruhrgebiets“827 relationale Raumbildungsprozesse. Die mit deutlicher Verspätung gegenüber Rheinland und Westfalen entstandenen Heimat- und Geschichtsvereine organisierten sich entlang lokaler Horizonte, anstatt ein gemeinsames Dach über das Ruhrgebiet zu spannen,828 wie auch häufig die alten Provinzen für die Selbsteinordnung der Ruhrgebietsstädte eine wichtigere Rolle als die Industrieregion als Ganzes spielten.829 E.VII.1.4. Lippische Landschaftsbilder Räumlich und staatlich war Lippe bereits im Alten Reich ein fester Begriff und – als einziger nordrhein-westfälischer Landesteil – auf historischen Landkarten durchgängig ausgewiesen.830 Trotz seiner rund 800-jährigen Unabhängigkeit, der Kontinuität von Herrscherhaus und Landeskirche sowie der relativen Abgeschiedenheit war die Entstehung eines lippischen Landschaftsbewusstseins jedoch keine Selbstverständlichkeit, sondern verortete man sich häufig selbst innerhalb eines westfälischen Kontextes. Erst innerhalb des allgemeinen historischen Erwachens des 19. Jahrhunderts, infolge auswärtiger Ansprüche auf Lippe-Detmold und externer In Fragestellung setzten Bemühungen ein, das Lippische ge-
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Vgl. Oberkrome, Der Raum und seine Regionen, in: Ditt/Tenfelde, Das Ruhrgebiet in Rheinland und Westfalen, S. 368ff. Vgl. Ribhegge, Preußen im Westen, S. 395. Knüpfer, Uwe: Wir im Westen. Wie wir wurden, was wir sind. Ein historischer Wegweiser nach Nordrhein-Westfalen, Essen 2010, S. 106. Ditt, Die Entwicklung des Raumbewusstseins in Rheinland und Westfalen, im Ruhrgebiet und in Nordrhein-Westfalen, in: ders./Tenfelde, Das Ruhrgebiet in Rheinland und Westfalen, S. 440. Dies belegt etwa die Namensgebung für zahlreiche in Dortmund gelegenen Institutionen: Hier wurde die Westfalenhalle, der Westfalenpark oder das Westfalenstadion gebaut. Vgl. Reinighaus, Wilfried: Von der Freien Reichsstadt zur Westfalenmetropole? Dortmunds Selbstwahrnehmung im Raum und in der Zeit, in: Ebd., S. 315-344, hier: S. 330. Lippe war bekannt als Grafschaft im Westphälischen Kreise, über sein Herrschergeschlecht sowie den gleichnamigen, hauptsächlich Westfalen durchlaufenden Fluss. Vgl. Johann Heinrich Zeidlers Grosses vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste’, Bd. 17 (Leis-Lm), Leipzig/Halle 1738, Sp. 1513f-1553.
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genüber dem westfälisch-preußischen Umland zu bestimmen und hierüber seine Existenz zu wahren. Dass Lippe sich bis ins 19. Jahrhundert als westfälischen Teilraum verstand, zeigten Titel wie die in Lemgo erscheinenden Westphälischen Bemühungen zur Aufnahme des Geschmacks und der Sitten oder die Historisch-geographische Beschreibung der fürstlichen Lippeschen Lande, die das Land als Teil des „westphälischen Boden(s)“ beschrieben.831 Aufklärerische Publikationen verorteten die Grafschaft innerhalb eines übergreifenden Kulturraumes, übertrugen die Attribute westfälischer Rückständigkeit und Schlichtheit auf Lippe832 und schrieben auch der hiesigen Bevölkerung Eigenschaften wie Arbeitsamkeit, Fleiß und Emsigkeit zu.833 Ein endogenes lippisches Selbstverständnis entwickelte sich erst innerhalb des nationalen Erwachens des 19. Jahrhunderts: Gesellschaftliche Institutionen wie der Naturwissenschaftliche Verein für das Fürstentum Lippe oder das Lippische Magazin – beide existierten seit 1835 in Detmold – gingen dazu über, Lippe in ihre Selbstbezeichnung aufzunehmen, anstatt sich auf Westfalen zu beziehen. Äußerer Impuls jener entfachten staatlichlandschaftlichen Selbstbewusstwerdung wurde die staatliche In Fragestellung Lippes; erst als dem Fürstentum infolge der Verfassungsberatungen der Frankfurter Paulskirche und der Diskussion um die inneren Strukturen des künftigen deutschen Staates die Mediatisierung drohte, regten sich die treuen und „freie(n) Söhne des Teutoburger Waldes“, um ihre Unabhängigkeit zu wahren.834 Die bei Detmold vermutete Schlacht im Teutoburger Wald wurde als lippischer Mythos vereinnahmt und zum Symbol eines gegen westfälische Vereinnahmung gewendeten lippischen Unabhängigkeitsdrangs, der im 1838 begonnenen Bau des Hermannsdenkmals gipfelte.835 Das so gezeichnete Eigenbild brachte nicht nur die Germanenbegeisterung des 19. Jahrhunderts, sondern auch die Übernahme lippischer Heterostereotype zum Ausdruck, wie sie durch Ziegler und Wanderarbeiter geprägt worden waren: Die Zuschreibung von Tugenden wie Einsatz, Genügsamkeit, Fleiß und Sparsamkeit tauchten in der Außenwahrnehmung wiederholt auf, wenn von den Saisonkräften – die dem westfälischen Kulturraum zugerechnet wurden – die Rede war;836 eine positiv gewendete Knau831 832
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Vgl. von Donop, Wilhelm Gottlieb Levin: Historisch-geographische Beschreibung der fürstlichen Lippeschen Lande, 2. verbess. Aufl., Lemgo 1790, S 5. Deren Herausgeber Christian Friedrich Hellwing bemerkte in der Einleitung zur ersten Ausgabe 1753, „sie wissen um die Vorwürfe, welche man unserem Vaterland gemacht hat, Sie kennen den Zustand desselben sowohl in Ansehen der Gelehrsamkeit überhaupt als der des Geschmacks und der Sitten am besten. Wir wollen alles mögliche tun, um Auswärtigen mildere Begriffe davon beizubringen.“ Gerade Westfalen bedürfe eine Zeitschrift, die dem Bild und den Zuständen entgegenwirke. Zit. nach Wehrmann, Die Aufklärung in Lippe, S. 204. Vgl. Krünitz, Johann Georg: Oekonomische Encyclopädie, oder allgemeines System der Land-, Hausund Staatswirthschaft, Th. 79, Brünn 1804, S. 402-412, hier: S. 407f. Diese Eigenschaften mögen Resultat gewesen sein zum einen der fürstlichen Politik, diese bereits in der Schule auszubilden, andererseits der Erfahrung der Armut, die der Sorge um das tägliche Dasein eine herausgehobene Stellung einräumen musste. Möglich erscheint aber auch die Übernahme fürstlicher Propaganda. So der Aufruf an die Lipper im Lippischen Volksblatt vom 26.10.1848. Vgl. Niebuhr, Hermann/Scholz, Klaus: Der Anschluss Lippes an Nordrhein-Westfalen. Behauptung und Ende staatlicher Selbständigkeit 1802/3-1947, Detmold 1984, Dok. 7, S. 59-61. Vgl. Niebuhr, Hermann: Heimat NRW. Landesbewusstsein und Regionalität in neuer Sicht. Das Beispiel Lippe, in: Brautmeier, Jürgen/Düwell, Kurt/Heinemann, Ulrich/Petzina, Dietmar (Hrsg.): Heimat Nordrhein-Westfalen. Identitäten und Regionalität im Wandel, Essen 2010, S. 351-166. hier: S. 355, 359. „Die Lipper, nur Männer, kommen im April und bleiben bis Mitte Oktober (…) Die Leute sind von einem besonderen Fleiß. Sie arbeiten von drei Uhr früh bis acht oder selbst neun Uhr abends, also nach Abzug einer Eßstunde immer noch
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serigkeit wurde im Zuge der Debatte um die Angliederung Lippes an Preußen in den 1920er Jahren beschworen, um die völkische Gemeinschaft und staatliche Unabhängigkeit Lippes auch mit der vergleichsweise günstigen, effizienten und leistungsfähigen Verwaltungspraxis zu rechtfertigen.837 Da Lippe-Detmold aufgrund seiner verspäteten soziökonomischen Entwicklung nur über ein schwach ausgebildetes Bürgertum als Träger kultureller Selbstdeutungsprozesse verfügte und provinzieller Heimatpfleger entbehrte, mangelte es selbst in dem für historische Selbstvergewisserungen so wichtigen 19. Jahrhundert an Aktivitäten, Lippe eine wissenschaftlich fundierte Legitimation zu verschaffen. Der erst 1908 in Detmold gegründete Lippische Bund für Heimatschutz und Heimatpflege legte seinen Schwerpunkt auf die Erhaltung historischer Städte und der Naturlandschaft, und erst in der Arbeit der seit 1937/38 bestehenden Nachfolgeorganisation, des Lippischen Heimatbundes (LHB), spielte die wissenschaftlich unterlegte Bestimmung der lippischen Identität – einbezogen wurden Brauchtumspflege, Volkskunde und Geschichtsvermittlung – eine größere Rolle. Der LHB übernahm die seit 1900 als monatliche Beilage der Lippischen Landes-Zeitung erscheinenden Blätter für Lippische Heimatkunde, veröffentlichte Artikel zu Landesgeschichte und Alltagskultur, wirkte an der Raumvermessung mit und symbolisierte mit seinen Erkennungsmerkmalen – Rose, Hermannsdenkmal und Detmolder Schloss – die lippische Eigenheit.838 Daneben widmete sich der Detmolder Naturwissenschaftliche Verein für das Fürstentum Lippe seit 1902 zunehmend der Erforschung der lippischen Geschichte und versuchte, durch Völker- und landeskundliche Exponante den Besuchern ein historisches Lippeverständnis zu liefern. Der Verein wurde mit seinen Sammlungen Initiator des 1919 errichteten Lippischen Landesmuseums und nahm die historische Forschung 1946 explizit in seinen Vereinsnamen auf.839
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nah an siebzehn Stunden. Sie verpflegen sich nach Lipper Landessitte, d.h. im wesentlichen westfälisch. Man darf sagen, sie leben von Erbsen und Speck, die beide durch den ‚Meister’ aus der lippeschen Heimat bezogen werden, wo sie diese Artikel besser und billiger erhalten. Mitte Oktober treten sie, jeder mit einer Überschußsumme von nahezu hundert Talern, den Rückweg an und überlassen nun das Feld den einheimischen Ziegelstreichern“. Vgl. Fontane, Theodor: Glindow, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 11: Wanderungen durch die Mark Brandenburg 3. Havelland, die Landschaft um Spandau, Potsdam, Brandenburg, München 1960, S. 429-438, hier: S. 432. Stellvertretend sei auf die Ausführungen des Kalendermanns (Pseudonym) zur staatlichen Zukunft des Landes Lippe aus dem Lippischen Kalender von 1921 hingewiesen. Vgl. Niebuhr/Scholz, Der Anschluss Lippes an Nordrhein-Westfalen, Dok. 19, S. 88-91, hier: S. 90. Vgl. auch Die Lippische Chronik (anonym) über die leistungsfähige und sparsame lippische Landesverwaltung, in: Lippischer Landeskalender auf das Jahr 1929, abgedruckt ebd., Dok. 26, S. 101-103. Vgl. Barmeyer, Heide: Kontinuität und Wandel. Der Lippische Heimatbund - von der kaiserlichen Gründung zum Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg und die prägende Rolle Bernhard Eberts, in: Meiser, Burkhard/Wiesekopsiecker, Stefan (Hrsg.): Lippe 1908-2008. Beiträge zu Geschichte und Gegenwart der Heimatpflege, Bielefeld 2008, S. 21-80, hier: S. 23. Vgl. Naturwissenschaftlicher und Historischer Verein für das Land Lippe e.V.: Chronik, einsehbar unter http://www.nhv-lippe.de/chronik (23.9.2010).
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E.VII.2. Landschaften und landschaftliche Überlieferungen Die umfassende Vermessung des historischen Nordrhein-Westfalens, die Freilegung räumlicher Grundbedingungen und den auf ihnen aufbauenden landschaftsgenetischen Tiefenschichten verdeutlicht die Erbmasse aus regionalen Panoramen, kulturellen Traditionslinien und kollektiven Gedächtnissen, die in das 1946 gegründete Bundesland einging. Sie schimmert unter heutigen Oberflächenphänomenen hindurch, in ihr wurzeln die gegenwärtig das Land durchziehenden Strukturgrenzen, und sie erklärt den Plural an gewachsenen Denk- und Handlungshorizonten, der einem Landesbewusstsein auch entgegensteht. Bereits in der groben Gegenüberstellung war das offenere, wirtschaftsstärkere und bürgerlich-liberalere Rheinland beherrschender Vorzugsraum mit einem geschichtlich angelegten Entwicklungsvorsprung gegenüber dem abgelegeneren, konservativ-agrarischeren Westfalen, das später in überregionale Kommunikations- und Austauschnetze eingebunden wurde und hergebrachten Lebens- und Wertewelten länger verhaftet blieb. Das mit der Industrialisierung entstehende Ruhrgebiet hob sich mit seinem hohen Industriearbeiteranteil, seiner den Wirtschaftsbedürfnissen folgenden Raumgestaltung und technischmaschineller Modernität allmählich aus seiner rheinisch-westfälischen Umgebung ab, blieb in seinem Inneren jedoch mannigfach zerklüftet und seine Bevölkerung vorindustriellen Horizonten verhaftet; wirtschaftliche Leistungskraft und Moderne ging mit gesellschaftlichem Traditionalismus einher. In Lippe verstärkten sich geographische Abgeschiedenheit und sozioökonomische Rückständigkeit wechselseitig und tradierten soziostrukturelle Verhältnisse, die im restlichen historischen NRW längst überwunden waren. Die lippische Verspätung hielt das Land innerhalb ländlich-agrarischer Erfahrungsspektren und band Politik, Wirtschaft, Kultur sowie Alltagsleben an altüberlieferte Maßstäbe. Rheinland, Westfalen, Ruhrgebiet und Lippe können jedoch nicht als monolithische Blöcke gegenübergestellt, sondern müssen nach inneren Landschaftsbildungen differenziert werden; nicht die vier Landesteile sind die eigentlichen Scheidelinien, sondern die in ihnen zusammengeschlossenen Regionen mit ihren spezifischen Genesepfaden. Es gab nicht den rheinischen Liberalismus, sozioökonomisch rangierte nicht das Rheinland vorn, sondern beide Aspekte fokussierten sich auf die Städte der Rheinschiene. Die in der Staatenwelt des Alten Reichs angelegten Genesepfade beförderten auch in der Preußenzeit subregionale relationale Bindungen, das Fortleben ihrer Strukturen – der katholische Glaube verschwand etwa nicht mit den säkularisierten Fürstbistümern, sondern wurde durch milieuhafte Zusammenschlüsse erhalten – fundierte bereits begonnene innere Landschaftsbildungen oder stieß neue an. Die historisch überlieferten Landschaften in Nordrhein-Westfalen sind zuvörderst dort zu vermuten, wo strukturelle Zusammenhänge und geteilte Lebenshorizonte über einen längeren Zeitraum hinweg bestanden; je mehr Entwicklungswege eine Region und ihre Bevölkerung gemeinsam beschritten, desto dichter knüpften sich relationale Raumbeziehungen. Eine Region wie das Münsterland mit seit Jahrhunderten kaum veränderten staatlichadministrativen Grenzen, einer überwiegend katholisch unterlegten Kultur sowie weitgehend bäuerlich bestimmtem Alltagsleben verfügt über weit mehr aufeinanderbezogene Anknüpfungspunkte als das Ruhrgebiet, das bereits als zersplitterte Region in die Preußen-
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zeit eintrat und diese Binnenheterogenität trotz industrieller Überformung nie überwand; landschaftshistorisch stehen sich Niederrhein und Münsterland näher als das dem Regierungsbezirk zugeordnete Tecklenburger Land. Das Zusammenspiel aus natürlichgeographischen, staatlich-politischen, kirchlich-kulturellen und wirtschaftlichgesellschaftlichen Prägungsspektren begründete die Ausbildung spezifischer Soziokulturen und kollektiver Gedächtnisse, an die Deutungskulturen anschließen und jenen Wechselbeziehungen einen identitären Überbau verschaffen konnten. Im Rheinland erhielt sich am Niederrhein eine katholisch-agrarische Lebenswelt, deren industrielle Verdichtungskerne Solitäre innerhalb ländlicher Grundstrukturen blieben und in der die Kirche ihre alltagsbestimmende Macht bewahrte; das Wechselverhältnis aus sozioökonomischen und -kulturellen Gegebenheiten machte die Region zu einer Hochburg des Zentrums und des katholischen Organisationswesens mit traditionellkonservativem Horizont. Das von Bonn über Köln und Leverkusen nach Düsseldorf reichende Rheinische Städteband baute hingegen – hierin dem Aachener Land ähnlich – seinen aus dem Alten Reich überlieferten Bedeutungsvorsprung im 19. und 20. Jahrhundert kontinuierlich aus und blieb politisches, wirtschaftliches und kulturelles Schwergewicht, in dem bürgerlicher Liberalismus und lebensnaher Katholizismus eine charakteristische Allianz eingingen. Östlich hiervon entwickelte sich das geographisch zerklüftete Bergische Land insbesondere in seinem nördlichen Teil zu einer gewerblichen Verdichtungszone und sozialdemokratischen Hochburg, die sich in ihrer reformiert-pietistischen Prägung vom restlichen Rheinland abhob. In Westfalen erhielt das nahezu in einem Regierungsbezirk zusammengefasste Münsterland als Wahrnehmungsregion nicht nur staatliche Unterstützung, sondern innerhalb der Ausmaße des ehemaligen Fürstbistums auch seinen katholisch-ländlichen Charakter. Gekennzeichnet durch ein breites Bauerntum und den Landadel, wurde es zur Hochburg eines konservativen Zentrums und kirchennaher Organisationswelten, deren Traditionen, Alltagskultur und Lebensgestaltung katholischen Rhythmen unterworfen blieben. Geographie, Dialekt und reformierter Glauben enthoben das ebenfalls ländliche Tecklenburger Land aus dem Regierungsbezirk und verwiesen stärker auf das ostwestfälische Minden-Ravensberg, das sich in den industriell verdichteten, pietistisch geprägten Ravensberger und den abgeschiedeneren, ländlicheren Minden-Lübbecker Raum untergliederte; übergreifend wurden alle drei Landesteile zur Heimat einer konservativen Sozialdemokratie. Wo südlich hiervon das lutherische Märkische Sauerland am industriellen Aufschwung des Ruhrgebiets partizipierte, trug die – durch nach Südosten ansteigenden Höhenzüge beförderte – Abgeschiedenheit des katholischen Kölnischen Sauerlands zur Erhaltung hergebrachter Welt- und Gesellschaftsverständnisse und zu seiner vergleichsweise geringeren gewerblichen Durchdringung bei. Hierin dem nahen Paderborner Land verwandt, wurden beide ständischaltertümlichen Regionen zu Hochburgen eines konservativ-adligen Zentrums, während sich das Märkische Sauerland durch ein liberal-konservatives Kleinbürgertum auszeichnete. Das bereits geographisch von Westfalen abgetrennte Siegen-Wittgenstein differenzierte sich in einen wirtschaftlich entwickelten, dem moselfränkischen zugeneigten Siegerländer und einen rückständigeren, dem hessischen zugewandten Wittgensteiner Teil; beide reformiert-pietistisch geprägt, blieben sie einem christlich-konservativen Wertehorizont verhaftet.
E.VII. Landschaftliche Grundprägungen – Preußenzeit
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Das Ruhrgebiet hob sich aus den Besonderheiten des Wirtschaftslebens, der Alltagskultur und der Bevölkerungszusammensetzung von seinem rheinisch-westfälischen Umland ab. Montanindustrie und Zuwanderung überformten die überlieferten ländlichkleinstädtischen Lebenswelten, ohne deren traditionalistische sämtlich durch moderne Kulturelemente zu ersetzen. Der alte Grenzraum blieb in der Binnensicht zerklüftet und in soziale, landsmannschaftliche und religiöse Milieus gespalten; politisch äußerte sich die Heterogenität in einer konservativ unterlegten Dreiteilung in politischen Katholizismus, Nationalliberalismus und Sozialdemokratie. In Lippe schufen staatliche Unabhängigkeit, obrigkeitliche Institutionen und Landeskirche einen homogenen, alltagsprägenden Erfahrungshintergrund, der sich vom restlichen historischen NRW unterschied. Der Landesteil blieb bis zum Zweiten Weltkrieg weitgehend agrarisch bestimmt und mit seiner geographisch unterstützten verspäteten Entwicklung tradierten Verhältnissen verhaftet, an die zunächst der Linksliberalismus, sodann eine konservativere Sozialdemokratie anknüpften. Schlussendlich muss gefragt werden, inwiefern die zu Anbeginn als Elemente nordrheinwestfälischer politischer Kultur thesenhaft hervorgehobenen Punkte – Traditionalismus, Betonung des Sozialen, organisierte Interessenvertretung mitsamt kapitalismuskritischer Bejahung des modernen Industriesystems und Selbstverwaltungserbe – über beschriebene Strukturgrenzen hinweg übergreifende Grundcharakteristika und aus der Genese des historischen Nordrhein-Westfalens abzuleiten sind. Wie betont, bestanden über sämtliche Scheidelinien durchaus materielle Gemeinsamkeiten, die dem Gesamtraum ähnliche Gesichtszüge verliehen; eine kaum zu überschätzende Rolle spielten hierbei die christlichen Kirchen und ihre aus dem Zusammenspiel von Industrialisierung, proletarischer Verelendung und religiöser Fürsorgetradition zu extrahierende Betonung sozialpolitischer Verantwortung. Katholische Caritas, lutherischcalvinistische Diakonie oder pietistischer Aktivitätsimpuls legten sich wie ein Schleier über den Gesamtraum und machten ihn zu einer Hochburg christlicher Gesellschaftspflege; gleichzeitig beförderte die sowohl institutionell wie auch alltagsprägend vermittelte Bedeutung der Kirchen ein Festhalten an traditionalistischen Zügen in Denken und Handeln. Über die konfessionelle Organisationswelt behielten hergebrachte Lebensentwürfe sowohl in ländlich-agrarischen wie in Industrieregionen eine Lebensgestaltungsrelevanz, die kirchlich gepredigte, konservativ-quietistische Obrigkeitsorientierung, harmonistische Gesellschaftskonzeptionen sowie überlieferte Weltsichten konservierten und implizit die staatliche Ordnungsmacht stärkten. Auch milieuhafte Zusammenschlüsse, organisierte Interessenvertretung und politische Bedürfnisartikulation liefen in hohem Maße über die Kirchen und ersetzten die öffentliche Selbstverantwortung durch ein verbandsgestütztes Stellvertreterprinzip. Arbeitervereine und christliche Gewerkschaften sprachen sich für Eigentum und wirtschaftliche Betätigung aus, betonten aber stets auch deren Sozialbindung; sie traten für die Rechte der Arbeiter ein, um diese im Konsens mit den Unternehmern durchsetzen und legitimierten insofern ein modernes, eingehegtes Industriesystem. Außerordentlich starke Selbstverwaltungstraditionen sind hieran anschließend für den Gesamtraum nicht auszumachen. Die rheinisch-westfälischen Provinzialstände eröffneten zwar die Möglichkeit gesellschaftlicher Mitsprache, waren als Institution allerdings nicht auf das historische NRW begrenzt; gesellschaftliche Partizipation bewegte sich innerhalb staatlich
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E. Das historische Nordrhein-Westfalen – Preußenzeit
gesetzter Bahnen, während Ruhrgebiet und Lippe selbst diese Foren entbehrten. Im Kirchenbereich blieb die katholische Amtskirche hierarchisch auf Bischöfe und Papst ausgerichtet, während einzig auf protestantischer Seite das rheinisch-westfälische Alleinstellungsmerkmal des presbyterial-synodalen Kirchenaufbaus auch einfachen Gemeindemitgliedern die Einübung obrigkeitsferner Selbstverantwortung in einem Teilbereich der Gesellschaft ermöglichte. Die das Freizeitverhalten zunehmend strukturierenden Vereine erlaubten – wenn nicht staatlich oder kirchlich lanciert – die staatsferne Ordnung des nahen Lebensbereichs, dienten jedoch in erster Linie politikferner Erlebnisorientierung, wie auch das öffentliche Verbandswesen keinerlei herausragende Anhaltspunkte für auf das historische NRW begrenzte freiheitlich-selbstbestimmte Traditionselemente lieferte.
F. Nordrhein-Westfalen – Landesgründung Die britische Besatzungsherrschaft wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die dritte landschaftsprägende Tiefenschicht, die ebenfalls einen Teil zur schwierigen Landesintegration beitrug. Aus ihr ging am 23. August 1946 das Land Nordrhein-Westfalen hervor, das formell Schöpfung ausländischer Mächte und mit geringer intrinsischer Legitimität ausgestattet war, obgleich der Vereinigungsprozess keiner absoluten Willkür, sondern durchaus seiner eigenen Logik folgte.
F.I. Äußere Landesgründung Bereits mit der Aufteilung des besiegten Deutschen Reiches in vier Besatzungszonen war eine wichtige Vorentscheidung für die künftigen Umrisse NRWs gefallen: Seit dem 20. Juli 1945 standen der Freistaat Lippe und die Provinz Westfalen sowie die drei nördlichen rheinischen Regierungsbezirke Aachen, Düsseldorf und Köln unter der Kontrolle des britischen Militärs, das bis zu seiner Ablösung durch zivile Regional Commissioners – William Asbury im Rheinland, Henry Vaughan-Berry in Westfalen und Lippe; Asbury wurde im Juni 1946 alleiniger Landesbeauftragte für Rheinland, Westfalen und Lippe – am 1. Mai 1946 die oberste Exekutivgewalt besaß. Innerhalb dieses Gebiets gewannen alte Verwaltungszuschnitte und -einrichtungen schnell wieder an Bedeutung, da hier reanimierbare Strukturen vorhanden waren, um den Folgelasten des Krieges unter der Leitidee einer Demokratisierung von unten zu begegnen.840 Obwohl die maßgebliche Verantwortung für die Zonenentwicklung bei britischen Stellen lag, setzten sich auch Deutsche mit der Zukunft der Provinzen auseinander. Vor allem aus dem Rheinland gingen Initiativen aus, die den Zusammenschluss mit Westfalen suchten; die Lebensmittelversorgung der gewerbestarken – seit der Zwischenkriegszeit Nahrungsgüter importierenden –841 Region war nach dem Verlust ihres ländlicheren Südteils gefährdet und ihr drohte aufgrund französischer Sicherheitsbedürfnisse die Ausgliederung aus dem Deutschen Reich, so dass die Ergänzung um die agrarische Westfalenprovinz als Möglichkeit erschien, beiden Problemlagen zu begegnen.842 Rheinische Verantwortungsträger rechtfertigten die Bemühungen mit alten ökonomischen Verflechtungen843 und 840
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Die von der Control Commission for Germany/British Element am 1. Februar 1946 herausgegebene Direktive On Administrative, Local and regional Government and The Public Services sah die Lokalisierung der Verwaltung als wichtigstes Ziel, um demokratische Selbstverantwortung zu fördern und autoritäres Denken abzubauen. Vgl. Hüttenberger, Peter: Nordrhein-Westfalen und die Entstehung seiner parlamentarischen Demokratie, Siegburg 1973, S. 44. Vgl. auch Alemann/Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, S. 26 Vgl. Nonn, Geschichte Nordrhein-Westfalens, S. 74. Vgl. Lademacher, Die nördlichen Rheinlande, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 792. So der Wirtschaftshistoriker und Leiter der nordrheinischen Wirtschaftsabteilung Bruno Kuske Er betonte bereits 1931, „Westfalen und Rheinland bilden über diese wesentlichen Unterschiede hinweg, dennoch ihren großen gemeinsamen Industriebezirk von Aachen bis Hamm und darüber hinaus von der Lippe und der Emscher bis zur Sieg und Dill. Dieser große Körper…ist vor allem entscheidend für das, was in seinem Vorgelände, in der östlichen und nördlichen Provinz Westfalen, am Nieder- und Mittelrhein geschieht…Er zog sie alle mit gewaltiger Kraft an sich zu einer ganz unentbehrlichen Lebensgemeinschaft“. Vgl. ders.: Der Wirtschaftsraum, in: Aubin et. al., Der Raum Westfalen 1, S. 73-12, hier: S. 123. 1949 fügte Kuske hinzu, „Rheinland und Westfalen wurden eine unabsehbare mannigfaltige Lebensgemeinschaft, die aufgrund einer sinnvollen Arbeitsteilung von der Westgrenze bis zur Weser und bis in die nordwestdeutschen
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F. Nordrhein-Westfalen – Landesgründung
sahen ein aus der nördlichen Rheinprovinz und Westfalen zusammengesetztes Land als besonders geeignet für den demokratisch-föderalen Wiederaufbau Deutschlands.844 Wo der ehemalige Zentrumspolitiker Konrad Adenauer die „engere Zusammenfassung von Rheinland und Westfalen im Verband des Reiches“845 befürwortete, wandte sich der erste ernannte nordrheinische Oberpräsident Robert Lehr gegen die britische Anweisung, die Provinz in ein eigenständiges Land umzuwandeln; er verwies auf die Notwendigkeit einer vernünftigen Territorialordnung zur Gewährleistung der wirtschaftlichen Lebensfähigkeit und forderte, das rheinisch-westfälische Industriegebiet durch die Erweiterung um das agrarische Westfalen lebensfähig zu machen.846 Übergreifendes Interesse westfälischer Politiker war hingegen die Wahrung der territorialen Integrität der Provinz; verfolgte die eine Seite dieses Ziel mittels einer Eigenstaatskonzeption, so die andere gerade mithilfe der Vereinigung mit der Nordrheinprovinz. Maßgeblicher Vertreter der ersten Position war Rudolf Amelunxen, der nach seiner Ernennung zum westfälischen Oberpräsidenten den Aufbau einer Provinzialregierung vorantrieb und versuchte, den alten Provinzialverband in diese einzugliedern. Ein historisch beschworenes Landschaftsbewusstsein, Größe und Einwohnerzahlen waren ihm Gründe für die staatliche Selbständigkeit einer im Sinne des kulturellen Westfalenbegriffs erweiterten Provinz innerhalb des künftigen Deutschlands;847 ihm zur Seite stand der westfälische Generalreferent für Inneres, Walter Menzel, der sich für die Errichtung von fünf Ländern innerhalb der britischen Zone – darunter ein Land Nordrhein und ein Land Westfalen – aussprach und die Zuständigkeiten der alten Provinzialverwaltung fortan in Händen der Provinzregierung vermutete.848 Auf der anderen Seite sahen Personen wie der Oberbürgermeister Münsters, Karl Zuhorn, oder der Landeshauptmann des Provinzialverbandes, Bernhard Salzmann, die Erhaltung Westfalens und seiner provinziellen Selbstverwaltung nur durch den Zusammenschluss mit der Nordrheinprovinz zu verwirklichen. Zuhorns am 14. Mai 1946 veröffentlichter Entwurf eines Rahmengesetzes über die Bildung des Landes ‚RheinlandWestfalen’ innerhalb Deutschlands sprach sich für die Zusammenfügung der mit starken Selbstverwaltungskompetenzen ausgestatteten Provinzen aus, spiegelte jedoch zugleich die
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Niederungen in sich organisch verwachsen war“. Vgl. Lademacher, Horst: Politik und Wissenschaft. Über Nachteil und Notwendigkeit einer umstrittenen Beziehung,, in: Dietz, Burkhard/Gabel, Helmut/Tiedau, Ulrich (Hrsg.): Griff nach dem Westen. Die „Westforschung“ der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919-1960), Teil 1, Münster 2003, S. 1-26, hier: S. 11. Der Kölner Oberbürgermeister Hermann Pünder sprach sich in einer Denkschrift vom 25. Mai 1946 für eine Zusammenfügung städtischer und ländlicher Regionen aus, da Einseitigkeiten potentielle Unruheherde darstellten. Vgl. hierzu Zuhorn, Karl: Zur Vorgeschichte der Bildung des Landes NordrheinWestfalen. Erörterungen und Pläne in Westfalen über den Zusammenschluß von Westfalen und Nordrhein im ersten Halbjahr 1946, in: Westfälische Forschungen, Bd. 8 (1955), S, 102-133, hier: S. 115. So auf einer Veranstaltung der rheinischen CDU im Mai 1946. Vgl. Först, Walter: Die Entstehung des Landes Nordrhein-Westfalen, in: Landeszentrale Nordrhein-Westfalen, Politische Landeskunde, S. 35-55, hier: S. 41. So in einem Brief an William Asbury vom 6. Mai 1946 Vgl. Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 205f. Vgl. die Ansprache von Oberpräsident Amelunxen auf einer Pressekonferenz der Provinzialregierung Westfalen am 24. Juni 1946, einsehbar bei Hölscher, Wolfgang (Bearb.): Nordrhein-Westfalen. Deutsche Quellen zur Entstehungsgeschichte des Landes 1945/46, Vierte Reihe: Deutschland seit 1945, Bd. 5. Düsseldorf 1988, S. 436-439. Vgl. Der Generalreferent Innere und Allgemeine Verwaltung, Menzel, an die übrigen Generalreferenten der Provinzialregierung Westfalen, 14. Mai 1946, einsehbar ebd., S. 338-340.
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größeren Widerstände in der westfälischen Bevölkerung gegen einen Zusammenschluss:849 Während Landwirte einen Versorgungszwang des Rhein-Ruhr-Raums befürchteten, witterte das Bürgertum ein politisches und kulturelles Gefälle gegenüber dem Rheinland.850 Auch außerhalb der Provinzen wurde die Zukunft Rheinland-Westfalens diskutiert: Während der Ministerpräsident Groß-Hessens, Karl Geiler, für die Zusammenlegung von Rheinland und Westfalen plädierte,851 widersprach ihm der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher und warnte vor einer ähnlichen Übermacht eines einzelnen Landes im künftigen Deutschland, wie sie das Land Preußen im Deutschen Reich besessen hatte.852 Vorentscheidend wurden schließlich die am 4. Juli 1946 an den Hamburger Zonenbeirat herangetragene britische Aufforderung, bis zum 30. September über die staatliche Neuordnung des Besatzungsgebiets zu beraten, und deren inhaltliche Vorgabe, höchstens fünf Länder zu bilden und „die Frage der Stellung von Nordrhein-Westfalen zunächst zurückzustellen.“853 Ökonomische Überlegungen standen maßgeblich hinter der Entscheidung, Nordrhein und Westfalen zu einem Land zusammenzuschließen. Vor allem die bereits im Alten Reich bestehenden, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verdichteten wirtschaftlichen Verflechtungen wurden auf alliierter wie auf deutscher Seite bemüht, um die Landesgründung zu rechtfertigen. Eine zentrale Rolle in sämtlichen Nachkriegskonzeptionen spielte hierbei die Frage der Ausgliederung, Internationalisierung oder Sonderverwaltung des Ruhrgebiets: Sollte in (west-)alliierter Perspektive eine erneute Zusammenballung wirtschaftlicher Macht vermieden und den Deutschen die Möglichkeit der Kriegsführung genommen werden, wollte man das hiesige Industriepotential aber auch dem Wiederaufbau Deutsch849
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Hier heißt es „Es entspräche dem Willen der Bevölkerung in erster Linie, wenn das Rheinland und Westfalen unter Beibehaltung ihrer gemeinsamen Grenze je ein eigenes Land würden. Nun wird aber in der internationalen Erörterung eine Kontrolle des Industriegebietes an Rhein und Ruhr oder seiner industriellen Anlagen gefordert, und es ist anzunehmen, daß diese Kontrolle einheitlich gestaltet werden wird. Damit wird auch der Zusammenschluss des Rheinlandes mit Westfalen notwendig, denn keine der beiden Provinzen kann ohne das Ruhrgebiet leben.“ Das Land sollte für Zuhorn in die Provinzen Rheinland und Westfalen aufgeteilt werden, um bevölkerungsnah und mit Rücksicht auf historisch-regionale Besonderheiten die Integration des Landes zu befördern und industrielle und agrarische Gebiete in einen harmonischen Ausgleich zu bringen. Einem gemeinsamen Landtag sollten zwei Provinziallandtage gegenüberstehen. Westfalen sollte für Zuhorn um Lippe und den Regierungsbezirk Osnabrück ergänzt werden. Vgl. den angedruckten Text des Rahmengesetzes in: Hölscher, Quellen zur Entstehungsgeschichte, S. 326-329. Vgl. ebenfalls Zuhorn, Karl: Zur Vorgeschichte der Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen, in: Westfälische Forschungen 8 (1955), S. 122-127. Vgl. Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 208. So in einem Artikel der Tageszeitung Die Welt vom 12. Juni 1946.Er betonte zwar die stammesmäßige Differenz, aber auch das Industriegebiet als Klammer, die nichtadministrativ auseinandergerissen werden sollte; auch aus den Gegensätzen zu Preußen habe eine Gemeinschaftsentwicklung stattgefunden. Vgl. Köhler, Wolfgang: Das Land aus dem Schmelztiegel. Die Entstehungsgeschichte Nordrhein-Westfalens, Düsseldorf 1961, S. 109. Schumacher antwortete am 25. Juni in der Welt. Vgl. Lademacher, Die nördlichen Rheinlande, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 793 sowie Köhler, Das Land aus dem Schmelztiegel, S. 109f. Das zentralstaatliche Konzept Schumachers stand der Bildung starker Länder gegenüber. Gesehen werden muss aber auch, dass die SPD im rheinisch-westfälischen Raum schon vor dem Zweiten Weltkrieg eher geringere Erfolge einfuhr und die konfessionelle Struktur in einem künftigen Land Erfolgen entgegenstehen konnte. Vgl. Köhler, Das Land aus dem Schmelztiegel, S. 112. Das Dokument zeigte die britischen Zukunftsvorstellungen, da der Begriff Nordrhein-Westfalen erstmals auftauchte; er legt den Beschluss über die Landesgründung nahe.
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land und Westeuropas dienlich machen. Nach anfänglichem Sozialisierungskurs wuchs – unter zunehmendem amerikanischen Einfluss –854 auf britischer Seite die Einsicht, eine Abtrennung des Industriebezirks oder die Sozialisierung seiner Betriebe werde die wirtschaftlichen und sozialen Probleme verschärfen und die eigenen Versorgungsaufwendungen erhöhen; einzig wirtschaftliche Stabilität helfe, eine Radikalisierung wie in Weimarer Zeit oder eine Ausdehnung des sowjetischen Einflusses zu verhindern. Die provinzübergreifende Erstreckung des Ruhrgebiets erschwerte die Nutzung seiner Wirtschaftskraft, so dass eine territoriale Umgestaltung Grundbedingung einer ökonomischen, sozialen und politischen Stabilisierung war. Die Vereinigung der Nordrhein- mit der Westfalenprovinz erschien aus dieser Perspektive als Mittel, die brachliegenden Ressourcen des Ruhrgebiets anzufachen und hierüber die sozioökonomischen Problemlagen zu meistern. Auf deutscher Seite versuchte man, die Herauslösung des Ruhrgebiets aus dem rheinischwestfälischen Raum zu verhindern, da man sich um die Lebensfähigkeit der um ihrer wirtschaftlichen Kerngebiete beraubten Provinzen sorgte. Gegenüber der um Ruhe und Ordnung bemühten britischen Militärregierung half der Hinweis auf potentielle Unruhen innerhalb der unbeschäftigten Bevölkerung, um den Zusammenschluss der komplementären Teile voranzutreiben. Während für rheinische Provinzvertreter die gewachsenen Lieferund Absatzmärkte im Fokus standen, argumentierte man auf westfälischer Seite, die Abtrennung des Ruhrgebiets werde die Provinz zu einem Armenhaus und Zuschussgebiet machen.855 Für die britischen Verantwortlichen wurde die Zusammenfügung der Teilprovinzen spätestens im Frühjahr 1946 aktuell. Der Entschluss zur Landesgründung war abgeleitetes Produkt des beginnenden Kalten Krieges, um sowjetische Forderungen nach einer Beteiligung am Ruhrgebiet durch seine rheinisch-westfälische Ummantelung zurückzuweisen sowie der schwierigen Versorgungslage durch eine einheitliche Verwaltung zu begegnen, auch um eigene Besatzungskosten zu senken.856 Ziel war, unter Berücksichtigung hergebrachter Grenzen und Traditionen sowie der Ergänzung städtisch-industrieller durch ländlich-agrarische Räume ein lebensfähiges, wirtschaftlich zukunftsfähiges und stabiles Land zu schaffen, das nicht allein industriell getragen und von konjunkturellen Schwankungen sowie politischen Radikalisierungen bedroht, sondern durch ein landwirtschaftliches Versorgungsgebiet ergänzt und ausgeglichen werden sollte. Die Anlehnung an alte Verwaltungseinheiten half, das Land in der Bevölkerung zu verankern und konnte „buchstäblich über Nacht errichtet werden.“857 Der schließlich am 6. Juni 1946 im Foreign Office gefass854
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Den USA, die die wachsenden Defizite der Briten mitfinanzierten, war das Aufbrechen der Monopole oberste Maxime, die Unternehmen sollten im Interesse des privaten Wettbewerbs entflochten werden. Anstatt einer Enteignung sprachen sie sich für die Dezentralisierung der Wirtschaft aus, um deren Potentiale nicht übermäßig zu schwächen. Vgl. hierzu auch Gillingham, John: Die Europäisierung des Ruhrgebiets: Von Hitler bis zum Schuman-Plan, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 3, S. 179-189, hier: S. 180, 186. Den Lebensmittellieferungen in die eine standen Kohlelieferungen auf der anderen Seite gegenüber. Vgl. hierzu Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 208 sowie Looz-Corswarem, Clemens von: Der westfälische Wirtschaftsraum und seine Verfechtungen mit den Nachbarräumen in den Forschungen Bruno Kuskes, in: Petri /Schöller/Hartlieb von Wallthor, Der Raum Westfalen VI,1, S. 423-448, hier: S. 426. Vgl. Nonn, Geschichte Nordrhein-Westfalens, S. 71. So das Memorandum Außenministers Ernest Bevins vom 11. Juni 1946 an das Overseas Reconstruction Comittee. Hier hieß es: „Ein Land, das die Provinzen Westfalen und Nordrhein umfasst, kann, da es auf den bestehenden Grenzen und Verwaltungseinheiten aufbaut, buchstäblich über Nacht errichtet werden. Dagegen wird es erheblich länger
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te Vereinigungsbeschluss erfolgte unter der Maßgabe, ein – internationaler Kontrolle unterliegendes – Land mitsamt der Schlüsselindustrien des Ruhrgebiets, der Kohlereviere um Köln und Aachen zu schaffen und es mit einer eigenen Regierung auszustatten.858 Am 15. Juli wurden die deutschen Parteien über diese Pläne informiert, am 17. Juli die Bildung des Landes North-Rhine and Westphalia verkündet und Rudolf Amelunxen am 24. Juli zum ersten Ministerpräsidenten ernannt. Die Verordnung Nr. 46 der britischen Zivilregierung vom 23. August 1946 löste die alten preußischen Provinzen auf und fügte die selbständigen Länder Nordrhein und Westfalen zu einem Land mit der Hauptstadt Düsseldorf zusammen.859 Ihre rechtliche Bestätigung erhielt die Operation Marriage genannte Vereinigung mit dem Gesetz Nr. 46 des Alliierten Kontrollrates vom 25. Februar 1947, das die Existenz Preußens formell beendete. Seine endgültige territoriale Gestalt erhielt Nordrhein-Westfalen mit der britischen Verordnung Nr. 77 vom 21. Januar 1947, die es um Lippe-Detmold ergänzte. Der frühere Freistaat war in den Neuordnungsdebatten – in den es vor allem um die Frage der Angliederung des allein kaum lebensfähigen Landes an einen seiner Nachbarn als um seinen eigenständigen Erhalt ging – mehr Getriebener denn Gestalter und weckte Anschlussinteressen im benachbarten Land Hannover wie in Westfalen; bereits die an den Zonenbeirat ergangene Aufforderung, die Gebietsneugliederung mit der Maßgabe zu diskutieren, höchstens fünf Länder zu bilden, markierte eine richtungsweisende Vorentscheidung gegen den Fortbestand Lippes. Ernährungsfragen, die wirtschaftlichen und konfessionellen Strukturen sowie naturräumliche und administrative Bindungen bestimmten die innerlippische Zukunftsdebatte, gegen die am 17. Juli 1946 die britische Entscheidung erging, den Freistaat an Hannover anzuschließen.860 Als Reaktion äußerte der lippische Landtag sein Bedauern über dieses
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dauern, ein kleines, künstliches Land zu schaffen“. Vgl. Steininger, Ruhrfrage, S. 186f. Vgl. zur Argumentationen auch die Besprechung im Foreign Office vom 6. Juni 1946 ebd., S. 858-871. Vgl. allg. Steininger, Rolf: Großbritannien und die Gründung Nordrhein-Westfalens, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 3, S. 214-231 und ausführlich ders.: Die Ruhrfrage 1945/46 und die Entstehung des Landes Nordrhein-Westfalen. Britische, französische und amerikanische Akten, Düsseldorf 1988. Düsseldorf wurde mehr zufällige denn zwangsläufige Hauptstadt. Repräsentative Gebäude, die günstige Verkehrslage sowie die gegenüber Köln oder Münster vergleichsweise geringe Zerstörung, aber auch die Tradition als Sitz des rheinischen Provinziallandtags sprachen für die Entscheidung. Der britische Landesbeauftragte William Asbury hatte seit dem 1.Mai 1946 seinen Sitz im Düsseldorfer Stahlhof, so dass die Nähe der britischen Aufseher und Entscheider wohl entscheidendes Kriterium für die Erhebung Düsseldorfs zur Landeshauptstadt war. Vgl. hierzu auch: Landeshauptstadt Düsseldorf: Geburt und Heranwachsen einer Landeshauptstadt. Hochzeit von Rheinland und Westfalen war der Auslöser, einsehbar unter http://www.duesseldorf.de/thema2/spezial/lh_historie/index.shtml (30.7.2010). Vorgebracht wurde, dass die Landeshauptstadt Hannover näher liege als Düsseldorf, der höhere Nahrungsspielraum Niedersachsens die Versorgung sicherstellte und die dortigen niedrigeren Löhne dem heimischen Gewerbe helfen könnten. Wichtig war für die reformierte Landeskirche die konfessionelle Nähe zum protestantischen Niedersachsen. Lippische Bauern fürchteten eine Versorgungsverantwortung für die rheinisch-westfälischen Industriegebiete. Die lippische SPD hingegen sprach sich als Teil der ostwestfälischen ebenso wie die katholische Kirch für den Beitritt zu Westfalen aus; auch Arbeiterverbände rechneten sich bessere Perspektiven durch Anschluss an die nordrhein-westfälischen Industriegebiete aus höhere Löhne aus. Vgl. Niebuhr, Hermann/Scholz, Klaus: Der Anschluss Lippes an Nordrhein-Westfalen. Behauptung und Ende staatlicher Selbständigkeit 1802/3-1947, Detmold 1984, S. 33f. sowie Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 312.
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undemokratische Übergehen des Parlaments, behauptete ein aus wirtschaftlichen, organisatorischen und kulturellen Gründen gespeistes Zugehörigkeitsbewusstsein zum westfälischen Minden-Ravensberg und erteilte dem ernannten Landespräsidenten Heinrich Drake den Auftrag, Anschlussverhandlungen mit Hannover und Nordrhein-Westfalen aufzunehmen, um eine legitime Entscheidung herbeizuführen.861 Da die Briten die endgültige Entscheidung – auch vor dem Hintergrund des Vorwurfs undemokratischen Vorgehens – tatsächlich verschoben, wurde Drake – der bereits seit Weimarer Zeit für den Anschluss Lippes an Westfalen eintrat –862 federführende Figur der weiteren Entwicklung; er sondierte bei Verbänden, Parteien und Kommunen und nahm Kontakte zu den Ministerpräsidenten Hinrich Kopf und Rudolf Amelunxen auf, um die lippische Position zu verhandeln. Im Gegensatz zu Kopf signalisierte die nordrhein-westfälische Landesregierung ihr Entgegenkommen gegenüber Drakes Hauptanliegen, der Verfügungsgewalt über das lippische Domanialvermögen und einem weitreichenden Erhalt lippischer Eigenständigkeit, und bestätigte sie in den Punktationen vom 17. Januar 1947, ohne die Landtage mit diesen Fragen zu befassen oder einen formellen Staatsvertrag zu vereinbaren.863 Die Briten folgten diesem Ergebnis und schlossen Lippe mit der Verordnung Nr. 77 – vorbehaltlich einer innerhalb von fünf Jahren abzuhaltenden Volksabstimmung – an Nordrhein-Westfalen an.864 Bereits am 29. März 1947 beschloss die Landesregierung – hierin einem Verhandlungserfolg Drakes entsprechend – die Erweiterung des Regierungsbezirks Minden und die Verlegung des Regierungspräsidiums in die ehemalige lippische Residenzstadt Detmold. Das Gesetz über die Vereinigung des Landes Lippe mit dem Land Nordrhein-Westfalen vom 5. November 1948 vollendete die rechtliche Eingliederung und begründete mit dem Landesverband Lippe einen Verwalter und Förderer des kulturellen lippischen Erbes, doch blieb der Anschluss keineswegs unwidersprochen; vor allem der Zwiespalt zwischen der vorläufigen Beibehaltung der lippischen Gemeinschaftsschulen und den Bestimmungen des Artikels 12 der Landesverfassung, der die Einführung von Bekenntnisschulen erlaubte, war Anlass für Proteste und wesentlicher Grund für die lippische Ablehnung der Konstitution bei der Volksabstimmung 1950.865 Da die Landesregierung das vorgesehene Referendum über den endgültigen Beitritt zudem als nur informatorisch deklarierte, forderten lippische Volksvertreter nach einem förmlichen Versprechen über die Einhaltung der Zusagen aus den Punktationen; diesem kam die Landesregierung am 22. Januar 1952 – einen Tag nach
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Vgl. Niebuhr/Scholz, Der Anschluss Lippes an Nordrhein-Westfalen, S. 35. Vgl. Kittel, Heimatchronik des Kreises Lippe, S. 296ff. Die Punktationen versprachen den Erhalt und die eigenständige Verwaltung des Landesvermögens, die Verlegung des Mindener Regierungssitzes nach Detmold, die Erhaltung der Gemeinschaftsschule sowie eine allgemeine Landesförderung. Vgl. die Richtlinien für die Aufnahme des Landes Lippe in das Gebiet des Landes Nordrhein-Westfalen, abrufbar unter http://www.lwl.org/westfaelischegeschichte/portal/Internet/finde/langDatensatz.php?urlID=1&url_tabelle=tab_ quelle (21.10.2010). Vgl. die Verordnung Nr. 77 vom 21.1.1947, abrufbar unter http://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/que/normal/que1168.pdf (21.10.2010). Bei der Volksabstimmung stimmten am 18. Juni 1950 65% der abstimmungsberechtigten Lipper gegen die Annahme der Verfassung. Die als vorläufig bezeichneten Punktationen und der Artikel 89 der Landesverfassung sagten zwar die Beibehaltung der lippischen Gemeinschaftsschule zu, verwiesen allerdings zugleich auf die Vorläufigkeit der Regelungen bis zur endgültigen staatsrechtlichen Eingliederung Lippes.
F.II. Innere Landesgründung
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Ablauf der fünfjährigen Abstimmungsfrist – nach und bekräftigte sämtliche Zusagen bis auf die erst vor dem Bundesverfassungsgericht gelöste Schulfrage.866 Der hier in aller Kürze nachvollzogene Zusammenschluss der Landesteile war trotz aller Hindernisse kein willkürlicher Besatzungsakt: Er gründete durchaus auch in deutschen Überlegungen und vollzog Entwicklungen der Nachkriegszeit nach; kommunale Gremien, gesellschaftliche Vereinigungen, Industrieverbände oder Parteien organisierten sich – eher durch funktionalistische Gewöhnung denn innere Überzeugung getrieben – nach dem Krieg erneut rheinisch-westfälisch, anstatt den Anschluss an Hessen oder Niedersachsen zu suchen.867 Nordrhein-Westfalen war eine Neuschöpfung aus ungleichen Teilen und divergierenden Traditionen, „aber es wurde doch in einen historischen Raum hineingestellt“,868 der die Vereinigung plausibel machte; NRW besaß keine eigenständigen staatlichen Wurzeln, doch waren diese durchaus aus wirtschaftlichen und kulturellen Gemeinschaftsbeständen abzuleiten. Selbst die Angliederung Lippes folgte mehr einer faktisch bereits längeren, 1947 allenfalls formell vollzogenen Annäherung des Freistaats an das rheinischwestfälische Umland, anstatt völlig mit der geschichtlichen Entwicklung zu brechen.
F.II. Innere Landesgründung F.II.1.Wirtschaft Für das maßgeblich aufgrund wirtschaftlicher Erwägungen gegründete, fundamental durch die Industrialisierung des 19. und 20. Jahrhunderts überformte Nordrhein-Westfalen spielten Fragen der künftigen Wirtschaftsverfassung eine maßgebliche Rolle. Aufgrund seines historischen Erbes konnte das Land Legitimität in erster Linie aus der Bewältigung der sozioökonomischen Nachkriegsprobleme ziehen und war deshalb insbesondere auf die Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit seiner Gewerbesektoren angewiesen. F.II.1.1. Sozialisierungsdebatte und betriebliche Mitbestimmung Für die Unternehmenskonglomerate an Rhein und Ruhr war die – an dieser Stelle kaum in angemessener Breite wiederzugebende, für den weiteren Verlauf in ihren Einzelheiten aber 866
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Das Bundesverfassungsgericht hielt die Forderung nach einer Abstimmung über die Eingliederung in einem Urteil von 28. Juli 1955 aus dem schwachen Charakter der Punktationen für unbegründet. Es sah in ihnen keinen bindenden Staatsvertrag, da die parlamentarische Zustimmung fehlte, vielmehr ein politisch und moralisch bindendes Versprechen auf Rücksichtnahme. Vgl. Staercke, Max (Hrsg.), Der lippische Verfassungsstreit im Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Detmold 1956, S. 31, 44, 73ff. Fortan galt auch für Lippe das nordrhein-westfälische Schulgesetz. Der Vereinigungsgedanke gedieh, wo auf unterer staatlicher Ebene die provinzübergreifende Zusammenarbeit pragmatisch funktionierte, um die Versorgungsprobleme zu lösen. Lehr und Amelunxen konferierten regelmäßig seit Juli 1945, rheinisch-westfälische Oberbürgermeister begründeten am 26. Juni 1945 den Städtetag für die Britische Zone, und auch die wiedererstehenden Wirtschaftsverbände koalierten über die Verwaltungsgrenzen hinweg. Vgl. Köhler, Das Land aus dem Schmelztiegel, S. 132. Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 8.
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auch unrelevanten – Frage nach Erhalt, Entflechtung oder Sozialisierung von besonderer Bedeutung. Ihre Vergesellschaftung war nach dem Krieg gesamtgesellschaftlich mehrheitsfähig,869 ohne dass sämtliche im Landtag vertretenen Parteien dieselben Positionen verfolgten: Auf der einen Seite überwog der Wille, die Wirtschaftsmacht der Ruhrunternehmer durch die Überführung der Montanindustrien in Gesellschaftseigentum zu brechen; auf der anderen äußerte sich das Interesse an der Wiederherstellung bürgerlicher Eigentumsrechte.870 Dem unter dem Eindruck zunehmender sozialer Probleme und Streikwellen am 25. Januar 1947 gefassten Landtagsbeschluss zur Enteignung des Kohlebergbaus versagten die – einer Enteignung zunächst selbst nicht unabgeneigten – Besatzer allerdings unter maßgeblichem amerikanischen Einfluss die Zustimmung mit dem Argument, die von ihrer Seite betriebene treuhänderische Überführung der Montanindustrien in Betriebsführungsgesellschaften bedeute nicht die grundsätzliche In Fragestellung der Besitzrechte.871 Kompromiss zwischen den amerikanisch-britischen Interessen einer Entflechtung der Montanindustrie, den Unternehmeransprüchen sowie den politischen und gesellschaftlichen Sozialisierungsforderungen wurde ein durch den Generaldirektor der Oberhausener Gutehoffnungshütte, Hermann Reusch, im Namen mehrerer Konzerne vorgebrachtes Angebot, in den Montanbetrieben die paritätische Mitbestimmung einzuführen;872 die Konzernspitzen waren konzessionsbereit, um drohende Enteignungen zu vermeiden und weitergehende wirtschaftsdemokratische Konzepte mithilfe innerbetrieblicher Partizipationselemente abzuwenden. Das Modell etablierte eine spezifische Form des Korporatismus, war Symbol 869
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Der „Sozialismus der Nachkriegsjahre“ wollte Demokratie nicht nur für die politische, sondern auch für die wirtschaftliche Sphäre. Herrschaftsformen sollten abgebaut und unter sozialen Vorzeichen neu aufgebaut werden. Vgl. Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 409. Eine deutliche Mehrheit, von SPD über KPD bis hin zum Sozialflügel der CDU sprach sich für die Sozialisierung aus, während der Wirtschaftsflügel der CDU, die FDP und das Zentrum ein sozialgebundenes Eigentumsrecht betonten. Vgl. Lademacher, Horst: Die nördlichen Rheinlande, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte, Bd. 2, S. 822. Den USA – die dem von sozioökonomischen Nachkriegsproblemen massiv betroffenen Großbritannien massive Wirtschaftshilfe zukommen ließen – war das Aufbrechen der Monopole oberste Maxime, die Unternehmen sollten im Interesse des privaten Wettbewerbs entflochten werden. Anstatt einer Enteignung sprachen sie sich für die Dezentralisierung der Wirtschaft aus, um deren Potentiale nicht übermäßig zu schwächen. Mit dem Gesetz Nr. 75 zur Neuordnung der westdeutschen Kohle-, Eisen- und Stahlindustrie vom 10. November 1948 wurde eine Treuhändervereinigung gegründet, die die weitere Entflechtung der Betriebe durchführen sollte; die ungünstige Vertretung der Gewerkschaften – in der für die Kohleindustrie zuständigen Vereinigung saß nur ein, in der für Eisen- und Stahl vier Gewerkschaftsvertreter - minderte deren Einfluss. Zugleich legten die Briten die künftige Eigentumsentscheidung in die Hände einer künftigen deutschen (Zentral-) Regierung. Ein weiteres Gesetz vom 20. Juli 1950 verfügte praktisch die Rückgabe der Betriebe an die zu Liquidatoren berufenen Altbesitzer. Vgl. hierzu auch Gillingham, John: Die Europäisierung des Ruhrgebiets: Von Hitler bis zum Schuman-Plan, in: Düwell/Köllmann, RheinlandWestfalen im Industriezeitalter, Bd. 3, ebd., S. 179-189, hier: S. 180, 186. In dem an den Gewerkschafter und Leiter des bizonalen Wirtschaftsamtes, Viktor Agartz, vorgebrachten Angebot hieß es: „Wir schlagen ferner die Überführung dieser neuen Werke in gemischtwirtschaftlichen Besitz – gegebenenfalls unter kapitalmäßiger Beteiligung auch der Gewerkschaften – vor. (…) Schließlich erklären wir unsere aufrichtige Bereitwilligkeit, den Belegschaften und den Gewerkschaften volle Mitwirkungsrechte einzuräumen. Wir... stimmen einer Beteiligung auch der Arbeitnehmerschaft an der Planung und Lenkung sowie an den Aufsichtsorganen für die großen Erwerbsgesellschaften der Eisen- und Stahlindustrie voll und ganz zu.“ Zitiert nach Lehmann, Axel: Der MarshallPlan und das neue Deutschland. Die Folgen amerikanischer Besatzungspolitik in Deutschland, Münster u. a. 2000, S. 465.
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für den Kompromiss von Arbeit und Kapital und entsprach der konsensorientierten rheinisch-westfälischen Landschaftsprägung. Die Montan-Mitbestimmung von 1951 und das Betriebsverfassungsgesetz von 1952 waren weitere Schritt hin zum Ausbau der betrieblichen Mitbestimmung, die in NRW ihren Ursprung hatten. F.II.1.2. Wirtschaftsentwicklung873 In den ersten Jahren seiner Existenz stand die schlechte Versorgungslage der Akzeptanz des neugebildeten Landes entgegen. Zentrale Bedeutung für den wirtschaftlichen Neuaufbau und die soziale Gesundung nicht nur Nordrhein-Westfalens, sondern der gesamten Bundesrepublik hatte die Ruhrkohlenindustrie; sie lieferte als Heizquelle den wichtigsten Energieträger für die Eisen- und Stahlherstellung, war Grundlage für den Auto- und Eisenbahnverkehr und Exportgut, das dem Land Devisen einbrachte. Motor des gesamtdeutschen Wiederaufbaus wurde NRW mit der – auch infolge außenpolitischer Verpflichtungen –874 am 7. Januar 1952 beschlossenen Investitionshilfe der gewerblichen Wirtschaft,875 die hohe Wiederaufbaumittel primär in die hiesigen Grundstoffindustrien lenkte – 69,2% der Gelder flossen nach Nordrhein-Westfalen –876 und für ein exorbitantes Wachstum der hiesigen Wirtschaftssektoren sowie einem im Bundesvergleich überdurchschnittlichem Wohlstand sorgte.877 Vor allem der nordrheinische Landesteil profitierte infolge seiner bereits vor dem Zweiten Weltkrieg vorhandenen breiteren Sektoralstrukturen durchaus auch von der deutschen Teilung: Hiesige Maschinenbau- oder Textilzweige waren mittel- und ostdeutscher Konkurrenz entledigt, infolge der mitteleuropäischen Teilung stieg die Bedeutung des Rheins als Handelsstraße und erlaubte den weiteren Ausbau der ohnehin bestehenden Führungs-
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Vgl. hierzu ausführlicher die Ausführungen zur Landschaftsentwicklung. Der anfängliche Aufbau einer zukunftsgerichteten Konsumgüterindustrie wurde mit dem Beginn des Koreakriegs 1950, der die Nachfrage nach Rohstoffen und Rüstungsprodukten anstieß, verlangsamt. Vgl. Abelshauser, Historische Ursachen der gegenwärtigen Strukturkrise, in: Düwell/Köllmann, RheinlandWestfalen im Industriezeitalter 3, S. 343-361, hier: S. 357 Danach hatte die gewerbliche Wirtschaft zur Deckung des Investitionsbedarfs einen einmaligen Beitrag in Höhe von 1 Milliarde DM aufzubringen, Bemessungsgrundlage war ein Betrag, der für jeden Betrieb aus Gewinn und Umsatz der Jahre 1950 und 1951 errechnet wurde; der Aufbringungssatz betrug 3,5% dieser Bemessungsgrundlage. Das Geld floss in ein Sondervermögen, aus dem bedürftigen Betrieben zinsgünstige Darlehen gewährt wurden. Zitiert nach Wittreck, Fabian: Wirtschaftsverwaltungsrecht. Fall 3: Investitionshilfegesetz, S. 1, einsehbar unter http://www.jura.uni-wuerzburg.de/fileadmin/02160100/Lehrveranstaltungen/ WS_2006_2007/ Wirtschaftsverwaltungsrecht/Faelle/fall_03_ investitionshilfe_ loesung.pdf (17.11.2010). Die Rohstoff- und Rüstungsnachfrage der Amerikaner verwies diese auf das Ruhrgebiet, so dass die alten Industriezweige auch aus internationalen Gründen eine Renaissance erlebten. Die Amerikaner forderten die Indienststellung der deutschen Wirtschaftskraft. Vgl. Abelshauser, Werner: Historische Ursachen der gegenwärtigen Strukturkrise in der nordrhein-westfälischen Industrie, in: Düwell/Köllmann, RheinlandWestfalen im Industriezeitalter 3, S. 355ff. In absoluten Zahlen lag Nordrhein-Westfalen zehn Jahre nach Kriegsende in seinem Pro-KopfEinkommen 50% über dem Wert Bayerns, die Arbeitslosenzahlen waren geringer und das Steueraufkommen lag über dem Bundesschnitt. Vgl. Petzina, Industrieland im Wandel, in: Kohl, Westfälische Geschichte 3, S. 472 sowie Abelshauser, Historische Ursachen der gegenwärtigen Strukturkrise, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 3, S. 348.
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position des Rheinlands.878 Auch Westfalen war mit seinem relativ größeren Anteil an alten Industriezweigen zunächst Nutznießer deutscher und amerikanischer Wiederaufbauprojekte, wie auch das Ruhrgebiet einen rasanten Wiederaufstieg erlebte; das agrarischere Lippe wiederum baute seine industriellen Kerne erst allmählich aus. Die geschichtlich angelegten Strukturgräben wurden somit in das neue Bundesland transferiert und bereits in den ersten Jahren der Landesgründung eher breiter als schmaler.
F.II.2. Gesellschaft Nationalsozialistischer Diktatur und Zweitem Weltkrieg folgten sowohl die materielle Zerstörung von Wohnraum und Infrastruktur insbesondere im Rhein-Ruhr-Gebiet wie auch die Beschädigung immaterieller Strukturen. Bereits nach 1933 veränderten sich hergebrachte soziokulturelle Landschaftspanoramen, da die nationalsozialistische Gleichschaltungspolitik traditionelle Milieus wenn nicht auflöste, dann doch aufbrach; mit der Schwächung dieser Sinnstifter waren subjektiv-kollektive Identitäten in Fragegestellt, ohne sofort Neue zu liefern. Flüchtlinge und Vertriebene aus Mittel- und Ostdeutschland erweiterten diese Umbrüche und brachten nach 1945 ihre Lebenshorizonte in die neue Heimat ein; unterschiedliche kollektive Landschaftsgedächtnisse mussten in der Folge miteinander vermittelt werden und fundierten einen Erfahrungsschatz, der fortan das innere Bild Nordrhein-Westfalens mitbestimmte. F.II.2.1. Zuwanderung und Wandlungsprozesse Nordrhein-Westfalen nahm zunächst verhältnismäßig wenig Flüchtlinge und Vertriebene auf.879 Für die weitgehend zerstörten, durch Wohnraummangel gekennzeichneten RheinRuhr-Städte herrschten Zuzugssperren, so dass vornehmlich die ländlich-agrarischen Gebiete Westfalen-Lippes aufgrund der besseren Versorgungslage und vorhandenen Unterbringungsmöglichkeiten zu Zufluchtgebieten wurden.880 Erst mit dem wirtschaftlichen Aufschwung und der Aufhebung der Beschränkungen zog NRW als prosperierendes Industrieland mit guten Beschäftigungsmöglichkeiten zahlreiche Arbeitsmigranten an;881 in 878
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Die traditionellen Zentren des rheinischen Maschinenbaus in Aachen, Mönchengladbach und dem Bergischen Land erhielten durch den Verlust alter mitteldeutscher Lieferanten verstärkte Wachstumsimpulse. Der Rhein als größte Wasserstraße und Duisburg als größter Binnenhafen Europas beförderten die Wiederaufstieg der nordrheinischen Wirtschaft und machten Düsseldorf, Köln und Duisburg zu Handelszentren. Vgl. Teuteberg, Wirtschafts- und Sozialentwicklung, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 3, S. 162 sowie Briesen, Detlef: Vom Durchbruch der Wohlstandsgesellschaft und vom Ende des Wachstums 1955-1995, in: ders. et. al., Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte, S. 202-268, hier: S. 226. Der Anteil der Vertriebenen an der Gesamtbevölkerung betrug 1946 in NRW 6,1%, während er in Schleswig-Holstein 32,9%, in Niedersachsen 24% und in Bayern 18,9% betrug. Vgl. Stahlberg, Gertrude: Die Vertriebenen in Nordrhein-Westfalen, Berlin 1957, S. 9f Deutlich wird dies bei der Verteilung auf die Regierungsbezirke: 1947 hatte Aachen 1,9%, Düsseldorf 19,1% und Köln 10,5%, der nordrheinische Landesteil insgesamt 32,0% der Flüchtlinge aufgenommen, wohingegen Arnsberg 25,5%, Detmold 24,3% und Münster 19,2%, der Landesteil insgesamt 68% der Vertriebenen aufgenommen hatte. Vgl. Petzina, Industrieland im Wandel, in: Kohl, Westfälische Geschichte 3, S. 442. Nordrhein-Westfalen steigerte zwischen 1947 und 1961 seinen Anteil an der Aufnahme von deutschen Flüchtlingen im bundesdeutschen Vergleich von 13,9 auf 26,6%. Insgesamt nahm das Land bis dahin
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diesem Prozess setzten sich frühzeitig angelegte Landschaftsentwicklungen fort, da neben dem Ruhrgebiet das gewerbestarke Rheinland einen Großteil der Neubürger aufnahm und die Rhein-Ruhr-Region zum Kernraum Nordrhein-Westfalens wurde.882 Die Nachkriegsverzögerung war deshalb einzig Momentaufnahme innerhalb eines längerfristigen Entwicklungsstrangs.883 Die nordrhein-westfälische Gesellschaft musste sich aufgrund der Zusammenfügung unterschiedlicher Geschichtslandschaften und Bevölkerungsgruppen erst finden, war jedoch nicht creatio ex nihilo, sondern knüpfte an hiesige Landschaftstraditionen an und deutete sie neu aus. Mit Flüchtlingen und Vertriebenen aus Mittel- und Ostdeutschland wanderten kulturelle Hintergründe in die Aufnahmegemeinden ein, die hergebrachte Normen und Verhaltensweisen in Frage und ihnen anders geprägte gegenüber stellten.884 Konfession, Sprache und Sitten mussten im alltäglichen Austausch harmonisiert werden und implementierten je länger je mehr gemeinsame Lebensformen aus teilkulturellen Versatzstücken, doch behielten landschaftliche Traditionen und Grundpanoramen auch im neuen Bundesland ein Übergewicht; in erster Linie hatten sich die Neubürger an rheinischwestfälisch-lippische Werte und Verhaltensnormen anzupassen und eine relativ höhere Integrationsleistung zu erbringen, wollten sie Aufnahme in die Mehrheitsgesellschaft finden.885 Deutlicher noch erweiterte sich das gesellschaftliche Spektrum mit der 1955 begonnenen Anwerbung ausländischer Gastarbeiter und der Sesshaftwerdung von Menschen mit gänzlich anderen mentalen Horizonten, die sich zunächst auf die gewerblich differenzierten Zentralorte und altindustrielle Ballungen des Rhein-Ruhr-Gebiets konzentrierte. Für den sozialen Formierungsprozess Nordrhein-Westfalens war insbesondere die wirtschaftliche Situation strukturbildender Faktor. Der nach 1950 verstärkte Wiederaufbau der Montanindustrie machte NRW zum Land der Arbeiter, der Angestellten und der abhängig
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etwa 3,5 Millionen Vertriebene und Flüchtlinge auf, was bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 16 Millionen einen Neubürgeranteil von etwa 22% ausmachte. Vgl. ebd. Obwohl Westfalen flächenmäßig größer als das Rheinland ist, wohnen im nordrheinischen Landesteil mehr Menschen, die Bevölkerungsdichte ist höher. Die Bevölkerungsverteilung folgte ökonomischen Mustern und überformte in erster Linie prosperierende städtische Regionen; mittelfristig waren die Regierungsbezirke Köln und Detmold, mit Abstrichen Düsseldorf am stärksten von diesen Wandlungsprozessen betroffen. Vgl. Steinberg, Menschen und Land in Nordrhein-Westfalen, S. 1. Heute leben auf 34% der Landesfläche 42% der Bevölkerung. Vgl. auch Herlth, Alois/Hurrelmann, Klaus/Klocke, Andreas: Bevölkerung, in: Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): NRW-Lexikon. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Recht, Kultur, 2. Aufl., Opladen 2000, S. 28-31, hier: S. 30. Vgl. Steinberg, Menschen und Land in Nordrhein-Westfalen, S. 70, 90ff. Das Wissen um die Unsicherheit des Besitzes ließ Ausbildungs- und Leistungsbereitschaft zu Tugenden werden, die dem persönlichen Wiederaufbau eine Chance geben sollte. Aufstiegsbewusstsein und Arbeitsethos erwuchsen aus dem Verlust des Besitzes, es wuchs das das Bewusstsein für die Notwendigkeit ökonomischer Selbständigkeit. Vgl. Kift, Dagmar: Aufbau West in Nordrhein-Westfalen. Eine Industriegeschichte mit Flüchtlingen und Vertriebenen, in: dies. (Hrsg.): Aufbau West. Neubeginn zwischen Vertreibung und Wirtschaftswunder, Essen 2005, S. 12-21, hier: S. 18; Plato, Alexander von: Integration und „Modernisierung, in: Ebd., S. 26-33, hier: S. 31 sowie Asfur, Anke: Vertriebene Frauen im Aufbau West, in: Ebd., S. 246-251, hier: S. 251. Das geringere Sozialprestige und die Notwendigkeit, sich in das neue gesellschaftliche Umfeld einzubringen, machten eine Annäherung an landschaftliche Gegebenheiten notwendig. Die Einheimischen waren nach wie vor in der Mehrzahl, sie hatten nicht den Verlust sämtlichen Besitzes hinzunehmen. Vgl. zum wechselseitigen, wenngleich durch Einheimische dominierten Anpassungsprozess, die bereits im Zusammenhang der räumlichen Strukturierungsmerkmale zitierte Studie des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, Der Einfluss von Zuwanderung auf die deutsche Gesellschaft, ebd.
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Beschäftigten mit einer demgegenüber geringen Selbständigenquote.886 Die gesellschaftliche Ausdifferenzierung ging jedoch nicht mit einer erneuten scharfen Abgrenzung unterschiedlicher Milieus einher, da sich Mentalitäten und Erfahrungswelten vor dem Hintergrund allgemeiner Motorisierung, dem Ausbau der Kommunikations- und Mediennetze sowie der einsetzenden Suburbanisierung annäherten und den Strukturgegensatz von Stadt und Land schmälerten. Der wachsende Wohlstand einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“887 sowie die allmähliche Abwendung der Menschen von den Kirchen brachen Denk- und Handlungsrahmen auf, trugen zum politisch-kulturellen Wertewandel bei und überbrückten allmählich hergebrachte Klüftungen.888 Trotz aller Umschichtungen ist ein schroffer Bruch mit den historisch geprägten Landschaftsmustern jedoch zu verneinen, da diese über die kollektiven Gedächtnisse der Alteinwohner in das neue Bundesland hineingetragen wurden. Die in Auflösung begriffenen Milieus blieben mental erhalten, transferierten schichtenspezifische Wahrnehmungen und Ansichten nach NRW und prägten die Perzeption gesellschaftlicher Phänomene. Da sich Westfalen und Lippe einen ländlichkleingewerblicheren Charakter sowie einen engeren räumlichen Zusammenhang von Arbeits- und Wohnstätte gegenüber dem Rheinland und dem Ruhrgebiet bewahrten, erhielten sich traditionalistisch-konservativere Landschaftsprägungen hier infolge höherer lokaler Verbundenheit und schwächerer Außenimpulse stärker.889 886
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Vgl. Petzina, Industrieland im Wandel, in: Kohl, Westfälische Geschichte 3, S. 465. Der Selbständigenanteil ist insofern von Belang, als davon auszugehen ist, dass wirtschaftliche und politische Selbständigkeit miteinander in einem Wechselverhältnis stehen. Das Arbeitsleben als zentraler Lebensbereich, der den Alltag wesentlich bestimmt, lässt dort eingeübte Verhaltensweisen in andere Alltagssphären transferieren. Ein abhängig beschäftigter Arbeiter, der im Betrieb den Kommandos des Vorgesetzten folgen muss, wird sich auch im politischen Bereich eher mit passiven Verhaltensmustern zufriedengeben als ein selbstbestimmt wirtschaftender Unternehmer. Auf der anderen Seite kann aber gerade auch die ökonomische Abhängigkeit zum Antriebsmuster für die Forderung nach Mitbestimmung in Betrieb und Politik sein. Vgl. zum Zusammenhang von wirtschaftlichem Wohlstand und politischer Freiheit Sunde, Uwe: Wirtschaftliche Entwicklung und Demokratie: Ist Demokratie ein Wohlstandsmotor oder ein Wohlstandsprodukt?, Discussion Paper No. 2244, Bonn 2006, S. 14f., einsehbar unter http://ftp.iza.org/dp2244.pdf (22.11.2010). Schelsky, Helmut: Die Bedeutung des Schichtungsbegriffs für die Analyse der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft, in: ders.: Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Köln/Düsseldorf 1965, S. 331-336, hier: S. 332f. Schelsky sprach bereits 1953 von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft, in der es zu einem „relativen Abbau der Klassengegensätze, einer Entdifferenzierung der alten, noch ständisch geprägten Berufsgruppen und damit zu einer sozialen Nivellierung in einer verhältnismäßig einheitlichen Gesellschaftsschicht, die ebenso wenig proletarisch wie bürgerlich ist, d. h. durch den Verlust der Klassenspaltung und sozialen Hierarchie“ gekommen sei. Vgl. Schwarz, Hans-Peter: Modernisierung oder Restauration? Einige Vorfragen zur künftigen Sozialgeschichtsforschung über die Ära Adenauer, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 3, S. 278-293, hier: S. 288f. Vgl. Blotevogel, Hans H./Heinritz, Günter/Popp, Herbert: Regionalbewusstsein. Bemerkungen zum Leitbegriff einer Tagung, in: Bericht zur deutschen Landeskunde 60 (1986), S. 103-114, hier: S. 109ff. Während die Bevölkerung des nordrheinischen Landesteils vermehrt mit städtischem Leben in Kontakt kommt, behält das gewohnte Lebensumfeld in Westfalen ein größeres Gewicht. Auch die relativ ausgewogene Struktur an Ein- und Zweifamilienhäusern - bis auf die Rhein-Ruhr-Ballung, die Städte der Rheinschiene und des Ruhrgebiets, zeigen sich die rheinisch-westfälischen Gemeinde und Kreise als relativ ausgeglichen in ihrer Wohnstruktur -, die Ausweis für die Sesshaftigkeit der Bevölkerung ist, steht dem Befund des ländlicherer Westfalen nicht entgegen. Auch das linksrheinische Gebiet verfügt über ausgedehnte ländliche Kreise und einen hohen Anteil an Ein- und Zweifamilienhäusern, jedoch ballen sich die Einwohner, die den Bevölkerungsvorsprung des Landesteils ausmachen, entlang des Rheins. Der von der Fläche her kleinere Landesteil weißt höhere Einwohnerzahlen auf, so dass der allgemeine Charakter des Raumes als städtischer gelten kann. Vgl. hierzu die 2006 gemessene Wohnsituation, den regio-
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F.II.2.2. Medienlandschaft Mediale Kommunikationsstrukturen begleiten die gesellschaftliche Selbstorganisation und die Verständigung über das Zusammenleben, ermöglichen Diskussionen und Austausch; sie spannen ein Dach über das Gemeinwesen und verweben es. Die britische Besatzungsmacht verfolgte jedoch von Anbeginn an den Plan, anstelle übergreifend-neutraler parteipolitische Richtungszeitungen einzuführen.890 Die von ihnen erteilten Lizenzen boten den Inhabern sowie den ihnen nahestehenden Parteien – diese schlugen neben einem Parteifunktionär einen ihnen genehmen Pressemann vor, um eine parteipolitisch ausgerichtete Lizenzträgergruppe zu bilden – öffentliche Macht- und Einflusspositionen sowie Artikulations- und Darstellungsmöglichkeiten, die den parteipolitischen Formierungsprozess implizit beeinflussten; die Entfaltung von Strömungen, die den britischen Ansinnen entsprachen, konnten durch die bewusste Zuteilung größerer Kontingente gefördert werden, die bewusste Nichtberücksichtigung schmälerte sie. Nach Verhandlungsbeginn im Winter 1945 verteilten die Briten am 26. Februar 1946 die ersten zwanzig Publikationsgenehmigungen; elf gingen an den nordrheinischen, acht an den westfälischen – das provinzübergreifende Ruhrgebiet vereinnahmte derer sechs – und eine an den späteren lippischen Landesteil. Die nach Abschätzung der Parteienrelevanz erfolgende Zuteilung strukturierte das spätere Parteienwesen vor und gab ihm eine zum Teil erneuernde, zum Teil bestärkende, doch auch benachteiligende Stoßrichtung, da sich nur die lizenzierten Zeitungen und die ihnen nahestehenden Parteien im Bewusstsein der Bevölkerung einprägten.891
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nalen Anteil an Ein- und Zweifamilienhäusern in: Ministerium für Umwelt und Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen: Zukunft des Kleingartenwesens in Nordrhein-Westfalen. Forschungsbericht zur Kleingartensituation in Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2009, S. 29, einsehbar unter http://www.umwelt.nrw.de/landwirtschaft/pdf/kleingaerten_broschuere/C_Kapitel_1_Teil_2.pdf, S.29 (19.11.2010). Das Ansinnen, parteipolitische Richtungszeitungen herauszubringen, folgte dem Gedanken, dass sich die Redaktionen von in ihrem Verbreitungsgebiet territorial auf einen Regierungsbezirk beschränkten, kollektiv von sämtlichen Parteien organisierten Zeitungen aufgrund differenter Ansichten nicht auf einen gemeinsamen Kurs einigen würden. Vgl. im Folgenden, wenn nicht anders angegeben, Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 144-157. Vgl. Ribhegge, Preußen im Westen, S. 639. Im einzelnen erschienen: CDU-nahe Zeitungen: Aachener Volkszeitung 22.2.1946; Kölnische Rundschau 19.3.1946; Rheinische Post 2.3.1946 Düsseldorf, Westfalen-Zeitung 15.3.1946 Bielefeld, Westfalen-Post 26.4.1946 Soest, Westfälische Nachrichten 3.8.1946 Münster. Im Ruhrgebiet zog sich die Vergabe einer CDU-Lizenz aufgrund der politischen Vergangenheit der Vorgeschlagenen hin; erst nach der Aufhebung der Presselizenzierung 1949 erschien unter Leitung von Lambert Lensing die Dortmunder Ruhrnachrichten am 1. 3. 1949. SPD-nahe Zeitungen: Aachener Nachrichten 25.1.1946, Rheinische Zeitung 15.2.1946 Köln, Rhein-Echo 9.3.1946 Düsseldorf, Neue Ruhr-Zeitung 13.7.1946 Essen, Westfälische Rundschau 20.3.1946 Dortmund; diese erschien für die mitgliederschwachen Bezirke Arnsberg und Münster, Freie Presse 3.4.1946 Bielefeld. KPD-Zeitungen: Freiheit 1946 Düsseldorf, Volksstimme Köln 1946, Westdeutsches Volks-Echo Dortmund 7.5.1946, Volks-Echo Detmold 1946. FDP-nahe Zeitungen: Westdeutsche Rundschau August 1946 Wuppertal, Westdeutsches Tageblatt August 1946 Dortmund. Zentrums-nahe Zeitungen: Rhein-Ruhr-Zeitung 13.7.1946 Essen, Neuer Westfälischer Kurier Sommer 1946 Werl. Die Zentrumspresse kam nur schleppend in Gang. Zwar beantragte ihr Vorsitzender Hamacher bereits am 5. Oktober 1945 eine Lizenz, bekam aber trotz Drängens bis Januar 1946 keine Antwort. Aufgrund der relativ späten Genehmigung, der geringen Auflage und der inneren Zerstrittenheit der Lizenznehmer waren die Publikationen der Parteiarbeit kaum Unterstützung. Insbesondere in Nordrhein
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Getan war hiermit ein Schritt hin zur Entstehung einer medialen Öffentlichkeit, die jedoch entlang hergebrachter Partei- und Landschaftsgrenzen zerfiel und mentale Horizonte festigte; bis zum Ende der Lizenzierungspraxis im September 1949 entstand denn auch keine bedeutende überregionale nordrhein-westfälische Tageszeitung. Im Rundfunkbereich errichteten die Briten mit dem Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) einen in Hamburg residierenden Sender für ihre gesamte Besatzungszone. Gegen diese Entscheidung richteten sich in Rheinland und Westfalen bereits vor der Landesgründung Bemühungen, den alten Mittelwellensender Langenberg – über den in Weimarer Zeit die Westdeutsche Rundfunk AG ein provinzübergreifendes Programm ausgestrahlt hatte – zu erneuern. Auf der ersten gemeinsamen Sitzung der mit Partei- und Kirchenvertretern, Beamten und Journalisten besetzten rheinisch-westfälischen Rundfunkausschüsse einigten sich die Teilnehmer am 13. März 1946 auf die Langenberg-Forderung, wünschten die stärkere Berücksichtigung westdeutscher Belange – hier lebten mehr als die Hälfte der Einwohner der britischen Zone – im Programm des NWDR892 und ersannen, mit ihrer angestrebten Vereinigung die Zusammengehörigkeit der Provinzen zu dokumentieren.893 Es war jedoch weniger die Bevölkerung als die Landespolitik, die die Berichterstattung über NRW sowie rheinisch-westfälisch-lippische Traditionen in dem zentralen Zonensender nur unzureichend berücksichtigt wähnte und nach einem eigenen Landessender strebte. Bereits in die erste Sitzung des nordrhein-westfälischen Landtags brachte die FDP am 13. November 1946 einen Antrag ein, die Landesregierung zu beauftragen, „alle Schritte zu unternehmen, (um A.W.) die Genehmigung für einen selbständigen westdeutschen Rundfunk als ‚Sender Köln’ zu erhalten.“894 Die hiesige Kritik an der Senderpolitik äußerte sich in der Ablehnung des Intendanten Hanns Hartmann durch Ministerpräsident Karl Arnold,895 der mit diesem rheinisch-westfälische Traditionslinien hintergangen und kulturell-religiöse Eigenheiten nur unzureichend zur Kenntnis genommen sah.896 Das Ziel eines Landessenders, auf den die
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stritt sich eine Düsseldorfer Gruppe um Hamacher und eine Essener um Spiecker um die Lizenz. Die Essener Richtung erhielt diese, allerdings mit Hamacher als Lizenzträger. Die unterschiedlichen politischen Ansichten verhinderten eine einheitliche Ausrichtung und den Erfolg des Erzeugnisses. Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung aus Bochum wurde ab dem Frühjahr 1948 eine überparteiliche Zeitung für Nordrhein-Westfalen. Vgl. Bierbach, Wolf: Der neue WDR. Dokumente zur Nachkriegsgeschichte des Westdeutschen Rundfunks, Köln/Berlin 1978, S. 41. Der Vizepräsident der Nordrheinprovinz Hermann Wandersleb schlug vor, „von den zwei getrennten Ausschüssen zu einem einzigen, für den Bereich der beiden westlichen Provinzen geltenden Ausschuss zu kommen, da hierdurch die Zusammengehörigkeit und das gleiche Ziel der beiden Provinzen besser zum Ausdruck kommt“, zitiert nach Pätzhold, Ulrich: „Hier und Heute“ – Einheit für die Vielfalt der Regionen. Der Westdeutsche Rundfunk als Landessender, in: Brautmeier, Jürgen/Düwell, Kurt/Heinemann, Ulrich/Petzina, Dietmar (Hrsg.): Heimat Nordrhein-Westfalen. Identitäten und Regionalität im Wandel, Essen 2010, S. 147-158, hier: S. 148, FN 3. Vgl. Köhler, Wolfram: Das Land und seine Sender. Die Medien als Handlungsfeld der Politik, in: ders. (Hrsg.): Nordrhein-Westfalen. Fünfzig Jahre später 1946-1996, Essen 1996, S. 88-103, hier: S. 90. In einem Brief an seinen Kultusminister vom 23. August 1947 äußerte Arnold, dass „Hartmann, der dem linken Flügel der SPD angehören soll…seiner geistigen Haltung nach keineswegs dem kulturellen Gesicht unseres Landes“ ähnele. Er könne dem Sender kein Gesicht geben, „das dem kulturellen Wollen und den geistigen Traditionen des Landes“ entspreche. Vgl. Bierbach, Der neue WDR, S. 72. Arnold betonte, NRW sei in Traditionen, Kultur und Kommunikationsbedürfnissen katholisch, der NWDR in Struktur und Programmprofil hingegen protestantisch geprägt. Vgl. Freiburg, Eva-Maria: Die Geschichte des Rundfunks in Nordrhein-Westfalen 1945-1955, Hannover 1973, S. 187ff. Einer der Anlässe war die Nachwahl eines NWDR-Verwaltungsrates, dessen Platz NRW zustand. Der von dem Ham-
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Landesregierung, „maßgebliche(n) Einfluss in wirtschaftlicher und propagandistischer Hinsicht“897 nehmen wollte, widerstrebte jedoch dem britischen Interesse, den Rundfunk aus staatlicher Abhängigkeit zu befreien und eine starke, unabhängige Sendeanstalt zu errichten. Nach langwierigen Auseinandersetzungen erhielt Nordrhein-Westfalen schließlich mit dem am 12. Mai 1954 beschlossenen Gesetz über den Westdeutschen Rundfunk Köln einen eigenen Medienkanal, der am 1. Januar 1956 seine Arbeit aufnahm und mit seinem spezifischen Landesprogramm die Landesintegration zumindest formell begleitete.
F.II.3. Politik Neben britischen Vorgaben setzte der Aufbau des nordrhein-westfälischen politischen Systems auf historischen Landschaftsprägungen auf. Seine formellen Strukturen erwuchsen keineswegs allein einem Diktat der Besatzer und folgten ebenso wie materielle politische Wertvorstellungen eigenen Traditionslinien; beide Bereiche ragten vermittelt aus dem Alten Reich und der Preußenzeit in das neugebildete Bundesland hinein und fanden ihren Niederschlag in den grundlegenden öffentlichen Institutionen wie der allgemeinen Landespolitik. F.II.3.1. Parteienlandschaft Die Militärverordnung Nr. 12 vom 15. September 1945 erlaubte Parteineugründungen auf Zonenbasis, stellte Gründungsversammlungen jedoch unter Erlaubnisvorbehalt und Beobachtung. Von vornherein wurde das Kandidaten- und Parteienspektrum innerhalb der britischen Demokratisierungsziele gesteuert, da nationalsozialistisch belasteten Vorkriegspolitikern parteipolitisches Engagement versagt wurde und sich nur lizenzierte Vereinigungen zur Wahl stellen durften. Auf deutscher Seite knüpfte der Formierungsprozess keineswegs vorbehaltlos an die Vorkriegszeit an, da festgefügte, parteilich organisierte Milieus nicht mehr die dominante Rolle spielten, die sie bis in die 1920er Jahre besessen hatten; dennoch war die Ausbildung des nordrhein-westfälischen Parteiensystems maßgeblich von landschaftlichen Prägungsmustern beeinflusst: Sie strukturierten Denken und Handeln der Bevölkerung weiterhin vor und lieferten einen Filter spezifischer Weltvorverständnisse, anhand derer die Tagespolitik bewertet wurde. Die Parteienlandschaft entwickelte sich aus jenen materiellen Traditionsbeständen und griff sie in den Parteiprogrammen notwendigerweise auf, um bei Wahlen erfolgreich zu sein. Der landschaftshistorischen Erbmasse kam zwar keine determinierende Bedeutung zu, sie gab aber einen Genesepfad vor und stellte grundsätzliche Weichen; sämtliche Entwicklungen setzten auf den in der Geschichte angelegten Landschaftscharakteristika – einem sozialorientierten Katholizismus, einem bürgerlichen Liberalkonservatismus und einer reformistischen Sozialdemokratie – auf, die auch nach 1945 ihre Geltung behielten.
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burger Bürgermeister Max Brauer vorgeschlagene Protestant Klaus von Bismarck wurde gegen den Kandidaten Arnolds, den Katholiken Josef Hermann Dufhues gewählt. So die Landesregierung in einer Kabinettssitzung vom 4. August 1947. Vgl. Köhler, Das Land und seine Sender. in: ders. Fünfzig Jahre später, S. 93.
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Der – allenfalls in ihren Grundzügen darzustellenden – Organisationsprozess warf zudem ein Schlaglicht auf überlieferte landschaftliche Strukturgräben: Anstatt starke Landesverbände zu gründen, orientierten sich die dominanten Parteien CDU und SPD an hergebrachten Raumzuschnitten und altbekannte Grenzen, anstatt sie zu überschreiten.898 Neben Praktikabilitäts- und Gewohnheitsgründen kam hierin die Existenz mentaler Barrieren zum Vorschein; Rheinland und Westfalen wahrten auch parteiorganisatorisch den Bindestrich, das Ruhrgebiet blieb zersplittert und Lippe wurde ein an Westfalen angegliederter Subverband. Allerdings manifestierte die Wiederaufnahme alter Beziehungsgeflechte zwischen rheinisch-westfälischen Parteienvertretern bereits vor der Landesgründung ein gewisses überprovinzielles Zusammengehörigkeitsbewusstsein. F.II.3.1.1. Zentrum Obwohl das historische Nordrhein-Westfalen eine Hochburg des politischen Katholizismus gewesen war, war die Wiederbegründung des Zentrums keineswegs selbstverständlich. Innerhalb des in Auflösung begriffenen katholischen Milieus gedieh nach der nationalsozialistischen Unterdrückungserfahrung der Gedanke der Schaffung einer überkonfessionell ausgerichteten Sammelpartei, um den gemeinsamen christlichen Glauben kraftvoll zu verteidigen, traf jedoch auf den Widerstand anderer ehemaliger Zentrumspolitiker, die die Reaktivierung einer schichtenübergreifenden, bei formeller Überkonfessionalität katholisch ausgerichteten Integrationspartei der Mitte forderten und die Tradition des sozialen, arbeitnehmerorientierten und auf politischen wie sozialen Interessenausgleich ausgerichteten Zentrums betonten.899 Starke Anstöße zur Wiederbegründung des alten Zentrums kamen aus Westfalen und dem Münsterland; hiesige Politiker stellten sich zuvörderst den Einigungsbestrebungen entgegen und reklamierten die Bildung einer insbesondere dem katholischen Bevölkerungsteil verpflichteten Partei. Bereits im Mai 1945 versammelte sich in DrensteinfurtRinkerode um den ehemaligen preußischen Landtagsabgeordneten Johannes Brockmann ein Gesprächskreis, der sich für die Anknüpfung an die hergebrachten Strukturen aussprach,900 musste jedoch aufgrund inhaltlicher Divergenzen früh den Verlust prominenter Führungskräfte hinnehmen; Gründungsmitglieder dieses Rinkeroder Kreises wie der frühere Generalsekretär des westfälischen Zentrums, Josef Kannengießer, oder der einstige westfälische Oberpräsident Johannes Gronowski wendeten sich der überkonfessionellen ChristlichDemokratischen Partei (CDP) zu und schwächten den beginnenden Parteiaufbau. Im Rheinland wurde der ehemalige Generalsekretär des rheinischen Zentrums, Wilhelm Hamacher, führende Kraft bei der Restauration der Partei im überlieferten Sinne; aus traditionalistisch-religiöser Perspektive glaubte er an die Notwendigkeit einer katholisch-zentristischen
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Die SPD war bis 2001 in die Bezirksverbände Niederrhein, Mittelrhein, Westliches Westfalen und Östliches Westfalen/Westfalen-Lippe unterteilt, über die nur ein schwacher Landesverband gespannt war, für die CDU bestanden bis 1986 die Landesverbände Rheinland und Westfalen. Vgl. hierzu auch die Ausführungen zu den nordrhein-westfälischen Raumstrukturen. Vgl. Schmidt, Ute/Stöss, Richard: Kleinere Parteien in Nordrhein-Westfalen, in: Alemann, Parteien in Nordrhein-Westfalen, S. 162-174, hier: S. 167. Der Entschluss fiel am 15. Juli 1945 in Lippstadt. Vgl. Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 81f.
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Partei und konnte sich allenfalls die lose Zusammenarbeit mit einer protestantischen, konservativ-sozialorientierten Partei vorstellen.901 Trotz einiger Annäherungsversuche konnten sich Zentrums- und CDP-Befürworter auf der am 16. September 1945 stattfindenden Rinkeroder Konferenz nicht auf gemeinsame Parteigrundsätze einigen, so dass aus dem Zusammenschluss rheinischer und westfälischer Gruppierungen am 14. Oktober 1945 in Soest die Deutsche Zentrumspartei hervorging; ihre Leitung übernahm Wilhelm Hamacher, der weitere Vorstand bestand aus vier Rheinländern und sechs Westfalen.902 Auf dem Gründungsparteitag strich der Vorsitzende die kirchlichen Glaubens- und Sittenlehren als Grundlage der Politik heraus und betonte, diese seien nicht im liberalen Sinne von jener zu trennen. Trotz konservativer Grundgesinnung stellte er sich in die Traditionen des rheinisch-westfälischen Zentrums und bezeichnete die päpstlichen Sozialenzykliken Rerum novarum und Quadragesimo anno als „maßgebende Grundlagen einer aufbauenden christlichen Sozialpolitik;“903 die in Soest verabschiedeten Arbeitsziele basierten weitgehend auf den Richtlinien des Weimarer Zentrums von 1922, fielen jedoch im Wirtschaftsbereich weit sozialistischer aus.904 Am 30. August 1946 bildete sich schließlich unter der Leitung Johannes Brockmanns der Verband der deutschen Zentrumspartei Nordrhein-Westfalen, der als einziger Landesverband nach dem Zweiten Weltkrieg erneut an Bedeutung gewann.905
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Hiermit waren Organisationen in der Tradition der Christlich-Sozialen Partei Adolf Stoeckers oder des Weimarer Christlich Sozialen Volksdienstes gemeint, die sich um die soziale Lage der Arbeiterschichten sorgten, zugleich aber für eine festgefügte, hierarchische Gesellschaftsorganisation eintraten. Vgl. Schmidt/Stöss, Kleinere Parteien in Nordrhein-Westfalen, in: Alemann, Parteien in NordrheinWestfalen, S. 167. Vgl. Lademacher, Die nördlichen Rheinlande, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 806. Vgl. die Rede Wilhelm Hamachers auf dem Gründungsparteitag in Soest, 14. Oktober 1945, zitiert nach Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 83. Die 1891 durch Papst Leo XIII. veröffentlichte Enzyklika Rerum novarum betonte zwar das durch Arbeit erworbene und natürlich begründete Recht auf Eigentum, sah persönlichen Reichtum aber im Sinne des Nächsten zu gebrauchen. Dem Staat komme eine sozialpolitische Verantwortung zu, um die Marktkräfte zu bändigen, das Gemeinwohl zu fördern und die Gesellschaft solidarisch zu befrieden. Vgl. den Text der Enzyklika unter http://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/320.html (12.11.2010). Papst Pius XI. veröffentlichte 1931 die Enzyklika Quadragesimo anno. Er entwickelte die Subsidiaritätslehre weiter, indem er die gesellschaftliche Aufgabenwahrnehmung weitestmöglich zugunsten der kleinsten gesellschaftlicher Organisationseinheiten vermutete. Sie erkannte Privateigentum, aber auch das Recht des Staates, dieses zugunsten des Allgemeinwohls einzuschränken, an. Die Verelendung der Arbeiter solle durch gerechte Lohngestaltung und die Teilhabe am Unternehmen aufgehalten werden, der Wettbewerb reguliert werden, vgl den Text der Enzyklika unter http://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/319.html (12.11.2010). Während die Richtlinien eine starke Aufsicht über Großunternehmen forderten, wollte man diese in den Arbeitszielen auflösen. Grundlagensektoren sollten vergesellschaftet werden, der Schutz des Bekenntnisses und der Familien sollte auf republikanischer, föderalistischer Grundlage erfolgen. Einer sozialen Wirtschafsordnung wurde das Recht auf Privateigentum an die Seite gestellt. Vgl. Deutsche Zentrumspartei: Soester Programm von 1945. Arbeitsziele, in: Flechtheim, Ossip (Hrsg.): Dokumente zur parteipolitischen Entwicklung in Deutschland seit 1945. Bd. 2,1: Programmatik der deutschen Parteien, Berlin 1963, S. 244f. Vgl. hierzu die nach Bundesland aufgeführten Ergebnisse sämtlicher Landtagswahlen nach 1946, einsehbar unter http://www.wahlen-in-deutschland.de/abltw.htm (12.11.2010).
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F.II.3.1.2. CDU Vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Schwächung von Kirche und Glaube bildeten sich in der Nachkriegszeit – unter unterschiedlichen Voraussetzungen und unabhängig voneinander – als Vorläufer der CDU lokale Gesprächsrunden in der Überzeugung, nur mithilfe einer überkonfessionellen Sammelpartei christliche Standpunkte wirkungsvoll politisch zu vertreten. Vor allem im Rheinland existierten hierfür anknüpfungsfähige Wurzeln und fielen die Initiativen auf fruchtbaren Boden: Bereits innerhalb des 1906 durch Julius Bachem ausgelösten Zentrumsstreits hatte die – auch westfälische Politiker einbeziehende – Kölner Richtung die Öffnung des katholischen Turms für Protestanten verlangt, um christliche Politik zu betreiben, während der ehedem konservativere Grundzug des westfälischen Zentrums bereits damals eine geringere Öffnungsbereitschaft mit sich brachte.906 Der einflussreichste dieser rheinischen Zirkel bildete sich im Mai 1945 in Köln um den früheren rheinischen Zentrumsabgeordneten Leo Schwering. Seine Teilnehmer – zumeist ehemalige Parlamentarier – arbeiteten unter Mitwirkung katholischer wie auch protestantischer Geistlicher und Theologen im Bornheim-Walberberger Dominikanerkloster St. Albert den Vorläufigen Entwurf zu einem Programm der Christlich Demokratischen Union Deutschlands aus,907 der Grundlage war für ihre im Juli 1945 formulierten Kölner Leitsätze. Dieses programmatische Dokument betonte in der Tradition der katholischen Soziallehre einen christlichen Sozialismus, forderte die subsidiäre Rückkehr zur gemeindlichen Selbstverwaltung, die sozialgebundene individuelle Eigenverantwortung sowie eingeschränkte wirtschaftliche Freiheiten908 und wurde maßgebliche Orientierungsgröße auch für andere Gesprächsrunden.909 Auf evangelischer Seite kollidierte die britische Ablehnung dezidiert konservativer Vereinigungen mit der historischen Nähe des Protestantismus zu nationalkonservativen Parteien; sie war deshalb weit stärker auf eine interkonfessionelle Öffnung angewiesen, um parteipolitisch aktiv werden zu können.910 Zentral innerhalb dieser protestantischen Bemühungen wurde ein um den Fabrikanten und Kirchmeister Willy Halstenbach, den Pfarrer Hermann Lutze und den Anwalt Otto Schmidt gebildeter Wuppertaler Gesprächskreis. Unter Einfluss bergischer Unternehmer formulierte er deutlich wirtschaftsliberalere Grundsätze, sprach sich in seinen Barmener Richtlinien jedoch aus pietistischer Fürsorgeprägung zugleich – bei aller Skepsis gegenüber der Demokratie und dem Parteienwesen, die Obrigkeit wurde weiterhin als von Gott eingesetzt gesehen – für eine um sozial906 907 908
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Vgl. hierzu auch Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 1, S. 465f. sowie ders., Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 2, S. 553f. Vgl. Flechtheim, Dokumente zur parteipolitischen Entwicklung, Bd. 2,1, S. 30-33. Die Tradition der katholischen Arbeiterbewegung erklärt die starke Betonung sozialpolitischer Anliegen und korrigierender Wirtschaftseingriffe bei grundsätzlicher persönlicher, auch wirtschaftlicher, aus dem Menschenbild abgeleiteter Freiheit. Persönliche Freiheit und das Gemeinwohl sollten durch einen christlichen Sozialismus in Einklang gebracht werden, ohne dem Menschen wesensfremde kollektivistische Ordnungen anzustreben. Sowohl privates als auch Gemeineigentum sollten möglich sein, Güterausgleich die soziale Lohngestaltung das Privateigentum fördern. Vgl. hierzu die Kölner Leitsätze, einsehbar unter http://www.grundsatzprogramm.cdu.de/doc/1945_2_Koelner-Leitsaetze.pdf (12.11.2010). Vgl. Lehmann, Der Marshall-Plan und das neue Deutschland, S. 227. Vgl. Klein, Michael: Der westdeutsche Protestantismus und die CDU bis zum Ende der Ära Adenauer, in: Buchstab, Günther/Kleinmann, Hans-Otto (Hrsg.): Historisch-politische Mitteilungen. Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Köln u.a. 2007, S. 79-98, hier: S. 83.
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politische Maßnahmen ergänzte demokratische Gemeinschaftsordnung aus, innerhalb derer „weitester Raum für eine private Initiative“ gelassen werden sollte, da „Wettbewerb die bessere und preiswertere Lösung“ biete.911 Die verschiedenen, über diese herausragenden Beispiele hinausgehenden rheinischen Gruppierungen vereinigten sich am 2. September 1945 in Köln zur nordrheinischen Christlich-Demokratischen Partei (CDP) und wählten Schwering zu ihrem Vorsitzenden. In Westfalen war auf katholischer Seite die Bereitschaft zur Gründung interkonfessioneller Parteien geringer ausgeprägt. Vor allem im Münsterland dominierte – obwohl der Münsteraner Bischof Clemens August von Galen aus der Sorge um den Aufstieg atheistischer Arbeiterparteien starke Impulse für die Gründung einer christlichen, das alte Zentrum übersteigenden Partei aussandte –912 das Interesse an der Wiederbegründung des Zentrums. Offener für von Galens Ansinnen war eine um den Diözesanpräses der katholischen Arbeitervereine im Paderborner Land, Kaspar Schulte, gebildete Sektion, die eine ständeübergreifende, sozialorientierte und naturrechtlich statt christlich fundierte Volkspartei anstrebte.913 Auf Provinzebene schlossen sich die verschiedenen, auf protestantischer Seite in erster Linie aus dem Ravensberger Raum914 unterstützten lokalen Zirkel am 2. September 1945 in Bochum zur Christlich-Demokratischen Partei Westfalens zusammen und bestimmten den Katholiken Friedrich Holzapfel und den Protestanten Lambert Lensing zu ihren Vorsitzenden; anders als der rheinische Verband, in dem Katholiken dominierten, war der westfälische Vorstand konfessionell nahezu ausgeglichen besetzt.915 Eine zur Annäherung der unterschiedlichen regionalen Grundsätze eingesetzte Programmkommission legte am 11. Oktober 1945 die Leitsätze der Christlich Demokratischen Partei in Rheinland und Westfalen vor, die anstelle der Forderung nach einem christlichen Sozialismus ein durch gerechten Güterausgleich und soziale Lohngestaltung eingehegtes, unter Gemeinwohlvorbehalt gestelltes Recht auf Privateigentum betonten.916 Die als CDP organisierten rheinisch-westfälischen Parteiverbände benannten sich auf ihrem gemeinsamen, zwischen dem 14. und 16. Dezember 1945 stattfindenden Godesberger Parteitag in Christlich Demokratische Union (CDU) um. F.II.3.1.3. SPD Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) stand nach 1946 vor einem schwierigen Neubeginn: Aufgrund der organisatorischen und programmatischen Anknüpfung an ihre Vorkriegsstrukturen – die Nordrheinprovinz und Westfalen wurden in je zwei Bezirke 911 912 913
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Vgl. hierzu ders.: Westdeutscher Protestantismus und politische Parteien, Tübingen 2005, insb. S. 108114. Vgl. ebenso Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 53. Vgl. Teppe, Zwischen Besatzungsregiment und politischer Neuordnung, in: Kohl, Westfälische Geschichte 2, S. 295. Vgl. Beckmann, Christopher: Lambert Lensing. Zeitungsverleger, Mitgründer der CDU, Landesvorsitzender der CDU Westfalen-Lippe, in: Buchstab/Kleinmann, Historisch-politische Mitteilungen, S. 153186, hier: S. 169. Vgl. Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 55. In Westfalen standen acht Katholiken sechs Protestanten gegenüber, während im Rheinland 19 Katholiken über fünf Protestanten dominierten. Vgl. Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 59f. Der Katholikenanteil war im Rheinland zwar traditionell höher als in Westfalen, in Westfalen der Proporz aber eher zugunsten der evangelischen Seite aufgeweicht. Vgl. Flechtheim, Dokumente zur parteipolitischen Entwicklung, Bd. 2,1, S. 34-45.
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aufgeteilt, deren zentrale Figuren Ernst Gnoß am Niederrhein, Robert Görlinger im Bezirk Obere Rheinprovinz/Mittelrhein, Fritz Henßler im Westlichen Westfalen und Carl Severing im Östlichen Westfalen waren; die lippische SPD wurde unter Emil Feldmann und Heinrich Drake wieder aufgebaut, gehörte allerdings organisatorisch bereits seit Weimarer Zeit dem Bezirk Östliches Westfalen an und verfolgte keinen erkennbaren eigenständigen Kurs – wurden der atheistischen Partei in einem Land, in dem die Katholiken die Bevölkerungsmehrheit stellten und das Wahlverhalten zunächst konfessionell bestimmt blieb, weiterhin Vorbehalte entgegengebracht. Das wirtschaftdemokratische Heidelberger Programm von 1925 blieb Parteifundament, doch flossen in den Kurs der Bezirksverbände unterschiedliche landschaftshistorische Hintergründe ein, die aufgrund der schwachen Zentralorganisation der Partei divergente regionale Grundpositionen zur Folge hatten.917 Vor allem die Parteibezirke Niederrhein hier und Westliches sowie Östliches Westfalen dort waren in ihrer ideologischen Ausrichtung uneins:918 Während ersterer – in dem USPD und KPD in Düsseldorf und dem nördlichen Bergischen Land in der Tradition der hier bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts starken Arbeiterbewegung nach dem Ersten Weltkrieg besonders erfolgreich gewesen waren – unter seinem Solinger Vorsitzenden Gnoß an jene radikaleren Traditionen anknüpfte und den linken Flügel der rheinischwestfälischen SPD-Verbände bildete,919 zählte der in Dortmund ansässige Verband Westliches Westfalen zum reformistischen Parteispektrum und führte seine vor dem Zweiten Weltkrieg vertretenen gemäßigt-revisionistischen Positionen fort, anstatt eine fundamentale Gesellschaftsumwälzung anzustreben.920 Im Östlichen Westfalen reorganisierte der Parteirechte Severing die hier bereits im Kaiserreich erfolgreiche SPD und plädierte für das Ablegen überlieferter marxistischer und antiklerikaler Positionen zugunsten der Öffnung der Partei zur Kirche, um auch christliche Arbeiter und Bürgerkreise als Wählerschichten zu gewinnen.921 Ähnliche Initiativen entwickelten sich im Kreis Unna, in dem
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Vgl. Klönne, Arno: Die Sozialdemokratie in Nordrhein-Westfalen. Historische Verankerung und heutiges Profil, in: Alemann, Parteien und Wahlen in Nordrhein-Westfalen, S. 69-90, hier: S. 85. „Während die Partei am Niederrhein diese Forderung (nach Sozialismus A.W.) in den Mittelpunkt eines Programms stellt, dessen Grundlage eine von marxistischen Kategorien ausgehende Faschismus-Auffassung war, war die Forderung im Westlichen Westfalen verschwommen und wenig präzise. Der Kritik an der SPD der Weimarer Republik und der Aufnahme marxistischer Gedankengänge auf der einen Seite stand doch ein unkritisches Anknüpfen an die alte Partei und die Wiederbelebung des Parteipragmatismus auf der anderen Seite gegenüber.“ Zit. nach Lehmann, Der Marshall-Plan und das neue Deutschland, S. 288. Vgl. hierzu auch Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 108. Der pragmatische Kurs, den der ehemalige Reichstagsabgeordnete und Dortmunder Ortsvorsitzende Fritz Henßler in die Aufbauarbeit des SPD-Bezirks einbrachte, zeigte sich in der Befürwortung der überparteilichen und –konfessionellen Einheitsgewerkschaft, anstatt an die reine Lehre früherer Richtungsgewerkschaften zu glauben. Zwar verlangte eine programmatischer Erklärung des Bezirks Westliches Westfalen 1945 die Verstaatlichung der Industrie, den Ausbau des Genossenschaftswesens und deine Bedarfsdeckungswirtschaft, bewegte sich damit aber in einem allgemeinen Nachkriegskonsens. Vgl. Ribhegge, Preußen im Westen, S. 618. Die Etablierung von Gesprächskreisen sollte die Annäherung sozialdemokratischer und kirchlicher Positionen ermöglichen. Severings Schwiegersohn Walter Menzel nahm Kontakt zum Mecklenberger Gesprächskreis um Pastor Ferdinand Vorholt auf und brachte sozialdemokratische und kirchliche Vertreter zusammen. Vgl. ebd., S. 623.
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mit dem Bergheimer Kreis eine Plattform entstand, die Kontakte zwischen SPD-Mitgliedern und Theologen herstellte und gemeinsame Gedanken zum Wiederaufbau entwickelte.922 Im Arbeitermilieu gediehen nach dem Krieg zudem Gedankenspiele, die Vereinigung von SPD und KPD anzustreben; die Erfahrung geteilter Schwäche sowie die katholische Dominanz machten die Überwindung alter Gegensätze und die Bildung einer schlagkräftigen Arbeiterpartei in NRW zu einer Option. Insbesondere am Niederrhein reüssierte diese Idee, traf jedoch auf entschiedenen ostwestfälischen Widerstand;923 der Vorsitzende der Gesamtpartei Schumacher lehnte diesen Kurs jedoch ab und schwor die rheinischwestfälischen Bezirke mit seiner Programmatischen Erklärung vom 5. Oktober 1945 auf einen entschieden antikommunistischen Kurs ein.924 F.II.3.1.4. KPD Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) war die erste wiederbegründete rheinischwestfälische Partei. Bereits Ende April 1945 reaktivierte sie ihre im Ruhrgebiet und im östlichen Düsseldorfer Regierungsbezirk seit den 1920er Jahren angewachsen Vorkriegsstrukturen und begannen die illegal arbeitenden Funktionäre Gustav-Adolf Prinz, Hans Schiwon und Walter Jarreck, später auch Max Reimann mit dem Wiederaufbau der KPDBezirksleitung Ruhrgebiet-Westfalen;925 formell etabliert wurde diese – freilich ohne öffentlich-rechtliche Genehmigung – am 8. Mai 1945.926 Im Zusammenspiel mit den durch verbliebene Kader noch vor Kriegsende durchgeführten ersten Betriebsratswahlen verschaffte die geheime Organisationsarbeit der KPD in der Nachkriegszeit Startvorteile bei der Gewerkschaftsarbeit und großen Einfluss auf die Arbeiterschaft.927 Der Vorsitzende des Ruhrgebietsbezirks West, Reimann, und der Bezirksleiter Niederrhein, Hugo Paul, wurden hierüber die wichtigsten Figur für die rheinisch-westfälische KPD, deren Mitgliedzahlen innerhalb der Westzonen die mit Abstand höchsten waren.928 Zunächst eher pragmatisch denn ideologisch orientiert, war die KPD in ihrer demokratisch-antifaschistischen und arbeitnehmerorientierten Zielsetzung zunächst keineswegs radikaler als andere Parteien. Sie sah freien Handel, Privateigentum und Unternehmertum als Mittel zur Beseitigung sozialer Nöte, forderte die Vergesellschaftung der für das Allgemeinwohl wichtigen Großunternehmen und den Ausbau innerbetrieblicher Mitbestimmung.929 Ihre allmähliche Distanzierung von diesem Nachkriegskonsens markierten die 922 923 924 925 926 927 928
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Vgl. ebd., S. 639, sowie Liffers, Rolf: Der „Bergheimer Kreis“. Ein lokaler Weg zur Volkspartei, Unna 1983. Vgl. Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 108. Vgl. Flechtheim, Dokumente zur parteipolitischen Entwicklung, Bd. 3,2, Berlin 1963, S. 4-8. Vgl. Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 113f. Vgl. Lademacher, Die nördlichen Rheinlande, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 816. Vgl. Teppe, Zwischen Besatzungsregiment und politischer Neuordnung, in: Kohl, Westfälische Geschichte 2, S. 301 sowie Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 113. Von 188.000 Mitgliedern in den Westzonen kamen im März 1946 68.000 aus Nordrhein-Westfalen. Bei einem gesamtdeutschen Bevölkerungsanteil von weniger als einem Fünftel waren mehr als ein Drittel der gesamtdeutschen KPD-Mitglieder nordrhein-westfälische Bürger. Vgl. Schmidt/Stöss, Kleinere Parteien in Nordrhein-Westfalen, in: Alemann, Parteien in Nordrhein-Westfalen, S. 174. In einem Programmaufruf vom 11. Juni 1945 sprach sich die Partei für die „Aufrichtung eines antifaschistischen, demokratischen Regimes, einer parlamentarisch-demokratischen Republik“, die „Wiederaufrichtung der auf demokratischer Grundlage beruhenden Selbstverwaltungsorgane in den Gemeinden, Kreisen und Bezirken sowie der Provinzialbzw. Landesverwaltungen und der entsprechenden Landtage“, die „völlig ungehinderte Entfaltung des freien Handels und
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Beschlüsse einer am 27./28. April 1948 in Herne stattfindenden Delegiertenkonferenz, die anstelle einer parlamentarisch-demokratischen Republik eine demokratische Ordnung nach sowjetischem Vorbild und eine sozialistische Gesellschaftsordnung als Ziele ausgaben. Die Partei sah sich zunehmend als einzige legitime Vertreterin der Arbeiterklasse und richtete sich allmählich straff auf die Vorgaben der UdSSR aus,930 während die britischen Besatzer die KPD infolgedessen als wachsende Gefahr für die öffentliche Ordnung wahrnahmen, einzelne Funktionäre verhafteten und ihre Publikationen einschränkten. F.II.3.1.5. FDP Charakteristikum des Liberalismus im historischen NRW war seine protestantischnationalliberale Grundfärbung, die sowohl das Wirtschaftsbürgertum als auch Arbeiter ansprach. Sein parteilicher Neuaufbau erfolgte aus einer Vielzahl lokaler Zirkel, aus deren Spektrum im Rheinland die durch den Verleger Friedrich Middelhauve begründete, nationalliberale Opladener Deutsche Aufbau-Partei, die durch Franz Blücher geführte, wirtschaftsliberale Essener Liberal-Demokratische Partei und die um die Unternehmer Wilhelm Hermes und Hermann Tiggeler gebildete Mönchengladbacher Sozial-Liberale Partei herausstachen. Diese divergenten Organisationen schlossen sich am 4. Dezember 1945 zum Landesverband Nordrheinprovinz der Demokratischen Partei Deutschlands zusammen und wählten Middelhauve zu ihrem Vorsitzenden; der gemeinsame Nenner der Gruppierungen war die Befürwortung der Marktwirtschaft, doch oszillierte diese zwischen den Polen der freien Unternehmerinitiative und der Eigentumsbildung der Arbeiterschaft.931 In Westfalen waren eine Hagener Gruppierung um den Fabrikanten Gustav Altenhain und den Anwalt Wilhelm Weyer, eine nationalliberale Dortmunder Organisation um das ehemalige DDP-Mitglied Erich Unselm und den Kaufmann Clemens Bender sowie eine in Münster durch den Kauffmann Herbert Friederich ins Leben gerufene berufsständische Vereinigung die wichtigsten Gründungskreise,932 aus deren Zusammenschluss am 9. November 1945 die Liberal-Demokratische Partei, Landesverband Westfalen mit dem Vorsitzenden Altenhain hervorging. In diesem ging nach dem Anschluss Lippes die durch den Unternehmer Heinz Krekeler und den Zeitungsverleger Max Staercke am 6. September 1946 etablierte Landesgruppe Lippe auf. Der westfälische Landesverband war mittelständischer orientiert als der rheinische und bekannte sich deutlicher zu einer freien Wirtschaftsordnung; Gewerkschaften wurden zwar anerkannt und die Zusammenballung wirtschaftlicher
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der privaten Unternehmerinitiative auf der Grundlage des Privateigentums“, „freie demokratische Wahlen der Betriebsvertretungen“, aber auch die „Übergabe aller jener Betriebe, die lebenswichtigen öffentlichen Bedürfnissen dienen.“ Vgl. den Aufruf des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Deutschlands vom 11. Juni 1945, in: Flechtheim, Dokumente zur parteipolitischen Entwicklung, Bd. 3,2, S. 313-318. Während sozialistische Parteien Demokratie und Sozialismus zumeist wesensnah auffassten, war der Verweis auf eine parlamentarische Republik doch eine deutliche Nähe zur später bekämpften bürgerlichen Demokratie. Sie warf der SPD vor, in ihr hätten rechte, bürgerliche Kräfte das Kommando übernommen. Vgl. die Entschließung der Herner Konferenz der KPD, in: Neues Deutschland (29.4.1948), zitiert nach Judick, Günter/Schleifstein, Josef/Steinhaus, Kurt (Hrsg.): KPD 1945-1956. Dokumente, Bd. 1: 1945-1952, Neuss 1989, S. 205f. Vgl. Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 129. Vgl. Teppe, Zwischen Besatzungsregiment und politischer Neuordnung, in: Kohl, Westfälische Geschichte 2, S. 302f.
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Macht abgelehnt, ohne allerdings die Zielrichtung einer freien Marktwirtschaft aufzugeben.933 Die auf Provinzebene operierenden Verbände schlossen sich am 27. Mai 1947 zum FDP-Landesverband Nordrhein-Westfalen zusammen und wählten Friedrich Middelhauve an ihre Spitze. Innerhalb des politischen Nachkriegskonsenses drehten sich auch dessen Programmdebatten zunächst um die Frage, inwieweit liberale Wirtschaftsprinzipien durch Sozialisierungs- und Lenkungsmaßnahmen ergänzt werden sollten. Die FDP plädierte zwar ausdrücklich für ein freies Unternehmertum und die Sicherung des Privateigentums, argumentierte aber auch für die Verstaatlichung der wichtigsten Grundstoffindustrien, den Ausbau der betrieblichen Mitbestimmung und der sozialen Sicherungssysteme.934 Unter dem Einfluss einer Gruppe mittlerer Unternehmer um den Kölner Fabrikanten Hans Albrecht Freiherr von Rechenberg formulierte der nordrhein-westfälische Landesverband schließlich am 15. April 1947 eigene Wirtschaftspolitische Richtlinien, die soziale Ansprüche der Arbeitnehmer zwar anerkannten, innerbetriebliche Mitsprache, einen Lastenausgleich und Sozialisierungen jedoch weitgehend ablehnten.935 Der Landesverband positionierte sich allmählich wieder in der Tradition des nationalliberalen Erbes, betonte primär wirtschaftsliberale Positionen und trat je länger je mehr für die nationale, zentralistische Stärkung Deutschlands ein. F.II.3.2. Landesregierung und Landtag Auf dem Weg zur Wiedererrichtung deutscher Staatlichkeit offerierten die britischen Besatzungsbehörden dem parteilosen ehemaligen Zentrumspolitiker Rudolf Amelunxen am 24. Juli 1946 das Ministerpräsidentenamt und beauftragten ihn mit der Bildung einer Landesregierung. Obwohl selbst ein Gegner des Zusammenschlusses von Rheinland und Westfalen, spielte neben seiner Verwaltungserfahrung – Amelunxen war zwischen 1919 und 1923 im preußischen Wohlfahrtsministerium, bis 1926 im preußischen Staatsministerium und sodann bis 1932 als Regierungspräsident in Münster tätig – und seiner unbelasteten, christlich-sozialen Grundposition seine westfälische Herkunft die ausschlaggebende Rolle für die Wahl; den vornehmlich in Westfalen beheimateten Gegnern der Landesgründung sollte symbolisch entgegengekommen und die Integration in das neue Land erleichtert werden.936 Ein Memorandum des britischen Landesbeauftragten William Asbury legte Kompetenzen und Mechanismen fest, die Amelunxen neben konfessionellen und regionalen Proporzmustern bei der Kabinettsbildung zu berücksichtigen hatte, um das heterogene Land und seine Regierung zu legitimieren.937 Nordrhein-Westfalen erhielt als
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Vgl. Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 131. Vgl. Lehmann, Marshall-Plan, S. 333. Vgl. ebd., S. 326. Vgl. Teppe, Zwischen Besatzungsregiment und politischer Neuordnung, in: Kohl, Westfälische Geschichte 2, S. 322f. Festgelegt wurde in dem Memorandum vom 1.8.1946 ein Schlüssel für die Vertretung der Parteien (CDU 3, SPD 3, Zentrum 2, KPD 2, FDP 1); hier orientierte sich Asbury zum einen an Vorkriegserfolgen, setzte aber auch eigene Vorstellungen durch, da die SPD von der britischen Labourregierung stärker berücksichtigt wurde, als dies ihrer Position in Rheinland-Westfalen entsprochen hatte), die Regierung sollte aus Vertretern beider Provinzen zusammengesetzt werden und innerhalb des von Asbury gegebenen Rahmens und seiner Aufsicht arbeiten. Karl Arnold sollte stellvertretender Ministerpräsident werden. Festgelegt
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Symbol seiner Zusammengehörigkeit am 30. August 1946 erstmals eine gemeinsame, ernannte Exekutive, die die Befugnisse der am 30. September aufgelösten Oberpräsidien übernahm und der – bis auf die CDU – sämtliche Parteien angehörten.938 Ihr zur Seite stand ein aus jeweils 100 Vertretern Nordrheins und Westfalens zusammengesetzter, anhand der Provinzialwahlergebnisse von 1932 gebildeter Ernannter Rat, der seine konstituierende Sitzung am 2. Oktober 1946 in der Düsseldorfer Oper abhielt.939 Aus der ersten freien Landtagswahl ging am 21. April 1947 die CDU als Wahlsiegerin hervor. Innerhalb ihrer Landtagsfraktion entbrannte im Anschluss eine Auseinandersetzung um die Besetzung des Ministerpräsidentenamtes zwischen dem Sozialflügel um Karl Arnold und dem Wirtschaftsflügel um Konrad Adenauer, aus der am 17. Juli der auch für andere Fraktionen wählbare, ehemalige christliche Gewerkschaftssekretär Arnold als Sieger hervorging und als erster gewählter Ministerpräsident eine Koalition mit SPD, Zentrum und KPD bildete.940 Die Entscheidung entsprach landschaftlichen Traditionen und unterstrich die Sozialorientierung der CDU, wie sie auch in der Wahl Josef Gockelns, des
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wurden auch die einzelnen Ministerien. Vgl. das Memorandum Asburys bei: Köhler, Das Land aus dem Schmelztiegel, S. 210-213. Vgl. Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 232. In der Regierung waren neben SPD-, FDP-, Zentrumsund KPD-Mitgliedern auch parteilose Minister vertreten. Im Streit um das Amt des Innenministers, in das Amelunxen seinen ehemaligen westfälischen Generalreferenten für Innere und Allgemeine Verwaltung, Walter Menzel (SPD) berief, das aber nach britischen Vorstellungen dem CDU-Politiker Karl Arnold übertragen werden sollte, zog sich die CDU aus dem ersten ernannten nordrhein-westfälischen Kabinett vom 30. August 1946 zurück. Neben der fehlenden Einigungsbereitschaft der Parteien auf einen allseitig akzeptierten Innenminister spielten machtpolitische Gründe eine Rolle für den Rückzug der Partei. Konrad Adenauer, der Vorsitzende der rheinischen CDU, verzögerte die Regierungsbildung, da er sich von einer freien Wahl eine bessere Position seiner CDU versprach und trat erst im nach den für die CDU erfolgreichen Kommunalwahlen vom September und Oktober 1946 in die neue Allparteienregierung ein. Die SPD erhielt 71, die CDU 66, die KPD 34, das Zentrum 18 und die FDP 9 Mandate zugesprochen; hinzu kamen zwei unabhängige Abgeordnete. Auf die Landesteile verteilt erhielt die CDU in Nordrhein 36, in Westfalen 31 Abgeordnete zugewiesen, die SPD in beiden Landesteilen 36, das Zentrum in Nordrhein 8, in Westfalen 10, die KPD in Nordrhein 24, in Westfalen 20, die FDP in Nordrhein 5 und in Westfalen 4. Neben SPD und KPD waren 24 Abgeordnete der CDU-Fraktion dem Arbeitnehmerflügel zuzurechnen; auch nach der ersten Wahl gehörten diesem 36 von 92 CDU-lern an. Vgl. Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 248f., 251. Diese Verteilung folgte zwar alten Ergebnissen, ließ aber die anders gelagerte Parteienstruktur Weimars und aktuelle Mitgliederzahlen außer Acht; teilweise lagen ihr, wie am Beispiel der CDU, nur Schätzungen zugrunde. Auszugehen ist von bewusster Förderung oder Benachteiligung der Parteien nach den Präferenzen der linksgerichteten britischen Labourregierung. Fragwürdig erscheint mit Blick auf die konfessionellen Strukturen, warum CDU und SPD im Rheinland gleichauf lagen, die CDU in Westfalen aber fünf Abgeordnete weniger als die SPD entsenden durfte. Die rheinische CDU konnte mit Verweis auf die Benachteiligung die größere Vertretung rheinischer Vertreter in Spitzenpositionen des Landtags rechtfertigen. Arnold war als Kartellsekretär der christlichen Gewerkschaften 1924 nach Düsseldorf gekommen und Mitbegründer sowohl der CDU als auch der Gewerkschaften. In seiner Regierungserklärung vom 17.7.1947 erklärte Arnold, „für die Neuordnung der Grundstoffindustrie scheiden sowohl das System der bisherigen großkapitalistischen Wirtschaftsweise wie auch eine einseitige bürokratische Staatswirtschaft aus. Ziel muss vielmehr eine echte Gemeinwirtschaft sein.“ Er sprach sich für die aus Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu bildenden Wirtschaftskammern aus, um die wirtschaftliche Selbstverwaltung und Demokratisierung zu fördern. Dass Arnold in der Gesellschaft als sozial- und arbeitnehmerorientierter Politiker angesehen wurde, zeigten auch die Einlassungen des DGBs anlässlich der Auseinandersetzungen um die Ministerpräsidentenwahl 1950, in der die Gewerkschaft Arnolds Verantwortung für die friedliche Entwicklung des Landes betonte. Vgl. Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 487f.
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langjährigen Sekretärs der Katholischen Arbeiterbewegung, zum Landtagspräsidenten zum Ausdruck kam. Die britische Verordnung Nr. 57 vom 1. Dezember 1946 regelte schließlich die Befugnisse der Regierungen und der gesetzgebenden Körperschaften in der britischen Zone und verlieh dem Landtag – bis auf festgelegte Vorbehalte – das Gesetzgebungsrecht; Artikel 3 der Verordnung beließ Asbury jedoch die Letztentscheidung über sämtliche Gesetze. F.II.3.3. Wahlrecht Sowohl gegenüber der Militärregierung als auch der Bevölkerung waren Ansehen, Souveränität und Legitimität der öffentlichen Organe solange schwach, wie sie keinem demokratischen Auswahlprozess, sondern britischer Ernennung entsprangen; die Ausarbeitung rechtlicher Regelungen und Wahlmechanismen war insofern von hoher Priorität, um die Akzeptanz der politischen Nachkriegsordnung zu erhöhen, ihre konkrete Ausgestaltung von überragender Bedeutung für künftige Regierungsbildungen. Dem eigenen Vorbild folgend, präferierte die britische Zivilregierung ein System weniger großer Parteien und klarer Mehrheiten, um eine Zersplitterung und Destabilisierung des Parteienwesens wie in Weimarer Zeit zu verhindern,941 während auf deutscher Seite die Befürworter eines Verhältniswahlrechts überwogen. Als Kompromiss wurde für die erste Kommunalwahl 1946 ein modifiziertes Mehrheitswahlrecht eingeführt, in dem 75% der Mandate durch direkte Mehrheitswahl und 25% über eine Reserveliste für die im Verhältnis berücksichtigten Parteien vergeben wurden.942 Von diesem Wahlrecht profitierte vor allem die CDU,943 ihr Wahlsieg verschaffte ihr – er verstärkte als Referenzgröße ihr Gewicht bei der Besetzung öffentlicher Gremien – einen maßgeblichen Einfluss auf die Ausarbeitung des politischen Systems und bei der Durchsetzung eigener Vorstellungen. Zur Vorbereitung von Landtagswahlen erging am 9. November 1946 die Aufforderung an die Landesregierung, ein Landeswahlgesetz innerhalb bestimmter Vorgaben zu verabschieden;944 Versuche, den britisch gesetzten Rahmen zu ändern, wehrte der Landesbeauftragte Asbury kategorisch ab, so dass der Landtag eine Regelung verabschiedete, die einzig Aussicht auf Genehmigung hatte: Innerhalb eines personalisierten Verhältniswahlrechts sollten 60% der Abgeordneten mit relativer Mehrheit in einem der 150 Wahlkreise direkt, 40% nach Abzug der Direktmandate über eine Reserveliste gewählt werden. Die für einen Kandidaten abgegebene Stimme wurde zugleich seiner Partei zugerechnet und die restlichen Mandate entsprechend dem Stimmenverhältnis unter den Parteien aufgeteilt; eingeführt wurde zudem eine 5%-Klausel, um eine Zersplitterung des Plenums zu verhindern. Das fortan geltende Wahlrecht begünstigte große Parteien mit regionalen Hochburgen,
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Vgl. ebd., S. 142. Vgl. Pietsch, Hartmut: Der Neubeginn städtischer Verwaltung im rheinisch-westfälischen Industriegebiet 1945-1948, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 3, S. 199-213, hier: S. 207 Während die SPD als zweitstärkste Partei deutlich weniger Mandate gewann, als ihr prozentual zustanden, war die CDU deutlich bevorteilt: Beispielsweise errang die CDU in Mönchengladbach bei knapp 107.000 Stimmen 33 Mandate, wo die SPD hier bei knapp 46.000 Stimmen lediglich drei Mandate gewann. Vgl. Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 260. Gewählt werden sollten in den Wahlkreisen Einzelkandidaten anstatt Parteilisten; 60% der Abgeordnetenmandate waren direkt, 40% über eine Reserveliste zu besetzen Vgl. Lange, Erhard: Vom Wahlrechtsstreit zur Regierungskrise. Die Wahlrechtsentwicklung Nordrhein-Westfalens bis 1956, Köln 1980, S. 54f.
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deren Kandidaten in den Wahlkreisen reüssierten, während das fehlende Stimmensplitting kleinen Gruppierungen den Aufstieg erschwerte. F.II.3.4. Verfassung Als fundamentale Basis politischer Systeme spiegeln Verfassungen in den in ihnen zugrundegelegten Regelungen Ordnungs- und Wertevorstellungen, auf die sich ein Gemeinwesen unter Rückbezug auf landschaftliche Grundprägungen, seinen Entstehungskontext und gesellschaftliche Machtverhältnisse geeinigt hat; sie geben Auskunft über den Habitus und die Verfassung, in der sich ein Volk befindet.945 Als formelle Dokumente staatlicher Selbständigkeit können Konstitutionen für den ihnen unterworfenen, abgrenzbaren Personenkreis ein Integrationsfaktor sein, da sie über sämtliche Binnenklüftungen ein gemeinsames, alltagsstrukturierendes Dach spannen. In dem neu geschaffenen Land NordrheinWestfalen bestand hingegen nur ein geringes Interesse an den Verfassungsberatungen, da die emotionale Nähe zu diesem Staatsgebilde fehlte und der größte Bevölkerungsteil mit anderen Sorgen als der Teilhabe an diesem Prozess beschäftigt waren; zudem galt das Land vielen nur als Provisorium ohne langen Bestand.946 Die Landespolitiker waren bis auf die britischen Forderungen, allgemeine Menschenrechte und die Demokratisierung festzuschreiben, weitgehend frei in der Ausarbeitung des Verfassungsdokuments.947 Als Ausgangspunkt wählte der Landtag am 20. Mai 1947 einen 14-köpfigen Verfassungsausschuss – die CDU entsandte 6, die SPD 4, die KPD 2 Mitglieder, FDP und Zentrum jeweils einen Abgeordneten –, der sich insbesondere in den umstrittensten Fragen – Schul- und Religionsartikel sowie die künftige Wirtschaftsordnung – je nach Sachfrage in unterschiedlich zusammengesetzte Parteilager spaltete.948 Nach Aufschiebung der Beratungen während der Ausarbeitung des Grundgesetzes legte die Landesregierung am 29. November 1949 einen auf den Ausarbeitungen Karl Arnolds (CDU) und seines Innenministers Walter Menzel (SPD) beruhenden, unter Einfluss der Grundsätzlichen Darlegungen und Forderungen zur Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen der Erzbischöfe von 945
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Vgl. Düwell, Kurt: Von der Landschaft ins Landesbewusstsein. Geistige und räumliche Bedingungen von Integration und Heimatfindung in Nordrhein-Westfalen (1945-2010), in: Brautmeier et. al., Heimat Nordrhein-Westfalen., S. 27-56, hier: S. 27. Vgl. selbst noch den Stenographischen Bericht der Landtagssitzung vom 27. Februar 1951, in der der spätere Ministerpräsident Fritz Steinhoff betonte, „dass diese zufälligen Länder, deren Grenzen nicht auf unsere Entscheidungen zurückzuführen sind, keinen ewigen Bestand habe können“, einsehbar unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMP02-15.pdf (15.1.2011), S. 458. Vgl. Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 444, 449. Der britische Wille, eigene Grundrechte in die Verfassung aufzunehmen, sollte die Eigenständigkeit der Länder betonen, wurde aber in den Behandlungen mit dem Verweis auf das Grundgesetz verworfen. Die Landesverfassung verzichtete letztlich auf Überschneidungen mit dem Grundgesetz, da dessen Grundrechte als deutsche Staatsbürger und vermittelt über Artikel 4 der Landesverfassung auch für die Landesbürger Geltung besaßen; geregelt wurden einzig Bereiche, die in den Zuständigkeitsbereich des Landes fielen. Die Grundrechte sind als Mindeststandard zu sehen, über die die Landesverfassung hinaus Rechte zusichern kann. Die Aufnahme sozialer Grundrechte in den Artikeln 8 oder 24 ist als solche Möglichkeit zu sehen Während SPD, KPD und FDP Gemeinschaftsschulen forderten, sprachen sich CDU und Zentrum für Bekenntnisschulen aus; in Wirtschaftsfragen sprachen sich SPD, KPD, Zentrum und der Sozialflügel der CDU für die Enteignung der Grundstoffindustrien aus, während der Wirtschaftsflügel der CDU und die FDP für private Unternehmensformen eintraten. Vgl. Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 450 und passim.
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Köln und Paderborn sowie des Bischofs von Aachen949 formulierten ersten Verfassungsentwurf vor, der in eine Mehrheits- und eine Minderheitsvorlage unterteilt war und die entgegengesetzten Positionen innerhalb des Kabinetts verdeutlichte. Während sich in den weiteren Diskussionen in Fragen der Wirtschaftsordnung schließlich eine durch SPD, KDP, Zentrum und linkem CDU-Flügel getragene Lösung durchsetzte, blieb die Schulfrage ungeklärt und wurde erst durch eine Kampfabstimmung im Landtagsplenum zugunsten der CDU- und Zentrumspositionen entschieden.950 Am 5./6. Juni 1950 stimmte der Landtag mit den 110 Stimmen von CDU und Zentrum für den fertiggestellten Verfassungsentwurf, die 97 Abgeordneten von SPD, KPD und FDP lehnten ihn aufgrund der Schulartikel ab. Während sich vor allem katholische Institutionen aufgrund der Berücksichtigung christlicher Traditionen und des Elternrechts in der (Schul-)Erziehung für die Annahme aussprachen, lehnten Arbeiterverbände sie aufgrund ihrer weitergehenden, nichterfüllten Sozialisierungswünsche ab. Innerhalb dieser Gemengelage, der Uneinigkeit in Politik und Gesellschaft stimmten bei der für den 18. Juni 1950 anberaumten Volksabstimmung – bei 496.555 ungültigen Stimmen – 3.627.054 Bürger für und 2.240.674 gegen das Dokument.951 Da nur 66% der Abstimmungsberechtigten an der Volksabstimmung teilnahmen, das Ergebnis keineswegs eine fundamentale Zustimmung spiegelte und viele Abstimmungszettel ungültig waren, kam in den Zahlen eine auf landschaftlichen Traditionen aufbauende Polarisierung Nordrhein-Westfalens, aber auch die relative Bedeutungslosigkeit zum Tragen, die dem Land und seiner Verfassung beigemes949
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Diese betonten christliche Erziehungsziele, Elternrecht und die Notwendigkeit von Bekenntnisschulen. Vgl. Dästner, Christian: Die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen. Kommentar, 2. Aufl., Stuttgart 2002, S. 16. In Fragen der Sozialisierung setzten sich SPD, KPD, Zentrum und linker CDU-Flügel durch. Großbetriebe der Grundstoffindustrie sollten in Gemeineigentum überführt werden und Unternehmen mit großer wirtschaftlicher Macht verboten werden. Die Sozialisierungsgegner setzten auf die Bundesebene, die wirtschaftsliberalere Konzeptionen durchzusetzen versprach. Die Aussagen zur Wirtschafts- und Sozialordnung in den Artikeln 24 und 26 besitzen aufgrund der beim Bund angesiedelten Kompetenzen nur programmatischen und aus der Zeit zu verstehenden Wert. Der Arbeitnehmer und sein Mitspracherecht sollen im Mittelpunkt des Interesses und einer machtfixierten Unternehmenspolitik gegenübergestellt werden. Die einvernehmliche Konfliktlösung und Sozialorientierung des Wirtschaftens sind aus der geschichtlichen Landschaftsentwicklung abzuleitende Werte, die in der in NRW bedeutend gewordenen Montanmitbestimmung durchgesetzt wurde. Die Unvereinbarkeit der weltanschaulichen Positionen in der Schulfrage erschwerte Kompromissbildungen, der Einfluss des Bildungswesens auf die künftige Gesellschaftsstruktur machte die Thematik so bedeutsam. Umstritten waren vor allem die Ehrfurcht vor Gott als Erziehungsziel und das Elternrecht bei der Einrichtung lokaler Schulen, das bei den Konfessionsstrukturen die Einführung von Konfessionsschulen bedeutet hätte. Der katholische Charakter Nordrhein-Westfalens und die damit verbundene Dominanz der CDU und des Zentrums konnte entweder tradiert oder aufgebrochen werden, weshalb über die Schulfrage hinaus auch eine starke politische Komponente in die Auseinandersetzung hineinspielte. In Artikel 6 wurden den Kirchen die Mitwirkung an der Jugend- und Familienpflege garantiert, Ehrfurcht vor Gott in Artikel 7 als Erziehungsziel genannt, Artikel 12 gab den Eltern die Möglichkeit, auf Antrag Bekenntnisschulen einzurichten, was den gegnerischen Parteien aufgrund der Konfessionsverhältnisse für ein Einfalltor für die religiöse Prägung der Kinder sahen; mit Blick auf historische Wahlmuster schienen die zugunsten christlicher Parteien existierenden Traditionen auch in Nordrhein-Westfalen für die Zukunft festgefügt. Erst die Neufassung des Artikels 12 im Jahre 1968 beendete die Auseinandersetzung um die Einrichtung von Bekenntnisschulen. Der eingeführte Verweis auf die Notwendigkeit eines geordneten Schulbetriebs erschwerte die Möglichkeit, auf Elterninitiative Bekenntnis- und oftmals Zwergschulen einzurichten. Vgl. Dästner, Christian: Die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, S. 17.
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sen wurden. Bereits die Weichenstellungen für den Neuaufbau des gemeinsamen Landes – in denen die Relevanz, die dem Konfessionsfaktor über die Epochenschwelle 1945 für Denk- und Handlungshorizonte weiterhin zukam, deutlich wurde – exkludierten einen großen Bevölkerungsteil und waren kaum geeignet, die Integration eines ohnehin nur schwach legitimierten Gemeinwesens zu befördern.
F.II.4. Staatsadministration und landschaftliche Selbstverwaltung Der Aufbau der nordrhein-westfälischen Verwaltungsstrukturen folgte den auf britischer wie auf deutscher Seite geteilten Leitzielen der Demokratisierung, der Integration der Landesteile und der effektiven Aufgabenerledigung, blieben im Detail jedoch umstritten: Schwebten der Militärregierung eine dezentralisierte, nach eigenem Governance-Vorbild strukturierte Administrativorganisation sowie eine weitgehende Kommunalisierung der Verwaltungsaufgaben vor, um autoritäre Machtballungen zu verhindern,952 erstrebten die rheinisch-westfälischen Oberpräsidenten Lehr und Amelunxen einen hierarchischen Behördenaufbau mit Weisungsrechten. Die Etablierung gemeinsamer, in Düsseldorf zentralisierter Landesoberbehörden – deren Strukturen und Aufgabengebiete der britische Landesbeauftragte Asbury weitgehend festlegte und voneinander abgrenzte –953 erfolgte durch die Zusammenführung der Behördenapparate der am 30. September 1946 aufgelösten Oberpräsidien und ihrer Generalreferate. Die darunter wiedererrichteten staatlichen Mittelinstanzen orientierten sich in ihrem Zuschnitt an dem Vorbild der preußischen Regierungsbezirke: Untergliederte sich das Rheinland erneut in die Einheiten Aachen, Düsseldorf und Köln, wiederbelebten die Besatzer in Westfalen die Regierungspräsidien Arnsberg, Münster und Minden; letzteres ging infolge der Angliederung Lippes in dem neugeschaffenen Bezirk Detmold auf. Das Ruhrgebiet blieb auf die drei Verwaltungsbezirke Arnsberg, Düsseldorf und Münster aufgeteilt, während die Landkreise Detmold und Lemgo das Land Lippe-Detmold beerbten.954 Auf unterer Staatsebene erfolgte sowohl in britischem wie in rheinisch-westfälischem Interessen eine weitgehende Dezentralisierung: Der Landtag beschloss die Eingliederung kriegsbedingter Sonderbehörden und nachgeordneter Ämter in die restaurierten Stadtund Landkreise; das Land sollte einzig für lebenswichtige Aufgaben zuständig, die Regierungsbezirke auf Aufsichts- und Lenkungsfunktion beschränkt sein.955 Das Landesplanungs-
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Die Demokratisierung Deutschlands sollte aus der lokalen bürgerlichen Selbstverwaltung heraus gefördert werden; Leitbild war ein aus der Gesellschaft hervorgehender und mit dieser verbundener anstelle eines übergeordnet-dichotomischen Staates. Vgl. Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 186f. Demnach sollten zehn Ministerien gebildet werden: Inneres, Finanzen, Justiz, Kultus, Wirtschaft, Verkehr, Ernährung und Landwirtschaft, Arbeit, Wiederaufbau, Gesundheit und öffentliche Wohlfahrt. Vgl. zu den Vorgaben ebd., S. 267. Die dies verdeutlichende Grafik auf der folgenden Seite ist entnommen: Grundlagen der Landesplanung Nordrhein-Westfalen. Schriftenreihe des Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen - Landesplanungsbehörde, Düsseldorf 1947, Kartenteil, S. 3. Durch das Gesetz über die Eingliederung staatlicher Sonderbehörden der Kreisstufe in die Kreis- und Stadtverwaltungen vom 30.4.1948 wurden Katasterämter, Gesundheitsämter, Veterinärämter, Besatzungsämter, Regierungskassen und Ernährungsämter als Dienststellen in die Kreise integriert. Vgl. Romeyk, Horst: „Und sie bewegt sich doch“: Verwaltungsgeschichte Nordrhein-Westfalens zwischen Beharrung und Wandel, in:
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gesetz vom 11. März 1950 übertrug die Aufstellung der Raumordnungspläne auf die Landesplanungsgemeinschaften Rheinland, Westfalen und Ruhrkohlenbezirk und schwächte hierüber den Zentralstaat zugunsten seiner Subeinheiten. Der Dreiklang aus kommunalisierter Verwaltung, regionalisierter Landesplanung und übergeordneten Bundeskompetenzen schmälerte die eigenständigen Spielräume der zentralen Landesbehörden und minderten ihre legitimierende Profilierung gegenüber der Bevölkerung; die Wiedererrichtung hergebrachter Administrativstrukturen erhielt mentale Horizonte, anstatt alte Strukturgrenzen innerhalb einer funktionalen Neuordnung zu überspringen. Die rechtlich-formelle Vereinigung der Teillandschaften in NRW berücksichtigte gewachsene Traditionen und Eigenheiten, um die Akzeptanz des Landes mittels des Festhaltens an gewachsenen Raumorientierungen zu erhöhen, bestätigte aber auch den Bindestrichcharakter NordrheinWestfalens.
F.II.4.1. Land, Landesteile und Landschaften Die Integration der Landesteile und die Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft waren zentrale Fragen der Landesgründungszeit, die zwischen den Polen oszillierten, dem Land auf der einen Seite ausreichendes Gestaltungspotential zu geben, auf der anderen Seite aber auch landschaftliche Identitäten berücksichtigen zu wollen. Zentrales Grundthema der Diskussionen war, ob ein Land der Größe NordrheinWestfalens die zweizügige preußische Mittelinstanz – staatliches Oberpräsidium und kommunal getragener Provinzialverband – beibehalten sollte. Argumentierte die eine Fraktion, die teilraumorientierte provinziale Selbstverwaltung erschwere das Zusammenwachsen der Landesteile, führte die andere ins Feld, gerade weitgehende Selbstverwaltungsrechte erhöhten die Landesfreudigkeit und stärkten das Land indirekt.956 Unabhängig hiervon waren die Restitutionsbedingungen der Verbände ohnehin uneinheitlich: Der rheinische Provinzialverwaltung war 1945 aufgelöst und in das Oberpräsidi-
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Grunow, Dieter (Hrsg.): Verwaltung in Nordrhein-Westfalen. Zwischen Ärmelschoner und EGovernment, Münster 2003, S. 49-72, hier: S. 54. Vgl. Lademacher, Die nördlichen Rheinlande, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 833.
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um integriert worden,957 während die westfälische ihre institutionelle Kontinuität über diese Zäsur wahren konnte;958 vor allem der Widerstand Bernhard Salzmanns gegen die Eingliederungsbemühungen Rudolf Amelunxens hatte diesem die Existenz gesichert. Salzmann – seit den 1920er Jahren in verschiedenen Positionen für den Provinzialverband tätig – übernahm Ende März 1945 dessen Leitung und wurde am 2. Juni 1945 durch die Briten offiziell zum Landeshauptmann ernannt, um mithilfe der vorhandenen Verbandsstrukturen die öffentliche Fürsorge zu gewährleisten; der Provinzialverband war aufgrund seines überlieferten Tätigkeitsspektrums geborener Träger zur Bewältigung der Nachkriegsprobleme, erweiterte dieses um neue Aufgaben wie die Flüchtlingsintegration und rechtfertigte hiermit seine Existenz gegenüber Besatzern und Bevölkerung.959 Innerhalb des Restrukturierungsprozesses ersetzte Salzmann die 1933 aufgelöste Provinzialversammlung durch einen von ihm berufenen Kreis von Kommunalpolitikern, dessen Beschlüsse er einseitig als für sich bindend deklarierte; eine demokratische Legitimierung erhielt das Gremium – das durch das Innenministerium lediglich geduldet wurde –960 erst durch eine Versammlung der Vertreter der westfälischen Stadt- und Landkreise im März 1948, die es formell wählte und bestätigte.961 Grundsätzlich sprachen sich die föderalistisch gesinnten, von der katholischen Subsidiaritätslehre beeinflussten Parteien CDU und Zentrum eher für, die zentralistischer gesinnten Parteien SPD, KDP und FDP gegen weitreichende landschaftliche Selbstverwaltungsrechte aus,962 doch verliefen Meinungsunterschiede eher quer zu den Landesteilen als zur Parteilinie; in sämtlichen Fraktionen stammten die Befürworter ihrer Wiedererrichtung vornehmlich aus Westfalen. Ihre Vorstellungen harmonierten mit dem britischen Konzept 957
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Die Rheinprovinz gehörte bis zum 21. Juni 1945 dem amerikanischen Besatzungsgebiet an, denen die provinzielle Selbstverwaltung in der deutschen Form unbekannt war; die Bemühungen des ersten ernannten Oberpräsidenten Hans Fuchs zum Erhalt des Provinzialverbandes erfuhren eher Widerstand denn Unterstützung, so dass dieser sich mit Landesrat Wilhelm Kitz auf die Integration des Verbandes in das Oberpräsidium einigte. Vgl. zur Bildung der rheinischen Provinzialregierung Hölscher, Quellen zur Entstehungsgeschichte des Landes 5, S. 17-23. Zwar war der Provinziallandtag bereits am 17. Juni 1933 aufgelöst worden und bestimmte das Gesetz über die Erweiterung der Befugnisse des Oberpräsidenten vom 15. Dezember 1933 einen ernannten Staatsbeamten zum Leiter des Provinzialverbandes, garantierte aber gleichzeitig dessen formelle organisatorische Selbständigkeit, da der Landeshauptmann als ständiger Stellvertreter des Oberpräsidenten die selbständige Erledigung der laufenden Geschäfte des Verbandes übernahm. Die landschaftliche Selbstverwaltung erfuhr zwar einen Einschnitt, wurde aber nie komplett aufgelöst. Zwar hatte der Provinzialverband mit der Auflösung Preußens 1947 seine staatsrechtliche Grundlage verloren, konnte sich aber durch persönlichen Einsatz und dem Nachweis seiner Nützlichkeit bei der Bekämpfung der sozialen Nachkriegsprobleme bewähren. Vgl. hierzu auch http://www.verfassungen.de/de/preussen/gesetze/oberpraesidentengesetz 1933.htm (3.11.2010). Vgl. zur Person und ihrer Bedeutung für den Provinzialverband Hartlieb von Wallthor, Alfred: Bernhard Salzmann, in: Westfälische Lebensbilder, 14 Bde., Bd. 14, Münster 1987, S. 209-233. Vgl. Klueting, Harm: Landschaftsverband Westfalen-Lippe und Provinzialverband Westfalen. Geschichtliche Entwicklung und rechtliche Grundlagen. Zu aktuellen Bestrebungen zur Auflösung der Landschaftsverbände in Nordrhein-Westfalen, in: Heimatpflege in Westfalen 12 (1999), S. 1-22, hier: S. 16f. Vgl. Hartlieb von Wallthor, Alfred: Die landschaftliche Selbstverwaltung, in: Kohl, Westfälische Geschichte 2, S. 165-210, hier: S. 203f. Vgl. Walter, Bernd: Die Landschaftsverbände. Partizipation – Repräsentation – Identität, in: Brautmeier, Jürgen/Heinemann, Ulrich (Hrsg.): Mythen – Möglichkeiten – Wirklichkeiten. 60 Jahre NordrheinWestfalen, Essen 2007, S. 61-78, hier. S. 69, 73f. Neben den ideologischen Grundlagen mögen machtpolitische Aspekte eine Rolle gespielt haben, waren die Vorgängerprovinzen doch fest in Zentrumshand gewesen.
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eines demokratisch-dezentralen Wiederaufbaus deutscher Staatlichkeit von unten, fanden aber in Innenminister Menzel einen der maßgeblichen Gegner. Bereits am 16. Dezember 1946 brachte er einen Gesetzesentwurf in das Kabinett ein, der die Auflösung der Provinzialverbände und die Übertragung ihrer Aufgaben auf die Regierungsbezirke sowie die Stadt- und Landkreise vorsah. Neben dem Interesse an der Stärkung der Landeskompetenzen bezeichnete Menzel die Doppelstrukturen als zu kostenintensiv und als Hindernis für die Landesintegration, da sie provinzielle Teilorientierungen tradierten; auch würden zwei derart große Provinzialverbände ein zu großes Gewicht gegenüber dem Land erlangen.963 Wo im Rheinland in erster Linie Kommunalpolitiker wie der Kölner Oberbürgermeister Hermann Pünder für weitreichende Selbstverwaltungsrechte eintraten,964 setzten sich in Westfalen auch Landes- und Bundespolitiker für den Erhalt landschaftlicher Provinzorgane ein; sie einte die Furcht, „mit der Errichtung der Landeshauptstadt in Düsseldorf würde sich das kulturelle, finanzielle und administrative Schwergewicht des Landes allmählich zum Rheinland hin verschieben und somit die westfälischen Gemeinden und Kreise in fortschrittslose Provinzialität verschwinden lassen“965 und der Gedanke, ein Gegengewicht zur Zentralisierung der wichtigsten Landesinstitutionen im Rheinland zu schaffen. Die Forderung nach einem erneuerten Provinzialverband sollte das Westfälische im vermeintlich rheinisch dominierten Bundesland sichtbar machen und artikulierte ein überliefertes Raumbewusstsein sowie eine diffuse, historisch-kulturell überlieferte westfälische Identität. In Absetzung von Eigenstaatskonzeptionen wussten Provinzialverbandsbefürworter wie der Landesrat Helmut Naunin, Salzmann und Karl Zuhorn – trotz ihres „geheimen Wunsch(es) nach einem eigenen Land Westfalen“ –966 um die Unmöglichkeit des Nebeneinanders von Provinzregierung und -verwaltung in einem selbständigen Land Westfalen967 und wähnten den Schutzes landschaftlich-kultureller Eigenheiten einzig innerhalb eines mit dem Rheinland vereinten, durch weitreichende Selbstverwaltungsrechte gekennzeichneten Bundeslandes als verwirklichbar.968 Im Anschluss an den im Oktober 1947 veröffentlichten Entwurf einer nordrhein-westfälischen Landschaftsverbandsordnung der westfälischen Provinzgremien969 brachten westfälische Abgeordnete am 28. Februar 1949 parteiübergreifend den Entwurf einer Provinzialverbandsordnung für das Land Nordrhein-Westfalen in den Landtag ein und 963 964 965 966 967
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Vgl. Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 278f. Vgl. Lademacher, Die nördlichen Rheinlande, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 837. Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 524. So der Münsteraner Oberbürgermeister Karl Zuhorn, zitiert nach: Walter, Die Landschaftsverbände, in: Brautmeier/Heinemann, Mythen – Möglichkeiten – Wirklichkeiten, S. 68. Der westfälische Landeshauptmann Bernhard Salzmann sprach sich in einem Schreiben vom 4. August 1945 an den Abteilungsleiter Finanzen der nordrheinischen Provinzialregierung, Wilhelm Kitz, einzig für die Integration der Provinzialverwaltung in das Oberpräsidium aus, „wenn tatsächlich die Provinzen auch unter Abänderung der Bezeichnung etwa dahin, dass sie fürderhin die Bezeichnung Land Westfalen, Land Rheinland, Land Hannover erhielten…und gar keine Aussicht mehr besteht, dass eine übergeordnete deutsche Regierung zum mindesten für die unter englischer Oberhoheit stehenden Gebietsteile geschaffen wird.“ Vgl. Hölscher, Quellen zur Entstehungsgeschichte des Landes 5, S. 154-155, hier: 154f. Vgl. zum Gedankengang, den Erhalt westfälischer Selbstverwaltung und provinzieller Einheit durch den Zusammenschluss Westfalens mit der Nordrheinprovinz sicherzustellen, den Entwurf eines Rahmengesetzes über die Bildung des Landes Rheinland-Westfalen innerhalb Deutschlands von Karl Zuhorn sowie die Begründung zum Rahmengesetz durch den westfälischen Landesrat Helmut Naunin: Ebd., S. 326-332. Ihre Zielrichtung war, die provinzielle Mitarbeit im neuen Bundesland zu fördern sowie landsmannschaftliche Eigenheiten und Bedürfnisse zu pflegen. Vgl. Naunin, Helmut: Entstehung und Sinn der Landschaftsverbandsordnung in Nordrhein-Westfalen, Münster 1973, S. 17ff.
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betonten die Bedeutung landschaftlicher Selbstverwaltung für Landesteile und Regionen sowie die durch eine dezentrale Landesorganisation beförderte Demokratisierung NRWs.970 Nachdem sich auch der kommunalpolitische Landtagsausschuss für eine solche Zweiteilung aussprach, nahm die Landesregierung diesen Vorschlag auf und entschied sich am 24. Oktober 1949 – in der Hoffnung, regionalen Eigenheiten entgegenzukommen, die Landesfreudigkeit zu heben und das Land bei der seiner Aufgabenerledigung zu entlasten – für die Schaffung eigener Provinzialverbände für Nordrhein und Westfalen. Aus der Sorge um die Landeseinheit und die Schaffung von Konkurrenzparlamenten, die Unterhöhlung der Legitimität der Landesebene und die Förderung von Sonderidentitäten lehnte sie jedoch die Direktwahl der Provinzversammlungen ab, um den Landeszusammenhalt nicht zusätzlich zu schwächen.971 F.II.4.2. Die Landschaftsverbandsordnung von 1953 Die am 6. Mai 1953 beschlossene, am 1. Oktober in Kraft getretene Landschaftsverbandsordnung für das Land Nordrhein-Westfalen knüpfte inhaltlich an die preußischen Provinzialverbände von 1886/87 an und sicherte den Landesteilen hergebrachte Selbstverwaltungsrechte. Sie schuf mit den Landschaftsverbänden öffentlich-rechtliche Körperschaften, die als höhere Kommunalverbände seither indirekt, anhand der Wahlergebnisse zu Kreistagen und kreisfreien Stadträten gebildet werden;972 ihr im sozialen und kulturellen Bereich liegender, restriktiv festgelegter Aufgabenkatalog überantwortet den Verbänden Funktionen, die die Leistungsfähigkeit der zur Mitgliedschaft verpflichteten rheinisch-westfälischen Gebietskörperschaften überfordern.973 Eine zu ihrer Erledigung erhobene Umlage soll die Verbundenheit von Landschaftsverbänden, Kreisen und Kommunen stärken, während ergänzende Landeshaushaltsmittel Land und Landschaft verzahnen, um eine befürchtete Absonderung zu verhindern. Entstehungsbedingungen und Funktionszuschreibungen der Landschaftsverbandsordnung standen in engem Wechselverhältnis. Die Landschaftsverbände Rheinland und West970 971 972
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Vgl. Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 524ff. Vgl. Walter, Die Landschaftsverbände, in: Brautmeier/Heinemann, Mythen – Möglichkeiten – Wirklichkeiten, S. 73, 76. Die Mitglieder der Landschaftsversammlung werden von den Vertretungen der Mitgliedskörperschaften, den Kreistagen und Räten der kreisfreien Städte, gewählt. Aus jeder kreisfreien Stadt und jedem Kreis zieht je 100.000 Einwohner eine Vertreterin bzw. ein Vertreter in die Landschaftsversammlung ein, für jede weiteren 100 000 Einwohner sowie für eine Resteinwohnerzahl von mehr als 50 000 ist je ein weiteres Mitglied zu wählen. Wählbar sind die Mitglieder der Vertretungen sowie die Beamtinnen und Beamten, Angestellten und Arbeiterinnen und Arbeiter sowohl der Mitgliedskörperschaften als auch der kreisangehörigen Gemeinden. Die Parteien sind in der Landschaftsversammlung genauso stark vertreten, wie sie bei den Kommunalwahlen abgeschnitten haben. Zitiert nach Landschaftsverband Westfalen-Lippe: Die Landschaftsversammlung Westfalen-Lippe, einsehbar unter http://www.lwl.org/LWL/Der_LWL/Politik/Landschaftsversammlung (19.8.2010). Im sozialen Bereich sind die Landschaftsverbände überörtliche Träger der Sozialhilfe, überörtliche Träger der Kriegsopferfürsorge und nach dem Schwerbehindertengesetz, nehmen die Aufgaben der Landesjugendämter wahr und sind Träger von Sonderschulen. Daneben übernehmen sie innerhalb der landschaftlichen Kulturpflege die Aufgaben der Denkmalpflege, die Pflege und Förderung der Heimatmuseen und des Archivwesens sowie die Unterhaltung von Landesmuseen und Landesbildstellen. Vgl. hierzu die Landschaftsverbandsordnung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 14. Juli 1994, zuletzt geändert durch Gesetz vom 24. März 2009, einsehbar unter http://www.lwl.org/lwl-download/dateidownload2/Politik/satzungen/1015853904_1/lverbo2009-03-24.pdf (29.7.2010).
F.II. Innere Landesgründung
233
falen-Lippe ergänzten die Bemühungen um die Kommunalisierung und Dezentralisierung des Staatsaufbaus, ihre Beschränkung auf regionale und landschaftliche Aufgaben sowie ihr indirekter Wahlmodus sollten Souveränitätskonflikte und Parallelstrukturen zwischen Land und Landesteilen vermeiden. Die gewachsenen Anforderungen an die Daseinsvorsorge ließen sich effektiver von den Landschaftsverbänden betreiben, die hier ihr historisches Erbe hatten, während die politische Klugheit auf den Schutz landschaftlicher Sonderbedürfnisse und Identitäten als Mittel zur Hebung der Landesfreudigkeit verwies; vor allem das westfälische Eigenbewusstsein sollte aufgefangen und die Akzeptanz NordrheinWestfalens gefördert werden. Die Einrichtung der Landschaftsverbände entlang der historisch gewachsenen rheinisch-westfälischen Strukturgrenze trug durch die Tolerierung überlieferter mental maps zur Landeskonsolidierung bei, behinderte mit den gegeneinander abgegrenzten Kulturaktivitäten beider Institutionen aber auch dessen Integration und festigte binnengerichtete Bindekräfte entlang des Bindestrichs. Für das Ruhrgebiet wahrte der auf Planungsaufgaben beschränkte Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk seine Kontinuität und entbehrte weiterhin deutungskultureller Aktivitäten. Lippe wurde – seine Rolle als Anhängsel kommt bereits im Namen zur Geltung – zwar an den Landschaftsverband Westfalen-Lippe angeschlossen und gewann hierüber an sozialfürsorglicher Kompetenz, während gleichzeitig der bereits am 5. November 1948 begründete, öffentlich-rechtliche und kommunal getragene Landesverband Lippe als Identitätsanker bestehen blieb. Wahrte das Ruhrgebiet seine überlieferte Zersplitterung, so Lippe seine institutionell abgesicherte Kontinuität.
G. Nordrhein-Westfalen seit 1946 Die Vermessung des historischen Nordrhein-Westfalens, das Zutagefördern historischstruktureller Scheidelinien und landschaftlicher Bindungen hat die differenzierten Genesestränge dargelegt, die Rheinland, Westfalen, Ruhrgebiet und Lippe sowie ihre Subregionen geprägt haben; aufgezeigt wurde, wie sich landschaftliche Grundverhalte durch die Geschichte hindurchziehen und das Panorama eines Bundeslandes fundieren, das auch ob seiner inneren Verlandschaftlichung nicht zusammenwächst. Diese Befunde bedürfen der Abrundung durch den Blick auf die eigentliche Landesgeschichte, um zu bestimmen, wie sich diese überlieferten Traditionsbestände noch heute äußern, und welcher Anteil ihnen neben den Entwicklungen nach 1946 an der schwierigen Landesintegration sowie dem fehlenden Landesbewusstsein geschuldet ist; beide Sachverhalte bilden die fünfte Sedimentschicht auf dem Weg der Bestimmung der Landschaftsbewusstseinshorizonte in Nordrhein-Westfalen. Zweifelsohne war Nordrhein-Westfalen 1946 die hierarchisch verfügte Neuschöpfung einer Besatzungsmacht, deren Teilräume zwar durch unterschiedlich tiefe, wechselseitige Beziehungen verwoben waren, der jedoch gewachsene territoriale Traditionen fehlten;974 an dem Land haftete der Ruch des „künstliche(n) Gebilde(es) von britischen Gnaden“,975 dessen staatsrechtliche Vereinigung durchaus, nicht aber die emotionale Verbundenheit der Landschaften angeordnet werden konnte. Geteilte öffentliche Einrichtungen oder spezielle landespolitische Themen verankerten das Bundesland in der Wahrnehmung seiner Bevölkerung, trugen aber eher zu einem kognitiven Wissen um anstatt zu affektiven Bindungen an NRW bei. Einem durchaus existierenden Staatsbewusstsein – das Wissen um die Existenz des Staatsgebildes NRW, um die individualrechtliche Staatsbürgerschaft und die daraus abgeleitete Teilhabe an den Landtagswahlen – fehlt das ergänzende Landesbewusstsein, die emotionale Gebundenheit an das Gemeinwesen; einzig ein Landschaftsbewusstsein existiert im Plural und bezieht sich auf die historisch-tradierten teilräumlichen Orientierungen innerhalb Nordrhein-Westfalens und seiner Landesteile. Das Land, das über Nacht gebildet werden konnte, müht sich seit seiner Gründung an der Identitätsfindung. „In diese Kreation der Besatzungsmacht (gingen A.W.) Dutzende von gegensätzlichen historischen Zutaten“976 ein, ohne sich bislang vermischt zu haben; keine der Länderneugründungen nach dem Zweiten Weltkrieg erscheint derart unverbunden und artifi-
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„Die in ihm ‚künstlich’ zusammengeschlossenen Teilregionen waren und sind einerseits Landschaften von ausgeprägter traditioneller Eigenart, andererseits sind sie seit langer Zeit kulturell und wirtschaftlich eng miteinander verbunden.“ Kost, Andreas: Nordrhein-Westfalen. Vom Land aus der Retorte zum „Wir-Gefühl“, in: Wehling, Hans-Georg (Hrsg.): Die deutschen Länder. Geschichte – Politik - Wirtschaft, 2. Aufl., Opladen 2002, S. 181-194, hier: S. 183. Denzer, Karl Josef: Vier Jahrzehnte Landesverfassung Nordrhein-Westfalen, in: Kontinuität und Wandel. 40 Jahre Landesverfassung Nordrhein-Westfalen, Schriften des Landtags Nordrhein-Westfalen, Bd. 3, Düsseldorf 1990, S. 9-31, hier: S. 26. Kettenbach, Hans Werner: Nichts Halbes und nichts Ganzes, in: Shaheen, Amir (Hrsg.): Hier ziehe ich die Schuhe aus. Geschichten zum 60. Geburtstag von Nordrhein-Westfalen, Weilerswist 2007, S. 23-36, hier: S. 24.
F.II. Innere Landesgründung
235
ziell geblieben zu sein wie die nordrhein-westfälische.977 Wenn regionale Identität und Landschaftsbewusstsein abgeleitete Größen lebensweltlicher Kategorien wie Religion, Herkunft, Sprache, Normen oder Traditionen sind,978 muss sich ein Land wie NordrheinWestfalen mit seiner heterogenen Raumentwicklung schwertun, diese auszubilden. Zwar existier(t)en über die Jahrhunderte vielfältige Verflechtungen der heutigen Landesteile, dennoch „haben die Regionen kulturell kaum etwas miteinander zu tun“;979 geographische Nähe geht mit mentaler Weite einher. Nordrhein-Westfalen entbehrt einer übergreifenden Deutungskultur, die auf angebbaren soziokulturellen Eigenheiten aufsetzte, sie ausdeutete und als Identitätskonstrukt bereitstellte; charakteristisch ist vielmehr eine „pluralistische und pragmatische Deutungskultur in NRW, welche die Vielfalt der Soziokulturen widerspiegelt und weiterhin auch kleinräumige Lebenswelten toleriert.“980 Noch immer besteht eine unsichtbare Grenze zwischen den Landesteilen und ihren Subregionen, die aneinander gewöhnt, sich aber nach wie vor fremd sind und nur – wenngleich an anderer Stelle bereits sein Durchbruch behauptet wird –981 ein schwaches übergreifendes Landesbewusstsein besitzen.982 Bei aller Skepsis gegenüber Umfragen – sie spiegeln eher Tagesmeinungen als tiefliegende, selbstverständliche Befindlichkeiten – und dem größeren Stellenwert, den im Ländervergleich Kommunen, der Nationalstaat oder Europa für Zugehörigkeitsbekundungen genießen,983 sprechen die mehrmals bestätigten Ergebnisse eine deutliche Sprache: NRW spielt für Selbsteinordnungen keine Rolle, kaum einer definiert sich als Nordrhein-Westfale; „das in der Retorte entstandene Bundesland (ist zumindest A.W.) zwiegespalten geblieben“,984 man ist entweder
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Nicht zuletzt die ubiquitäre Abkürzung E(N)-E(R)-(W)e verweist auf die künstlich-distanzierte Akzeptanz, die das Land genießt; auffälligerweise wird keines der anderen Bindestrichbundesländer als RP oder BW bezeichnet. Vgl. Buß, Regionale Identitätsbildung zwischen globaler Dynamik, fortschreitender Europäisierung und regionaler Gegenbewegung., S. 13 . Schmidt, Thomas E.: Schön, sozial und dreckig. Nordrhein-Westfalen – ein Land zwischen Aufbruch und Abbruch, in: Die Zeit (6.5.2010), S. 6-7, hier: S. 6. Vgl. Kost, Vom Land aus der Retorte zum „Wir-Gefühl“, in: Wehling, Die deutschen Länder, S. 184. Die Frage ist, ob es eine unterscheidbare Soziokultur für Bundesländer gibt, die sich in Lebensweise und Werten von der Bundesrepublik, aber auch den in ihm zusammengefassten einzelnen Regionen abhebt. Vielmehr ist anzunehmen, dass Deutungskulturen dort vorhanden sind, wo reale Besonderheiten in der Lebenswelt anzutreffen sind; vornehmlich in den historischen Landschaften existieren geschichtliche Eigenheiten, die in Lebens- und Denkweise bis heute nachwirken und den Grund abgeben für die Vielfalt an Kulturen in NRW. Vgl. Alemann/Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, S. 70. In einer Infratest-Umfrage aus dem Jahr 1982 sahen 29% NRW, aber 52% der Befragten die Region als ihre Heimat an. 1995 berichtete das Institut für Demoskopie, dass sich nur 8% der Bürger dem Land heimatlich verbunden fühlte; in Bayern lag der Wert jedoch bei 33%. Bei einer Umfrage der BertelsmannStiftung äußerten 2008 nur 4% ein subjektives Zugehörigkeitsgefühl zu NRW, womit das Land im bundesdeutschen Vergleich den letzten Rang belegte; zusammen mit Sachsen-Anhalt verzeichnete NRW jedoch mit 29% den Höchstwert bei der Aussage, das eigene Bundesland sei verzichtbar. Vgl. hierzu Heimeier, Katharina: „Wir in Nordrhein-Westfalen“, in: General-Anzeiger (12.6.2006), einsehbar unter http://www.general-anzeiger-bonn.de/index.php?k=&itemid=&detailid=206432 (22.8.2009); Bovermann, Rainer: Landesbewusstsein, in: Landeszentrale für politische Bildung, NRW-Lexikon, S. 159-163, hier: S. 162.; Bertelsmann-Stiftung: Bürger und Föderalismus, ebd., S. 14, 29. Vgl. Bertelsmann-Stiftung: Bürger und Föderalismus, S. 13. Leyendecker, Hans: Rheinischer Leichtsinn und katholische Sauerländer. Die Menschen in NordrheinWestfalen sind von höchst unterschiedlicher Wesensart und daher als Wähler unberechenbar, in: Süddeutsche Zeitung (8./9.5.2010), S. 6.
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G. Nordrhein-Westfalen seit 1946
Rheinländer oder Westfale, Ruhrgebietler oder Lipper, jedoch in erster Linie – auch dies ist kein Novum – den Subregionen verbunden. Nordrhein-Westfalen ist ein Paradefall für die Möglichkeit der Existenz parallelüberlagerter Raumbezüge zwischen Staats- und Landschaftsbewusstsein.985 Landschaftliche Strukturgrenzen reichen vom Alten Reich über die preußischen Provinzen bis in die Gegenwart und beeinflussen nach wie vor die mental maps der Bevölkerung; die regionale Vielfalt ist hergebrachter Grundzug, der dem Land ein Gesicht gibt, ohne dass es selbst ein scharf gezeichnetes besäße. NRW ermangelt einer (politischen) Kernidentität, es ist ein – heterogene Teillandschaften und Sonderidentitäten umfassender – Behälterraum, der als Ganzes sozialrelationaler Bindungen entbehrt. Der Polyzentralismus, das Zulassen regionaler Vielfalt und Eigenheiten wird als Stärke verkauft, ist aber nicht in eine harmonische, die einzelnen Vorzüge bündelnde Gesamtordnung eingebunden; Nordrhein-Westfalen ist das Land der polymorphen Vielfalt, der Subregionen und Partialidentitäten, dem es am Einheitsempfinden gebricht. Ein solches auszubilden bedürfte „das Bewusstsein einer gemeinsamen Vergangenheit, ein Grundkonsens für die Gegenwart (oder A.W.) Vorstellungen für die Gestaltung der Zukunft;“986 aus der Geschichte lässt sich NRW kaum hinreichend begründen, wie auch die Landesentwicklung Gründe liefert, die mitursächlich für das schwierige Zusammenwachsen nach 1946 sind: I. Politisches System, politische Kultur und Parteienwesen umfassen Land, Landesteile und Regionen, verweisen aber stark auf landschaftliche Eigenheiten; sie betonen nicht nur das Verbindende, sondern auch das Trennende. II. Die Landespolitik berücksichtigte seit der Landesgründung regionale Empfindlichkeiten und förderte sie aktiv; staatliche und kommunale Verwaltungsräume sind an historische Grenzen angelehnt und tradieren hergebrachte teilräumliche Orientierungen, anstatt sie zu überwinden. III. Nordrhein-Westfalen fehlt die originäre Erfolgsgeschichte, die es anderen Bundesländern ermöglichte, seine Bürger über sozioökonomische Erfolgsmeldungen an sich zu binden. IV. Künstliche Versuche, das Land von oben zu integrieren, gingen an der Lebenswirklichkeit der Bevölkerung vorbei und boten keine anknüpfungsfähigen Modelle für die mentale Landeserschließung. V. Politische Programme trugen zur Regionalisierung des Lebens, Denkens und Handelns bei und unterstützten zentrifugale Tendenzen; im Interesse, das Land indirekt zu stärken, wurde sein innerer Zusammenhalt gelockert. VI. Die gesellschaftliche Selbstorganisation erfolgt entlang überlieferter Landschaftsgrenzen. In den Raumstrukturen NRWs kommen jene relationalen 985
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Die subjektiv wie kollektiv geäußerte Zugehörigkeit zu einer Region muss nicht Nullsummenspiel sein und auf Kosten einer anderen gehen, sondern die feste Verbundenheit zu einem Raum kann gerade erst die Grundlage sein, um sich aus der Sicherheit heraus für andere zu öffnen. Vgl. hierzu auch Sen, Amartya: Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt, München 2006, S. 9, 192f.; Weichlein, Von der Exklusion zur Inklusion, in: Groten, Die Rheinlande und das Reich, S. 243-245; Langewiesche, Föderativer Nationalismus als Erbe der deutschen Reichsnation, in: ders./Schmidt, Föderative Nation, S. 241. Matzerath, Horst: Land der Städte. Lokale Identitäten und Städtekonkurrenz, in: Brautmeier et. al., Heimat Nordrhein-Westfalen, S. 227-242, hier: S. 227.
G.I. Politisches System, Parteienlandschaft und politische Kultur
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Binnenbeziehungen zum Ausdruck, die im historischen Nordrhein-Westfalen angelegt wurden und durch sie lebensweltlich verfestigt werden.
G.I. Politisches System, Parteienlandschaft und politische Kultur Als eines von sechzehn Ländern hat Nordrhein-Westfalen an den grundlegenden Politikund Gesellschaftsmustern der Bundesrepublik Deutschland teil; regionale Mentalitäten und Verhaltensweisen differieren im Detail, bewegen sich aber innerhalb eines gemeinsamen Rahmens. Formell unterscheiden sich die in der Landesverfassung festgeschriebenen Strukturen kaum von der Bundesebene oder von denen anderer Länder; materiell jedoch äußern sich in Politikinhalten und -stilen nordrhein-westfälische Eigenheiten und Wertbeimessungen, die die politische Kultur des Landes ausmachen. Politikgestaltung findet in dem Spannungsfeld beider Korridore statt; sowohl Institutionen wie auch Akteure und ihr aus der Landschaftsgenese abgeleitetes Weltverständnis begünstigen und begrenzen öffentliches Handeln. Das Zusammenspiel aus jenen geschriebenen und ungeschriebenen Regelungen bildet die Strukturmerkmale des nordrhein-westfälischen politischen Systems. Neben zeitspezifischen Herausforderungen beeinflussen landschaftliche Prägepfade die politischen Strukturen eines Landes. Parteikonstellationen spiegeln die Leitplanken, die ihnen durch die politische Kultur gesetzt sind; sie zu kennen und sich innerhalb ihrer Bahnen zu bewegen ist Grundvoraussetzung, um bei Wahlen erfolgreich zu sein. Die Parteienlandschaft, ihr organisatorisches Spektrum sowie ihre hieraus entspringenden Programme geben Auskunft über gesellschaftliche Wertemuster und Handlungsperspektiven, die sich parteiübergreifend in deren materiellen Politikinhalten äußern. In NordrheinWestfalen ist über die Jahrzehnte ein Globaltrend auszumachen, der nicht in der Dominanz einer Partei, sondern einer inhaltlichen Grundausrichtung zum Ausdruck kommt; das Land gilt in der Außenwirkung als Stammland der SPD, doch ist vielmehr ein sozialpolitischer und konsensualer Grundzug auszumachen, den sowohl SPD als auch CDU verfolgten. NRW ist ein „strukturell sozialdemokratisches Land“,987 ohne dies an einer Partei festzumachen. Unterhalb der Landesebene unterstreichen die unterschiedliche Stärke der Parteien in den Landesteilen und divergente inhaltliche Ausrichtungen innerhalb der Landesverbände die landschaftliche Vielfalt Nordrhein-Westfalens. Bezirksgruppierungen greifen die Präferenzen der regionalen Wählerschaft auf, reagieren auf spezifische Aufgabenstellungen, Lebenswelten und Normenhorizonte und tradieren hierüber – da sie innengerichtete Netzwerke bilden – landschaftliche Orientierungen und Identitäten; sie heben überlieferte Strukturgegensätze auf die (partei-)politische Ebene und vertiefen diese. Systembedingt weitgehend auf das Bildungs- und Kulturwesen sowie die Innere Sicherheit beschränkt, minderten die geringen Gesetzgebungskompetenzen die öffentliche Aufmerksamkeit für die Landespolitik und erschwerten die Weckung eines politisch begründeten nordrhein-westfälischen Gemeingeistes. Die dominanten Regelungsbefugnisse des 987
Graalmann, Dirk/Nitschmann, Johannes: Die schwarze Revolution fällt aus. Jürgen Rüttgers und seiner CDU gelingt es nicht, von der Schwäche der SPD zu profitieren, in: Süddeutsche Zeitung (1.9.2009), S. 6.
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G. Nordrhein-Westfalen seit 1946
Bundes und der europäischen Ebene ließen der Landespolitik kaum Platz für charakteristische Eigenwege, ihre schwache mediale Begleitung988 behinderte landesweite Diskussionen und die partizipative Weckung eines Zusammengehörigkeitsbewusstseins; beide Punkte erschwerten dem Land die Profilierung. Geringe Regelungsbefugnisse, desinteressierte Öffentlichkeit, mangelnde Teilhabe und fehlendes Landesbewusstsein beding(t)en sich wechselseitig.
G.I.1. Parteienlandschaft Das britischen Einflüssen und landschaftshistorischen Perspektiven entwachsende nordrhein-westfälische Parteiensystem emanzipierte sich seit den späten 1950er Jahren von seinen Ursprüngen. Vor dem Hintergrund des auf Stabilität ausgerichteten Wahlrechts – bis 2007 konnte bei Kommunal-, bis 2010 bei Landtagswahlen nur eine Stimme abgeben werden, die zugleich für den (Wahlkreis-)Kandidaten und seine Partei zählte und das Stimmensplitting verunmöglichte – konsolidierte es sich nach 1958 auf CDU, SPD und FDP, ohne dass eine Gruppierung eine absolute Dominanz errang; vielmehr lagen Christdemokraten und Sozialdemokratie bei Kommunal- und Landtagswahlen stets nah beieinander.989 Bundespolitische Einflüsse und das Interesse sämtlicher Bundesregierungen, das bevölkerungs- und wirtschaftsstärkste Bundesland mit gleichgerichteten Mehrheiten hinter sich zu wissen, trugen zur Festigung der Parteienlandschaft bei und beeinflussten sämtliche Regierungsbildungen.990 Landtagswahlen in NRW galten stets als kleine Bundestagswahlen, denen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde; erst die Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre 1969 trennte ihren zeitlichen Zusammenfall mit den Bundes988
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Selbst regionale Zeitungen und Fernsehsender berichten kaum mehr über landespolitische Themen als die großen, überregionalen Medien. Vgl. Marcinkowski, Frank/Nieland, Jörg-Uwe: Medialisierung im politischen Mehrebenensystem. Eine Spurensuche im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf, in: Alemann, Ulrich von/Marschall, Stefan (Hrsg.): Parteien in der Mediendemokratie, Wiesbaden 2001, S. 81-115, hier: S. 94. Während auf Landesebene CDU und SPD zwischen 1962 und 1980 relativ homogene Ergebnisse erzielten, war dies im Globaltrend auf kommunaler Ebene zwischen 1948 und 1999 der Fall. Vgl. die Wahlergebnisse im historischen Zeitvergleich bei der Landeswahlleiterin des Landes Nordrhein-Westfalen: Wahlergebnisse in Nordrhein-Westfalen, einsehbar unter http://www.wahlergebnisse.nrw.de (26.11.2010). Der Versuch, gleichgerichtete Koalitionen in NRW und auf Bundesebene einzugehen, ist durch die Landesgeschichte zu verfolgen. Während Karl Arnold für die Einbindung der SPD in dem industriebestimmten Land eintrat, wollte der wirtschaftsliberalere Adenauer das Gewicht Nordrhein-Westfalens für die Bundespolitik nutzen und sprach sich für eine gleichgerichtete Koalition aus. Vgl. Wittkämper, Gerhard W.: Die Landesregierung, in: Landeszentrale für politische Bildung, Nordrhein-Westfalen, S. 107138, hier: S. 126f. Die 1965 einsetzende erste Wirtschaftskrise der Bundesrepublik wurde der Bundesregierung und somit auch der Landes-CDU angelastet, 1966 nahm Nordrhein-Westfalen den sozialliberalen Wandel auf Bundesebene 1969 vorweg, in dem Heinz Kühn eine Koalition aus SPD und FDP bildete. Nach 1995 wurde die rot-grüne Landesregierung zum Modellfall für die Bundesebene, „Durchhalten für Bonn“ zur Parole, vgl. Korte et. al., Regieren in Nordrhein-Westfalen, S. 207. 2005 führte der Verlust der rot-grünen Mehrheit zu vorgezogenen Neuwahlen, und 2010 ein mögliches Schwarz-Grünes Bündnis als Modell für den Bund diskutiert, vgl. Banas, Günter: Mehr als nur die Macht am Rhein, Frankfurter Allgemeine Zeitung (1.1.2010), einsehbar unter http://www.faz.net/s/Rub594835B672714A1DB1A121534F010EE1/Doc~ED3972D92F3F64023AA6 37032CD601B36~ATpl~Ecommon~Scontent.html (25.11.2010).
G.I. Politisches System, Parteienlandschaft und politische Kultur
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tagswahlen und schwächte den Konnex ab, ohne ihn vollauf aufzuheben.991 Veränderte Zeitlagen, Schwerpunktverlagerungen in den Sachfragen und gesellschaftliche Wandlungsprozessen berührten die ursprünglichen Mehrheitsverhältnisse, ohne jedoch die langfristig ausgebildeten Fundamentalnormen vollends umzukehren; Parteien, Programmatiken und politische Kultur(en) verblieben innerhalb der dem historischen NRW entspringenden landschaftlichen Spektren und untergliederten Land und Landesteile in Parteihochburgen und Diasporagebiete.
Augenscheinlich werden die Beibehaltung hergebrachter Strukturgräben und die Langfristigkeit historisch-tradierter Landschaftsprägungen – die Stärke der SPD bei städtischen, kirchenfernen und protestantischen Industriebeschäftigten oder Gewerkschaftern sowie die Dominanz der CDU bei ländlichen Kirchgängern und den Mittelschichten beider Konfessionen – mit Blick auf die infolge der Landtagswahlwahlergebnisse von 2010 nach Parteienpräferenzen eingefärbte Landkarte und bei der Besetzung kommunaler Exekutivspitzen.992
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Beispielsweise wurde die bundespolitische Bedeutung der rot-grünen Koalitionsverhandlungen in NRW 1995 durch die Verlagerung der Runden in die nordrhein-westfälische Landesvertretung in Bonn verdeutlicht. Der Ort diente als Symbol, die Taktgeberrolle des Landes für den Wechsel 1998 aufzuzeigen und das Modell auch als für den Bund relevant darzustellen. Auch die Hinzuziehung von Bundespolitikern zu den Verhandlungen unterstreicht die Bedeutung, die der Koalition auf dem Weg zum Bonner Machtwechsel beigemessen wurde. „Durchhalten für Bonn“ wurde zum Kitt, der die Regierung zusammenhielt. Vgl. hierzu Geis, Matthias, in: Die Zeit (27/1997), einsehbar unter http://www.zeit.de/1997/27/Durchhalten_fuer_Bonn (2.12.2010). Wo die SPD bei den Kommunalwahlen 2009 die großen Städte, das Ruhrgebiet und Ostwestfalen dominierte, war die CDU in den umliegenden ländlichen Räumen des Niederrheins, des Münsterlandes, des Paderborner Landes und des kölnischen Sauerlandes die stärkste Partei. Während die CDU 25 von 31 Landräten stellt, gehören nur 10 von 23 Oberbürgermeister der Partei an; Vgl. Graalmann/Nitschmann, Die schwarze Revolution fällt aus, in: Süddeutsche Zeitung (1.9.2009), S. 6 sowie Deckers, Daniel: Keine Macht mehr am Rhein. Für die CDU war es kein gutes Ergebnis – sie hat in alle politischen Richtungen verloren. Doch auch die SPD hat wenig Grund, sich zu freuen, in: FAZ (11.5.2010), S. 7. Vgl. zu den regionalen Hochburgen auch Woyke, Wichard: Landtagswahlen, in: Landeszentrale für politische Bildung, NRW-Lexikon, S. 186-188, hier: S. 187f. sowie , Andreas: Parteien/Wahlen, in: Ebd., S. 237-238, hier: S. 238.
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G. Nordrhein-Westfalen seit 1946
G.I.1.1. Zentrum Nordrhein-Westfalen war nach dem Zweiten Weltkrieg neben Niedersachsen das einzige Bundesland, in dem das Zentrum noch nennenswerte Erfolge errang.993 In ihrem Stammland war die Partei, die in Organisation und Programmatik an althergebrachte Grundsätze anknüpfte, bis 1958 an Regierungskoalitionen beteiligt und nahm vor allem auf die Schulund Kulturartikel der Verfassung bleibenden Einfluss; neben der Betonung katholischchristlicher Grundsätze sprach sie sich für eine föderale, rechtsstaatlich gebändigte Demokratie aus, die der Gesellschaft subsidiäre Selbstverwaltungsrechte sichern und den Staat in seiner Macht begrenzen sollte. So lange der Konfessionsfaktor bei Wahlen andere Strukturvariablen dominierte, vermochte das Zentrum selbst in Industrieregionen Stimmenanteile auf sich zu vereinigen, doch entfaltete es sein Mobilisierungspotential – in Abkehr von seinem ursprünglichen Charakter einer schichtenübergreifenden Sammelpartei – zunehmend nur noch in ländlich-katholischen Regionen wie dem Münsterland;994 ausschlaggebend hierfür war insbesondere der Verlust der uneingeschränkten Unterstützung der katholischen Kirche, die sich in Wahlaufrufen verstärkt für die CDU aussprach.995 Ein weiteres Grundproblem war der unklare Parteikurs: Plädierten Wilhelm Hamacher oder Johannes Brockmann für die Aufrechterhaltung einer katholischen Gesellschaftsgrundsätzen verpflichteten Partei, befürworteten andere wie Carl Spiecker gerade in einem heterogenen Land wie Nordrhein-
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Bei den Landtagswahlen 2010 ragte im Münsterland innerhalb eines CDU-dominierten Umfelds der SPD-bestimmte Wahlkreis Steinfurt III heraus. Dieser gehörte historisch – anders als der restliche Raum – nicht dem Fürstbistum Münster, sondern der Grafschaft Tecklenburg an und folgte deutlich verschiedenen Genesepfaden. Auch ein rascher Blick auf den Regierungsbezirk Detmold offenbart die Strukturgrenze zwischen Minden-Ravensberg und dem Paderborner Land, während sich im Regierungsbezirk Arnsberg Märkisches und Kölnisches Sauerland voneinander abheben. Vgl. hierzu die regionalen Ergebnisse der Landtagswahl 2010 auf der angegebenen Landkarte. Diese wurde entnommen dem Wahlarchiv von tagesschau.de zur Landtagswahl in NRW 2010, einsehbar unter http://wahlarchiv.tagesschau.de/wahlen/2010-05-09-LT-DE-NW/kartegross.shtml (2.12.2010). Bei den Wahlen 1947 errang es in NRW 9,8%, 1950 7,5% und 1954 4,0%; 1958 fiel das Zentrum bei einer Unterstützung von lediglich 1,1% der Abstimmenden aus dem Landtag. In Niedersachsen erhielt die Partei 1950 4,1 und 1951 3,3% der Stimmen, 1955 nur noch 1,1%. In anderen Bundesländern fehlte der Partei jegliche Unterstützung, Vgl. die Ergebnisse der Landtagswahlen in der Bundesrepublik Deutschland, einsehbar unter http://de.wikipedia.org/wiki/Ergebnisse_der_Landtagswahlen_in_der_Bundesrepublik_Deutschland (25.11.2010). Vgl. Schmidt/Stöss, Kleinere Parteien in Nordrhein-Westfalen, in: Alemann, Parteien in NordrheinWestfalen, S. 168. Die Klage des ersten Vorsitzenden Wilhelm Hamacher über die Bevorzugung der CDU beantwortete der Kölner Kardinal Frings vordergründig mit der verspäteten Gründung des Zentrums; anstatt der Welt ein zerrissenes katholisches Lager zu präsentieren, sollten die Parteien den gemeinsamen Feind auf der Linken bekämpfen, das Zentrum nicht gegen bestehende CDP-Verbände antreten und möglichst eine einheitliche Partei entstehen. In einem Schreiben Frings’ an Hamacher vom 29. März 1946 hieß es: „Seien Sie überzeugt, dass keiner der Herren (die deutschen Bischöfe A.W.) sich für die CDU ausgesprochen hat,, weil er deren Programm grundsätzlich für besser oder richtig hält, sondern dass es nur aus taktischen Gründen geschehen ist, um der Welt das Schauspiel einer politischen Spaltung und gegenseitigen Befehdung des deutschen Katholizismus zu ersparen. Ihre Partei hat den Nachteil, zu spät auf dem Plan erschienen zu sein, als bereits an vielen Orten die CDU sich konstituiert hatte. Wir richten daher im Interesse der guten Sache und weil der Feind links steht, d. h. im Lager der materialistischen Weltanschauung, an Sie die Bitte, überall da, wo die CDU Fuß gefasst hat…von der Gründung von Gruppen Ihrer Partei abzusehen…und alles zu tun, um zu einer Einigung oder zu einem Bündnis zu gelangen.“ Vgl. Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 86.
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Westfalen und infolge der wachsenden Konkurrenz der CDU die inhaltliche Öffnung der Partei. Das auf dem Werler Parteitag am 16./17. November 1946 vorgestellte, maßgeblich von Spiecker verfasste Parteiprogramm betonte den überkonfessionellen Charakter des Zentrums und positionierte es als soziale, fortschrittliche Partei der Arbeit zwischen dem rechten SPD- und dem linken CDU-Flügel.996 Wo die Kapitel zur Wirtschafts- und Sozialordnung kaum für Konflikte sorgten – sie berührten die innerste Identität der Partei nicht und standen innerhalb der Zentrumstraditionen – stieß Spieckers Vorstoß zur Bildung religiös-sittlicher Gemeinschaftsschulen jedoch auf breiten Widerstand.997 Diese Richtungsquerelen führten 1949 zu Abwahl Spieckers als Parteivorsitzendem, der in der Folge mitsamt der ihm folgenden Essener Richtung der CDU beitrat, mit diesem Schritt den Parteiaufbau schwächte und ihren Schrumpfungsprozess forcierte.998 Bei regionalen Unterschieden geriet das Zentrum bereits bei der ersten Landtagswahl gegenüber der CDU ins Hintertreffen.999 Arbeiterschaft und Kleinbürgertum wandten sich infolge der Säkularisierung, des Wertewandels und der geringen Unterstützung der katholischen Kirche vermehrt der christlich-überkonfessionellen CDU zu, die Änderungen in der Bevölkerungszusammensetzung – evangelische Bekenntnisformen gewannen im Vergleich zum historischen NRW an Gewicht – und die Auflösung des katholischen Milieus schwächten die relative Wählerbasis des Zentrums, da es – anders als die CDU – den Schwerpunkt ihrer Wählerbasis deutlich auf katholischer Seite hatte. 1954 schaffte die Partei letztmalig den Einzug in den Landtag, behielt allerdings als konservativ-katholische Kommunalpartei bis in die 1980er Jahre eine Basis im Münsterland.1000 G.I.1.2. CDU Die Christlich-Demokratische Union trat in NRW personell, inhaltlich und hinsichtlich ihrer Wahlerfolge das Erbe des Zentrums an; zahlreiche ihrer Führungspositionen waren mit dessen ehemaligen Parteiseliten besetzt, die der CDU die Anbindung an sein Wähler-
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Vgl. Lademacher, Die nördlichen Rheinlande, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 807. Spieker hielt ein christlich fundiertes Naturrecht für eine breitere Basis als das Christentum, auf der sich sowohl Arbeiter als auch Bürgerliche unter dem gemeinsamen Parteidach vereinigen konnten Die Wirtschafts- und Sozialkapitel betonten die Rechte des auf die Gemeinschaft verwiesenen Individuums und die subsidiär abgeleitete Eigenverantwortung. In den Betrieben sollte die Mitbestimmung der Arbeitnehmer ausgebaut und durch die Sozialpolitik das Volkseinkommen vornehmlich dem Mittelstand und den Arbeitern zugute kommen. Eingriffe in die Wirtschaft, die Sozialisierung von Großbetrieben sollten zum Volkswohl zugelassen, das Privateigentum grundsätzlich aber nicht angetastet werden. Der Staat sollte die Rahmen setzen, innerhalb dessen ein geordneter und leistungsorientierter Wettbewerb stattfinden sollte. Mit Blick auf das Schulwesen betonten seine Gegner ein naturrechtlich fundiertes recht der Eltern und Kinder auf Bekenntnisschulen. Vgl. das Werler Programm bei Flechtheim, Dokumente zur parteipolitischen Entwicklung in Deutschland seit 1945, Bd. 2,1, S. 245-262. Bereits 1953 waren die Mitgliedszahlen der Partei von 54.000 im Jahre 1947 auf lediglich 10.000 zurückgegangen. Vgl. Schmidt/Stöss, Kleinere Parteien in Nordrhein-Westfalen, in: Alemann, Parteien in Nordrhein-Westfalen, S. 170. Erhielt die CDU bei der ersten Landtagswahl 37,5% der Stimmen, so sprachen sich nur 9,8% der Abstimmenden für das Zentrum aus. Im Münsterland hingegen erreichte die Partei 19,1% der Stimmen. Vgl. Lademacher, Die nördlichen Rheinlande, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 808. Vgl. Woyke, Wichard: Zentrum, in: Landeszentrale für politische Bildung, NRW-Lexikon, S. 341-342, hier: S. 342.
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G. Nordrhein-Westfalen seit 1946
spektrum sowie seine sozialkatholischen Traditionen erlaubten.1001 Zu einer überkonfessionellen, schichtenübergreifenden Sammelpartei wurde die CDU durch die breitere Hinzuziehung protestantischer, bürgerlicher und liberaler Kreise, trotz aller gesellschaftlichen Umbrüche errang die Partei einen überdurchschnittlichen Wähleranteil bei Kirchgängern beider Konfessionen,1002 wobei die Unterstützung der katholischen Amtskirche – die sich aus der Sorge um die zunehmende Säkularisierung und das Vordringen atheistischer Parteien wie der SPD und der KPD für eine starke christlich-interkonfessionelle Partei aussprach – von großer Bedeutung für ihren Erfolg war;1003 daneben steigerte das der CDU zugeschriebene Wirtschaftswunder das Wählerpotential. Die CDU brach schnell in die alten Zentrumshochburgen am Niederrhein, im Münsterland, im Paderborner Land sowie im kölnischen Sauerland ein und errichtete hier ihre eindeutigen Hochburgen.1004 Die innere Parteiintegration verlangte den Christdemokraten ab, die in ihr vereinten Traditionsstränge in Einklang zu bringen; die Auseinandersetzung um den Parteikurs personifizierte sich in den Richtungskonflikten zwischen Konrad Adenauer und Karl Arnold. Adenauer – der am 5. Februar 1946 zum Vorsitzenden der rheinischen, am 1. März der Zonen-CDU gewählt worden war und am 2. Oktober die Führung der Landtagsfraktion übernahm – stand mit seinen wirtschaftliberalen Ansichten und der Gegnerschaft zu Sozialismus und Sozialisierungsforderungen innerparteilich für das nationalliberal geprägte rheinisch-westfälische Bürger- und Unternehmertum.1005 Ohne das sozialkatholische Erbe vollauf zu übergehen, war ihm dieses mehr Mittel als Zweck, während sein Konkurrent, der am 17. Juni 1947 zum Ministerpräsidenten gewählte Arnold, diesem rheinischwestfälischen Wurzelwerk deutlich tiefer verbunden war und stärker die Rechte der Arbeitnehmer, den konsensorientierten Ausgleich von Kapital und Arbeit, das Recht auf Privateigentum sowie die weitreichende gesellschaftliche Kontrolle der Ökonomie betonte. Die ersten Parteiprogramme, das Neheim-Hüstener Programm der Christlich-Demokratischen
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Vgl. Buchhass, Dorothee: Zum Elitenprofil der CDU-Ratsvertreter. Ein empirischer Beitrag zur Nachkriegsgeschichte der rheinischen CDU, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 3, S. 315-328, hier: S. 322. Vgl. Brettschneider, Frank/van Deth, Jan W./Roller, Edeltraud: Sozialstruktur und Politik. Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: dies. (Hrsg.): Das Ende der politisierten Sozialstruktur?, Opladen 2002, S. 7-24, hier: S. 13. Der Hirtenbrief des Kölner Erzbischofs Josef Frings vom 17. Juli 1945 forderte, für die christlichen Konfessionen müsse der Grundsatz lauten, „getrennt marschieren, vereint den gemeinsamen Gegner, den Unglauben, schlagen, um ein starkes Gegenmilieu zu bilden. Auch der Münsteraner Bischof von Galen oder der Paderborner Präses Schulte setzten sich in dieser Weise für die Gründung einer christlichen Partei ein. Vgl. Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 54-58. Vgl. Lademacher, Die nördlichen Rheinland, in: Petri/Droege, Rheinische Geschichte 2, S. 808. Diesen Kurs steckte Adenauer in einer programmatischen Grundsatzrede am 24. März 1946 in Köln ab, Aus christlichen Grundlagen sprach er sich für eine „vernünftige Planung und Lenkung der Wirtschaft“ und eine „Beteiligung der Arbeiterschaft an Führung und Verantwortung“ sowie einen „gerechten Ausgleich zwischen Unternehmern und Arbeitern“ aus. Zugleich waren ihm die wirtschaftliche Freiheit und „Erwerb mäßigen Besitzes“ von Bedeutung, da diese persönliche Freiheit gewährleisten. Die sozialen Forderungen sind eher als taktisches und pragmatisches denn als zielgerichtetes Element zu sehen. Adenauer wusste zwar um die Notwendigkeit einer flankierenden Sozialpolitik, um die Demokratie zu stärken, ihm war diese aber weniger Herzensangelegenheit denn Vernunftargument. Vgl. Adenauer, Konrad: Reden 1917-1967. Eine Auswahl, hrsg. v. Hans-Peter Schwarz, Stuttgart 1975, S. 89-92.
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Union der britischen Zone vom 1. März 1946,1006 das Ahlener Programm vom 3. Februar 19471007 und die Düsseldorfer Leitsätze vom 15. Juli 19491008 spiegelten diese Diskussionen. Stärker als auf der allmählich durch Adenauer bestimmten Bundesebene blieben innerhalb der CDU-Landesverbände Rheinland und Westfalen-Lippe christlich-soziale Positionen von herausgehobener Bedeutung. Die 1946 in Herne gegründete ChristlichDemokratische Arbeitnehmerschaft (CDA) knüpfte als Unterorganisation an dieses im 19. Jahrhundert angelegte Erbe an und ermöglichte der CDU, auch die hiesige Arbeiterschaft an die Partei zu binden. Als Leitfaden zog sich durch die Positionierungen der Landesverbände die Betonung der sozialen Marktwirtschaft, die Flankierung des Wirtschaftsgeschehens durch Sozialgesetzgebung und Mitbestimmung, die Einforderung solidarischen Handelns und konsensualer Politikentwürfe; sie profilierten sich innerhalb des Bundesspektrums als linkere Landesverbände und befürworteten – der Subsidiaritätslehre folgend – landschaftliche Selbstverwaltung und staatsferne Selbstorganisation.1009 Zwischen 1956 und 1958 sowie 1967 und 1986 koordinierte das – zwischenzeitlich als Landes- oder Koordinierungsausschuss bezeichnete – Präsidium der CDU in Nordrhein-Westfalen die Arbeit der Teilorganisationen CDU Rheinland und CDU Westfalen-Lippe, die sich erst 1986 zu einem einheitlichen, in acht Bezirksverbände untergliederten Landesverband zu1006
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Das nach den Arnsberger Stadtteilen benannte Neheim-Hüstener Programm wollte zwar Wirtschaft und Gesellschaft neu ordnen und die Erträge zur Überwindung des Klassenkampfes gerechter verteilen, sprach sich zugleich aber auch für freiheitliche, sozialgebundene Wirtschaftsformen aus. Es betonte individuelle und familiäre Rechte gegenüber dem Staat, Arbeitnehmer und –geber sollten in den Unternehmen gleichberechtigt in Führung und Verantwortung sein, um eine neue Sozialordnung und die Überwindung des Klassenkampfes zu erreichen. Gleichwohl wurde wirtschaftliche als Teil der allgemeinen Freiheit verstanden und ein höherem Recht weichendes Privateigentum befürwortet. Vgl. Flechtheim, Dokumente zur parteipolitischen Entwicklung, Bd. 2,1,ebd., S. 48-53. Das Ahlener Programm war Ausdruck der Stärke des Sozialflügels; die im Hintergrund schwelende Sozialisierungsdebatte und entsprechende Anträge der anderen Parteien trieben auch die CDU zur Befürwortung entsprechender Vorstellungen. Es forderte aus christlich-sozialistischem Geist Vergesellschaftungen und gesellschaftliche Mitbestimmung, ohne jedoch einen Staatssozialismus anzustreben. Die kapitalistische Zusammenballung wirtschaftlicher Macht in Einzelhand sollte verhindert werden, gleichwohl der Staatskapitalismus als noch größere Gefahr für wirtschaftliche und politische Freiheit des Einzelnen bezeichnet wurde; diese Einschränkung vermochte die unterschiedlichen Flügel zu integrieren. Die Beteiligung von Genossenschaften und betriebsangehörigen Arbeitern am Großunternehmen sowie die Mitbestimmung der Firmenleitung sollte wirtschaftliche Machtballung verhindern und gemeinwohlschädliche Nutzung verhindern; Klein- und Mittelbetriebe galten als freiheitsfördernd und als sozialverträgliches Eigentumsrecht. Wirtschafskammern, an denen Arbeitnehmer, Unternehmer und Konsumenten gleichberechtigt beteiligt sein sollten, sollten die Planung und Lenkung der Volkswirtschaft und das Allgemeinwohl gewährleisten. Vgl. ebd., S. 53-58. Die für die gesamte Bundesrepublik geschriebenen Leitsätze zeigten den Sieg Adenauers in der Sozialisierungsdebatte, da die Partei sich hin zur Befürwortung der sozialen Marktwirtschaft durchrang (der Begriff tauchte hier erstmals auf). Im Hintergrund müssen aber jeweils die wirtschaftspolitischen Umstände gesehen werden: Während das Ahlener Programm in einer Zeit der allgemeinen Not verabschiedet wurde, wurden die Düsseldorfer Leitsätze bereits nach der Währungsreform und Verabschiedung des Marshallplanes formuliert. Sozialgebundene wirtschaftliche Freiheit und Leistungswettbewerb sollten durch den Staat gesichert und durch planvolle Beeinflussung des Wirtschaftsgeschehens ergänzt werden. Durch die gerechte Verteilung der Wirtschafserträge und die Sozialgesetzgebung sollte Eigentumserwerb ermöglicht werden; Eigentum an wirtschaftlichen Produktionsmitteln galt als Baustein politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Demokratie. Vgl. ebd., S. 58-76. Vgl. hierzu auch Kühr, Herbert: Die CDU in Nordrhein-Westfalen. Von der Unionsgründung zur modernen Mitgliederpartei, in: Alemann, Parteien und Wahlen in Nordrhein-Westfalen, S. 91-120, hier; S. 105.
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G. Nordrhein-Westfalen seit 1946
sammenschlossen. Innerhalb der Landesverbände bestanden charakteristische Strukturunterschiede: Insbesondere die rheinische CDU – die bei der Besetzung des Vorsitzes der gemeinsamen Gremien vorne lag –1010 gehörte dem linken Parteiflügel an und betrieb in der Tradition des Zentrums, der christlichen Arbeiterbewegung und der katholischen Soziallehre eine arbeitnehmerorientierte, auf Augleich und Konsens gerichtete Politik; sie und ihre anhängigen Unterorganisationen waren dichter geknüpft und besaßen – bei zu berücksichtigenden Differenzen bei den Einwohnerzahlen – höhere Mitgliederzahlen.1011 Fortgesetzt wurden mit der vergleichsweise stärkeren Bereitschaft rheinischer Verbände, der sozioökonomischen Entwicklung mit sozialpolitischen Ausgleichs- und Organisationsmaßnahmen zu begegnen, insofern Traditionslinien aus dem historischen NRW. G.I.1.3. SPD Nordrhein-Westfalen, in der bundesweiten Wahrnehmung Stammland der SPD,1012 ist ein sozialdemokratisch, nicht aber von der Sozialdemokratie geprägtes Land. Rückblickend dominierte die Partei keineswegs das historische NRW, während sie nach der Landesgründung – bis auf die zweijährige Regierungszeit Fritz Steinhoffs 1956-58 – erst 1966 dauerhaft an die Macht kam. Da sie diese in unterschiedlichen Konstellationen bis 2005 behielt, ist ihr zwar eine gewichtige Rolle für die Landesentwicklung beizumessen, ohne dass sie bei Landtags- oder Kommunalwahlen eine absolute Vormacht errang;1013 auch darf der Blick nicht einseitig durch die Konzentration auf ihre Hochburg Ruhrgebiet verstellt werden. Die einstmalige Schwäche der SPD in NRW schwand erst mit ihrer Abkehr vom revolutionär-sozialistischen Gedankengut, mit einem pragmatisch-ideologiefernen Kurswechsel und der Öffnung zu den Kirchen: Die Auflösung der Gesamtdeutschen Volkspartei 1957 erschloss der Partei bürgerlich-protestantische und auch konservative Wählerschichten,1014 1010
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Aus dem rheinischen Landesverband amtierten 1956-1958 Karl Arnold, 1969 Konrad Grundmann, 19691970 Wilhelm Lenz, 1970-1980 Heinrich Köppler, 1984-1986 Bernhard Worms, 1987-1999 Norbert Blüm, 19992010 Jürgen Rüttgers und seit 2010 Norbert Röttgen. Aus dem westfälischen besetzten 1958 Lambert Lensing, 1967-1968 Josef Hermann Dufhues und 1980-1984 sowie 1986-1987 Kurt Biedenkopf die gemeinsame Parteispitze. Diese Aufzählung erfolgt nur unter Berücksichtigung der beiden großen Landesparteien CDU und SPD, die die Landespolitik bestimmten. Der Sozialausschuss der Partei, die CDA, besaß im nordrheinischen Landesteil einen deutlichen Vorsprung vor Westfalen. Während 1984 im rheinischen Landesverband 11500 Mitglieder dem CDA angehörten, waren dies in Westfalen lediglich 4000. Auch in der Jungen Union standen 25800 rheinischen 11400 westfälische Mitglieder gegenüber. Vgl. hierzu Kühr, Die CDU in Nordrhein-Westfalen, in: Alemann, Parteien und Wahlen in Nordrhein, S. 113. Vgl. pars pro toto den Artikel CDU feiert historischen Wahlsieg. Das einstige SPD-Stammland Nordrhein-Westfalen wird künftig von einem CDU-Ministerpräsidenten regiert nach der Landtagswahl 2005, einsehbar unter http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,357099,00.html (27.11.2010). Die Wahlergebnisse der großen Parteien blieben bis auf die Jahre der absoluten Mehrheit der SPD zwischen 1985 und 1995 relativ nah beieinander. Die SPD hatte selbst in ihren Regierungsjahren nicht durchgängig die Mehrheit, sondern sicherte sich diese 1970 oder 1975 nur durch die Koalition mit der FDP, war die CDU die stärkste Partei. Vgl. die Wahlergebnisse im historischen Zeitvergleich bei der Landeswahlleiterin des Landes Nordrhein-Westfalen, Wahlergebnisse in Nordrhein-Westfalen, ebd. Die GVP war aus Protest gegen die Wiederbewaffnungspolitik Adenauers und aus Sorge um die Wiedervereinigung 1952 durch Gustav Heinemann gegründet worden; er und auch Johannes Rau traten zur SPD über. Zahlreiche ihrer Vertreter standen der Bekennenden Kirche nah, Heinemann war zunähst deren Anwalt gegen die Nationalsozialisten und später Präses der Evangelischen Kirche Deutschlands. Vgl. hierzu die Mannheimer Erklärung der Gesamtdeutschen Volkspartei vom 15. Juli 1953, in: Flechtheim,
G.I. Politisches System, Parteienlandschaft und politische Kultur
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das Godesberger Programm von 1959 eröffnete ihr katholische Regionen,1015 während die Sozialdemokraten zugleich von der allmählichen Überlagerung konfessioneller durch sozioökonomische Wahlmuster profitierten. Hergebrachte Schlagworte wie der von Eduard Bernstein propagierte Revisionismus, die Verteilungsgerechtigkeit oder Mitbestimmungsforderungen standen der bundesrepublikanischen Wirklichkeit näher als radikale Parolen,1016 und mit dem Niedergang der KPD und des Zentrums fielen Konkurrenten um die Arbeiterschichten fort. Einen wichtigen Schub hin zur Hegemonie gab der SPD die bereits Ende der 1950er Jahre einsetzende wirtschaftliche Strukturkrise, in der sich die Partei – während die CDU liberal-marktnahe Antworten suchte – in enger Bindung an die Gewerkschaften für die Interessen der Industriebeschäftigten einsetzte und hierüber konfessionsübergreifend an Zustimmung gewann.1017 Im Gegensatz zur CDU vertrat die SPD zentralistischere Forderungen und bevorzugte den gestaltenden Staat gegenüber kommunaler oder landschaftlicher Selbstverwaltung. Ihre Landeshegemonie errang sie dennoch über die von der Wirtschaftskrise betroffenen Kommunen und die allmähliche Sozialdemokratisierung des Ruhrgebiets,1018 durch das Einlassen auf landschaftliche Traditionen und die Bindung ihrer zuvörderst städtischen, abhängig beschäftigten und protestantischen Wählerschichten im nördlichen Bergischen Land, in Ravensberg-Lippe oder dem Märkischen Sauerland.1019 Insbesondere die Nähe zu den Arbeiterorganisationen des Ruhrgebiets, in dem sozialdemokratische Multifunktionär(e) über die Mehrfachmitgliedschaft in Betriebsrat, Gewerkschaft und SPD die Interessenvertretung der Arbeiterschaft mit der Partei verzahnten, begünstigte ihren Aufstieg und gewährleistete ihre strukturelle Mehrheitsfähigkeit.1020 Der Ausgleich der unterschiedlichen politischen Teilkulturen in Nordrhein-Westfalen ermöglichte SPD-Wahlerfolge und erklärte mitsamt der Pionierarbeit zumeist reformgesinnter Bezirksfunktionäre ihren gemäßigten, aufgrund des Festhaltens an überkommenen Industriestrukturen auch als strukturkonservativ
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Dokumente, Bd. 2,1, ebd., S. 494-495. Vgl. auch Walter, Franz: Gesamtdeutsche Volkspartei. Elitezirkel für sozialdemokratische Bundespräsidenten, einsehbar unter http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,482569,00.html (6.11.2010). Mit dem Godesberger Programm näherte sich die Partei endgültig den Kirchen und öffnete sich für neue Wählerschichten, war ihr „der Sozialismus keine Ersatzreligion mehr.“ Sie bekannte sich zu Schutz und Zusammenarbeit mit den Kirchen und erkannte ihre gesellschaftliche Bedeutung und ihr soziales Handeln an. Vgl. Flechtheim, Dokumente, Bd. 2,1, S. 209-226, hier: S. 221. Die SPD, die sich in ihrem noch gültigen Heidelberger Programm von 1925 für ein wirtschaftliches Rätesystem zur Mitbestimmung der Arbeiter in den Betrieben aussprach, stand seit ihrem Godesberger Perspektivwechsel in ideologischer Nähe zu den wirtschaftsdemokratischen Gewerkschaftspositionen.„Freier Wettbewerb und freie Unternehmerinitiative (waren ihr nun A.W.) wichtige Elemente sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik“, ohne dass der Staat auf jegliche Eingriffe verzichten sollte. Von Sozialisierungen war zwar keine Rede mehr, doch sollte „der Arbeitnehmer aus einem Wirtschaftsuntertan zu einem Wirtschaftsbürger werden.“ Sie versprach als einzige gesellschaftlichen Wandel und Verbesserung für die Arbeiter, nachdem die KPD an Kredit verlor, die Zentrum an Kraft einbüßte und die CDU sich stärker wirtschaftsliberal orientierte. Zum Godesberger Programm vgl. ebd. Vgl. Engelbrecht, Landesgeschichte Nordrhein-Westfalen, S. 262; Buchhass, Zum Elitenprofil der CDURatsvertreter, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 3, S. 319 sowie Niethammer, Alltagserfahrung und politische Kultur, in: Ebd., S. 362-379, hier: S. 375. Vgl. Bovermann, Rainer: Das „rote” Rathaus. Die Sozialdemokratisierung des Ruhrgebiets am Beispiel Dortmund 1945-1964, Essen 1995. Vgl. Rohe, Karl: Parteien und Parteiensysteme in Nordrhein-Westfalen. Traditionen und Mentalitäten nach 1946, in: Köhler, Fünfzig Jahre später, S. 8-26, hier: S. 16. Vgl. Korte et. al., Regieren in Nordrhein-Westfalen, S. 50.
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G. Nordrhein-Westfalen seit 1946
bezeichneten Charakter.1021 Dass die SPD bei Landtagswahlen in NRW zumeist besser abschnitt als bei Bundestagswahlen1022 verweist auf ihr Vermögen, sich innerhalb der spezifischen politischen Landeskultur zu bewegen und den Spagat zu schaffen zwischen der Notwendigkeit, sozialpolitische Themen in einem industriell bestimmten Land zu besetzen, aber auch konservativere Wählerschichten anzusprechen.1023 Einen NRW-Landesverband errichtete die SPD 1970, behielt jedoch die in ihrer Politikformulierung relativ eigenständigen, landschaftlichen Traditionen und strukturellen regionalen Eigenarten verhafteten Bezirksverbände Niederrhein, Mittelrhein, Westliches Westfalen und Östliches Westfalen bei.1024 Der pragmatisch-zentristischen Positionen zuneigende, zumeist von rheinischen Politikern angeführte Landesverband1025 wurde erst 2001 in seinen Kompetenzen gegenüber den in Regionen umgewandelten Bezirksverbänden gestärkt.1026 G.I.1.4. KPD/PDS/Die Linke Der Kommunistischen Partei Deutschlands – an den ersten beiden ernannten Landesregierungen beteiligt und bei der ersten Landtagswahl 1947 drittstärkste Kraft –vermochte infolge der sozialen Nachkriegsprobleme, ihres Organisationsvorsprungs und eines pragmatischen Kurses in den Anfangsjahren selbst in ländlicheren Bezirken wie dem Münsterland zu reüssieren,1027 doch schwand mit dem allmählichen Wirtschaftsaufschwung, der Verbesserung der Versorgungslage und der Akzeptanzsteigerung des Staates zunehmend ihr Protestpotential; die Einsicht in die Unmöglichkeit parlamentarischer Gesellschaftsumwälzungen stärkten ihren Oppositionswillen und minderten die anfängliche Bereit-
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Kranenpohl, Uwe: Das Parteiensystem Nordrhein-Westfalens, in: Jun, Uwe/Haas, Melanie/Niedermayer, Oskar (Hrsg.): Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern, Wiesbaden 2008, S. 315-340, hier: S. 316. Vgl. die Wahlergebnisse für die einzelnen Jahre bei Die Landeswahlleiterin des Landes Nordrhein-Westfalen, Wahlergebnisse in Nordrhein-Westfalen, ebd.. Vgl. hierzu auch die Ausführungen zur politischen Kultur. So vertraten die Verbände Mittelrhein und Ostwestfalen-Lippe gegenüber dem Westlichen Westfalen etwa in Militärfragen pazifistischere Positionen; auch Koalitionsfragen beantworteten die Bezirke unterschiedlich: Während die Organisationen Niederrhein und Westliches Westfalen sich 1995 gegen ein Zusammengehen mit den Grünen aussprachen, befürworteten Mittelrhein und Ostwestfalen-Lippe dieses. Vgl. hierzu Klönne, Die Sozialdemokratie in Nordrhein-Westfalen, in: Alemann, Parteien und Wahlen in NordrheinWestfalen, S. 88 sowie Korte et. al., Regieren in Nordrhein-Westfalen, S. 178. Vgl. Woyke, Wichard: SPD – Sozialdemokratische Partei Deutschlands, in: Landeszentrale für politische Bildung, NRW-Lexikon, S. 268-270, hier: S. 270 sowie Alemann/Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, S. 124f. Rheinischen Parteiverbänden entstammten Heinz Kühn (1970-1973), Johannes Rau (1977–1998), Jochen Dieckmann (2005–2007) und Hannelore Kraft (seit 2007), während aus Westfalen Werner Figgen (1973–1977), Franz Müntefering (1998–2002) und Harald Schartau (2002–2005) stammten. Diese Aufzählung erfolgt nur unter Berücksichtigung der beiden großen Landesparteien CDU und SPD, die die Landespolitik bestimmten. Vgl. Korte et. al., Regieren in Nordrhein-Westfalen, S. 134, 261. Der Landesverband war fortan für sämtliche Politikbereiche zuständig und erhielt erstmals einen Generalsekretär. Selbst im ländlichen Regierungsbezirk Münster schaffte die KPD 1947 einen Anteil von 14% und lag hiermit in ihrem Landesschnitt, wenngleich dem Bezirk auch der montanindustriellere Kreis Recklinghausen angehörte. Vgl. Teppe, Zwischen Besatzungsregiment und politischer Neuordnung, in: Kohl, Westfälische Geschichte 2, S. 302.
G.I. Politisches System, Parteienlandschaft und politische Kultur
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schaft zur Zusammenarbeit.1028 Vor allem die Annäherung an den Kurs der UdSSR führte zum Verlust der Unterstützung durch Besatzungsmacht und Wählerschaft und ließ ihre Zustimmungsraten sukzessive zurückgehen; die KPD galt der zunehmend antikommunistisch gestimmten Bevölkerung als verlängerter Arm Moskaus und wurde schließlich 1956 vom Bundesverfassungsgericht verboten.1029 Die nach der Wiedervereinigung 1990 gegründete Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) trat in Nordrhein-Westfalen mangels Organisationsdichte erstmals 2000 zu Landtagswahlen an. Nach Wahlergebnissen um die 1% 2000 und 2005 schaffte sie erst 2010, nach dem Zusammenschluss mit der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) zur Partei Die Linke und mit einem ursprünglich radikalen, später abgemilderten Programm1030 – wohl eher aus bundes- statt landespolitischen Gründen –1031 den Sprung in den Landtag. Die Schwäche dezidiert linker Parteien in einem durch Industrie und Arbeiter gekennzeichneten Land wie Nordrhein-Westfalen erklärt sich wohl aus der Bedeutung, die der Sozialpolitik bereits innerhalb der beiden Großparteien zugemessen wird, wie auch als Folge der konsensorientierten, radikale Konfliktlösungen vermeidenden politischen Kultur des Landes. G.I.1.5. FDP Die Freie Demokratische Partei tat sich schwer in einem Land, dessen soziokulturelle Traditionslinien eigenen Positionen zuwiderliefen: Der weitgehend sozialkatholisch geprägte Raum stand marktliberalen, antireligiösen Grundhaltungen entgegen, der an Interessendelegation und Organisationskultur gewöhnten Arbeiterschaft mangelte es an der Einübung politischer Eigenverantwortung und Selbstbestimmung; auch der geringe Selbständigenanteil erschwerte der FDP in dem durch Großbetriebe geprägten Land den Durchbruch, der sich vornehmlich auf gewerbestarke Städte mit hohem Dienstleistungsund Beamtenanteil sowie auf Universitätsstandorte konzentrierte.1032 Früher als die größeren Parteien etablierte die NRW-FDP bereits 1946 einen einheitlichen Landesverband.
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Vgl. Schmidt/Stöss, Kleinere Parteien in Nordrhein-Westfalen, in: Alemann, Parteien in NordrheinWestfalen, S. 171f. Vgl. hierzu Klönne, Die Sozialdemokratie in Nordrhein-Westfalen, in: Ebd., S. 79f. So forderte sie in ihrem ersten Programmentwurf die Vergesellschaftung der Energiekonzerne RWE und E.on, die Einführung der 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich und ein Investitionsprogramm von 21 Milliarden Euro, ein Recht auf Drogenrausch zur Entfaltung der Persönlichkeit und die Auflösung des Verfassungsschutzes. Die Abschaffung des Religionsunterrichts und der Gefängnisse wurde später aus dem Wahlprogramm getilgt, auch die Forderungen nach Enteignung oder die Rauschmittelfreigabe abgemildert. Der militärische Abzug aus Afghanistan oder die Ablehnung der Hilfe für das hochverschuldete Griechenland waren Themen, die der Linken die Wählermobilisation erleichterten. Vgl. Vitzthum, Thomas/Holstein, Miriam: Urplötzlich auf Regierungskurs. Die Linke in NRW galt lange als Chaotenhaufen, doch neuerdings gibt sie sich zahm - Widerstand an der Basis, in: Die Welt (16.4.2010), einsehbar unter http://www.welt.de/die-welt/politik/article7204820/Urploetzlich-auf-Regierungskurs.html (14.10.2010). Das urbanere Rheinland mit bürgerlicheren Traditionen, der höhere Selbständigen- und Dienstleitungsanteil entsprachen der Wählerstruktur stärker als der ländlicheren westfälischen. Die Städte der Rheinschiene Bonn, Köln und Düsseldorf wurden zu Hochburgen der Partei, aber auch Orte wie Münster mit Tradition als Bildungs- und Verwaltungsvorort Westfalens kamen der Partei entgegen. Vgl. Woyke, Wichard: FDP – Freie Demokratische Partei, in: Landeszentrale für politische Bildung, NRW-Lexikon, S. 95-97, hier: S. 96.
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G. Nordrhein-Westfalen seit 1946
Da CDU und SPD mit ihrer sozialen Grundorientierung das überwiegende Bevölkerungsspektrum weitgehend absorbierten, reaktivierte die FDP nach den schwachen Wahlergebnissen von 1946/47 – sie erhielt auf kommunaler Ebene 4,3% und wurde im Land mit 5,9% der Stimmen fünftstärkste Kraft – zunehmend ihre nationalliberalen Wurzeln und schlug einen antisozialistischen Kurs ein. Als Gegner von Vergesellschaftung und Mitbestimmung positionierte sich die NRW-FDP am rechten Rande des nachkriegszeitlichen Parteienkonsenses und betonte demgegenüber marktwirtschaftliche Prinzipien;1033 1949 schloss sie ein Wahlbündnis mit der Deutsch-Konservativen Partei und sprach vornehmlich im Rheinland bürgerliche Wähler an, die den christlich-sozialen Kurs der CDU ablehnten.1034 Mit dem Einsickern ehemaliger Nationalsozialisten wie Werner Naumann1035 und dem unter ihrem Einfluss erarbeiteten Deutschen Programm driftete der Landesverband 1952 an die nationalkonservative Parteienperipherie1036 und verließ diese erst allmählich infolge des Rücktritts des Landesvorsitzenden Friedrich Middelhauve 1956 und seiner betont nationale(n) Politik im besten Sinne“.1037 Die Freien Demokraten etablierten sich in NordrheinWestfalen fortan als Partei der flexiblen Mitte, die sich für Bürgerrechte und wirtschaftliche Freiheiten einsetzte und Koalitionen sowohl mit der CDU als auch mit der SPD einging, ohne sich vollauf von nationalistischen Aufwallungen – etwa der Bildung des Hohensyburger Kreises rechtsgerichteter NRW-FDPler 1969 und der hieraus hervorgehenden National-Liberalen Aktion oder dem mit antisemitischer Propaganda geführten Bundestagswahlkampf des NRW-FDP-Vorsitzenden Jürgen W. Möllemann 2002 – abzuwenden.1038 1033
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In wirtschaftlichen Aufsätzen hieß es, die FDP stehe auf dem Boden einer „sozialen, aber freien Marktwirtschaft“, die aus Konkurrenz und Einzelinitiative den Lebensstandard erhöhe. Die liberale Marktwirtschaft sollte durch ein eigens ausgearbeitetes Sozialprogramm ergänzt werden, um neue Wählerschichten zu erschließen. Im Dezember 1947 formulierte eine Landesausschusssitzung in Hagen konkrete Vorschläge zur sozialen Absicherung der Marktwirtschaft. Vgl. Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 135f. Nach 5,9% der Stimmen 1947 erreichte die Partei bei der Landtagswahl drei Jahre später 12,1%. Im regionalen Vergleich war die Partei im westfälischen Landesteil schwächer und erreichte hier 1947 4,3, 1950 10,6% der Wählerstimmen. Vgl. Teppe, Zwischen Besatzungsregiment und politischer Neuordnung, in: Kohl, Westfälische Geschichte 2, S. 305. Naumann war der letzte Staatssekretär Josef Goebbels’. Vgl. zur Naumann-Affäre Gutscher, Jörg Michael: Die Entwicklung der FDP von ihren Anfängen bis 1961, Meisenheim am Glan 1967, S. 151ff. Die Landespartei wollte „die Generation…nicht verlieren, die besonders von der SRP (Sozialistische Reichspartei, die zwischen 1949 bis zu ihrem Verbot 1952 bestehende, in nationalsozialistischer Tradition stehende Partei A.W.) angesprochen und teilweise gewonnen“ werde, zitiert nach Albertin, Lothar: Die FDP in Nordrhein-Westfalen. Porträt einer fleißigen Partei, in: Alemann, Parteien und Wahlen in NordrheinWestfalen, S. 121-145, hier: S. 127. Vgl. Geschichte der FDP-Landtagsfraktion in NRW, einsehbar unter http://www.fdp-fraktionnrw.de/webcom/show_article_cats_hist.php/_c-701/_cat-4/_lkm-736/i.html (30.11.2010). Middelhauve trat nach der Abwahl Karl Arnolds als Ministerpräsident 1956 als Protest gegen die FDP-Jungtürken um Wolfgang Döring, Walter Scheel und Willy Weyer zurück. Den Protagonisten ging es allerdings in erster Linie um bundes- statt landespolitischer Ziele: Sie protestierten sowohl gegen die als autoritär empfundene Politik Konrad Adenauers und dessen bedingungslose Westbindung, die die Einheit gefährdete, als auch gegen Pläne, das Bundestagswahlrecht zuungunsten der FDP zu ändern. Die FDP sollte als unabhängige, für weitere Koalitionen offene dritte Kraft etabliert und von Middelhauves antisozialdemokratischem Kurs gelöst werden. Vgl. zum Hohensyburger Kreis und der National-Liberalen Aktion: GmbH Co KG Die Reise des FDPVorsitzenden Walter Scheel an die Moskwa dient nach dem politischen Kalkül rechter Freidemokraten einem guten Zweck: Walter Scheel zu stürzen sowie Dann ist Scheel arm dran. Spiegel-Interview mit dem FDP-Abgeordneten Siegfried Zoglman, in: Der Spiegel 30 (1970), S. 26-28 sowie Heiße Wahlkampfphase. Möllemann stänkert wieder gegen Friedmann, in: Spiegel-Online (17.9.2002), einsehbar unter
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G.I.1.6. Bündnis 90/Die Grünen Der Zwiespalt zwischen dem Schutz ökologischer Lebensgrundlagen und der Sicherung schwerindustrieller Arbeitsplätze äußerte sich nirgends so stark wie in NordrheinWestfalen. Zwar verabschiedete der Landtag – gezwungen durch die übermäßige Luftbelastung im Ruhrgebiet – bereits am 10. April 1962 das bundesweit erste Immissionsschutzgesetz, doch rangierten Umweltthemen in einem Raum, dessen Wohlstand maßgeblich von der Naturzerstörung abhing, lange an nachgeordneter Position. Ökologisch gesinnte Parteien mussten hier im Interesse des Wirtschaftswachstums und des sozialpolitischen Grundzugs der Landespolitik auf Widerstände treffen, doch verschaffte gerade die Umweltverschmutzung den Grünen ein Menetekel, an dem sie Probleme aufzeigen und die Bevölkerung für sich gewinnen konnte. Bereits vor Gründung des Landesverbandes am 17./18. Dezember 1979 in Hersel errangen grüne Wahllisten bei den Kommunalwahlen 1979 erste Erfolge. Mit dem Ausbau der Universitätslandschaft in den 1960er und 1970er Jahren und dem postmateriellen gesellschaftlichen Wertewandel wurden Grundlagen für die Entstehung eines grünen Milieus gelegt, das der Partei insbesondere in Groß- und Universitätsstädten zu Erfolgen verhalf.1039 1990 gelang den Grünen erstmals der Einzug in den Landtag, an Landesregierungen war die Partei zwischen 1995 und 2005 beteiligt und ist dies wieder seit 2010; innerhalb dieses Prozesses bewegte sich der Landesverband notwendigerweise in die politische Mitte, da die Formulierung realistischer Politikziele in dem konsensorientierten Land NRW Grundvoraussetzung für Wahlerfolge ist.1040 In der basisdemokratisch orientierten Partei sind die fünf Bezirks- sowie die Kreisverbände gegenüber dem Landesverband relativ stark; sie ermöglichen die Berücksichtigung landschaftlicher Eigenheiten und spezifischer politischer Kulturen bei der Formulierung politischer Programme.1041
G.I.2. Politische Kultur Die Vielfalt landschaftlicher Entwicklungsstränge, die aus dem historischen NRW in das heutige Bundesland hineinragen, verlangt, nicht allein von der politischen Kultur, sondern primär von den politischen Kulturen in Nordrhein-Westfalen zu sprechen. Dennoch existieren über sämtliche Binnendifferenzen hinweg übergreifende Traditionslinien und Grundcharakteristika, geschichtlich ausgebildete Werte und Verhaltensweisen, die als ge-
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http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,214341,00.html (14.10.2010). Dienstleistungs- und Bildungsstädte wie Bonn, Köln, Düsseldorf oder Münster gehören seitdem zu den Hochburgen der Grünen. Vgl. Woyke, Wichard: Bündnis 90/Die Grünen, in: Landeszentrale für politische Bildung, NRW-Lexikon, S. 46-48, hier: S. 47. Vgl. zum realistischen Grundzug der als links verorteten Landespartei auch Wiesenthal, Helmut: Die Grünen in Nordrhein-Westfalen. Geschichte, Bedeutung, Programm und Willensbildung, in: Alemann, Parteien und Wahlen in Nordrhein-Westfalen, S. 146-161, hier: S. 159 sowie Korte et. al., Regieren in Nordrhein-Westfalen, S. 172. Vgl. zur Diskussion um den Landesverband auch Szymaniak, Peter Die Grünen sind sich nicht grün, Westdeutsche Allgemeine Zeitung (18.03.2009), einsehbar unter http://www.derwesten.de/waz/politik/Koalitionsaussage-Die-Gruenen-sind-sich-nicht-gruenid675061.html (25.11.2020) Vgl. Korte et. al., Regieren in Nordrhein-Westfalen, S, 192.
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teilte Elemente des kulturellen Raumgedächtnisses bis heute erhalten blieben; sie verbinden das Land und seine Teile politisch und sind nach außen als Elemente ihrer politischen Kultur(en) erkennbar:1042 1. Sozialorientierung: Parallel zu der gewerblichen Überformung des Raumes entstanden frühzeitig Bemühungen um die sozialpolitische Korrektur ökonomischer und gesellschaftlicher Problemlagen; freie Wirtschaftsformen werden seither zwar parteiübergreifend bejaht, der Marktmechanismus jedoch stets auch gebremst und eingehegt. 2. Konkordanz: Das dichte Nebeneinander heterogener Milieus auf engem Raum erforderte gegenseitige Rücksichtnahme zur Entfaltung der eigenen Lebenswelt. Heutzutage wird selbst bei eindeutigen politischen Mehrheiten auch die Opposition in die Verantwortung einbezogen; Minderheiten werden nicht einfach überstimmt, sondern ihre Interessen in der Entscheidungsfindung berücksichtigt, Kooperations- obsiegen über Konfliktmechanismen. 3. Organisierter Traditionalismus: Die lebensweltliche Pluralität innerhalb des historischen Nordrhein-Westfalens fundierte ein breites, nach innen integriertes und nach außen abgeschlossenes Organisationswesen; die verbandsgebunden konservierten hergebrachten Weltverständnisse werden primär in Stellvertretung in den politischen Raum artikuliert, um sie wirksam zu vertreten. 4. Nüchternheit: In einem durch Arbeiter und Bürger geprägten Raum setzen Staat und Politik anstelle pompöser Repräsentationen auf eine zurückhaltende Selbstdarstellung, die dem Land in der Außenwahrnehmung an Glanz nimmt; die hieraus entspringende Gering- und Unterschätzung des Landes steht einem emotional unterlegten Landesbewusstsein im Wege. 5. Selbstverwaltung: Die nicht-etatistische, aber staatlich geförderte gesellschaftliche Selbstorganisation ist seit der Preußenzeit Mittel, um die Bevölkerung in das Staatsganze einzubeziehen, die systemische Steuerungsfähigkeit zu erhöhen, das Land zu legitimieren und landschaftliche Eigenheiten zu wahren. 6. Regionale politische Kulturen: Aus der Vielfalt landschaftlicher Genesestränge erwuchsen spezifische, auf jene rückbezogene politische Teilkulturen, die sich in unterschiedlichen parteilichen und thematischen Präferenzen äußern. Innerhalb eines übergreifenden Gesamtspektrums existieren geschichtlich angelegte regionale Besonderheiten, die sich merklich voneinander anheben. 1042
Um die politische Kultur Nordrhein-Westfalens zu bestimmen, bräuchte es eines Vergleichsmaßstabs, vor dessen Hintergrund sich die Besonderheiten der Landespolitik zeigten; nur in Absetzung von der Bundespolitik oder von anderen Bundesländern ließen sich Eigenheiten ausmachen und bestimmen. Im Zusammenhang dieser Arbeit soll allerdings nicht der Anspruch erhoben werden, eine umfassende Untersuchung der politischen Kultur des Landes vorzunehmen. Hierzu bedürfte es einer umfangreichen Analyse von Sekundärdaten, von Wahlprogrammen, Wahlkämpfen oder der Regierungspraxis; zudem müsste ein gegenüberstellender Vergleich des politischen Lebens in den vier Teillandschaften durchgeführt werden, um eine empirisch belastbare Aussage über die politischen Teilkulturen NordrheinWestfalens tätigen zu können. In Absetzung hiervon beanspruchen die folgenden Ausführungen einzig Plausibilität durch das Aufzeigen charakteristischer, aus der rheinisch-westfälischen Landschaftsentwicklung ableitbarer Politikformen und -inhalte, von Schwerpunkten, die als Grundcharakteristik die Arbeit der verschiedenen Kabinette und der Parteien kennzeichnete. Sie machen die politische Kultur des Landes aus, ohne zu behaupten, sie seien einzig spezifisch für Nordrhein-Westfalen. Nachvollzogen werden grobe Linien, die sich über die teilräumlichen Klüftungen nachverfolgen lassen.
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G.I.2.1. Sozialorientierung In seiner zweiten Regierungserklärung formulierte Ministerpräsident Karl Arnold (CDU) am 21. September 1950 den Anspruch, „das Land Nordrhein-Westfalen will und wird das soziale Gewissen der Bundesrepublik sein.“1043 Programmatisch knüpfte er hiermit an die im kollektiven Landschaftsgedächtnis wurzelnden christlichen Fürsorgetraditionen an und machte sie bereits rhetorisch zu einem Grundbaustein der Landespolitik. Angefangen mit der Dominanz geistlicher Staaten über die Stärke karitativer Reformbewegungen und die pietistische Nächstenliebe bis hin zu den christlichen Arbeitervereinen und Gewerkschaften durchdrangen kirchennahe Organisationen das historische Nordrhein-Westfalen; sie legten einen Schwerpunkt ihrer Arbeit auf die Unterstützung Bedürftiger, mischten sich in sozioökonomische Prozesse ein und versuchten, wirtschaftliche Freiheit – charakteristisch war en sowohl die Betonung eines naturrechtlich begründeten Eigentumsrechts, die Ablehnung klassenkämpferischer Rhetorik als auch das harmonistische Ansinnen, (Arbeits)Konflikte einvernehmlich und kooperativ zu lösen – mit sozialem Ausgleich zu verbinden. Die relativ fortschrittliche Gewerbeentwicklung verlangte frühzeitige Reaktionen auf die mit ihr einhergehende Miseren, die häufig innerhalb eines christlich-sozial eingehegten Rahmens verblieben, bot jedoch auch der sozialistischen Arbeiterbewegung ein frühes Agitationsfeld. Der in NRW begonnene Aufbau der (Montan-)Mitbestimmung war infolgedessen ein den Landschaftstraditionen entspringendes Wirtschafts- und Sozialmodell, das die Unternehmermacht im Dienste des gesellschaftlichen Friedens durch verbriefte Mitspracherechte der Belegschaft bändigte und im rheinischen Kapitalismus1044 ihren konkreten Ausdruck fand: Anstatt auf einen rein wettbewerbsorientierten Marktmechanismus zu setzen, wurden dessen Bändigung, die partizipative Einbindung der Beschäftigten und eine begleitende Sozialgesetzgebung wesentliche Grundzüge der Nachkriegswirtschaftsordnung. „‚Das Soziale’, das im Lande umhergetragen wird wie eine Monstranz“,1045 verbindet Landesparteien und -regierungen über die Lagergrenzen hinweg und ist wesentlich zu beachtender Grundwert, um politischen Erfolg zu haben. „Die alten Milieus haben den Kindern ein Gefühl für soziale Gerechtigkeit vermacht…Wem der Ruf anhaftet, das Soziale in der Demokratie zu gefährden, der hat zwischen Rhein und Ruhr einen schweren Stand.“1046 Nach wie vor treten nordrhein-westfälische Landesregierungen für den Erhalt des Kohlebergbaus ein, obwohl der Abbau im Welt-
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Vgl. den Stenographischen Bericht der Landtagssitzung, einsehbar unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMP02-5.pdf (3.12.2010), S. 61. In seiner 1991 veröffentlichten Studie stellte Michel Albert dem neoliberal-angelsächsischen das rheinische Wirtschaftsmodell gegenüber, das sich u. a. durch die Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und nehmern, eine stärkere staatliche Marktregulierung und die Betonung egalitärer gegenüber leistungsorientierter Wirtschaftswerte auszeichne. Rheinisch war die Kapitalismusform, da sie sich für Albert zunächst auf die am Rhein gelegenen Länder Schweiz, Deutschland und Niederlande bezog, aber auch, weil die deutsche Nachkriegsordnung von Bonn aus gelenkt wurde und die SPD in Bad Godesberg den Weg zu ihr fand. Vgl. zum Begriff rheinischer Kapitalismus Albert, Michel: Kapitalismus contra Kapitalismus, Frankfurt a. M./New York 1992, S. 25 Schmidt, Schön, sozial und dreckig, in: Die Zeit (6.5.2010), S. 7. Willeke, Stefan: Schröders letzter Mann. Peer Steinbrück soll am 22. Mai die Macht in NordrheinWestfalen verteidigen - eine aussichtlose Schlacht?, in: Die Zeit (11.05.2005), einsehbar unter http://www.zeit.de/2005/20/PeerSteinbr_9fck (6.12.2010).
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maßstab nicht konkurrenzfähig ist, sein sozialverträglicher Rückbau ist beständige Maxime der Landespolitik, die Entlassungen und Zechenschließungen verschleppt und hohe Summen in ihre Subventionierung anstatt in produktivere und zukunftsfähigere Wirtschaftszweige investiert.1047 Fördergelder werden über das Land gestreut, anstatt sie zielgerichtet zu fokussieren; umgangen wird hiermit die (unsoziale) Gefahr, die Teilung des Landes in wachstumsstarke und -schwache Regionen zu befördern.1048 Zwar beschloss die zwischen 2005 und 2010 bestehende CDU/FDP-Koalition in ihrem Koalitionsvertrag, die Kohlesubventionen bis 2010 um 750 Millionen Euro kürzen zu wollen, doch akzentuierte sich ihr Ministerpräsident Jürgen Rüttgers im Gegenzug – wie das abschließende Fallbeispiel zeigt – als Arbeiterführer und sein sozialpolitisches Profil. Vorstöße wie der um Mindestlöhne kommen selbst von konservativer Seite nicht selten aus Nordrhein-Westfalen.1049 G.I.2.2. Konkordanz Bereits die breitangelegte Verteilungspraxis öffentlicher Gelder verweist auf die auf Einvernehmlichkeit ausgerichtete politische Landeskultur. Kooperation, Konsens und Konkordanz, ein System des Gebens und Nehmens sowie die Bevorzugung des Ausgleichs vor der Konfrontation sind aus der rheinisch-westfälischen Landschaftsgenese abzuleitende Verhaltensnormen, die auch heute noch die Landespolitik mitbestimmen. In der Reformationszeit dominierte im historischen NRW die erasmianisch geprägte, auf Harmonie setzende via media über die konfrontative Gegenüberstellungen der Konfessionen, die folgende Bekenntnisvielfalt auf engem Raum erforderte gegenseitiges Gewährenlassen, wie auch die katholische Soziallehre oder die reformierte Gemeindepraxis die subsidiäre Eigenverantwortung innerhalb übergreifender Hilfsangebote betonten. Im Wirtschaftsleben propagierten die mitgliederstarken christlichen Arbeiterorganisationen den Ausgleich von Kapital und Arbeit, während das nationalliberal gesinnte Bürgertum wirtschaftliche Freiheit mit politischer Unmündigkeit und einer Nähe zum Staat vereinbarte. Der das gesamtdeutsche Politikverständnis durchziehende konkordante Grundzug1050 ist in Nordrhein-Westfalen – dem Land des dichten Nebeneinanders unterschiedlicher
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Auch die 2010 gebildete rot-grüne Minderheitsregierung einigte sich in Bezug auf die Fortsetzung der Kohlesubventionen: Vgl. hierzu: Streit um Förderung der Kohle. SPD, Grüne und Linke schmieden Kohle-Pakt, Rheinische Post Online (16.8.2010), einsehbar unter http://www.rponline.de/landtagswahl/nachrichten/SPD-Gruene-und-Linke-schmieden-Kohle-Pakt_aid_894607.html (7.12.2010). Vgl. Held, Gerd: Das langweilige Land, in: Die Welt (14.10.2008), S. 7. So die Initiative Karl-Josef Laumanns, des aus NRW stammenden Vorsitzenden der Christlich Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), zum CDU-Parteitag im November 2011. Vgl. hierzu Jacobsen, Lenz: Der Mindestlohn-Flüsterer. Jahrelang kämpfte er für seine Idee, nun ist er fast am Ziel: Wie der Sozialpolitiker Karl-Josef Laumann seiner CDU den Mindestlohn beibrachte, in: Zeit-Online (7.11.2011), einsehbar unter http://www.zeit.de/politik/deutschland/2011-11/laumann-portraet (29.11.2011). Vgl. zum kooperativen deutschen Politikverständnis, der Ablehnung von Streitereien und der Hochschätzung von Harmonie und Eintracht Bergem, Wolfgang: Tradition und Transformation. Eine vergleichende Untersuchung zur politischen Kultur in Deutschland, Opladen 1993, S. 84f.; Sontheimer, Kurt: Deutschlands politische Kultur, München 1990, S. 39 sowie Greiffenhagen, Martin und Sylvia: Ein schwieriges Vaterland. Zur politischen Kultur im vereinigten Deutschland, München 1993, S. 76, 114f.
G.I. Politisches System, Parteienlandschaft und politische Kultur
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Milieus –1051 besonders ausgeprägt und wiederkehrendes Handlungsmuster in Politik und Wirtschaft. Anders als etwa in Bayern,1052 ist selbst bei klaren Mehrheitsverhältnissen die auch als Arnold-Schlüssel bezeichnete „grundsätzliche Neigung, auch bei eindeutigen Mehrheitsverhältnissen auf Kooperation statt Konkurrenz, auf Konsens statt Dissens und auf Konkordanz statt Konkurrenz zu setzen“,1053 seit der Regierungszeit Karl Arnolds mitbestimmend für die Regierungs- und Verwaltungsarbeit sowie die Besetzung öffentlicher Ämter.1054 Im selben Maße dient die hier wurzelnde betriebliche Mitbestimmung der friedlichen und allgemeinverträglichen Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung,1055 wie auch die in den 1980er Jahren eingeschlagene Regionalisierungspolitik in diese Reihe zu stellen ist: Anstatt eine homogenisierende Staatskultur durchzusetzen, wird den Landesteilen seither – zuletzt in dem Begehren, im Einvernehmen mit Schulen, Kommunen und Opposition über die Parteilager einen Schulkompromiss zu schließen –1056 vermehrt Platz zur Sonderentfaltung gelassen, um die Entwicklung des Nahumfelds in bürgerlicher Eigenregie zu fördern.
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Der Zusammenschluss unterschiedlicher politischer, sozialer und kultureller Milieus auf engem Raume und die hohe Bevölkerungsdichte - nach den Stadtstaaten weißt Nordrhein-Westfalen mit 526 Personen pro km2 die weitaus höchste Bevölkerungsdichte der deutschen Bundesländer auf, der bundesdeutsche Schnitt lag 2008 bei 230 Einwohnern pro km2 - machten eine pragmatische Alltagsverständigung über lebensweltliche Differenzen insbesondere im Ruhrgebiet notwendig; die personelle Einbindung verhinderte Konflikte und suchte im Voraus Kompromisse. Vgl. zur unterschiedlichen Bevölkerungsdichte der Bundesländer http://de.statista.com/statistik/daten/studie/1242/umfrage/bevoelkerungsdichte-in-deutschland-nachbundeslaendern/ (6.12.2010). Gegenbeispiel für diese Praxis ist der Freistaat Bayern, in dem nach jahrzehntelanger Dominanz der CSU wichtige öffentliche Ämter fast ausschließlich durch CSU-Mitglieder besetzt sind. Vgl. Kießling, Andreas: Die CSU. Machterhalt und Machterneuerung, Wiesbaden 2004, S. 72. Dörner, Andreas: Zwischen Organisationstreue und Bürgergesellschaft: Politische Kultur in NRW, in: Canaris/Rüsen, Kultur in Nordrhein-Westfalen, S. 67-75, hier: S. 71. Seit den 1950er Jahren ist es auf sämtlichen Verwaltungsebenen üblich, den politischen Gegner nicht vollauf auszuschließen, sondern über den Arnold-Schlüssel konkordant einzubinden. Spitzenbeamte mit anderem Parteibuch wurden oftmals im Amt belassen. Jürgen Rüttgers beließ etwa 2005 den SPDRegierungspräsidenten im Bezirk Düsseldorf, Hannelore Kraft 2010 den CDU-Regierungspräsidenten in Münster und die FDP-Regierungspräsidentin in Detmold im Amt. Auch auf kommunaler Ebene wurden Beigeordneten- oder Dezernentenstellen nach dem Parteienproporz statt dem Mehrheitssystem besetzt. Vgl. zur Praxis der Einbeziehung des politischen Gegners: Alemann, Ulrich von: Nüchtern und ohne Leidenschaft: Ein Land hat sich gefunden, in: Canaris/Rüsen, Kultur in Nordrhein-Westfalen, S. 48-55, hier: S. 53f. „Selbst die schweren sozialen Konflikte der Kohlenkrise…konnten ohne Fundamentalopposition bewältigt werden, da die Industriegewerkschaft Bergbau im Großen und Ganzen Artikulation von Protesten und Hinnahme von ökonomisch notwendigen Anpassungsmaßnahmen zu verknüpfen wusste.“ Peukert, Detlef: Industrialisierung des Bewusstseins? Arbeitserfahrungen von Ruhrbergleuten im 20. Jahrhundert, in: Tenfelde, Klaus (Hrsg.): Arbeit und Arbeitserfahrung in der Geschichte, Göttingen 1986, S. 92-119, hier: S. 95. Nach dem Kompromiss von SPD, Grünen und CDU wird es grundsätzlich beim gegliederten Schulsystem bleiben, doch soll in Sekundarschulen ein längeres gemeinsames Lernen möglich sein. Das Schulangebot wird weiterhin aus Grundschulen, Gymnasien, Real- und Hauptschulen sowie Gesamtschulen bestehen, doch daneben die Sekundarschule eingeführt, die die Jahrgänge fünf bis zehn umfasst und in den Klassen fünf und sechs gemeinschaftlich, aber nach Leistung differenziert gelernt wird. Von Jahrgangsstufe Sieben an kann der jeweilige Schulträger unter „enger Beteiligung“ der Schulkonferenz festlegen, ob der Unterricht integriert, teilintegriert oder in mindestens zwei Bildungsgängen (kooperativ) stattfindet. Vgl. hierzu Burger, Reiner: „Wir haben einen Schulfrieden geschlossen.“ Die rot-grüne Minderheitsregierung und die die oppositionelle CDU haben sich in Nordrhein-Westfalen darauf geeinigt, eine neue Sekundarschule einzuführen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (19.7.2011), einsehbar unter
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G. Nordrhein-Westfalen seit 1946
Einschränkend muss hinzugefügt werden, dass konkordante Politikmuster auch der kleineren Maßstabsebene geschuldet sind, die relative geringe ideologische Bedeutung der meisten Politikfelder erleichtert zudem die sachliche Zusammenarbeit; ist ein Thema wie die Schulpolitik von größerer Bedeutung, zeig(t)en sich auch in NRW Grabenkämpfe und die Bevorzugung des Konflikts gegenüber der Kooperation. Kritisch anzumerken ist darüberhinaus, dass Entscheidungen in diesem System eher vertagt als getroffen und Wandlungsprozesse durch den Versuch, sämtliche Interessen zu berücksichtigen und niemandem zu schaden, verzögert werden. Wirtschaftliche Strukturprobleme wurden durch staatliche Programme zwar vordergründig behoben, aber nicht beseitigt, der Korporatismus aus Landesregierung, Unternehmern und Gewerkschaften lähmte Innovationen und machte NRW als einer unter anderen Gründen zu einem der wachstumsschwächsten Bundesländer. Das konkordante Politikmuster sowie das organisierte Aushandeln von Interessen tragen zur Verfilzung der politischen Landschaft wie zur Klüngelwirtschaft bei und stehen einem ergebnisoffenen, wettbewerbsgesteuertem Prozess skeptisch gegenüber.1057 Politiker wie Johannes Rau, die einen präsidialen, landesväterlichen Stil pflegen, auf Integration und Harmonie über die Parteigrenzen hinweg setzen und sich als fürsorglicher Kümmerer präsentieren, entsprechen in besonderem Maße der politischen Landeskultur. G.I.2.3. Organisierter Traditionalismus Das Nebeneinander unterschiedlicher Milieus auf engem Raum beförderte seit dem 19. Jahrhundert vornehmlich in den Verdichtungsgebieten des historischen NordrheinWestfalens die Ausbildung enger, binnenbezogener Organisationsnetze zur Erhaltung der eigenen Lebenswelt. Verbandgestützt erhielten sich in ihrem Innern hergebrachte Werte und Verhaltensmuster, die die Alltagsgestaltung begleiteten und nur allmählich modern überformt wurden. Wirtschaftliche Fortschrittlichkeit ging mit traditionalistischkonservativen Weltverständnissen einher, die den industriellen Umwälzungen Werte wie Sicherheit, Harmonie und Ruhe oder die Sehnsucht nach geordneten Verhältnisse an die Seite stellten; auch heute noch stehen diese im kollektiven Gedächtnis verankerten Maximen einer vorbehaltlosen Erneuerungsrhetorik entgegen.1058 Vereins- und Verbandsstrukturen waren und sind Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation, die neben der Pflege gemeinschaftlicher Alltagsbeziehungen die politische Interessenartikulation betreiben, das durch Schwerindustrien geprägte Land NRW – in den Montanregionen ballt sich die Bevölkerung – eine Hochburg unternehmerischer wie gewerkschaftlicher Zusammenschlüsse und deren Einfluss auf die Gestaltung der Wirt-
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http://www.faz.net/artikel/C30923/nordrhein-westfalen-wir-haben-einen-schulfrieden-geschlossen30468472.html (5.8.2011). Dass der mittlerweile gesamtdeutsch gebräuchliche Begriff Klüngel zumeist mit der Stadt Köln in Verbindung gebracht wird, überrascht in diesem Zusammenhang nicht. Proporz und Konkordanz können zur Interessenvermischung, einem System gegenseitiger Hilfsleistungen und Gefälligkeiten und dem Grundsatz mer kenne uns, mer helfe uns führen. Vgl. zum Begriff und seiner besonderen Bedeutung für Köln: Überall, Frank: Der Klüngel in der politischen Kultur Kölns, Bonn 2007. So gilt die neoliberale Modernisierungsrhetorik Peer Steinbrücks als ein Faktor für die Wahlniederlage der SPD 2005. Vgl. Willeke, Schröders letzter Mann, in: Die Zeit (11.05.2005) einsehbar unter http://www.zeit.de/2005/20/PeerSteinbr_9fck (6.12.2010) sowie Schmidt, Schön, sozial und dreckig, in: Die Zeit, ebd.
G.I. Politisches System, Parteienlandschaft und politische Kultur
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schafts- und Sozialpolitik.1059 Arbeitgeber und Arbeitnehmer gewöhnten sich in der Folge an den Beistand des Staates und die Sicherstellung ihrer Interessen, anstelle einer Selbstverantwortungsmentalität erwuchsen hieraus Versorgungs- und Subventionsansprüche.1060 Verbandsgebundene Stellvertreter setzten sich insbesondere auf Arbeiterseite für die Belange der Mitglieder ein, schulten ihr Mitwirkungsvermögen und waren demokratische Ermöglicher, aber auch Entmündiger: In ihrer Bündelungsfunktion beförderten sie die Durchsetzbarkeit spezifischer Anliegen, hemmten aber auch persönliches Engagement; der eigene Input wurde zurückgeführt und politisches Engagement primär auf den Output, die Verhandlungsergebnisse reduziert.1061 Ausdruck der organisierten Milieukultur wurde das ausgeprägte Stammwählerverhalten, in dessen Folge sich in NordrheinWestfalen die zumeist fast gleichstarken Parteien CDU und SPD gegenüberstanden. In den letzten Jahren bröckelte die Organisationsbereitschaft allerdings deutlich ab, gleichzeitig nahmen die kurzfristige Interessenartikulation und volatile Wahlergebnisse zu.1062 G.I.2.4. Nüchternheit Das historische Nordrhein-Westfalen wurde „weniger als andere deutsche Länder durch fürstlichdynastische Politik als vielmehr zunächst durch eine bürgerliche Arbeitswelt und -kultur geformt, die dann in eine industrielle Arbeitswelt mit spezifischer Industriekultur einmündete.“1063 Mitsamt der Erbmasse christlicher Selbstbescheidung, reformierter Zweckorientierung und pietistischer Innerlichkeit entbehrte es einer glanzvollen monarchischen Vergangenheit oder Repräsentationskultur und bewegte sich – trotz aller Anwandlungsversuche von Industriellenfamilien wie den Krupps an den Lebensstil des Adels – in den schlichteren Bahnen einer Bürgerund Arbeiterkultur, die (im-)materiellen Glanz und Dekor zugunsten von Werten wie Leistung, Fleiß und Arbeitskraft zurückwies. Trotz anfänglicher Prosperität verzichteten die ersten Landespolitiker auf demonstrative Repräsentationselemente zur Integration NRWs und stellten stattdessen die Lösung der Nachkriegsprobleme in den Vordergrund; primär sozioökonomische Erfolge sollten die Existenz Nordrhein-Westfalens legitimieren, wie auch die ungeklärte Frage nach dem 1059
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Vgl. Goch, Strukturwandel und Strukturpolitik in Nordrhein-Westfalen, in: ders., Strukturwandel und Strukturpolitik, ebd., S. 36ff. Gehörten dem DGB-Bezirk NRW 1984 noch 2.476.000 Menschen, hiervon 1.745.700 Arbeiter, an, waren 2005 insgesamt nur noch 1.677.532 Mitglieder in ihm zusammengeschlossen. Vgl. hierzu „Den Kohlenpott in Watte gepackt.“ Der Soziologe Professor Friedrich Landwehrmann über die verdeckten Ursachen der Ruhr-Krise, in: Der Spiegel 41 (1979), S. 49-63. „Der angestammte Politikertyp, der Stimmen von Wählern auf sich zog, weil er zu ihrem Nutzen Macht auszuüben verstand…(und ein A.W.) ich erledige das für dich“ genügten oftmals als Wahlversprechen. Vgl. Willeke, Schröders letzter Mann, in: Die Zeit, ebd. Nordrhein-Westfalen ist heute nicht mehr das Land der Vereine. Zwar besitzt es mit 115.000 Vereinen bundesweit über die höchsten absoluten Zahlen, liegt aber relativ, auf die Bevölkerungsdichte bezogen, im Bundesländervergleich nur noch auf einem 10. Rang. Vgl. die bundesdeutsche Vereinsstatistik 2008, einsehbar unter http://www.aktivebuergerschaft.de/fp_files/StudienBerichte/04_Vereinsregister_RZ.pdf (8.12.2010). Dies muss allerdings ebenso in Relation gesetzt werden, da Vereine zumeist eher ein ländliches Phänomen sind und die Organisationszahlen auf dem Land höher liegen als in Städte, Nordrhein-Westfalen jedoch eine stark verstädtertes Land ist. Köhler, Wolfram: Nordrhein-Westfalen wird sich seiner Vergangenheit bewusst, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung (5.3.1980), S. 3.
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G. Nordrhein-Westfalen seit 1946
Bestand des zusammengefügten Landes wesentlich für die Vernachlässigung einer eigenen Darstellungskultur war.1064 Anlässlich des zehnten Jahrestags der Landesgründung verzichtete die Regierung auf aufwendige Feierlichkeiten, um die eingesparten Mittel für soziale Zwecke zu verwenden,1065 eine Protokollabteilung wurde erst 1960 eingeführt. Aufschlussreich ist im Ländervergleich der Umgang der Öffentlichkeit mit der Landespolitik: Kommentierte die Süddeutsche Zeitung 1963 anlässlich des Besuches des NRW-Staatsoberhaupts Franz Meyers in München, dieser komme in ein Land, das sich seiner Eigenstaatlichkeit sehr bewusst sei und diese zelebriere, so betonte die Westfälische Zeitung das Befremden, das der Ausdruck Staatsbesuch für ein Treffen zweier Länderregierungschefs auslöse.1066 Nordrhein-westfälische Ministerpräsidenten präsentierten sich in der Öffentlichkeit eher als Kumpel anstatt als Ersatzkönig, „jeder Schützenverein wählt(e) seinen Vorsitzenden mit einem feierlicheren Dekor als der nordrhein-westfälische Landtag seinen Präsidenten.“1067 Versuche, dem Land eine Identität zu geben, scheiterten an der künstlichen Instrumentalisierung der Landschaftsgeschichte und waren hierbei stets auf das Motiv der Industrialisierung zurückverwiesen, das kaum Platz für glanzvolle Inszenierungen oder die Betonung eines intrinsisch Schönen ließ. Heute äußert sich das nüchterne Politikverständnis in dem kaum ausgebildeten Landesbewusstsein. Zwar ist Nordrhein-Westfalen bei seinen Bürgern als Staat anerkannt, vermag aber keine emotionale Bindung zu erzeugen. Anstatt eine Landeskultur zu pflegen, die der Bevölkerung einen Sinn für das Gemeinschaftliche symbolisch verdeutlichte, entfernten – die im Weiteren noch zu besprechenden – Kampagne Wir in NRW oder die in den 1980er Jahren eingeschlagene Regionalisierungspolitik das Gemeinwesen eher voneinander. Zwar wird als Element einer Darstellungspolitik seit 2006 ein jährlicher NordrheinWestfalen-Tag veranstaltet, doch dient dieser eher regionaler und lokaler Zurschaustellung als der Weckung eines Verbundenheitsempfindens. G.I.2.5. Selbstverwaltung Ist bereits das traditionalistische Organisationswesen eine Form gesellschaftlicher Selbstverwaltung, wird diese etwa noch um die höheren Kommunalverbände Landschaftsverband Rheinland und Westfalen-Lippe, Regionalverband Ruhr und Landesverband Lippe sowie innerhalb der Regionalisierungspolitik um die landesseits geförderten Netzwerke
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So wendete sich das Wirtschaftsministerium am 29. April 1947 gegen das Ansinnen des Ministerpräsidenten, zum einjährigen Bestehen des Landes eine Bilanz der bisherigen Leistungen zu veröffentlichen, mit der Replik, „mit Rücksicht auf die zahlreichen Aufgaben, die heute der Verwaltung gestellt sind, ist es m. E. dringend geboten, derartige ausgesprochen repräsentative Berichte gegenüber dringenderen produktionsfördernden Verwaltungsarbeiten zurückzuschrauben.“ In der Wahrnehmung der zeitgenössischen Politik war unklar, ob NRW ein Provisorium sei oder Bestand habe; so weigerte man sich in der Folge, dem Land – wie von den Alliierten gewollt – Staatscharakter zuzusprechen und nannte die Staatskanzlei des Ministerpräsidenten bis 1950 Landeskanzlei. Vgl. Mergel, Thomas: Staatlichkeit und Landesbewusstsein. Politische Symbole und Staatsrepräsentation in Bayern und Nordrhein-Westfalen 1945 bis 1973, in: Schlemmer, Thomas/Woller, Hans (Hrsg.): Bayern im Bund. Politik und Kultur im föderativen Staat 1949 bis 1973, München 2004, S. 281347, hier: S. 296, 302. Vgl. Cornelißen, Christoph: Der lange Weg zur historischen Identität. Geschichtspolitik in NordrheinWestfalen seit 1946, in: Schlemmer/Woller, Bayern im Bund, S. 411-484, hier: S. 424. Vgl. Mergel, Staatlichkeit und Landesbewusstsein, in: Schlemmer/Woller, Bayern im Bund, ebd., S. 329. Köhler, Das Land aus dem Schmelztiegel, S. 200.
G.I. Politisches System, Parteienlandschaft und politische Kultur
257
bereichert. Allesamt greifen sie zurück auf den im kollektiven Landschaftsgedächtnis gespeicherten Subsidiaritätsgedanken der katholischen Soziallehre und des presbyterialsynodalen Kirchenaufbaus sowie ein vornehmlich um die Kirchen geknüpftes Vereinswesen, die eine staatsferne Gestaltung des nahen Umfeldes ermöglichten und die eigenverantwortliche Mitgestaltung des nahen Lebensumfelds zu einer Selbstverständlichkeit machten. Seit dem frühen 19. Jahrhundert erweiterte das aufstrebende Bürgertum die Forderung nach Partizipation und Mitbestimmung und übte diese nicht mehr allein auf kommunaler oder ständisch-zünftischer Ebene, sondern zunehmend auch auf den Provinziallandtagen aus wie ein. Diese „historisch begründete Tradition politischer, gesellschaftlicher und kirchlicher Selbstverwaltung“,1068 der staats- und obrigkeitsfernen Einübung bürgerlicher Eigenständigkeit veranlassen manche Autoren, Nordrhein-Westfalen westlichere Züge als anderen Bundesländern zuzusprechen.1069 Ohne dieser These an dieser Stelle vergleichend nachgehen zu können, war die Betonung landschaftlicher Selbstverwaltung nach der Landesgründung Teilstrategie, um das heterogene Land zu integrieren. Die Rücksichtnahme auf regionale Traditionen sollte den Zusammenhalt der Landesteile indirekt befördern, die Wiedererrichtung provinzieller Organe versprach die Hebung der Landesfreudigkeit und diente der Pflege und dem Erhalt landschaftlicher Teilkulturen innerhalb des Bindestrichlandes. Die weitgehende Dezentralisierung der Verwaltungsstrukturen blieb bis in die 1960er Jahre politische Grundlinie und wird mit der Regionalisierung der Struktur- und Kulturpolitik seit den 1980er Jahren erneut verfolgt, um die auf regionaler Ebene vermuteten Potentiale für die Landesentwicklung zu aktivieren. In dem Wissen um die heterogenen Landschaftstraditionen ist auch die Kulturpflege subsidiär zwischen Land, Gemeinden und Gemeindeverbänden aufgeteilt und NRW in der Folge das Land mit der höchsten Kommunalisierungsquote bei der Kulturförderung.1070 Nicht zuletzt die in Artikel 17 der Landesverfassung niedergelegte finanzielle und sachliche Förderung der Volks- und Erwachsenenbildung durch Land, Gemeinden oder gesellschaftliche Institutionen verweist auf das Bild des mündigen, sich in das Gemeinwesen einbringenden und einmischenden Bürgers; NRW war 1953 das erste Bundesland, das ein Erwachsenenbildungsgesetz verabschiedete1071 und über die Jahre vergleichsweise hohe Zahlungen an die Volkshochschulen leistete.1072 1068 1069
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Vgl. Korte et. al., Regieren in Nordrhein-Westfalen, S. 31. Vgl. Rohe, Politische Traditionen im Rheinland, in Westfalen und Lippe, in: Landeszentrale für politische Bildung, Nordrhein-Westfalen, S. 30. Westlicher meint in diesem Zusammenhang die insbesondere in angelsächsischen Ländern und ihrer traditionellen Staatsferne geübte gesellschaftliche Selbstorganisation. Während die öffentliche Kulturfinanzierung in NRW zu über 80% von den Kommunen oder Kommunalverbänden getragen wird, geschieht dies beim Zweitplazierten Hessen nur zu 60 und bei Bayern nur zu knapp über 50%. Vgl. Statistische Ämter des Bundes und der Länder (Hrsg.): Kulturfinanzbericht 2008, Wiesbaden 2008, S. 28. Vgl. Harney, Klaus: Infrastrukturen und Ressourcen öffentlicher Weiterbildung in NRW nach 1945, in: Ciupke, Paul/Faulenbach, Bernd/Jelich, Franz-Josef/Reichling, Norbert (Hrsg.): Erwachsenenbildung und politische Kultur in Nordrhein-Westfalen. Themen - Institutionen - Entwicklungen seit 1945, Essen 2003, S. 15-30, hier: S. 15f. 1998 etwa gab das Land mit 210 Mio. DM mehr als das doppelte von dem des zweitplazierten Landes Niedersachsen für sämtliche Weiterbildungsmaßnahmen aus. Vgl. Faulstich, Peter/Vespermann, Per: Strukturen und Perspektiven der Weiterbildung, in: dies. (Hrsg.): Weiterbildung in den Bundesländern. Materialien und Analysen zur Situation, Strukturen und Perspektiven, Weinheim/München 2002, S. 1572, hier: S. 29.
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G. Nordrhein-Westfalen seit 1946
Die Betonung des Selbstverwaltungsprinzips trägt im Zusammenspiel mit dem Proporz- und Konkordanzdenken aber auch zur Kirchturmspolitik in NRW bei. Mit der Schwächung der industriellen Klammer Ruhrgebiet gewinnen die Teilräume an Stärke gegenüber dem Land, breit gestreute Fördermittel gewährleisten regionale Vielfalt, verhindern aber die Konzentration der Mittel auf wenige, leistungsstarke Zentren. Die „Konfektionskleidung der ‚Chancengleichheit’“1073 stößt viele kleine, aber keine große, das ganze Land ergreifende Bewegung an; prägnantes Beispiel hierfür ist der seit den späten 1950er Jahren begleitete – und verschleppte – Strukturwandel.1074 G.I.2.6. Regionale politische Kultur Als Folge der heterogenen Raumentwicklung kann – über die dargestellten Charakteristika hinaus – keine homogene politische Kultur für Nordrhein-Westfalen behauptet werden. Unterschiedliche landschaftliche Entwicklungen und Einflüsse brachten eine Vielzahl – parallel zu den das Land durchziehenden mentalen Grenzen verlaufenden – politischer Regionalkulturen hervor, die sich bei Landtagswahlen trotz des Fortfalls der dahinter stehenden Milieus und Prägungsbedingungen in einer relativ konstanten Bevorzugung entweder der CDU oder der SPD in den Landesteilen und ihren Landschaften offenbar(t)en. Lassen sich mit Bezug auf das Landesganze nur einige Verallgemeinerungen formulieren, stellen manche Autoren vermeintliche politische Kulturen der Landesteile monolithisch gegenüber und attestieren dem Rheinland ein größeres Interesse an Diskussionen, an Aushandlungsprozessen und Kompromissen sowie eine allgemeine Liberalität, während in Westfalen Bodenständigkeit, sachliche Ergebnisse und eindeutige Entscheidungen zählten;1075 dem Ruhrgebiet wird das Festhalten an traditionellen Vorstellungen, eine nüchternoffene Gemeinschaftsorientierung, ein Alltagspragmatismus sowie die Betonung des Sozialen in der Politik nachgesagt,1076 während die Lipper auf ihre Sparsamkeit reduziert werden.1077 Mit gutem Willen lassen sich für diese – eher in den Raum gestellten denn verifizierten – Thesen durchaus aus der Landschaftsentwicklung abzuleitende Anhaltspunkte finden: Das Rheinland war ein vergleichsweise offener geographischer Raum mit zahlrei1073
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Gruenter, Rainer: Ein deutsches Reisebild. Zum Nord-Süd-Gefälle deutscher Bundesländer, WDRRadiofeature (1984), zitiert nach Hitze, Guido: Von „Wir in NRW“ bis „Nordrhein-Westfalen kommt wieder“. Landesbewusstsein und Landesidentität in den landespolitischen Integrationsstrategien von Regierungen, Parteien und Parlament, in: Brautmeier et. al., Heimat Nordrhein-Westfalen, S. 89-118, hier: S. 90f. Das Festhalten an alten Organisationsmilieus, konkordanten Politikmustern und sozialorientierter Politik verschleppt in Nordrhein-Westfalen seit den 1950er Jahren den Strukturwandel. Aus der Sorge um Arbeitsplätze und soziale Folgeschäden wird der Kohlebergbau weiter subventioniert, anstatt die Gelder auslaufen zu lassen und in andere Sektoren zu investieren. Probleme wurden durch staatliche Programme zwar vordergründig behoben, aber nicht beseitigt. Der Korporatismus aus SPD-Landesregierung, Unternehmern und Gewerkschaften lähmte Innovationen und machte Nordrhein-Westfalen zu einem der wachstumsschwächsten Bundesländer. Vgl. Kost, Andreas: Nordrhein-Westfalen. Vom Land aus der Retorte zum „Wir-Gefühl“, in: Wehling, Hans-Georg (Hrsg.): Die deutschen Länder. Geschichte – Politik - Wirtschaft, 2. Aufl., Opladen 2002, S. 181-194, hier: 184 sowie Rohe, Politische Traditionen im Rheinland, in Westfalen und Lippe, in: Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen, Eine politische Landeskunde, ebd., S. 17, 20. Vgl. Rohe, Vom Revier zum Ruhrgebiet, S. 74f. Vgl. Rohe, Politische Traditionen im Rheinland, in Westfalen und Lippe, in: Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen, Eine politische Landeskunde, S. 17.
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chen Außenkontakten und Handelsbeziehungen, hier trat das Fremde häufiger in die Alltagswelt und konfrontierte die eigene Mentalität mit anderen Lebensformen, während Westfalen abgelegener von den großen Austauschbeziehungen lag und hergebrachte Verhaltensnormen hier in geringerer Zahl mit den Vorstellungen Auswärtiger in Einklang zu bringen waren. Ein dichtbesiedeltes Gebiet wie das Ruhrgebiet hatte über weltanschauliche Differenzen hinweg das Zusammenleben unterschiedlicher Milieus zu bewerkstelligen, war ansonsten aber in nach innen abgeschlossene Zirkel zerklüftet; anstatt im Zusammenleben ideologische Maximalpositionen durchzusetzen, mussten Abstriche gemacht und Toleranz für die Sichtweisen Anderer geübt werden, wobei mit der sozialen Frage ein gemeinsamer Nenner der Arbeiterschichten bestand. Die mit der lippischen Rückständigkeit einhergehende Armut war Quelle einer aus der Notwendigkeit geborenen Sparsamkeit. Abgesehen davon, dass an dieser Stelle von landsmannschaftlichen Stereotypisierungen und Spekulationen über Kollektivpsychen abgesehen wird, sind es nicht allein die Landesteile, die politische und kulturelle Strukturgrenzen innerhalb Nordrhein-Westfalens markieren, sondern heben sich vor allem die in ihnen zusammengeschlossenen Landschaften voneinander ab. Sicherlich existieren im Rheinland bürgerlich-liberale Traditionen, ohne das Rheinland zu einer solchen Einheitslandschaft zu machen; übergreifend überlebten in Westfalen konservativere lebensweltliche Horizonte, ohne den gesamten Landstrich derart einzufärben. Das auf beiden Seiten gezeichnete Panorama entspricht auf der einen Seite in erster Linie der Rheinschiene, dem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum des rheinischen Landesteils mit mannigfachen Außenbeziehungen, dessen Prägungslinien sich von denen des abgeschiedeneren Bergischen Landes oder des Niederrheins deutlich abhoben; auf der anderen Seite erscheint vornehmlich das Münsterland als seit dem Spätmittelalter gewachsene, in ländlich-adligen Erfahrungswelten ruhende Landschaft in der Lage gewesen zu sein, nach innen wie nach außen ein Image aufzubauen, das aus der Provinzhauptstadt in den weiteren westfälischen Raum ausstrahlte, sich jedoch vernehmlich von den Lebensverhältnissen des Märkischen Sauerlandes oder MindenRavensbergs unterschied. Für das Ruhrgebiet bestimmend ist nach wie vor das Klischee der montanindustriell-proletarischen Einheitslandschaft, es übergeht jedoch die Divergenzen zwischen Hellweg- und Emscherstädten, zwischen westlichem und östlichem Ruhrgebiet, wohingegen allein Lippe aufgrund seiner geringeren Größe und einheitlicheren Prägung vorurteilsbeladene Einschätzungen am Ehesten bestätigen könnte. Charakteristischprägnante Landschaftsbilder bestimmen die Außenbilder der Landesteile und präsentieren sie als untrennbare Einheiten, wo mannigfache innere Klüfte diese Einschätzung konterkarieren. Mit Blick auf obige, anhand der Landtagswahlergebnisse 2010 eingefärbte Landkarte schimmern die im historischen Nordrhein-Westfalen angelegten Landschaften und Landschaftsprägungen deutlich durch. Das Land erscheint hier als schwarzes Land mit roten Einsprengseln, die sich im Ergebnis – aufgrund unterschiedlicher Bevölkerungsdichten – in der absoluten Stimmenzahl in etwa gleichen. Trotz aller Säkularisierungsprozesse leuchtet durch die regionale Hegemonie der CDU im Münsterland oder im kölnischen Sauerland deren katholisch-fürstbistümliche Grundprägung hindurch, während die protoindustriellprotestantische Gebiete des nördlichen Bergischen Landes oder Ravensbergs eher der
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G. Nordrhein-Westfalen seit 1946
SPD zuneigen. Ehemals weltliche Territorien mit katholischer Bevölkerungsmehrheit und ländlicher Grundstruktur entlang des Niederrheins sind ebenso schwarz eingefärbt wie das frühgewerblich-reformierte, durch pietistisch-konservatives Harmonie- und Ordnungsstreben eingehegte Siegerland. Das Ruhrgebiet wurde nach der Landesgründung aus der zunehmenden Nähe von SPD und Gewerkschaften ebenso zu einer sozialdemokratischen Hochburg, wie Lippe dies seit dem frühen 20. jahrhundert ist. Aus dem schwarzen Münsterland hebt sich das gänzlich anders geprägte rote Tecklenburger Land ab, während in den durchaus auch katholisch durchdrungenen rheinischen Metropolen Aachen, Bonn und Köln soziostrukturelle über konfessionelle Wahlfaktoren dominieren. Zudem ist CDU-Mehrheit hier nicht mit CDU-Mehrheit dort gleichzusetzen: Überwogen innerhalb der rheinischen Teilverbände sozialpolitische Aspekte, betonten westfälische eher konservativere Positionen; auf Seiten der SPD ist der in der Mitte des 19. Jahrhunderts von sozialistischer Agitation erfasste Bezirk Niederrhein eher auf dem linken Parteispektrum zu verorten, während die westfälischen Organisationen zentristischeren Inhalten zuneigen. Letztlich – und das ist die Quintessenz – müssen stets die regionalen Bedingungen auf Wahlkreisebene berücksichtigt werden, um Wahlergebnisse zu deuten. Neben langfristigen Trends sind aktuelle Konstellationen einzubeziehen, will man nicht deterministische Schlüsse ziehen und sich möglichem Wandel verschließen. Die historisch angelegten Landschaftsmuster sind zu beachtende, aber nicht zu verabsolutierende Hinweise auf die politischen Kulturen innerhalb Nordrhein-Westfalens. G.I.2.7. Fallbeispiel: Politische Kultur und politischer Erfolg Die Beachtung der spezifischen politischen Kultur, das Wissen um und das Bewegen in dem Rahmen aus informellen Verhaltensregeln und materiellen Bedeutungsbeimessungen ist eine fundamentale Grundbedingung, um bei Wahlen erfolgreich zu sein. In NordrheinWestfalen mussten die Parteien die aus der Landschaftsentwicklung abgeleiteten sozialund konsensorientierten Grundzüge harmonisieren und respektieren; „Rot hatte (deshalb auch A.W.) immer schwarze Streifen“ und umgekehrt.1078 Charakteristische Vertreter beider Leitlinien waren Karl Arnold (CDU) und Johannes Rau (SPD). Aus christlicher Verantwortung – entstammte der eine der katholischen Soziallehre, so der andere dem pietistisch geprägten Wuppertaler Protestantismus – waren ihnen Ausgleich und Kooperation Mittel, um ideologiefern für soziale Teilhabe und gesellschaftliche Harmonie einzutreten. Der erste gewählte Ministerpräsident Arnold legte in Regierungspraxis und -anspruch Grundelemente der Landespolitik fest, denen sich sämtliche Nachfolgerregierungen verpflichtet fühlten: Sein Bekenntnis, Nordrhein-Westfalen werde und wolle das soziale Gewissen der Bundesrepublik sein, sowie die im informellen Arnold-Schlüssel begründete Berücksichtigung der größten Oppositionspartei bei der Besetzung der mittleren Landesverwaltung1079 wurden Paradigmen, die trotz rechtlicher Unverbindlichkeit Parteien und Regierungen einen bis heute beachteten, den Landschaftstraditi-
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Alemann/Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, S. 123. Regierungspräsidenten oder andere hohe Beamte werden nach einem Regierungswechsel zumeist nicht komplett ausgewechselt, sondern zum Teil in ihren Posten belassen; 2010 blieben der Münsteraner Peter Paziorek (CDU) und die Detmolderin Marianne Thomann-Stahl (FDP) trotz SPD/Grünen-Koaltion im Amt. Vgl. zum Arnold-Schlüssel auch Korte et. al., Regieren in Nordrhein-Westfalen,, S. 38, 360.
G.I. Politisches System, Parteienlandschaft und politische Kultur
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onen entsprechenden Kompass lieferten. „Bruder Johannes“1080 Rau, „dem die Bibel allemal vertrauter war…als das Marxsche Kapital“,1081 war mehr präsidiale Integrationsfigur denn parteipolitischer Kämpfer, der „versöhnen statt spalten“1082 und mit einem konsensualen Politikstil Kommunen, Parteien, Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften und Landesteile bei wichtigen Entscheidungen einbinden wollte.1083 Nicht allein deklatorisch nahmen sozialpolitische Aspekte in Raus Regierungserklärungen zentrale Positionen ein, sondern sie zeigten sich auch – etwa mit Blick auf das hochsubventionierte Ruhrgebiet – in der konkreten Regierungspraxis.1084 Vermochte die SPD ab 1966 für 39 Jahre zu regieren, war ihre Entfernung von diesem nordrhein-westfälischen politischen Grundkonsens einer der wichtigsten Gründe ihres Machtverlusts 2005. Zwar wandelten auch der von Wolfgang Clement (SPD) initiierte Ausbildungskonsens oder sein Bündnis für Arbeit1085 auf dem Pfad sozialorientiert-konkordanter Politikmuster, doch stand sein Politikverständnis dem um die Jahrtausendwende vorherrschenden (neo-)liberalen Zeitgeist deutlich näher. Clement rückte von wichtigen SPDNRW-Traditionslinien ab, verkündete den Rückzug des Staates zugunsten der Bürgergesellschaft und befürwortete den Leistungs- und Wettbewerbs- gegenüber dem Sozialgedanken.1086 In einem von sozialer Fürsorge und Stellvertreterpolitik geprägten Land musste dieser Weg auf Widerstände stoßen; insbesondere im Ruhrgebiet waren mit seiner Organisationskultur und dem sozialdemokratischen Mehrfachfunktionär Strukturen entstanden, die einer unumschränkten Eigenverantwortung und Selbstsorge abträglich waren. Die Abkehr hiervon gerade in einer von massiven Strukturproblemen gekennzeichnet Zeit zu verlangen, überforderte einen Großteil des SPD-Milieus, die für die Partei katastrophale Kommunalwahl 1999 – bei der sie die Ruhrgebietsstädte fast durchgängig an die CDU verlor – war eine erste Konsequenz des geänderten Politikstils. Clement reagierte hierauf zwar mit geänderter Rhetorik und betonte vermehrt ein integrierendes Wir, stellte dieses jedoch weiterhin in das liberale Leitbild des schlanken Staates.1087 Nach seinem Wechsel nach Berlin 2002 knüpfte Peer Steinbrück (SPD) an den Kurs der Zurückführung des Staats und der Aktivierung der Zivilgesellschaft an und erregte durch Einschnitte in die soziale Infrastruktur des Landes breite Widerstände, ohne der eigenen Klientel anknüpfungsfähige Botschaften anzubieten; Steinbrück sprach mit seiner Modernisierungsrhetorik zwar
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Vgl. Burger, Reiner: Der Geist von „Bruder Johannes“. Rau, der Prototyp des Landesvaters, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (10.5.2010), S. 4. Rohe, Karl: Parteien und Parteiensysteme, in: Köhler, Fünfzig Jahre später, S. 19. Vgl. Mittag, Jürgen/Tenfelde, Klaus (Hrsg.): Versöhnen statt spalten. Johannes Rau: Sozialdemokratie, Landespolitik und Zeitgeschichte, Oberhausen 2007. Vgl. Korte et. al., Regieren in Nordrhein-Westfalen, S. 125 und passim. Vgl. hierzu beispielhaft die Ausführungen der Erklärung vom 15. August 1990, einsehbar unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMP114.pdf?von=144&bis=171 (2.12.2010). Vgl. hierzu Korte et. al., Regieren in Nordrhein-Westfalen,, S. 98f. Vgl. die Erklärung vom 17. Juni 1998 unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMP12-90.pdf (2.12.2010). Vgl. die Erklärung vom 30. August 2000 unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMP135.pdf?von=167&bis=200 (2.12.2010).
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G. Nordrhein-Westfalen seit 1946
den Verstand, nicht aber die Gefühle der Bevölkerung an und trug die Reste des überlieferten, bereits gelockerten Kitts zwischen Partei und Wählerschaft ab.1088 Infolge des in der Wählerschaft erzeugten Eindrucks der Abkehr von ursozialdemokratischen Traditionen zog die CDU 2005 zahlreiche SPD-Stammwähler an.1089 In dem Wissen um die Notwendigkeit der Beachtung der fundamentalen Grundsätze der Landespolitik positionierte sich der Wahlsieger Jürgen Rüttgers in der Folge als „Vorsitzende(r) der Arbeiterpartei in Nordrhein-Westfalen“.1090 Er nominierte Karl-Josef Laumann, den Bundesvorsitzenden der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), zum Arbeits- und Sozialminister und unterstrich hierüber symbolisch, NRW wieder „zum sozialen Gewissen“ der Bundesrepublik machen zu wollen.1091 Obwohl seine Regierung das Motto Privat vor Staat verfolgte, betonte der CDU-Ministerpräsident Solidarität und soziale Marktwirtschaft, positionierte sich als „Landesvater mit dem Duktus eines Herz-Jesu-Sozialisten“1092 und knüpfte an die inklusive Wir in NRW-Rhetorik Johannes Raus an.1093 Rüttgers stichelte gegen die Hartz-IV-Reformen oder die „Lebenslügen der CDU“1094 und manifestierte in seinem Auftreten die Kontinuität seines Regierungshandels zu den nordrhein-westfälischen Traditionssträngen: Nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten besuchte er das Grab Karl Arnolds, stellte sich demonstrativ in den Grundzug der Verbindung sozialer Gerechtigkeit mit wirtschaftlicher Freiheit und beließ den Düsseldorfer SPD-Regierungspräsidenten im Amt. Rüttgers lehnte sich wiederholt an die konkordante politische Praxis Johannes Raus an,
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Vgl. die Regierungserklärung Peer Steinbrücks vom 20. November 2002, einsehbar unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMP1374.pdf?von=7382&bis=7397 (4.12.2010). Sie konnte nach Berechnungen nur noch 60% ihres Wählerpotentials ausschöpfen und verlor vor allem bei städtischen Arbeiterschichten. Die Abkehr von traditionellen Politikmustern entfremdete die Partei von ihrer Wählerschaft, bei Arbeitern und Arbeitslosen waren die Verluste mit elf Prozentpunkten fast doppelt so hoch wie in anderen Schichten, während die CDU vor allem hier jeweils um neun Prozentpunkte zulegte. Die SPD lag zwar bei beiden Wählergruppen noch vor der CDU (45-39 Arbeiter, 36-34 Arbeitslose) und bei Gewerkschaftsmitgliedern besonders stark (54-28), konnten diesen Vorteil jedoch nicht gegen die anderweitigen Verluste aufwiegen. Vgl. zu den Landtagswahlergebnissen Feist, Ursula/Hoffmann, Hans-Jürgen: Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 22. Mai 2005. Schwarz-Gelb löst Rot-Grün ab, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, H. 1 (2006), S. 163-182. Vgl. Bau, Walter /Blasius, Tobias: Rüttgers – Ende einer politischen Karriere, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (25.6.2010), einsehbar unter http://www.derwesten.de/incoming/Ruettgers-Endeeiner-politischen-Karriere-id3153994.html (4.12.2010). Vgl. Welt kompakt (24.5.2005), zitiert nach Korte et. al., Regieren in Nordrhein-Westfalen, S. 335 Vgl. Graalmann/Nitschmann, Die schwarze Revolution fällt aus: in: Süddeutsche Zeitung (1.9.2009), S. 6. Vgl. die Regierungserklärung Rüttgers’ vom 22. Juni 2005, einsehbar unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMP144.pdf?von=139&bis=158 (4.12.2010). 2006 prangerte Rüttgers die CDU-Ansichten an, die Löhne seien zu hoch und Steuerersenkungen schafften Arbeitsplätze. Vgl. Rüttgers greift ‚Lebenslügen’ der CDU an, Hamburger Abendblatt (3.8.2006), einsehbar unter http://www.abendblatt.de/politik/deutschland/article411070/Ruettgersgreift-Lebensluegen-der-CDU-an.html (4.12.2010). Auch forderte er eine Verlängerung des Arbeitslosengeldes und mit dem Verweis auf erhöhte Leistungsanreize eine Erhöhung des Schonvermögens sowie erweiterter Hinzuverdienstmöglichkeiten, vgl. Weiland, Severin: „Rüttgers’ CDU frohlockt über Münteferings Ärger. Der Vorstoß der NRW-CDU, älteren Arbeitslosen länger Arbeitslosengeld I auszuzahlen, bringt die Union in die sozialpolitische Offensive, Spiegel Online (2.11.2006) einsehbar unter http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,446148,00.html (4.12.2010).
G.II. Landschaftsgestaltung
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um sozialdemokratische Wählerschichten an die CDU zu binden,1095 und betonte die Bedeutung, „dass alle Regionen des Landes in diesem Kabinett repräsentiert sind.“1096 Die geschickte – wenngleich mit Blick auf die Landtagswahlen 2010 gescheiterte – Strategie, die Grundstränge der nordrhein-westfälischen politischen Kultur für sich und die CDU zu vereinnahmen, erklärt wohl auch die Wahl Rüttgers’ zum drittbekanntesten SPD-Politiker Nordrhein-Westfalens 2006.1097
G.II. Landschaftsgestaltung Die Etablierung geteilter alltagsprägender Institutionen legte 1946 einen Grundstein für das Zusammenwachsen der Landesteile; Landtag, anhängige Verwaltung oder Schulwesen schufen verbindende Bezugsgrößen mit der Potenz, relationale Raum- und Identitätsbildungsprozesse anzustoßen, ohne über den Status des Ermöglichers hinauszukommen. Die konkrete Gestaltung der Administrativräume unterstützte vielmehr das Fortleben überlieferter mental maps, hinter denen der übergreifende nordrhein-westfälische Rahmen verblasste. Neben dem historischen Kontext – britische Forderungen nach Bürgernähe und Demokratieförderung sowie dem Ansinnen, mit der Verwaltungsdezentralisierung regionale Befindlichkeiten zu berücksichtigen und die Landesfreudigkeit zu befördern – sorgten pragmatische Gründe für den Wiederaufbau staatlicher und kommunaler Administrativstrukturen entlang historischer Grenzen: An diese konnte reaktivierend angeknüpft werden, anstatt neue aufbauen zu müssen, sie waren in der Bevölkerung verankert und Teil der gewohnten Erfahrungswelten. Die Maxime der Berücksichtigung landschaftlicher Identitäten sollte die Legitimität öffentlichen Handelns erhöhen, tradierte jedoch auch die historische Landschaftsorientierungen und erschwerte die Landesintegration.1098 Sowohl staatliche Administrativ- wie auch gesellschaftlich-kommunale Selbstverwaltungsgremien bilden Handlungsregionen, die Raumorientierung und -bewusstsein der Bevölkerung beeinflussen. Planungs- und Kommunikationsprozesse innerhalb der in ihrer örtlichen Zuständigkeit begrenzten Institutionensphären stiften binnenintegrative Bindungen und schneiden Lebenswelten voneinander ab; das kognitive Wissen um die Region, 1095 1096 1097
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Vgl. zu den versuchen Rüttgers, sich in die Tradition Raus zu stellen, Burger, Reiner: Der Geist von ‚Bruder Johannes’. Rau, der Prototyp des Landesvaters, in: FAZ (10.5.2010), S. 4. So in einem WDR 5-Interview nach dem Wahlsieg 2005, zitiert nach Korte et. al., Regieren in NordrheinWestfalen, S. 358. Jürgen Rüttgers wurde bei einer forsa-Umfrage im Sommer 2006 zum drittbekanntesten SPD-Politiker des Landes nach Franz Müntefering und Peer Steinbrück gewählt. Vgl. Hannelore Kraft: Die letzte Frau der SPD in NRW, sueddeutsche.de (12.12.2006), einsehbar unter http://www.sueddeutsche.de/politik/hannelore-kraft-die-letzte-frau-der-spd-in-nrw-1.777011 (4.12.2010). In seiner Regierungserklärung versprach der erste Ministerpräsident Rudolf Amelunxen: „Bei der verwaltungsmäßigen Neugestaltung unseres Landes werden wir auf die an Raum und Tradition gebundenen Aufgabengebiete, die Verschiedenheiten und Eigentümlichkeiten der einzelnen in diesem Lande zusammengeschlossenen Landsmannschaften jede Rücksicht nehmen.“ Vgl. hierzu den Stenographischen Bericht über die Eröffnungssitzung des Landtags des Landes Nordrhein-Westfalens vom 2. Oktober 1946, einsehbar unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMPEP1.pdf (20.12.2010), S. 7.
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G. Nordrhein-Westfalen seit 1946
innerhalb derer man Verantwortung übernimmt und der man sich mitgestaltend verbunden fühlen kann, ist Teilelement eines hierüber begründeten oder bestärkten Landschaftsbewusstseins. Insbesondere die administrative Mittelebene, Regierungsbezirke und höhere Kommunalverbände, nimmt in Teilbereichen des Landes öffentlich-hoheitliche Funktionen wahr und stiftet Raumbezüge; sie unterstützt regionale, historisch fundierte und gegeneinander abgegrenzte Identitätsbildungsprozesse und steht als ein Element einem Landesbewusstsein im Wege.
G.II.1. Landesmittelbehörden Bezirksregierungen und Oberfinanzdirektionen bilden den staatlich-administrativen Mittelbau in NRW. Die an dieser Stelle interessierenden Regierungspräsidien beobachten als allgemeine Vertreter der Landesregierung in ihrem Bezirk die Regionalentwicklung und berichten hierüber den obersten Landesbehörden; sie üben die Rechts- und Fachaufsicht über die untere Verwaltungsebene aus und sind als Bündelungsbehörden in ihrem Zuständigkeitsbereich für sämtliche Aufgaben der Landesverwaltung verantwortlich, die nicht ausdrücklich einer anderen Behörde übertragen wurden.1099 Die Regierungspräsidien nehmen eine Zwitterstellung ein, da sie zum einen die aus Düsseldorf vorgegebenen Politikinhalte auf regionaler Ebene durchsetzen, zum anderen aber auch regionale Interessen gegenüber dem Land vertreten. Nordrhein-Westfalen ist seit 1972 in die Regierungsbezirke Arnsberg, Detmold, Düsseldorf, Köln – in diesen wurde der seit 1815 bestehende Bezirk Aachen integriert – und Münster untergliedert; da sie in ihrem Zuschnitt größtenteils bis in die Preußenzeit zurückreichen und einzig im Falle Detmolds 1947 eine leichte Modifikation erfuhren, bieten sie seither räumliche Orientierung und prolongieren die damals verfestigte rheinischwestfälische Strukturgrenze administrativ. Dass der westfälische Landesteil heute über drei, der rheinische nur über zwei Einheiten verfügt, ist zum einen seiner größeren Fläche, zum anderen der Rücksichtnahme auf historische Befindlichkeiten geschuldet; insbesondere in Münster und Detmold sind regionale Identitäten an die Regierungsbezirke geknüpft und stehen einer technokratischen Neuzuschneidung im Wege.1100 Das Ruhrgebiet ist nach wie vor administrativ zersplittert und auf drei Präsidien aufgeteilt, während das
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Vgl. hierzu Ministerium für Inneres und Kommunales Nordrhein-Westfalen: Gesetz über die Organisation der Landesverwaltung - Landesorganisationsgesetz, einsehbar unter https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_bes_text?anw_nr=2&gld_nr=2&ugl_nr=2005&bes_id=3934&aufgeh oben=N&menu=1&sg= (20.12.2010). Der Münsteraner überschneidet sich in hohem Maßen mit dem ehemaligen Fürstbistum und seiner homogenen Prägung, der Detmolder ist bis heute – anknüpfend an die Entscheidung des Bundesverfassungsgericht über die Bindungskraft der Punktationen - moralisch bindende Grundlage für den Eintritt Lippes in Nordrhein-Westfalen. Vgl. hierzu Hesse, Joachim Jens: Regierungs- und Verwaltungsreform in Nordrhein-Westfalen. Gutachten im Auftrag des Bundes der Steuerzahler Nordrhein-Westfalen e.V., Düsseldorf 1999, S. 83; Bogumil, Jörg/Reichard, Christoph/Siebart, Patricia: Gutachten zur Verwaltungsstrukturreform in NRW. Schriftenreihe der Stiftung Westfalen-Initiative, Band 8, Ibbenbüren 2004, S. 103 sowie die Ausführungen.
G.II. Landschaftsgestaltung
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alte Land Lippe-Detmold seit dem Zusammenschluss der Kreise Detmold und Lemgo 1973 eine verwaltungstechnische Kontinuität erfährt.1101
Das 1962 zugunsten einer Stärkung der Landeskompetenzen reformierte Landesplanungsgesetz1102 machte die Bezirksregierungen zu Regionalplanungsbehörden, die seither in ihrem Amtsbereich – in Zusammenarbeit mit den bei ihnen angesiedelten, 2001 in Regionalräte umgewandelten Bezirksplanungsräten – die Landesplanung und Raumordnung gewährleisteten. Auf der Grundlage des Landesentwicklungsprogramms, des Landesentwicklungsplans und der Regionalpläne beraten Regierungspräsidien sowie Regionalräte über raumstrukturelle Maßnahmen in den Bereichen Städtebau, Verkehr, Freizeit und Erholungswesen, Tourismus, Landschaftspflege, Wasserwirtschaft, Abfallbeseitigung und Kultur und tref1101
1102
Wiederkehrend war die Schaffung eines eigenen Ruhrbezirks politische Idee, um dem strukturellen Wandel landesplanerisch begegnen zu können, ohne bis heute umgesetzt worden zu sein. So beantragte erstmals am 1. Februar 1965 die CDU-Landtagsfraktion „zur Behebung der offenkundig gewordenen Strukturschwächen des Ruhrgebiets“ die Schaffung eines Regierungsbezirks Ruhr. Vgl. Antrag der Fraktionen der CDU und FDP betreffend der Organisation der staatlichen Mittelinstanz, einsehbar unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD05-656.pdf (16.12.2010). Lippe wurde durch das 1972 verabschiedete Gesetz zur Neugliederung der Gemeinden und Kreise des Neugliederungsraumes Bielefeld wieder vereint. Obige Grafik wird verwendet mit freundlicher Genehmigung des bei dem Regierungsbezirk Düsseldorf angesiedelten Regionalrats, einsehbar unter http://www.bezreg-duesseldorf.nrw.de/regionalrat/planregion.html (1.8.2011). Erst mit dem sozioökonomischen Auseinanderdriften der Regionen wuchs die Einsicht in die Notwendigkeit einer stärkeren Landesverantwortung; das Landesplanungsgesetz von 1962 war der Versuch, die Landeskompetenzen zuungunsten regionaler Partikularinteressen auszuweiten. Es lenkte das Staatsverständnis auf zentrale Planung und Steuerung gegenüber den Landschaften und schrieb die Rolle der Regierungspräsidien als regionale Vertreter der Landesregierung und ihre notwendige Bündelungs- und Planungsfunktion fest. Die Verbesserung der Infrastruktur, der Ausbau des Bildungswesens und kommunale Neugliederungen waren Versuche, die Wirtschaftsbedingungen zu verbessern und strukturschwache Regionen zu stärken. Die Konzentration auf Westfalen soll einer schleichenden Verschiebung der Gewichte zum Rhein entgegenwirken. Vgl. Hüttenberger, Peter: Grundprobleme der Geschichte Nordrhein-Westfalens zwischen 1945 und 1970, in: Alemann, Parteien und Wahlen in Nordrhein-Westfalen, S. 48-68, hier: S. 64ff.
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G. Nordrhein-Westfalen seit 1946
fen verbindliche Entscheidungen. Ihre in den Landesteilen geleistete, von zivilgesellschaftlichen regionalen Akteuren begleitete Moderatorenrolle befördert über die wechselseitig geknüpften Beziehungsgeflechte staatlicher, kommunaler und gesellschaftlicher Verwaltungskörper nach innen integrierende, nach außen abgrenzende relationale Raumbildungsprozesse, die indirekt zur Landesdesintegration beitragen.1103
G.II.2. Höhere Kommunalverbände Die vier höheren Kommunalverbände in Nordrhein-Westfalen, die Landschaftsverbände Rheinland (LVR) und Westfalen-Lippe (LWL), der Regionalverband Ruhr (RVR) und der Landesverband Lippe (LVL) sind kommunal verfasste Körperschaften des öffentlichen Rechts, die auf regional-überörtlicher Ebene Aufgaben übernehmen, die die Leistungsfähigkeit einzelner Gemeinden übersteigen.1104 Insbesondere die ihnen obliegende Kulturpflege ist von identitätsstiftender Bedeutung, trägt zu mentalen, voneinander abgehobenen Regionalisierungsprozessen bei und steht in einem Spannungsverhältnis zur staatlichen Integrationspolitik. Als Mittel zur Hebung der Landesfreudigkeit gedacht, konsolidierten die höheren Kommunalverbände durchaus das neugebildete Land NordrheinWestfalen und erhöhten infolge der Rücksichtnahme auf landschaftliche Befindlichkeiten seine Akzeptanz, tradierten aber auch die hergebrachten Binnenklüftungen zwischen den Landesteilen. G.II.2.1. Landschaftsverbände Die 1953 gegründeten Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe waren aus Regierungsperspektive zunächst Zweckorganisationen, die die Staatsverwaltung im sozialen Bereich entlasten, aber auch die Integration Westfalens in das Bundesland erleichtern sollten;1105 zugleich konstituierten sich mit ihnen „Einheiten links und rechts des Binde-
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Mit dem Zweiten Gesetz zur Modernisierung von Regierung und Verwaltung in Nordrhein-Westfalen wurden zum 01. Januar 2001 die zuvor bei der Bezirksregierung angesiedelten Bezirksplanungsräte durch Regionalräte ersetzt, in die Kreise und kreisfreie Städte sowie Parteien nach dem Vorbild der Kommunalwahlen auf Regierungsbezirksebene stimmberechtigte Mitglieder entsenden. Hinzu kommen beratende Mitglieder, die sich aus Kommunalbeamten, gesellschaftlichen Verbänden und höheren Kommunalverbänden rekrutieren: diese werden durch die stimmberechtigten Mitglieder kooptiert. Vgl. zur Aufgabe der Regionalplanung das Gesetz zur Änderung des Landesplanungsgesetzes NRW und weiterer Vorschriften vom 16. März 2010, in: Gesetz- und Verordnungsblatt Nordrhein-Westfalen Nr. 12 (2010), S. 211-220. Vgl. zu dieser - bis auf die Landschaftsverbände - rechtlich nicht unumstrittenen Einteilung Hörster, Ansgar: Höhere Kommunalverbände, in: Mann, Thomas/Püttner, Günther (Hrsg.): Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis. Bd. 1: Grundlagen und Kommunalverfassung, 3. Aufl., Berlin/Heidelberg 2007, S. 901-936, insb. S. 906ff. Vgl. die Regierungsvorlage zum Entwurf einer Landschaftsverbandsordnung vom 27. Februar 1951, einsehbar unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMP0215.pdf, S. 455-463 (21. 12.2010). Vgl. hierzu auch den Aufruf „An alle Westfalen“ Rudolf Amelunxens vom 20. Oktober 1946, der versprach, „es wird alles geschehen, der Tradition und Kultur des Westfalenlandes Rechnung zu tragen.“ Vgl. Hartlieb von Wallthor, Alfred: Westfalen in der neueren geschichtlichen Entwicklung, in: Petri/Schöller /Hartlieb von Wallthor, Der Raum Westfalen VI, 1, S. 451-494, hier: S. 483. Vgl. allgemein auch die Ausführrungen zur Inneren Landesgründung.
G.II. Landschaftsgestaltung
267
strichs“,1106 die die Ausbildung eines übergreifenden Landesbewusstseins erschwerten. Da die nach Artikel 18 der Landesverfassung durch Land, Gemeinden und Gemeindeverbände geförderte Kulturarbeit zum allergrößten Teil der kommunalen Ebene obliegt, verzichtet Nordrhein-Westfalen zugunsten seiner Subregionen auf eine autochthone Landeskulturpolitik und beraubt sich symbolisch-verbindender Sinnstiftung, die stattdessen die Landschaftsverbände wahrnehmen. Die Landschaftsverbandsordnung für das Land Nordrhein-Westfalen (LVO) bestimmt „die zum Land Nordrhein-Westfalen gehörenden Kreise und kreisfreien Städte der früheren Rheinprovinz“ zu Pflichtmitgliedern des LVR, „die Kreise und kreisfreien Städte der früheren Provinz Westfalen und des früheren Landes Lippe“ zu solchen des LWL; beide sind öffentlich-rechtliche Körperschaften mit dem Recht, die ihnen enumerativ übertragenen Aufgaben der überörtlichen Sozialträgerschaft, des Sonderschulwesens, der Heileinrichtungen sowie der Landschaftsund Kulturpflege zu verwalten.1107 Um die Absonderung der Verbände von der kommunalen Ebene zu verhindern und die Legitimität des Landtags nicht durch ein weiteres direkt gewähltes Gremium zu unterhöhlen, werden – wie bereits gesehen – ihre parlamentarischen Gremien, die Landschaftsversammlungen, indirekt gebildet; sie beschließen über allgemeine Grundsätze, Satzungen und strategische Ziele innerhalb ihres Zwecks, „das kulturelle Erbe der im 19. Jahrhundert geformten Regionen Rheinland und Westfalen zu bewahren.“1108 Obwohl die Ausgaben für die Landschafts- und Kulturpflege im Gesamtetat der Landschaftsverbände nur einen Bruchteil einnehmen,1109 spielt dieser Aufgabenbereich – Erhalt und Förderung der Heimat- und Landesmuseen, das Archivwesen, die Denkmalpflege oder die wissenschaftliche Forschung – eine gewichtige Rolle für die mentale Aufrechterhaltung der rheinisch-westfälischen Strukturgrenze. Die Arbeit der Landschaftsverbände konstruiert kollektive Selbstverständnisse und regionale Identitäten weiterhin entlang hergebrachter Gräben, anstatt diese auf das Land umzulenken und etwas Gemeinsames zu schaffen; NRW, LVR und LWL sind Konkurrenten im nordrhein-westfälischen Raumbildungsprozess, und vor allem letztere stehen einem übergreifendem Landesbewusstsein im Wege. Insbesondere in Westfalen war die Wiedererrichtung landschaftlicher Selbstverwaltungsorgane ein Kompensationsanspruch für die fehlgeschlagene Eigenstaatlichkeit und sollte westfälische Interessen und Traditionen innerhalb des von einem „rheinische(n) Hausherr(n)“ – hier wurden die maßgeblichen Landesinstitutionen angesiedelt – beherrschten 1106 1107
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Alemann/Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, S. 103. §5 LVO zählt die Aufgaben auf. Bis 2001 waren sie auch für den Straßenbau, die die Unterhaltung von Landes- und Kreisstraßen sowie in Auftragsverwaltung für die Autobahnen zuständig, seit 1999 sind die Landschaftsdirektoren in staatlicher Auftragsangelegenheit auch für den Maßregelvollzug verantwortlich. Vgl. zur Landschaftsverbandsordnung vom 14. Juli 1994, zuletzt geändert durch das Gesetz vom 24. März 2009 http://www.lwl.org/lwl-download/datei-download2/Politik/satzungen/1015853904_1/lverbo2009-0324.pdf (19. 12.2010). Vgl. auch allgemein die Ausführungen zur Inneren Landesgründung. Grußwort von Ministerpräsident Peer Steinbrück zum 50jährigen Bestehen der Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe am 12. Mai 2003 im Düsseldorfer Ständehaus, zitiert nach Walter, Die Landschaftsverbände, in: Brautmeier/Heinemann, Mythen – Möglichkeiten – Wirklichkeiten, ebd., S. 61. Vgl. die Zahlen der Haushaltspläne von LVR und LWL für 2010, in denen kulturelle Ausgaben einen Anteil von knapp 3% der Gesamtausgaben einnehmen, unter http://www.lvr.de/derlvr/finanzen/index.htm sowie http://www.lwl.org/LWL/Der_LWL/Verwaltung/Haushalt (21.12.2010).
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G. Nordrhein-Westfalen seit 1946
„seelenlosen Kunstprodukts NRW“ 1110 sichern. Wo der LVR seine landschaftspflegerische Arbeit als so vielfältig wie die Kultur und Kulturen in dem Landesteil preist und seine Aufgabe darin sieht, diese Vielfalt zu erfassen, zu erforschen und zu bewahren, blieb Westfalen für LWL-Verbandsvertreter eine überwölbende Einheit mit verbindenden Elementen in Alltagskultur, Sprache oder Literatur.1111 Unter Berufung auf historischkulturelle Westfalenbilder nimmt der LWL für sich in Anspruch, organisatorischer Ausdruck regionaler Identität zu sein1112 und versteht die Landschaftspflege als „eine Kulturarbeit, die sich auf einen historisch gewachsenen Kulturraum bezieht, d.h. auf das Geistesleben einer Landschaft schlechthin, deren Bevölkerung ein landschaftliches Bewusstsein hat. (…) Die Kulturarbeit des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe ist darauf abgestellt, das Bewusstsein für Westfalen zu erhalten und zu stärken und damit den Menschen heutiger Zeit die Möglichkeit einer Identifikation anzubieten.“1113 Während der LVR die räumliche Verortung eines Rheinlandbegriffs ermöglicht, ohne dessen innere Zersplitterung mit einer kulturell unterlegten Einheitsrhetorik zu übergehen, trägt der LWL in seinem Selbstverständnis dazu bei, „die Eigenständigkeit Westfalens zu wahren.“1114 Hiesige Verbandsvertreter wehren sich stärker gegen die Abschaffung der höheren Kommunalverbände und sehen in Landesprogrammen wie der regionalisierten Struktur- und Kulturpolitik einen „Anschlag der Rheinländer auf die alte Provinz Westfalen.“1115 Die Bedeutung, die dem Landschaftsverband in Westfalen zukommt, verdeutlichen bereits Berichterstattung und Begrifflichkeiten: Während die westfälische Landschaftsversammlung häufig als Westfalenparlament bezeichnet wird, ist ein Rheinlandparlament weithin unbekannt.1116 Wiederkehrend wurden die Landschaftsverbände im Zuge der Debatte um eine grundlegende Verwaltungsreform mit Verweis auf die schwindende Bedeutung stammes- und kulturräumlicher Denkmuster sowie landsmannschaftlicher Traditionen in Frage gestellt. Dass sie bis heute nicht abgeschafft wurden liegt wohl vor allem an dem Interesse der hier Beschäftigten am Erhalt jener Institutionen sowie ihrem heutigen Charakter als soziale 1110 1111
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So der westfälische Schriftsteller Josef Bergenthal, zitiert nach Oberkrome, Der Raum und seine Regionen, in: Ditt/Tenfelde, Das Ruhrgebiet in Rheinland und Westfalen, S. 363. Vgl. Landschaftsverband Rheinland: Kultur und Umwelt. Über das Dezernat, einsehbar unter http://www.lvr.de/de/nav_main/kultur/berdasdezernat_1/berdasdezernat_3.html (21.12.2010) sowie Scharte, Sebastian: Westfalenbilder und Westfalenbewusstsein. Die Herausforderungen ‚Regionale Kulturpolitik’ und ‚Verwaltungsstrukturreform’, Münster u.a. 2003, S. 42,44. Vgl. Landschaftsverband Westfalen-Lippe: Wissenswertes über Westfalen-Lippe, einsehbar unter http://www.lwl.org/LWL/Der_LWL/Westfalen/ (21.12.2010). So der ehemalige Landrat des Märkischen Kreises und Mitglieds der Landschaftsversammlung Westfalen Lippe Walter Hostert. Vgl. ders.: Kulturpflege des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, in: Frey, Rainer/Kuhr, Wolfgang (Hrsg.): Politik und Selbstverwaltung in Westfalen-Lippe, Münster/Hamburg 1993, S. 159-177, hier: S. 161, 171. Schäfer, Wolfgang: Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe als Klammer für Westfalen, in: Westfälischer Heimatbund (Hrsg.): Westfalen – Eine Region mit Zukunft, Münster 1999, S. 7-11, hier: S. 7. So Werner Friedrich aus dem Förderverein Kloster/Schloss Bentlage bei der Auftaktverantstaltung der Regionalen Kulturpolitik im Münsterland in Heek am 5. Dezember 1996. Vgl. hierzu Scharte, Westfalenbilder und Westfalenbewusstsein, S. 54. Zwar stellte die Landespolitik den Regionen ihren Konstitutionsprozess weitgehend frei, doch kamen Idee und Unterstützung aus Düsseldorf. Vgl. hierzu auch Behr, Hans Joachim: Mehr als ein Mythos. Westfalenbewusstsein heute. Landschaftliche Identität im geeinten Europa, in: Köhler, Fünfzig Jahre später, S. 69-87, hier: S. 79f. Dies zeigen die Ergebnisse, die die Eingabe der Begriffe in Internetsuchmaschinen wie google ergeben. Die Suche am 21.Dezember 2010, am 17.Oktober 2011 und am 8.3.2012 ergab für Westfalen 10.800, für das Rheinland hingegen keinen relevanten Sucherfolg.
G.II. Landschaftsgestaltung
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Dienstleister, die das Land im Sozialbereich auf Kosten der Kommunen entlasten; ob sie darüber hinaus Identifikations- und Verortungsbedürfnisse befriedigen und ihre mögliche Abschaffung gerade deshalb auf Widerstand trifft, muss mit Verweis auf ein derart „artifizielles und extrem pflegebedürftiges Konstrukt handverlesener Eliten“1117 wie ein – mehr behauptetes als nachgewiesenes – Westfalenbewusstsein bezweifelt werden. Die geringe Bedeutung, die den Landschaftsverbänden in der zuvörderst auf Landschaftsebene verorteten Bevölkerung zukommt, zeigen die Ergebnisse einer Repräsentativumfrage aus dem Jahr 1999, in der sich zwar die Hälfte der Befragten gegen ihre Abschaffung aussprach, sich aber auch 31% der Stimme enthielten.1118 Der vergleichsweise hohe Prozentsatz verweist auf die geringe Relevanz, die diese Frage für die Alltagsgestaltung genießt; die indirekte Bildung der Landschaftsversammlung schwächt ihre öffentliche Wahrnehmung, das situative Nutzungsverhältnis der sozialen oder kulturellen Aktivitäten der Landschaftsverbände bezieht sich in erster Linie auf einen relativ kleinen Personenkreis und nimmt ihnen an breiter Bedeutungsbeimessung. G.II.2.2. Regionalverband Ruhr Der Regionalverband Ruhr verfügt gegenüber den Landschaftsverbänden über ein eingeschränktes Aufgabenspektrum, da er und seine Vorgänger in erster Linie überörtliche Planungsaufgaben wahrnehmen und für die Ausbildung einer Ruhrgebietsidentität von nachrangiger, wenngleich wachsender Bedeutung sind. Beginnend mit dem Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk, existierte seit 1920 eine städteübergreifende Raumordnungseinheit, die im 1950 erlassenen Landesplanungsgesetz bestätigt wurde und den SVR zur regionalen Landesplanungsbehörde für das Ruhrgebiet bestimmte. 1975 wurde der Verband in seinen Planungskompetenzen zugunsten der drei das Ruhrgebiet durchschneidenden Bezirksregierungen beschnitten und büßte diese zum 1. Oktober 1979 mit dem Gesetz über den Kommunalverband Ruhrgebiet (KVR) weitgehend ein.1119 Zum 1. Oktober 2004 wurde schließlich der öffentlich-rechtliche Regionalverband Ruhr gegründet und die kreisfreien Städte Bochum, Bottrop, Dortmund, Duisburg, Essen, Gelsenkirchen, Hagen, Hamm, Herne, Mülheim und Oberhausen sowie die Kreise Ennepe-Ruhr-Kreis, Recklinghausen, Unna und Wesel zu Pflichtmitgliedern bestimmt.1120 Die indirekt anhand der Kommunalwahlergebnisse aus den Oberbürgermeistern, Landräten sowie Mitgliedern der Kreistage und Stadträte gebildete Verbandsversammlung – die als beratende Mitglieder zusätzlich Vertreter der regionalen Arbeitgeberverbände, Industrie- und Handelskammern, Handwerks- und Landwirtschaftskammern, der Gewerkschaften, Sport- und Kultur- sowie Naturschutzverbände kooptiert – entschließt über allgemei1117 1118
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Vgl. Oberkrome, Der Raum und seine Regionen, in: Ditt/Tenfelde, Das Ruhrgebiet in Rheinland und Westfalen, ebd., S. 376. So die Ergebnisse einer gemeinsamen Umfrage des Westfälischen Heimatbundes und des Rheinischen Vereins für Denkmalspflege und Landschaftsschutz. Vgl. hierzu Scharte, Westfalenbilder und Westfalenbewusstsein, S. 100f. Fortan war er nur noch für die Freiraumsicherung, die Freizeit-, Landschafts- und Erholungsplanung, das Vermessungs- und Forstwesen und die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Vgl. metropoleruhr: Regionalkunde Ruhrgebiet. Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk, einsehbar unter http://www.ruhrgebietregionalkunde.de/glossar/svr.php (18.12.2010). Vgl. §1 des Gesetzes über den Regionalverband Ruhr in der Fassung vom 16.3.2010, einsehbar unter https://rvr-online.more-rubin1.de/user_pages/RVRG_Stand_16-07-08.pdf (22.12.2010).
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G. Nordrhein-Westfalen seit 1946
ne Verwaltungsgrundsätze, Satzungen und strategische Ziele. Pflichtaufgaben des Regionalverbandes sind die Erstellung von Planungs- und Entwicklungskonzepten für das Verbandsgebiet, die Sorge um Wirtschaftsförderung und Standortmarketing sowie die Trägerschaft der touristischen Themenstraße Route der Industriekultur. 2009 erhielt der RVR erneut die Regionalplanung übertragen und wurde hierdurch in seinen Kompetenzen innerhalb des Landesgefüges gestärkt.1121 Aufgabenerweiterung und Zusammensetzung der Verbandsversammlung sollen die ruhrgebietsweite Kooperation ausbauen und auch die Ausbildung eines Ruhrgebietsbewusstseins unterstützen. Insbesondere die dem RVR zugebilligten freiwilligen Aktivitäten, die Öffentlichkeitsarbeit, die Förderung der Kulturszene oder Regionalkampagnen erstreben die Wahrnehmung eines nicht nur urban zusammenhängenden, sondern auch mental verbundenen Ruhrgebiets; die Ausbildung der Metropole Ruhr ist selbstbeschworenes Ziel, die heterogene Städteregion soll zu einer in sich verbundenen Ruhrgebietslandschaft weiterentwickelt werden. Initiativen wie Das Ruhrgebiet. Ein starkes Stück Deutschland (1985 bis 1996), Der Pott kocht (seit 2000), das Kulturhauptstadtjahr 2010 oder die Route der Industriekultur dienen sowohl der innengerichteten Selbstbespiegelung wie der Außendarstellung, erweisen sich jedoch für die Schaffung einer Ruhrgebietsidentität bislang ohne durchschlagenden Erfolg; das Ruhrgebiet entbehrt bislang hergebrachter, anknüpfungsfähiger deutungskultureller Konstrukte, wie auch die nach Abschluss der dem Strukturwandel begegnenden Internationalen Bauausstellung Emscherpark (IBA) 1999 schnell versiegende Zusammenarbeit zeigte, wie die traditionellen Animositäten der Ruhrgebietskommunen erneut über ein temporäres Gemeinschaftsgefühl obsiegten.1122 G.II.2.3. Landesverband Lippe Der 1949 gegründete Landesverband Lippe befindet sich gegenüber den anderen höheren Kommunalverbänden in einer zurückgesetzten Position und ist bereits aufgrund seiner Größe nur schwerlich mit den Landschaftsverbänden oder dem Regionalverband vergleichbar; die Übernahme ähnlich weit gefasster Aufgaben würde den LVL überfordern. Der Landesverband ist öffentlich-rechtliche Körperschaft, die die Forstflächen, Staatsbäder oder Denkmäler des ehemaligen Landes Lippe-Detmold – heute nicht mehr als ein Landkreis unter 29 anderen – selbständig verwaltet und der die Förderung der öffentlichen Wohlfahrt sowie die Wahrung und Stärkung der lippischen Kultur obliegt.1123 Die Verbandsversammlung, die über sämtliche der dem Verband zugeordneten Belange ent-
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Hierzu gehören die Darstellung von Bereichen für künftige Wohnbauflächen, die Ansiedlung neuer Gewerbebetriebe, die Folgenutzung ehemaliger Bergbaustandorte, die Begrünung von Bergehalden, die Ansiedlung großflächiger Einzelhandelsbetriebe in den Innenstädten, die Sicherung von Überschwemmungsgebieten für den Hochwasserschutz, wertvoller Landschafts- und Naturschutzflächen sowie von Flächen für die Gewinnung von Bodenschätzen. Vgl. Metropole Ruhr: Regionalplanung für die Metropole Ruhr, einsehbar unter http://www.metropoleruhr.de/regionalverband-ruhr/regionalplanung/ zukunftsaufgabe.html (22.12.2010). Vgl. Kuhna, Martin: Das Momentum nutzen. Der Stolz der Bewohner auf die Kulturprojekte ist groß. Nun sind Anschlussprojekte gefragt, damit dieser Erfolg nicht verpufft, in: Süddeutsche Zeitung: Ruhr 2010 – Kulturhauptstadt Europas, Beilage (30.12.2010), S. 17. Vgl. Gesetz über den Landesverband Lippe in der Fassung vom 29.12.2007, in: Gesetz- und Verordnungsblatt Nordrhein-Westfalen Nr. 34 (2007), S. 750
G.III. Landschaftsentwicklung
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scheidet, setzt sich aus zehn, nach dem Parteienproporz aus dem Lipper Kreistag entsandten Mitgliedern zusammen. Wichtigste Aufgabe des LVL ist der Erhalt kultureller Zeugnisse, die die jahrhundertelange Eigenständigkeit des ehemaligen Landes reflektieren und hierüber ein lippisches Eigenbewusstsein stützen. Da Lippe historisch und auch kulturell nicht vorbehaltlos zu Westfalen gezählt werden kann, offeriert der Landesverband die Möglichkeit, in der Bevölkerungswahrnehmung ein kognitives Verständnis für Lippe zu erhalten und in Absetzung von Vereinnahmungsversuchen aus Westfalen – bereits in der Namensgebung Landschaftsverband Westfalen-Lippe kommt in der Anhängselcharakter Lippes zum Ausdruck – seine seit dem 19. Jahrhundert ausgebildete eigene Identität zu wahren. Die Kultur- und Heimatpflege ist originärer Zuständigkeitsbereich, sichert Lippe eine aus der geschichtlichen Entwicklung abzuleitende Sonderstellung innerhalb Nordrhein-Westfalens und steht einer affektiven Umorientierung mentaler Raumbezüge auf das Land entgegen.
G.III. Landschaftsentwicklung Nordrhein-Westfalen büßte seinen Rang als wirtschaftliches Schwergewicht der frühen Bundesrepublik im Laufe seiner Existenz ein und rutschte mit seinen Strukturdaten auf einen innerdeutschen Mittelfeldplatz ab;1124 aus dem Hauptzahler im System des Länderfinanzausgleichs wurde seit 1985 selbst ein temporärer Empfänger von Unterstützungsgeldern. Das Land, das sich in seinen Anfangsjahren maßgeblich über seine industrielle Leistungsfähigkeit definierte, verlor spätestens damals einen seiner grundlegenden Legitimationsfaktoren. Mit der fehlenden gemeinsamen Erfolgsgeschichte als positivem Integrationsfaktor schwand das „ökonomisch begründete Selbstwertgefühl“1125 Nordrhein-Westfalens, beherrschte der Strukturwandel die Landesgeschichte und höhlte den Kern der Landesidentität aus. Die Ursprünge des Wachstums- und Wohlstandsgefälles gegenüber anderen Bundesländern liegen in den Weichenstellungen der Nachkriegspolitik. Nach dem Verlust traditioneller Abbaugebiete wurden – im gesamtdeutschen Interesse – im Zuge des Wiederaufbaus die alten Montanindustrien des Ruhrgebiets wiedererrichtet, die die Hauptrolle bei der Belieferung des Landes mit Kohle und Stahl übernahmen.1126 Außenpolitische Verpflichtungen und das Investitionshilfegesetz lenkten die Restrukturierungsmittel weitgehend in die Grundstoffindustrien1127 und verlangsamten den auch in NRW anfänglich 1124
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Vgl. etwa den nach Unterpunkten sortierbaren Bundesländervergleich der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft für 2010, einsehbar unter http://www.bundeslaenderranking.de/2010_i_best_gesamt.html (26.2.2011). Vgl. Petzina, Was ist rheinisch am rheinischen Kapitalismus, in: Brautmeier/Heinemann, Mythen – Möglichkeiten – Wirklichkeiten, S. 229. Das Land bestritt 1951 40% der bundesdeutschen Industrieproduktion, förderte 90% der Kohle und hatte einen Anteil von 80% an der Produktion von Eisen und Stahl. Vgl. Goch, Strukturwandel und Strukturpolitik in Nordrhein-Westfalen, in: ders., Strukturwandel und Strukturpolitik, S. 20. Nordrhein-Westfalen profitierte bis 1956 von knapp 70% der Investitionshilfezahlungen, Sonderabschreibungen erhöhten die Förderungsleitungen zusätzlich. Der anfängliche Aufbau einer zukunftsgerichteten Konsumgüterindustrie wurde mit dem Beginn des Koreakriegs 1950, der die Nachfrage nach Roh-
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G. Nordrhein-Westfalen seit 1946
eingeschlagenen Weg der Förderung der Konsum- und Investitionsgüterproduktion; mit ihnen verfestigte sich die relativ einseitige schwerindustrielle Branchenstruktur des Ballungsraums zwischen Emscher und Ruhr zulasten der Förderung von Zukunftstechnologien sowie der im innerdeutschen Vergleich ohnehin deutlich höhere Anteil des Industriesektors an der Beschäftigtenstruktur.1128 Der anfängliche Wohlstand1129 verstellte den Blick für die – wenngleich von hohem Niveau ausgehende – Wachstumsschwäche der hiesigen Wirtschaftszweige;1130 obwohl NRW 1957 ein knappes Drittel zum bundesdeutschen Bruttoinlandsprodukt beisteuerte,1131 fielen die Kennziffern des Landes bereits seit den frühen 1950ern allmählich hinter die anderer Bundesländer zurück und hatte es zunehmend mit strukturellen Arbeitsmarktproblemen zu kämpfen.1132 Die Abschaffung der Einfuhrzölle für Erdöl und Erdgas 1958, die Senkung internationaler Frachtkosten und günstige Lieferbedingungen ausländischer Kohlehändler beförderten die allmähliche Ersetzung der mit hohen Abbaukosten verbundenen deutschen Steinkohle als Energieträger, so dass bereits am 22. Februar 1958 auf der Mülheimer Zeche Rosenblumendelle die erste Feierschicht gefahren, am 30. Juni des Jahres in Duisburg-Meiderich das erste Bergwerk Thyssen 4/8 stillgelegt
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stoffen und Rüstungsprodukten anstieß, verlangsamt. Vgl. Abelshauser, Historische Ursachen der gegenwärtigen Strukturkrise, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 3, S. 357 Während in den Jahren 1950ff. im bundesdeutschen Schnitt 35% der Beschäftigten in Industrie und Handwerk beschäftigt waren, waren es in Nordrhein-Westfalen 50%, im Ruhrgebiet gehörten 66% der Arbeiterschicht an. Das Land förderte 90% des gesamtdeutschen Kohleaufkommens und produzierte 80% des Stahls. Vgl. Goch, Stefan: Strukturwandel und Strukturpolitik in Nordrhein-Westfalen: Vergleichsweise misslungen oder den Umständen entsprechend erfolgreich?, in: ders., Strukturwandel und Strukturpolitik, S. 11-55, hier: S. 20. In absoluten Zahlen lag Nordrhein-Westfalen zehn Jahre nach Kriegsende in seinem Pro-KopfEinkommen 50% über dem Wert Bayerns, die Arbeitslosenzahlen waren geringer und das Steueraufkommen lag über dem Bundesschnitt. Vgl. Petzina, Industrieland im Wandel, in: Kohl, Westfälische Geschichte 3, S. 472 sowie Abelshauser, Historische Ursachen der gegenwärtigen Strukturkrise, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 3, S. 348. Das rheinisch-westfälische Produktionsvolumen lag bereits 1952 im Vergleich zu 1936 nur um 35% höher, während dieser Anteil in der restlichen Bundesrepublik 44% betrug. 1956 konzentrierten sich in NRW 84,9% der im Bergbau Beschäftigten und 43,6% der in der Grundstoff- und Produktionsgüterindustrie Beschäftigten, jedoch nur 32,4% der in der Investitionsgüter- und 30,7% der in der Verbrauchsgüterindustrie Beschäftigten, die im bundesdeutschen Schnitt bereits einen Anteil von 40% besaßen. Die in NRW eher schwach und vornehmlich im Rheinland vertretenden Zukunftsindustrien Elektrotechnik und Fahrzeugbau hatten bis dahin seit Kriegsende ihre Produktionszahlen verdreifacht, während der Bergbau diese seit 1950 nur um 42,5% und die Eisen- und Stahlwerke um 72,8% steigern konnten. Vgl. Briesen, Vom Durchbruch der Wohlstandsgesellschaft und vom Ende des Wachstums, in: ders., Gesellschaftsund Wirtschaftsgeschichte, ebd., S. 217. Vgl. auch die Produktionszahlen und Gewichtsanteile verschiedener Industriezweige im Verhältnis Nordrhein-Westfalens zum Bundesgebiet in den Jahren 1936, 1949 und 1952 bei Abelshauser, Historische Ursachen der gegenwärtigen Strukturkrise, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter, Bd. 3, ebd., S. 349. Deutlich wird der Anstieg der Bedeutung der nordrhein-westfälischen Schwerindustrien im Bundesvergleich nach Fortfall traditioneller Wirtschaftsräume in Mitteldeutschland oder des Saarlandes, aber zugleich der Rückstand in zukunftsträchtigen Investitionsgüterindustrien. Schnell wachsende Wirtschaftsbranchen waren im Ländervergleich schwächer vertreten, früh angelegt war der Anschlussverlust. Vgl. Briesen, Vom Durchbruch der Wohlstandsgesellschaft und vom Ende des Wachstums, in: ders. et. al., Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte, S. 215. Ein Blick auf die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen und des Bruttoinlandsprodukts je Erwerbstätigem zeigt den relativen Rückfall Nordrhein-Westfalens im bundesdeutschen und Ländervergleich auf. Vgl. Goch, Strukturwandel und Strukturpolitik in Nordrhein-Westfalen, in: ders., Strukturwandel und Strukturpolitik, S. 25, 28.
G.III. Landschaftsentwicklung
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wurde. Der Ruhrkohlenindustrie war die internationale Wettbewerbsfähigkeit genommen, die zu einem langsamen Zechensterben und erhöhten Arbeitslosenzahlen bei Kohle- und Zuliefererbetrieben führte. Das einstige Kraftzentrum Ruhrgebiet war Haupt-, aber nicht Alleinverantwortlicher für die massiven Wirtschaftsprobleme Nordrhein-Westfalens; auch in anderen Branchen setzte ein schleichender Niedergang traditioneller Industriezweige ein, der weit weniger als in anderen Ländern mithilfe einer durch Vertriebene und Flüchtlinge angestoßenen Branchendiversifikation aufgefangen werden konnte.1133 Die rheinisch-westfälische Textilindustrie – die Mitte der 1950er nach dem Bergbau noch die höchsten Beschäftigtenzahlen aufwies –1134 geriet mit der Liberalisierung des Außenhandels unter den Druck ausländischer, günstiger produzierender Konkurrenz; die Standorte am Niederrhein, im westlichen Münsterland, im Bergischen Land oder in Ravensberg wurden zu Rationalisierungsmaßnahmen gezwungen, infolge derer zahlreiche Arbeitskräfte sowohl in den Textilbetrieben wie auch bei den komplementär auf sie ausgerichteten Maschinenbauern ihre Stellen einbüßten.1135 Der drittgrößte rheinisch-westfälische Gewerbezweig, die Eisen- und Stahlproduzenten des Ruhrgebiets, des Bergischen und Märkischen Landes sowie die Erzzulieferer des Siegerlandes – die 1965 den Betrieb einstellten – erlebte seinen Produktionshöhepunkt 1974, um im darauffolgenden Jahr abrupt um fast 25% einzubrechen.1136 Neben den günstigeren internationalen Herstellerpreisen setzte auch die allmähliche Substituierung des Stahls durch Leichtmetalle und Kunststoffe den Betrieben zu, und insbesondere in den 1980ern wurden die Überkapazitäten trotz hoher Subventionsleistungen auf Kosten der Arbeitnehmer abgebaut.1137 Bescherten die hiesigen Montanindustrien Nordrhein-Westfalen in den ersten zehn Jahren seiner Existenz hohe ökonomische Wachstumszahlen, brach dieser Pfeiler ab 1958 allmählich weg; verstand man sich zu Anbeginn noch als Werkstatt Europas,1138 so sank NRW in den Folgejahren zu einem innerdeutschen Schlusslicht herab. Seit über 50 Jahren trübt das einstige rheinisch-westfälische Gravitationszentrum Ruhrgebiet, ein Hauptgrund der Landesgründung, allein aufgrund seiner schieren Größe – ein Drittel der nordrheinwestfälischen Bevölkerung lebt hier – und der einstigen Dominanz seiner Industrien in1133
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Nahm NRW zunächst verhältnismäßig wenige Flüchtlinge auf, sogen insbesondere die Montanindustrien den allergrößten Teil der Vertriebenen auf. Die Hauptaufnahmegebiete erlebten mit dem Fachwissen der Flüchtlinge einen rasanten Stimulierungseffekt etwa in der Glas-, Textil- oder Maschinenbauindustrie, die in Mitteldeutschland vor dem Krieg eines ihrer Zentren besessen hatten. Vgl. hierzu Lassotta, Arnold: Glasindustrie. Eine Bereicherung der westdeutschen Wirtschaft, in: Kift, Aufbau West, S. 156-185, hier: S. 157ff.; ders.: Textilindustrie. „…der nächst Nahrung und Wohnung wichtigste Verbrauchsgüterzweig, in: Ebd., S. 186-211, hier: S. 187ff. sowie ders.: Maschinenbau. Investitionsgüter für den Export, in: Ebd., S. 228-245, hier: S. 229ff. Vgl. hierzu auch Ambrosius, Gerold: Der Beitrag der Vertriebenen und Flüchtlinge zum Wachstum der westdeutschen Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 36 (1996), S. 39-71. 1957 waren hier 240.000 Menschen angestellt, die nordrhein-westfälische Textilindustrie hatte einen bundesdeutschen Produktionsanteil von 37%. Vgl. Lauschke, Karl: Wandel und neue Krisen: Die alten Industrien in den 1970er und 1980er Jahren, in: Goch, Strukturwandel und Strukturpolitik, S. 136-162, hier: S. 152. Vgl. die Tabelle zu Beschäftigung, Umsatz und Export in der Textilbranchen, ebd., S. 157. Vgl. ebd., S. 142. Allein zwischen 1977 und 1990 sank die Zahl der hier Beschäftigten um rund 40%. Vgl. ebd., S. 149. Vgl. Arnold, Karl (Hrsg.): Werkstatt Europas. Wirtschaft und Kultur des Landes Nordrhein-Westfalen, Duisburg 1956.
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nerhalb des Landessozialprodukts die Gesamtbilanz NRWs ein.1139 Erfolge einzelner Regionen – rechnete man das Ruhrgebiet aus den wirtschaftlichen Daten heraus, hielte Nordrhein-Westfalen mit den prosperierenden deutschen Südländern mit –1140 werden durch das Gewicht seiner Kennziffern heruntergezogen, ihnen fehlt nach außen die Strahlkraft, das Negativimage des in der Außensicht häufig mit dem Ruhrgebiet gleichgesetzten Landes aufzuhellen. Die Bereitschaft, nordrhein-westfälische Negativheterostereotype in die Selbstkonzeption zu übernehmen, ist geringer ausgeprägt als etwa im prosperierenden Bayern; anstelle eines durch ökonomische Erfolgsgeschichten fundierten Landesbewusstseins treten die erfolgreicheren Regionen als Solitäre für die Selbstverortung in den Vordergrund.
G.III.1. Strukturpolitik und Regionalisierung Trotz nur geringer autonomer Handlungsfähigkeit zwischen europäischer und Bundesebene entwickelte die Landespolitik in den letzten fünfzig Jahren zahlreiche Initiativen, um die Wirtschafts- und Wachstumsschwäche Nordrhein-Westfalens zu kompensieren. Bis in die 1960er Jahre konzentrierte sich die Landesstrukturpolitik im Zuge einer – durchaus ideologisch zu nennenden – Entballungsstrategie auf die ländlichen Räume des Niederrheins, der Eifel und Ostwestfalens, auf die Belebung industriearmer Regionen sowie die Verhinderung ihrer Verödung,1141 unterschätzte hierbei jedoch die 1958 einsetzende Ruhrkrise.1142 Diese Vernachlässigung trug maßgeblich zum Regierungswechsel 1966 bei, mit dem die neue SPD-Regierung ihrer neuen Hochburg erhöhte Aufmerksamkeit widmete und die Zukunft der Montanindustrien mit der des Landes verknüpfte; die Landespolitik wurde infolge des 1968 verabschiedeten Gesetzes zur Anpassung und Gesundung des deutschen Steinkohlenbergbaus und der deutschen Steinkohlenbergbaugebiete, der im selben Jahr gegründeten Ruhrkohle AG (RAG) sowie dem Abkommen über die Beteiligung des Landes Nordrhein-Westfalen an den zur Förderung des Zusammenschlusses der Bergbauunternehmen des Steinkohlenbergbaugebiets Ruhr zu einer Gesamtgesellschaft zu gewährenden Leistungen 1969 zu einem maßgeblichen Akteur der Ruhrindustrien und ließ diesen maßgebliche Förderung zukommen.1143 In Kohlerunden vereinbar1139
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Vgl. die Zahlen zu Beschäftigungsentwicklung und Branchenentwicklung im Vergleich zum restlichen Bundesland bei Potratz, Wolfgang: Dezentral und koordiniert? Die Innenwelt der regionalisierten Strukturpolitik in NRW, München/Mering 2000, S. 97ff. Vgl. die Zahlen für die Jahre 1991-2000 bei Goch, Strukturwandel und Strukturpolitik in NordrheinWestfalen, in: ders., Strukturwandel und Strukturpolitik, S. 28. Selbst mit dem Ruhrgebiet liegt NRW beim durchschnittlichen BIP pro Kopf über dem Bundesschnitt. Verhindert werden sollte durch die Entballungspolitik eine städtisch-proletarische Radikalisierung. Vgl. hierzu Nonn, Christoph: Gegen den Ballungsraum: Anfänge der Strukturpolitik 1946-1966, in: Goch, Strukturwandel und Strukturpolitik, S. 81-104, hier: S. 82ff. Selbst 1962, als das Zechensterben bereits eingesetzt hatte, waren dem wiedergewählten Ministerpräsidenten Franz Meyers (CDU) in seiner Regierungserklärung der Wohnungsbau, die Familienpolitik und die Verwaltungsmodernisierung die wichtigsten Themen. Vgl. den Stenographischen bericht der Landtagssitzung, einsehbar unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMP05-2.pdf (28.2. 2011). Erste Maßnahmen waren der 1969 geschlossene Hüttenvertrag, der die Stahlindustrie verpflichtete, ihren Kohlenbedarf durch die RAG zu decken und den Zechen die Kohlenabnahme bis 2000 garantierte; zum Abbau der Weltmarktpreisdifferenz wurde zusätzlich die Kokskohlenbeihilfe gezahlt. Der Jahrhundertvertrag von 1977 zwischen Steinkohlen- und Energieindustrie verpflichtete letztere zur vorrangigen Kohlever-
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ten die verantwortlichen Politiker, Unternehmen und Gewerkschaften – der sozialkonkordanten politischen Landeskultur folgend – die Anpassung der Produktionskapazitäten an die Absatzmöglichkeiten, den sozialverträglichen Abbau der Arbeitsplätze und zahlreiche Sonderförderprogramme, die Land und Bund bis 2005 mit rund 128 Milliarden Euro belasteten.1144 Aus der gemeinsamen Interessenlage von Politik, Montanindustrie und Arbeitnehmerverbänden, Firmenzusammenbrüche und Entlassungen zu vermeiden, flossen große Mittel in den Bergbau, die dann für eine zukunftsgerichtete Innovations- und Wachstumspolitik fehlten. Anstatt nur gegen den Strukturwandel anzusubventionieren, betrieb die Landespolitik aber auch aktive Wachstumspolitik und stellte dem gewährenden den gestaltenden Staat an die Seite. Die Zusammenballung ökonomischer Probleme im Ruhrgebiet machte es zum Haupt- und Dauersubventionsempfänger, für den die meisten Programme maßgeblich entworfen und erst nach Protesten aus anderen, Benachteiligung witternden Regionen auf das gesamte Land ausgedehnt wurden.1145 Im Rahmen des Städtebaugesetzes, der Landesentwicklungsgesellschaft oder des Grundstückfonds stellte das Land Mittel zur Umwidmung ehemaliger Industrieanlagen zur Verfügung, um Investoren anzulocken und die Lebensqualität altindustrieller Regionen zu erhöhen. Die Verbesserung der Alltagsbedingungen oder die Gründung zahlreicher Universitäten und Technologieinitiativen sollten ein besseres Produktionsumfeld erschaffen, um den Strukturwandel zu meistern und die wirtschaftliche Zukunftsfähigkeit zu sichern.1146 Unterstützungsleitungen erhielten in der Folge vermehrt auch Klein- und Mittelbetriebe, um den insbesondere im Ruhrgebiet schwachen selbständigen Mittelstand zu einem stützenden Rückgrat der untergehenden Industrien zu machen.1147
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stromung, zu deren Finanzierung der umlagenfinanzierte Kohlepfennig von den Verbrauchern erhoben wurde. Die Zahl bezieht sich auf den Zeitraum zwischen 1958 und 2005. Vgl. Frondel, Manuel/Kambeck, Rainer/Schmidt, Christoph M.: Kohlesubventionen um jeden Preis? Eine Streitschrift zu den Argumentationslinien des Gesamtverbandes des deutschen Steinkohlenbergbaus, Essen 2006, S. 7. Vgl. zu den Sonderprogrammen auch Goch, Stefan: Alte und neue Akteure: Neuorientierungen in der nordrheinwestfälischen Strukturpolitik in den 1980er und 1990er Jahren, in: ders., Strukturwandel und Strukturpolitik, S. 163-199, hier: S. 172ff. Das Entwicklungsprogramm Ruhr von 1968 sah 8,4 Milliarden DM für den Ausbau der Verkehrs- und Bildungsinfrastruktur, die Beseitigung der Umweltschäden und die Entwicklung einer Erholungslandschaft vor, um Unternehmensansiedlungen zu fördern. Vgl. die Erläuterung des Entwicklungsprogramms Ruhr durch Ministerpräsident Heinz Kühn (SPD) auf einer Pressekonferenz am 14. März 1968, Hauptstaatsarchiv NW 423 Nr. 115, einsehbar unter http://protokolle.archive.nrw.de/texte/as971_3_2.htm (28.2.2011). 1970 wurde das Nordrhein-WestfalenProgramm 1975 mit ähnlicher Zielsetzung auf das ganze Land ausgedehnt. Zu nennen sind etwa das Technologieprogramm Wirtschaft von 1978, die Landesinitiative Zukunftstechnologien von 1984 zur Förderung von Mikroelektronik, Umwelttechnologien, Aus- und Ausbau (außer-) universitärer Forschungseinrichtungen zur Förderung des Technologietransfers oder die sozialverträgliche Technikgestaltung. Genauso zu nennen sind – ausschnittartig – die Landesinitiative Bergbautechnik NRW, die Verbundinitiative Automobil NRW von 1993, die Zukunftsinitiative Textil von 1996 oder die Mikrostruktur-Initiative NRW von 1993. Universitäten wurden 1962 in Bochum, 1965 in Düsseldorf, 1968 in Dortmund, 1969 in Bielefeld,1972 in Duisburg Essen, Paderborn, Siegen und Wuppertal sowie 1974 in Hagen gegründet. Die Umorientierung der Landespolitik von der Großindustrie auf den Mittelstand wird in der Umschichtung der Fördermittel deutlich: Erhielt der Mittelstand 1983 erst 31,4% der Gelder, so waren es 1990 bereits 85,2%. Vgl. Jelich, Franz Josef: Strukturkonservatismus und Innovation: Neue Handlungsansätze
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Die im Zuge der 1969 verabschiedeten Bund-Länder-Gesetze zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftstruktur gebildeten, besonders geförderten Strukturregionen Ruhrgebiet/Westmünsterland, Nordeifel/Grenzraum Aachen und Südostwestfalen markierten den Beginn der – im Weiteren noch zu besprechenden – Regionalisierung der nordrhein-westfälischen Wirtschaftspolitik, die 1987 mit der Zukunftsinitiative Montanregion (ZIM) und der 1989 landesweit ausgedehnten Zukunftsinitiative für die Regionen des Landes Nordrhein-Westfalens (ZIN) erweitert und verstetigt wurde. Paradebeispiel für die „ökologische und kulturelle Erneuerung der Region als wesentliche Voraussetzung für die künftige ökonomische Entwicklung“,1148 für die aktivierende Rolle des Staates sowie den Anstoß regionaler Selbstverantwortung war die Internationale Bauausstellung Emscher Park, mit der die in der Betreibergesellschaft zusammengeschlossenen Kommunen, Unternehmen, Verbände und Bürgerinitiativen des Ruhrgebiets zwischen 1989 und 1999 versuchten, mit städtebaulichen, ökologischen und kulturellen Maßnahmen seinen sozioökonomischen Wandel voranzubringen. Die Subventionierung überholter Industriezweige zur Abfederung des Strukturwandels, halbherzige Umsteuerungsversuche und eine in die Breite gerichtete, alle Regionen bedenkende Förderpolitik verhinderten einen klaren Aufbruch zu neuen Wirtschaftsufern. Anstatt einen modernisierten Wachstumspfad einzuschlagen, berücksichtigte die Landespolitik stets landschaftliche Empfindlichkeiten, nährte infolge einer langjährigen Gießkannenpolitik Doppelstrukturen und machte Nordrhein-Westfalen zum „Land des gedeckelten Gleichmaßes und der vollmundigen Sozialversprechungen.“1149 Die auf Ausgleich und Konsens bedachte, sozialpolitische Zielsetzungen betonende politische Landeskultur vermied harte Einschnitte in die alternden Wirtschaftsstrukturen und alimentierte diese lieber über Jahrzehnte, anstatt die Mittel in zukunftsträchtigere Gewerbezweige umzulenken. Erst Wolfgang Clement (SPD) gab den korporativen, die ökonomische Leistungsfähigkeit eher hemmenden Politikstil auf und kündigte die „konsequente Modernisierung unserer Wirtschaft, (einen A.W.) sozial- und umweltverträglichen Strukturwandel, (die A.W.) Unterstützung von Existenzgründern (sowie die A.W.) Entwicklung von Schlüsseltechnologien“ an.1150 Keineswegs kann Nordrhein-Westfalen der ökonomische Erfolg vollauf abgesprochen werden, doch stehen regionalen Wachstumskernen weiterhin Krisenregionen gegenüber, die trotz aller Hilfsmaßnahmen den Anschluss an die bundesdeutsche Spitze nicht geschafft haben; das Land als Ganzes ist mit Blick auf seine Strukturdaten bestenfalls im Mittelfeld anzusiedeln.1151
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der Strukturpolitik in den 1980er und 1990er Jahren, in; Goch, Strukturwandel und Strukturpolitik, S. 200-216, hier: S. 206. Internationale Bauausstellung Emscher Park: Katalog der Projekte 1999, Gelsenkirchen 1999, S. 9. Vgl. zur Arbeit und Erfolgen des Projekts auch http://www.iba.nrw.de/main.htm (1.3.2011). Schmidt, Schön, sozial und dreckig, in: Die Zeit (6.5.2010), S. 7 Vgl. die Regierungserklärung Wolfgang Clements vom 30. August 2000, einsehbar unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMP13-5.pdf, S. 174 (1.3.2011). Noch immer ist das Land quantitativ – auch aufgrund der absolut höchsten Bevölkerungszahlen – an der Spitze bundesdeutscher Statistiken angesiedelt. 9 von 30 DAX-Unternehmen sind in NRW angesiedelt, eine international ausgerichtete Messelandschaft mit Standorten in Dortmund, Düsseldorf, Essen und Köln vorhanden, das in absoluten Zahlen höchste Bruttoinlandsprodukt (522 Mrd. Euro 2009), die mit 15 Universitäten und 26 Fachhochschulen dichte Hochschullandschaft oder eine ausgebaute Infrastruktur; selbst das Ruhrgebiet kann mit dem Bundesschnitt mithalten (dies liegt jedoch eher an dessen Herabminderung seit dem beitritt der wirtschaftsschwächeren ostdeutschen Bundesländer). Rechnet man die
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Nordrhein-Westfalen tut sich in der Folge schwer, über eine übergreifende Erfolgsgeschichte bei seinen Einwohnern zu punkten; die soziale Abfederung des ohne größere Auseinandersetzungen oder gewaltsame Konflikte ablaufenden Strukturwandels kann sicherlich als Pluspunkt hingestellt werden, doch ist fraglich, ob die Betroffenheit im restlichen Land mit dem Schicksal der Krisenregionen stark genug ist, um hierüber den inneren Zusammenhalt zu fördern. Die Subventionierung des Ruhrgebiets – die 39-jährige Dominanz der SPD trug zur besonderen Förderung ihrer Wählerhochburg bei – war vielmehr Konstante, die in anderen Landesteilen Proteste und das Gefühl eigener Zurücksetzung, nicht aber ein gemeinsames Schicksalsbewusstsein weckte.1152
G.III.2. Regionale Entwicklungen Aufbauend auf historischen Prämissen, schlugen die Landesregionen im Laufe der letzten Jahrzehnte eigene Entwicklungspfade ein und gewannen – oder verloren –gegenüber dem Land an Prosperität und Attraktivität.1153 Die unterschiedliche Wachstumsdynamik führte
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Zahlen aber auf die Pro-Kopf-Leistung um, sind sämtliche quantitativen Aspekte qualitativ herabgemindert. Beim BIP pro Kopf lag NRW mit 29.200 € 2009 nur an sechster Stelle im Bundesländervergleich und unter dem Bundesschnitt von 29.400€, bei den Arbeitslosenzahlen mit 8,9% nur an neunter Stelle und über dem Bundesschnitt von 8.2%. Vgl. zu den Zahlen auch Institut der deutschen Wirtschaft Köln: Deutschland in Zahlen 2010, Köln 2010, S. 121,123 sowie (hier jedoch zumeist für 2005): Landeszentrale für politische Bildung NRW (Hrsg.): Nordrhein-Westfalen. Wirtschaft, Gesellschaft, Politik im Schaubild, 2. völlig neu bearb. Aufl. Paderborn 2006, insb. S. 29ff., 58. Im Februar 2011 zeigte sich dies mit dem Bekanntwerden der Pläne der SPD/Grünen-Landesregierung zur Veränderung der Schlüsselzuweisungen innerhalb des Gemeindefinanzierungsgesetzes 2011. Diese richten sich nach dem Steueraufkommen und den Sozialkosten der Gemeinden und wecken mit ihrer Zielrichtung, wirtschafts- und finanzschwache Kommunen zu entlasten, den Vorwurf, Ruhrgebietskommunen zuungunsten der ländlicheren Peripherie zu bevorteilen. Vgl. hierzu Kellers, Rainer: Geld für die Kommunen wird neu verteilt. Fragen und Antworten zum Gemeindefinanzierungsgesetz (23.2.2011), einsehbar unter http://www.wdr.de/themen/wirtschaft/oeffentliche_finanzen/kommunen/gfg_hintergrund.jhtml?rubri kenstyle=wirtschaft (1.3.2011). Vgl. zu den Anteilen des regionalen Bruttoinlandsprodukts: Arbeitskreis „Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder“ im Auftrag der Statistischen Ämter der 16 Bundesländer, des Statistischen Bundesamtes und des Bürgeramts, Statistik und Wahlen: Bruttoinlandsprodukt, Bruttowertschöpfung in den Ländern und Ost-West-Großraumregionen Deutschlands 1991 bis 2009, Frankfurt a. M. 2010, einsehbar unter www.vgrdl.de/Arbeitskreis_VGR/ergebnisse.asp (3.3.2011). Das Steueraufkommen erhöhte sich im Gebiet der Industrie- und Handelskammer Arnsberg zwischen 1955 und 1975 um das 3,5-fache, in den ostwestfälischen Kammerbezirken Bielefeld und Detmold um das 4-fache; im selben Zeitabschnitt holten die Teilräume die Bochumer Wirtschaftskraft ein, die zu Beginn noch um 150% über der eigenen lag. Vgl. Briesen, Vom Durchbruch der Wohlstandsgesellschaft und vom Ende des Wachstums, in: ders., Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte, ebd., S. 225f. Regional unterschiedlich konnten die Verluste im Industriebereich durch den Ausbau der Dienstleistungsbranche ausgeglichen werden: Während die Zahl der Arbeitsplätze zwischen 1977 und 2001 im Regierungsbezirk Detmold um 24% und in Köln um 18% und in Münster um 15% stieg, fielen sie in Düsseldorf und Arnsberg um 1%; diese beiden Regierungsbezirke erstrecken sich über das westliche und östliche Ruhrgebiet. Das Münsterland vermochte trotz Verlusten der Emscherregion ihre Beschäftigtenzahlen auszuweiten, Zunehmende Beschäftigungsquoten konnten zwischen 1987 und 1999 das Münsterland (+10,8), Ostwestfalen-Lippe (+6,1), das Sauerland (+3,4) und das Rheinland (+3,2%) verzeichnen, während das Ruhrgebiet 0,6% und das Bergische Land 5,6% einbüßten. Vgl. Noll, Wulf: Kompetenzfel-
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zu Wohlstandgefällen, zur Ausbildung von Vorteils- und Verlustregionen und erweiterte die ohnehin vorhandene Binnenheterogenität.1154 Unterstützt durch die Regionalisierung der Strukturpolitik, spielen hergebrachte Landschaften auch in wirtschaftlicher Perspektive für die Alltagsorientierung der Bevölkerung die Hauptrolle und tragen zur Erhaltung mentaler Subraumorientierungen bei. Gegenüberstellend war der nordrheinische Landesteil aufgrund seiner im historischen NRW begründeten ausgewogeneren Branchenstrukturen weniger von der beschriebenen Verfestigung von Negativmerkmalen und einhergehenden Beschäftigungsverlusten gezeichnet als der westfälische,1155 der mit seinem relativ größeren Anteil an alten Industriezweigen zunächst zwar Nutznießer deutscher und amerikanischer Wiederaufbauprojekte, sodann aber aufgrund seiner unterproportionalen Ausstattung mit wachstumsstarken Branchen umso stärker vom Strukturwandel und dessen sozialen Auswirkungen betroffen war.1156 G.III.2.1. Rheinland Das Rheinland ist das wirtschaftliche Schwergewicht Nordrhein-Westfalens: Auf 34% der Fläche und bei einem Bevölkerungsanteil von 42% erwirtschaftet der Landesteil – ausgenommen sind in der Rechnung die verwaltungstechnisch zum Rheinland gehörenden Teile des Ruhrgebiets, der IHK-Bezirk Essen/Mülheim/Oberhausen sowie die der IHKNiederrhein angehörende Stadt Duisburg – 47% des nordrhein-westfälischen Bruttoinlandsprodukts (NRW-BIP). Infolge seiner günstigeren Verkehrslage – der Rhein wurde nach der Abschneidung Osteuropas 1945 eine noch bedeutendere (west-)europäische Handelsachse –, des Verlusts mitteldeutscher Konkurrenz sowie der Ansiedlung von Unternehmens- und Verbandssitzen in der Nähe der politischen Entscheidungszentren Bonn und Düsseldorf baute das Rheinland seinen wirtschaftlichen Entwicklungsvorsprung gegenüber den anderen Landesteilen aus und wurde um seine traditionell starken Städte wirtschaftlicher Kernraum NRWs.1157 Allerdings ist diese pauschale Gegenüberstellung
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der – Mittelstand – Innovation – Bildung: NRW heute, in: Strukturwandel und Strukturpolitik, S. 242259, hier: S. 251f. Nur knapp können im Folgenden regionale Unterschiede und Entwicklungstrends aufgezeigt werden, ohne räumlich-sektorale Differenzierungen eingehend zu verfolgen; wichtig erscheint die Verdeutlichung bestehender Gefälle und Heterogenitäten, ohne umfassende Wirtschaftsanalysen durchzuführen. Den jeweils aufgeführten Industrie- und Handelskammerberichten sind zahlreiche der für die einzigen Regionen aufgeführten Informationen entnommen; ebenso folgen die für die einzelnen Regionen aufgelisteten Strukturdaten weitgehend den IHK-Berichten. Während zwischen 1958 und 1968 die Zahl der in der Industrie beschäftigten Arbeiter im Bund um 13% zunahm, sank sie in NRW um 7,6%, in Westfalen um 10,3% und im Ruhrgebiet um 25%; Westfalen verlor aufgrund seines besonders hohen Anteils an Beschäftigten in den Schwerindustrien etwa doppelt so viele Beschäftigte wie der rheinische Landesteil. Vgl. Petzina, Dietmar: Krise und Aufbruch: Wirtschaft und Staat im Jahrzehnt der Reformen 1965-1975, in: Goch, Strukturwandel und Strukturpolitik, S. 105135, hier: S. 107. Neben dem Bergbau waren auch die Eisen- und Metallindustrie des Siegerlandes oder die Textilindustrie des Münsterlandes vom Niedergang betroffen. Vgl. Petzina, Industrieland im Wandel, in: Kohl, Westfälische Geschichte 3, S. 439-532, hier: S. 475ff. Im Städteranking der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft und der Wirtschaftswoche von 2007 rangiert Düsseldorf beim Bruttoinlandsprodukt je Einwohner auf Platz 2 von 50 untersuchten Städten, es folgen Köln auf Rang 12 und Münster auf Rang 14. Vgl. http://www.insm-wiwo-staedteranking.de/niv_i_bruttoinlandsprodukt-je-einwohner.html.
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durch einen Blick auf die unterschiedlich entwickelten rheinischen Teilräume zu differenzieren: Das ökonomische rheinische Kraftzentrum ist die zwischen Bonn, Köln, Leverkusen und Düsseldorf verlaufende Rheinschiene, die auf einer Landesfläche von 2,4% und bei einem 11,5%-igen Bevölkerungsanteil 21,7% des NRW-BIPs erwirtschaftet. Bonn profitierte nach 1949 vom Hauptstadtbonus, von Unternehmens- und Verbandsansiedlungen und der hieraus folgenden Stärkung seines Verwaltungs- und Dienstleistungscharakters; Ausgleichszahlungen infolge des Umzugsbeschlusses des Bundestags nach Berlin förderten die Ansiedlung von Forschungseinrichtungen, nationaler Behörden und internationaler Organisationen. Köln baute seinen Banken- und Versicherungssektor aus und stieg zur deutschen Medienmetropole auf. Als traditioneller Handelsort beheimatet die Stadt wichtige Leitmessen, ist alter Fahrzeugbaustandort und aufgrund seiner verkehrsgünstigen Lage Sitz zahlreicher öffentlicher Einrichtungen. Die rechtsrheinisch anschließende Industriestadt Leverkusen ist insbesondere durch seine Chemische Industrie geprägt, während Düsseldorf Entwicklungsimpulse aus seinem Hauptstadtstatus erhielt; das traditionelle Schaufenster des Ruhrgebiets gewann an Unternehmens- und Verbandssitzen etwa im Energiesektor, behielt seinen Messestatus und baute den Banken-, Börsen- und Versicherungsplatz aus.1158 Das um die StädteRegion Aachen sowie die Kreise Heinsberg, Düren und Euskirchen gebildete Aachener Land ist stark auf die grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit den Beneluxländern ausgerichtet und erwirtschaftet auf einer Fläche von 10% und bei einem Bevölkerungsanteil von 7,0% einen Anteil von 5,8% am NRW-BIP. Der durch die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule geprägte Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort Aachen wird im Norden durch die vom Strukturwandel betroffenen Kohlereviere um Wurm und Inde sowie im Süden durch die ländlichere Vordereifel ergänzt; traditionelle
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Dieselbe Statistik wies Düsseldorf 2010 auf dem 5., Münster auf dem 26. und Köln auf dem 34. von 100 Plätzen aus. Vgl. http://www.insm-wiwo-staedteranking.de/2010_niv_d_bip-je-einwohner.html (26. 2.2011). Es folgen Bonn (Rang 36), Leverkusen (42), Essen (43), Mülheim (56), Krefeld (59), Bielefeld (60), Dortmund (63), Hagen (64), Duisburg (69), Bochum (70), Remscheid (71), Wuppertal (76), Gelsenkirchen (83), Mönchengladbach (86), Solingen (89), Hamm (91), Oberhausen (96), Herne (99) und Bottrop (100). Deutlich werden die Wirtschaftsstärke rheinischer Städte und die Probleme des Ruhrgebiets. Vgl. zu den BIP-Zahlen auch Initiative Rheinland: Konjunkturbarometer Rheinland Herbst 2010, insb. S. 3, einsehbar unter http://www.ihk-koeln.de/upload/IHK_RLKB_H2010_101006a_11216.pdf. In der Initiative Rheinland haben sich die IHK-Bezirke Aachen, Bonn/Rhein-Sieg, Düsseldorf, Köln und Mittlerer Niederrhein zusammengeschlossen. Vgl. im Einzelnen Industrie- und Handelskammer zu Düsseldorf: Kurzprofil des IHK-Bezirks Düsseldorfs, einsehbar unter http://www.duesseldorf.ihk.de/produktmarken/Standort_Duesseldorf_und_Kreis_Mettmann/downlads /Standort/M3_Daten_IHK_Bezirk_2007_12.pdf, Industrie- und Handelskammer zu Köln: Strukturdaten, einsehbar unter http://www.ihkkoeln.de/publish/Dokumentencenter.aspx?ActiveID=1918 sowie Industrie und Handelskammer Bonn/Rhein-Sieg: Zahlen und Fakten. Statistische Daten 2010/2011, einsehbar unter http://www.ihkbonn.de/fileadmin/dokumente/Downloads/Standortpolitik/Strukturdaten/Zahlen%20und%20 Fakten%202010-2011.pdf (2.3.2011). Auf eine Aufzählung der wichtigsten Betriebe soll im Einzelnen verzichtet werden, um die Ausführungen nicht zu einem Sammelsurium des Namedroppings zu machen; der Verweis auf die wichtigsten Branchen soll genügen, deren wichtigste Vertreter in den jeweils angegebenen Quellen nachverfolgt werden können.
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Gewerbe wie die Monschauer Tuchproduktion endeten 1982, die Steinkohleförderung 1997.1159 Die Region Niederrhein erwirtschaftet auf einer Fläche von 13% und bei einem 13,8%igen Bevölkerungsanteil 12,7% des NRW-BIPs. Das durch die Kreise Kleve, Wesel, Viersen, Rhein-Kreis Neuss und Rhein-Erft-Kreis gebildete agrarische Schwergewicht des Rheinlands wird durch die vom Niedergang der Textilindustrie betroffenen Städte Krefeld und Mönchengladbach ergänzt; neben den dort komplementär entstandenen Chemie- und Maschinenbauindustrien prägt das Braunkohlerevier zwischen Jülich-Zülpicher Bördenzone, Erftniederung und Villerücken die regionale Wirtschaftsstruktur.1160 Das Bergische Land steuert auf einer Fläche von 6,1% und bei einem Bevölkerungsanteil von 7,2% 6,7% zum NRW-BIP bei; innerhalb des zwischen Wuppertal, Remscheid und Solingen sowie den Kreisen Mettmann, Rheinisch-Bergischer Kreis und Oberbergischer Kreis kleinteilig organisierten Wirtschaftsraums spezialisierten sich die hiesigen Städte traditionell auf die Eisen- und Metallverarbeitung. Gewerbliches Zentrum ist das zentrale Städtedreieck mit Solingens Schneidwarenindustrie, der Werkzeugstadt Remscheid und den um die Textilwirtschaft entstandenen Maschinen- und Chemieproduzenten Wuppertals, doch ist gerade diese einstmals wohlhabende Region besonders vom Strukturwandel betroffen und tut sich schwer, den Anschluss zu halten.1161 G.III.2.2. Westfalen Der allgemein ländlichere westfälische Landesteil – er weist einen höheren Anteil an Landkreisen gegenüber der größeren rheinischen Anzahl an kreisfreien Städten auf – war in seiner Gesamtheit stärker von den Auswirkungen des Strukturwandels betroffen. In den verwaltungstechnisch zu Westfalen gehörenden Städten des östlichen Ruhrgebiets oder des Siegerlands überwogen alte Gewerbezweige und trübten mit ihrem Niedergang die ökonomischen Kennziffern Westfalens ein,1162 doch auch bei Herausrechnen des Ruhrgebiets und Lippes kommt in den Wirtschaftsdaten der historisch angelegte Entwicklungsrückstand Westfalens gegenüber dem Rheinland zum Ausdruck: 29% der Bevölkerung erwirtschaften auf 51% der Landesfläche 29% des nordrhein-westfälischen Bruttoinlandsprodukts. Die Zahlen unterstreichen die westfälische Sorge, nach einer möglichen Verwal-
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Vgl. hierzu auch Jahresbericht der Industrie- und Handelskammer Aachen 2009, S. 48f., einsehbar unter http://www.aachen.ihk.de/de/standortpolitik/download/pd_067.pdf (2.3.2011). Vgl. hierzu auch Niederrheinische Industrie- und Handelskammer: Wirtschaft kompakt. Der Niederrhein in Zahlen 2010, insb. S. 5, 11, einsehbar unter http://www.ihk-niederrhein.de/downloads/ Wirtschaft_kompakt_2010.pdf, sowie Industrie- und Handelskammer Mittlerer Niederrhein: Zahlen, Daten und Fakten, einsehbar unter http://www.ihk-krefeld.de/ihk/standortpolitik/wirtschaftspolitik/informationen-auskuenfte/zahlendaten-und-fakten/zahlen-daten-und-fakten-149-content (2.3.2011). Vgl. hierzu auch Industrie- und Handelskammer Wuppertal – Solingen – Remscheid: Zahlenspiegel 2010. Wirtschaftsregion Bergisches Städtedreieck, insb. S. 2, 5, einsehbar unter http://www.wuppertal.ihk24.de/linkableblob/897270/data/Zahlenspiegel_2010-data.pdf (2.3.2011). Vgl. Petzina, Industrieland im Wandel, in: Kohl, Westfälische Geschichte 3, S. 472 sowie ders.: Krise und Aufbruch, in: Goch, Strukturwandel und Strukturpolitik, S. 107.
G.III. Landschaftsentwicklung
281
tungsreform und der angedachten Dreiteilung NRWs in Rheinland, Ruhrgebiet und Westfalen innerhalb des Landesgefüges zu einem abgehängten Restfalen herabzusinken.1163 Das ländliche, um die Stadt Münster sowie die Kreise Borken, Coesfeld, Steinfurt und Warendorf gebildete Münsterland erwirtschaftet auf einer Fläche von 17,2% und bei einem 10%-igen Bevölkerungsanteil 8,2% des NRW-BIPs. Obwohl es in seinem westlichen Teil mit den Folgen der textilindustriellen Strukturkrise zu kämpfen hat(te), verschafft der klein- und mittelbetriebliche Mix aus Maschinenbau, Ernährungswirtschaft und der insbesondere in der Universitäts- und Verwaltungsstadt Münster bedeutenden Dienstleistungsbranche der Region im Landesvergleich überdurchschnittliche Wachstums- und unterdurchschnittliche Arbeitslosenzahlen; aufgefangen werden konnten hierüber die Verluste der Bekleidungsbranche.1164 Der größte Nachkriegsaufstieg gelang der um die Stadt Bielefeld sowie den Kreisen Gütersloh, Minden-Lübbecke, Herford, Paderborn und Höxter gebildeten Region Ostwestfalen, die auf einer Fläche von 15,3% und bei einem Bevölkerungsanteil von 9,5% 9,4% zur Wirtschaftsleistung NRWs beisteuert; dem einstmals ländlich-abgehängten Raum gelang die nachgeholte Industrialisierung und der Wandel zu einem der führenden Wirtschaftsgebiete Nordrhein-Westfalens. Trotz internationaler Konkurrenz spielt die Textilwirtschaft nach wie vor eine bedeutende Rolle, darüber hinaus prägen mittelständische Betrieben der Möbel-, Maschinenbau- und Haushaltsgeräteindustrie sowie der Ernährungs- und Verlagswirtschaft das Bild; positive Wachstums- gehen im Landesvergleich mit geringeren Arbeitslosenzahlen einher.1165 Südwestfalen, das von der Stadt Hagen über die Kreise Ennepe-Ruhr, Märkischer Kreis und Olpe bis nach Siegen-Wittgenstein reicht, erwirtschaftet auf 9,8% der Fläche und bei einem 7%-igen Bevölkerungsanteil 7,6% des NRW-BIPs. Die heterogene Region musste 1965 die Einstellung des traditionsreichen Siegerländer Erzbergbaus hinnehmen, hat sich aber auf den Wurzeln der märkisch-siegerländischen Eisen- und Metallgewerbe zu einem Zentrum des verarbeitenden Sektors in Nordrhein-Westfalen entwickelt, dessen regionaler Beschäftigtenanteil mit 42% deutlich über dem Landesschnitt von 25% liegt. Klein- und Mittelbetriebe spezialisierten sich auf die Metallverarbeitung, den Maschinenbau und die Automobilzulieferung und gewannen mit der besseren Verkehrsanbindung an das Ruhrgebiet an Bedeutung.1166
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Vgl. hierzu Mecking, Sabine: Gigantomanie versus Kirchturmspolitik? Staatliche Raumplanung uns städtisches Selbstbewusstsein im Ruhrgebiet in den 1960er und 1970er Jahren, in: Ditt/Tenfelde, Das Ruhrgebiet in Rheinland und Westfalen, S. 263-288, hier: S. 269. Vgl. hierzu auch IHK Nord Westfalen: Zahlen und Fakten zur Wirtschaft, einsehbar unter http://www.ihknordwestfalen.de/fileadmin/medien/01_Mittelstand/03_Wirtschaftsregion/Statistik/Zahlen_Fakten_2010_11_ online.pdf (2.3.2011). Vgl. hierzu auch Industrie- und Handelskammer Ostwestfalen zu Bielefeld: Daten, Zahlen, Fakten, einsehbar unter http://www.bielefeld.ihk.de/fileadmin/redakteure/standortpolitik/Richter_Standortpolitik/Wirtschaftsst andort_OW_-_Ganz_oben_in_NRW.pdf (2.3.2011). Vgl. Industrie- und Handelskammer Siegen: Überblick in Zahlen 2010, einsehbar unter http://www.ihk-siegen.de/fileadmin/Geschaeftsfelder/Standortpolitik/Statistik/Ueberblick_in_Zahlen/ Ueber blick_in_Zahlen_2010.pdf sowie
282
G. Nordrhein-Westfalen seit 1946
Naturräumliche Prämissen machen das um den Hochsauerlandkreis und Teile der angrenzenden Kreise Soest, Märkischer Kreis und Olpe gebildete Sauerland – das auf 9,5% der Fläche und bei 3,2% der Bevölkerung einen Anteil von 2,9% am nordrheinwestfälischen Bruttoinlandsprodukts besitzt – insbesondere nach Südosten zu einer Hochburg der Tourismusbranche. Des Weiteren sind für die ländlich-periphere Region die Holz- und Papierindustrie sowie die Metall- und Maschinenindustrie von Relevanz, wie auch das Brauereiwesen eine wichtige Rolle spielt.1167 G.III.2.3. Ruhrgebiet Das Ruhrgebiet – dem an dieser Stelle die Städte Duisburg, Oberhausen, Mülheim, Essen, Bottrop, Gelsenkirchen, Herne, Bochum, Dortmund, Hamm sowie die Kreise Recklinghausen und Unna zugerechnet werden – schwankt zwischen den Polen einer wirtschaftlichen Verliererregion sowie eines erfolgreich gemeisterten Strukturwandels. In dem einstigen industriellen Kraftzentrum erwirtschaften heute 28,8% der Bevölkerung auf einer Landesfläche von 13% einen NRW-BIP-Anteil von 22%, für den die alten Montanindustrien kaum noch eine Rolle spielen: Waren 1957 noch 474.000 im Bergbau und 334.000 Arbeiter in der Stahlindustrie beschäftigt, so reduzierten sich die Zahlen bis zur Jahrtausendwende auf 53.000 bzw. 54.000.1168 Die Landespolitik versprach sich von zahlreichen für das Ruhrgebiet aufgelegten Technologieprogrammen und der Gründung der Universitäten Bochum 1962, Dortmund 1968, Duisburg und Essen 1972 und Witten-Herdecke 1982 sowie weiterer Fachhochschulen die Abfederung des Strukturwandels, doch gelang es der Region als Ganzer trotz aller Umsteuerungsversuche nicht, einen selbstragenden Entwicklungspfad einzuschlagen. Die langjährig gezahlten Strukturhilfen ermöglichten zwar einen relativ sozialverträglichen Arbeitsplatzabbau sowie die behutsame Rückführung der Industrielandschaft, fehlten allerdings für die zielgerichtete Anstoßung von Zukunftsprojekten. Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Branchenstruktur sank zwar im Vergleich zum mittlerweile dominierenden Dienstleistungssektor unter den Landesschnitt,1169 doch vermochte der Landesteil nicht, seine Arbeitslosenzahlen infolge der Entstehung neuer Branchen wie der Informationstechnologie, der Umwelttechnik oder der Logistik deutlich zu senken und an das Land anzugleichen.1170
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Südwestfälische Industrie- und Handelskammer zu Hagen: Konjunktur- und Wirtschaftsdaten, einsehbar unter http://www.sihk.de/standortpolitik/wirtschaftsdaten/ (2.3.2011). Vgl. auch IHK Arnsberg Hellweg-Sauerland: Zahlenspiegel 2010, einsehbar unter http://www.ihk-arnsberg.de/upload/Zahlenspiegel_5578.pdf (2.3.2011). Vgl. Metropole Ruhr: Regionalkunde Ruhrgebiet. Des-Industrialisierung, einsehbar unter http://www.ruhrgebietregionalkunde.de/erneuerung_der_wirtschaft/von_der_industrie_zur_dienstleistung/ des_industriealisierung.php?p=0,1 (3.3.2011). Während das verarbeitende Gewebe 2008 einen Anteil von 28% aufwies, lag dieser bei den Dienstleistungen bei 71%; im Land lagen die Werte bei 34 bzw. 65%.Vgl. Metropole Ruhr: Aktuelle Zahlen zu Beschäftigung und Arbeitsmarkt der Metropole Ruhr, einsehbar unter http://www.metropoleruhr.de/metropole-ruhr/daten-fakten/beschaeftigung-arbeitsmarkt.html (3.3.2011). Während der landesweite Schnitt im Februar 2011 bei 8,6% lag und keine Region mehr als 8,5% Arbeitslose vorzuweisen hatte, lag dieser Wert im Ruhrgebiet bei 11,7%. Vgl. hierzu: Bundesagentur für Arbeit/Regionaldirektion Nordrhein-Westfalen: Pressemitteilung 7 (1. März 2011), einsehbar unter
G.III. Landschaftsentwicklung
283
Je länger je weniger ist das durch montanindustrielle Verflechtungen entstandene Ruhrgebiet eine einheitliche Wirtschaftsregion: Während die südlichen Ruhrstädte – aufbauend auf einer Geschichte abseits von Kohle und Stahl – den Strukturwandel besser meisterten, wird die nördliche, stärker monostrukturierte Emscherregion zunehmend abgehängt. Mit diesen Ungleichgewichten setzt eine allmähliche Re-Regionalisierung ein, bei der alte Raumorientierungen und -bindungen wieder an Bedeutung gewinnen; das Ruhrgebiet war stets eher aus der Außen- denn der Innenperspektive homogene Wirtschaftsregion, und auch heute ist sie wieder zuvörderst ein polyzentrischer Agglomerationsraum mit durchaus vorhandenen sozioökonomischen Ähnlichkeiten. Die mit der Industrialisierung entstandenen wirtschaftsstrukturellen Beziehungen lösen sich zunehmend auf, und es wird „immer deutlicher…dass sich das Ruhrgebiet in der Mitte teilt“;1171 während das westliche Ruhrgebiet um Duisburg oder Essen mit Logistik-, Handels- und Energieunternehmen den Rhein und die Rheinschiene wiederentdeckt, baut der Bochumer Raum seinen Wissenschaftsstandort aus und orientiert sich das östliche Ruhrgebiet um Dortmund mit Informations- und Technologieunternehmen zunehmend auf das märkische Umland.1172 G.III.2.4. Lippe Der Landkreis Lippe ist auf einer Fläche von 3,6% und bei einem Bevölkerungsanteil von 2% für 2% des NRW-BIPs verantwortlich. Das einstmals wirtschaftlich vergleichsweise rückständige Lippe-Detmold erhielt in den Anfangsjahren seiner Zugehörigkeit zu Nordrhein-Westfalen besondere Zuwendung; innerhalb des Ostwestfalenplans wurden in dem Versuch, in der Region eine nachträgliche Industrialisierung anzustoßen, zwischen 1953 und 1969 insbesondere die beiden damaligen Kreise Detmold und Lemgo bedacht.1173 Die Fördermaßnahmen halfen bei der Ansiedlung neuer wie bei der Stärkung bestehender Betriebe und fundierten den gegenwärtig vergleichsweise hohen, 32%igen Anteil des Industriesektors an der klein- und mittelständischen lippischen Wirtschaftstruktur gegenüber dem Landesschnitt von 23%. Aufbauend auf textilgewerblichen Anfängen, entwickelten sich auch in Lippe komplementäre Maschinenbauer, die durch die traditionelle Holz- und Möbelwirtschaft sowie einen starken Tourismussektor ergänzt werden; der Landesteil
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http://www.arbeitsagentur.de/Dienststellen/RD-NRW/RD-NRW/Zahlen-Daten-Fakten/AMB/amb2011-02.pdf (3.3.2011). Schrumpf, Heinz/Budde, Rüdiger/Urfei, Guido: Gibt es noch ein Ruhrgebiet?, Schriften und Materialien zur Regionalforschung 6 (2001), S. 91. Vgl. hierzu auch: Industrie- und Handelskammer für Essen, Mühlheim an der Ruhr und Oberhausen zu Essen: Wirtschaftsregion Mühlheim an der Ruhr, Essen, Oberhausen 2010, einsehbar unter http://www.essen.ihk24.de/linkableblob/1024312/data/Jahrb_2007-data.pdf, IHK Mittleres Ruhrgebiet: Die Wissensregion mittleres Ruhrgebiet, einsehbar unter http://www.bochum.ihk.de/website/tpl/article_view.php?folder_default_netfolderID=10016&article_d efault_netfolderID=10016&article_default_id=27090&id=10016&dir=10007 sowie Industrie- und Handelskammer zu Dortmund: Wirtschaftsdaten 2010, einsehbar unter http://www.dortmund.ihk24.de/linkableblob/1047110/data/ Wirtschaftsdaten_ 2010-data.pdf (3.3.2011). Vgl. Landschaftsverband Rheinland/Landschaftsverband Westfalen-Lippe: Kulturlandschaftlicher Fachbeitrag zur Landesplanung in Nordrhein-Westfalen, Köln 2007, S. 174.
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G. Nordrhein-Westfalen seit 1946
schaffte den Sprung von einem ökonomischen Armenhaus zu einer Wirtschaftsregion, deren Kennziffern sich im Landesmittel bewegen.1174
G.IV. Landschaftsintegration Seit 1946 hat es nicht an Versuchen gemangelt, Nordrhein-Westfalen, seine Landesteile und Landschaften zu integrieren, ohne dass sie halfen, das Selbstverständnis des Bindestrichlands zu klären; „allein historisch ließ sich das neue Land nicht überzeugend legitimieren, während bei Neukonstruktionen immer die Geschichte im Wege war.“1175 Landesgründung und Verfassungsgebung etablierten einen Geschichtsraum und schufen hierarchisch die Voraussetzungen gemeinsamer Erfahrungen, kollektiver Gedächtnisse und eines Zusammengehörigkeitsempfindens, doch füllte sich dieser Rahmen nicht und wurde NRW für seine Bevölkerung bestenfalls zum kognitiv wahrgenommenen, keinesfalls jedoch zu einem affektiv besetzten Identifikationsobjekt. Nordrhein-Westfalen blieb Behälterstaat ohne relationales Landesbewusstsein, in dessen Innerem die hergebrachten Landschaften ihr Eigenleben tradieren; es ermangelt einer landesweiten Deutungskultur und der Ergänzung der politischen Vereinigungsstrategien durch gesellschaftliche Selbstverständigungsprozesse.
G.IV.1. Strukturelle Hintergründe „Der Kern der Geschichte des Landes NRW ist…die Geschichte des Verhältnisses des Staates zu den sozialräumlichen Gegebenheiten seines Staatsgebiets“,1176 ist die Auseinandersetzung zwischen zentralistischer Politik und regionalgesellschaftlicher Selbstverwaltung. Der Aufbau von Regierungs- und Verwaltungsstrukturen war unablässige Notwendigkeit, um die dem Land gestellten Nachkriegsanforderungen zu meistern, doch waren potentielle Integrationsfaktoren wie der gemeinsam gewählte Landtag oder die einheitliche Exekutive mitsamt anhängiger Administration eher abstrakte, ferne Größen, zwar alltäglich erfahrbar und mit geteilter Relevanz für die Landesbevölkerung, ohne jedoch lebensweltliche Bedeutung für die Ausbildung übergreifender mental maps zu besitzen. Die weitgehende Dezentralisierungspraxis der ersten Jahre und die Wiedererrichtung provinzieller Selbstverwaltungsorgane – die Annäherung von Land und Landesteilen war nicht ohne Rücksichtnahme und Ausbalancierung gewachsener Traditionen und landschaftlicher Eigenarten zu erreichen – versuchte, eine mögliche Landesverdrossenheit infolge der Vereinigung der wichtigsten Landeseinrichtungen in Düsseldorf auszugleichen, schwächte hiermit aber zugleich die Neuausrichtung kollektiver Identitäten auf das Land und tradierte gegeneinander abgegrenzte Bewusstseinswelten. Appelle an die Zusammengehörigkeit mussten stets regionale Befindlichkeiten, Wertehaltungen und Verbundenheiten in Rechnung stellen und konnten schwerlich gegen diese fruchten.
1174
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Vgl. Institut der deutschen Wirtschaft, Deutschland in Zahlen, S. 124, sowie Industrie- und Handelskammer Lippe zu Detmold: Wirtschaftsregion Lippe, einsehbar unter http://www.detmold.ihk.de/de/standort-lippe/die-region-lippe/wirtschaftsregion-lippe (3.3.2011). Mergel, Staatlichkeit und Landesbewusstsein, in: Schlemmer/Woller, Bayern im Bund, S. 311. Hüttenberger, Grundprobleme der Geschichte Nordrhein-Westfalens zwischen 1945 und 1970, in: Alemann, Parteien und Wahlen in Nordrhein-Westfalen, S. 48.
G.IV. Landschaftsintegration
285
Insbesondere in den Anfangsjahren war die Austarierung des regionalen Proporzes ein wichtiges Orientierungsmerkmal bei der Bildung der Landesregierungen; sie sollte das Zusammenwachsen der Landesteile befördern und Benachteiligungsvorwürfen bereits im Vorfeld begegnen, sorgte jedoch auch für Misstöne: Fühlten sich im ersten Kabinett Amelunxen nordrheinische Vertreter übergangen,1177 sahen sich im folgenden Kabinett Arnold westfälische Vertreter nicht ausreichend berücksichtigt.1178 Gegenüberstellend wiesen die Bemühungen primär auf die Beseitigung westfälischer Widerstände gegen das neugegründete Land. Hiesige Politiker fürchteten, „mit der Errichtung der Landeshauptstadt in Düsseldorf würde sich das kulturelle, finanzielle und administrative Schwergewicht des Landes allmählich zum Rheinland hin verschieben und somit die westfälischen Gemeinden und Kreise in fortschrittslose Provinzialität verschwinden.“1179 Forderungen nach paritätischer Besetzung der Regierungsämter, der Berücksichtigung westfälischer Verwaltungsstandorte sowie die parteiübergreifend in die Landtagsverhandlungen eingebrachte Entwürfe westfälischer Abgeordneter zur Wiederbegründung der Provinzialverbände folgten dem Interesse, ein ausgleichendes Gegengewicht gegen die vermeintliche rheinische Überlegenheit zu schaffen; dennoch gelang es trotz der – den Bevölkerungszahlen unangemessenen – paritätischen Besetzungspraxis nicht, die in Westfalen empfundene Zurücksetzung gegenüber dem nordrheinischen Landesteil vollauf zu beseitigen, die etwa mit Blick auf die unterschiedlich häufige Besetzung des Ministerpräsidentenpostens durchaus ihre Berechtigung besaß.1180 Aus der zunächst ungeklärten Zukunft des Landes – der Gedanke des Provisoriums blieb bis in die späten 1950er Jahre relevant –1181 verfolgten die ersten Landesregierungen eine 1177
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Zwar war die paritätische Vertretung der Landesteile gegeben, doch die westfälischen Mitglieder rekrutierten sich - anders als die rheinischen - aus führenden Positionen des Oberpräsidiums. Vgl. Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 233. Der ab 1946 amtierende westfälische Justizminister Artur Sträter wurde 1947 durch den Rheinländer Gustav Heinemann ersetzt; nach anhaltenden westfälischen Protesten kehrte Sträter 1948 zurück. Vgl. Teppe, Zwischen Besatzungsregiment und politischer Neuordnung, in: Kohl, Westfälische Geschichte 2, S. 326. Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 524. Insbesondere bei der Position des Ministerpräsidenten war der rheinische Landesteil bevorteilt und stellte seit 1946 in 15 Kabinetten den Regierungschef, während in nur drei Exekutiven ein Westfale und in vieren ein Politiker aus dem Ruhrgebiet an der Spitze stand; Lippe kam hierbei gar nicht zum Zug. Aus dem Rheinland stammten die Ministerpräsidenten Karl Arnold (3 Kabinette, 1947-1956), Franz Meyers (3 Kabinette, 1958-1966), Heinz Kühn (3 Kabinette, 1966-1978), Johannes Rau (5 Kabinette, 1978-1998) und Jürgen Rüttgers (1 Kabinett, 2005-2010); aus Westfalen stammten die Ministerpräsidenten Rudolf Amelunxen (2 Kabinette, 1946-1947) und Peer Steinbrück (1 Kabinett, 2002-2005); aus dem Ruhrgebiet stammten die Ministerpräsidenten Fritz Steinhoff (1 Kabinett, 1956-1958), Wolfgang Clement (2 Kabinette, 1998-2002) und Hannelore Kraft (1 Kabinett, seit 2010). Gemeint ist stets der Ortsverband und somit der Landesteil, dem der Ministerpräsident angehörte. Vgl. den Stenographischen Bericht der Landtagssitzung vom 27. Februar 1951 zur Einrichtung der Landschaftsverbandsordnung, in der Fritz Steinhoff (SPD) betonte, „dass diese zufälligen Länder, deren Grenzen nicht auf unsere Entscheidungen zurückzuführen sind, keinen ewigen Bestand habe können“, einsehbar unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMP02-15.pdf (15.1.2011), S. 458. Als Ministerpräsident bezeichnete Steinhoff NRW in seiner Ansprache zum zehnjährigen Bestehen des Landes und des Landtags am 2. Oktober 1956 als ein durch die künstliche Klammer der Besatzungsmacht geschaffenes, in historisch unterschiedliche, nicht miteinander zu verbindende Teilräume zerfallendes Land. Vgl. Cornelißen, Der lange Weg zur historischen Identität, in: Schlemmer/Woller, Bayern im Bund, S. 425.
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G. Nordrhein-Westfalen seit 1946
zurückhaltende Integrationspolitik und wiesen demonstrativ den Staatscharakter Nordrhein-Westfalens zurück: Bis 1950 firmierte der Dienstsitz des Ministerpräsidenten als Landeskanzlei, die späteren Staatssekretäre amtierten bis 1954 als Ministerialdirektoren,1182 und auch ein klassisch-formelles Vereinigungsinstrument wie die 1950 verabschiedete Verfassung schaffte es nur bedingt, übergreifende Verbundenheit zu stiften. Ihre beträchtliche Ablehnung in der Bevölkerung sowie die hohe Abstimmungsenthaltung offenbarten die geringe Bedeutung, die Land und Konstitution in der Bevölkerung beigemessen wurde, sie war zuvörderst durch CDU und Zentrum gestaltetes Dokument, das einen breiten, aber keineswegs einen allgemeinen Konsens wiedergab. Bereits der Ausarbeitungsprozess brachte die Divergenzen bei der Zusammenfügung der Landesteile zur Geltung: Im April und September 1947 lancierte Referentenentwürfe aus dem Innenministerium, rechtfertigten das Land und sein Bestehen zwar in der Präambel, vertieften rhetorisch jedoch eher die Gräben zwischen den Landesteilen und bezeichneten es als Aufgabe, die landschaftliche Heterogenität zu bewahren.1183 Der schließlich gewählte Passus, die Männer und Frauen des Landes Nordrhein-Westfalen als Verfassungsgeber zu benennen, unterstrich in seiner Formulierung die Künstlichkeit des Staatsgebildes und hob das Trennende eher hervor, als es – zumindest deklatorisch – zu überwinden; da sich nicht die Nordrhein-Westfalen gemeinschaftlich auf eine Verfassung für ihr Gemeinwesen einigten, wurde – da andere Legitimationsquellen fehlten – eine etwas sperrige Umschreibung gewählt, die niemanden verletzte. Im Vordergrund der Landespolitik stand in den ersten Jahren ohnehin die Verbesserung der sozioökonomischen Lage, von der sie sich zumindest indirekt die Bindung der Bevölkerung an das als künstlich wahrgenommene Land versprach.1184 Die anfängliche Prosperität Nordrhein-Westfalens in der Wirtschaftswunderzeit überwölbte die Altlandschaften, das NRW-Dach versprach hohe Einkommen und subjektive Zufriedenheit, so dass sich die Frage nach einem Landesbewusstsein so lange nicht stellte, bis die 1958 einsetzenden Strukturprobleme dem Land einen wichtigen Rechtfertigungsgrund nahm. Das Ruhrgebiet, das die ehemaligen preußischen Westprovinzen seit etwa einhundert Jahren aneinandergebunden hatte, verlor als Gravitationszentrum jedoch allmählich an Anziehungskraft und setzte zunehmend zentripetale Kräfte frei. Gerade in einem fragilen Gebilde wie Nordrhein-Westfalen, in dem wirtschaftliche und soziale Aspekte von ungeheurer Bedeutung und im kollektiven Landschaftsgedächtnis gespeichert waren, minderten ökonomische Schwächephasen die Akzeptanz des Landes und versperrten den Weg hin zu 1182
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Vgl. Romeyk, Horst: Nordrhein-Westfalen und der Bund, in: Nordrhein-Westfalen – Kernland der Bundesrepublik. Eine Ausstellung der staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen, Siegburg 1989, S. 15ff. Im April hieß es in dem Entwurf der Präambel, die Landschaften seien „viele Jahrhunderte hindurch zusammen geschmiedet und…durch Wirtschaft und Kultur der Gegenwart auf mancherlei Art eng miteinander verbunden“, jedoch erfolge die „Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen aus dem Willen der Militärregierun.;“ Artikel 2 forderte, „die landsmannschaftliche Eigenart der früheren Provinzen und Lippes zu erhalten und zu pflegen und ihnen bei der Behördenorganisation angemessene Berücksichtigung zuteil werden zu lassen.“ Die umgearbeitete Vorlage aus dem September sah das „Volk von Westfalen, vom Rhein und von der Ruhr in Wirtschaft und Kultur zu einer Schicksalsgemeinschaft verbunden“ und hob das Trennende eher hervor, als es zu überwinden. Vgl. Hüttenberger, Nordrhein-Westfalen, S. 440, S. 445. So schlug Ministerpräsident Steinhoff zum Jahrestag des zehnjährigen Bestehens Nordrhein-Westfalens die Absage der Festveranstaltung und die Nutzung der freigewordenen Mittel für soziale Zwecke hervor. Vgl. Cornelißen, Der lange Weg zur historischen Identität, in: Schlemmer/Woller, Bayern im Bund, ebd., S. 424.
G.IV. Landschaftsintegration
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der Ausbildung eines durch ökonomische Erfolge begleiteten Landesbewusstsein.1185 Verweise auf die Meisterung des Strukturwandels oder die erfolgreiche Integration von Millionen von Flüchtlingen wurden in der Folgezeit dann auch Themen, mit denen die Landespolitik versuchte, sich und das Land aus der Gegenwart heraus zu rechtfertigen, ohne hierin von einem stabilen, landesteileübergreifenden Wachstumspfad begünstigt zu werden. Trotz des Wissens um die zentrale Rolle, die „Kunst und Kultur für die Schaffung von Identität und Identifikation…für Orientierung und Fortschritt, für Reflexion, Einsicht und Veränderung“ besitzen,1186 verzichtete die Landespolitik auch weitgehend auf eine eigenständige Landeskulturpolitik zugunsten der Landschaftsverbände und subregionaler Einheiten. Neben der Unsicherheit um die originären, ausdeutbaren Besonderheiten Nordrhein-Westfalens folgte diese Rücksichtnahme auf regionale Traditionen ebenfalls dem Ansinnen, die Landesfreudigkeit indirekt zu heben, doch sicherte die Bevorzugung landschaftlich-kommunalen Kulturengagements nicht nur die dezentrale Vielfalt der teilkulturellen Erbemassen, sondern erschwerte auch die gesamt-nordrhein-westfälische Identitätsbildung. Bis heute erbringen Kommunen und Kommunalverbände überdurchschnittlich hohe 80% der öffentlichen Kulturfinanzierung, innerhalb derer das Land mehr ergänzend denn steuernd tätig wird; tradiert werden hierdurch Heterogenität und gegeneinander abgegrenzte Profilierungen, anstatt das Land als Ganzes zum sinnvermittelten Zielobjekt zu machen. Zwar versuchten Landespolitiker durchaus, Nordrhein-Westfalen eine institutionell unterlegte, durch Kulturveranstaltungen flankierte Landesidentität zu verschaffen,1187 stießen hiermit aber auf geringe Resonanz und konterkarierten diese Maßnahmen zugleich etwa durch die Regionalisierung der Kulturpolitik seit den 1990er Jahren.
G.IV.2. Staatliche Integrationsstrategien Vor dem Hintergrund jener strukturellen Hintergründe verfolgten die unterschiedlichen Landesregierungen seit 1946 differente Strategien, um Land, Landesteile und Landschaften zu integrieren und die Ausbildung eines Landesbewusstseins zu unterstützen. Zu1185
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Der Verweis auf wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und sozialen Ausgleich steht in der Linie nordrheinwestfälischer Traditionsbestände, die von fundamentaler Bedeutung für Legitimität und Bestand des Landes sind. Für den Landeshistoriker Franz Petri trägt ein Staat wie NRW seine „Existenzberechtigung zu allererst in sich selber und in seiner Fähigkeit, mit den uns in der Gegenwart zur Lösung aufgegebenen politischen und wirtschaftlichen Strukturproblemen in sachdienlicher Weise fertig zu werden.“ Vgl. ders.: Von den Landschaften zum Land, in: Lenz, Wilhelm (Hrsg.): Mensch und Staat in NRW. 25 Jahre Landtag in Nordrhein-Westfalen, Köln 1971, S. 149-165, hier: S. 152. Dürr, Heinz u. a.: Kunst NRW. Vorschläge und Empfehlungen, Gutachten im Auftrag der Staatskanzlei des Landes NRW, Düsseldorf 2008, S. 72. Zu nennen sind etwa die Einrichtung des Großen Kunstpreises, die Förderung von Museen und Ausstellungen, aber auch die Gründung des Westdeutschen Rundfunks. Auch die Einrichtung des NRW KULTURsekretariats 1974 in Wuppertal, in dem 20 theatertragende Städte und der Landschaftsverband Rheinland Projekte fördern, oder des Kultursekretariats NRW 1980 in Gütersloh, in dem 61 Städte und Gemeinden unter Mitarbeit des Landschaftsverbands Westfalen zur Kulturförderung kooperieren, die beide unterstützende Landesmittel erhalten. Oder die Etablierung der NRW-Stiftung Naturschutz, Heimat- und Kulturpflege 1986 in Düsseldorf vermochten die heterogenen Kulturlandschaften in Nordrhein-Westfalen kaum zu integrieren.
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G. Nordrhein-Westfalen seit 1946
nächst ging man den Weg der indirekten Annäherung: Die Berücksichtigung regionaler Traditionen und Befindlichkeiten sollte die Landesfreudigkeit heben und selbstversichernder Ausgangspunkt sein, um über das Weiterleben jener Selbstverortungen und hergebrachten Identitäten die gleichzeitige Annahme des Landes zu ermöglichen. In Absetzung hiervon setzten in den 1960er Jahren aktivistische Versuche ein, NRW geschichtlich zu rechtfertigen, mithilfe symbolischer Politik emotionalisierbare Bindungen an das Land zu erzeugen und ihm durch eine forcierte Kulturpolitik Glanz und Ausstrahlung zu verleihen. Sodann schwang das Pendel erneut zu einer indirekteren Landesintegrationspolitik zurück, die in den 1980ern ersonnene Kampagne Wir in Nordrhein-Westfalen betonte bewusst die Vielgestaltigkeit des Landes und ließ Raum für Teilidentitäten, um diese unterhalb eines gemeinsamen Daches zu versammeln. Nach dem Regierungswechsel 2005 verfolgte die CDU/FDP-Regierung wiederum stärkere direkte Bemühungen zur Hebung des Landesbewusstseins und verwies mit dem neuerlichen Wechsel der Leitlinien implizit auf mangelnde Erfolge beider zuvor verfolgten Zielrichtungen.1188 G.IV.2.1. Rudolf Amelunxen Dem ersten Ministerpräsidenten stellte sich 1946-1947 die Aufgabe, das Fundament für die Integration der vier Landesteile zu legen. Auf Regierungsebene war in Amelunxens Perspektive mit der paritätischen Zusammensetzung des Kabinetts aus Rheinländern und Westfalen die „Gefahr einseitiger Berücksichtigung rheinischer oder westfälischer Interessen ausgeräumt“, die einer Landesintegration im Wege gestanden hätte.1189 Sodann wendete er sich in einer Rundfunkansprache zu Beginn seiner Amtszeit an die Bevölkerung des Rheinlandes und des Westfalenlandes und bezeichnete die namensgebenden Landesteile als Schwesterprovinzen mit starken wirtschaftlichen Bindungen, die einen gesunden Ausgleich aus Industrie und Landwirtschaft in ihre Ehe einbrächten.1190 In seiner ersten Regierungserklärung vom 2. Oktober 1946 strich Amelunxen Nordrhein-Westfalen als ein Kernland deutscher Geschichte heraus und betonte die gemeinsamen geistig-kulturellen Traditionen der Landesteile: Die in dem Bundesland zusammengeschlossenen Einwohner seien stets freiheitsliebende, zivilisierte und christliche Menschen gewesen, die militärischen Drill verabscheuten und die persönliche Würde des Menschen hochhielten; auf diesen Wurzeln lasse sich 1188
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Im Folgenden soll der Weg der letzten 60 Jahre grob nachgezeichnet, allerdings eher markante Wendepunkte anstatt die Politik sämtlicher Landesregierungen wiedergegeben werden. Landesintegrationspolitik war immer Ausweis der unterschiedlichen Dringlichkeit, die dieser Frage zwischen den Parteien beigemessen wurde. War sie für die CDU von herausgehobener Bedeutung, standen ihr SPD und FDP deutlich distanzierter gegenüber. Es kann in diesem Zusammenhang nur auf einzelne, repräsentative Äußerungen der verschiedenen Parteien zurückgegriffen werden, um über sie pars pro toto die Positionen der Parteien zu verdeutlichen. Vgl. zu den Äußerungen den Stenographischen Bericht über die Eröffnungssitzung des Landtags des Landes Nordrhein-Westfalen am 2. Oktober 1946, einsehbar unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMPEP1.pdf, S. 3f., 7, 11 (11.1.2011). Unklar ist, wann Amelunxen diese Äußerungen tätigte. Schreibt ihm eine Seite die Ansprache bereits für den 30. Juli 1946 zu, so die andere für den 30. August des Jahres. Vgl. Amelunxen, Clemens: Vierzig Jahre Dienst am sozialen Rechtsstaat. Rudolf Amelunxen zum 100. Geburtstag, Berlin/New York 1988, S. 35: Lademacher, Die nördlichen Rheinlande, in: Petri, Rheinische Geschichte 2, S. 799 sowie Först, Die Entstehung des Landes, in: Landeszentrale, Eine Politische Landeskunde, S. 53. Amelunxen griff hier die britische Wendung der Operation Marriage auf.
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ein neues Gemeinwesen aufbauen, in dem der Staat aus der Gesellschaft hervorgehen solle, anstatt dieser übergeordnet zu sein. Eine ähnliche Beschwörung demokratischfreiheitlicher Wurzeln artikulierte die Staatsbürgerliche Bildungsstelle in einer Broschüre zur Eröffnung des Landtags; sie betonte, die Demokratie besitze in Deutschland insbesondere in Nordrhein-Westfalen ein Heimatrecht und hob die solidarische Prägung der Bevölkerung hervor.1191 In betonter Abkehr von der Nazi-Vergangenheit zogen politische Verantwortliche somit ein vermeintlich großes Erbe hervor, um das Land in neuem, ihm eigenen Glanz erstrahlen zu lassen und den Zusammenschluss der Landesteile vergangenheitsorientiert zu rechtfertigen. Die Strategie sprach primär den Verstand an, löste aber in der mit anderen Dingen beschäftigten Bevölkerung keinen sonderlichen Widerhall aus. G.IV.2.2. Karl Arnold Die Integrationspolitik Karl Arnolds (CDU, 1947-1956) oszillierte in der Phase der Konsolidierung der Landesstrukturen zwischen der Rücksichtnahme auf landschaftliche Befindlichkeiten und ersten symbolischen Vereinigungsinitiativen. Mit dem per Regierungserlass am 5. Februar 1948 eingeführten Landeswappen und dessen offizieller Legitimierung im Gesetz über die Landesfarben, das Landeswappen und die Landesflagge vom 10. März 1953 griff der erste demokratisch legitimierte Ministerpräsident auf klassische politische Hoheitszeichen zurück, um das Land in der Bevölkerung kognitiv zu verankern. In diesem Sinne aktiv wurde seine Regierung allerdings erst auf Drängen des Bonner Fahnenfabrikanten Ferdinand Ditzen; auf dessen Vorschlag schrieb sie einen Wettbewerb zur Schaffung eines Landeswappens aus,1192 für dessen Erstellung schließlich der Düsseldorfer Maler und Heraldiker Wolfgang Pagenstecher den Auftrag erhielt.1193 Das von ihm entworfene, noch heute gültige Hoheitszeichen traf von Beginn an die Kritik, den künstlich-trennenden Landescharakter zu betonen, anstatt diesen symbolisch zu überwinden;1194 die zur Schau kommende Dreiteilung war Ausdruck der Zusammenfügung unterschiedlicher Landesteile mit geringem Zusammengehörigkeitsempfinden, wie sie auch in dem Insistieren Heinrich Drakes zur Aufnahme der – der Hintanstellung Lippes entsprechend falsch positionierten – lippischen Rose in das Landeswappen zur Geltung kam.1195 1191 1192
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Vgl. zur Broschüre Steininger, Rolf: Die Ruhrfrage 1945/46 und die Entstehung des Landes NordrheinWestfalen. Britische, französische und amerikanische Akten, Düsseldorf 1988, S. 5. Ditzen äußerte das Begehren, ein Landeswappen zu schaffen – und mit dem Vetrieb Geld zu verdienen –, in einem Brief an den Innenminister Walter Menzel vom 3. Januar 1947. Vgl. Mergel, Staatlichkeit und Landesbewusstsein, in: Schlemmer/Woller, Bayern im Bund, S. 304. Vgl. Nagel, Rolf: Das Nordrhein-Westfälische Landeswappen: Rhein, Roß, Rose, in: Düsseldorfer Jahrbuch. Beiträge zur Geschichte des Niederrheins 57/58 (1980), S. 498-510. Im Landeswappen fanden der bereits für die preußische Rheinprovinz verwendete silberne Rheinstrom, der 1817 an das Großherzogtum Niederrhein verliehen und seit 1881 selbständiges Wappen der Provinz wurde, das springende westfälische Pferd, das spätestens seit dem 16. Jahrhundert Symbol für das Herzogtum Westfalen war, und die seit 1218 auf Münzen und Stempeln nachweisbare lippische Rose, die mit der Erhebung in den Reichsfürstenstand 1789 offizielles Landessymbol wurde. Vgl. Brunn, Gerhard: Landeswappen, Landesfarben, Landesorden, in: Landeszentrale, NRW-Lexikon, S. 177-179, hier: S. 178f. Vgl. Meyers, Franz: Gez. Dr. Meyers. Summe eines Lebens, Düsseldorf 1982., S. 352. Im amtlichen Landeswappen steht die lippische Rose bis heute um 36° verdreht auf einem Blüten-, nicht auf einem Kelchblatt. Vgl. zu den Bemühungen Drakes, anders als etwa in dem aus verschiedenen Vorgängerterritorien gebildeten Niedersachsen die Aufnahme des historischen Lippes in das Landeswappen zu erreichen, Niebuhr, Heimat NRW, in: Brautmeier et. al., Heimat Nordrhein-Westfalen, insb. S. 361f.
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Pläne, die Landesintegration durch die Bildung eines die Alträume repräsentierenden, den Landtag ergänzenden Staatsrates zu befördern,1196 scheiterten insbesondere an den antiföderalen Positionen von SPD, FDP und KPD. Neben machttaktischen Erwägungen – die Parteien waren in den Kommunen, der angedachten Wahlbasis, weit schwächer verwurzelt als CDU und Zentrum – spielte ihre ablehnende Haltung gegenüber dem Staatscharakter des unfreiwillig gebildeten Landes hierfür eine ausschlaggebende Rolle.1197 Mit der Einrichtung der Landschaftsverbände schuf die Arnold-Regierung bald ähnliche, historisch-kulturell der kommunalen Ebene verhaftete Institutionen, die die zwei großen Alträume spiegelten, jedoch in erster Linie den Bindestrich zwischen den Landesteilen betonten. Aufkommenden Neugliederungsdiskussionen infolge der Einsetzung des Sachverständigen-Ausschuss für die Neugliederung des Bundesgebietes 1952 – der NRW im Endergebnis trotz der Betonung landsmannschaftlicher Disparitäten aufgrund seiner wirtschaftlichen Bindungen nicht auseinanderreißen wollte –1198 begegnete die Landesregierung 1954 mit der Ausarbeitung eines Memorandums, das die Zusammengehörigkeit und das Existenzrecht Nordrhein-Westfalens aus sprachlich-kulturellen Gemeinsamkeiten und geteilten geschichtlichen Entwicklungssträngen ableitete.1199 Das auf ihrer Seite dennoch vorhandene Wissen um die geringe rückwärtsgewandte Legitimationsfähigkeit des Landes sowie seiner schwachen Strahlkraft – in der Außenwahrnehmung galt Nordrhein-Westfalen als das Land von Kohle, Stahl und Arbeitern – verleitete die Regierung Arnold jedoch auch zu gegenwartsbezogenen Rechtfertigungsstrategien1200 und zu kompensatorischen Ersatzhandlungen: Die Einrichtung des Großen Kunstpreises 1953 diente der staatlichen Selbstdarstellung, blieb bis zu seiner Abschaffung 1971 jedoch eher artifizielle Dekoration ohne Einfluss auf die Hebung des Landesbewusst1196
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Dieser sollte von den neuerrichteten Landschaftsverbänden gewählt werden und durch die Mitsprache bei der Landesgesetzgebung die Anbindung der Regionen an das Land fördern. Vgl. die Ausführungen Innenminister Walter Menzels (SPD) zum Entwurf eines Grundgesetzes für das Land NordrheinWestfalen am 14. Dezember 1949 im Landtag, einsehbar unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMP01-117.pdf, S. 3640f (22.1.2011). Vgl. die Ausführungen des SPD-Abgeordneten Fritz Henßler in derselben Debatte, in der er darauf hinwies, „dass das, was Sie hier als Staat bezeichnen, uns durch die Engländer zudiktiert wurde. Rheinland-Westfalen (sic!) besteht als Staat aufgrund der Weisung der englischen Militärregierung und beruht nicht auf irgendeinem Votum, das von den Deutschen selber gegeben wurde.“ Vgl. ebd., S. 3706. Vgl. zum Luther-Gutachten Bundesminister des Inneren (Hrsg.): Die Neugliederung des Bundesgebiets. Gutachten des von der Bundesregierung eingesetzten Sachverständigenausschusses, Bonn u.a. 1955, insb. S. 80-86. So hieß es in dem Memorandum: „Natur, Volkstum, Kultur und Wirtschaft haben zusammengewirkt, um das Land Nordrhein-Westfalen geschichtlich vorzubereiten und funktions- und entwicklungsfähig zu machen.“ NRW sei „Fortsetzung und Vollendung der rheinisch-westfälischen Territorialgemeinschaft“, die Bevölkerung stünde in dem Bewusstsein der Gemeinsamkeiten in einer „positiven Grundhaltung“ zum Land. Vgl. das Memorandum der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen zu Artikel 29 des Grundgesetzes aus dem Jahr 1954, in Auszügen zitiert nach Cornelißen, Der lange Weg zur historischen Identität, in: Schlemmer/Woller, Bayern im Bund, S. 423f. So merkte der damalige Landtagspräsident Josef Gockeln (CDU) an: „Wer uns hämisch den geschichtlichen Glanz abspricht – weil die Schlösser und Burgen der Könige uns fehlen – der mag ruhig das Museale weiter preisen. Wir aber beglückwünschen uns zu dem Volk unserer Gegenwart.“ Vgl. den Stenographischen Bericht der Landtagssitzung vom 21.7.1958, einsehbar unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMP04-1.pdf, S. 4 (14.1.2011).
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seins;1201 dennoch erfuhren solch künstlich-hierarchische Vereinigungsmaßnahmen, die vermeintliche historische Traditionslinien aufgriffen und sinndeutend vermittelten, in der Folgezeit weitere Verwendung. G.IV.2.3. Franz Meyers Die Regierungsjahre Franz Meyers’ (CDU, 1958-1966) markierten den endgültigen Umschwung hin zu einer aktiven staatlichen Integrationspolitik, die sich von der Schaffung symbolischer Identitätsmerkmale sowie mithilfe rückwärtsgewandter Selbstrechtfertigungsstrategien die Hebung des Landesbewusstseins versprach; anstelle des bis dahin verfolgten Ansatzes seines allmählichen Erwachsens von unten und in Absetzung von Rücksichtnahmen und Dezentralisierungspraxis sollten Land, Landesteile und Bevölkerung fortan von oben einander angenähert werden. Meyers kritisierte die im Vergleich zu Bayern zurückgenommene Eigendarstellung des Landes – eine Protokollabteilung wurde erst 1960 eingerichtet, die Präsentation des Verfassungsdokuments zum 10. Jahrestag ihrer Verabschiedung scheiterte an der Unbrauchbarkeit des in schlechter Qualität erhaltenen Dokuments, und den französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle führte man 1962 nicht durch Schlösser, sondern durch die Duisburger Thyssen-Hütte –1202 und rückte die Entwicklung einer emotional unterlegten Landesverbundenheit betont in den Vordergrund seiner Arbeit, da er diese als Grundbedingung ansah, um Zusammenhalt und Bestand Nordrhein-Westfalens zu wahren.1203 Dass zahlreiche der Pläne im Sande verliefen, verwies auf die innerhalb der Landespolitik und Gesellschaft geringgeschätzten Notwendigkeit, Nordrhein-Westfalen ein Landesbewusstsein zu verschaffen und auf die Sperrfaktoren Sozialorientierung und Nüchternheit der politischen Landeskultur. In Anerkennung der Tatsache, dass NRW in seinen Landschaften, nicht aber als Land Wurzeln besaß, zielte der Regierungschef mit einer deutlich ausgeweiteten Darstellungspolitik „ganz bewusst auf die Entwicklung einer Tradition“, da ihm „ein Staat ohne Staatsbewusstsein“ – Meyers verwendete die Begriffe Staatsbewusstsein und Landesbewusstsein synonym – „gar kein Staat“ war;1204 er traf hiermit jedoch auf den Widerstand oppositioneller Landespolitiker, die seine Maßnahmen als „künstliche(s), den Interessen sowohl des Landes als auch der Bundesrepublik Deutschland abträgliche(s) Bestreben, ein Staatsbewusstsein in engen territorialen Grenzen zu entwickeln“,1205 zurückwiesen. Ministerpräsident Meyers legte deutlichen Wert auf die Feststel-
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Dass der in fünf Einzelpreise unterteilte Staatspreis an Künstler verliehen wurde, die nur vermittelt mit Nordrhein-Westfalen in Beziehung standen und sie in erster Linie nach ihrem künstlerischen Rang bemessen wurden, liegt der Schluss nahe, dass sich das Land eher mit ihnen schmücken wollte, als die heimische Kunst und ihre Bedeutung für das Land zu fördern und auszuzeichnen. Allerdings existierte ein Förderpreis des Landes für Künstler unter 35 Jahren, die dem Land durch Geburt, Wohnort oder Schaffen verbunden waren. Vgl. Meyers, Gez. Dr. Meyers, S. 345f., 352, 456. Vgl. Marx, Stefan: Stiftung von Landesbewusstsein – das Beispiel des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Franz Meyers, in: Geschichte im Westen 1 (2001), S. 7-19. Vgl. die Äußerung Meyers im Stenographischen Bericht der Landtagssitzung vom 18. Oktober 1960, einsehbar unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMP0448.pdf, S. 1717 (14.1.2011). So der FDP-Abgeordnete Emil Strodthoffs in der Debatte vom 18. Oktober 1960, vgl. ebd., S. 1730f. Die Sorge galt bei der zentralstaatlich orientierten FDP der Schwächung des Gesamtstaates durch fortgesetzte Kleinstaaterei.
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lung des bis in die späten 1950er Jahre in Zweifel gezogenen Staatscharakters NordrheinWestfalens. Anders als der Großteil der Landtagsopposition, die repräsentative Pläne für eine „Verwaltungsinstitution“, für das „von der Besatzungsmacht geschaffene Staatsgebilde“ und das in diesem „föderierte Staatsvolk an Rhein und Ruhr“ ablehnte, strich er die Eigenwertigkeit des Bundeslandes heraus und rechtfertigte seine Symbolpolitik „als ein Mittel zur Hebung des Landesbewusstseins, das zugleich Staatsbewusstsein ist.“1206 Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Fritz Steinhoff (SPD, 1956-1958), der die Feierlichkeiten zum zehnjährigen Landesjubiläum übergehen und die eingesparten Mittel für sozioökonomische Zwecke verwenden wollte, gestaltete Meyers den zehnten Jahrestag der Verabschiedung der Landesverfassung 1960 repräsentativer. Gedenkfeiern, Konzerte und Rundfunksondersendungen, die Beflaggung öffentlicher Gebäude sowie die Aussetzung des Schulunterrichts sollten die Wertschätzung Nordrhein-Westfalens betonen, das Land in ein geschichtliches Kontinuum zu den demokratisch-freiheitlichen Traditionen der preußischen Westprovinzen hineinstellen und seine wirtschaftliche und soziale Leistungsfähigkeit herausstreichen.1207 Seinen Bestrebungen zur Seite standen Politiker wie der CDU-Abgeordnete Josef Hofmann, der jedem Staat die Existenz genommen sah, der symbolhafter Selbstdarstellungspraktiken entbehre; um NRW nicht zu einem Zweck- oder Verwaltungsverbund zu degradieren, machten auch ihm die fehlenden dynastisch-monarchischen Traditionen und repräsentativen Erbestände deshalb ein aktives Landesmäzenatentum erforderlich.1208 Die Kritik am 1953 eingeführten Landeswappen versuchte Meyers mit seinem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Landesfarben, das Landeswappen und die Landesflagge aufzufangen. Die Schaffung eines Großen Landeswappens – bei dem um die bisherigen Insignien zehn historische Landschaften gruppiert und diese von den Kronen der Reichsstädte Aachen, Dortmund und Köln überwölbt werden sollten –1209 erstrebte als Einheitssymbol das Aufzeigen geschichtlicher Landeswurzeln und die Verdeutlichung hergebrachter rheinisch-westfälischer Zusammenhänge; das Ansinnen scheiterte jedoch am Widerstand des Landtags, dessen Hauptredner „im Jahre 1960 in Nordrhein-Westfalen nicht künstlich ein kleinkariertes Staatsbewusstsein konstruieren“ wollte und den Ministerpräsidenten vor der „heraldischen Scheußlichkeit eines großen Staatswappens warnte.“1210 Neben dem Verweis auf wirtschaftliche Prioritäten war aber auch die als mangelhaft empfundene Berücksichtigung der historischen Landschaften Nordrhein-Westfalens Stein des Anstoßes und zeigte die Beibehaltung alter Teilorientierungen auf. Eine ähnlich symbolbeladene Rich1206 1207
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Vgl. die Äußerungen Strodthoffs und Meyers in Bezug auf das Anliegen des Ministerpräsidenten, einen Orden des Landes Nordrhein-Westfalen zu stiften, in derselben Landtagssitzung, ebd., S. 1731ff. Vgl. hierzu auch die die Ansprache des Kultusministers Werner Schütz (CDU) an die Angehörigen des Kultusministeriums und der Bezirksregierung Düsseldorf anlässlich der Zehnjahresfeier der Landesverfassung am 11. Juli 1960 bei Cornelißen, Der lange Weg zur historischen Identität, in: Schlemmer/Woller, Bayern im Bund, S. 428f. Vgl. die Äußerungen Hofmanns in der Parlamentsdebatte vom 18. Oktober 1960, einsehbar ebd., S. 1721. Um die bisherigen Insignien wollte Meyers die Wappen des Kurfürstentums Köln, der Fürstbistümer Münster, Paderborn und Minden, der Herzogtümer Berg, Jülich, Kleve und Geldern sowie der Grafschaften Mark und Ravensberg anordnen. Ins Auge fällt erneut die Geringschätzung des dritten Landesteils Lippe, der genauso wie Siegen oder Wittgenstein keine Erwähnung finden. Vgl. die Drucksache vom 5. Juli 1960 unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD04-339.pdf (15.1.2011). So Willi Weyer für die FDP in der Parlamentsdebatte vom 18. Oktober 1960, vgl. ebd., S. 1714.
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tung schlug Meyers mit der Initiative zur Schaffung eines neuen Landesnamens ein, mit der er den separierenden Charakter des von den Briten verfügten Trennstrichbegriffs überwinden wollte; Meyers selbst plädierte für die Ersetzung des künstlichen Nordrheindurch den historisch etablierten Niederrheinterminus, da dieser weniger nach Verwaltungsakt oder artifizieller Landeshülle klinge.1211 Seinem Aufruf zur Einreichung von Vorschlägen folgten zahlreichen Zuschriften, die ein durchaus vorhandenes Interesse am Land und seinem durch den Namen bekundeten Selbstverständnis dokumentierten, doch brachten viele Einsendungen vor allem historisch bemühte, das Disparate betonende Ideen zum Vorschein und weckten eher regionale Befindlichkeiten, als diese zu überwinden.1212 Der Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion, Heinz Kühn, hielt demgegenüber die Suche nach einem Landesnamen für vernachlässigbar und glaubte, ein Landesbewusstsein entwickle sich unabhängig von solchen Äußerlichkeiten.1213 Nicht zuletzt die Pläne zur Schaffung eines die Eigenstaatlichkeit Nordrhein-Westfalens unterstreichenden Landesverdienstordens sollten helfen, die Verbundenheit der Bevölkerung mit dem Land zu steigern,1214 trafen aber genauso auf Ablehnung, da insbesondere die SPD die Verbesserung der sozialen Lage als erfolgversprechendste Strategie zur Bindung aller Bürger an das Land ansah.1215 Der in der politischen Kultur des Landes verankerte Grundzug der Betonung wirtschaftlicher und sozialer Zielsetzungen zeigte sich auch in Reaktion auf die Planungen Meyers’ zur Stiftung Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen. Ihre Einrichtung folgte 1961 dem Ansinnen, kulturellen Glanz nach Nordrhein-Westfalen zu bringen, das einseitige Bild des montanindustriellen Landes abzumildern und seine Nähe zu Kunst und Kultur zu dokumentieren.1216 Der Ministerpräsident beschrieb den Ankauf von 88, den Grundstock der Sammlung bildenden Gemälde Paul Klees als „Kristallisationspunkt des Landesbewusstseins in Nordrhein-Westfalen“, um mit diesen der Aushöhlung und dem Auseinanderfallen des Landes zu begegnen.1217 Erneut meldeten sich jedoch im Landtag Stimmen, ob Meyers „keine anderen Sorgen (habe A.W.), als sich in der augenblicklichen Situation über die Hebung des nordrheinwestfälischen Staatsbewusstseins durch Schaffung einer Staatsgalerie Gedanken zu machen?“;1218 vielmehr sei die Bewältigung der ökonomischen und infrastrukturellen Probleme geeignet, die gegenseitige Bindung von Land und Bürgern zu fördern. 1211 1212
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Vgl. Mergel, Staatlichkeit und Landesbewusstsein, in: Schlemmer/Woller, Bayern im Bund, S. 308f. Neben Meyers’ Vorschlag gesellten sich aus der Bevölkerung die Bezeichnungen Rheinland-Westfalen, Rheinfalen, Rheinpreußen oder Westland. Namensgebungen wie Rhein-Ruhr-Westfalen oder Ruhrland strichen die Rolle des Ruhrgebiets als Landesklammer und wirtschaftliches Herz heraus. Mit der Vernachlässigung Lippes und der Hintanstellung Westfalens wurden regionale Befindlichkeiten geweckt, die sich mit der Namenssuche eine staatliche Dreiteilung und westfälische Unabhängigkeit wünschten. Vgl. hierzu auch den Leserbrief Wilhelm Neuhaus’ an die Ruhrnachrichten vom 11.12.1963, in der er die Dreiteilung des Landes in Nord-/Niederrhein, Westfalen und Industrierevier forderte. Vgl. ebd., S. 312. Vgl. seine der politischen Landeskultur entsprechenden Äußerungen in der WDR 2-Sendung Das geteilte Rheinland vom 29. Februar 1964, ebd., S. 312. Vgl. die Äußerungen Meyers in der Parlamentsdebatte vom 18. Oktober 1960, ebd., S. 1733. So für die SPD der Abgeordnete Wilhelm Weber in der Parlamentsdebatte vom 18. Oktober 1960, ebd., S. 1717, 1734. So der damalige Kultusminister Werner Schütz in der Landtagsdebatte vom 18. Oktober 1960, ebd., S. 1719. Vgl. Vgl. die Äußerungen Meyers’ in derselben Debatte, ebd., S. 1713. Vgl. die Äußerungen Willi Weyers (FDP), ebd., S. 1711, S. 1716f.
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Am deutlichsten äußerte sich Meyers Konzept, Nordrhein-Westfalen historische Legitimität und Glanz zu verschaffen, in der wissenschaftlichen Erforschung der Landes, seiner Geschichte wie der seiner Vorgängerstaaten; Ausstellungen wie der 1961 in Brühl präsentierte Kurfürst Clemens August – Landesherr und Mäzen des 18. Jahrhunderts, zu Werk und Wirkung Karls des Großes 1965 in Aachen sowie zu Kunst und Kultur im Weserraum 800-1600 in Corvey 1966 legten geschichtliche Verflechtungen und einheitliche Prägungen des rheinisch-westfälischen Raumes dar, um die Landesgründung retrospektiv zu rechtfertigen und an ehemalige Zusammengehörigkeiten anzuknüpfen. Sie hoben die Bedeutung des historischen NRWs in der europäischen Geistesgeschichte hervor, um – da „die neuen Tage auf dem Schutt der alten“ aufbauten – Nordrhein-Westfalen den Vorwurf der Künstlichkeit zu nehmen, anschlussfähige Selbstbilder zu liefern und ein tief verwurzeltes Eigenbewusstsein entwickeln zu helfen.1219 Neben dem Interesse an der rheinisch-westfälischlippischen Vorgeschichte und der Ausdeutung der historischen Tiefe wie der gemeinsamen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Grundlagen regten der Ministerpräsident und sein Kultusminister Paul Mikat Mitte der 1960er Jahre die Errichtung eines Historikerkreises zur Ergründung der Gründungs- und Landesgeschichte sowie der geschichtlichen Beziehungen der Landesteile an, trafen hiermit jedoch auf den hinhaltenden Widerstand der von ihnen angesprochenen Wissenschaftler, die ihre Indienstnahme für politische Rechtfertigungszwecke fürchteten.1220 Eine wichtige Rolle für diese Zurückweisung lag zudem in der regionalen Verwurzeltheit der Historiker, die mit der Errichtung einer zentralen, die Landteile transzendierenden Institution ihre angestammten Erfahrungshorizonte teilweise eingebüßt hätten. G.IV.2.4. Heinz Kühn Heinz Kühn (SPD) wandte sich zwischen 1966 und 1978 von der Integrationspolitik Franz Meyers ab und der Bewältigung der Wirtschaftsmisere NRWs zu;1221 Priorität genossen ihm gesellschaftliche Reformen, Universitätsgründungen und eine aktive Strukturpolitik, um die ökonomische Leistungsfähigkeit des Landes zu steigern. In Entsprechung seiner zurückhaltenden Einstellung zu Föderalismus und Eigenstaatlichkeit NordrheinWestfalens1222 fielen denn auch die Feierlichkeiten seiner Regierung zur 25-jährigen Lan1219
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Vgl. Auszüge der Rede Franz Meyers anlässlich der Eröffnung der Clemens August-Ausstellung am 13.5.1961, zitiert nach Cornelißen, Der lange Weg zur historischen Identität. in: Schlemmer/Woller, Bayern im Bund, S. 432. Thematisiert werden sollten etwa die Zugehörigkeit weiter Landesteile zum kurkölnischen Einflussbereich, die Zusammenarbeit rheinisch-westfälischer Städte im Dortmunder, später Kölner Hansedrittel, die Existenz des Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreises, die gemeinsame Vergangenheit als preußische Westprovinzen oder die durch die Industrialisierung und Entstehung des Ruhrgebiets gewachsenen Verflechtungen. Vgl. ebd., S. 451ff. Bereits seine Regierungserklärungen rückten die Bewältigung der wirtschaftlichen Problemlagen zuungunsten historischer Rechtfertigungen oder der Weckung eines Landesbewusstseins in den Vordergrund. Vgl. die Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966, einsehbar unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMP06-8.pdf, die Regierungserklärung vom 28. Juli 1970, einsehbar unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMP07-1.pdf, sowie die Regierungserklärung vom 4. Juni 1975, einsehbar unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMP08-2.pdf (14.1.2011). Vgl. das Protokoll der Landtagssitzung vom 1. Oktober 1969, einsehbar unter
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desexistenz 1971 gering aus und verlor das Bestreben um die Ausbildung eines Landesbewusstseins an Unterstützung. Landesintegrationspolitik betrieb stattdessen in besonderem Maße der CDU-Politiker und Landtagspräsident Wilhelm Lenz, der zwischen 1970 und 1980 die Herausgabe eines Sammelbandes sowie eine gemeinsame Ausstellung der staatlichen Archive zum Landesgeburtstag unterstützte1223 und maßgeblich hinter den Bemühungen zur wissenschaftlichen Erforschung Nordrhein-Westfalens als Ganzem und seiner eigenen Historie stand. Die in Düsseldorf abgehaltene Landesausstellung Nordrhein-Westfalen. Entstehung und Aufbau war nicht allein aus schwachem Bevölkerungsinteresse nur von geringem Erfolg gekrönt, sondern vor allem auch das Fortbestehen regional-landschaftlicher Orientierungen stand diesem im Wege. Das Staatsarchiv Münster und das Staatsarchiv Detmold kritisierten die mangelnde Berücksichtigung der weiteren Landesteile in einer – in ihrer Perspektive – auf das Rheinland konzentrierten Ausstellung und verweigerten demonstrativ die Nennung als Herausgeber des Ausstellungskatalogs.1224 1977 erneut aufkommende Pläne der SPD-Abgeordneten Jürgen Büssow, Manfred Dammeyer und Christoph Zöpel, mithilfe einer großen, landesteileübergreifenden Schau dem Land und seinen ein geschichtlich fundiertes Selbstverständnis und Identifikationsmöglichkeiten zu eröffnen, scheiterten an Geldmangel, divergierenden Vorstellungen und letztlich mangelndem politischen Willen.1225 Der 1976 in Düsseldorf begründete Lehrstuhl für Neueste Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Geschichte des Landes Nordrhein-Westfalen legte – in Absetzung von dem Bonner Lehrstuhl für rheinische Landeskunde und dem Münsteraner Lehrstuhl für westfälische Geschichte – einen Forschungsschwerpunkt explizit auf das Land NRW, um die wissenschaftliche Provinzverhaftung zu überwinden. Mit dem Lehrstuhl intensivierten sich die Bemühungen, dem Land nach dreißigjähriger Existenz eine eigene Geschichtsmächtigkeit zuzuschreiben und aus sich heraus, aus den Entwicklungen und gemeinsamen Erfahrungen seit 1946 ein geteiltes Selbstbewusstsein zu entwickeln.1226 Die von ihm betriebene Herausgabe der Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens begleiteten die Selbstvergewisserung des Landes und die Konstruktion einer politisch, sozial und kulturell unterlegten Landesidentität, doch wandte sich erste Lehrstuhlinhaber Peter Hüttenberger zugleich gegen Versuche seiner politischen Indienstnahme zur Beförderung eines Landesbewusstseins gegen die Bevölkerung. Der zögernde Lehrstuhlausbau und das Be-
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http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMP06-39.pdf, S. 1515 (22.1.2011). Vgl. Lenz, Wilhelm (Hrsg.): Mensch und Staat in NRW. 25 Jahre Landtag von Nordrhein-Westfalen, Köln 1971. Vgl. Cornelißen, Der lange Weg zur historischen Identität. in: Schlemmer/Woller, Bayern im Bund, S. 474. In ihrer Vorlage für die SPD-Landtagsfraktion betonten die Abgeordneten, dass ein Land wie NRW „mit seinen verschiedenartigen historischen Zugehörigkeiten und seiner nachhaltigen Prägung durch industrielle Produktions-, Arbeits- und Lebensweisen…zur Verdeutlichung seiner Geschichte nach außen und auch zur Stärkung seiner Identifikationsmöglichkeiten für die Bürger dieses Landes die damit zusammenhängenden Aspekte der eigenen kultur- und sozialgeschichtlichen Entwicklung von der Römerzeit bis heute bewusst machen“ sollte. Vgl. ebd., S. 475. Vgl. allgemein zu Plänen und Scheitern der Landesausstellung Cornelißen, Christoph: „Uns fehlen Könige und ihr Schmuck“: Zum Scheitern der Pläne für eine historische Landesausstellung in Nordrhein-Westfalen (1977-1982), in: Geschichte im Westen 18 (2003), S. 226-239. Vgl. hierzu die Korrespondenz Wilhelm Lenz’ mit dem Lehrstuhlinhaber Peter Hüttenberger bei Cornelißen, Der lange Weg zur historischen Identität. in: Schlemmer/Woller, Bayern im Bund, S. 461ff.
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stehenbleiben landschaftszentrierter Forschungseinrichtungen standen der integrierenden Landesforschung ebenso entgegnen wie die in den 1980er Jahren intensivierte Regionalgeschichtsforschung, die den Bemühungen um die Stärkung eines Landesbewusstseins zusätzlich an Stoßkraft nahm.1227 G.IV.2.5. Johannes Rau Die Regierungszeit Johannes Raus (1978-1998) markierte die Rückwendung der Landespolitik von aktivistischen zu indirekten Vereinigungsstrategien; seine Integrationspolitik schlug einen offenen, die innere Vielfalt Nordrhein-Westfalens betonenden Weg ein und beließ Platz für mehrere Identitäten. Stärker als die geschichtsverhafteten, auf Institutionen und Symbole ausgerichteten Kampagnen der vorangegangenen zwanzig Jahre rückte der SPD-Ministerpräsident die lebensnahe Erfahrungswelt der Bevölkerung in den Vordergrund seiner Arbeit und bestimmte die Zusammengehörigkeit des Landes und seiner Teile nicht primär rückwärtsgewandt, sondern zukunftsorientiert. „Raus ‚Geschichte von unten’ diente der Selbstvergewisserung einer vielfach desorientierten Gesellschaft“,1228 der Bewältigung des Strukturwandels und der Wiederherstellung des Legitimationsmerkmals ökonomische Prosperität in einer Zeit, in der neben der Kohle- auch die Stahlindustrie endgültig in eine existenzbedrohende Krise geriet. Die neuerliche Zuspitzung der Krisenerfahrung verlangte – gerade in einem Bundesland wie NRW, für das die wirtschaftliche und soziale Leistungsfähigkeit eine besondere Rolle spiel(t)en – nach innengerichteten Kampagnen, um den negativen Strukturdaten und dem Verliererimage Nordrhein-Westfalens positive Gegenbilder entgegenzusetzen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt wie die Akzeptanz des Landes zu wahren. Neben der Strukturkrise war es die in einer Umfrage 1982 zutage geförderte schwache Verbundenheit von Bevölkerung, Bundesland und Landesteilen, die Raus Integrationspolitik antrieb.1229 Eine infolge dieses – sicher nicht neuen, aber bestätigten – Befunds durch SPD-Landesgeschäftsführer Bodo Hombach in Auftrag gegebene Studie deckte als Gründe für das mangelnde Zusammengehörigkeitsempfinden das Fehlen einer gemeinsamen Geschichte, eines geteilten Dialekts, typischer Speisen oder Bräuche auf, doch bewogen diese Ergebnisse Hombach zu dem Umkehrschluss, Nordrhein-Westfalen sei gerade aufgrund seiner inneren Landesvielfalt lebenswert; eine Anschlussuntersuchung, in der 91% der Befragten Stolz auf die Bewältigung der wirtschaftlichen Strukturprobleme und die Hochschätzung der Binnenpluralität NRWs äußerten, bestärkte den Landesgeschäftsführer hierin. Hombachs im Zusammenspiel mit dem Ministerpräsidenten ersonnene Schlussfolgerung aus den Erkenntnisgewinnen war die im Landtagswahlkampf 1985 initiierte Wir in 1227
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Zu nennen sind Wolfgang Köllmann in Bochum, Lutz Niethammer und Alexander von Plato in Essen sowie Jürgen Reulecke und Gerhard Brunn in Siegen, die regionalgeschichtliche Forschungsansätze durch die Einbeziehung der Sozial- und Kultur-, der Alltags- und Gesellschaftsgeschichte im Kleinen, ihrer Regionen ergänzten uns sie verstärkt zum Identifikationsobjekt machten. Vgl. hierzu auch Reulecke, Jürgen: Von der Landesgeschichte zur Regionalgeschichte, in: Geschichte im Westen 6 (1991), S. 202-208. Cornelißen, Der lange Weg zur historischen Identität. in: Schlemmer/Woller, Bayern im Bund, S. 439. In einer Emnid-Umfrage hatten 1982 29% der Befragten angegeben, sich in Nordrhein-Westfalen zu Hause zu fühlen, während der Wert in Niedersachsen bei 49% und in Bayern bei 58% lag; 52% hingegen sahen ihre Heimatregion als primäre Selbstverortungsebene. Vgl. Köhler, Landesbewusstsein als Sehnsucht, in: Hüttenberger (Hrsg.): Vierzig Jahre Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1986, S. 171-185, hier: S. 185.
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Nordrhein-Westfalen-Kampagne, die – mit gewollter Nähe zur Staatspartei SPD – die verschiedenen Regionalkulturen unter dem gemeinsamen NRW-Dach integrieren, ihnen aber auch Freiraum einräumen wollte und fortan zur Leitformel der Landesintegrationspolitik wurde.1230 Johannes Rau griff die – noch im Rahmen der Regionalisierungspolitik zu besprechende – Losung im Anschluss an die gewonnene Wahl in seiner Regierungserklärung wiederholt und variantenreich auf; er motivierte die Bevölkerung, die Leistungen, die sie für das Land erbracht hätten, ebenso wie seine innere Vielfalt hochzuschätzen und appellierte an die gemeinsame Zukunft, anstatt die Vergangenheit zu instrumentalisieren.1231 Wir in Nordrhein-Westfalen wurde offenes Identifikationsangebot, das sich aus dem Gewährenlassen von Differenz das Erwach(s)en von Kollektivität erhoffte; die Präposition in betonte den Weiterbestand der Einzelteile sowie die Offenheit für den Plural an Identitäten und räumlichen Verortungen, ohne das gemeinsame Ganze zu übersehen. Die parallele Existenz mentaler Zugehörigkeiten sollte das Landesbewusstsein eines Staates fördern, der nicht auf Ausschließlichkeit besteht, sondern Sonderidentitäten zulässt, der „Gegensätze nicht ausspart, unterschiedliche Geschichte und Herkunft nicht leugnet, Raum lässt für regionale Besonderund landsmannschaftliche Eigenheiten, offen bleibt für neue Entwicklungen und dies alles mit dem Bekenntnis zu einem ‚Land für alle Bürger’ verbindet.“1232 Anstatt landschaftliche Gegensätze künstlich zu übertünchen, konnten diese unter dem gemeinsamen NRW-Dach gelebt werden, und die zuvor als zusammenhangslos kritisierte Vielfalt wurde nun zur Stärke umgedeutet; die Kampagne ersann, einem Land, das „eine Vielzahl unterschiedlicher Lebensweisen nicht nur toleriert, sondern sogar fördert“,1233 indirekt Legitimation zu verschaffen. Doch auch Rau verzichtete nicht vollends auf symbolische Integrationselemente. Er stiftete 1986 den Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen1234 sowie den Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen1235 und lancierte 1985 die – letztlich nicht umgesetzte – Idee, mit der Einrichtung eines jährlichen Nordrhein-Westfalen-Tages den Landesgeburtstag mit den Bürgern zu begehen und hiermit eine eigene Landestradition zu begründen. Der Wille zur 1230
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Vgl. zur Entstehung der Kampagne Stoldt, Till R.: Die große unvollendete Kampagne. Interview mit Bodo Hombach, Welt am Sonntag (20. August 2006), einsehbar unter http://www.welt.de/print-wams/article86792/Die_grosse_unvollendete_Kampagne.html (25.1.2011). In seiner Regierungserklärung kam die integrative Rhetorik Raus zum Ausdruck: „Wir in NordrheinWestfalen wissen: Wir leben in einem schönen und starken Land. Wir sind fast 17 Millionen Menschen. Unsere Herkunft ist unterschiedlich, unsere Zukunft ist gemeinsam. Wir leben gerne hier. Vielfalt ist unsere Stärke. Wir sind stolz auf unsere Heimat (…) Wir in Nordrhein-Westfalen können stolz sein auf das, was wir in der noch jungen Geschichte unseres Bundeslandes erreicht haben. In wenig mehr als einer Generation ist ein Landesbewusstsein gewachsen. Wir wollen es pflegen und stärken.“ Vgl. zur Regierungserklärung Raus den Stenographischen Bericht der Landtagssitzung vom 10. Juni 1985, einsehbar unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMP10-3.pdf, insb. S. 26, 36 (11.1. 2011). Hitze, Guido: Geburtsstunde einer politischen Identifikationskampagne - "Wir in Nordrhein-Westfalen" und der Landtagswahlkampf 1985, in: Geschichte im Westen 1 (2005) S. 89-123, hier: S. 95. Rohe, Politische Traditionen im Rheinland, in Westfalen und Lippe, in: Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen, Nordrhein-Westfalen, ebd., S. 31. Der auf 2500 Exemplare begrenzte Orden wird an Bürger vergeben, die sich durch außergewöhnliche Leistungen für das Gemeinwesen auszeichnen. Vgl. das Gesetz über den Verdienstorden des Landes NordrheinWestfalen vom 11. März 1986, in: Ministerialblatt für das Land Nordrhein-Westfalen 1986, S. 902. Dieser wird an Personen verliehen, die sich durch herausragende Leistungen in Kultur, Wissenschaft oder anderen Lebensbereichen auszeichnen und „dem Land Nordrhein-Westfalen durch Werdegang und Wirken verbunden sind“. Vgl. Ministerialblatt für das Land Nordrhein-Westfalen 28 (2002), S. 492.
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Selbstinszenierung kam auch zum vierzigjährigen Landesbestehen in der Förderung der Ausstellung Im Westen was Neues1236 sowie in den Feierlichkeiten zu seinem fünfzigsten Geburtstag 1996 zur Geltung; insbesondere letztere folgten dem Ansatz, die regionale Vielfalt des Landes in Ausstellungen und Dokumenten zu betonen,1237 setzte sich jedoch zugleich zum Ziel, Nordrhein-Westfalen als „zusammengewachsenes Land darzustellen.“1238 Neben einem formellen Staatsakt anlässlich des 50. Jahrestages der ersten Landtagssitzung ergänzten ein dreitägiges NRW-Bürgerfest in Düsseldorf sowie dezentrale Jubiläumsveranstaltungen in Städten, Gemeinden und Institutionen die Festivitäten, von denen man sich erhoffte, Land und Menschen einander näher zu bringen.1239 G.IV.2.6. Jürgen Rüttgers Jürgen Rüttgers schlug zwischen 2005 und 2010 einen Mittelweg zwischen einer aktiven Landesintegrationspolitik und einer indirekten, die Landesvielfalt betonenden Strategie ein. Der CDU-Ministerpräsident wusste um die von seinen Vorgängern Wolfgang Clement (1998-2002) und Peer Steinbrück (2002-2005) vernachlässigte Notwendigkeit, in einem Land wie Nordrhein-Westfalen das Gemeinsame zu betonen und bezeichnete die Vielseitigkeit des Landes zwar als bewahrenswerte Stärke, strich jedoch zugleich eine über die Vielzahl der Landschaftsgenesen bestehende Verbundenheit der Landesteile sowie hieraus abgeleitete übergreifende, geteilte Werte der Bevölkerung heraus.1240 Rüttgers lehnte sich rhetorisch an Johannes Rau an und schlug mit der Wiederaufnahme des Wir in Nordrhein-Westfalen-Slogans die Brücke zwischen Pluralität und Landeseintracht.1241 Zahlreiche Regierungsinitiativen setzten symbolische Akzente, um über die Binnenklüftungen hinweg das Gemeinsame zu betonen. Rüttgers griff die Idee eines NordrheinWestfalen-Tages auf, der seit 2006 in wechselnden Städten jährlich stattfindet, um das Wissen um Land und Leute mit dem Bewusstsein um die Verbundenheit der Landesteile zu befördern. Zum sechzigsten Landesgeburtstag wurde das vom WDR produzierte Lied für NRW/Hier an Rhein und Ruhr und in Westfalen – bereits der Titel verwiest auf Sperrigkeit
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Vgl. Landeszentrale für politische Bildung des Landes NRW (Hrsg.): Im Westen was Neues - Die Anfänge Nordrhein-Westfalens, Düsseldorf 1986. Vgl. das Protokoll des Staatsarchivdirektors Horst Romeyk zur Archivleiter-Vorbesprechung am 3. August 1994, nachzulesen bei Cornelißen, Der lange Weg zur historischen Identität, in: Schlemmer/Woller, Bayern im Bund, S. 480. Vgl. das Schreiben des Leiters der Landeszentrale für politische Bildung Günter Wichert an Regierungssprecher Wolfgang Lieb vom 15. März 1996, ebd., S. 481. Vgl. hierzu Landtag intern. Informationen aus dem Landtag Nordrhein-Westfalen, Jahrgang 27, Ausg. 3 (13.02.1996), S. 23. Rüttgers zeichnete NRW als Land, das fest in seinen Regionen verankert sei, aber trotzdem um seine Zusammengehörigkeit wisse. Als Gemeinsamkeiten hob er die direkte schnörkellose Art der Bevölkerung, ihre solidarische Leistungsbereitschaft, den selbstbestimmten, für neues offene Bürgergeist, die freiheitliche, obrigkeitlichen Zentralismus ablehnende Tradition und leitete dies aus dem Charakter NRWs als Land der Bürger und Arbeiter ab, die sich ihren Wohlstand selbst erarbeiten mussten, anstatt diesen durch landesherrliches Mäzenatentum geschenkt zu bekommen. Vgl. hierzu das Grußwort des Ministerpräsidenten im Band Heimat Nordrhein-Westfalen, hrsg. v. Brautmeier et. al., S. 9f. Vgl. hierzu den Stenographischen Bericht der Landtagssitzung vom 13. Juli 2005, einsehbar unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMP14-4.pdf , S. 139-158 (26.1.2011).
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und Distanz – uraufgeführt, um dem Land eine integrierende Hymne zu geben;1242 in dieselbe Richtung wies die Etablierung eines für den Jedermannsgebrauch verwendbaren Nordrhein-Westfalen-Zeichens.1243 Die Plakataktion Wir in Nordrhein-Westfalen1244 oder die Ersetzung des nach Verwaltungsakt klingenden Kürzels NRW durch den vollen Landesnamen im öffentlichen Auftritt ergänzten die erneuerte Darstellungspolitik,1245 die aber unter dem Schlagwort Nordrhein-Westfalen kommt wieder auch althergebrachte Strategien wie die regelmäßige Beflaggung öffentlicher Gebäude, die Betonung des wirtschaftlich und sozial erfolgreichen Strukturwandels sowie den Stolz auf die Erarbeitung des eigenen Wohlstands als Mittel zur Hebung des Landesbewusstseins aufgriff.1246 Rüttgers beförderte zudem die Kulturarbeit zu einer eigenen Abteilung der Staatskanzlei und machte sie zur Querschnittsaufgabe mit besonderer Bedeutung für die Landesentwicklung. Die deutliche Ausweitung des Kulturetats1247 brachte den Willen zum Ausdruck, historisches Erbe und Selbstvergewisserung Nordrhein-Westfalens zu fördern und hierüber zugleich ökonomische Impulse zu setzen.1248 Im Anschluss hieran versuchte die 2008 1242 1243
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Vgl. http://www.wdr.de/themen/politik/nrw02/60_jahre_nrw/nrw_lied/index.jhtml (27.1.2011). Seit dem 1. Oktober 2009 ist es Vereinen, Verbänden oder Bürgern möglich, dieses – zum angeblich geäußerten Wunsch, die Zugehörigkeit und Verbundenheit mit dem Land auszudrücken – zu verwenden. Vgl. hierzu das Ministerialblatt für das Land Nordrhein-Westfalen 31 (2009), S. 530. Für die 2009 gestartete Plakataktion wurden die Landesbürger aufgerufen, vorbildliche Landeskinder zu benennen, deren Konterfei landesweit plakatiert werden sollte, um das Wir-Gefühl zu stärken. Voraussetzung war, dass die überregional bekannten Personen in NRW geboren, gelebt oder gearbeitet und in Wissenschaft, Technik, Kultur, Sport, Wirtschaft, Gesellschaft, Soziales oder Politik etwas Besonderes geleistet haben müssen. Vgl. Westfalenpost (23.07.2009), einsehbar unter http://www.derwesten.de/nachrichten/wp/2009/7/23/news-126894725/detail.html (17.11.2009). Mit der Nennung des vollständigen Landesnamens wurde das Land nicht mehr versteckt, sondern ihm mehr Respekt gegenübergebracht. So wurde aus dem in den 1990er Jahren eingeführten Wir in NRW wieder Wir in Nordrhein-Westfalen. Vgl. Stoldt, Unvollendete Kampagne, ebd. In staatlichen Dokumenten stellte allerdings bereits ein Erlass des Innen- und Justizministeriums bereits 1999 sicher, dass NordrheinWestfalen in Rechts- und Verwaltungsvorschriften als NW abgekürzt wurde. Vgl. Ministerium für Inneres und Kommunales des Landes Nordrhein-Westfalen: Verwendung der Abkürzung NRW bei Rechtsund Verwaltungsvorschriften. Runderlass des Ministeriums für Inneres und Justiz vom 17.2.1999, Ministerialblatt Nordrhein-Westfalen 10 (1999), S. 160. Vgl. hierzu die Zeitungsartikel Mehr Flagge wagen, Rheinische Post (9.12.2009), Alles so schön bunt hier, Neue Ruhr Zeitung (27.11.2009) und Der Wandel ist längst Wirklichkeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung (26.6.2009), zitiert nach Hitze, Von „Wir in NRW“ bis „Nordrhein-Westfalen kommt wieder“, in: Brautmeier et. al.,, Heimat Nordrhein-Westfalen, S. 111. Waren im Haushalt 2005 72,2 Millionen € für die Kultur vorgesehen, so lag die Summe 2010 bei 169,5 Millionen €. Vgl. hierzu die Haushaltspläne für 2005/06 und für 2010 unter http://fm.finnrw.de/info/fachinformationen/haushalt/havinfo/hh2006.ges/daten/doku/e02/kap062.PDF bzw. http://fm.finnrw.de/info/fachinformationen/haushalt/havinfo/hh2010.ges/daten/pdf/2010/hh02/kap062.pdf (19.1.2011) Vgl. hierzu Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen: Kulturbericht Nordrhein-Westfalen. Landeskulturförderung 2006/07, Düsseldorf 2008, S. 2, 9 sowie die Regierungserklärung Rüttgers’ vom 14. November 2007, in der er den Ansatz, mittels Kulturförderung wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderung zu schaffen, verdeutlichte. Rüttgers sah in der „Vielfalt der Kulturen in NordrheinWestfalen…eine große Chance auch in der Kreativen Ökonomie“(…) Kultur und Kreativität sollten zu einem nordrhein-westfälischen Markenzeichen werden und „das Bild von Nordrhein-Westfalen in der Welt als eine der kreativsten Regionen Europas genauso vermitteln wie unsere Innovationslandschaft.“ Kulturinvestitionen seien aus diesem Blickwinkel kein Luxus. Vgl. zu Regierungserklärung den Stenographischen Bericht der Landtagssitzung vom 14.11.2007, einsehbar unter
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gestartete Informationskampagne We love the new das Außenbild Nordrhein-Westfalens zu verbessern und präsentierte – als vornehmlich auf den wirtschaftlichen Standort ausgerichtete Initiative – den Willen zum Neuen als einigendes Band für die polyzentralen Regionen.1249 Nicht zuletzt die 2009 erneuerte Landestourismuskampagne dient neben der Wirtschaftsförderung auch der Selbstverständigung und Landesintegration und trägt dem Landesverband Tourismus e.V. zum einen auf, den Erhalt der regionalen Vielfalt zu fördern, aber auch die regionsübergreifende Zusammenarbeit zu unterstützen und mit den Lebenswelten auch Land und Leute einander näher zu bringen.1250 Auch in diesem Ansinnen schimmerte das ausdrückliche Ziel der Landesregierung durch, die innere Vielfalt NordrheinWestfalens zu bewahren, durch den Ausbau der landesweiten Austauschbeziehungen aber auch die sozioökonomischen Kennziffern des Landes zu verbessern;1251 wirtschaftliche Prosperität und sozialer Ausgleich bleiben demnach Elemente, um dem Land Rechtfertigung und Legitimität zu verleihen.
G.IV.3. Gesellschaftliche Integrationsstrategien Das Erwach(s)en eines Landesbewusstseins gelingt nicht allein durch politische Initiativen, sondern bedarf der Ergänzung aus der Bevölkerung; Kommunikation und wechselseitiger Austausch sind „für die Bildung (Herausbildung) einer Gesellschaft, für die Schaffung von Identifikation und Identität…unentbehrlich, ja sogar konstitutiv“,1252 diese kann nicht allein durch hierarchische Maßnahmen geleistet werden. Insbesondere der Westdeutsche Rundfunk (WDR) ermöglichte es Politikern wie Bürgern, Nordrhein-Westfalen „als etwas eigenes zu begreifen:“1253 Als einziges landesteileübergreifendes Medium ist er potentieller Resonanzboden gesellschaftlicher Selbstverständigungsdiskurse und bietet die Voraussetzung für die Entstehung eines relationalen Zusammengehörigkeitsgefühls. Zum Ausdruck kommt dieser Anspruch in den Programmleitlinien des Senders, „mit seinen Programmen…maßgeblich an einer gemeinsam verbindenden Identität aller Bürgerinnen und Bürger zwischen Bielefeld und Aachen,
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http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMP14-73.pdf, S. 8384f. (19.1.2011) Unterteilt in die Region Düsseldorf, Aachener Region, Bergisches Städtedreieck, Metropole Ruhr, Münsterland, Niederrhein, Ostwestfalen-Lippe, Region Köln/Bonn und Südwestfalen, wird Nordrhein-Westfalen als Land der Aufnahmebereitschaft für wirtschaftliche oder kulturelle Trends dargestellt. Traditions- und Innovationsliebe sollen neben Toleranz und Weltoffenheit landschaftlich geprägte Werte und Grundlage für wirtschaftlichen Erfolg in Nordrhein-Westfalen sein. Vgl. die – nach dem Regierungswechsel 2010 in ihrer Ausrichtung veränderte und verringerte - Informationskampagne unter http://www.nrwinvest.com/ (27.1.2011). Zentrales Anliegen des Konzepts ist die Bündelung der regionalen Kräfte wie die Förderung der Zusammenarbeit von Landesverband, Regionen und gesellschaftlichen Gruppen in Kompetenznetzwerken. Der Einbindung der lokalen und regionalen Akteure wird wesentliche Bedeutung beigemessen, um Regionen und Land zusammenzuführen und zu stärken. Vgl. Tourismus NRW e.V. (Hrsg.): Masterplan. Tourismus Nordrhein-Westfalen, Köln 2009, S. 81, 83. Vgl. Staatskanzlei, Kulturbericht Nordrhein-Westfalen, S. 2, 9. Dürr u. a., Kunst NRW, S. 73. Köhler, Wolfram: Landesbewusstsein als Sehnsucht, in: Hüttenberger, Peter (Hrsg.): Vierzig Jahre Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1986, S. 171-185, hier: S. 179.
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Kleve und Siegen“ mitzuwirken.1254 Dieses Selbstverständnis manifestierte sich bereits in der Arbeit Werner Höfers, der 1950 – noch im Rahmen des Nordwestdeutschen Rundfunks – die Hörfunksendung Zwischen Rhein und Weser und 1957 das WDR-Fernsehformat Hier und Heute ersann und eine integrierende, wenngleich stark in den Regionen verhaftete Landesberichterstattung etablierte. Mit der Einrichtung seiner Landesredaktion begegnete der in Köln sitzende WDR 1961 der Kritik an einer angeblich einseitigen Bevorzugung des Rheinlands in der Berichterstattung, folgte aber auch den Impulsen, neben der Behandlung aktueller politischer oder wirtschaftlicher Sachthemen das Zusammengehörigkeitsgefühl von Land und Bürgern zu fördern und die gemeinsamen geschichtlichen Wurzeln Nordrhein-Westfalens aufzeigen.1255 Insbesondere die Arbeit ihres langjährigen Leiters, Walter Först, fundierte bis 1985 das handlungsleitende Interesse, die Landesintegration voranzubringen, eine „Verbindung zwischen den einzelnen Teillandschaften des großen Landes zu knüpfen und…Rheinisches dem westfälischen Hörer ebenso näher (zu bringen A.W.) wie Westfälisches dem Rheinischen.“1256 Rundfunkprogramme wie Aus der Landesgeschichte zeichneten die landesteileübergreifenden historischen Entwicklungslinien nach, um die Landesgründung rückblickend zu legitimieren und die Landschaften sinnstiftend zusammenzubinden;1257 daneben bildeten Sendereihen wie Aus der rheinisch-westfälischen Literatur oder Aus Land und Gemeinden das kulturelle und regionale Leben innerhalb Nordrhein-Westfalens ab und vermittelten seinen Einwohnern ein Wissen um die verschiedenen Alltagshorizonte. Abgelöst wurden diese Radioformate 1974 durch das – an die Bestrebungen zur Ausbildung einer gemeinsamen Raumerfahrung anschließende – Forum West, aus dem Först einzelne Sendeinhalte vertiefend und ergänzend veröffentlichte: In gedruckter Form erschienen sie in den Rheinisch-Westfälische(n) Lesebücher(n) und den Beiträge(n) zur neueren Landesgeschichte des Rheinlands und Westfalens, die bereits seit 1962 bzw. 1967 das Land und seine Identität vermaßen, um den rheinischwestfälischen Strukturgraben durch Artikel zur Historie NRWs oder biographische Darstellungen zu verringern.1258 Neben Walter Först war Wolfram Köhler hauptverantwortlich für die nordrhein-westfälische Identitätsstiftung via WDR, der als Leiter des Düsseldorfer
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Vgl. die 2008 verabschiedeten, in der Sendertradition stehenden Programmleitlinien unter http://www.wdr.de/unternehmen/senderprofil/pdf/aufgabe/WDR_200812_Programmleitlinien.pdf, S. 15 (17.11.2009). Vgl. hierzu das Vorwort des WDR-Chefredakteurs Fritz Brühl, in: Pressestelle des Westdeutschen Rundfunks (Hrsg.): Rheinisch-Westfälisches Lesebuch, Köln 1962, S. 5. Vgl. Först, Walter: Das Rheinland und der Westdeutsche Rundfunk, in: Rheinische Heimatpflege 3 (1966), S. 35-40, hier: S. 39. Försts Wille zur Integration Nordrhein-Westfalens war ebenso erkennbar in dem Titel einer Sendung zum zehnjährigen Bestehen der Landesredaktion vom 12. März 1971, Die Einheit des Landes. Dieser brachte zum Ausdruck, an dieser mitwirken zu wollen, aber auch das redaktionelle Selbstverständnis, einzige mediale Klammer zu sein. Vgl. Först, Walter: Zwanzig Jahre und Hundertfünfzig Jahre. Aspekte der Landesgeschichte, in: ders.: (Hrsg.): Menschen, Landschaft und Geschichte. Ein rheinisch-westfälisches Lesebuch, Köln 1965, S. 107115. Sendungen zur rheinisch-westfälischen Wirtschaft, der Entstehung des Ruhrgebiets, das Verhältnis von Rheinland und Westfalen zu Preußen, aber auch zur Operation Marriage oder biographischer Darstellungen wichtiger Landespersonen sollten die geschichtlichen Wurzeln und Zusammenhänge des Landes sowie die aktuelle Zusammengehörigkeit aufzeigen. Einzelbände der Rheinisch-Westfälischen Lesebücher beschäftigten sich etwa mit Menschen, Landschaft und Geschichte, Städte(n), Geist und Zeit oder Leben, Land und Leuten. Eine Geschichte Nordrhein-Westfalens erschien 1970, Rheinisch-Westfälische Politikerportraits 1979.
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Hörfunkstudios ab 1971 die Korrespondenten der Landespolitik verstärkt in die Sendung Zwischen Rhein und Weser einband und die Übertragung von Landtagssitzungen initiierte. Die 1980 begonnene Regionalisierung des Senderprofils folgte dem auch in der Politik verfolgten Ansatz, durch die Berücksichtigung regionaler Besonderheiten eine indirekte Bindung der Bevölkerung an Sender und Land zu erzeugen.1259 Der WDR baute in die seit 1983 landesweit ausgestrahlte Nachrichten- und Informationssendung Aktuelle Stunde ab 1984 Lokalzeit-Fenster ein, die seither aus und für die regionalen Erfahrungsräume des Landes berichten und mittlerweile zu eigenständigen Sendungen ausgebaut wurden;1260 herausgehobene Beiträge werden landesweit ausgestrahlt und zeigen dem restlichen Land regionale Perspektiven auf, um das Wissen voneinander auszubauen und kognitive Bindungen zu erzeugen. Noch immer sieht sich der WDR insofern in der Verantwortung, über die „regionale Gliederung (und die A.W.) kulturelle Vielfalt“1261 NRWs hinweg „Interesse und Verständnis für die Kultur des Landes“1262 sowie die Ausbildung eines gemeinsamen Selbstverständnisses anzuregen. Die Abbildung des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens in Nordrhein-Westfalen und seinen Regionen in Programmen wie dem Westblick rückt Land und Landschaften näher aneinander und ist potentieller Quell des Bewusstseins, Teil eines Ganzen zu sein; der Westdeutsche Rundfunk verbindet als Klammer Landes- und Regionalereignisse und schafft relationale Raumverflechtungen als Grundvoraussetzung eines Landesbewusstseins, konterkariert diese jedoch zugleich durch seine Regionalisierungsstrategie, die hergebrachte Orientierungen vertieft. Mit dem Brauweiler Kreis für Landes- und Zeitgeschichte gesellte sich den Bemühungen des WDRs um die Förderung der Landesintegration und eines Landesbewusstseins eine zivilgesellschaftliche Vereinigung hinzu. Auf Initiative Walter Försts fand sich am 25. Oktober 1978 in der Pulheimer Abtei Brauweiler ein Kreis von Historikern, Archivaren, Journalisten und landeshistorisch Interessierten ein, um die Erforschung der Landesgeschichte zu intensivieren, Landes- und Regionalgeschichtsforschung miteinander zu verzahnen und zur Selbst-Bewusstwerdung Nordrhein-Westfalens beizutragen. Von Bedeutung für die Zielsetzung des Kreises war die Mitarbeit der beiden Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe, die auf diese Weise ansatzweise die traditionell gegeneinander abgegrenzten Selbstbestimmungspolitiken der Landesteile überwand.1263 Die seit 1986 erscheinende 1259
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Der damalige Intendant Friedrich von Sell betonte in einer Rede vor dem Rundfunkrat 1980, „in einer wirksamen Regionalisierung, d. h. einer angemessenen Berücksichtigung der vielfältigen regionalen, landsmannschaftlichen Gesichtspunkte von Nordrhein-Westfalen im Programm der Landesrundfunkanstalt“ liege eine der wichtigste Zukunftsaufgabe des WDR. Zitiert nach Pätzhold, „Hier und Heute“, in: Brautmeier et. al., Heimat Nordrhein-Westfalen, ebd., S. 153. Startete man 1984 mit drei Lokalzeit-Studios in Düsseldorf, Dortmund und Münster, so hat sich die Zahl mittlerweile auf die elf Regionalstudios Aachen, Bonn, Köln, Düsseldorf, Wuppertal, Duisburg, Essen, Dortmund, Münster, Bielefeld und Siegen erhöht; außerdem existieren Außenstellen in Kleve, Rheine, Paderborn, Detmold und Arnsberg. Vgl. hierzu auch die Ausführungen zu den Raumstrukturen. Vgl. §4, Abs. 3 des Gesetzes über den Westdeutschen Rundfunk vom 23. März 1986 i. d. Fassung vom 30. November 2004, einsehbar unter http://www.wdr.de/unternehmen/senderprofil/pdf/rechtsgrundlagen/WDR_2005-01_Gesetz.pdf (19.1.2011). Vgl. die Programmleitlinien des Senders, ebd., S. 26. Die Satzung des Brauweiler Kreises spricht in §2 seiner Satzung zwar nur von dem Ziel, die „Förderung des wissenschaftlichen Austauschs und der Forschung zur Geschichte des nordwestdeutschen Raumes und seiner Nachbargebiete
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Zeitschrift Geschichte im Westen macht die Forschungsergebnisse einem breiteren Publikum zugänglich, ohne mit seiner begrenzten Reichweite aber mehr als das kognitive Wissen um NRW innerhalb eines ohnehin interessierten, begrenzten Umfelds anzusprechen.
G.V. Landschaften und Regionalisierung Die Regionalisierung der nordrhein-westfälischen Strukturpolitik begann der Form nach bereits in den 1960er Jahren, fand ihre eigentliche Rolle allerdings erst in den späten 1980ern. Infolge der dem Strukturwandel geschuldeten wachsenden Haushaltsprobleme und schwindender Steuerpotentiale verlagerte sich die Landespolitik auf die Rolle des aktivierenden Staates; aufgrund begrenzter Mittel stieß er fortan die Kooperation wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Akteure in den Regionen an, um deren endogene Entwicklungspotentiale zu wecken. Die Rau-Regierung wertete die Altlandschaften in der Strukturund Kulturpolitik zu eigenen Handlungsebenen auf, um den Staat zu entlasten und Prozesse mehr indirekt zu gestalten. Nur in Ansätzen folgte dieser Perspektivwechsel einem intrinsischen Eigeninteresse an regionaler Kooperation; diese war weniger Zweck als Mittel, um durch die Hebung des in der Zivilgesellschaft vorhandenen Wissens und dem Ausbau nahräumlicher Zusammenarbeit Wachstum zu stimulieren. Die Ergänzung hierarchischer durch partizipatorisch-konsensuale Entscheidungsmuster aktivierte landschaftliche Identitäten, um durch den erhofften Zugewinn an wirtschaftlicher Potenz und soziokultureller Attraktivität das Land über seine Regionen zu stärken; unterstützt, flankiert und auf den Weg gebracht wurde sie durch die Strukturpolitik der Europäischen Gemeinschaften (EG).
G.V.1. Europäische Regionalisierungsimpulse Wiederholt wurden Regionalisierungstendenzen in Nordrhein-Westfalen durch europäische Einflüsse angestoßen. Bereits vor der Einrichtung des Ausschusses der Regionen und der Veröffentlichung der Eurotopia-Visionen Alfred H. Heinekens 1992 – die jeweils die Forderung nach einer europäischen Region Westfalen nach sich zogen –1264 beförderten die Ziele der EG-Strukturprogramme, „den Abstand zwischen einzelnen Gebieten und den Rückstand weni-
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sowie zur Geschichte des Landes Nordrhein-Westfalen“ anzustreben, vgl. http://www.brauweiler-kreis.de/ (28.1.2011), doch sind insbesondere mit der Gründungsfigur Först – zumindest in der Anfangszeit – der Vereinigung dessen Grundvorstellungen zuzuschreiben. Vgl. ansonsten zu Entstehung und Zielsetzung des Brauweiler Kreises Pabst, Klaus: Mit dem Herzen Nordrhein-Westfalen. Walter Först, Wolfram Köhler und Peter Hüttenberger als Protagonisten des Landesbewusstseins, in: Brautmeier et. al. Heimat Nordrhein-Westfalen, S. 73-88, hier: S. 82ff. Der Bierbrauer Heineken gab 1992 eine Untersuchung in Auftrag, als deren Ergebnis Europa in 75 weitgehend autonome Regionen aufgeteilt werden sollte, von denen Rheinland und Westfalen zwei waren. Vgl. hierzu Kogelfranz, Siegfried: Epidemie des Wahnsinns. Die Wiederkehr des Nationalismus und seine Folgen, in: Der Spiegel 3 (1993), S. 136-147, hier: S. 146f. Vgl. zu der Rezeption in Westfalen Behr, Mehr als ein Mythos, in: Köhler, Fünfzig Jahre später, S. 82 sowie Boldt, Hans: Landesverfassung und Landesbewusstsein, in: Brautmeier et. al., Heimat Nordrhein-Westfalen, S. 17-26, hier: S. 24.
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ger begünstigter Gebiete (im europäischen Vergleich zu A.W.) verringern“,1265 substaatliche Raumbildungen. Der Europäische Fonds für regionale Entwicklung (EFRE), der Europäische Sozialfonds (ESF) und die Ziel 2-Mittel wurden für die vom Strukturwandel betroffenen Regionen Nordrhein-Westfalen zu wichtigen Förderinstrumenten1266 und verankerten das Ruhrgebiet, aber auch das Aachener Land oder strukturschwache periphere Gegenden wie die Eifel oder den Höxtener Raum im Bewusstsein der Bevölkerung.1267 Als Teil der europäischen Strukturpolitik beförder(te)n zudem die Euregios – von denen im niederländischbelgischen Grenzgebiet vier nach NRW hineinreichen –1268 die grenzüberschreitende Zusammenarbeit auf politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Ebene und Regionsbildungen eigener Art. Die ab 2007 in den Vordergrund gerückten Wettbewerbs-, Wachstums- und Beschäftigungsziele – aus dem EU-Ziel 2- wurde das Programm Regionale Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung – entkoppelten die Geldmittel von konkreten Regionszuschnitten und banden sie fortan an fallbezogene, funktional verknüpfte und in ihrem Zuschnitt wechselnde, akteursbestimmte Gebiete.1269 Das es ergänzende NRW Ziel 2-Programm 2007 – 2013 setzt 1265
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Bereits die Präambel des Vertrags über Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) von 1957 formulierte dieses in seinen Grundsätzen noch heute vorhandene Ziel. Vgl. die Präambel unter http://eur-lex.europa.eu/de/treaties/dat /11957E/tif/TRAITES_1957_CEE_1_XM_0174_x111x.pdf (15.3.2011). Die Ziel 2-Förderung wurde mit der EEA eingeführt und war eine von fünf, 1999 auf drei zusammengeführten Zielen; Ziel 2 richtete sich auf Regionen mit rücklaufender industrieller Entwicklung, mit über dem Gemeinschaftsschnitt liegenden Arbeitslosenzahlen sowie einem überdurchschnittlichen Rückgang der Industriebeschäftigtenquote. Neben der Arbeitsplatzerhaltung und der Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen war das Programm auf die Branchendiversifizierung, den Infrastrukturausbau oder die Umgestaltung von Brachflächen ausgerichtet. Diese Ziele wurden im Wesentlichen bis 2006 beibehalten. Vgl. Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen: Ziel 2 Fördergebiete 2000-2006 im Überblick, einsehbar unter http://www.ziel2-2000-2006.nrw.de/docs/website/de/foerdergebiete/index.html (14.3.2011). Die vier Euregios mit nordrhein-westfälischer Beteiligung sind die 1958 gegründete, deutschniederländische Euregio, die die Stadt Münster sowie die Kreise Borken, Coesfeld, Steinfurt und Warendorf umfasst; die 1973 gegründete, deutsch-niederländische Euregio Rhein-Waal, zu der Duisburg sowie die Kreise Kleve und Wesel gehören; die 1978 gegründete, deutsch-niederländische Euregio Rhein-Maas-Nord, zu der die kreisfreien Städte Krefeld und Mönchengladbach, die Kreise Rhein-Kreis Neuss und Viersen sowie die Gemeinden Weeze, Kevelaer, Straelen, Geldern, Issum, Rheurdt, Kerken und Wachtendonk aus dem Kreis Kleve sowie die Gemeinde Wassenberg aus dem Kreis Heinsberg gehören; sowie die 1976 gegründete, deutsch-niederländisch-belgische Euregio Maas-Rhein, zu der die StadtRegion Aachen sowie die Kreise Heinsberg, Düren und Euskirchen gehören. Vgl. hierzu Ministerium für Wirtschaft, Energie, Bauen, Wohnen und Verkehr des Landes NordrheinWestfalen: Förderhandbuch. Operationelles Programm (EFRE) 2007-2013 für das Ziel „Regionale Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung“ für Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2011, einsehbar unter http://www.ziel2.nrw.de/1_Ziel2-Programm/4_Foerderhandbuch/Ziel2-Foerderhandb_ 0713_01_2011.pdf, insb. S. 26, 44f. Vgl. zur Öffnung des geographischen Zielgebiets auch die Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates vom 11. Juli 2006 mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999, insb. Art. 5, 35, einsehbar unter http://www.interregbayaut.net/interreg_iv/content/dokumente/VO_Europ_Parlament/VO%201083_2006_Allgemeine%20 Bestimmungen_konsolidierte%20Fassung%202010.pdf sowie die Entscheidung des Rates vom 6. Oktober 2006 über strategische Kohäsionsleitlinien der Gemeinschaft, Amtsblatt der Europäischen Union L 291 vom 21.10.2006, einsehbar unter
G.V. Landschaften und Regionalisierung
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sich zum Ziel, die Konkurrenz- und Innovationsfähigkeit der heimischen Industrie zu stärken, Mittelstand und Existenzgründungen zu fördern sowie die Attraktivität von Städten und Regionen zu steigern, aber auch die Annäherung der Landesteile und ein Gleichgewicht zwischen ihnen zu erreichen. Auf Basis der Förderrichtlinien schreibt das zuständige Wirtschaftsministerium Wettbewerbe aus, für die sich – in ihrem Zuschnitt veränderliche – Regionen mit Projekten bewerben können; Entscheidungskriterien sind neben den zu erwartenden positiven wirtschaftlichen und beschäftigungspolitischen Auswirkungen die Unterstützung der allgemeinen Regionalentwicklung;1270 hinzu kommen wettbewerbsunabhängige Zahlungen an strukturell benachteiligte Regionen und Stadtteile vor allem des Ruhrgebiets und des Bergischen Städtedreiecks.1271 Wichtige Vorbedingung für die Bewilligung der Unterstützungsleistungen war sowohl vor als auch nach der Reform der Förderkriterien der Entwurf regionaler Programmplanungen, Schwerpunktsetzungen und Gesamtstrategien. In Deutschland besaßen die Länder die zentrale Rolle bei der – der EG/EU-Kommission zur Entscheidung vorzulegenden – Programmausgestaltung,1272 die NRW weitgehend an lokale und regionale Stellen delegierte und von diesen die Beratung und Abstimmung der Entwicklungskonzepte verlangte. In den europäischen Impulsen sind wichtige, wenngleich nicht die einzigen Ursprünge der regionalisierten Struktur- und Kulturpolitik in Nordrhein-Westfalen zu finden, die Raumbildner eigener Art sind und zumindest kognitives Regionalbewusstsein abseits des Landesganzen stiften.
G.V.2. Regionalisierte Landesstrukturpolitik Erste Schritte zu einer Regionalisierung seiner Strukturpolitik machte das Land mit dem Ostwestfalenplan 1953, der Einrichtung von 11 Strukturregionen in den 1960ern,1273 mit
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http://ec.europa.eu/regional_policy/sources/docoffic/2007/osc/l_29120061021de00110032.pdf (14.3.2011). Vgl. Ministerium für Wirtschaft, Energie, Bauen, Wohnen und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen: NRW Ziel 2-Programm 2007 – 2013 (EFRE). Innovationen wagen – Aufbruch in eine kreative Ökonomie, einsehbar unter http://www.ziel2.nrw.de/1_Ziel2-Programm/index.php. Vgl. ebenso http://www.ziel2.nrw.de/1_Ziel2-Programm/1_Programmziele/index.php (14.3.2011). Vgl. Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen: Regionale Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung 2007 – 2013 (EFRE). Operationelles Programm (EFRE) für das Ziel „Regionale Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung" für Nordrhein-Westfalen nach Artikel 37 der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates vom 11. Juli 2006, Düsseldorf 2009, einsehbar unter http://www.ziel2.nrw.de/1_Ziel2Programm/3_1_Programmtexte/Operationelles_Programm_13_08_20071.pdf, S. 145 und passim. Vgl. ebenso Ziel 2 NRW: Stadt- und Regionalentwicklung, einsehbar unter http://www.ziel2.nrw.de/2_Wettbewerbe_und_weitere_Foerdermoeglichkeiten/6_Stadt_und_Regionalentwicklung/index.php (14.3.2011). Vgl. Müller, Angelika/Potratz, Wolfgang/Rehfeld, Dieter/Widmaier, Brigitta: Perspektiven europäischer Strukturpolitik nach 2006. Reformbedarf und Konsequenzen für Nordrhein-Westfalen, Gelsenkirchen 2002, S. 19. Die elf Regionen waren: Aachener Raum, Niederrhein, Köln-Bonner Raum, Düsseldorfer Raum, RuhrLippe-Raum, Mark, Münsterland, Minden-Ravensberg, Hochstift Paderborn, Sauerland und Siegerland. Vgl. Ambrosius, Gerold: Weg im Industriezeitalter: Nordrhein-Westfälische Wirtschaftsregionen in historischer Perspektive, in: Goch, Strukturwandel und Strukturpolitik, S. 56-80, hier: S. 57
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G. Nordrhein-Westfalen seit 1946
dem Entwicklungsprogramm Ruhr von 1968 und dem Nordrhein-Westfalen-Programm von 1970, die allesamt einzelne Landessubräume gezielt in den Fokus der Landesplanung nahmen. Von einer Regionalisierung im eigentlichen Sinne kann allerdings erst mit den 1979 beginnenden Ruhrkonferenzen gesprochen werden, da mit diesen die Förderung des Binnendialogs und der Koordination wirtschaftspolitisch relevanter Akteuren in den Regionen begann; anders als zuvor, waren die Regionen nicht länger Planungsobjekte, sondern stiegen zu Steuerungssubjekten auf. Das Aktionsprogramm Ruhr von 1980 wies der weiteren Strukturpolitik schließlich den inhaltlichen Weg, da es wirtschaftliches Wachstum über die Verlagerung von Entscheidungskompetenzen in die Regionen auf Themenfelder wie Städtebau, Umweltschutz und Kulturpflege anzustoßen gedachte.1274 Der Paradigmenwechsel folgte weniger intrinsischer Motivation als politischen wie wirtschaftlichen Handlungszwängen: Die sozioökonomischen Probleme insbesondere des Ruhrgebiets waren so massiv geworden und der Landeshaushalt durch Subventionen und steuerliche Einnahmeverluste derart belastet,1275 dass die Bereitschaft zur Einbeziehung regionaler Kräfte wuchs, um vorhandene Gelder effizienter einzusetzen. Begleitet wurde das Umdenken durch Analysen des bundesdeutschen Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sowie der Prognos AG, die durch eine „Regionalisierung der Regionalpolitik“ jeweils die Stärkung endogener Wachstumspotentiale und wirtschaftspolitischer Eigenverantwortung forderten;1276 eine „zentral gestützte Politik dezentraler Eigenentwicklung“1277 sollte – aufbauend auf spezifischen Voraussetzungen und Stärken – eine polyzentrische Erneuerung Nordrhein-Westfalens ermöglichen. Erstes Ergebnis des Umdenkens war die 1987 angestoßene Zukunftsinitiative Montanregion (ZIM), die – ausgehend von der Analyse, dass „für einzelwirtschaftliche Standortentscheidungen und Investitionen die Qualität der Standorte zu einem entscheidenden Faktor der Wettbewerbsfähigkeit“ geworden seien und dass Regionen „die Räume abbilden, in denen über zentrale Infrastrukturvorhaben und über die sonstigen qualitativen Standortfaktoren entschieden werden kann“ –1278 die laufenden Wirtschaftsförde1274
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Vgl. Landesregierung Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Politik für das Ruhrgebiet. Das Aktionsprogramm, Düsseldorf 1979, einsehbar unter http://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/txt/normal/txt239.pdf (16.3.2011). Die Internationale Bauausstellung Emscher Park war ein Paradebeispiel für die Verknüpfung unterschiedlicher Themenfelder unter dem gemeinsamen Gesichtspunkt einer wirtschaftlichen Strukturverbesserung. Die ökologische Umgestaltung und Umnutzung ehemaliger Industrieareale sollte zwar zunächst die Lebensqualität verbessern, aber auch neue Wirtschaftszweige anziehen und den Strukturwandel unterstützen. Die Verbindung wirtschaftlicher, ökologischer, sozialer und kultureller Aspekte zeigt die Themenbreite wie die Notwendigkeit der Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteure wie aus Landesvertretern, Städten, Wirtschaft, Gewerkschaften oder Naturschutzverbände aus. Die Negativentwicklung Nordrhein-Westfalens im Bundesländervergleich kumulierte in den Problemen des produzierenden Gewerbes der 1980er Jahren, in dem neben Bergbau und Stahl auch das Textil- oder Maschinenbaugewerbe von Verlusten betroffen war und jeder dritte bundesdeutsche Arbeitslose aus Nordrhein-Westfalen stammte. Vgl. Potratz, Dezentral und koordiniert?, S. 96. Vgl. ebd., S. 81f., 85. Heinze, Rolf G./Voelzkow, Helmut/Eichener, Volker: Forschungsfragen und Forschungsdesign, in: Heinze, Rolf G./Voelzkow, Helmut (Hrsg.): Regionalisierung der Strukturpolitik in Nordrhein-Westfalen, Opladen 1997, S. 13-30, hier: S. 14. Kruse, Heinz: Strukturpolitik in Nordrhein-Westfalen, in: Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Regionale Politik und regionales Handeln. Beiträge zur Analyse und Ausgestaltung der regionalen Strukturpolitik in Nordrhein-Westfalen, Duisburg 1991, S. 1130, hier: S. 12.
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rungsprogramme der EG, des Bundes, des Landes sowie der Ruhrgebietskommunen bündelte und Träger des Wirtschaftsprozesses zusammenführte, um im Dialog ein regionales Entwicklungsprofil als Grundlage weiterer Fördermaßnahmen zu erarbeiten.1279 Nach Kritik aus anderen, ebenfalls von strukturellen Problemen betroffenen Regionen an ihrer vermeintlichen Benachteiligung wurde das Programm 1989 in die Zukunftsinitiative für die Regionen in Nordrhein-Westfalen (ZIN) überführt und auf das ganze Land ausgeweitet. G.V.2.1. ZIN-Regionen Mit der Zukunftsinitiative für die Regionen in NRW entstanden bis 1997 vierzehn, zwischen Regierungsbezirken und Landkreisen angesiedelte Strukturregionen, die die Fördermittelallokation kanalisierten und hierüber die regionale Autonomie und Selbstverwaltung stärkten; anstatt Gebietszuschnitte vorzugeben, erlaubte das Land deren regionale Selbstbestimmung, wobei die Zuständigkeitsbereiche der Industrie- und Handelskammern wichtigster Orientierungsmaßstab wurden.1280 Anders als die großräumigen, quer zu den Wirtschaftsverflechtungen organisierten Bezirksregierungen, waren die Strukturregionen problemnahe Einrichtungen, um substaatliche Kenntnisse in den wirtschaftspolitischen Entscheidungsprozess einzubinden und Konsens über förderungswürdige Projekte zu erzielen. Die Landesregierung rief hierfür „alle verantwortlichen Kräfte“ in den Regionen auf, strategische Konzepte mit strukturwirksamer Bedeutung zu erarbeiteten und beim zuständigen Regierungspräsidenten einzureichen.1281 Ohne selbst „den Kreis der Beteiligten abschließend (zu) definieren“, forderten Landesregierung und federführendes Wirtschaftsministerium die informellen Gremien auf, ihre „Entwicklung verstärkt in regionaler Selbstverantwortung zu gestalten“, und drückten die Erwartungen aus, „neben den ökonomischen auch die sozialen, kulturellen, ökologischen, arbeitsmarktpolitischen und gleichstellungspolitischen Interessen der Region“ einzubeziehen.1282 Anstelle fester Institutionen entstanden locker organisierte, informelle Regionalkonferenzen aus Vertretern der Regierungspräsidien, Kommunen und Landkreise – über die die Bevölkerung indirekt einbezogen war –, Wirtschaftskammern, Gewerkschaften und Wissenschaftseinrichtungen, innerhalb derer die Industrie- und Handelskammern aufgrund der wirtschaftspolitischen Grundausrichtung der Maßnahmen ein besonderes 1279
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Vgl. die gemeinsame Entschließung der SPD-, CDU- und FDP-Landtagsfraktionen zur Stahlpolitik und die Forderung nach einem Zukunftsprogramm Ruhrgebiet vom 25. März 1987, Drucksache 10/1856, einsehbar unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD10-1856.pdf, S. 4f. (13.3.2011). Strukturregionen wurden Aachen, Bonn, Köln, Düsseldorf/Mittlerer Niederrhein, Niederrhein, Bergische Großstädte, Mülheim/Essen/Oberhausen, Mittleres Ruhrgebiet/Bochum, Dortmund/Kreis Unna/Hamm, Emscher-Lippe, Münsterland, Ostwestfalen-Lippe, Hagen, Arnsberg und Siegen. Bonn und Köln wurden 2001 zusammengelegt. Vgl. hierzu auch die Antwort der Landesregierung zur Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu 10 Jahren regionalisierter Strukturpolitik in Nordrhein-Westfalen vom 11. Oktober 1999, einsehbar unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD12-4357.pdf (2.3.2011), S. 34ff. Vgl. Heinze/Voelzkow/Eichener, Forschungsfragen und Forschungsdesign, in: Heinze/Voelzkow, Regionalisierung der Strukturpolitik, S. 16. Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Technologie des Landes Nordrhein-Westfalen: Handlungsempfehlungen „Regionale Entwicklungskonzepte“, Düsseldorf 1990, S. 1f, zitiert nach ebd., S. 17 sowie Heinze, Rolf G./Voelzkow, Helmut: Gesellschaftliche Beteiligung, in: Ebd., S. 236-247, hier: 236f.
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Gewicht besaßen.1283 Die Gesprächskreise formulierten spezifische regionale Problemfelder und Stärken, Lösungsansätze und Leitbilder, ohne direkte Entscheidungsbefugnisse zu besitzen; ihre Vorschläge besaßen empfehlenden Charakter und waren Voraussetzung für die Bereitstellung von Landesmitteln. „Zentrales Beurteilungskriterium der Landesregierung zur Einschätzung der Förderfähigkeit einzelner Projekte und Entwicklungsstrategien war deren Strukturwirksamkeit für die ökonomische und ökologische Erneuerung Nordrhein-Westfalens“,1284 sie verhandelte die Pläne mit regionalen Vertretern und beschloss sie abschließend.1285 Die dezentrale Einbindung gesellschaftlicher Akteure und die zielgerichtete Dialogförderung waren Versuche, etatistische durch korporativ-subsidiäre Systemsteuerungsmechanismen zu ergänzen. Die nordrhein-westfälische Landesregierung sah ihre Aufgabe in der „gezielte(n) Hilfe zur Selbsthilfe“ und sich als „Moderator, Impulsgeber und innovativer Wegbereiter“1286 zur Ausweitung regionaler Eigenentwicklung und -verantwortung; sie versprach sich hiervon die Aktivierung substaatlichen Sachverstands und endogener Wachstumspotentiale, die Erhöhung der Legitimität getroffener Entscheidungen sowie deren leichtere Umsetzbarkeit. Der funktionalistische Kern der hoheitlich angestoßenen Regionalisierungen ist intrinsischer Motivation gegenüberzustellen, das Eingehen auf die landespolitischen Anregungen war keine Muss, jedoch Möglichkeit, um an öffentliche Mittel zu gelangen. Die Akzeptanz singulärer, für einzelne Teilnehmer besonders vorteilhafte Projekte war höher als die kompletter Entwicklungskonzepte und – bei regionalen Differenzen – weit entfernt von der Bereitschaft, die Zusammenarbeit um ihrer selbst willen auszubauen. Den Regionen bot sich dennoch die Möglichkeit, nach innen wie nach außen ein Eigenprofil auszubilden und sich akteursfixiert zu integrieren. Die gemeinsame Arbeit an einem Entwicklungsleitbild stiftete kognitive Regionswahrnehmungen, wie auch die – nicht erforderliche, aber in unterschiedlichem Maße erfolgte – Institutionalisierung und Ausweitung der Zusammenarbeit auf weitere Themenfelder bestehende Raumstrukturierungen vertiefte. Kooperationserfolge auf dem einen stimulierten die Heranziehung weiterer Themenfelder, verankerten die Handlungsräume zunehmend mental und waren Schritte auf dem Weg zu einem Gewinn an oder der Vertiefung von regionaler Identität. Insbesondere in historisch fundierten Landschaften wie dem Münsterland, aber auch im Aachener Land, am Niederrhein oder in Ostwestfalen-Lippe etablierten sich engere Partnerschaften, die über reine Wirtschaftsfragen hinaus frühzeitig auch Tourismus-, Marketingund Kulturaspekte in ihre Arbeit einbezogen und die Regionen nach innen wie nach außen profilierten.
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1286
Vgl. Potratz, Dezentral und koordiniert?, S. 244. Besonders in Ostwestfalen-Lippe oder Emscher-Lippe waren Position und Initiative der Regierungspräsidenten stark. Vgl. Forth, Thomas/Wohlfahrt, Norbert: Vertikale Koordination, in: Heinze/Voelzkow, Regionalisierung der Strukturpolitik, S. 248-250, hier: S. 248. Heinz, Rolf G. u.a.: Strukturpolitik zwischen Tradition und Innovation – NRW im Wandel, Opladen 1996, S. 38. Vgl. Krafft, Alexander/Ulrich, Günter: Chancen und Risiken regionaler Selbstorganisation. Erfahrungen mit der Regionalisierung der Wirtschaftspolitik in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, Opladen 1993, S. 21ff. Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Technologie des Landes Nordrhein-Westfalen: TechnologieHandbuch Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1993, S. 19.
G.V. Landschaften und Regionalisierung
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G.V.2.2. REGIONALEN Das Landesprogramm REGIONALE – Kultur- und Naturräume in Nordrhein-Westfalen modifizierte die ZIN-Initiative 1997 und ersetzte die relativ festumrissenen Strukturregionen durch in ihren Zuschnitten wandelbare, zeitlich begrenzte und projektbezogene Zusammenschlüsse, die REGIONALEN. Das erneuerte Strukturprogramm ist stärker dem Wettbewerbsgedanken verpflichtet, da pro Förderperiode nur eine Region Unterstützungsgelder erhält; anders als bei der breiten Subventionsstreuung früherer Jahre, werden weniger die Schwächen auf kleinem Niveau angeglichen, sondern Stärken zielgerichtet ausgebaut. Fanden die REGIONALEN zwischen 2000 und 2010 in zweijährigen Zyklen statt, werden diese ab 2013 auf drei Jahre erweitert, begleitende Landesgelder sind auf ein Jahr begrenzt.1287 Auf der Basis der „gemeinschaftliche(n) Formulierung und Umsetzung eines regionalen Strukturprogramms, das mit Projekten, Ereignissen und Initiativen zur Stärkung der regionalen Wettbewerbsfähigkeit und zur Schärfung des regionalen Profils beiträgt“,1288 können sich selbstdefinierte Landessubräume um die Durchführung einer REGIONALE bewerben. Erhalten sie den Zuschlag, werden ihre – die regionalen Alleinstellungsmerkmale und Stärken aufgreifende und weiterentwickelnde – strukturwirksamen Projektvorschläge prioritär aus Landesmitteln gefördert. Als Handlungsfelder sind insbesondere die nachhaltig-ökologische Stadtund Regionalentwicklung sowie die Kulturlandschaftspflege vorgesehen; öffentlichrechtliche (Gebiets-)Körperschaften, Unternehmen, Verbände und Vereine sowie Privatpersonen sind in diesen Prozess weitestgehend einzubeziehen. Die „regionale Vernetzung und Qualifizierung von Kultur-, Freizeit-, Gesundheits-, Sport- und Tourismusangeboten mit dem ökonomischen Prozess“ ist Mittel, um den Strukturwandel durch die Aktivierung gesellschaftlicher Eigenkräfte zu bewältigen sowie die „Identifikation (der Regionen zu A.W.) nach innen und (ihre) Profilierung nach außen (zu) fördern.“1289 Mit den REGIONALEN entstehen zeitlich begrenzte Handlungsräume, die in ihrer Abgrenzung jedoch an nachvollziehbare historisch-kulturelle, wirtschaftsfunktionale oder
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2000 machte die den Regierungsbezirk Detmold umfassende REGIONALE 2000/EXPO-Initiative OWL den Anfang, gefolgt von der Euroga 2002 plus, der die Städte Düsseldorf, Krefeld und Mönchengladbach und die Kreise Viersen, Mettmann und Neuss angehörten, 2004 folgte die REGIONALE links und rechts der Ems, der die Stadt Münster und die Kreise Warendorf und Steinfurt angehörten, 2006 die REGIONALE Spurwechsel mit den Städten Wuppertal, Remscheid und Solingen, 2008 die grenzüberschreitende EuREGIONALE mit der Stadt Aachen und den Kreisen Aachen, Heinsberg, Düren und Euskirchen und 2010 die REGIONALE Brückenschläge, der die Städte Bonn, Köln, und Leverkusen sowie der Rhein-Erft-Kreis, der Rhein-Sieg-Kreis, der Rheinisch-Bergischer-Kreis und der Oberbergischer Kreis angehörten. Die geplante REGIONALE 2013 in Südwestfalen umfasst den Märkischen Kreis, den Hochsauerlandkreis sowie die Kreise Soest, Olpe und Siegen-Wittgenstein, 2016 findet die REGIONALE im Westmünsterland mit den Städten Hamminkeln, Hünxe und Schermbeck aus dem Kreis Wesel, Werne, Selm, aus dem Kreis Unna sowie Dorsten und Haltern am See aus dem Kreis Recklinghausen statt, hinzu kommen die Kreise Borken und Coesfeld. Öffentliche Ausschreibung der REGIONALEN 2013 und 2016 in NRW. Runderlass des Ministeriums für Bauen und Verkehr vom 14.2.2007, in: Ministerialblatt für das Land Nordrhein-Westfalen 6 (2007), S. 122. Vgl. Runderlass des Ministeriums für Stadtentwicklung, Kultur und Sport des Landes NordrheinWestfalen vom 13.3.1997, zitiert nach Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung. Begleitforschung für die REGIONALEN 2006-2010, einsehbar unter http://www.regionalen.nrw.de/hintergrund/index.html (18.3.2011).
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G. Nordrhein-Westfalen seit 1946
administrativorganisatorische Kriterien anknüpfen und landschaftliches Eigenbewusstsein (wiederer-)wecken sollen. Die Landespolitik verspricht sich von der Kombination kognitiver und affektiver Aspekte sowie der breiten Einbeziehung der regionalen Öffentlichkeit die Hebung endogener Entwicklungspotentiale und die Verstetigung der Kooperation. Zwar wird zunächst die Identifikation und Profilierung der Regionen, ihre unverwechselbare Erkennbarkeit nach innen wie nach außen erstrebt, doch sind dies erste Schritte hin zu einer Identifizierung mit diesen. Die REGIONALEN unterstützen somit die Ausbildung und Erhaltung eines Plurals an Regionalbewusstsein in NRW und treten als Identitätsstifter in Konkurrenz zum Land. G.V.2.3. Regionale Kulturpolitik Mit der Regionalen Kulturpolitik fügte das Land dem Regionalisierungsansatz 1996/97 eine weitere Komponente hinzu. Im Kern Bestandteil der ökonomisch ausgerichteten Strukturpolitik, waren und sind ihre Grundgedanken die kulturelle Profilierung der Regionen in Nordrhein-Westfalen durch die Förderung des netzwerkartigen Austausch in ihrem Inneren sowie die Stärkung der „Kultur des Landes insgesamt“ mithilfe des Ausbaus der Kooperation über die Kulturregionsgrenzen hinweg.1290 Witterten westfälische Kulturverantwortliche in dem Programm zunächst einen „Anschlag der Rheinländer auf die alte Provinz Westfalen“ und das Bemühen, altes Landschaftsbewusstsein zu brechen,1291 so ist die Regionale Kulturpolitik letztlich ein Sinnbild der fehlgeschlagenen Landesintegration, steht in Konkurrenz zu den hergebrachten Landesteilen und unterhöhlt diese; sie unterstützt die mentale Subverräumlichung und verstetigt das Bewusstsein für die historische Landschaften in Nordrhein-Westfalen gegen das Land, anstatt diese zusammenzuführen. Aufbauend auf den Erfahrungen der regionalisierten Strukturpolitik, verkündete Johannes Rau 1995, seine Regierung setze weiterhin auf die Regionen und wolle diese ermutigen, „ein eigenes, unverwechselbares Profil zu entwickeln.“ Seine Regierung erhoffte sich von der besonderen Förderung der regionalen Kulturarbeit einen Modernisierungsschub für Nordrhein-Westfalen als Ganzes, um die „Wirtschaftskraft unseres Landes zu sichern und seine Zukunftsfähigkeit zu stärken.“ Rau rief die Bevölkerung „zur eigenverantwortlichen Gestaltung ihrer Lebenswelt“ auf und ermunterte sie, regionale Entwicklungskonzepte zu entwerfen, „die spezifische regionale Profile herausarbeiten, Förderschwerpunkte festlegen und die regionalen Kräfte und Fähigkeiten bündeln“.1292 Er erblickte in der Kulturwirtschaft Potentiale für die Verbesserung des Arbeitsplatzangebots, die Stadtentwicklung und die Profilierung der Regionen in Nordrhein-Westfalen und wähnte sie als Teil einer neuen Ökonomie, die selbst Umsätze erwirtschaftet und den Freizeit- und Standortwert einer Region hebt; Kulturpolitik wurde Wertschöpfungs- und Imagefaktor, um über die Steigerung der Standortattraktivität Firmen oder Touristen anzulocken und somit sowohl direkt wie auch indirekt Wachstum 1290 1291
1292
Vgl. Der Ministerpräsident des Landes NRW (Hrsg.): Forum Regionale Kulturpolitik. Vielfalt und Kreativität in den Kulturregionen NRWs, Düsseldorf 2005, S. 5. So Werner Friedrich, damaliger Vorsitzender des Fördervereins Kloster/Schloss Bentlage, zur Auftaktveranstaltung der Kulturregion Münsterland am 5. Dezember 1996, zitiert nach Scharte, Westfalenbilder und Westfalenbewusstsein, S. 54. Vgl. die Regierungserklärung Raus vom 13. September 1995, einsehbar unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMP12-5.pdf S. 139f., 149 (13.3.2011).
G.V. Landschaften und Regionalisierung
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schafft.1293 Stellvertretend für die Landespolitik nahm das damalige Ministerium für Arbeit, Soziales und Stadtentwicklung, Kultur und Sport hierbei eine Initiativ- und Moderatorenrolle ein und ersann, Kulturarbeit mit Wirtschaftsförderung und Denkmalschutz zu vernetzen. Auf dem Weg zu einer Regionalen Kulturpolitik lud es in den – entlang kulturlandschaftlicher Kriterien bestimmten – Regionen zu Auftaktveranstaltungen ein, die als teilöffentliche Informations- und Diskussionsveranstaltungen den Pfad ebneten für die Berufung weiterführender Expertenworkshops. Diese aus Kulturschaffenden und -verantwortlichen oder Heimatpflegern bestehenden informellen Gremien erarbeiteten regionale Kulturprofile, die in Absprache mit den Gebietskörperschaften, dem Ministerium und einem öffentlichen Kulturforum beschlossen wurden. Diese Leitbilder – für die ein Kriterienkatalog die Sicherung der kulturellen Grundversorgung, die Verbesserung der Innen- und Außendarstellung, die Erhaltung des regionalen Kulturguts, die Verbesserung der Lebensqualität durch die Einbeziehung von Stadtentwicklung und Wirtschaftsentwicklung sowie die Entwicklung von identitätsstiftenden, profilschärfenden Leuchttürmen verlangte –1295 stellten fortan die Basis für konkret-spezielle Förderanträge dar. Primäres Leitziel der Initiative ist, die wirtschaftlichen Strukturdaten Nordrhein-Westfalens über seine Regionen zu verbessern; prosperieren die Subräume, rückt in der Außenperspektive auch das Land in ein anderes Licht. Anstatt Gelder breit über das Land zu streuen, sollen diese durch die Einbeziehung regionaler Wissensbestände zielgenauer und effizienter eingesetzt werden. Fortgesetzt wird mit diesem Ansatz letztlich die in der historischen Landschaftsentwicklung angelegte, disparate sozioökonomische Entwicklung des Behälterraums NRW, innerhalb dessen einige Altlandschaften Erfolgswege beschreiten und andere abgehängt werden, ohne dass innere Verbindungen zwischen ihnen geknüpft würden. Die wirtschaftliche Erweiterung bestehender Strukturgräben ergänzt die Beibehaltung mentaler Binnenlandschaften in NRW, wie sie auch in der zweiten Zielrichtung der Regionalen Kulturpolitik, „die historisch gewachsenen Kulturregionen Nordrhein-Westfalens (zu A.W.) unterstützen, sich im zusammenwachsenden Europa zu profilieren und ihre Attraktivität und Identität nach innen und außen (zu A.W.) stärken“,1296 zum Ausdruck kommt. Als Gegenbewegung zur Globalisierung sollen Kommunikation, Kooperation, Koordination und Konsens Gemeinsinn und soziale Bindungen in den „historisch gewachsenen räumlichen Einheiten mit kulturellen Gemeinsamkeiten“ stiften und ihre Selbst-Bewusstwerdung unterstützen, um über die künstlerische Beschäftigung mit den Heimatregionen Verständnis für und die Bindung an diese zu wecken. Die in der Regionalen Kulturpolitik gebildeten Netzwerke – „historisch gewachsene Kulturregionen“ sind die REGIO Aachen, Niederrhein, Rheinschiene, Bergisches Land, Ruhrgebiet, Münster1294
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Vgl. generell zu Konzeption und Entwicklung der Kreativ- und Kulturwirtschaft in Nordrhein-Westfalen: Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): 5. Kulturwirtschaftsbericht. Kultur- und Kreativwirtschaft. Wettbewerb – Märkte – Innovation, Düsseldorf 2007, S. 17 und passim. Vgl. Ministerium für Arbeit, Soziales und Stadtentwicklung, Kultur und Sport (Hrsg.): Blickwechsel. Forum Regionale Kulturpolitik NRW, Düsseldorf 1999, S. 2f. sowie Ministerium für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport (Hrsg.): Blickwechsel. Forum Regionale Kulturpolitik NRW, Düsseldorf 2000, S. 1. Vgl. ebenso Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen: Kultur NRW. Regionale Kulturpolitik, einsehbar unter http://www.kultur.nrw.de/de/regionale_Kulturpolitik/index.html (27.9.2009). Vgl. Landesregierung Nordrhein-Westfalen, Kultur NRW, ebd. Vgl. ebd.
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G. Nordrhein-Westfalen seit 1946
land, Hellweg, Ostwestfalen-Lippe, Südwestfalen und Sauerland – wecken trotz der ausdrücklichen Befürwortung fließender Grenzen, projektbezogener Zusammenarbeit oder situativer Zuordnungen ein kognitives Regionsbewusstsein und Identifikationsmöglichkeiten, die zum Teil durch die Einrichtung von Kulturbüros, Kulturplattformen sowie von Beiräten auf eine festere Grundlage gestellt wurden. Abgesehen von ihren wirtschaftlichen Implikationen, ist die Regionale Kulturpolitik somit Ausdruck der mit der Wir in Nordrhein-Westfalen-Kampagne einsetzenden pluralistischen Deutungskultur des Landes. Die Betonung der Vielfalt als Stärke entspringt dem Wissen um die schwachen inneren Bande, die durch das Ansinnen, eine emotional unterlegte Bindung der Menschen an die Regionen zu lancieren, kaum gefestigt werden. Die innengerichtete Zusammenarbeit erhält und bestärkt vielmehr das Landschaftsbewusstsein in Nordrhein-Westfalen, das Land verweilt in seinem Behälterraumstatus und unterstützt aktiv Identitätsbildungen gegen sich und in regionaler Absetzung voneinander. Bis auf den Sonderfall Ruhrgebiet überspringen die zehn Kulturregionen nirgends die hergebrachte rheinisch-westfälische Strukturgrenze, sie bilden den Plural an Landschaftsgenesen auf dem Gebiet des historischen Nordrhein-Westfalens deutlich ab und tragen deren kulturelle Erbestände in das Bundesland hinein. Auf landschaftlicher Ebene werden Kommunikationsrahmen bereitgestellt, die für Raum- und Identitätsbildungsprozesse von ausschlaggebender Bedeutung sind, die Selbstvergewisserung in den Regionen sowie in ihren Traditionen festigen und mentale Bindungen nach Innen erzeugen, ohne originär nordrheinwestfälische Gemeinschaftsbestände zu erschaffen. Historisch überlieferte mental maps und kollektive Gedächtnisse werden weiterhin in Abgrenzung voneinander bestimmt, anstatt Nordrhein-Westfalen als Ganzes zur Geschichtslandschaft zu machen und es gemeinschaftsverträglich auszudeuten; die regionalisierte Kulturpolitik ist deshalb keine zukunftsgerichtete Gesamtstrategie, die Orientierungsmarken und Symbole für das gesamte Land bereitstellt, sondern die deutungskulturelle Überformung vorhandener raumstruktureller Zusammenhänge mit Sinnangeboten befördert.
G.VI. Landschaften und Raumstrukturen Der Regionalisierungsansatz der Landespolitik ist mitursächlich dafür, dass das „in der Retorte entstandene Bundesland“ selbst in seinem siebten Lebensjahrzehnt mindestens „zwiegespalten geblieben“ ist;1297 mehr noch als die grobe Vierteilung in Rheinland und Westfalen, Ruhrgebiet und Lippe bestimmen jedoch die historisch gewachsenen Binnenlandschaften in Nordrhein-Westfalen subjektive und kollektive Verortungen.1298 Den Landesteilen feh1297
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Leyendecker, Hans: Rheinischer Leichtsinn und katholische Sauerländer. Die Menschen in NordrheinWestfalen sind von höchst unterschiedlicher Wesensart und daher als Wähler unberechenbar, in: Süddeutsche Zeitung (8./9.5.2010), S. 6. Eine Umfrage des WDR aus dem Jahr 2008 zeigt, dass zwar 92% der Befragten gerne in NRW leben, 84% jedoch in erster Linie eine der Regionen als Heimat ansehen. Vgl. Regionales Interesse und Heimatverständnis. Ergebnisse einer Repräsentativbefragung in den WDR-Lokalzeitgebieten durch das TNS Emnid Institut Bielefeld im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks (10. Oktober 2008), einsehbar unter http://www.wdr.de/unternehmen/presselounge/pressemitteilungen/2008/10/img_pdf/WDR_EMNID __Heimat.pdf (24.4.2010), S. 7.
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len institutionelle Repräsentanten, die über ihren inneren Pluralismus an Lebenswelten ein gemeinsames Band spannten: Die Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe sind im Alltag kaum wahrnehmbare Einrichtungen, ihre Arbeit findet zum größten Teil abseits der Öffentlichkeit statt und ist zumindest in ihrer Kulturpolitik eher Eliten- als Massenphänomen, das für die Selbstverständigung der breiten Bevölkerung keine nennenswerte Rolle spielt. Der Regionalverband Ruhr vermag den mit dem Strukturwandel einhergehenden Verlust der montanindustriellen Ruhrgebietsklammer nicht zu ersetzen, so dass einzig Lippe als Landkreis nach wie vor in der Lage erscheint, landschaftsgeschichtlich verwurzeltes und erfahrbares Objekt von Identitätsbildungen zu sein. Hergebrachte landschaftliche Strukturgrenzen werden durch gesellschaftliche Organisationssysteme tradiert und behalten hierdurch ihren dissoziierenden Charakter; nicht die vier Landesteile, sondern die in ihnen zusammengeschlossenen Subregionen sind Orientierungspunkte für die Gestaltung des Alltagslebens, wie auch die diesem entspringenden Raumstrukturen zugleich Ausdruck und Ursache gegeneinandergerichteter Regionalidentitäten sind. Trotz unterschiedlicher Stoßrichtung von Politik, Sport oder Kultur ordnen sie die Umweltwahrnehmung und erweitern, verfestigen und verstetigen sowohl politischadministrative wie auch kulturlandschaftliche Grenzziehungen. Selbstverständlich bedarf gerade ein Land der Größe Nordrhein-Westfalens kleinteiliger Raumzuschnitte und sind lokal-regionale Handlungs- und Wahrnehmungswelten steter Grundbestandteil menschlicher Existenz; es müssen Abgrenzungskriterien gefunden werden, nach denen der Alltag lebensnah gestaltet werden kann. Auffällig ist jedoch, dass es selbst in Zeiten raumübergreifender Kommunikationstechnologien zumeist hergebrachte Landschaftsmuster sind, die Grundlagen relationaler Raumbildungen in NordrheinWestfalen sind. Die sich in Vereinen, Verbänden und Institutionen manifestierenden Raumstrukturen stehen in landschaftshistorischer Kontinuität und gleichsam der Ausbildung eines Landesbewusstseins entgegen. Diese freiwilligen, dem Bevölkerungswillen folgenden Regionalisierungen von unten führen zwar nicht unmittelbar zu einer Identität von Sportlern, Journalisten und Heimatforschern einer Region, liefern ihnen jedoch geteilte Aktivitäts-, Wahrnehmungs- und Bezugsrahmen; unabhängig von der Intention – ob funktionalistischen oder historischen Gesichtspunkten folgend –, bilden sich gegeneinander abgegrenzte Landschaftsmilieus, die für die Alltagswahrnehmung, -gestaltung und kommunikation zur Welt an sich werden. Die oftmals unbewusste Nachformung hergebrachter Gemarkungen integriert zwar nicht per se nach innen, festigt aber deren mentale Aufrechterhaltung und ist gerade aufgrund dieser unreflektierten Selbstverständlichkeit von besonderer Tiefenwirkung. Raumstrukturen und Organisationswelten spiegeln das Selbstverständnis der Bevölkerung, verdeutlichen landschaftliche Verbundenheiten und Verortungen und werden ihrerseits durch diese gestärkt. Neben die professionelle Kulturpflege wissenschaftlicher Forschungseinrichtungen und semiprofessionelle Heimatvereine tritt eine dritte Ebene, die regionale Identitäten und Identifikationen mitkonstruiert.
G.VI.1. Handlungs-, Analyse- und Medienregionen Für das Verständnis der nordrhein-westfälischen Raumstrukturen sind Handlungs- von Analyseregionen zu unterscheiden: Meinen erstere staatliche Verwaltungsräume, wirtschaftli-
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che Kammerbezirke oder Kommunalverbände, blicken letztere auf Siedlungszusammenhänge oder lebensweltliche Verflechtungen;1299 sind die einen hierarchische Raumbildungen top-down, so die anderen gesellschaftliche Regionalisierungen bottom-up. Beide lassen sich nochmals differenzieren in Regionen, die von außen nach Homogenität oder Beziehungsgeflechten bestimmt werden und solche, die der mentalen Binnenperspektive der Bevölkerung entspringen; allesamt strukturieren sie die Raumwahrnehmung und orientierung, sind menschliche Konstrukte und steuern Kommunikation wie Selbstverortung. Medienregionen schließlich liefern den Landschaften einen Resonanzboden, der Bevölkerung ein Podium für wechselseitigen Austausch und verstärken Regionszuschnitte. Die Dichte raumstruktureller Bindungen in den Regionen spiegelt die Tiefenverwurzelung landschaftlicher Bindungen und des Zusammengehörigkeitsempfindens.1300 G.VI.1.1. Handlungsregionen Landkreise, Regierungsbezirke und Land sind staatliche Handlungsregionen, die für Selbstverortungen und Identitäten zwar keine unmittelbare Rolle spielen müssen, jedoch Alltagsleben und Raumwahrnehmung unmittelbar beeinflussen; sie sind der wichtigste Orientierungsrahmen für die an sie angelehnten gesellschaftlichen Raumstrukturen und in ihrem Zuschnitt zum Großteil bereits – trotz wiederholter Verwaltungsreformen – im historischen Nordrhein-Westfalen verwurzelt. Scharnier zwischen den Staatsebenen, Politik und Gesellschaft sind die Parteien; tradierte bereits die relativ späte Einrichtung starker Landesverbände bei CDU und SPD gewachsene, gegeneinander abgegrenzte Wahrnehmungswelten und erschwerte ein innengerichtetes, kommunikativ-relationales Zusammenwachsen Nordrhein-Westfalens, so potenzieren die Bezirkszuschnitte sämtlicher Parteien die Beibehaltung hergebrachter kognitiver Horizonte. Die mittlere Parteiebene koordiniert die Arbeit der Kreisverbände, diskutiert regionale, zumeist der spezifischen Raumentwicklung entspringende Problemstellungen und schafft eine gemeinsame Öffentlichkeit mit integrierender Funktion. Ihre Organisationsstrukturen spiegeln nicht allein die rheinisch-westfälische, sondern auch zahlreiche weitere hergebrachte Strukturgrenzen und überspringen diese – im Falle der CDU, der FDP und der Grünen – allein aufgrund der wahlentscheidenden Bedeutung des Sonderfalls Ruhrgebiet. Die Bezirksgrenzen folgen landschaftlichen Traditionslinien und erhalten sie mental nicht nur in ihrem Zuschnitt, sondern häufig auch infolge besonderer thematischer Schwerpunkte.1301 1299
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Vgl. Blotevogel, Hans H./Münter, Angelika/Terfrüchte, Thomas: Raumwissenschaftliche Studie zur Gliederung des Landes Nordrhein-Westfalen in regionale Kooperationsräume, Dortmund 2009, einsehbar unter http://www.wirtschaft.nrw.de/400/400/300/Abschlussbericht_Kooperationsr__ume_29_6_091.pdf (14.1.2010), S. 4. Es führte zu weit, an dieser Stelle für jede Ebene regionale Abgrenzungen und Zusammenschlüsse zu referieren; hier sollen die Handlungs- und Analyseregionen beleuchtet werden, die für die Alltagsorientierung und mentale Verortungen identitätsstiftend wirken. Allgemein verweisen sei auf die Studie Blotevogels et. al., S. 27 und passim, in der eine Vielzahl an Graphiken die Raumstrukturen innerhalb NordrheinWestfalens graphisch wiedergibt und folgende, mehr gerafft aufgezählten Zusammenhänge, erhellt. . Die CDU ist in die acht Bezirksverbände Aachen, Niederrhein, Mittelrhein, Bergisches Land, Ruhr, Südwestfalen, Münsterland und Ostwestfalen untergliedert, die SPD in die vier Regionen Niederrhein, Mittelrhein, Westliches Westfalen und Ostwestfalen-Lippe, die FDP in die neun Bezirksverbände Aachen, Köln, Düsseldorf, Niederrhein, Ruhr, Münsterland, Ostwestfalen-Lippe, Westfalen-West und Westfalen-
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Die mit der Regionalisierung der Landesstrukturpolitik entstandenen wirtschaftlichen Handlungsregionen lehnen sich in erster Linie an die Zuständigkeitsbereiche der – heute sechzehn – Industrie- und Handelskammern (IHK) an. Die IHKs vertreten die Interessen der regionalen gewerblichen Wirtschaft gegenüber Kommunen, Staat und Öffentlichkeit und setzten ihrerseits auf historischen Vorbildern auf; ihre Abgrenzung offenbart überlieferte Entwicklungspfade und Verflechtungen und befördert zumindest ein funktionalistisch begründetes Zusammengehörigkeitsbewusstsein ihrer Pflichtmitglieder.1302 Aus der Masse der organisatorisch gespaltenen wirtschaftlichen Handlungsarenen stechen charakteristische Zweiteilungen wie die in je einen Rheinischen und Westfälisch-Lippischen Sparkassenund Giroverband oder in die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein und eine für Westfalen-Lippe heraus; NRW ist – sicher auch, aber nicht allein aufgrund der Einwohnerzahlen – das einzige Bundesland, das sich solche Doppelstrukturen leistet. Dritter Pfeiler nordrhein-westfälischer Handlungsregionen sind die kommunal verfassten Regionalverbände. Auf der einen Seite existieren öffentlich-rechtliche Institutionen mit hoheitlichen Aufgaben und beschränktem Aufgabenkreis wie die Landschafts-, Regionalund Landesverbände. Ihnen zur Seite steht die StädteRegion Aachen, die seit 2009 überörtliche Selbstverwaltungsaufgaben übernimmt und als erste demokratisch legitimierte regionalisierte Gebietskörperschaft in NRW die Raum- und Strukturplanung, die Wirtschaftsförderung oder die Sozialarbeit für Stadt und Landkreis leistet. Zu den aufgabenbezogenen öffentlich-rechtlichen Kooperationsformen zählen ebenso die vier seit 1958 gebildeten, die grenzübergreifende kommunale Kooperation im Westen Nordrhein-Westfalens unterstützenden Euregios, die zur Förderung wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Zusammenarbeit Gelder aus den regionalen Strukturmitteln der Europäischen Union erhalten, verwalten und verteilen. Auf der anderen Seite bestehen privatrechtlichinformelle Handlungsregionen mit unterschiedlicher Organisationsverbindlichkeit, die aus gleichgelagerten Interessen und auf freiwilliger Basis entstehen. Zu ihnen zählen die REGIONALEN, aus denen sich – etwa mit der Region Köln/Bonn und dem Bergischen Städtedreieck – festere Kooperationsgremien entwickelt haben, deren Zielsetzung in der Stärkung des Wirtschaftsstandorts, der Nutzung administrativer Synergieeffekte und dem „Aufbau eines regionalen Selbstverständnisses“ liegen,1303 aber auch die kommunal finanzierten Tourismusverbände mit gemeinsamem Außenauftritt zur Stärkung des Regionalprofils; sie tragen zur Binnenvernetzung der Regionen bei, integrieren sie nach innen und schließen
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Süd und Bündnis 90/Die Grünen in die fünf Bezirke Niederrhein-Wupper, Mittelrhein, Ruhr, Westfalen und Ostwestfalen-Lippe. Einzig Die Linke ist unter den etablierten Parteien ausschließlich in Kreis- und Ortsverbände organisiert. Die 16 IHK-Bezirke in NRW sind: Aachen, Arnsberg Hellweg-Sauerland, Ostwestfalen zu Bielefeld, Mittleres Ruhrgebiet, Bonn/Rhein-Sieg, Lippe zu Detmold, Dortmund, Düsseldorf, Duisburg-WeselKleve zu Duisburg, Essen Mülheim Oberhausen zu Essen, Südwestfälische IHK zu Hagen, Köln, Mittlerer Niederrhein Krefeld Mönchengladbach Neuss, Nord Westfalen, Siegen, Wuppertal-SolingenRemscheid. Vgl. hierzu auch Blotevogel et. al., Raumwissenschaftliche Studie, ebd., S. 34. Vgl. Region Köln/Bonn e. V.: Kurzprofil des Vereins, einsehbar unter http://www.region-koelnbonn.de/de/akteure/region_koelnbonn_ev/index.html. In der Region Köln/Bonn sind seit 1992 die Städte Bonn, Köln, und Leverkusen sowie die umliegenden Kreise Rhein-Kreis Neuss, Rhein-Erft-Kreis, Rhein-Sieg-Kreis, Rheinisch-Bergischer Kreis und Oberbergischer Kreis zusammengeschlossen. Das Bergische Städtedreieck besteht aus den Städten Wuppertal, Solingen und Remscheid. Vgl. auch http://www.bergisches-staedtedreieck.de/ (9.3.2011).
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sie nach außen ab.1304 Eng mit ihnen verwandt – teils sogar in sie integriert – sind die auf kommunaler Ebene gebildeten Marketingagenturen, die die Vorzüge ihrer Region kommunizieren und sie im Standortwettbewerb positionieren; zugleich tragen die von ihnen erzeugten Bilder zur Ausbildung eines selbstbezogenen Selbstverständnisses wie auch der Fremdwahrnehmung bei.1305 Zwischen den öffentlichen und privaten Organisationsformen angesiedelt sind die landesseits angestoßenen, informellen 10 Kultur- oder 12 Tourismusregionen, die eine binnenbezogene Zusammenarbeit innerhalb der jeweiligen Regionen mithilfe der Aktivierung gesellschaftlicher Eigeninitiative fördern und ihre Außenauftritte harmonisieren sollen.1306 G.VI.1.2. Analyseregionen Analyseregionen werden aufgrund vorab festgelegter Kriterien – Homogenität oder funktionale Verflochtenheit – in der Außenperspektive zu Einheiten zusammengefasst, die durch ihren Interaktionscharakter für die Regionswahrnehmung von weit stärkerer Bedeutung sind als die Handlungsregionen; sie können sich an den staatlichen Administrativstrukturen orientieren, diese aber auch überspringen. Ihre Rahmenbedingungen erhalten die Analyseregionen durch die Naturräume Niederrhein, Rheinisches Schiefergebirge, Westfälische Bucht, Westfälisches Tiefland und Ostwestfälisches Bergland, die Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen und begrenzen und hiermit zentrale Bedeutung für soziales Handeln besitzen; die Ausbildung des nordrhein-westfälischen Kulturlandschaftspanoramas setzt auf ihnen auf. Bis heute spielen die früher so bedeutenden, im Alten Reich angelegten Kirchenstrukturen eine alltagsrelevante Rolle für Konfessionsgrenzen und Glaubensverhältnisse. Die Religionszugehörigkeit untergliedert mit ihrem Einfluss auf Jahreskalender oder Alltagsbräuche die Lebensgestaltung stärker als formelle Verwaltungszuschnitte, wenngleich ihr im weitgehend säkularen 21. Jahrhundert – gesonderte Feiertage für einzelne Regionen existieren in NRW nicht mehr – nur noch eine nachrangige Bedeutung zukommt; auch
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In der schwer überschaubaren Zahl an Tourismuseinrichtungen – die meisten Städte verfügen über eigene Marketinginstrumente – existieren gleichwohl Zusammenschlüsse, die der Stärkung regionaler Profile und dem gemeinsamen Außenauftritt dienen. Zu nennen sind für die StädteRegion Aachen die gleichnamige Gebietskörperschaft, für die Eifel die Eifel Tourismus Gesellschaft mbH, für die Region Bonn/Rhein-Sieg die Tourismus & Congress GmbH Region Bonn/Rhein-Sieg/Ahrweiler, für die Stadt Krefeld und die Kreise Kleve, Viersen und Wesel die Niederrhein Tourismus GmbH, für das Bergische Städtedreieck der Bergisches Land Tourismus Marketing e.V. sowie für das gesamte Bergisches Land die Naturarena Bergisches Land GmbH, für das Ruhrgebiet der Ruhr.Tourismus e.V., für das Münsterland der Münsterland e.V., für den Teutoburger Wald die OstWestfalenLIppe Marketing GmbH, für Südwestfalen und das Sauerland der Sauerland-Tourismus e.V. sowie für Siegen-Wittgenstein der Touristikverband Siegerland-Wittgenstein e.V. Gemeinsame Außenauftritte betreiben die StädteRegion Aachen, der Kulturraum Niederrhein e.V., die Region Köln/Bonn, die Bergischen Drei (=Tourismus), die mit dem Regionalverband Ruhr zusammenhängende Metropole Ruhr (Tourismus), der Münsterland e.V. (=Tourismus), die Ostwestfalen-Lippe Marketing GmbH (=Tourismus), die Region Südwestfalen sowie der Sauerland Initiativ e.V. Abgesehen wird von landkreislichen Standortkampagnen wie die Siegen-Wittgensteins oder Lippes. Die 10 Kulturregionen sind REGIO Aachen, Niederrhein, Rheinschiene, Bergisches Land, Ruhrgebiet, Münsterland, Hellweg, Ostwestfalen-Lippe, Sauerland, Südwestfalen; die 12 Tourismusregionen sind Eifel/Region Aachen, Niederrhein, Düsseldorf/Mettmann, Köln/Rhein-Erft, Bonn/Rhein-Sieg, Die Bergischen Drei, Bergisches Land, Ruhrgebiet, Münsterland, Teutoburger Wald, Sauerland, SiegerlandWittgenstein.
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innerkonfessionell heben die Organisationsverhältnisse selbstverwaltete Kirchenwelten voneinander ab und untergliedern den Behälterraum NRW auf katholischer Seite in die Bistümer Aachen, Köln, Essen, Münster und Paderborn, auf protestantischer in die Evangelische Kirche im Rheinland, die Evangelische Kirche in Westfalen und die Lippische Landeskirche. Auch die nordrhein-westfälische Vereinslandschaft ist weitgehend entlang kulturlandschaftlicher Grenzen organisiert. Sowohl deren intentionale Nachbildung in regionalen Heimatvereinen – anders als in anderen Bundesländern existiert bis heute kein nordrheinwestfälischer Heimatverein – als auch die unbewusste Anlehnung an sie festigt hergebrachte Raumwahrnehmungen und integriert Lebenswelten zu den stets selben Regionen; die Landesteile Rheinland, Westfalen und Lippe, aber auch deren altüberlieferte Subeinheiten sind Orientierungspunkte gesellschaftlicher Zusammenschlüsse und erfahren hierüber raumstrukturelle Verstetigung. Innerhalb des das Freizeitverhalten stark bestimmenden Breitensports – 5,1 der 17,9 Millionen Einwohner NRWs sind in einem Sportverein aktiv –1307 richten sich die drei mitgliederstärksten Sparten Fußball, Tennis und Turnen in ihren Verbandsgliederungen an den landesseits vorgegebenen Verwaltungsstrukturen aus und veranstalten ihre allwöchentlichen Wettkämpfe innerhalb dieser.1308 Wenngleich landesweite Vergleiche existieren, sind es doch primär jene hergebrachten Landmarken, die über das Jahr verteilt das regionale Zugehörigkeitsbewusstsein leiten, selbst wenn funktionale Neuzuschnitte und Staffelbildungen manchesmal sinnvoller erschienen. Das Fehlen einer gemeinsamen nordrhein-westfälischen Gesamtidentität, die Dominanz der Verbundenheit mit Regionen und lokalen Ebenen und die Unterschiede in Folklore, Brauchtum und Alltagsgestaltung brachte die dreiteilige WDR-Sendereihe Rivalen in NRW zum Ausdruck: Prägnant ist das Beispiel des 1975 zusammengelegten Ortes Schermbeck, in dem bis heute zwei Schützenfeste – eines im westfälischen Alt-, eines im rheinischen Neu-Schermbeck – stattfinden; im Ruhrgebiet konkurrieren die verschiedenen Städte um wirtschaftliche und kulturelle Leuchttürme und erschweren den überörtlichen Nahverkehr durch unterschiedliche Straßenbahnspurbreiten, während sich Köln und Düsseldorf, die Metropolen der unverbundenen Rheinschiene, wechselseitig die Bedeutung absprechen.1309
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Vgl. Landeszentrale für politische Bildung, NRW Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, S. 64. Dem Westdeutschen Fußball- und Leichtathletikverband gehören die Fußballverbände Mittelrhein, Niederrhein und Westfalen an, auch im Tennis existieren Regionalverbände für Niederrhein, Mittelrhein und Westfalen; die Turngaue sind in einem rheinischen und einem westfälischen Gesamtverband zusammengeschlossen. Vgl. hierzu die dreiteilige WDR-Sendereihe Rivalen in NRW, die Rivalen im Revier, am Rhein und zwischen Rhein und Weser ausfindig machte, einsehbar unter http://www.wdr.de/tv/wdrdok_af/sendungsbeitraege/2010/1015/Rivalen-Revier.jsp, http://www.wdr.de/tv/wdrdok_af/sendungsbeitraege/2010/1022/Rivalen-Rhein.jsp, http://www.wdr.de/tv/wdrdok_af/sendungsbeitraege/2010/1029/Rivalen-Land.jsp. Vgl. zu den nach wie vor bestehenden Unterschieden in der Spurbreite der Straßenbahnen in der Siedlungsagglomeration Ruhrgebiet: Schraa, Rolf: Ruhr.2010 zieht Bilanz. Erfolg trotz Loveparade-Schatten (6.12.2010), einsehbar unter http://www.n-tv.de/reise/Erfolg-trotz-Loveparade-Schattenarticle2079691.html (11.12.2010). Hier heißt es: „Normalerweise endet manche Buslinie im 5,4-MillionenEinwohner-Ballungsraum an irgendwelchen Stadtgrenzen und die Spurbreite der Straßenbahn wechselt zwischen Bochum und Dortmund.“ Dieses Problem wurde nicht behoben, obwohl es bereits vor knapp 40 Jahren Diskussionsthema war. Damals hieß es: „Dem Aufbau eines einheitlichen Verkehrssystems für die zehn Millionen Einwohner des Ruhrgebiets beispielsweise steht entgegen, daß sich technische Daten wie etwa die Spurbreiten der Straßenbahnen von
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G.VI.1.3. Medienregionen Medienlandschaften sind Raumbildner eigener Art, da Lebenswelten durch die Reichweite von Fernsehen, Radio und Zeitung einen sie verfestigenden und bestätigenden Resonanzboden erhalten; Medien sind die modernen öffentlichen Podien, die durch die Verknüpfung von Rezipienten und Ausstrahlungsgebieten die Ausbildung eines kognitiven Raumverständnisses und eine deutungskulturelle Überformung und Selbstverständigung der Soziokultur ermöglichen. Neben dem Westdeutschen Rundfunk entbehrt NRWs als Ganzes eines landesweiten Mediums, das Land und Bevölkerung überspannte und die Ausbildung eines geteilten Wahrnehmungshorizont flankierte; und auch dieser bildet vermehrt lokale und regionale Raumstrukturen zulasten des Landesganzen ab. Der WDR besitzt als Landessender zwar eine gewisse Klammerfunktion für Nordrhein-Westfalen, doch erzielen innerhalb seines Fernsehprogramms die Lokalzeiten die höchsten Einschaltquoten.1310 Aus den 1984 gestarteten drei Fenstern sind mittlerweile elf feste, aus und für die Regionen berichtende Sparteneinrichtungen geworden, deren sukzessive Ausweitung auf den Zuschauererfolg verweist und die durch die Spiegelung regionaler Lebenswelten landschaftliche Orientierungen auf Kosten des Landes stärken. Auch weitere Fernsehsendungen wie Wunderschön, SCHÖN HIER oder die Hier und HeuteReportagen räum(t)en der Regionalberichterstattung breiten Raum ein und präsentieren Nordrhein-Westfalen primär in seiner inneren Vielfalt, ohne dieser einen verbindenden Rahmen zu erschaffen. Der WDR fühlt sich in seiner Berichterstattung denn auch „dem Prinzip der Regionalität besonders verpflichtet“ und versucht, „die Menschen, gesellschaftlichen Strukturen, Landschaften und Besonderheiten des bevölkerungsreichsten Bundeslandes sichtbar und hörbar werden“ zu lassen, um „einen Beitrag zur kulturellen Identität der Regionen“ zu leisten.1311 Zwar erhöht die landesweit betriebene Ausstrahlung einzelner Lokalzeit-Beiträge in der Bevölkerung das Wissen voneinander, doch obsiegen über dieses das Festhalten und die mentale Absicherung regionaler Lebenswelten. Stärker noch als die Fernseh- ist die Radiolandschaft zersplittert. Einzig der tägliche WDR 5-Westblick oder das WDR 5-Wochenformat Thema NRW behandeln spezielle Landesthemen, während sich die wochentags mehrmals ausgestrahlten WDR 2-Lokalfenster innerhalb der Regionen öffnen. Verstärkt wird dieses bereits quantitativ bestehende Ungleichgewicht durch die Ausstrahlung der Landesberichterstattung im wort- und informationsorientierten, aber reichweitenschwachen Programm WDR 5, wohingegen der Formatradiosender WDR 2 weitaus mehr Zuhörer erreicht.1312 Der öffentlich-rechtliche Hör-
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Stadt zu Stadt unterscheiden - zwischen Duisburg und Mülheim 1435 Millimeter, zwischen Mülheim und Bochum 1000 Millimeter.“ Vgl. Überall Geschubse und gereiztes Klima, in: Der Spiegel 19 (1973), einsehbar unter http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-42602369.html (11.12.2010). Vgl. Westdeutscher Rundfunk: Chronik 25 Jahre „Lokalzeit“, einsehbar unter http://www.wdr.de/unternehmen/presselounge/pressemitteilungen/2009/09/_img_pdf/Chronik_25_J ahre_Lokalzeit.pdf, S. 2 (9.3.2011). Vgl. die Programmleitlinien des Senders, einsehbar unter http://www.wdr.de/unternehmen/senderprofil/pdf/aufgabe/WDR_200812_Programmleitlinien.pdf, S. 15, 26 (19.1.2011). Während WDR 2 wochentags 3,33 Millionen Hörer und einen Marktanteil von 20,7 Prozent erreicht, schalten bei WDR 5 710.000 ein und bescheren dem Sender einen Marktanteil von 4,4 Prozent. Vgl. WDR-Hörfunk bleibt Spitze in NRW: 8,56 Millionen Menschen hören täglich mindestens ein WDRRadioprogramm (9.3.2011), einsehbar unter
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funk wird ergänzt durch 45 Privatsender, die zumeist entlang der Landkreisgrenzen organisiert sind und noch deutlicher als die WDR-Angebote – trotz eines von der radio NRW GmbH gelieferten gemeinsamen Mantelprogramms – lokal begrenzte Horizonte widerspiegeln;1313 ihre Tagesreichweite liegt zusammengenommen zudem weit vor den WDRAngeboten.1314 Der Tageszeitungsmarkt ist die dritte Medienebene, die die Regionalisierung der Lebenswelten in NRW mitstrukturiert. Zeitungs- und Verlagsgruppen monopolisieren in ihren Verbreitungsgebieten häufig den Meinungsmarkt und tragen hiermit zur Ausbildung unterschiedlicher mentaler Horizonte bei.1315 Die Publikationsorgane bedienen das starke Interesse der Zeitungsleser an der Lokal- und Regionalberichterstattung,1316 richten sich in ihrem Vertrieb an Wirtschafts- und Anzeigenregionen, an Arbeitsmarkt- und Agglomerationsverflechtungen sowie an Administrativgliederungen aus und potenzieren hierüber mehrere Erfahrungshorizonte; sie verfestigen geteilte politische, sozioökonomische und kulturelle Öffentlichkeiten und vertiefen die Wahrnehmung raumstruktureller Binnengrenzen. Bei den Abonnementzeitungen existieren in Nordrhein-Westfalen vierzehn Zeitungsgruppen, die in ihren jeweiligen Zustellungsgebieten eine marktbeherrschende Stellung einnehmen, gemeinsame Mantelteile besitzen und die Vertriebsraum und Bevölkerung infolge ihrer weitgehenden regionalen Alleinstellung sowie der gleichgerichteten Berichterstattung integrieren. Weitgehend homogene Medienregionen sind die nördliche StädteRegion Aachen, der Raum Bonn/Rhein-Sieg, der restliche Kölner Regierungsbezirk, der nördliche Niederrhein mitsamt des Bergischen Städtedreiecks, das Ruhrgebiet und Südwestfalen, der Hellweg, das Münsterland, das östliche Münsterland mitsamt des westlichen Ostwestfalens, das nördliche wie das südliche Ostwestfalen;1317 sie werden ergänzt
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http://www.wdr.de/unternehmen/presselounge/pressemitteilungen/2011/03/20110309_radio_ma.pht ml (9.3.2011). Vgl. zu den 45 Lokalsendern Radio NRW: Unser Sendegebiet, einsehbar unter http://www.radionrw.de/nrw-lokalradios/sendegebiet.html (9.3.2011). Die NRW-Lokalradios erreichen zusammengenommen eine Tagesreichweite von knapp 5,2 Millionen Hörern. Vgl. Pressemeldungen.de: NRW-Lokalradios bleiben klar die Nummer 1. NRW-Lokalradios haben die meisten Fans in Radiodeutschland, einsehbar unter http://www.pressemeldungen.com/2011/03/09/ma-2011-radio-i-nrw-lokalradios-bleiben-klar-dienummer-1nrw-lokalradios-haben-die-meisten-fans-in-radiodeutschland/ (9.3.2011). Bei ersteren verfügen die unabhängigen Einzeltitel über einen identischen Mantelteil sowie separate Lokalberichterstattungen, während zweitere Einzeltitel unter einem Dach vereinen. Vgl. Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen: Medienatlas NRW, Düsseldorf 2009, einsehbar unter http://www.lfmnrw.de/downloads/MedienatlasNRW_Studie.pdf, S. 15ff. (9.3.2011). Vgl. zu den stark monopolisierten Marktstellungen in den fünf Regierungsbezirken: Ebd., S. 30 und passim. 92% der Befragten geben an, dass der Lokal- und Regionalteil für sie der wichtigste Zeitungsanschnitt sei. Vgl. ZMG Zeitungs Marketing Gesellschaft (Hrsg.): Leistungsdaten der Zeitungen im intermedialen Vergleich, Frankfurt am Main 2010, S. 26. Die Zeitungsgruppe Aachen dominiert in der Stadt Aachen sowie in den Landkreisen Aachen, Düren und Heinsberg, in dem die Zeitungsgruppe Köln eine starke Minderheit darstellt; der General-Anzeiger dominiert Bonn und verfügt über eine starke Stellung im umliegenden Rhein-Sieg-Kreis; die Zeitungsgruppe Köln ist in Köln, Leverkusen sowie den Landkreisen Euskirchen, Rhein-Erft-Kreis, Rheinisch-Bergischer Kreis und Oberbergischer Kreis dominant, dazu im Rhein-Sieg-Kreis und im Kreis Heinsberg eine starke Minderheit; die Verlagsgruppe Rheinische Post verfügt in Düsseldorf, Mönchengladbach, über die Arbeitsgemeinschaft Bergischer Zeitungen in Remscheid und Solingen sowie in den Landkreisen Kleve, Viersen, RheinKreis Neuss und Mettmann über die größte Reichweite; die Westdeutsche Zeitung plus monopolisiert weitgehend Krefeld und Wuppertal; die WAZ-Mediengruppe nimmt eine beherrschende Stellung in Duisburg,
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durch zwei singuläre Publikationsorgane in den Landkreisen Recklinghausen und SiegenWittgenstein. Zu den Abonnementzeitungen hinzu kommen täglich erscheinende Kaufzeitungen wie Bild und Express, die mit unterschiedlichen Lokalausgaben erscheinen und ebenso Regionswahrnehmungen beeinflussen.1318
G.VI.2. Raumstrukturelle Bindungen in Nordrhein-Westfalen Raumstrukturell schälen sich infolgedessen aus dem Behälterraum NRW innengerichtete Handlungs-, Analyse- wie auch Medienregionen heraus, die in Absetzung von Land und Landesteilen zum Teil auf etablierten Altlandschaften aufsetzen, zum anderen aber auch (politisch angestoßene) Neuschöpfungen sind; gemeinsam ist ihnen die auf mehreren Gesellschaftsebenen verdichtete, institutionell abgesicherte Zusammenarbeit, die relationale Raumbindungen stiftet, landschaftliche Selbstverortungen absichert oder – potentiell – regionale Identitätsbildungsprozesse anstößt. G.VI.2.1. Rheinland Ist das Rheinland bereits mit Blick auf die historische Landschaftsvermessung der geringstintegrierte Landesteil Nordrhein-Westfalens, so durchziehen ihn auch heute noch die tiefsten politischen, wirtschaftlichen und kulturellen raumstrukturellen Binnengrenzen. Zwar diente die Bildung des Landschaftsverbandes Rheinland der Sicherung des (nord-) rheinischen Kulturerbes, doch war sein Verwaltungsgebiet allenfalls kognitive Grundlage für die Entstehung und Begrenzung eines Rheinlandverständnisses, ohne an ein tiefverwurzeltes, materiell bestimmtes Rheinlandbewusstsein anzuknüpfen. Ob des Plurals an Landschaften und Erfahrungshorizonten waren denn auch nach der Landesgründung nur vereinzelte gesamtrheinische Partialinteressen oder Klagen über eine vermeintliche Benachteiligung zu vernehmen. Zwar erfuhr die 1992 gegründete Rheinlandpartei infolge der
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Oberhausen, Mühlheim, Bottrop, Essen, Gelsenkirchen, Herne, Bochum und Hagen sowie in den Landkreisen Wesel, Ennepe-Ruhr-Kreis, Märkischer Kreis, Hochsauerlandkreis und Olpe ein; das Medienhaus Lensing nimmt die Spitzenposition in Dortmund sowie eine starke Stellung im Münsterland ein; die Arbeitsgemeinschaft westfälischer Tageszeitungen monopolisiert weitgehend die Stadt Hamm, und die Landkreise Soest und Unna, hat dazu eine starke Stellung im Märkischen Kreis; die Zeitungsgruppe Münsterland dominiert Münster und die Landkreise Borken, Coesfeld und Warendorf und verfügt über eine starke Stellung im Landkreis Steinfurt; die Zeitung Die Glocke dominiert den Landkreis Gütersloh und verfügt über starke Anteile im Landkreis Warendorf; die Zeitungsgruppe Neue Westfälische ist in Bielefeld und den Landkreisen Minden-Lübbecke und Lippe an Nummer 1; das Westfalen-Blatt ist in den Landkreise Herford Paderborn und Höxter an erster Position. Vgl. zu den marktdominierenden Positionen nach Städten und Landkreisen die ZMG (Zeitungs Marketing Gesellschaft)-Fortschreibung der IVW-Verbreitungsanalyse 2010/11, insb. S. 148-246, einsehbar unter http://www.die-zeitungen.de/planen-buchen/verbreitungsanalyse.html (10.3.2011). Vgl. ebenso Feser, Andreas: Vermögensmacht und Medieneinfluss – Parteieigene Unternehmen und die Chancengleichheit der Parteien, Berlin 2003, S. 204f. sowie Pätzold, Ulrich/Röper, Horst: Strukturanalyse lokaler Medien in NRW, in: dies./Volpers, Helmut (Hrsg.): Strukturen und Angebote lokaler Medien in NordrheinWestfalen, Opladen 2003, S. 15-146. Lokal- und Regionalausgaben der Bild erscheinen für die Räume Aachen, Köln/Bonn, Bergisches Land/Südwestfalen, Düsseldorf, Ruhr-West, Ruhr-Ost, Münsterland und Ostwestfalen; der Express erscheint mit eigenen Ausgaben für Bonn, Köln und Düsseldorf.
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Verlagerung des Regierungs- und Parlamentssitzes nach Berlin in den 1990er Jahren temporären Auftrieb, war aber weniger an einer rheinischen Eigenständigkeit als an der Erhaltung des Bonner Regierungssitzes interessiert.1319 Dagegen schäl(t)en sich aus dem Rheinland vier Regionen heraus, die in den letzten Jahren an Profil und Identität gewannen. G.VI.2.1.1. Aachener Land Zahlreiche institutionelle Verflechtungen machen das um die Landkreise Düren, Euskirchen und Heinsberg erweiterte Aachener Land zu der weitestintegrierten rheinischen Subregion. Es ist die räumliche Organisationsvorlage für Parteiverbände von CDU und FDP, eine ZIN-Strukturregion, einen Industrie- und Handelskammerbezirk, eine Region des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), eine Marketingregion (Technologieregion Aachen), der EUREGIO Maas-Rhein, die EuRegionale 2008, eine Kultur- sowie – ohne Heinsberg – eine kommunale Tourismusregionen, die das Aachener Land nach innen zusammenbinden und nach außen profilieren. Die kulturlandschaftliche Selbstbestimmung der zu großen Teilen mit dem ehemaligen Herzogtum Jülich und dem preußischen Regierungsbezirk Aachen übereinstimmenden Region übernimmt der 1981 gegründete Verein REGIO Aachen, der sowohl die innerregionale als auch ihre grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit Belgien und den Niederlanden – er ist deutscher Teil der EUREGIO Maas-Rhein – fördert. Im Rahmen der Regionalen Kulturpolitik ist bei dem Verein das Kulturkoordinationsbüro angesiedelt, das mit der 1998 aus Gebietskörperschaften, Kulturschaffenden und Wirtschaftsvertretern gebildeten Kulturplattform1320 am regionalen Kulturleitbild – das insbesondere die transnationale, europäisch ausgerichtete Blickrichtung betont – arbeitet.1321 2001 übernahm die REGIO Aachen vom Land zusätzlich die Planung und Förderung der regionalen Strukturentwicklung, seit 2007 beraten Vertreter der regionalen Gebietskörperschaften, des LVR, der Kulturplattform sowie der Bezirks- und Landesregierung innerhalb des neuerschaffenen Fachausschusses Kultur Vorhaben und Perspektiven vor und steuern diese mit. Mediale Unterstützung erhält die Raumbildung durch das WDR-Regionalstudio Aachen sowie die Zeitungsgruppe Aachen. G.VI.2.1.2. Niederrhein Die um die Städte Krefeld und Mönchengladbach sowie die Landkreise Kleve, Wesel, Viersen und den Rhein-Kreis-Neuss gebildete Region Niederrhein ist raumstrukturell ver1319
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Vgl. Reker, Stefan: Viele Zwerge sind des Riesen Tod, in: Focus, H. 2 (1994), einsehbar unter http://www.focus.de/politik/deutschland/kampf-um-die-politische-mitte-viele-zwerge-sind-des-riesentod_aid_144734.html sowie Beyer, Günther: Vision: Das multikulturelle Omelett. Die „Rheinlandpartei“ sieht sich als Wahrerin guter regionaler Traditionen, in: Kölner Stadt Anzeiger (20./21.3.1993), einsehbar unter http://www.weltdemokratie.de/images/gebertz.jpg (10.2.2011). Vertreten sind hier die Industrie- und Handelskammer zu Aachen, die Handwerkskammer Aachen, die für den Aachener Grenzraum allgemein zuständigen Arbeitgeber- und Arbeitnehmer-Vereinigungen, die Europa-, Bundestags- und Landtagsabgeordneten der Region Aachen sowie die Mitglieder des Regionalrates. Vgl. Regionales Kulturleitbild Regio Aachen, einsehbar unter http://www.regioaachen.de/fileadmin/user_upload/Kultur/Downloads/Regionales_Kulturleitbild.pdf (10.2.1011).
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G. Nordrhein-Westfalen seit 1946
dichtet, allerdings nur teilintegriert.. Organisatorisch verankert ist sie in einem CDUBezirksverband, einer Kulturregion und einer um den Kreis Heinsberg bereicherten staatlichen Tourismusregion, doch ist sie gleichfalls häufig entlang der alten kleve-jülichschen Grenze sowie des nordniederfränkisch-südniederfränkischen Dialektraums zweigeteilt: Existier(t)en in seinem nördlichen Teil die ZIN-Region Niederrhein, die Industrie- und Handelskammerbezirke Duisburg-Wesel-Kleve zu Duisburg, die EUREGIO Rhein-Waal und eine DGB-Region, so im Süden die ZIN-Region Düsseldorf/Mittlerer Niederrhein, der IHKBezirk Mittlerer Niederrhein Krefeld-Mönchengladbach-Neuss, die EUREGIO Rhein-Maas-Nord, eine DGB-Region sowie die um Düsseldorf-Mettmann erweiterte REGIONALE Euroga 2002 plus. Die raumübergreifende Kulturregion Niederrhein schließt an die Vorarbeiten des 1992 gegründeten Vereins Kulturraum Niederrhein an, der neben den regionalen Gebietskörperschaften auch Wirtschaftsunternehmen und gesellschaftliche Organisationen umfasste; bei ihm wurde 1997 auch die Koordinationsstelle der Regionalen Kulturpolitik angesiedelt. In Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Regionalkultur1322 und der Kulturdezernentenkonferenz der Mitgliedsgebietskörperschaften entwickelte der Verein ein regionales Leitbild, in dessen Selbstverständnis der Rhein und die offene Landschaft diejenigen Faktoren sind, die den Charakter der Kulturregion bestimm(t)en, die Austauschprozesse ermöglich(t)en und die durch Landadel und Katholizismus geprägte Park- und Gartenlandschaft kulturell öffneten.1323 Begleitet wird diese Profilierung durch die Niederrhein Tourismus GmbH, das WDR-Studio Duisburg sowie die Rheinische Post der Region liefern einen öffentlichen Resonanzboden. G.VI.2.1.3. Bergisches Land Für das räumlich mit dem alten Herzogtum Berg zusammenfallende, die Städte Wuppertal, Remscheid und Solingen sowie den Kreis Mettmann, den Rheinisch-Bergischen Kreis und den Oberbergischen Kreis umfassende Bergische Land ist seine historisch nachvollziehbare kleinräumige Zersplitterung charakteristischer als die Gemeinsamkeiten. Zwar bilden es eine Kulturregion und ein staatlicher Tourismusverband raumstrukturell ab, doch überwiegt im Übrigen die innere Heterogenität. Das sprachräumlich dem Ripuarischen zuzurechnende südliche Bergische Land ist auch in seinen gesellschaftlichen Beziehungen primär auf den Köln-Bonner Raum ausgerichtet – in einer ZIN-Region, den IHKBezirken Köln und Bonn, der REGIONALE Brückenschläge, dem Verbreitungsgebiet der Zeitungsgruppe Köln und durch die Einbeziehung in die Region Köln/Bonn zur politischen und wirtschaftlichen Standortpflege sowie der Ausbildung eines regionalen Selbstverständnisses. Das nördliche Bergische Land um Mettmann ist hingegen stark auf das ebenfalls südniederfränkische Düsseldorf bezogen – in einer gemeinsamen kommunalen Tourismusregion, der ZIN-Region Düsseldorf/Mittlerer Niederrhein, dem IHK-Bezirk Düsseldorf oder mit dem gemeinsamen Organ Rheinische Post –, während die alten bergischen Vorderstädte Wuppertal, Remscheid und Solingen starke Sonderbindungen innerhalb der ZIN-Region 1322 1323
In diesem sind Kommunen und Kreise, Vertreter der Bezirksregierung Düsseldorf und der Staatskanzlei, des LVR sowie Kulturschaffende versammelt. Vgl. Kulturraum Niederrhein e.V. (Hrsg.): Kulturraum Niederrhein, Moers o.J. sowie http://www.kulturraum-niederrhein.de/Kulturraum/index.php (11.2.2011).
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Bergische Großstädte, der REGIONALE Spurwechsel, der kommunalen Tourismuszusammenarbeit oder der Standortkampagne kompetenzhoch3 aufweisen. Dennoch wurde das Bergische Land eine der Kulturregionen mit einer von Städten und Kreisen getragene Koordinierungs- und Anlaufstelle, die aktuell bei der Kreisverwaltung Mettmann sitzt. Ihr zur Seite steht ein aus den Kulturdezernenten und Amstleitern der Mitgliedsstädte und -kreise gebildeter Kulturbeirat, dem auch Vertreter der Bezirksregierungen Köln und Düsseldorf, der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei sowie regionale Kulturschaffender angehören, um ein gemeinsames Regionsprofil zu entwerfen;1324 unterstützt werden diese Selbstbestimmungsprozesse durch die Arbeit der Naturarena Bergisches Land Tourismus. Das Wuppertaler Regionalfenster des WDR-Hörfunks bildet den Raum medial ab, wohingegen die Zeitungsgruppe Köln und der Bonner General-Anzeiger auch in das südliche Bergische Land hineinreichen. G.VI.2.1.4. Rheinschiene/Rheinisches Städteband Die Rheinschiene, die das Städteband von Bonn über Köln, Leverkusen und Düsseldorf – das zum Teil hinzugerechnete Duisburg zählt an dieser Stelle zum Ruhrgebiet – mitsamt der Randgebiete der umliegenden Landkreise Mettmann, Rhein-Kreis Neuss, Rhein-Erftund Rhein-Sieg-Kreis umfasst, trat erstmals mit dem Landesentwicklungsplan von 1970 als hervorgehobene Entwicklungsachse des Landes ins Leben. Ihre Städte bilden das politische, wirtschaftliche und kulturelle Schwergewicht Nordrhein-Westfalens, entbehren jedoch aufgrund ihrer ausgeprägten Eigenprofile weitgehend der aufeinanderbezogenen raumstrukturellen Bindungen; vielmehr ist das Oberzentrum Düsseldorf Orientierungspunkt für den südlichen Niederrhein und den Kreis Mettmann, während Köln und Bonn Bezugsräume für das südliche Bergische Land bilden. Trotz des Wissens um die Schwierigkeit, ein gemeinsames Profil für die Rheinschiene zu entwerfen, wurde diese im Rahmen der Landesinitiative eine von zehn Kulturregionen. Dem Eigenwertigkeitsbewusstsein ihrer Vorderstädte folgend, trat die Einrichtung fester Organisationsstrukturen jedoch zugunsten projektorientierter Kooperationsformen zurück, um die einzelnen Stärken nur situativ zu bündeln. Die Kulturdezernenten der großen Anliegerstädte verfolgten das Ziel, „durch Zusammenarbeit und gemeinsame Projekte der Region eine Identität (zu) verschaffen, die der inneren Vielfalt dennoch Raum belässt. Die Traditionen der rheinischen Städte sollen gewahrt, ihre kulturellen Profile einzeln wie gemeinsam aber besser nach außen kommuniziert werden.“1325 Ihr Ansinnen, „ein selbstbewusstes Wir-Gefühl im RheinKulturLand“ zu entwickeln, behindern jedoch überkommene Rivalitäten,1326 wie auch der mediale regionale Resonanzboden mit den drei WDR-Lokalfenstern für Bonn, Köln und Düsseldorf sowie
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Vgl. Ministerium für Arbeit, Soziales und Stadtentwicklung, Kultur und Sport (Hrsg.): Auf dem Weg der Regionalen Kulturpolitik in der Region Bergisches Land, Düsseldorf 1998 sowie http://www.kulturserver-bergischesland.de/ (11.2.2011). Vgl. die Ausführungen der in der rhein land ag vereinten Kulturdezernenten Bonns, Kölns, Düsseldorfs und Duisburgs unter http://www.rheinland-ag.de/start.htm (10.2.2011). Ihre Geschäftsstelle ist beim Kulturdezernat der Stadt Köln angesiedelt. Vgl. Engelbrecht, Jörg: „Rheinschiene“ versus „Ruhrgebiet“ – Aspekte einer wechselvollen Beziehung im 19. und 20. Jahrhundert, in: Ditt/Tenfelde, Das Ruhrgebiet in Rheinland und Westfalen, S. 353-362, hier: S. 353, 362.
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den Zeitungsregionen des Bonner General Anzeigers, der Zeitungsgruppe Köln und der Rheinischen Post deutlich zersplittert ist. G.VI.2.2. Westfalen Gegenüber der rheinischen Durchgangslandschaft existierte bereits im Alten Reich ein zwar unbestimmtes, doch historisch nachvollziehbares Westfalenbewusstsein, das sich auch nach der Landesgründung unregelmäßig äußerte. Wehrten sich verschiedene Initiativen zunächst stärker gegen diese, versuchten sie in der Folge, entweder das Westfälische innerhalb Nordrhein-Westfalens zu stärken, oder verfolgten „mehr oder weniger ernst gemeinte Sezessionsüberlegungen.“1327 Institutionen wie der 1952 gegründete Westfalenkreis für öffentliche Angelegenheiten verstanden sich als Sprachrohr westfälischer Interessen gegenüber dem Rheinland,1328 wie auch die maßgeblich aus Westfalen betriebene Wiedererrichtung provinzieller Selbstverwaltungsorgane dem Gedanken folgte, die – mehr behauptete als nachgewiesene – eigene Identität durch ein institutionelles Gegengewicht gegenüber einer vermeintlichen rheinischen Dominanz zu wahren; nicht zuletzt die in diesem Landesteil deutlicher vernehmbaren politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Widerstände gegen eine mögliche Verwaltungsreform artikulier(t)en ein mobilisierbares, latent vorhandenes Westfalenbewusstsein und setz(t)en sich zur Wehr gegen die Sorge, innerhalb einer Dreiteilung gegenüber den anderen Landesteilen zu einem abgehängten Restfalen herabzusinken.1329 Landschaftsverband Westfalen-Lippe und Westfälischer Heimatbund beton(t)en die Klammerfunktion des LWL und seine Bedeutung für die Wahrung des westfälischen Selbstverständnisses gegenüber dem aus dem Rheinland regierten Land1330 und
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Oebbecke, Janbernd: Integration durch Dezentralisation - Staatliche Einheit und regionale Identität in NRW, in: Teppe, Karl/Thamer, Hans Ulrich (Hrsg.): 50 Jahre Nordrhein-Westfalen - Land im Wandel, Münster 1997, S. 59-78, hier: S. 77. So etwa in Publikationen wie dem bis 1968 veröffentlichten Westfalen-Dienst. Vgl. hierzu Theo Breider – ein Sauerländer und Westfale, in: Sauerland. Zeitschrift des Sauerländer Heimatbundes 1 (1996), S. 9-11, hier: S. 10. Bereits das Rietdorf-Gutachten von 1968, das die Dreiteilung des Landes in die Regierungsbezirke Rheinland, Ruhrgebiet und Westfalen vorsah, wurde in Westfalen als „lebensbedrohende Amputation“ empfunden, mit der Westfalen zu einem „Urlaubsland“ herabsinke. So Manfred von Scheven in der Westfälischen Rundschau vom 27.4.1968) bzw. Bernd Kötting in den Westfälischen Nachrichten (WN) vom 30.4.1968, zitiert nach Scharte, Westfalenbilder und Westfalenbewusstsein, S. 73. Die Pläne Wolfgang Clements zur Abschaffung der Landschaftsverbände beförderten im CDU-Landesverband Pläne, Westfalen-Lippe zu einem eigenen Bundesland zu machen, vgl. die Ausführungen Ernst-Wilhelm Papes im Westfalen-Blatt vom 28.1.1999) Erhard Obermeyer brandmarkte in den WN vom 22.1.1999 den „rheinischen Zentralismus“, für den Westfalen nur noch eine grüne Spielwiese werde, ebd., S. 80, 84. Die im Koalitionsvertrag von CDU und FDP vereinbarte Verwaltungsreform, die die Abschaffung der Landschaftsverbände zugunsten der drei genannten Regionalverbände vorsah, schürte ebenso die „Angst vor Restfalen“, so Reiner Burger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 21.12.2009, S. 10, wurde aber auch mit Bezug auf den Abzug öffentlicher Institutionen aus Westfalen in der Münsterschen Zeitung vom 13.11.2009 vom Münsterländischen DGB-Verband betont. Vgl. hierzu http://www.muensterschezeitung.de/lokales/muenster/Kritik-am-Fortzug-Westfalen-darf-nicht-zuRestfalen-werden;art993,730791 (12.2.2011). So die durch den Westfälischen Heimatbund herausgegebene Zeitschrift Heimatpflege in Westfalen 12,2 (1999), zitiert nach Scharte, Westfalenbilder und Westfalenbewusstsein, S. 78.
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erhielten hierin Unterstützung durch die 1998 gegründete Westfalen-Initiative, die „Westfalen als Region nach innen und außen bekannter machen und die Identität Westfalens stärken“ will.1331 Klagen ob einer – mehr reklamierten denn nachgewiesenen – Benachteiligung Westfalens gegenüber dem Rheinland sind ebenso geschichtlich nachvollziehbarer Grundzug und ihrerseits Bestandteil des Westfalenbewusstseins. Vorwürfe richten sich auf die Zentrierung der politischen Leitungszentren im Rheinland, die nach Westfalen hineinwirken und es zu einem abhängigen Anhängsel machen, die infrastrukturelle Benachteiligung gegenüber dem in seinen guten wirtschaftlichen Kennziffern ohnehin führenden Landesteil wie auch die Behauptungen, der Hauptanteil der Landeskulturförderung sei für das Rheinland reserviert und die mediale Berichterstattung konzentriere sich auf dieses.1332 Unregelmäßig formieren sich Proteste gegen diese vermeintliche Zurückstellung und propagieren – wie die 1991 um die Unternehmer August Oetker und Martin Nixdorf gebildete Los-vonDüsseldorf-Bewegung – das Ziel eines unabhängigen Bundeslandes Westfalen;1333 die Einrichtung des EU-Ausschusses der Regionen 1992 und die – bereits zitierte – Heineken-Studie aus demselben Jahr, die Westfalen – genauso wie das Rheinland – als eine von 75 europäischen Selbstverwaltungsregionen vorschlug, beförderten den Anspruch, eine eigenständige Europaregion zu bilden. Nicht zuletzt die 2009 gegründete Westfalen-Partei artikuliert regional-separatistisches Gedankengut und tritt für die stärkere Berücksichtigung westfälischer Interessen innerhalb des Bundeslandes ein. Die Landespolitik bemüht sich zwar, den Bewegungen rhetorisch den Wind aus den Segeln zu nehmen,1334 ohne jedoch sämtliche Punkte vollauf entkräften zu können: Unbestreitbar ist, dass die wichtigsten Landesinstitutionen im rheinischen Landesteil angesiedelt sind; Düsseldorf ist Landeshauptstadt und das politische Zentrum Nordrhein-Westfalens, wobei fraglich ist, ob dies dem Rheinland tatsächlich Vorteile beschert. In wirtschaftlicher und infrastruktureller Hinsicht existieren Großflughäfen in Köln/Bonn und Düsseldorf, in Westfalen hingegen keiner; dieses liegt in ökonomischen Kennziffern hinter dem Rheinland und lediglich an der Peripherie der wachstumsstarken transeuropäischen Blauen
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Westfalen-Initiative: Die Westfalen-Initiative. Westfälische Identität schärfen, Eigeninitiative stärken, einsehbar unter http://www.stiftung-westfalen-initiative.de/13.0.html 2.2. (7.2.2011). Vgl. zu den Vorwürfen Schäfer, Landschaftsverband, in: Westfälischer Heimatbund, Region mit Zukunft, S. 10; Hoffschulte, Heinrich: Westfalen als europäische Region. Ein Beitrag zur Rolle Westfalens im Wettbewerb der Regionen in der Europäischen Union, in: Ebd., S. 11-28, hier: S. 23f.. Vgl. auch die Sorge des WHBs, „Westfalen darf in Nordrhein-Westfalen nicht das Fernsehhinterland der Rheinschiene werden“, geäußert in: Heimatpflege in Westfalen 8,2 (1995), S. 12-13, hier: S. 12. Vgl. Hitze, Guido: Verlorene Jahre? Die nordrhein-westfälische CDU in der Opposition 1975-1995, Bd. 3: 1990-1995, Düsseldorf 2010, S. 65. Neben den Vorwürfen der Westfalen-Partei, der nordrheinische Landesteil sei mit Düsseldorf als Landeshauptstadt, den Großflughäfen Köln/Bonn und Düsseldorf oder bei der Verteilung der öffentlichen Mittel stets bevorteilt, musste etwa der ehemalige Arbeitsminister und Vorsitzende der CDUMünsterland, Karl-Josef Laumann, dem Vorwurf einer westfälischen Benachteiligung im Hinblick auf die Verteilung der Landesmittel ebenso entgegentreten wie die aktuelle Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) als Gast der Stiftung Westfalen-Initiative die Tagungsfrage Westfalen – Stiefkind oder Stärke in NRW (bereits der Titel ist aussagekräftig) kontern musste. Vgl. zu den anhaltenden Rechtfertigungen Polke, Frank: „Westfalen ist nicht benachteiligt“. NRW-Arbeitsminister Laumann verteidigt Verteilung der Landesmittel, in: Westfälische Nachrichten (29.12.2009), S. 1 sowie Ries, Elmar: Hannelore Kraft singst Loblied mit Charme, in: Westfälische Nachrichten, einsehbar unter http://www.westfaelischenachrichten.de/aktuelles/nrw/1494350_Hannelore_Kraft_singt_Loblied_mit_Charme.html (11.2.2011).
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Banane.1335 Die – historisch bedingte – dichtere rheinische Kulturlandschaft bringt in absoluten Zahlen durchaus eine höhere Landesmittelzuweisung mit sich, wenngleich sich die Pro-Kopf-Förderung seit 2005 allmählich zugunsten Westfalens verschob.1336 Anstatt positiv zu integrieren, entspringt das von unterschiedlichen Interessenträgern behauptete Westfalenbewusstsein jedoch in erster Linie negativer Abgrenzung gegenüber einem monolithisch gegenübergestellten Rheinland. Bei innerwestfälischen Differenzen spielt Westfalen als Identifikationsobjekt eine weit geringere Rolle als die in ihm zusammengeschlossenen Subregionen,1337 Struktur- und Kulturpolitik regionalisieren die Lebenswelten und schwächen ein ohnehin mehr postuliertes denn reales Westfalenbewusstsein. Proteste gegen die Abschaffung des in seiner Alltagsrelevanz relativ unbedeutenden LWLs speisen sich eher aus der Furcht um Arbeitsplatzverluste als aus intrinsischem Westfalentum; an die Stelle der Pflege der westfälischen Kultur trat in der Nachkriegszeit die Pflege der Kulturen in Westfalen, deren größte Gemeinsamkeit anscheinend aus der Absetzung vom Rheinland besteht. Verweise auf die gemeinsame niederdeutsche Sprache und Kultur wirken bemüht, um die heutige Zusammengehörigkeit Westfalens zu behaupten,1338 wie sich auch in den binnenwestfälischen Divergenzen über den Erhalt des LWLs die tatsächlichen landschaftlichen Bindungen äußern.1339 G.VI.2.2.1. Münsterland Das aus der Stadt Münster und den Landkreisen Borken, Coesfeld, Steinfurt, Warendorf sowie dem nördlichen Teil des Kreises Recklinghausen gebildete Münsterland ist die wei1335
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Der französische Geograph Roger Brunet entwickelte das Konzept 1989 und sprach von einer transeuropäischen Agglomerationszone mit Wachstumsdynamik, die von Manchester bis nach Bologna bogenförmig über Europa verlaufe. Vgl. hierzu neuerdings ders.: Lignes de force de l’espace européen, in: Mappemonde 66 (2002.2), einsehbar unter http://www.mgm.fr/PUB/Mappemonde/M202/Brunet.pdf, S. 14ff. (12.2.2011). Vgl. zu den Kennziffern das Regionalranking der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) 2009, das das Bruttoinlandsprodukt der nordrhein-westfälischen Städte und Landkreise vergleicht. Von den ersten zehn Städten oder Kreisen gehören sieben administrativ dem Rheinland an, einsehbar unter http://www.insm-regionalranking.de/2009_bl_nordrhein-westfalen_i_bip-je-einwohner.html (10.2.2011). Vgl. Kulturbericht Nordrhein-Westfalen, Landeskulturförderung 2006/07, S. 2, 15. Eine Untersuchung aus dem Jahre 2002 zeigt, dass Westfalen als Objekt eigener Selbstverortung hinter dem Wohnort, der Bundesrepublik, der Teilregion und Nordrhein-Westfalen nur an fünfter Stelle liegt, die Münsteraner fühlen sich deutlich stärker mit Westfalen verbunden fühlen als Dortmunder oder Bielfelder. Vgl. Meffert, Heribert/Ebert, Christian (Hrsg.): Marke Westfalen. Grundlagen des identitätsorientierten Regionenmarketing und Ergebnisse einer empirischen Untersuchung, Ibbenbüren 2003, S. 45. So titelte Dieter Harhues: Wi willt us nich unnerkriegen laoten van düt Volk ut Düsselduorp. Gaoh mi doch wegg met düsse Rhienlänner: Mönster bliff Mönster un Westfaolen bliff Westfaolen, in: Westfälische Nachrichten (23.1.1999), zitiert nach Scharte, Westfalenbilder und Westfalenbewusstsein, S. 103. Dass der Verweis auf die niederdeutsche Sprache als Gemeinsamkeit nicht prominenter in den Vordergrund gerückt wurde, um die Einheit Westfalens zu behaupten, lag wohl an der innerwestfälischen Vielfalt an niederdeutschen Sprachformen. Zwar gehören sie alle dem Westfälischen an, sind in sich jedoch durchaus heterogen und keineswegs als einheitlicher Sprachraum zu sehen. Während die im evangelischen Nordosten erscheinende, SPD-nahe Neue Westfälische sich vor allem um die Region OWL bemühte, trat die im katholischen Südosten publizierte, CDU-nahe Westfalenpost für Gesamtwestfalen ein. Die im Münsterland erscheinenden, CDU-nahen Westfälischen Nachrichten sahen den Landesteil mit dem Landschaftsverband „in der Existenz bedroht“, da das Rheinland Land, Politik und Kultur präge; die Münstersche Zeitung glaubte, „Westfalens Identität soll zerstört werden“. Vgl. Scharte, Westfalenbilder und Westfalenbewusstsein, S. 85ff.
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testintegrierte und -etablierte Kulturregion in NRW. Sie stimmt in hohem Maße mit dem alten Fürstbistum Münster überein und umfasst eine weitgehend homogen geprägte Landschaft mit mannigfachen raumstrukturellen Bindungen wie dem historisch überlieferten Regierungsbezirk, staatlichen und kommunalen Tourismusverbänden, der ZIN-Region Münsterland, Bezirksverbänden von CDU und FDP, einer DGB-Region, der EUREGIO, der Marketingagentur Münsterland e.V., einem WDR-Regionalstudio sowie größtenteils der Zeitungsgruppe Münsterland. Das 1997 im Zuge der Regionalen Kulturpolitik eingerichtete Koordinationsbüro baute auf den Strukturen der seit 1990 um die regionale Identifikationsförderung bemühten Aktion Münsterland auf;1340 diese fusionierte 2009 mit der Münsterland Touristik zum Münsterland e. V., bei dem Kulturbüro und -rat seither angesiedelt sind.1341 Allesamt fördern sie Skulpturenprojekte oder Biennalen, die der regionalen Eigenprofilierung und Identitätsbildung innerhalb des selbstgezogenen Rahmens aus Natur und Tradition, Parklandschaft und Schlössern dienen1342 und die Erfahrbarkeit des Münsterlandes und seiner Traditionslinien auf den zahlreichen Radwegen ermöglichen.1343 Infolge etablierter landschaftlicher Beziehungen, des verhältnismäßig scharf gezeichneten Profils und der eingeübten Zusammenarbeit profitierte die Kulturregion zum einen überproportional von Fördermitteln,1344 doch kam von hier gerade auch aufgrund dieser starken Selbstbezüglichkeit die schärfste Kritik an dem Landesprogramm. Im Münsterland, das als ländliche Pferderegion mit Spezialitäten wie Schinken und Pumpernickel das Außenbild Westfalens stark bestimmt,1345 erscheint die Verbundenheit mit dem Landesteil bis heute am stärksten zu sein; nachvollziehbar macht die Anti-Haltung zudem die enge personelle Verbundenheit Münsterländer Institutionen mit den in Münster sitzenden LWL und WHB, die für sich in Anspruch nehmen, „die regionale Kulturpolitik für Westfalen“ zu betreiben.1346 G.VI.2.2.2. Ostwestfalen-Lippe Trotz historischer Zersplitterung gehört Ostwestfalen-Lippe (OWL), dieses „Produkt ökonomischer, staatspolitischer und persönlicher Interessen“,1347 zu den raumstrukturell weitestintegrier1340 1341
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Vgl. Münsterland e.V.: Über uns, einsehbar unter http://www.muensterland.com/wir.php (14.2.2011). In diesem sind zwei Vertreter des Regionalrats, die Leiter der Kulturabteilungen der vier Kreise sowie der Stadt Münster und des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, zwei Vertreter der regionalen Bürgermeisterkonferenz, Kulturschaffende sowie Vertreter aus Wirtschaft und Tourismus zusammengeschlossen. Vgl. Münsterland e.V.: zweitausendeins ff. Leitbild für die Regionale Kulturpolitik im Münsterland, einsehbar unter http://www.muensterland-kultur.de/232237/zweitausendelf_ff.pdf, S. 2 (15.2.2011). „Die Aufgaben des Vereins liegen vorrangig im Ausbau der Imagebildung des Münsterlandes als exzellenter Standort für Tourismus, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur sowie in der Förderung der Identifikation der hier lebenden Menschen mit ihrer Region.“ An diesem Ziel arbeiten etwa die Industrie- und Handelskammer Nord Westfalen, die Handwerkskammer Münster und der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband Westfalen e.V. mit. Vgl. http://www.muensterland.com/wir.php (15.2.2011). Vgl. Aktion Münsterland e.V./Kulturbüro Münsterland: 10 Jahre Regionale Kulturpolitik Münsterland. 10 Jahre Kulturbüro Münsterland, Münster 2007, S. 1. Vgl. Meffert/Ebert, Marke Westfalen, S. 20. So der damalige LWL-Kulturdezernent Friedrich Nolte in einem Radiobeitrag für die WDR 5-Sendung Westblick, zitiert nach: Brönstrup, Petra: Kreativität für den Papierkorb? Regionale Kulturpolitik: Konzepte und Kritiker, in: Westfalenspiegel 47,2 (1998), S. 6-7, hier: S. 7. Baumeier, Stefan: Zur Konstruktion einer Region/Kulturregion. Beobachtungen aus OWL, in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 44 (1999), S. 215-227, hier: S. 226.
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G. Nordrhein-Westfalen seit 1946
testen Regionen Nordrhein-Westfalens. Das mit dem Regierungsbezirk Detmold deckungsgleiche OWL ist Paradebeispiel für Regionsbildungsprozesse in und gegen Nordrhein-Westfalen durch zukunftsgerichtete Zusammenarbeit und aufgrund geteilter Interessen regionaler Akteure. OWL ist Organisationsgrundlage einer Kulturregion, einer staatlichen Tourismusregion, einer ZIN-Region, für die Bezirksverbände von CDU, SPD, FDP und Grünen, der REGIONALE 2000/EXPO-Initiative OWL sowie der Marketinginitiative OstWestfalenLippe, wenngleich unterschiedliche landschaftliche Prägepfade weiterhin in der Sonderrolle Lippes zum Ausdruck kommen, das etwa mit einer eigenen Industrie- und Handelskammer oder der Lippe Tourismus und Marketing AG aus der Region heraussticht. Das OWL-Kulturbüro ist seit 2006 bei der 1992 auf Initiative der beiden IHKs Ostwestfalen und Lippe gegründeten OstWestfalenLippe Marketing angesiedelt. Gemeinsam mit dem aus Vertretern regionaler Unternehmen und den Gebietskörperschaften gebildeten Fachbeirat Kultur sowie der unter dem gemeinsamen Dach beheimateten Teutoburger Wald Tourismus unterstützt diese die wirtschaftliche Zusammenarbeit und touristische Profilierung der Region und erarbeitet Leitbilder für die kulturelle Kooperation; OWL positioniert sich in der Folge als vielfältige Natur- und Gesundheitsregion, die innerhalb Nordrhein-Westfalens „ganz oben“ ist.1348 Dennoch äußerten auch hiesige Akteure Kritik an der Regionalen Kulturpolitik mit ihrer kulturell determinierte(n) Regionalisierung“, die das Land als „Transmissionsriemen für zentraldirigistische Ziele“ missbrauche.1349 Trotz aller funktionalistisch begründeten Kooperation können auch in OWL hergebrachte Binnendivergenzen nicht vollauf übergangen werden; zwar bildet das Bielefelder Lokalfenster des WDR die Kulturregion medial ab, doch verweisen dessen Außenstellen in Detmold und Paderborn ebenso auf die landschaftliche Heterogenität wie die im Norden verbreitete Zeitungsgruppe Neue Westfälische und das im Süden meistgelesene Westfalen-Blatt. Radio Lippe oder die – zur Zeitungsgruppe Neue Westfälische gehörende – Lippische Landes-Zeitung erweitern den Pluralismus an Teilöffentlichkeiten. G.VI.2.2.3. Südwestfalen Südwestfalen ist die jüngste der innerwestfälischen Subregionalisierungen und raumstrukturell zunehmend aufeinander bezogene Einheit, bleibt jedoch zugleich Rahmen der divergenten Glieder Sauerland, Hellweg und Südwestfalen, die allesamt vorerst noch auf – mal enger, mal weiter gefassten – dichteren landschaftlichen Traditionslinien oder Kooperationsformen aufsetzen. Die den Kreisen Olpe und Hochsauerlandkreis sowie Randgebieten des Märkischen Kreises und des Kreises Soest entsprechende Region Sauerland baut auf älteren politischen und kulturellen Grundlagen auf und umfasst nahezu das Territorium des alten Herzogtums Westfalen. Trotz schwacher raumstruktureller Bindungen – Tourismus- oder Wirtschaftsverbände greifen entweder in das Märkische Sauerland, nach Südwestfalen oder in 1348
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Vgl. OstWestfalenLippe: Informationen zur Region, einsehbar unter http://www.ostwestfalenlippe.de/owl/index.php?navanchor=1010056 sowie OstWestfalenLippe Marketing GMbH. Kulturbüro, einsehbar unter http://www.owl-kulturbuero.de/ (15.2.2011). „Ganz oben“ meint sowohl in wirtschaftlicher Hinsicht, aber auch mit Blick auf Bildung oder Lebensqualität. So der damalige Leiter des Westfälischen Freilichtmuseums Detmold, Stefan Baumeier. Vgl. ders: Zur Konstruktion einer Region/Kulturregion. Beobachtungen aus OWL, in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 44 (1999), S. 215-227, hier: S. 224f.
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den Kreis Soest aus – bestehen zumindest naturräumliche und landschaftliche Voraussetzungen für die Eigenprofilierung, auf denen aufbauend die Kulturregion Sauerland das Leitbild der wandernden Erschließung und Aneignung der bergig-bewaldeten Gegend und ihrer gemeinsame Geschichte entwarf.1350 Unterstützung erfährt die Profilarbeit des bei der Stadt Meschede angesiedelten Koordinationsbüros durch den 2000 gegründeten, maßgeblich aus Gewerbevertretern und Kulturvereinen des Hochsauerlandkreises besetzten Verein Sauerland Initiativ, über den regionale Honoratioren aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft die Region als Wirtschafts- und Bildungsstandort stärken und das oben genannte Selbstbild in der Öffentlichkeit bekannt machen wollen.1351 Eine die Region ausleuchtende Medienlandschaft besteht hingegen nicht: Während der WDR aus Siegen auch für das Sauerland berichtet, reicht die Berichterstattung der WAZ-Mediengruppe aus dem Ruhrgebiet auch in das Sauerland hinein. Sauerländische Kritik an der Regionalen Kulturpolitik konzentrierte sich auf den Streitpunkt Olpe; der Kreis wurde schließlich sowohl den Kulturregionen Sauerland als auch der – die Landkreise Märkischer Kreis, Olpe und Siegen-Wittgenstein, die Stadt Hagen sowie den 2007 aus der Zusammenarbeit ausgeschiedenen Ennepe-Ruhr-Kreis umfassenden – Kulturregion Südwestfalen zugeordnet,1352 die quer zu zahlreichen Landschaftsbindungen verläuft und eindeutiger raumstruktureller Bindungen entbehrt. Während Hagen, der Ennepe-Ruhr- und der Märkische Kreis – hier zeigen sich wirtschafthistorisch verständliche Bindungen wie die ZIN-Region Hagen, die Südwestfälische IHK zu Hagen oder eine DGB-Region – auf das Ruhrgebiet ausgerichtet sind, bestehen enge wirtschaftliche, doch kulturell nur bedingte Verflechtungen zwischen den Kreisen Olpe und SiegenWittgenstein – so existier(t)en eine gemeinsame ZIN-Region und ein IHK-Bezirk Siegen oder eine eigene DGB-Region, während sich kommunale Tourismusverbände, Marketingagenturen oder Zeitungsregion für die Teilräume voneinander abheben. Das Kulturamt des Märkischen Kreises beherbergt das von Kreisen, Städten und Gemeinden getragene gemeinsame südwestfälische Kulturbüro, das für die regionale Profilarbeit die topographisch-wirtschaftlichen Gemeinsamkeiten und Entwicklungslinien sowie die Auseinandersetzung des Menschen mit Naturressourcen und Technik herausstellt; Kunstprojekte führen historische Netzwerke der Eisen- und Metallgewerbe vor Augen, um den Raumbildungsprozess anzustoßen,1353 der auch vom Siegener WDR-Studio unterstützt wird. 1350 1351 1352
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Vgl. Kulturbüro Sauerland: Profile/Schwerpunkte, einsehbar unter http://www.kulturbuero.hochsauerlandkreis.de/index.php?id=7 (15.2.2011). Vgl. Sauerland Initiativ: Die Initiative, einsehbar unter http://www.sauerlandinitiativ.de/cgisys/Sauerland_AS/frontend/deutsch/index.html (15.2.2011). Ursprünglich war vorgesehen, den Kreis Olpe der Kulturregion Südwestfalen zuzuordnen, jedoch nach Protesten aus dem Sauerland und Verweisen auf die alte kurkölnische Vergangenheit jener Kompromiss gefunden wurde. Vgl. Müllmann, Kulturregion, ebd., hier: S. 127f. Vgl. auch die Resolution Karl Falks Vi wellt Kurkölsk bliwen in: Sauerland 2 (1998), S. 68, einsehbar unter http://www.sauerlaenderheimatbund.de /Sauerland_1998_2.pdf (2.2.2011). Vgl. Kulturregion Südwestfalen: Kulturprofil für die Region, einsehbar unter http://www.kulturregionswf.de/index_2.html (15.2.2011). Ulrich Heinemann vertritt den Standpunkt, dass kölnische, märkische und siegerländische Südwestfalen aufgrund geteilter geographischer Lebensgrundlagen eine ähnliche Mentalität entwickelt hätten. Die schwierigen naturräumlichen Verhältnisse machten die effiziente und kreative Nutzung der Ressourcen notwendig. Trotz der Durchziehung Südwestfalens durch die Heidenstraße, den mittelalterlichen Heer- und Handelsweg von Köln nach Leipzig, der Handel und kulturelle Berührung ins ansonsten her unzugängliche Sauerland brachte, war die Region eine abgelegene, unterentwickelte Ge-
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Die Bildung der Kulturregion Hellweg war mehr Verlegenheitslösung denn innere Notwendigkeit; die wichtigste Gemeinsamkeit des aus den Kreisen Soest und Unna, der Stadt Hamm sowie den münsterländischen Städten Ahlen, Beckum und Drensteinfurt gebildeten Raumes war, nicht anderen Regionen zugeordnet worden zu sein. Aufbauend auf dem alten Heer- und Handelsweg, positionierte sich die Kulturregion mit Projekten wie der Kulturstraße Hellweg oder Lichtinstallationen als Durchzugsgebiet, dem es an gewachsener Einheit gebricht;1354 raumstrukturell zerfällt die Kulturregion denn auch in zahlreiche Verbandsstrukturen, wobei die inneren Bande Soests mit dem Sauerland und Südwestfalen überwiegen, während Hamm und Unna sich eher dem Ruhrgebiet zuwenden und die Orte des Kreises Warendorf primär in das Münsterland integriert sind. Das 1997 bei der Stadt Hamm eingerichtete Kulturbüro koordiniert die Zusammenarbeit gemeinsam mit dem aus Vertretern der Kreise und Städte sowie von Kulturschaffenden gebildeten Projektrat und konnte hierbei auf dem seit 1993 bestehenden Arbeitskreis regionaler Kulturverwaltungsträger aufsetzen. Dem Hellweg fehlt eine gemeinsame touristische Außendarstellung genauso wie ein eigenes WDR-Regionalstudio, jedoch liefert der Westfälische Anzeiger aus Hamm den integrierenden Mantelteil für weitere Regionalzeitungen. Auf der Basis gemeinsamer Interessen gründete sich 2007 die die zahlreichen Einzelinitiativen übergreifende Südwestfalen Agentur, die die Region als Lebens- und Wirtschaftsraum promovieren und ihr kulturelle Anstöße liefern will.1355 Sie richtet 2013 die REGIONALE Südwestfalen aus und erfährt bei der Herstellung einer gemeinsamen Teilöffentlichkeit Unterstützung durch das WDR-Regionalfenster Siegen, wenngleich für die Selbstverortung innerhalb der im Entstehungsprozess begriffenen Region allerdings nach wie vor teillandschaftliche Orientierungen überwiegen.1356 G.VI.2.3.Ruhrgebiet Seit dem Einsetzen der Strukturkrise Ende der 1950er Jahre verliert das Ruhrgebiet zunehmend sein „wirtschaftsstrukturelle(s) und verflechtungsmäßige(s) Fundament;…(der einstmals montanindustriell vermittelte Zusammenhalt A.W.) bröckelt oder wird zumindest durch gewisse Auflösungstendenzen geprägt.“1357 Rheinnahe Kommunen wie Duisburg orientieren sich zunehmend auf dessen wirtschaftsstarkes Städteband, während sich die alte Westfalenmetro-
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gend, die mit vierteljahrhundertlicher Verspätung elektrifiziert wurde. Aufgrund der klein- und mittelbetrieblichen Gewerbestruktur ging die Wirtschafts- und Strukturpolitik des Landes lange an der Region vorbei und erschwerte ihr den ebenso notwendigen Strukturwandel. Vgl. hierzu Heinemann, Ulrich: Flexible Spezialisierung und kultureller Eigensinn. Strukturwandel in Südwestfalen, in: Brautmeier et. al., Heimat Nordrhein-Westfalen, S. 277-296, hier: S. 282ff. Vgl. Kulturregion Hellweg: Kultur heute, einsehbar unter http://www.hellweg.org/main.html (14.2.2011). Vgl. Südwestfalen Agentur: Die jüngste Region Deutschlands. Südwestfalen macht sich auf den Weg, einsehbar unter http://www.suedwestfalen.com/hintergrundinformationen/suedwestfalen/die-juengsteregion-deutschlands.html (15.2.2011). Vgl. die Südwestfalen-Studie von 2007, S. 10, einsehbar unter http://www.kreissoest.de/politikwirtschaft/regionale/Allensbachstudie_Suedwestfalen.pdf (2.2.2011). Schrumpf, Heinz/Budde, Rüdiger/Urfei, Guido: Gibt es noch ein Ruhrgebiet?, in: Schriften und Materialien zur Regionalforschung 6 (2001), S. 88.
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pole Dortmund erneut seinem märkischen Hinterland zuwendet;1358 innerhalb einer maßgeblich infolge ökonomischer Homogenitätskriterien gebildeten Region verweist heute bereits die Existenz der vier Industrie- und Handelskammern Duisburg-Wesel-Kleve zu Duisburg, Essen-Mülheim-Oberhausen zu Essen, Mittleres Ruhrgebiet in Bochum und Dortmund – bei zu berücksichtigender Größe und Bevölkerungsdichte des Ruhrgebiets – auf die Erhaltung überliefert-zersplitterter raumstruktureller Bindungen. Den sektorellen Wandel begleiteten Strategien, Identität und Zusammengehörigkeitsbewusstsein des Ruhrgebiets zu stärken und hierüber zugleich endogene Wirtschaftspotentiale freizusetzen. Zur „Behebung der offenkundig gewordenen Strukturschwächen“ formulierten Landespolitiker wiederholt den Plan der Schaffung eines Regierungsbezirks Ruhr,1359 um die Entdeckung der Ruhrgebietslandschaft staatlicherseits anzustoßen und institutionell zu verfestigen, erreichten dieses Ziel aber genauso wenig wie die Zukunftsinitiative Montanregion oder die Internationale Bauausstellung Emscher Park. Zusammenschlüsse wie der 1981 gegründete Verein pro Ruhrgebiet oder der 1989 gegründete Initiativkreis Ruhr bemühen sich zwar um den Dialog von Wirtschaft, Wissenschaft und Städten, finanzieren Innovations- und Bildungsprojekte, zeichnen sozial engagierte Bürger aus und fördern Sport- und Kulturprogramme, um die Kräfte des Ruhrgebiets zu bündeln, sein Außenbild zu verbessern und die relationale Identifizierung der Menschen mit dem Ruhrgebiet zu ermöglichen,1360 sind aber in erster Linie auf die Verbesserung seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ausgerichtet. Eine anfängliche deutungskulturelle Ausleuchtung und Überformung des Ruhrgebiets befördert hingegen das seit den 1970ern wachsende Bewusstsein für die Bewahrung der Industriekultur.1361 Mithilfe der Erhaltung abrissgefährdeter Bauten, ihrer Umwidmung zu Kultureinrichtungen oder der Renaturierung industrieller Brachflächen gelang die Erfahrund Annehmbarmachung der Ruhrgebietslandschaft und die positive Umdeutung der eigenen Geschichte als Grundlage einer gemeinsamen Identität.1362 Die Landespolitik griff diese Anstrengungen um eine gemeinsame Erinnerungskultur auf und gründete 1995 gemeinsam mit der Ruhrkohle AG die Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur zur Sicherung, Bewahrung und Zugänglichmachung von vierzehn markanten Industriedenk-
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Vgl. zu den veränderten Raumbeziehungen Lagemann, Bernhard/Neumann, Uwe/Schmidt, Christoph M.: Einheitliche Regionalplanung für die Metropole Ruhr: ein Erfolgsmodell?, in: Raumforschung und Raumordnung 1 (2008), S. 63-75, hier: S. 66. Vgl. pars pro toto den Antrag der Fraktionen der CDU und FDP betreffend der Organisation der staatlichen Mittelinstanz vom 1. Februar 1965, einsehbar unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD05-656.pdf (16.12.2010). Vgl. hierzu: pro Ruhrgebiet, einsehbar unter http://www.proruhrgebiet.de/?seite=home (8.2.2011). In dem Verein sind derzeit etwa 350 regionale Unternehmer organisiert. Vgl. auch Initiativkreis Ruhr: Basispressemappe, einsehbar unter http://www.ir.de/downloads/pressemappe/IR%20Pressemappe.pdf (15.8.2011), S. 1ff. Im Initiativkreis sind derzeit etwa 70 Unternehmer organisiert. Vgl. Günter, Roland: Gelsenkirchen und sein unbekannter Held. Kultur ist nicht bloß das, wofür es Eintrittskarten gibt, in: Süddeutsche Zeitung (18.1.2010), S. 2. Neben traditionellen Kulturelementen geben etwa 3500 erhaltene oder umgewidmete Industriedenkmäler dem Kulturraum Ruhrgebiet ein Gesicht; hingewiesen sei auf den Landschaftspark Duisburg-Nord, die Ausstellungshalle Gasometer in Oberhausen, das Weltkulturerbe Zeche Zollverein und das Ruhr-Museum in Essen oder das Deutsche Bergbau-Museum in Bochum.
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mälern;1363 auch stellte sie die Industriekultur 1997 in den Mittelpunkt des Masterplans für Reisen ins Revier und erhielt in ihren Bemühungen zur Erfahrung des Montanerbes Unterstützung durch die 1998 gegründete Ruhr Tourismus GmbH und den von ihr getragenen RuhrtalRadweg entlang der Route der Industriekultur.1364 Zwischen beiden Anliegen, der Meisterung der Wirtschaftsprobleme und der Sinnüberwölbung des Ruhrgebiets, lagerte seine Erhebung zu einer eigenen Kulturregion. Kommunalverband Ruhr, pro Ruhrgebiet und IBA Emscherpark GmbH gründeten hierfür mit der Kultur Ruhr GmbH eine auf ihren Arbeiten aufsetzende feste Institution, die sich dem Leitbegriff des Industrieerbes verpflichtete.1365 Dieses war und ist verbindender Ausgangspunkt einer ruhrgebietsweiten Erinnerungskultur, seine Ausdeutung ersann, Stolz auf die einstige Leistungsfähigkeit zu vermitteln sowie hierüber Identität zu stiften. Nachdem die Kultur Ruhr GmbH ihr Tätigkeitsspektrum ab 2001 auf die Planung und Durchführung der Ruhrtriennale verlagerte, bemüht sich seither der RVR um Kulturförderung, Raumbewusstsein sowie die Innen- und Außendarstellung des Ruhrgebiets mit dem selbstgesteckten Ziel der Entwicklung der Metropole Ruhr.1366 Ähnlichen Leitideen folgte auch das europäische Kulturhauptstadtjahr. Unter dem Motto Wandel durch Kultur. Kultur durch Wandel erstrebte die Ruhr.2010 GmbH die Zurschaustellung des erfolgreichen Strukturwandels und die kreative Umnutzung des industriellen Erbes, ohne die Vergangenheit zu leugnen; die Verantwortlichen zeigten den Umbau einer Industrie- in eine Wissens- und Dienstleistungsregion auf und versprachen sich von dem parallelen Rückgriff auf die Sozialgeschichte des Industrieraums sowie der Einbeziehung der Bevölkerung in regionsübergreifende Kulturveranstaltungen die Stärkung eines Ruhrgebietsbewusstseins.1367 Zur Verstetigung des „System(s) an Netzwerken und städteübergreifende(r) Kooperationen, wie es in der Region nie zuvor existiert hat“,1368 entschloss sich der RVR vor dem Hintergrund der massiven Verschuldung der meisten Ruhrgebietsstädte zur Beibehaltung seiner Kulturfinanzierung über
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Die 14 Denkmale sind: Die Kokerei Hansa in Dortmund, die Kokerei Zollverein in Essen, die Zeche Consolidation in Gelsenkirchen, die Zechen Gneisenau und Fürst Hardenberg in Dortmund, die Zeche Pattberg in Moers, die Zeche Prosper in Bottrop, die Zeche Radbod in Hamm, die Zeche Sophia-Jacoba in Hückelhoven (Aachener Kohlerevier), die Zeche Schlägel & Eisen in Herten, die Zeche Sterkrade in Oberhausen, die Zeche Unser Fritz in Herne, die Zeche Zweckel in Gladbeck, und die Zeche Auguste Victoria in Marl und Haltern. Vgl. zur Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur http://www.industriedenkmal-stiftung.de/docs/index.php?lang=de (8.2.2011). Vgl. Ebert, Wolfgang: Strategien und Konzepte für eine nachhaltige Entwicklung des Tourismus zu Zielen der Industriekultur, in: Schwark, Jürgen (Hrsg.): Tourismus und Industriekultur. Vermarktung von Technik und Arbeit, Berlin 2004, S. 21-42, hier: S. 27. Vgl. Ministerpräsident des Landes NRW, Forum Regionale Kulturpolitik, S. 84ff. Vgl. metropoleruhr: Mythos. Menschen. Metropole, einsehbar unter http://www.metropoleruhr.de/metropole-ruhr.html (19.2.2011). Dem Ziel dienten Projekte wie die Local heroes, die Einbeziehung von 52 Ruhrgebietskommunen, die sich und ihre Besonderheiten für eine Woche prominent darstellen konnten, die Route der Wohnkultur oder das Stillleben auf dem Ruhrschnellweg A 40. Vgl. hierzu auch das Interview mit dem Geschäftsführer der Ruhr 2010 GmbH Fritz Pleitgen in: Süddeutsche Zeitung: Ruhr 2010 – Kulturhauptstadt Europas, Beilage (30.12.2010), S. 22. Kuhna, Martin: Das Momentum nutzen. Der Stolz der Bewohner auf die Kulturprojekte ist groß. Nun sind Anschlussprojekte gefragt, damit dieser Erfolg nicht verpufft, in: Ebd., S. 17.
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2010 hinaus1369 und übernahm Ende 2011 die Verantwortung für die zuvor von der Ruhr.2010 GmbH getragenen Projekte.1370 Das Ruhrgebiet ist auch infolge seiner Bedeutung für die Landesentwicklung und des Gewichts seiner sozioökonomischen Kennziffern eine raumstrukturell hochintegrierte Region, die über die genannten Vereinigungen hinaus in Bezirksverbänden von CDU, FDP und Grünen eine besondere organisatorische Zuwendung erhält. Dennoch ist die Konstruktion der Landschaft Ruhrgebiet – mit Blick auf Umfrageergebnisse, denen zufolge sich die Bevölkerung in erster Linie ihrer jeweiligen Stadt, jedoch erst an vierter Stelle dem Ruhrgebiet verbunden fühlt,1371 oder der weiterhin ungelösten Frage unterschiedlicher Straßenbahnspurbreiten – bislang nicht gelungen. Wirtschaftliche Friktionen unterstützen eher zentrifugale Tendenzen, als diese einzudämmen,1372 WDR-Studios in Duisburg, Essen und Dortmund konterkarieren die mediale Überwölbung des Ruhrgebiets durch die WAZ-Gruppe und transportieren gegeneinander abgegrenzte Informationswelten; fraglich ist deshalb auch, ob das Ruhrgebiet tatsächlich „kaum mehr ökonomisch, dafür aber mentalkulturell definiert werden kann.“1373 Bereits der Blick auf den historisch nachvollziehbaren Polyzentrismus des Raums stimmt skeptisch gegenüber dem Ansinnen, ein Regionalbewusstsein zu fördern und erinnert eher an ein kognitives Aufzeigen vergangenheitsorientierter Zusammenhänge, ohne zukunftsgerichtet Gemeinsamkeiten zu stiften.1374 Geographisch eng beieinander liegend, bedarf der Metropolengedanke mentaler Ausfüllung, alltäglicher Erfahrbarkeit und Bejahung des Gemeinsamen. Die kommunenübergreifende Nutzung des Ruhrgebiets als Arbeits- und Freizeitraum knüpft zwar relationale Beziehungen, ohne hierüber die Selbstverortung in einer Ruhrstadt oder ein Gemeinschaftsgefühl 1369
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Im Haushaltsjahr 2007/08 waren Duisburg, Essen, Krefeld, Oberhausen, Bottrop, Gelsenkirchen, Alpen/Voerde, Recklinghausen, Datteln, Gladbeck, Haltern, Herten, Oer-Erkenschwick, Waltrop, Hagen, Hamm, Hattingen, Herdecke, Schwelm, Wetter, Witten, Holzwickede, Lünen, Schwerte und Selm und somit 80% der Ruhrgebietskommunen überschuldet und mussten sich ihre Haushalte von den zuständigen Bezirksregierungen genehmigen lassen. Auch deshalb beschloss die RVRVerbandsversammlung am 13.12.2010 die Bereitstellung von bis zu 2,4 Millionen Euro für die künftige Organisation der Kulturmetrolople Ruhr. Vgl. den Kommunalfinanzbericht des Innenministeriums NRW vom September 2009, insb. S. 17, 75ff., einsehbar unter http://www.mik.nrw.de/fileadmin/user_upload/Redakteure/Dokumente/Themen_und_Aufgaben/Ko mmunales/21_kommunalfinanzbericht_2009.pdf (9.12.2011) sowie den RVR-Beschluss unter http://www.essen-fuer-das-ruhrgebiet.ruhr2010.de/aktuell/detailseite/article/wie-geht-es-weiter-mit-derruhr2010-gmbh.html?tx_ttnews[backPid]=631 (10.1.2011). Vgl. WDR.de: Was bleibt von der Kulturhauptstadt? Die Ruhr.2010 GmbH zur Organisation des Kulturhauptstadtjahres im Ruhrgebiet hat heute offiziell ihre Arbeit beendet, einsehbar unter http://www.wdr.de/studio/dortmund/serien/themadestages/2011/11/kulturhauptstadt.html (6.12.2011). Vgl. Stuke, Franz/Kruck, Peter: Die große Ruhrgebiet-Umfrage, Bochum 2002, einsehbar unter http://www.wirtschaftsmagazin-ruhr.de/Bilder/adobe/WAZRuhrgebiet_Umfrage.pdf, S. 33 (18.2.2011). So existierten Gedankenspiele der Städte Dortmund, Hagen und des Kreises Wesel, den Regionalverband Ruhr zu verlassen. Vgl. Schraven, Davis: Löst sich der Regionalverband Ruhr auf?, Welt am Sonntag (24.2.2008), einsehbar unter http://www.welt.de/wams_print/article1717001/Loest_sich_der_Regionalverband_Ruhr_auf.html (29.1.2011). Blotevogel, Hans H./Prossek, Achim: Das Ruhrgebiet und seine Identität, in: RuhrMuseum (Hrsg.): Großer Ratschlag. Stellungnahmen aus der Wissenschaft zu einem Ruhrmuseum auf Zollverein. Dokumentation der Tagung am 17./18. Oktober 2003, Essen 2004, S. 16-23, hier: S. 21. Vgl. Heinemann, Ulrich: Industriekultur: Vom Nutzen zum Nachteil für das Ruhrgebiet?, in: Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur 1 (2003), S. 56-58.
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anzustoßen. Nicht zu Unrecht warnt der Geschäftsführer der WAZ-Mediengruppe, Bodo Hombach, vor einer theoretischen Überfütterung des Ruhrgebiets mit Überbaukonstrukten und der Erschaffung einer künstlichen Identität gegen die Wahrnehmung der Bevölkerung.1375 G.VI.2.4. Lippe Die geringe Größe des alten Lippe-Detmolds begünstigt sein raumstrukturelles Weiterleben innerhalb Nordrhein-Westfalens; der 1973 aus den Vorgängern Detmold und Lemgo gebildete Landkreis Lippe wiedervereinigte das zuvor zweigeteilte Lipperland und ermöglichte seither als Anknüpfungspunkt zahlreicher politischer und gesellschaftlicher Vereinigungen die Regionswahrnehmung und mentale Kartierung auch gegen westfälische Vereinnahmungen. Insbesondere die im Zuge der Angliederung verabredeten Punktationen bilden – gerade weil sie keine rechtliche Verbindlichkeit besitzen – bis heute ein Kernelement lippischen Identitätsbewusstseins innerhalb NRWs;1376 ihre Beachtung wurde und wird von Politik und Gesellschaft kritisch beobachtet und eingefordert,1377 und sie nötigten die Landespolitik, für den Fall einer Verwaltungsreform Bestandgarantien für Lippe und den Detmolder Regierungsbezirk abzugeben.1378 Die Punktationen sichern die herausgehobene Stellung Lippes gegenüber anderen Landkreisen in NRW und fundieren seinen bis in jüngste Zeit bekräftigten Status, einer der drei im Landeswappen repräsentierten Landesteile zu sein.1379
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Vgl. Graalmann, Dirk: Überraschungsangriff. Verödung oder kreative Metropole? Die Kulturhauptstadt ‚Ruhr 2010’ hat viel vor, in: Süddeutsche Zeitung (9./10.1.2010), S. 13. Bereits das Bundesverfassungsgericht sah in ihnen 1956 keinen bindenden Staatsvertrag, sondern ein politisches Versprechen, das seine Bindungswirkung moralisch entfalte. Vgl. Staercke, Max (Hrsg.), Der lippische Verfassungsstreit im Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Detmold 1956, S. 31,44. Vgl. auch Niebuhr, Hermann: 60 Jahre Lippe in NRW – 60 Jahre Punktaktionen, in: Lippische Mitteilungen 77 (2008), S. 247-260. Vgl. etwa die Ausführungen des SPD-Abgeordneten Ernst Wilczok zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Landesplanungsgesetzes am 12. März 1975, in der er die Lipper lobt: „Wenn es einer wagt, an den Punktationen zu rühren, wenn einer es wagt, die ehernen Gesetze von Lippe anzutasten, dann steht man zusammen…und dann beeilen sich alle…zu sagen: Hände weg von Lippe.“ Vgl. http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMP07-125.pdf, S. 5293 (16.2.2011). So erklärte Karl Arnold am 22. Januar 1952, einen Tag nach Ablauf der Frist zur Abhaltung einer Volksabstimmung über die Zukunft Lippes, seine Landesregierung „hält sich an die am 17. Januar 1947 zwischen Ministerpräsident Dr. Amelunxen und Landespräsident Drake vereinbarten Richtlinien, die sog. Punktationen, unverändert gebunden. ...... Ich gebe die feierliche Versicherung ab, dass die Landesregierung diese Erklärung als verpflichtend ansieht und sich an ihr Wort gebunden erachtet…Die Landesregierung hat als Sitz der Bezirksregierung Detmold bestimmt. ... Sie beabsichtigt nicht, den Sitz der Bezirksregierung in eine andere Stadt zu verlegen.“ Vgl. hierzu Ausschnitte der Regierungserklärung in der Resolution des Rates der Stadt Bad Salzuflen zu den Überlegungen der Landesregierung, den Sitz der Bezirksregierung Detmold in eine andere Stadt zu verlegen (o.J.), einsehbar unter http://62.153.231.121/sdoffice/show.asp?doc=yEUoAWm6Qp.Ig0GcyCYpAUsBSo6ReyEhzAZu8Uk3 Oj.Me1EcuGUp9Rn8Qj3OexFeyEUoAWm6Qp.IDGH (16.2.2011). Anlässlich des sechzigjährigen Bestehens des Landesverbandes Lippe 2009 bekräftigte Jürgen Rüttgers, er und das Land NRW fühlten sich an die Vereinbarungen gebunden. Vgl. Engelhardt, Thorsten: Rüttgers lobt Lippe und den Landesverband. Ministerpräsident erneuert bei Besuch in Detmold Gültigkeit der Vereinbarungen zwischen NRW und Lippe, in: Lippische Landes-Zeitung (21.12.2009), einsehbar unter http://www.lz-
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Die Lippische Rose war und ist das Symbol lippischen Eigenbewusstseins nicht nur im NRW-Schild, sondern auch für Gebietskörperschaften oder gesellschaftliche Verbände, die sie in ihrer Außendarstellung verwenden und hiermit ein innengerichtetes Zugehörigkeitsempfinden gegenüber und in Absetzung von dem Westfalenross manifestieren.1380 Wichtiger Kristallisationspunkt lippischen Landschaftsbewusstseins ist nicht zuletzt der infolge der Punktationen gebildete Landesverband Lippe, der bis zur Zusammenlegung der Kreise Detmold und Lemgo die wichtigste institutionelle Klammer dar- und die Identität Lippes innerhalb Nordrhein-Westfalens sicherstellte. Der LVL ist hierbei von größerer Bedeutung und Wirkung, als dies für die Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe gilt: Überwölben diese unterschiedliche Altlandschaften unter einem Dach, so wirkt jener innerhalb eines weitgehend homogenen Gebiets mit staatlichem Vorgängerraum, nachvollziehbaren kulturellen Eigenheiten und Tradition. Die auch hieraus abzuleitende hohe Verbundenheit der Bevölkerung mit Lippe kommt darüber hinaus in dem im Bundesvergleich hohen Organisationsgrad des mit dem LVL verbundenen Lippischen Heimatbundes zum Ausdruck.1381 Lippe ist als Landkreis nicht allein Verwaltungsraum, sondern erhält sich durch das Engagement des Landesverbandes, durch Museums- und Brauchtumspflege sein kollektives kulturelles Gedächtnis. Politische und gesellschaftliche Vereinigungen stiften raumstrukturelle Relationen und schaffen gemeinsame Handlungs- und Wahrnehmungsrahmen auch gegen die Einbindung Lippes in Ostwestfalen. Aufrufe wie die der Lippischen LandesZeitung aus dem Jahre 2009, Lippes Nummer 1 zu wählen, stärken das historisch-kulturelle Erinnern und ein Landschaftsbewusstsein ebenso wie der Regionalproduktvertrieb Lippequalität, die Bewegung Lippefreunde zur Hebung innerlippischer Netzwerke und Wirtschaftskreisläufe oder Radio Lippe. Die Bielefelder WDR-Außenstelle in Detmold verweist ebenso wie der IHK-Bezirk Lippe zu Detmold oder die Lippische Landeskirche auf die Sonderrolle Lippes innerhalb Ostwestfalens, die auch mit der 2003 durch öffentliche und private Träger gegründeten Lippe Tourismus und Marketing AG untermauert wird.1382
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online.de/lokales/detmold_augustdorf/3299258_Ruettgers_lobt_Lippe_und_den_Landesverband.html (16.2.2011). Das 2009 freigegebene Nordrhein-Westfalen-Zeichen berichtigte den Fehler, die Rose um 36° verdreht abzubilden und rückte die Rose im Verhältnis zum Westfalenross in hervorgehobene Position. Andreas Kasper, damaliger Vorsitzende des Lippischen Landesverbandes, freute sich, „dass die Rose im Vergleich zum Pferd fast komplett drauf ist." Vgl. Bungeroth, Matthias: Im Zeichen der Rose. Die Landesregierung gibt ein neues Wappenzeichen heraus, in: Neue Westfälische (29.10.2009), einsehbar unter dem Titel NRW-FanArtikel beschnitten unter http://www.mt-online.de/lokales/regionales/3211812_NRW-FanArtikel_beschnitten.html (16.2.2011). Der Lippische Heimatbund verfügt über 12.500 Mitglieder und 71 Ortsvereine bei einer Gesamtbevölkerung Lippes von gut 351.000 (2010). Vgl. Brakemeier, Friedrich: Heimat bewahren – gestalten – geben. 100 Jahre Lippischer Heimatbund, in: Meier, Burkhard/Wiesekopsieker, Stefan (Hrsg.): Lippe 1908-2008. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart der Heimatpflege, Bielefeld 2008, S. 14-19, hier: S. 16. Die Lippe Tourismus und Marketing AG hat die einheitliche Positionierung Lippes übernommen und versucht, in den Bereichen Bildung, Kultur, Tourismus und Wirtschaft die regionalen Kräfte zusammenführen und für Lippe einheitlich die Aspekte Gesundheit, Kultur und Natur herausstreichen. Vgl. hierzu Lippe Tourismus und Marketing AG, einsehbar unter http://www.land-des-hermann.de/ (16.2.2011).
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G. Nordrhein-Westfalen seit 1946
G.VII. Landschaftsbewusstsein in Nordrhein-Westfalen Trotz seines mittlerweile erreichten Rentenalters ist es Nordrhein-Westfalen bislang „weder mit historischen Rückgriffen und Konstruktionen einer gemeinsamen Vergangenheit, noch mit formalen Charakteristika einer Nordrhein-Westfalen-Beschreibung (gelungen A.W.),…die bestehenden Formen eines Rheinland- und Westfalenbewusstseins (zu überwinden A.W.) sowie ein bevölkerungsübergreifendes Identifikationsangebot und Landesbewusstsein dauerhaft“ zu erzeugen.1383 Bedarf die Entstehung eines Landesbewusstseins zunächst eines Bezugsrahmens – denn nur das, was erkannt und benannt wird, existiert auch –, stand der 1946 neugegründete Behälterraum NRW vor der Schwierigkeit, keinerlei ergänzende, von Bundes- und Regionalebene unterscheidbare Soziokultur zu besitzen; der politisch-formale Regionsentwurf stand den Lebensrealitäten der Bevölkerung entgegen und entbehrte in der Folge deutungskultureller Sinnstiftung. Innerhalb des heterogen-pluralen Gemeinwesens mit seinen divergierenden Landschaftsprägungen und mentalen Kartierungen fanden sich trotz äußerer Verbundenheit kaum Gründe, hergebrachte kognitive und affektive Raumbindungen zu transzendieren. Anstelle gesellschaftsimmanent-relationaler Selbstverständigungsprozesse bemühten sich verschiedene Landesregierungen mit vergangenheits-, gegenwarts- und zukunftsorientierten Integrationsstrategien um die politisch-hierarchische Förderung eines Landesbewusstseins, ohne dass dies gegen die Bevölkerung gelang; künstlich-bemühte Kampagnen erreich(t)en ebenso wie indirekt-offene Identifikationsangebote eher ein Wissen um die Zugehörigkeit zu anstatt eine bejahende Bindung an Nordrhein-Westfalen, ohne das Erwachsen einer in sich verbundenen Landschaft Nordrhein-Westfalen anzustoßen. Sowohl die Befunde der historischen Tiefenbohrungen als auch die auf ihnen aufsetzende Landesgeschichte liefern – mitsamt der abgeleiteten Kategorie Politische Kultur – Erklärungsmuster für die Schwierigkeit, ein nordrhein-westfälisches Landesbewusstsein auszubilden; nach wie vor zerfällt das Land zum einen in die Landesteile Rheinland, Westfalen, Ruhrgebiet und Lippe, weit stärker aber noch in die in diesen zusammengeschlossenen, geschichtlich ausgebildeten Landschaften. Ein aus unterschiedlichen Altlandschaften zusammengefügtes Bundesland wie NordrheinWestfalen musste sich mit vergangenheitsorientierten Integrationsstrategien naturgemäß schwertun. Zwar hatte es „im Laufe der Geschichte viele dynastische, wirtschaftliche, kulturelle und konfessionelle Berührungspunkte“1384 zwischen den späteren Landesteilen gegeben, ohne ihren Zusammenschluss 1946 vollauf zu legitimieren; er war zwar nicht völlig aus der Luft gegriffen, aber genauso wenig zwingend. Vernunftappelle oder die Beschwörung – unbestreitbar vorhandener – Gemeinsamkeiten gingen an der Alltagswahrnehmung der Bevölkerung vorbei und vermochten keine festen Brücken zwischen den Teillandschaften zu schlagen, die über eine bloße Kenntnisnahme hinausgingen; sie eignen sich für Sonntagsreden, erreichen jedoch häufig nur den kleinen Gesellschaftsteil, der ohnehin schon von der Sinnhaftigkeit der Ausführungen überzeugt ist. Rückwärtsgewandte Selbstdeutungen eigneten sich eher für die Landesteile und die in ihnen zusammengeschlossenen Subland-
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Ditt, Die Entwicklung des Raumbewusstseins in Rheinland und Westfalen, in: ders./Tenfelde, Das Ruhrgebiet in Rheinland und Westfalen, S. 464. Cornelißen, Der lange Weg zur historischen Identität, in: Schlemmer/Woller, Bayern im Bund, S. 413.
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schaften; insbesondere letztere bewahr(t)en verbindende kulturelle Traditionsbestände, die erfahrungsnah gelebt und eingeübt werden und somit für die individuell-kollektive Selbstverständigung eine größere Rolle spielen als das Land als Ganzes. Die von Seiten der Landespolitik eröffnete Selbstverwaltung landschaftlicher Erbbestände sollte die Einheit in Vielheit fördern, Regionalismen absorbieren und die Verletzung von Teilidentitäten vermeiden, erzeugte aber nicht mehr als oberflächliche Loyalität an Nordrhein-Westfalen; mit der Wiedererrichtung der Landschaftsverbände wurde der rheinisch-westfälische Strukturgegensatz erneuert, das gegeneinandergerichtete kulturräumliche Denken und Handeln beibehalten und integrierend-homogenisierenden Vereinigungsbemühungen entgegengewirkt. Im Zusammenspiel mit der Kulturraumarbeit des damaligen Kommunalverbands Ruhr und des Landesverbandes Lippe bremsten sie die Versuche aus, dem Land eine eigene Historizität beizumessen, wie auch die Regionale Kulturpolitik die Rückbesinnung auf und Selbstvergewisserung in den erfahrbar-überlieferten Nahräumen unterstützt(e); Strategien, über die Vergegenwärtigung landschaftlicher Vergangenheiten Halt in einer sich verändernden Umwelt zu finden, richteten sich so nie auf das Landesganze. Mehr gegenwartsbezogen war die Selbstdarstellung Nordrhein-Westfalens als Land von Kohle und Stahl und die Rechtfertigung seiner Existenz über seine wirtschaftliche und soziale Leistungsfähigkeit. Ließ die anfängliche Prosperität des Landes offene Identitätsbemühungen zunächst als vernachlässigbar erscheinen, bröckelte diese Legitimationsstrategie mit dem in den 1950er Jahren einsetzenden Strukturwandel. Bundesländervergleiche, die Nordrhein-Westfalen gegenwärtig bestenfalls auf mittleren Plätzen sehen, erschweren eine erfolgsbasierte Steigerung der Landesverbundenheit; anstatt aus ökonomischer Potenz Stolz auf das Land abzuleiten, schwanden parallel zu den – NRW in der Außenperspektive als Ganzem zugeschriebenen – Strukturproblemen positiv besetzte, anknüpfungsfähige Selbstbilder. Der politischen Landeskultur folgend, priesen sich hiesige Politiker in der Eigendarstellung zwar für den sozialverträglich gestalteten Abbau der einstigen Produktionskapazitäten und die breite Streuung von Fördergeldern, doch trennte die konkrete Ausgestaltung dieser Politik eher, als dass sie integrierte; anstatt sie aus einem Gemeinschaftsempfinden heraus zu bejahen, kamen Vorwürfe der Einseitigkeit und der Benachteiligung auf. Das auch hier zum Ausdruck kommende ungeklärte Selbstverständnis Nordrhein-Westfalens erklärt zudem die zurückhaltend-nüchterne Darstellungskultur des Landes; ein schwaches repräsentatives Erbe, seine bürgerlich-industrielle Prägung oder christlich-soziale Traditionslinien stehen prunkvollen Inszenierungen entgegen und erschweren symbolische Zurschaustellungen, wie sie etwa Bayern kennt. Das staatlich lancierte Außenbild ist nur in geringem Maße geeignet, symbolische Wärme zu erzeugen: Seit 1999 residiert die Staatskanzlei – als einer unter mehreren Mietern – im Düsseldorfer Stadttor, einem modernen Bürokomplex, der Zweckbau ist und keinerlei Relevanz für das Land besitzt; die von Franz Meyers als Integrationsinstrumente gedachten Sammlungen moderner Kunst firmieren in Düsseldorf als K20 bzw. K21, unterstreichen den Vorwurf des artifiziell-kühlen Bindestrichlandes und unterschlagen – als einzige vollständig vom Land getragene – Kulturinstitutionen den Landesnamen.1385 Die zurückgenommene Selbstdar-
1385
Vgl. zu der nach wie vor strittigen Namensgebung den – ironisch gefärbten – Entschließungsantrag der Grünen-Fraktion vom 11. Februar 2009 zur Umbenennung Nordrhein-Westfalens in Rheinfalen, einsehbar unter
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stellung der Landespolitik verärgert niemanden, bietet aber auch kaum positive Anschlussmöglichkeiten. Zukunftszugewandten Integrationsstrategien wie die beschwörende Umwidmung des nordrhein-westfälischen Polyzentrismus zur Stärke fehlte die Inbeziehungsetzung der unverbundenen, nebeneinander existierenden Teilkulturen; die Mitnahme historisch gewachsener Teilhorizonte in eine gemeinsame NRW-Identität und ein Plural an Zugehörigkeiten erscheinen zwar möglich und wünschenswert, doch ermangeln sie bislang einer positiven, überwölbenden Sinnstiftung. Eine nach außen abgrenzende Kampagne ex negativo – Wir gegen Die – zeigt das Eigene, Zusammengehörigkeit stiftende nicht unmittelbar auf und erhält das Wir in Nordrhein-Westfalen; offene Identifikationsangebote, die keine landesspezifischen Anknüpfungspunkte offerieren, bieten ebenso wenig Bindungsmöglichkeiten für die Nordrhein-Westfalen wie die in der We love the new-Initiative gestartete Darstellung NRWs als Land, dessen Regionen durch den Willen und die Offenheit für Neues verbunden seien. Beide Ansätze führen vielmehr zu der Frage, ob die Bereitschaft, neuen Trends nachzugehen, nicht eher aus einem mangelnden Selbstverständnis herrührt; ein Land, das sich seiner selbst bewusst ist, müsste nicht jeder Neuigkeit hinterherlaufen. Leerstellen signalisieren zukunftszugewandte Innovationsbereitschaft, entbehren jedoch des Aufzeigens des Einzigartigen, das NRW ausmacht und ein Zusammengehörigkeitsbewusstsein begründete – möglicherweise gibt es dieses nicht? Zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und in Begleitung der politischen siedeln die Bemühungen des Westdeutschen Rundfunks zur Förderung des Landesbewusstseins. Da Nordrhein-Westfalen seit der Landesgründungsphase eines übergreifenden Printmediums entbehrt – von Anbeginn an war die Entstehung einer übergreifenden Selbstdeutungsöffentlichkeit somit erschwert, da die auf kommunal-regionaler Ebene verankerten Blätter bis heute nur über einen begrenzten Resonanzboden verfügen und ihre räumlich beschnittene Informationsvermittlung zum Fortbestehen gegeneinander abgegrenzter Erfahrungswelten beiträgt –, war und ist der Sender als einziges landesweites Medium für die Schaffung eines öffentlichen Forums der vorwärtsgewandten Selbstverständigung prädestiniert. Nur der WDR spannte über die Binnengrenzen ein vereinheitlichendes Landesprogramm, folgt(e) mit seinen kulturgeschichtlich ausgerichteten Sendungen jedoch zugleich rückwärtsgewandten Integrationspfaden. Seine Landesberichterstattung erreichte nur den kleineren Teil der ohnehin interessierten Hörerschaft, und selbst diese wurde mit der Regionalisierung der Programmstrukturen der 1980er in den Hintergrund gedrängt, so dass auch der WDR seither an der Tradierung hergebrachter mentaler Kartierungen und Landschaftswahrnehmungen teilhat. Lebensweltlich verankerte Teilregionen gewinnen mit den heute mehrmals täglich geöffneten Lokalzeit-Fenstern an Bedeutung und werden als primäre Erfahrungs- und Wahrnehmungshorizonte gefestigt. Resultat sämtlicher Teilelemente, des Hineinreichens eines Plurals an landschaftsgeschichtlichen Kollektivgedächtnissen aus dem historischen in das heutige NordrheinWestfalen wie auch die der Landesgeschichte entspringenden Integrationshindernisse, ist der Status NRWs als Behälterraum unterschiedlicher Identitäten, ohne eine eigene zu http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD14-8590.pdf 2011).
(17.1
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besitzen. Die Übereinanderblendung der verschiedenen Handlungs-, Analyse- und Medienregionen vermittelt die auffällige Korrelation kulturlandschaftlicher Erbbestände und lebensweltlicher Verflechtungen, sie offenbart die starke Ausrichtung der Lebenswelten auf althergebrachte Binnenbeziehungen und die verbandsgestützte Selbstverortung innerhalb ihrer formellen wie materiellen Grenzen. Unterscheiden sich die Beweggründe im Einzelfall – soll auf der einen Seite willentlich das regionale Erbe gesichert werden, orientiert man sich auf der anderen unbewusst an unmittelbar ersichtlichen Merkmalen wie Administrativgrenzen –, wird die Bedeutung historisch überlieferter Gemarkungen für die Alltagsgestaltung doch ersichtlich; durch die heutigen Raumstrukturen schimmern die in Nordrhein-Westfalen aufgegangenen Provinzen und Länder hindurch und werden über diese nicht nur lebensweltlich, sondern auch mental erhalten. Das durch soziokulturelle Ähnlichkeiten erlebbare Nahumfeld bietet Verhaltenssicherheit sowie ein Weltwissen im Kleinen und ist primäres Objekt menschlicher Verortungen, Aktivitäten und Verbindungen; der wechselseitige Kontakt innerhalb landschaftsbasierter Raumstrukturen leitet Regionswahrnehmung und Zusammengehörigkeitsempfinden, treibt zentrifugale Tendenzen und alltagspraktische Distanzierungen voran und ist Grundlage sowohl einer Identifizierung der wie auch der Identifikation mit ihnen. Die Regionalisierung der Struktur- und Kulturpolitik erscheint als Konsequenz des Einsehens in die Unmöglichkeit der Landesintegration und der Akzeptanz der in den nordrhein-westfälischen Raumstrukturen zu Tage tretenden überlieferten Vielgestaltigkeit; sie vertieft in der Folge hergebrachte Horizonte und Binnenverortungen, anstatt den Zusammenhalt des Landes zu festigen. In Frage gestellt wird mit der Regionalen Kulturpolitik auch die Kulturpflege der Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe sowie des Landesverbandes Lippe. Anders als dem auch hier bedachten Ruhrgebiet, treten ihnen Raumbildungskonkurrenten entgegen, die Sinn und Zweck der höheren Kommunalverbände bei der Sicherung des historischkulturellen Erbes unterhöhlen und – wollte man der Landespolitik weitergehende Absichten unterstellen – als Versuch gewertet werden könnten, den rheinisch-westfälischen Graben durch die Schwächung ihrer Stützen zuzuschütten, räumliche Orientierungen auf das Land umzulenken und die Landschaftsverbände im Zuge einer Verwaltungsreform abzuschaffen. Da mit ihr aber zugleich die Zersplitterung der Lebenswelten zunimmt, scheint diese Strategie eher dem Leitziel zu folgen, in Landes- und Regionalbewusstsein ein Komplementärverhältnis zu sehen, anstatt klare Alternativen zu fordern.1386 Mitwirkende bei der Bewahrung und dem Ausbau des vielgestaltigen Landschaftsspektrums in NRW sind nicht zuletzt die Kommunen: Eine staatskulturelle Integration durch symbolisches Mäzenatentum ist dem Land infolge der weitgehenden Kommunalisierung der Kulturausgaben erschwert; Nordrhein-Westfalen war und ist das Land der stadtbürgerlichen Kulturförderung, die in Abgrenzung voneinander eine Vielzahl an Leuchttürmen hervorbrachte und bringt, hiermit jedoch zugleich die Kirchturmsperspektiven stärkt(e). Aus dem Nebeneinander zahlreicher bedeutender Standorte – NRW ist die dichteste europäische Kulturregi-
1386
Die Berücksichtigung des Bedürfnisses der Bevölkerung nach lokaler und regionaler Verortung forderte etwa auch die 2008 einberufene, beim damaligen Ministerpräsidenten Rüttgers angesiedelte Zukunftskommission um Ralf Dahrendorf, die sich mit der Frage auseinandersetzte, wie NRW im Jahre 2025 aussehen solle. Vgl.: Innovation und Solidarität. Bericht des Vorsitzenden der Zukunftskommission Lord Ralf Dahrendorf, Düsseldorf 2009, These 103, S. 40.
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on mit knapp eintausend Museen –1387 fehlt dem Land das absolute kulturelle Zentrum, das Identität stiftete und gemeinsamer Orientierungspunkt wäre; das Land muss sich vielmehr des Vorwurfes erwehren, den westfälischen Landesteil in der Kulturförderung gegenüber dem rheinischen zu benachteiligen.1388 Ausgleichszahlungen und Doppelstrukturen bauen Frontstellungen keineswegs ab, und auch von den landesseits angestoßenen, die kommunale Kulturarbeit koordinierenden Zentren – dem Städte-Netzwerk NRW und dem NRW Kultursekretariat – geht letztlich nicht mehr als ein selbstbezogener Erfahrungsaustausch, keineswegs jedoch eine Integrationsleistung aus.1389 Die Regionen sind Gewinner eines politischen Strategiewechsels, der Raumwahrnehmungen auf Gebiete jenseits des Landesganzen leitet, um wirtschaftliche Potentiale sowie kulturelle Selbstverständigungsprozesse auf regionaler Ebene freizusetzen. In Einklang mit einem Zeitgeist, der dem Regionalen neue Bedeutung beimisst, stärkt die Landespolitik Zentrifugalkräfte, die ein nordrhein-westfälisches Landes- zugunsten des Erhalts hergebrachten Landschaftsbewusstseins zurückdrängen. Weit mehr als Land und Landesteile sind die in ihnen zusammengeschlossenen Subregionen „homogene Gebiete mit physischen und kulturellen Eigenschaften, die sie von den angrenzenden Gebieten unterscheiden, die als Teil eines nationalen Territoriums hinreichend einheitlich sind, ein Bewusstsein ihrer Bräuche und Wertvorstellungen besitzen und das Gefühl einer eigenständigen Identität haben.“1390 Sie verfügen über spezifische Soziokulturen und landschaftliche Besonderheiten, geteilte Selbstverortungen und kollektive Gedächtnisse sowie unhinterfragte Weltverständnisse, die zumindest unbewusst Nähe erzeugen; lebensweltliche Gemeinsamkeiten und räumliche Nähe begünstigen gesellschaftliche Zusammenarbeit und Zusammenschlüsse und werden ihrerseits durch diese gestärkt. Die stärksten Regionalidentitäten innerhalb des Behälterraumes NRW sind dort zu vermuten, wo politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklungslinien tiefreichende historische, ein- und abgrenzbare Wurzeln besitzen und hierüber relationale Bindungen erzeugen; mit Blick auf die Landschaftsgenese überrascht kaum, dass sich 71% der befragten
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1390
Vgl. – veraltet, aber in seiner Grundstruktur weiterhin relevant – Peters, Hans Albert: Sammeln in Nordrhein-Westfalen, in: Düwell/Köllmann, Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter 4, S. 296-308 sowie aktueller: Kulturserver NRW: Museen, einsehbar unter http://www.kulturserver-nrw.de//institution/museum/cat/15/catplus/15 (6.12.2011). Vgl. zu den Auseinandersetzungen Hoffmans, Christiane: Zu wenig Geld für Kultur in Westfalen?, in: Die Welt (8.11.2009), einsehbar unter http://www.welt.de/die-welt/vermischtes/article5126265/Zuwenig-Geld-fuer-Kultur-in-Westfalen.html sowie Loy, Johannes: Man redet wieder über Kultur: Gutachten bringt Westfalen in Wallung, in: Ibbenbürener Volkszeitung (16.3.2009), einsehbar unter http://www.ivzonline.de/aktuelles/muensterland/999675_Man_redet_wieder_ueber_Kultur_Gutachten_ bringt_ Westfalen_in_Wallung.html (2.3.2010). Es existieren Kultursekretariate in Wuppertal und in Gütersloh (Rheinland-Westfalen sic!); während in ersterem derzeit 21 theatertragende Städte und der Landschaftsverband Rheinland engagiert sind, sind in zweiterem 65 nichttheatertragende Städte und Gemeinden sowie der Landschaftsverband WestfalenLippe zusammengeschlossen, um auf kulturellem Gebiet zu kooperieren; die Mitgliedsgebietskörperschaften sind über das Land verstreut und vertiefen den rheinisch-westfälischen Gegensatz nicht durch eine weitere Organisation. Klepsch, Eugen: Europa der Regionen, in: Matheus, Michael (Hrsg.): Regionen und Föderalismus. 50 Jahre Rheinland-Pfalz, Stuttgart 1997, S. 81-91, hier: S. 81.
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Münsterländer in ihrer Region wohl und mit dieser verbunden fühlen, während die Selbstverortung in Südwestfalen mit 49% Zustimmung an letzter Stelle rangiert.1391 Abschließend sollen Schlussfolgerungen gezogen werden aus dem Befund des schwierigen Zusammenwachsens Nordrhein-Westfalens, aus der mangelnden Entwicklung eines Landesbewusstseins und der Freilegung möglicher Erklärungsmuster. Welche Integrationsstrategien bieten sich dem Land statt der fehlgeschlagenen dennoch, wie müssten diese – aufbauend auf den herausgearbeiteten historischen Tiefenschichten, die eher die Schwierigkeit als die Tragfähigkeit der Zusammenführung aufzeigen – aussehen? Regionen – und nichts anderes ist NRW im bundesdeutschen oder europäischen Maßstab – sind stets menschliche Konstrukte und können insofern gemacht werden, wie auch die im Land zusammengeschlossenen Landschaften letztlich nicht mehr als Subregionen sind, die allenfalls über einen tieferen historisch-kulturellen Fundus als das Land verfügen; auch ihre Genese hatte einen Anfang und kann genauso wieder ein Ende finden wie NordrheinWestfalen mit der Dauer seiner Existenz das Potential besitzt, zu einer Landschaft im hier gemeinten Sinne zusammenzuwachsen, eigene Traditionslinien zu begründen, ein gemeinsames kollektives Gedächtnis anzulegen und hierüber an Identität zu gewinnen. Genauso ist jedoch zu hinterfragen, inwiefern überhaupt die Notwendigkeit eines solchen NRW-Landesbewusstseins besteht. Aus der Bevölkerung sind keinerlei Forderungen zu vernehmen, das Land und seinen Zusammenhalt zu stärken, warum also gegen diese Empfindung handeln? Genügt es nicht, regional zu leben, hier Geborgenheit und Zugehörigkeit zu erfahren, anstatt eine nordrhein-westfälische Landschaftswerdung zu erzwingen? Gewinnen Nordrhein-Westfalen und die hier lebenden Menschen nicht mehr, wenn sie weiterhin den Regionalisierungspfad beschreiten und diesen als Gebot sehen, der der historischen Raumentwicklung gerecht wird? Es erscheint durchaus denkbar, die im Zuge der Landesgründung beschworenen demokratischen und freiheitlichen Selbstverwaltungstraditionen gegen das Land zu wenden und die Beachtung jener durchaus vorhandenen Erbmasse innerhalb der Regionen einzufordern. Ein Gemeinwesen muss erfahrbar sein und von unten zusammenwachsen, um es als etwas Eigenes an- und Verbundenheit wahrzunehmen; beides erscheint in erster Linie auf kleinräumiger Ebene möglich. Dem globalisierten Weltverlust wären lebensweltliche Denk- und Handlungsperspektiven entgegenstellt, die eine Selbstvergewisserung auf landschaftlich-regionalem Maßstab erlaubten und abkehrten von dem Anspruch, gegen jegliche geschichtliche Kontinuität über die Teilräume Rheinland und Westfalen, Ruhrgebiet und Lippe sowie die in ihnen weiterlebenden Landschaften ein Landesbewusstsein stülpen zu wollen. Das praktische Leben in und die Sorge um menschliche Gemeinschaften ist seit Aristoteles’ berühmter Definition normativer Anspruch an die Politik, die nurmehr eines passenden Maßstabs bedarf; die abschließenden Ausführungen sollen – unter Rückgriff auf bisherige Erkenntnisse – hieran angelehnte Möglichkeiten für Nordrhein-Westfalen diskutieren.
1391
Vgl. Regionales Interesse und Heimatverständnis, Repräsentativbefragung Lokalzeitgebieten, ebd., S. 5. Im Landesschnitt leben 59% gerne in ihrer Region.
in
den
WDR-
H. Nordrhein-Westfalen zwischen Landesbewusstsein, Landschaftsbewusstsein und Regionalisierung Landes- oder Landschaftsbewusstsein sind menschliche Konstrukte, deren Ausbildung an das Vorhandensein von staatlich-hoheitlichen oder lebensweltlichen Grenzen geknüpft ist; beide scheiden das je Eigene vom Fremden und besitzen limitischen Charakter, ohne jedoch stets mit einem inneren Verbundenheitsempfinden einher zu gehen: Dieses erwächst nicht allein aus soziokulturell-raumstrukturellen Zusammenhängen, sondern bedarf des Aufsetzens einer sie mit einem Sinnüberbau überspannenden Deutungskultur, die erst das wechselseitig geteilte Bewusstsein von- und füreinander schafft. Raumgebundene Identitäten und emotional unterlegte Zugehörigkeitsbekundungen – die Bindung gilt nicht dem Raum an sich, sondern den dort lebenden Menschen, Sitten und Traditionen – sind demnach keine ewig bestehenden, unverrückbaren Wesenheiten, sondern gesellschaftlich gemacht; sie können durch das Aufgreifen und Ausdeuten spezifischer Lebensweisen entstehen, befinden sich wie das menschliche Leben im Fluss und sind auf das Wechselspiel von Sozio- und Deutungskultur angewiesen. Funktional aufeinanderbezogene Gebiete erfahren keine innerliche Zusammengehörigkeit, fehlen Vermittlung und Offerierung eines Gemeinschaftskonstrukts; andererseits ist unmöglich, ein Landes- oder Landschaftsbewusstsein gegen anderslautende Lebensperspektiven zu behaupten. Die Aneignung einer gemeinsamen Welt gelingt umso besser, je überschaubarer geographische Ausschnitte sind, erfordert jedoch zusätzlich des wechselseitigen Austauschs, der Reflektion und der Kommunikation; erst die Übernahme von Verantwortung in dem und für das Gemeinwesen macht dieses erfahrbar, eröffnet Verbundenheit und ist Quelle der Aufspannung relationaler Räume. Erst sie macht aus Regionen Landschaften. Die Suche nach einem Landes- oder Landschaftsbewusstsein speist sich aus zweierlei Perspektiven: Zum einen erweisen sich räumlich-mentale Verortungen als Gegenbewegung zu politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierungsprozessen, die der wachsenden Entgrenzung und dem partiellen Weltverlust die Rückbesinnung auf regionale Lebenszusammenhänge entgegensetzen. Die von Robert Robertson als Glokalisierung1392 bezeichnete Entwicklung beschreibt die wechselseitige Verbundenheit beider Aspekte und die Wiederaufnahme alltagsnaher Traditionen und Bräuche infolge vermeintlicher globaler Uniformierung, um über diese Verhaltenssicherheit und persönliche Stabilität zu gewinnen. Die In Fragestellung alter Gewissheiten treibt zur Suche nach neuen und unterstützt die Entstehung von Initiativen – herausgegriffen sei aus der Mannigfachheit der Beispiele die Ernährungsorganisation Slow Food –, die jenen Vereinheitlichungstendenzen regionalisierte Lebensentwürfe entgegensetzen. Es erscheint als anthropologische Notwendigkeit, dass der Mensch als nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich gebundenes Lebewesen das „Bedürfnis nach sinnerfülltem Handeln in einer vertrauten sozialen und physischen Umwelt“ verspürt;1393 die Bindung an Räume, Regionen und Riten, die Entstehung eines Landschafts-
1392 1393
Vgl. Robertson, Glokalisierung, in: Beck, Perspektiven der Weltgesellschaft, S. 192-217. Molt, Heimat und Region, in: Weigelt, Heimat und Nation, S. 234f. Vgl. hierzu auch Gauger, Jörg-Dieter: Heimat – Tradition – Geschichtsbewusstsein. Bemerkungen zu einem vermuteten Zusammenhang, in: Weigelt, Heimat – Tradition – Geschichtsbewusstsein, Mainz 1986, S. 9-44, hier: S. 37 sowie Stammen, Theo: Geborgenheit als anthropologisches Bedürfnis – Die politischen und kulturellen ‚Kosten’ der
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bewusstseins ist demnach intrinsischer Wert, der um seiner selbst, aber auch seiner Folgen willen als förderungswürdig erscheint. Nicht zuletzt die Hartnäckigkeit der Proteste gegen die vornehmlich nach Effizienzgesichtspunkten durchgeführten Gebiets- und Funktionalreformen der 1960er und 70er Jahre – in NRW wurde die Zahl der kreisangehörigen Gemeinden auf 373 und somit 1/6 des ursprünglichen Wertes gesenkt, die der Landkreise auf 31 halbiert, es existieren neben der 2009 gebildeten Städteregion Aachen seither 22 kreisfreie Städte, und der Regierungsbezirk Aachen wurde mit dem Kölner zusammengelegt – verdeutlichten die Relevanz einer selbst durch Verwaltungsstrukturen mitgetragenen Selbstverortungsperspektive und verwiesen auf die Stellung des Nahraums für die Identitätsbildung. Zum anderen sprechen politisch-administrative Steuerungsinteressen für die Berücksichtigung landschaftlicher Ver- und Gebundenheiten. Zunehmende globale Verflechtungen sowie die Europäisierung der (deutschen) Politik befördern den Souveränitätsverlust des Nationalstaats alter Prägung; zahlreiche Politikfelder offenbaren die Minderung hoheitlich-autonomer Problemlösungsfähigkeit, so dass sich zur Vermeidung von Legitimitätseinbußen neben dem Ausbau grenzüberschreitender Zusammenarbeit auch der Rückgriff auf und die Stärkung der Zivilgesellschaft anbietet. Subsidiäre und serielle Kompetenzverlagerungen sowie eine erhöhte Bedeutungsbeimessung kleinräumiger Regionen bereicherten den Staat durch die Heranziehung eines breiteren Wissensfundus’ an Handlungskompetenz und versprächen einen Zugewinn an systemischer Gestaltungsmacht. Die Aktivierung landschaftlichen Zugehörigkeitsempfindens erhöht die Wahrscheinlichkeit des Einsatzes für das (regionale) Gemeinwesen; wo ein solches Landschaftsbewusstsein fehlt, kann es über die staatliche Ermöglichung gesellschaftlicher Mitwirkung entstehen, wie bestehende menschlich-räumliche Verbundenheiten über diese potentiell verstärkt werden.
H.I. Nordrhein-Westfalen zwischen Landes- und Landschaftsbewusstsein Nordrhein-Westfalen ist seit 1946 Behälterraum, der relationale Regionsbildungen allenfalls auf landschaftlicher Ebene kennt; dem Land mangelt es an einer landesweiten Soziowie einer sie überspannenden Deutungskultur, die das Eigene in Absetzung von seinen Teilregionen und dem Bund bestimmte. Mentale Grenzen wirken aus den historischen Tiefenschichten der Landschaftsgenese in das heutige Bundesland hinein und begründen im Zusammenspiel mit der auf ihnen aufsetzenden, sie aufgreifenden und verstetigenden Entwicklungen der eigentlichen Landesgeschichte die schwache Landesintegration. Zwar erscheint es prinzipiell auch für ein heterogenes Gemeinwesen wie NRW mit der Dauer seiner Existenz möglich, Landschaft im hier gemeinten Sinne zu werden, doch ist – nicht zuletzt mit Blick auf bisherige Ausführungen – zum einen das Wie, zum anderen das Weshalb fraglich. Wo unterschiedlich gelagerte Integrationsstrategien bislang nicht den erhofften Erfolg zeitigten, sind – aufbauend auf bisherigen Erkenntnissen – andere Antworten zu suchen. Kommunal- und Gebietsreform, in: Ebd., S. 78-91, insb: S. 85ff. Vgl. hierzu und im Folgenden auch die theoretischen Ausführungen zu Beginn der Arbeit.
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Landschaftsbewusstsein und Regionalisierung
Anstatt eine repräsentative Staatskultur zu pflegen oder die Vielfalt als Wert an sich zu preisen, erscheint die Förderung gesellschaftlicher Selbstverwaltungselemente als Mittel, um Verbundenheit und Gemeinsinn innerhalb Nordrhein-Westfalens wachsen zu lassen. Theoretisch aufgezeigt wurde, wie Gemeinwesen durch Partizipation und Mitwirkung, durch das Leben in und die Gestaltung von diesen integriert und insofern gemacht werden können; der Aspekt der aktiven Mitnahme der Bevölkerung erscheint insofern von entscheidender Relevanz einer – vor dem Hintergrund historisch gewachsener Disparitäten einzig möglichen – zukunftsgerichteten Landesintegration.1394 Institutionenbasierte Daseinsgestaltung, wechselseitige Beziehungsgeflechte und zivilgesellschaftliche Verantwortungsübernahme ermöglichen die Aneignung einer gemeinsamen Welt, Kommunikationsund Handlungsbezüge ergänzen hoheitliche Administrativ- durch innere Sinngrenzen, befördern die konstruktivistische Erschaffung geteilter Lebenswelten und entsprechen dem bei der Einrichtung des Staatskörpers zu berücksichtigenden anthropologischen Grundimpetus einer aktivitäts-, gemeinschafts- wie raumorientierten Existenz. Die Bereitstellung regelgeleiteter, zielgerichteter Interaktionsrahmen bietet sich als Teilmedium kollektiver Selbstvergewisserung und zur Steigerung des Landeszusammenhalts, da Verbundenheit mit Räumen und Menschen zuvörderst durch das Einbringen in diese, durch die Mit- und Umgestaltung des Nahumfelds erwächst; öffentliche Partizipationsforen begleiten die Verständigung über das Zusammenleben und die Erschaffung eines geteilten Wertehorizonts.1395 Das gemeinsame Handeln innerhalb eines geteilten Bezugssystems ist demnach eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen jedweder Landschaftsbildung, stiftet alltäglich-regelmäßig gelebte Bindekräfte und die Wahrnehmung raumgebundenkollektiver Identität.1396 Anders als künstlich-abgehobene Versuche zur Förderung des Landesbewusstseins oder die Lobpreisung der unverbundenen Binnenvielfalt, versprechen aktivierende Gesellschaftsstrukturen die Eröffnung eines Gemeinschaftserlebnisses, die relationale Durchdringung des Behälterraums NRW und seine Hervorhebung als aufeinander bezogene Gesamtheit aus der Mannigfachheit der bundesdeutschen Raumerscheinungen. Der Konstruktionscharakter kollektiver Identitäten impliziert ihre prinzipielle Machbarkeit sowie ihr räumlich-gruppengebundenes Neuausrichtungspotential; entscheidende Voraussetzung hierfür ist die Erfahrung der Zusammengehörigkeit. Hinterfragt werden muss aber auch, welchen Mehrwert es bedeutete, sich einem Verwaltungskonstrukt wie NRW im Sinne eines Landesbewusstseins zusätzlich zu den bestehenden landschaftlichen Binnengeflechten verbunden zu fühlen. Zwar erscheinen Mehrfachidentitäten denkbar und räumliche Verortungen als an sich wertvoll, doch erschließt sich nicht unmittelbar die Relevanz ihrer Ergänzung durch ein landesweites Gemeinschaftsempfinden – ganz abgesehen von der nichtvorhandenen Nachfrage; Land und Bevölkerung könnten vielmehr auch von der Akzeptanz und dem Gewährenlassen land-
1394 1395 1396
Vgl. Grieswille, Detlef: Tradition und kleinräumliche Identität, in: Weigelt, Heimat – Tradition – Geschichtsbewusstsein , S. 175-195, hier: S. 193. Vgl. Giddens, Anthony: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt a. M./New York 1992, S. 81ff. Vgl. Barber, Benjamin: Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen, Hamburg 1994, S. 99ff. Vgl. auch Taylor, Charles: Aneinander vorbei: Die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus, in: Honneth, Axel (Hrsg.): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt a. M./New York 1993, S. 103-130, hier: S. 115ff.
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schaftlicher Verbundenheiten profitieren.1397 Um beide Aspekte abschließend zu diskutieren, werden sie – unter Hinzuziehung der angeschnittenen Perspektiven der Regionalisierung der Lebenswelten, der Aktivierung der Zivilgesellschaft und unter Rückgriff auf die landschaftshistorischen Geneseprozesse – in den Zusammenhang der die Landesgeschichte begleitenden Diskussion um eine grundlegende Verwaltungsreform gestellt.
H.I.1. Verwaltungsreform und Selbstverwaltung Atmen Begriffe wie Verwaltung und Reform zunächst den Geist der Reizlosigkeit, des Aktivismus und der Selbstbezüglichkeit des politischen Systems, sind sie bei näherer Betrachtung von entscheidender Relevanz für die persönliche Alltagsgestaltung. Nirgends tritt der ansonsten eher abstrakte Staat so direkt in Erscheinung wie in der Arbeit seiner Behörden: Bescheide, Ge- und Verbote machen ihn lebensweltlich erkennbar und sind mitentscheidend für die individuell-kollektive Entfaltung; Entscheidungen über Raumplanung oder Infrastruktur berühren die im betroffenen Gebiet lebende Bevölkerung mehr oder weniger direkt und ihre Durchsetzung führt hierarchische Herrschaftsstrukturen vor Augen. Beschlüsse können zwar über die Köpfe der ihr Unterworfenen gefasst, aber nur schwer umgesetzt werden; um ihr Legitimität zu verschaffen, erscheint Inklusion als ein entscheidendes Moment hin zu einer Akzeptanz sowohl des konkreten Falls als auch des Systems an sich. Die partizipative Einbindung der Bürgerschaft in die sie betreffenden Dezisionsprozesse erhöht – wie das Beispiel Stuttgart 21 zeigte – die Unterstützung getroffener Lösungen und senkt die Umsetzungskosten gegenüber Quasi-Dekreten.1398 Leitkriterium jedes Verwaltungsaufbaus sollte also neben der Effektivität, der sachadäquaten Erledigung übertragener Aufgaben, und der Effizienz, einer optimierten Wirtschaftlichkeit, die Bürgernähe sein,1399 um Entscheidungen im breiten Konsens zu treffen und abzusichern; dies entspräche auch der auf Konkordanz bedachten politischen Landeskultur NordrheinWestfalens. Eine optimierte Zuschneidung von Verwaltungsbezirken erfüllt im Idealfall sämtliche Kriterien: Bürgernähe ermöglicht die Einbeziehung staatsferner Interessen und Wissensbestände, sichert Zustimmung und mindert Transaktionshindernisse; zwar erhöht die institutionalisierte Mitsprache zunächst die Prozesskosten, ist jedoch auf mittlere Sicht sowohl effektiv als auch effizient. Bürgernähe ist auch unter demokratietheoretischen und normativen Aspekten Argument, um durch Teilhabe öffentlichen Einfluss und Kontrolle zu ermöglichen, Systembejahung zu gewährleisten und Probleme ortsnah anzugehen. Die Berücksichtigung regionaler Identitäten begünstigt, ihre Vernachlässigung erschwert die Erreichung jener Ziele;1400 Verwaltungshandeln erscheint in dieser Hinsicht nur als gerechtfertigt und zielgerichtet durchführbar, wenn es mit und nicht gegen die Menschen geschieht. 1397 1398 1399 1400
Vgl. Gebauer, Klaus-Eckart: „Small is beautiful“ und „do it yourself“: Von einem Trend zur „kleinen Einheit“?, in: Weigelt, Heimat – Tradition – Geschichtsbewusstsein , S. 333-353, hier: S. 349. Vgl. hierzu allg. Sarcinelli, Ulrich/König, Matthias/König, Wolfgang: Bürgerbeteiligung in der Kommunal- und Verwaltungsreform, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 7-8. Kommunalpolitik (2011), S. 32-39. Vgl. Hesse, Joachim Jens: Regierungs- und Verwaltungsreform in Nordrhein-Westfalen. Gutachten im Auftrag des Bundes der Steuerzahler Nordrhein-Westfalen e.V., Düsseldorf 1999, S. 153. Vgl. zum Zusammenhang von Identität, politischer Mitwirkung und Systemakzeptanz Gerhardt, Volker: Partizipation. Das Prinzip der Politik, München 2007, S. 267.
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Landschaftsbewusstsein und Regionalisierung
Die in dieser Arbeit zutage geförderten Befunde zu Landschaftsbewusstsein und politischer Kultur in Nordrhein-Westfalen mögen erhellen, ob eine Neuausrichtung der Verwaltungsstrukturen die Ausbildung eines Landesbewusstseins unterstützten und wie diese gestaltet werden müssten, um sowohl landschaftlichen Befindlichkeiten zu entsprechen, diese aber auch für das Land zu nutzen. Zu bedenken sind auf diesem Wege sowohl verwaltungsökonomische wie auch landschaftsgeschichtliche, föderalistische und finanzielle Aspekte. Der Ausbau der Bürgerbeteiligung und die Aktivierung landschaftlicher Verbundenheiten innerhalb eines durch das Land gesetzten Rahmens ermöglichte die Einbringung regionaler Fachkenntnisse in den politischen Prozess, politisches Agieren mit und durch anstatt für die Bevölkerung und die Anstoßung eines republikanisch unterlegten Gemeinschaftsbewusstseins; zugleich offenbart dieser Ansatz jedoch die Unsicherheit, inwiefern es für ein Land mit knapp 18 Millionen Einwohnern – trotz moderner Kommunikationsmöglichkeiten – überhaupt realistisch erscheint, institutionalisierte Beteiligungsarenen zu erschaffen und die Bevölkerung zur Mitarbeit zu motivieren. Flächenländer wie NRW sind aus guten Gründen repräsentative Demokratien mit einem durch die Gesamtbevölkerung bestimmten Landtag, der das Gemeinwesen – im Idealfall – abbildet und dem Interessenausgleich dient. Wie könnte, wie sollte gesellschaftliche Einmischung funktionieren, ohne dieses Organ zu delegitimieren? Gewählte bürgernahe Regionalverwaltungen entwerteten die zentrale Landesinstitution und unterhöhlten den ohnehin schwachen Zusammenhalt von Landesteilen und Landschaften. Wie umginge man die Schwierigkeit, das gesamte Einwohnerspektrum zur Mitarbeit zu bewegen, ohne Zwang auszuüben oder nur die immergleichen Eliten anzusprechen? Im Anschluss hieran sei – bei den wenigen Kompetenzen, die den bundesdeutschen Gliedstaaten heute noch geblieben sind – die ketzerische Frage nach der Notwendigkeit des Erhalts eines Bundeslandes wie Nordrhein-Westfalens erlaubt. Trotz aller historisch begründeten Gefahren wären gerade Politikfelder wie das Schulwesen und die Innere Sicherheit womöglich besser auf der Bundesebene aufgehoben, der im Gegenzug andere an untere Gebietskörperschaften abgeben könnte.1401 Ohne an dieser Stelle eine hinreichende Diskussion über den Föderalismus in Deutschland führen zu können – dies erforderte die Einbeziehung sämtlicher politischer, rechtlicher und organisatorischer Konsequenzen, die Berücksichtigung der Vorgaben des Grundgesetzes und des Binnengefüges der Bundesrepublik –, soll doch zumindest darauf hingewiesen werden, dass die Existenz der nach 1945 gebildeten Bundesländer keineswegs in Stein gemeißelt ist und ihr Zuschnitt wie ihre Aufgabenbereiche prinzipiell in Frage gestellt werden können. Wie gesehen, besitzt Nordrhein-Westfalen offensichtlich so wenig intrinsischen Zusammenhalt, dass eine grundlegende Neuausrichtung seiner Landesstrukturen infolge der Ausarbeitung einer tatsächlich gesamtdeutschen Verfassung oder der weiteren Europäisierung der Politik durchaus denkbar erscheint. Spätestens die (finanziellen) Folgelasten der deutschen Wiedervereinigung und die Zunahme der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit erfordern eine Diskussion über Staatlichkeit und Staatshandeln in Deutschland und die Beantwortung der Frage, was der Staat alter Prägung überhaupt noch leisten kann und soll. Aufbau Ost sowie die Solidarpakte I und II belasten NRW und seine Kommunen noch bis 1401
Vgl. hierzu auch: Modernisierung der Verwaltungsbeziehungen von Bund und Ländern. Gutachten des Bundesrechnungshofes als Bundesbeauftragter für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung, Stuttgart 2007, S. 36.
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2019 und nehmen dem Land genauso wie den zum Teil hochverschuldeten Gemeinden monetäre Spielräume für Zukunftsinvestitionen.1402 Wurde nach 1990 allzu wohlfeil der auf seine Kernkompetenzen beschränkte schlanke Staat gefordert, ohne zu bedenken, dass manche Politikfelder mehr als eines reinen Nachtwächters bedürfen, ist diese Position dennoch nicht sofort abzutun, sondern vor dem Hintergrund der effizienten Verwendung knapper werdender Geldmittel und potentieller systemischer Steuerungsgewinne durch gesellschaftliche Inklusion, durch Entscheidungs- wie Umsetzungsdelegationen ernsthaft zu durchdenken. Anstatt dass das Land NRW sich – wie mit dem im Dezember 2011 beschlossenen Stärkungspakt Stadtfinanzen – selbst verschuldet, um die Lebensfähigkeit seiner überschuldeten Kommunen sicherzustellen,1403 erscheint angebracht, zusätzlich über eine Neuordnung der öffentlichen Zuständigkeiten zu sinnieren; die Bestimmung, wer welche Angelegenheiten auf welcher Ebene am besten – nicht allein qualitativ, sondern auch mit Blick auf die effiziente Mittelverwendung – bewältigen sollte, erfordert notwendigerweise eine Diskussion um das Verhältnis von Staat, Regionen und Zivilgesellschaft in Nordrhein-Westfalen. Politische Partizipationselemente stellen sich heute allzu oft bloß als die Übertragung der Ausführung andernorts gefasster Beschlüsse unter dem steten Rückholrecht des beaufsichtigenden Staates dar. Anstatt von autonomen Handlungsmöglichkeiten ist von Vollzugsföderalismus, von Selbstverwaltung anstelle -gestaltung zu sprechen, da sowohl der Bund als auch die Länder – die sich gegenüber der Bundesebene für die konsequente Beachtung des Subsidiaritätsgedankens aussprechen, ihrerseits aber verlorengegangene Kompetenzen auf Kosten der Kommunen kompensieren – als Ausgleich für relative Bedeutungsverluste infolge von Europäisierung und Globalisierung zunehmend Aufgaben zentralisieren; nachfolgende Staatsebenen werden hierdurch wie durch die gleichzeitige Verschiebung – häufig unterfinanzierter –Aufgabenstellungen etwa innerhalb des Sozialleistungssystems ein-
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2010 fielen nahezu 50% oder 20 Milliarden Euro der bundesweiten kommunalen Kassenkredite – die die Überschuldung der Kommunen besonders deutlich machen – auf die Städte und Gemeinden in NRW, für Investitionen standen den NRW-Kommunen nur 165 Euro, den westdeutschen Kommunen im Schnitt jedoch 296 Euro zur Verfügung. Hoch umstritten und Gegenstand anhaltender Kontroversen ist der Streitpunkt Aufbau Ost, der 91 nordrhein-westfälische Kommunen sogar zu einer Verfassungsbeschwerde gegenüber dem Land ob vermeintlicher übermäßiger Belastungen durch das Einheitslastenabrechnungsgesetz bewegte. Ohne dass absolut gesicherte Daten vorliegen – die zudem aufgrund der von interessierter Seite artikulierten Zahlen mit Vorsicht zu genießen sind –, spricht etwa die Verwaltungswissenschaftlerin Gisela Färber von einer Überzahlung allein im Jahr 2006 von etwa 800-900 Millionen Euro, verweist der Finanzwissenschaftler Thomas Lenk auf die dem Land jährlich entgehenden Mittel im System des Finanzausgleichs von etwa 1,5 Milliarden Euro aufgrund der im Durchschnitt ärmeren OstKommunen. Vgl. hierzu den Gemeindefinanzbericht 2011 des Städtetags Nordrhein-Westfalen, in: Eildienst. Informationen für Rat und Verwaltung 10 (28.10.2011), insb. S. 3, 11f., 47; Arbeitsgemeinschaft der kommunalen Spitzenverbände in Nordrhein-Westfalen: Beteiligung der nordrhein-westfälischen Kommunen an den einheitsbedingten Lasten des Landes Nordrhein-Westfalen. Hintergründe zum Thema und Einzelheiten aus dem Gutachten von Gisela Färber, einsehbar unter http://www.staedtetagnrw.de/imperia/md/content/stnrw/internet/1_presse/2009/20090902_hintergrundpapier_faerber_guta chten_einheitslasten.pdf, insb. S. 5 (10.12.2011). Zwischen 2011 und 2020 will das Land 34 stark überschuldeten Kommunen insgesamt 5, 8 Milliarden Euro zur Verfügung stellen; diese sollen im Gegenzug bis 2020 ihre Etats sanieren und einen Ausgleich schaffen. Vgl. hierzu Süddeutsche Zeitung (9.12.2011), S. 6.
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geschränkt.1404 Vorwürfe, Bürgerbeteiligung sei langwierig, teuer und bringe unqualifizierte Ergebnisse, verdecken nur unzureichend die dahinterstehende Machtfrage und den Unwillen der etablierten Politik, Hoheitsbefugnisse aus der Hand zu geben; ebenso schimmert hierbei die Frage nach dem grundlegenden Demokratieverständnis durch: Lebt Politik von Diskussion und Beteiligung, oder ist sie hierarchisch betriebene Ergebnisorientierung unter dem Schleier der – nurmehr exekutiven – Mitwirkung? Normativ-demokratietheoretisch erfordert die Diskussion um die Staatlichkeit in Deutschland die Bereicherung repräsentativer durch partizipative Politikmodelle. Intermediäre Einrichtungen erhöhen als Orte republikanischer Mitbestimmung die innerstaatliche Freiheit, tragen zur vertikalen Machtbegrenzung bei und stärken die Demokratie bottom up; sie verwirklichen den Anspruch auf Politik als Teilhabe anstatt als Herrschaftskategorie, vermitteln ein Gemeinschaftsbewusstsein und stärken den Staat von seinen Wurzeln. Dem vermeintlichen Verlust an Regierungsfähigkeit, mit dem die Verweigerung erweiterter Beteiligungsrechte oftmals begründet wird, ist entgegenzuhalten, gerade die Delegation von Politikfeldern, die Ermächtigung der Zivilgesellschaft und die Konzentration auf staatliche Kernkompetenzen erlaube einen Zugewinn an systemischer Steuerungsfähigkeit. Partizipation, gelebt „wo immer außerhalb der politischen Herrschaftsinstitutionen stehende Angehörige eines Gemeinwesens in Ergänzung obrigkeitlicher Fürsorge oder in konstruktiver Auseinandersetzung mit ihr initiativ geworden sind (und A.W.) um Mitgestaltung des sozialen Lebens bemüht waren“,1405 ist möglich unter der Abgabe von Entscheidungsmacht oder der Neubestimmung des Verhältnisses von Kommunikation und Dezision; selbst eine anfängliche Legitimation durch öffentliche Nachvollziehbarkeit bedeutete „die Demokratisierung der Demokratie“,1406 die Förderung des Subsidiaritätsprinzips wie auch der Systemakzeptanz, wo in einem späteren Schritt der entscheidende Punkt der Bürgernähe sich auf mehr als auf die reine Anhörung erstreckte. Gerade innerhalb eines föderalen Staatsaufbaus und in einem Land mit durchaus vorhandenen Selbstverwaltungstraditionen wie Nordrhein-Westfalen erscheint die Ergänzung des Staates durch institutionalisierte Teilhabeforen als berechtigt. Realistischerweise ist mit Blick auf ein Flächenland wie NRW keinesfalls ein rousseausches Ideal republikanischer Selbstregierung, sondern allenfalls der sowohl räumlich wie auch sachlich begrenzte Ausbau von Mitbestimmungselementen anzustreben; die repräsentative Demokratie ist zu ergänzen, anstatt sie in Gänze in Frage zu stellen. Anstelle einer Totalpolitisierung – der erfahrungsgemäß der begrenzte und auf bestimmte Bevölkerungsteile konzentrierte Wille zur Einbringung ins Gemeinwesen, die hieraus abgeleitete Unkenntnis über zu entscheidende Inhalte wie auch begrenzte Zeitbudgets entgegenstehen –1407 erhöh1404
1405 1406 1407
Vgl. Blankart, Charles M.: Haftungsgrenzen im föderalen Staat, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (26.11.2005), S. 13. Infolge der zunehmenden Belastung durch die Ausgaben insbesondere für Grundsicherung im Alter und Unterkunftskosten der Bezieher von Arbeitslosengeld II übernimmt der Bund ab 2014 vollständig. Vgl. Gemeindefinanzbericht 2011, in: Eildienst, S. 35. Mayer-Tasch, Peter Cornelius: Die Bürgerinitiativbewegung - Der aktive Bürger als rechts- und politikwissenschaftliches Problem, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 7. Giddens, Anthony: Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1999, S. 161. Heutzutage sind es zumeist gebildete und wohlhabende Gesellschaftsschichten, die sich öffentlich einbringen; hier sind keine fundamentalen Unterschiede zur Adelsvorherrschaft vergangener Zeiten auszumachen. Vgl. zum Zusammenhang von politischer Partizipation und sozialer Ungleichheit Böhnke,
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te eine dosierte Erweiterung der Beteiligungsmöglichkeiten die Legitimität des wie auch die Verbundenheit mit dem Staatsganzen, machte das Gemeinwesen erkennbar und festigte es. In Absetzung von der Erosion festumgrenzter Raumvorstellungen, von Globalisierungs- und Europäisierungsprozessen mitsamt einhergehender Legitimitätseinbußen für den Staat alter Prägung, eröffneten die Bereitschaft zur Akzeptanz differenzierter Politikmuster und die Diversifizierung öffentlicher Handlungsräume regional-kollektive Verortungsperspektiven und Gemeinsinn; der Aushöhlung der hoheitlichen Demokratie ist mit ihrer inneren Erweiterung zu begegnen und hierbei ein Mittelweg zwischen partizipativer Inklusion und dem Gewährenlassen individueller Lebenswege zu finden. Die Forderung nach mehr Teilhabe am politisch-administrativen Prozess in NRW zieht folglich auch nur den Anspruch einer Dezentralisierung der Landesstrukturen und einer Ergänzung der hoheitlich-staatlichen durch horizontal-gesellschaftliche Selbstverwaltungsgremien nach sich; ein pragmatisches Pendantverhältnis wäre sowohl im Interesse des Landes – es würde in Teilen entlastet und gewänne hierüber wie durch die Einbeziehung bürgerlichen Sachverstands an Steuerungspotential – wie auch der Bevölkerung, die sich und ihre Belange vermehrt in das Landesganze einbringen könnte, ohne dies zu müssen. Im Anschluss an Aristoteles erscheint das Politische, die gemeinschaftsorientierte Gestaltung regionaler Lebensformen, als Teil des guten Lebens und ist die geteilte Sorge um die Lebensfähigkeit des Gemeinwesens konstitutiv für persönlich-kollektiven Identitätsgewinn;1408 zugleich folgt dieser Selbstverwaltungsimpetus der nordrhein-westfälischen Landschaftsgenese. Diskutierbar ist, über eine solche Politik des Ermöglichens Land und Landesbewusstsein indirekt zu stärken. Funktionsdelegationen und vermehrtes zivilgesellschaftliches Engagement verringerten die Staatsaufgaben, versetzten das Land in die Lage, sich auf die ihm verbleibenden Bereiche zu konzentrieren und steigerten womöglich seine Problemlösungsfähigkeit. Denkbar erscheint, dass NRW zum einen hierüber an direkter Akzeptanz und Legitimität gewänne, und es zum anderen als Gemeinwesen, das regionale Eigenentwicklung zulässt und nicht zwanghaft ein Verbundenheitsgefühl einfordert, über Umwege auch angenommen werden könnte. Anders als vorherige indirekte Integrationsstrategien – die Wir in Nordrhein-Westfalen-Kampagne und die Regionalisierung der Struktur- und Kulturpolitik – gäben solcherart geschaffene, in ihrer selbständigen Aufgabenerledigung eng an einen landesseits gesetzten Rahmen gebundene partizipative Regionalstrukturen Nordrhein-Westfalen ein zukunftsgerichtetes, seine Binnenlandschaften positiv überwölbendes Leitbild, das dem Land wie seinen Subräumen diente. Administrativeinrichtungen sind – so unschön dies klingt – nicht zuletzt auch Standortfaktoren im globalen Wettbewerb, die diesem umso besser gerecht würden, je mehr sie auf landschaftlicher Verbundenheit aufbauten; diese Erkenntnis, und nicht künstliche Neuzuschneidungen sollte Reformmaßnahmen leiten und die in den Regionen vorhandenen Identitäten in ihrem wie im Landesinteresse aktivieren.
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Petra: Ungleiche Verteilung politischer und zivilgesellschaftlicher Partizipation, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1-2 (2011), S. 18-25. Vgl. Sandel, Michael: Die verfahrensrechtliche Republik und das ungebundene Selbst, in: Honneth, Kommunitarismus, S. 18-35, insb.: S. 26ff.
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Demokratietheoretisch, aus der Landschaftsgenese des historischen wie der politischen Kultur des heutigen Nordrhein-Westfalens spricht vieles dafür, so viel Selbständigkeit wie möglich an Gesellschaft und Bürger zurückzugeben und subsidiäre Selbstverwaltungstraditionen zu erneuern; auf dieser Ebene ist Partizipation organisierbar, hier besteht das Wissen um Probleme, politisch-kulturelle Besonderheiten sowie Lösungsmöglichkeiten. Ein Verwaltungsauf- und -umbau entlang hergebrachter, landschaftlicher Identitätslinien, der die Bevölkerung auf dem Wege einer Effizienzsteigerung öffentlichen Handelns einbände, fundierte die kognitive und womöglich auch affektive Bindung an Mitmenschen und Raum; dieser Ansatz vernachlässigte zwar das Ansinnen, das Land und seine Teile anzunähern und vertiefte die raumstrukturelle Binnenheterogenität, verspräche aber in der räumlich geteilten, doch kollektiv-übergreifenden Sorge um das Gemeinwesen NRW eine Annäherung von unten. Dies alles verleitet zu der Annahme, Nordrhein-Westfalen sollte ob der Schwierigkeit seines Zusammenwachsens und vor dem Hintergrund historisch überlieferter Strukturgräben den bereits eingeschlagenen Regionalisierungspfad weiterverfolgen und akzeptieren, dass es nicht notwendigerweise eines Landesbewusstseins bedarf. Auf landschaftlicher Ebene sind zum einen die notwendigen Verbundenheiten vorhanden, zum anderen die erfolgsversprechendsten Möglichkeiten einer effizienten Landesverwaltung zu vermuten: Kooperation und Mitwirkung können nicht einfach durch das Land verordnet werden, sondern müssen auf gesellschaftlichen Verflechtungen aufsetzen, um die Bürgerschaft und ihre Fähigkeiten hierfür zu motivieren. Die Verständigung über die Zukunft, die geteilte Übernahme von Verantwortung in dem und für das Gemeinwesen wie die in der Partizipation erfahrene Zusammengehörigkeit erscheinen allenfalls auf regionaler Ebene organisierbar, wie sie hier bereits über aktivierbare, kollektivkonstruktivistische Identitätselemente verfügen. Fraglich ist, ob auf Ebenen verzichtet, neue geschaffen oder der bisherige Status quo optimiert werden sollte; zu berücksichtigen ist deshalb stets die Frage nach tatsächlicher Verwaltungsvereinfachung oder Mitteleinsparung, wenn nicht systemimmanent reformiert, sondern dieses umgeworfen würde. Die Bildung zentraler Großbehörden ist zum einen mit hohen anfänglichen Einrichtungs-, aber auch mit mittelfristigen Umsetzungskosten verbunden: Neue Behördenstränge müssten ihre Rolle erst finden, wären zunächst mehr mit sich als mit sachlichen Anliegen beschäftigt und büßten an Problemnähe ein. Unterschätzt werden sollte nicht die Gefahr, eingeübte Beziehungsgeflechte zu zerreißen und die Verwaltungsstränge mit der Etablierung neuer zu belasten; auf der anderen Seite sind mit einer maßvollen Reduzierung und Vergrößerung der verbleibenden Institutionen auch wirtschaftliche Skalenerträge zu erwarten, die den Teilzielen Effektivität und Effizienz entsprächen. Bedenkenswert ist, inwiefern ein Neuzuschnitt administrativer Zuständigkeitsregelungen zur Behebung struktureller Probleme beitrüge und vor allem, ob dieser nicht den mentalen Kartierungen der Bevölkerung sowie dem Ansinnen erweiterter Partizipationselemente entgegenstünde. Anstelle in Duodezverhältnisse zurückzukehren, erscheint eine moderate, sowohl landschaftliche Identitäten als auch die gesamtsystemische Steuerungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeitsaspekte berücksichtigende Regionalisierungs-
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perspektive als erstrebenswert, die infolgedessen insbesondere auf die administrative Mittelebene des Landes abzielte.1409
H.I.2. Die Reform des administrativen Mittelbaus Die Bestimmung des Verhältnisses von Landesbehörden und (höheren) kommunalen Gebietskörperschaften ist ein seit 1946 in Zyklen wiederauftauchendes, auf das verworrene Verhältnis von Staat und Landschaften, von zentraler Politik und dezentraler Selbstverwaltung verweisendes Thema der nordrhein-westfälischen Landesgeschichte. Charakteristisch für eine der meistumstrittenen, doch am wenigsten zielführenden Debatten ist ihr Verlauf vornehmlich entlang historisch-kultureller anstelle sachlicher Argumentationslinien, infolge derer grundlegende Veränderungen bis heute ausblieben.1410 Hauptgegenstand der Auseinandersetzung war und ist der administrative Landesmittelbau, dessen Strukturen sich verschiedene Landesregierungen näherten, von weitreichenden Reformen jedoch stets wieder Abstand nahmen.1411 Bei Änderungen im Detail, ist die heutige Verwaltungsgliederung zum einen Resultat der Landschaftsgenese, zum anderen Produkt des Kontextes der Landesgründung: Unter britischer Aufsicht bemühten sich die ersten Landesregierungen, hergebrachte kulturelle Identitäten in dem neu zusammengefügten Bundesland zu schützen und sie – im dahinterstehenden Integrationsinteresse – innerhalb des Landesgefüges zu berücksichtigen; insbesondere die Ausgestaltung der höheren kommunalen Institutionenfamilie war hierbei als Mittel zur Hebung der Landesakzeptanz wie zur Sicherung landschaftlicher Traditionsbestände gedacht. Die in den Landesgründungsjahren entstandenen Doppelstrukturen aus den Regierungspräsidien Aachen – 1972 in Köln aufgegangen –, Arnsberg, Detmold, Düsseldorf, Köln und Münster sowie den höheren Kommunalverbänden Landschaftsverband Rheinland (LVR) und Westfalen-Lippe (LWL), heutigem Regionalverband Ruhr (RVR) und Landesverband Lippe (LVL) hemmten mit ihren gegeneinander abgegrenzten Binnenperspektiven jedoch eher die Annäherung der Landesteile, als sie zu befördern, und 1409
1410
1411
Nicht erwartet werden darf an dieser Stelle eine umfassende Analyse, die stichhaltig, unter Einbeziehung rechtlicher oder verwaltungswissenschaftlicher Aspekte Lösungsvorschläge für ein seit fünfzig Jahren diskutiertes und ungelöstes Thema präsentiert. Die Argumentation lehnt sich an vorliegende Expertenuntersuchungen an und setzt diese in Relation zu landschaftshistorischen Befunden wie zur allgemeinen Regionalismusdebatte. Auf diesem Ausblick liegt kein Hauptaspekt der Untersuchung, sämtliche Vorschläge beanspruchen vor dem Hintergrund der im Laufe der Arbeit gewonnenen Erkenntnisse nicht mehr als Plausibilität. Vgl. pars pro toto bereits Granenberg, Nina: Heimat, deine Sterne. Verwaltungsreform – für Rheinländer und Westfalen ein rotes Tuch, in: Die Zeit (2.4.1965), einsehbar unter http://www.zeit.de/1965/14/Heimat-deine-Sterne, (13.1.2010). So zuletzt die 2010 abgewählte CDU/FDP-Koalition. Noch im Koalitionsvertrag von CDU und FDP war angekündigt, man wolle die Reform der Mittelinstanz im Konsens mit der SPD verwirklichen. Vgl. Nordrhein-Westfalen: Land der neuen Chancen. Koalitionsvertrag von CDU und FDP zur Bildung einer neuen Landesregierung in Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf (20.6.2005), S. 11f. Vgl. zum Abrücken der Landesregierung von ihrer Vereinbarung Polke, Frank: NRW-Regierung rückt von Dreiteilung ab, in: Westfälische Nachrichten, einsehbar unter http://www.westfaelischenachrichten.de/aktuelles/top_thema_2/1156941_NRW_Regierung_rueckt_von_Dreiteilung_ab.html (12.11.2009).
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nährten zudem Vorwürfe, die administrative Mittelebene leide an unklaren Aufgabenabgrenzungen, Effizienzverlusten und Intransparenz.1412 Reformvorschläge – wie die hier nur ausschnittsweise angedeuteten und nicht im Einzelnen zu besprechenden Gutachten des Innenministeriums von 1955 (Arnsberger Gutachten), des Innenstaatssekretärs Fritz Rietdorf von 1968 (Rietdorf-Gutachten), des Verwaltungswissenschaftlers Thomas Ellwein von 1993 (Ellwein-Gutachten), das 2003 von der damaligen SPD/Grünen-Landesregierung ausgesendete Düsseldorfer Signal für Erneuerung und Konzentration oder die Abmachungen des CDU/FDP-Koalitionsvertrags von 2005 –1413 aus Politik und Wissenschaft erreichten nie mehr als nur Teilziele und sahen neben einer Reduzierung der Zahl der Regierungsbezirke oder der Abschaffung der Landschaftsverbände die Zusammenführung beider Ebenen in Regionalkreisen als Möglichkeit vor; rechtlich-moralische Hindernisse wie die Lippischen Punktationen, Proteste aus den Landesteilen oder verfassungsrechtliche Bedenken gegen staatlich-kommunale Mischverwaltungen sicherten allerdings bislang den überkommenen Dualismus. Reformdebatten um die administrative Mittelebene eignen sich – neben stets zu berücksichtigender Besitzstandswahrung – stets zur Weckung regionaler Empfindlichkeiten, rufen in den Landesteilen unterschiedlich starken Widerstand hervor und verweisen auf den Fortbestand mentaler Bewusstseinsbarrieren. Vor allem der westfälische Landesteil wehrt der sich gegen Vorschläge wie die Dreiteilung des Landes in Rheinland, Ruhrgebiet und Westfalen und sieht sich in dem Modell durch den relativen Verlust an Bevölkerung und Wirtschaftskraft zu einem abgehängten Restfalen herabgestuft.1414 H.I.2.1. Reformdiskussion Sowohl Regierungspräsidien als auch höhere Kommunalverbände erfuhren in den letzten Jahren eine serielle Neubestimmung ihrer Verantwortlichkeiten, ohne bestehende Überschneidungen in den Bereichen Denkmalpflege, Krankenwesen und Straßenbau deutlich und nur mit der Verlagerung der Zuständigkeit für Planung, Bau und Betrieb der Bundesund Landstraßen von den Landschaftsverbänden auf den Landesbetrieb Straßenbau Nordrhein-Westfalen seriell abzubauen. Zur Sicherung ihres Status’ nehmen beide Seiten für sich eine notwendige Bündelungsfunktion oder die Spiegelung regionaler Identitäten in An1412 1413
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Kost, Andreas: Kommunalpolitik in Nordrhein-Westfalen, in: ders./Wehling, Hans-Georg (Hrsg.): Kommunalpolitik in den deutschen Ländern. Eine Einführung, Bonn 2003, S. 197-219, hier: S. 202. Vgl. zu den einzelnen Modellen Pickenäcker, Birgit Anne: Bezirksregierungen in NRW. Entwicklung – Transformation – Perspektive, Ibbenbüren 2007, S. 25 und passim sowie Romeyk, „Und sie bewegt sich doch“, in: Grunow, Verwaltung in Nordrhein-Westfalen, S. 65ff. Vgl. Romeyk, Horst: „Im Interesse einer fortschrittlichen Entwicklung der Verwaltungsstruktur“ – Die staatliche Neugliederung, in: Reinicke, Christian/Romeyk, Horst (Red.): Nordrhein-Westfalen. Ein Land in seiner Geschichte, Aspekte und Konturen 1946-1996, München 1996, S. 442-446, hier: S. 444 sowie Schulte-Uebbing, Karl-Friedrich: Westfalen nicht abkoppeln, in: Wirtschaftsspiegel 9 (2009), S. 50-52. Zuletzt äußerte sich als hochrangiger Landespolitiker der damalige Bau- und Verkehrsminister Oliver Wittke (CDU) zur Zusammenlegung von Regierungsbezirke und Landschaftsverbänden und der Aufteilung Nordrhein-Westfalens in die Verwaltungseinheiten Rheinland, Ruhrgebiet und Westfalen, erntete hierfür 2008 jedoch die westfälische Replik, hierdurch – nicht zu bestreitende – wirtschaftliche Disparitäten zu verstärken und als Landesteil zu einem „Urlaubsgebiet der Rheinländer“ herabzusinken. Vgl. Polke, Frank: Wittke stellt Münsterland hinten an. Streit über Verwaltungsreform bricht neu auf, in: Westfälische Nachrichten (22.8.2008), S. 1.
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spruch, doch stehen dem Erhalt beider Ebenen in ihrer jetzigen Form Reibungsverluste, erhöhte Bürokratiekosten und subregionale Bindungen entgegen.1415 Die aus preußischer Zeit nach Nordrhein-Westfalen hineinragenden Doppelstrukturen sind in erster Linie historisch, jedoch kaum verwaltungssystematisch zu rechtfertigen; insofern ist unter Hinzuziehung landschaftlicher Prägungen, der Leitkriterien Effektivität, Effizienz und Bürgernähe sowie dem Wissen um die beschränkten Steuerungsfähigkeiten eines hochverschuldeten Landes wie Nordrhein-Westfalen die Frage nach der sachadäquaten Verteilung und räumlichen Begrenzung administrativer Zuständigkeiten zu klären. „Die Wiedergewinnung von Staatlichkeit setzt dieses Wissen und das Wissen um die Aufgabenteilung in der Politik voraus…Staatsreform ist Staatsvereinfachung um der Überlebensfähigkeit des Staates und der Erfüllung seiner Kernfunktionen willen.“1416 Weder das Grundgesetz (GG) noch die Landesverfassung Nordrhein-Westfalens (LVNRW) sichern Regierungsbezirken oder höheren Kommunalverbänden in ihren heutigen Zuschnitten oder ihren Aufgabenwahrnehmungen Bestandsschutz. Letztere zählen zwar zu den in Artikel 78 LVNRW genannten Gemeindeverbänden und genießen als solche verfassungsrechtlich verbriefte Selbstverwaltungsrechte, ohne jedoch gegen ihre Abschaffung gesichert zu sein; in Verbindung mit Art. 28, 1 Satz 2 GG sind nach herrschender Meinung einzig die Landkreise – erneut nicht in Gestalt und Zuständigkeitsbereich, sondern als Institution – gegen eine Auflösung gefeit. Dieser formelle Reformrahmen wird ergänzt durch einen materiellen, der einer Kommunalisierung staatlicher Aufgaben insofern Grenzen setzt, als sie eigenständige Handlungsoptionen der Gemeinden und Gemeindeverbände keinesfalls überfrachten und somit gleichsam aushöhlen darf.1417 Ist der Spielraum für einen Verantwortlichkeitstransfer von den Bezirksregierungen auf die Landkreise oder Kommunen also von vornherein begrenzt – einzig die begleitende Festschreibung des Konnexitätsprinzips würde diese Schranke aufheben –, ist eine Rückübertragung der von den höheren Gemeindeverbänden nur in Stellvertretung getragenen Aufgabengebieten auf die kommunale Ebene – aus der sie hervorgehen – zumindest formell leichter möglich. H.I.2.1.1. Regierungsbezirke Die heute fünf Regierungspräsidien in Arnsberg, Detmold, Düsseldorf, Köln und Münster vertreten in ihrem Bezirk die Landesregierung, bündeln diejenigen Verwaltungsaufgaben, die nicht ausdrücklich einer Sonderbehörde zugewiesen sind, beobachten die allgemeine Entwicklung sämtlicher Lebensbereiche und beaufsichtigen nachgeordnete Stellen.1418 Als Landesmittelbehörden sind sie zunächst dem Land verpflichtet und setzen zentrale Vorgaben auf regionaler Ebene um, beziehen in diesen Prozess aber auch zivilgesellschaftliche 1415
1416 1417
1418
Vgl. zu den Argumenten auch, Mehde, Veith: Verwaltungsstrukturreform als Element der Verwaltungsvereinfachung, in: Burgi, Martin/Palmen, Manfred (Hrsg.): Symposium. Die Verwaltungsstrukturreform in Nordrhein-Westfalen. Vortragsband, Bochum 2008, S. 37-72, insb.: S. 46-48, 64-66. Hesse, Regierungs- und Verwaltungsreform in Nordrhein-Westfalen, S. 193. Vgl. Jarrass, Hans D./Pieroth, Bodo: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 7. Aufl., München 2004, Art. 28 GG, Rn. 28 a. E. Vgl. ebenso Löwer, Wolfgang: Art. 28, in: Münch, Ingo von/Kunig, Philipp (Hrsg.): Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 5. Aufl., München 2001, Rn. 43, 84. Vgl. Ministerium für Inneres und Kommunales NRW, Gesetz über die Organisation der Landesverwaltung, §7ff.
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Akteure vor Ort ein und koordinieren die Politikimplementierung zwischen Land und Landschaften. Innerhalb des Landesgefüges übernehmen die Bezirksregierungen fünf große Aufgabengebiete: Als Aufsichtsbehörde üben sie die Rechts- und Fachaufsicht über untere Landesbehörden sowie die Kommunen aus und übernehmen Aufgaben des Denkmalschutzes und der Krankenhausförderung, als Ordnungsbehörde organisieren sie Katastrophenschutz oder Lebensmittelüberwachung und kontrollieren die Kreispolizeien, als Bewilligungsbehörde obliegt ihnen die Verteilung bundes- und landespolitischer Fördermittel sowie die Gewährleistung der ordnungsgemäßen Verwendung, als Genehmigungsbehörde bearbeiten sie Anträge zur Errichtung und Betrieb technischer Anlagen, und als Planungsbehörde stimmen sie die wirtschaftliche, ökologische und infrastrukturelle Raumentwicklung aufeinander ab.1419 Vor allem im Bereich der Raumplanung harmonisieren die Regierungspräsidien die hoheitliche Landespolitik mit gesellschaftlichem Selbststeuerungspotential und beziehen regionale Verantwortungsträger aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft in ihre Arbeit ein. Im Zusammenspiel mit den Regionalräten1420 beschließen sie Gebietsentwicklungsmaßnahmen für die Bereiche Städtebau, Verkehr, Freizeit- und Erholungswesen, Tourismus, Landschaftspflege, Wasserwirtschaft, Abfallbeseitigung und Kultur und stärken hierüber die interkommunale Eigenverantwortung sowie den wechselseitigen Austausch. Die Einrichtung der Regionalräte spiegelt den Regionalisierungs- und Dezentralisierungsansatz der Landespolitik und versetzt die Bezirksregierungen in eine Moderatorenrolle, die vermehrt Anstöße liefern, Debatten kanalisieren und Netzwerke knüpfen, anstatt Entscheidungen hierarchisch zu verfügen. Diskussionswürdig ist mit Bezug auf die staatliche Mittelebene zunächst der historisch tradierte Zuschnitt der Regierungsbezirke: Über sie ragen die zu Beginn der Preußenzeit angelegten Strukturen nach Nordrhein-Westfalen hinein, deren Anlage zwar damals einer gewissen Logik folgte, jedoch seither trotz aller landschaftshistorischen Veränderungen kaum modifiziert wurden. Die Hoheitsverwaltung des erst zur Mitte des 19. Jahrhunderts infolge funktionalistischer Binnenbeziehungen entstandenen Ruhrgebiets teilen sich bis heute die drei Regierungspräsidien Arnsberg, Düsseldorf und Münster, während die dünner besiedelten Bezirke Detmold und Münster – auch aufgrund ideeller Rücksichtnahmen – weitgehend Bestandsschutz genießen; Gutachter wie der Verwaltungswissenschaftler Joachim Jens Hesse machten ihre Forderung nach Konzentration und Vereinfachung der Landesverwaltung auch an diesen Ungleichgewichten fest. Inhaltlich trafen die Regierungspräsidien von gleicher Seite die Kritik an ihrer Aufgabenwahrnehmung und Zweifel an der Notwendigkeit eines derart breiten mittleren Instanzenzugs; Hesse sprach sich deshalb etwa für die administrative Zweiteilung NRWs in die Regierungsbezirke Rheinland und Westfalen, eine Rückführung ihrer Aufsichtsrechte sowie die weitgehende Kommunalisierung bislang staatlich übernommener Aufsichtsfunktionen aus.1421 1419 1420
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Bogumil, Jörg/Reichard, Christoph/Siebart, Patricia: Gutachten zur Verwaltungsstrukturreform in NRW. Schriftenreihe der Stiftung Westfalen-Initiative, Band 8, Ibbenbüren 2004, S. 59-72. Vgl. zu Bildung und Aufgaben der Regionalräte das Gesetz zur Änderung des Landesplanungsgesetzes NRW und weiterer Vorschriften vom 16. März 2010, in: Gesetz- und Verordnungsblatt Nordrhein-Westfalen Nr. 12 (2010), S. 211-220, § 6ff. Vgl. hierzu auch die Ausführungen zu Landschaftsgestaltung. Vgl. Hesse, Regierungs- und Verwaltungsreform in Nordrhein-Westfalen, S. 135, 180ff.
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Eine derart radikale Auflösung der Bezirksregierungen ruft jedoch Widerspruch hervor. Ein dichtbesiedeltes Flächenland wie Nordrhein-Westfalen kann dezentraler Bündelungsbehörden wie den Regierungspräsidien kaum entbehren, will sich die Staatsregierung landesweite Steuerungsmöglichkeiten bewahren. Zwar wäre im Sinne der Organleihe eine Verlagerung von Kontrollbefugnissen auf die Landkreise denkbar, doch gingen weitergehende Planungsdelegationen mit der Minderung überörtlicher Koordinierungseffekte einher. Zentralisierte Großbehörden büßten Problem- und Bürgernähe ein, stünden dem Leitziel einer Erweiterung regionaler Partizipationselemente entgegen und erhöhten die Umsetzungskosten der Landespolitik. Mit der Reduzierung der Landesmittelbehörden erwüchsen gegenüber dem Land zudem zwei übermächtige Landesteile entlang der rheinisch-westfälischen Strukturgrenze, die deutlicher als bisher die Existenzberechtigung Nordrhein-Westfalens gefährdeten; auch widersprächen sie den Bemühungen der vergangenen Jahre, das Ruhrgebiet im Landesgefüge aufzuwerten. Der Aspekt einer weitgehenden Kommunalisierung wäre aus dem Blickwinkel einer dezentralisierenden Stärkung bürgerschaftlichen Engagements zwar wünschenswert, überstiege zur Zeit jedoch die Leistungsfähigkeit von Städten und Gemeinden und wäre letztlich mit einem kaum zu bewältigenden Kraftakt – schließlich müsste wohl die im Grundgesetz in den Artikeln 104a ff. festgelegte Finanzverfassung im Konsens mit Bund und 15 Ländern reformiert werden, um mit den Finanzströmen auch die Mittelausstattung der Gemeinden zu verändern und zu verbessern – verbunden. Die Auflösung der Regierungsbezirke Detmold und Münster zöge mit der Umverteilung der Erbmasse zwar ein relatives Gleichgewicht der staatlichen Mittelbehörden nach sich, wäre jedoch mit neuerlichen Verwerfungen hinsichtlich der vermeintlichen Benachteiligung Westfalens wie den Zusagen an Lippe verbunden. Nicht komplett außen vor gelassen werden dürfen zudem Aspekte der kommunalen Wirtschaftsstrukturen: Verwaltungsinstitutionen und ihre Mitarbeiter sind – vor allem in den kleineren Standorten Arnsberg und Detmold – wichtiger Teil der lokalen Wirtschaft, die durch Nachfrage auch Beschäftigung generieren; diese wäre durch eine Zentralisierungspolitik gefährdet. Die ebenfalls diskutierte staatsadministrative Dreiteilung Nordrhein-Westfalens in die Bezirke Rheinland, Ruhrgebiet und Westfalen befördert neben den bereits zitierten Restfalen-Ängsten weiteren Klärungsbedarf: Der Plan wurde bereits im Arnsberger Gutachten als Mittel zur Meisterung der Strukturprobleme des Ruhrgebiets gesehen, stimmt jedoch mit Blick auf dessen Raumgeschichte skeptisch; vor dem Hintergrund des Grunddilemmas geringer Kooperationsbereitschaft und überlieferter innerer Zersplitterung vermag allein die Schaffung eines weiteren, diesmal staatlichen Koordinationsgremiums seine wirtschaftlichen Probleme nicht zu lösen. Ein Regierungsbezirk Ruhr ballte hingegen negative sozioökonomische Kennziffern und belastete – je nach regulatorischer Ausgestaltung und der möglichen Integration des RVR – die Ruhrgebietskommunen mit hohen Umlagezahlungen;1422 ohnehin erscheint es schwierig, eine Region, deren Auseinanderentwicklung die 1422
Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe sieht auf einen möglichen Ruhrbezirk aufgrund des Verlustes der Ausgleichsfunktion ländlicher Umlandgemeinden im Status quo die Ruhrgebietskommunen mit jährlichen Mehrbelastungen von 24 Millionen € konfrontiert. Vgl. Landschaftsverband Westfalen-Lippe: Schaffung von drei regionalen Kommunalverbänden in NRW – Fragen, Probleme und mögliche Konsequenzen, Drucksache 11/1818 des LWL, Münster 2003, S. 2. Zitiert nach Bogumil et. al., Gutachten zur Verwaltungsstrukturreform in NRW, S. 96.
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Reaktivierung alter Raumverflechtungen mit sich bringt, durch einen staatlichen Regierungsbezirk zusammenhalten zu wollen. Auf der anderen Seite korrigierte ein solcher die jahrzehntelange administrative Zerschneidung des Reviers und stellte sich in eine Linie mit den Verwaltungsreformen der letzten Jahre sowie der sukzessiven Stärkung der Kompetenzen des RVRs. Die Maßnahmen waren und sind durchaus als Vorbereitung eines künftigen Ruhrbezirks zu deuten, der durch die höhere Verbindlichkeit einer staatlichen Institutionalisierung gegenüber der mehr freiwilligen bisherigen Zusammenarbeit durchaus zusammenwachsen könnte. Es erscheint durchaus nachvollziehbar, einem hoheitlich fixierten, mit klaren Planungs- und Durchgriffsrechten ausgestatteten Regierungspräsidium eine höhere Problemlösungskompetenz sowie ein Mehr an Effizienz, Effektivität und Bürgernähe gegenüber den zur Zeit noch zwischen dem RVR sowie den Bezirksregierungen und Regionalräten in Arnsberg, Düsseldorf und Münster abzustimmenden Entwicklungsplänen zuzusprechen. Reformen innerhalb des Status quos mit einer seriellen Kompetenzverlagerung von den höheren Kommunalverbänden auf die Regierungspräsidien oder die lokale Ebene beseitigten Schnittstellen, verspräche Steuerungsgewinne und erhielte eingespielte Beziehungsgeflechte, setzte jedoch die Zerschneidung des Ruhrgebiets fort. Die drei wesentlichen Reformkriterien wären innerhalb der bestehenden Strukturen nur schwerlich zu erreichen, da vor allem die Bürgernähe und die aus ihr entspringenden Gestaltungspotentiale vernachlässigt würden, doch brächte das Modell durch sein Aufsetzen auf bestehenden Institutionen zugleich geringere Umsetzungs- und Reformkosten mit sich und weckte – je nach der Reichweite der Beschneidung der höheren Kommunalverbände – in Westfalen-Lippe zunächst geringere Vorbehalte. H.I.2.1.2. Höhere Kommunalverbände Die höheren Kommunalverbände in Nordrhein-Westfalen, die Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe, der Regionalverband Ruhr und der Landesverband Lippe stehen in der preußischen Tradition der Ergänzung der hoheitlichen Landesadministration durch subräumliche Selbstverwaltungsorgane und dem Versuch, das heterogene staatliche Gemeinwesen durch die Gewährung eigenständiger regionaler Spielräume zu integrieren. Ihre vor allem im sozialen, kulturellen und landesplanerischen Bereich liegenden Tätigkeiten sind in den sie begründenden Organisationsgesetzen abschließend aufgezählt und können nur aufgrund eines vom Landtag erlassenen Gesetzes eingeschränkt oder erweitert werden.1423 Insbesondere die Landschaftsverbände sind wiederkehrender Gegenstand der Reformdiskussion, da ihre Existenz und Aufgabenwahrnehmung zunächst historischer Rücksichtnahme sowie dem inneren Landesgründungsprozess anstelle innerer Notwendigkeit folgten und sie der wichtigste Beweggrund für den Vorwurf der Übermöblierung des administrativen Landesmittelbaus sind; zudem haben sie – hierin den beiden anderen höheren Kommunalverbänden ähnlich – an der Erhaltung gegeneinander abgegrenzter Raumwahrnehmungen innerhalb Nordrhein-Westfalens teil, werden hierin allerdings –
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Vgl. hierzu § 5 der Landschaftsverbandsordnung für das Land Nordrhein-Westfalen, § 4 des Gesetzes über den Regionalverband Ruhr, § 2 des Gesetzes über den Landesverband Lippe sowie die Ausführungen zur Landschaftsgestaltung.
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womöglich intentional – seit geraumer Zeit auch durch die Regionalisierung der Landespolitik herausgefordert. Mit der maßgeblich infolge westfälischer Initiativen verabschiedeten Landschaftsverbandsordnung kommunalisierte NRW weitreichende – in anderen Bundesländern staatlich verantwortete – Verwaltungstätigkeiten wie den Straßenbau und machte die Landschaftsverbände zu Mischwesen zwischen gemeindlicher Selbst- und staatlicher Hoheitsverwaltung. Die hier gegenüber den Bezirksregierungen angelegte Aufgabenüberlappung ist ebenso Gegenstand der Kritik wie ihr – vermeintlicher – Anteil am schwierigen Zusammenwachsen Nordrhein-Westfalens: Zumindest formell tragen sie den geschichtlich überlieferten rheinisch-westfälischen Strukturgegensatz in das 21. Jahrhundert und festigen mit der von ihnen wahrgenommene landschaftlichen Kulturpflege den Bindestrich zwischen den Landesteilen; ebenso monieren Gegner die Abgehobenheit der indirekt aus Kreistagen und Stadträten gebildeten Landschaftsversammlungen von den sie beschickenden Organen und ihre fehlende Bürgernähe.1424 Anstatt sie abzuschaffen und hierüber Widerstände insbesondere in Westfalen heraufzubeschwören, wurden ihre Zuständigkeiten in den letzten Jahren landesseits beschnitten und die Landschaftsverbände innerhalb des Landesgefüges geschwächt – womöglich, um ihre endgültige Auflösung eines Tages leichter zu rechtfertigen. Mehr noch als der Verlust inhaltlicher Aufgabenstellungen wie der Straßenbauverwaltung, begrenzen wachsende Haushaltsprobleme die Arbeit der Landschaftsverbände: Der allergrößte Teil ihres Budgets – im Rheinland 90%, in Westfalen-Lippe 85% – 1425 ist an die bundes- und landesgesetzlich vorgeschriebene Sozialfürsorge und hier vor allem an die Eingliederungshilfe – die Betreuung, Unterbringung und Pflege der Menschen mit Behinderungen – gebunden; er belässt LVR und LWL kaum Mittel für die – durch die Regionalisierte Kulturpolitik ohnehin hintertriebene – Kulturpflege und schwächt ihre einstmals als Hauptaufgabe angedachte Identitätssicherung. In Absetzung hiervon erlebte der Regionalverband Ruhr – möglicherweise mit Blick auf die Errichtung eines eigenen Regierungsbezirks – in den letzten Jahren eine relative Aufwertung innerhalb des Landesgefüges; die sukzessive Ausweitung seiner Selbstverwaltungsrechte fällt gerade vor dem Hintergrund der Schwächung der Landschaftsverbände auf: Der Entwurf von Raumkonzepten, die Standortentwicklung sowie die Förderung des kulturellen Ruhrgebietsprofils sind seit 2004 Pflichtaufgaben des RVR, zudem übernahm er 2009 von den drei das Ruhrgebiet zerschneidenden Bezirksregierungen die Regionalplanung für größere Wohn- oder Erholungsgebiete sowie die Verantwortung für die Trinkwasserversorgung, ohne ihm die – LVR und LWL einschnürende – Sozialfürsorge 1424 1425
Vgl. Hesse, Regierungs- und Verwaltungsreform, S. 138. Vgl. hierzu Landschaftsverband Rheinland: Daten + Informationen 2009, Köln 2010, S. 3 und passim sowie Landschaftsverband Westfalen-Lippe: LWL-Haushalt 2011, einsehbar unter http://www.lvr.de/media/wwwlvrde/derlvr/presse/hintergrundinfos/dokumente_42/daten_informatio n_2009.pdf sowie http://www.lwl.org/LWL/Der_LWL/Verwaltung/Haushalt (23.8.2011). Vgl. hierzu auch Ries, Elmar: Landschaftsverband steht vor dem Kollaps, in: Westfälische Nachrichten (29.9.2011), einsehbar unter http://www.westfaelischenachrichten.de/aktuelles/muensterland/1706149_Landschaftsverband_steht_vor_dem_Kollaps.html und ders.: LWL versinkt im Defizit, in: Westfälische Nachrichten (24.11.2011), einsehbar unter http://www.westfaelischenachrichten.de/aktuelles/top_thema_3/1796119_LWL_versinkt_im_Defizit.html.
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aufzubürden; sein Fortbestand ist nunmehr gegenüber den Bezirksregierungen wie den Landschaftsverbänden im Zuge einer möglichen Verwaltungsreform deutlich leichter zu rechtfertigen. Der hinter diesen Bemühungen stehende politische Wille, den Strukturwandel der sozioökonomischen Problemregion durch den Ausbau institutionalisierter Zusammenschlüsse voranzutreiben, wird jedoch durch die faktischen Ausfransungstendenzen des ehemaligen Industriereviers konterkariert und widerstrebt landschaftshistorischen Einsichten. Der Gedanke, allein mithilfe administrativer Raumkonstrukte wirtschaftliche Schwächen zu beheben, erscheint zumindest fragwürdig, wenngleich eine festere Aufgabenübertragung auch das Verantwortungsbewusstsein für das Regionsganze und die Überwindung des städtischen Gegeneinanders befördern könnte; eine die Entwicklung des selbstgesteckten Ziels einer in sich verbundenen Metropole Ruhr notwendigerweise ergänzende deutungskulturelle Sinnvermittlung entbehrt jedoch bislang – im Verhältnis zu anderen Aufwendungen – hinreichender Finanzmittel.1426 Am Landesverband Lippe gehen die Debatten um die Reformierung des administrativen Landesmittelbaus weitgehend vorbei. Die in ihrem Verantwortungsbereich auf das Gebiet des Landkreises Lippe beschränkte Organisation erfuhr bereits aufgrund mangelnder Größe und Leistungsfähigkeit keine Aufwertung innerhalb des Landesgefüges und trägt weiterhin die Aufgaben, die ihr im Zuge der Angliederung Lippes an NordrheinWestfalen aufgetragen wurden. Gerade die enge Begrenzung ihres Tätigkeitsspektrums und mangelnde Überschneidungen gegenüber anderen Verwaltungsträgern nehmen den Landesverband aus der Kritik und schmälern die Gefahr seiner Abschaffung. Er hat infolgedessen – wenngleich die Sorge um kulturelle Belange auch innerhalb des LVL-Haushalts eine nachrangige Position ein –1427 weiterhin an der Ausbildung eines lippischen Landschaftsbewusstseins innerhalb Nordrhein-Westfalens teil, wobei das raumstrukturell stark integrierte, kleinräumige Lippe weniger als die anderen Landesteile auf seine begleitende Sinnstiftung angewiesen ist, um hergebrachte Identitäten zu erhalten. In die maßgeblich um die Landschaftsverbände entsponnene Diskussion spielen zunächst – an dieser Stelle nicht zu lösende – rechtliche Divergenzen hinein. Da ihnen nach herrschender Meinung keine ausdrückliche Zuerkennung des verfassungsrechtlichen Schutzes einer Gebietskörperschaft nach Artikel 28 GG sowie Artikel 78 LVNRW zukommt, sind sie – gleichwohl ihnen die derzeitige Landesregierung aus SPD und Grünen Bestandsschutz zusichert – weniger vor Veränderungen oder Auflösung gefeit als etwa die Land-
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Neben den Zuführungen an die Kultur Ruhr GmbH von 1,0 Mio. € und an die Ruhr 2010 GmbH von 2,4 Mio. € lagen die Gesamtaufwendungen für Kultur mit 1,6 Millionen Euro deutlich hinter Posten wie der Raumplanung mit 6,9 Millionen und der Natur- und Landschaftspflege mit 6 Millionen Euro. Vgl. Regionalverband Ruhr: Haushaltsplan für das Haushaltsjahr 2011, S. 23, einsehbar unter http://www.metropoleruhr.de/fileadmin/user_upload/metropoleruhr.de/Bilder/Regionales_Manageme nt/Verwaltung/Finanzen/Haushaltsplan_2011.pdf (23.8.2011). Bereits die Staatsbäder allein erreichen die Ausgaben für den gesamten Kulturbereich, für Landesbibliothek, Landesmuseum oder Kulturagentur; sind im Einzelplan 2: Vermögensverwaltung und Wirtschaftbetriebe für 2011 19,4 Millionen Euro und hiervon 9,5 Mio. für die Bäder veranschlagt, so für den gesamten Kulturbereich 9,9 Millionen €. Vgl. Landesverband Lippe: Haushaltsplan 2011, einsehbar unter http://www.landesverband-lippe.de/fileadmin/user_upload/files/Haushalt_2011/05_UEbers._HH.pdf (19.8.2011), S. 21.
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kreise.1428 Zwar verlangt die in Artikel 29 GG geregelte Länderneugliederung – die in verfassungssystematischer Auslegung auch für die Binnenstruktur der Länder gelten müsste – Rücksichtnahme auf landsmannschaftliche Verbundenheiten sowie geschichtlich-kulturelle Zusammenhänge, doch ist fraglich, ob ein mehr behauptetes als nachvollziehbares Westfalenbewusstsein Grund genug ist, um den Erhalt des es vermeintlich tragenden Verbandes zu rechtfertigen, zumal dieser sich auf Begrifflichkeiten stützt, die erkennbar auf das kulturräumliche Denken des frühen 20. Jahrhunderts verweisen. Neben diesen ideellen werden vor allem traditionalistische Argumente für die Beibehaltung der Landschaftsverbände ins Feld geführt. LVR und LWL stehen in der preußischdeutschen Tradition der Ergänzung und Entlastung der hoheitlichen durch substaatliche Verwaltungsorgane und dem Ansinnen, die Landesintegration durch die Gewährung verbriefter landschaftlicher Selbstverwaltungsrechte zu befördern. Verlor das diesem Gedanken zugrundeliegende Stammes- und Kulturraumdenken mit dem Generationenwechsel nahezu vollständig an Relevanz, ist auch die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bei den damaligen Provinzialständen angesiedelte Sozial- und Kulturpflege allein kein hinreichender Grund für die Beibehaltung der sie beerbenden Landschaftsverbände. Zwar sollten die hier angesammelte Expertise und ihr Dienst am Gemeinwesen nicht leichtfertig aufgegeben werden, doch ist andererseits zu fragen, ob die von LVR und LWL erbrachten Leistungen im sozialen Fürsorgebereich nicht in erster Linie staatliche Angelegenheiten wären, anstatt sie auf Kosten der kommunalen Ebene zu betreiben: Über die Höhe der von Landkreisen und kreisfreien Städten zu erbringenden Landschaftsumlage sind letztlich die sie tragenden Gemeinden zugunsten des Landes belastet;1429 konterkariert wird hiermit der an den modernen Staat gestellte Anspruch, Sozialstaat zu sein. Die von den Landschaftsverbänden erbrachte Kulturpflege wird ihrerseits von raumstrukturellen Subregionalisierungsprozessen herausgefordert, die jegliche Bemühungen in Frage stellen, die Existenz einer die landschaftlichen Binnenorientierungen überlagernden provinziellen Identität zu behaupten. Eng mit dem Traditionalismusgedanken verbunden sind die Widerstände, die insbesondere aus Westfalen gegen eine Auflösung der Landschaftsverbände kommuniziert
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Vgl. Parlamentarischer Beratungs- und Gutachterdienst des Landtags NRW: Modell der erweiterten Regionalisierung, Düsseldorf (2.8.2005), S. 11, einsehbar unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMI14-114.pdf (19.1.2010). Vgl. auch Pappermann, Ernst: Die kommunale Selbstverwaltung in Nordrhein-Westfalen, in: Landeszentrale für politische Bildung, Landeskunde, S. 180-209, hier: S. 189. Vgl. zudem den Koalitionsvertrag von SPD und Grünen in NRW Nordrhein-Westfalen 2010-2015: Gemeinsam neue Wege gehen, einsehbar unter http://www.gruene-nrw.de/fileadmin/user_upload/landesverband/gruenenrw/aktuelles/2010/koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_Rot-Gruen_NRW_2010-2015.pdf (9.12.2010), S. 22. Seit der Gründung der Landschaftsverbände 1953 sanken die staatlichen Schlüsselzuweisungen im Verhältnis zu der von den Kommunen zu erbringenden Landschaftsumlage von 49,5% im Jahre 1954 bis auf 20,8% 1998; 2010 betrug der Anteil der Landschaftsumlage an den Gesamtausgaben des LWL bei 66%, während die Schlüsselzuweisungen des Landes auf 16% herabgesunken sind, die fehlenden Mittel werden etwa vom Bund bereitgestellt. Vgl. Hesse, Regierungs- und Verwaltungsreform, S. 118 sowie Landschaftsverband Westfalen-Lippe: Leistungsbericht 2011, Münster 2011, S. 20.
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werden.1430 Zuvörderst der LWL wertet die von ihm betriebene Kulturpflege als Beitrag zur Wahrung der Einheit Westfalens und stellt seine Existenz in die Tradition eines – historisch durchaus nachvollziehbaren – Westfalenbewusstseins. Unbeantwortet bleiben muss, ob die dieses begleitende frühere und intensivere Konstruktion einer westfälischen Identität trotz aller moderner Überformungen mitverantwortlich für die stärkere Bedeutungsaufladung des Landschaftsverbandes im westfälischen Landesteil ist; sicherer ist, dass seine Errichtung kompensierendes Argument für die Akzeptanz Nordrhein-Westfalens zugunsten einer Eigenstaatskonzeption war und der LWL wohl auch infolgedessen als Spiegel des westfälischen Selbstverständnisses wie im Verhältnis der Landesteile – zumindest für seine Amtsträger – eine größere Bedeutung als LVR oder RVR errang. Rückwärtsgewandte, an der Lebenswirklichkeit der Bevölkerung vorbeigehende Legitimationsstrategien allein rechtfertigen allerdings nicht den Status quo; Umfragen manifestieren die geringe Wahrnehmung der Landschaftsverbände, wie auch der indirekte Wahlmechanismus sowie ihre eher bei Bedarf und in begrenzten Personenkreisen nachgefragten sozialen und kulturellen Aufgabenbereiche sie aus dem alltäglich erfahrbaren Blickfeld nehmen. Nicht zuletzt machtpolitische Gründe spielen in die Positionierung gegenüber den Landschaftsverbänden hinein: Die aufgrund subsidiär-föderaler Traditionen deutlich stärker auf der ländlich-kommunalen Ebene verankerte CDU war traditioneller Befürworter der Landschaftsverbände und ihrer – ob des Wahlmodus eigene Mehrheiten versprechenden – Landschaftsversammlung, während die zentralistischere, in den Großstädten erfolgreichere SPD den Verbänden bereits in der Landesgründungsphase distanzierter gegenüberstand.1431 Wo eine Auflösung der Landschaftsverbandsstrukturen allenfalls geringfügige Einspareffekte mit sich brächte, führte der Wunsch nach Aufrechterhaltung ihrer– aufgrund bundes- und landesgesetzlicher Regelungen sowie der Alterung der Gesellschaft weitgehend präjudizierten – sozialen Aufgabenstellungen nur zu einer Verlagerung der Leistungserbringung wie der damit verbundenen Kosten.1432 Eine deutliche Ausweitung hoheitlicher Aufsichts- und Planungsrechte zugunsten zentralisierter Landschaftsverbände wäre hinge1430
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Vgl. zu dem massiven Widerstand insbesondere von Seiten des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe gegen die Modernisierungsgesetze Wolfgang Clements 1999/2000 Korte, Regieren in NordrheinWestfalen, S. 240ff. Vgl. – neben den Ausführungen zur Landesgründung – Köstering, Heinz: 25 Jahre kommunale Gebietsreform in NRW - Grundgedanke und konkrete Verwirklichung, in: Städte- und Gemeinderat 9 (1999); S. 6-9, hier: S. 8f. Zwar ist NRW das Land der Großstädte, doch überwiegen zahlenmäßig die in den Landkreisen zusammengeschlossenen Kommunen mit 100.000 und weniger Einwohnern gegenüber den kreisfreien Städten. Aktuell (2009-2014) stellt die CDU 51, die SPD 37 von 128 Mitgliedern der LVRLandschaftsversammlung, in Westfalen-Lippe gehören 41 von 101 Abgeordneten der CDU, 33 der SPD an. Vgl. hierzu Landschaftsverband Rheinland: Die Landschaftsversammlung Rheinland, einsehbar unter https://dom.lvr.de/lvis/lvr_publik.nsf/WEB1LVers?ReadForm&wp=13 sowie Landschaftsverband Westfalen-Lippe: Zusammensetzung der 13. Landschaftsversammlung Westfalen-Lippe, einsehbar unter http://www.lwl.org/LWL/Der_LWL/Politik/Landschaftsversammlung/1094736092 (9.12.2011) Vgl. Reichard, Christoph/Siebart, Patricia: Teilbetrachtung zur Wirtschaftlichkeit der Handlungsoptionen, in: Bogumil et. al., Gutachten zur Verwaltungsstrukturreform in NRW, S. 175-210 sowie Ellwein, Thomas: Neuordnung der staatlichen und kommunalen Arbeitsebene zwischen der Landesregierung und den Städten und Kreisen des Landes Nordrhein-Westfalen. Gutachten im Auftrag der Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe 1993, S. 197.
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gen aufgrund ihrer eindeutigen Zugehörigkeit zur Kommunalfamilie bereits rechtlich ein Problem und mit einer Minderung des staatlichen Feinsteuerungspotentials gegenüber dem bestehenden System aus Bezirksregierungen und Regionalräten verbunden. Zudem entbehrten die großräumig organisierten Verbände der Bürgernähe, minderten Partizipationschancen und stünden der Regionalisierungsstrategie von Politik und Gesellschaft entgegen. Da die Aufrechterhaltung der Sozialfürsorge kaum einer Begründung bedarf, jedoch von den finanziell ohnehin gebeutelten nordrhein-westfälischen Kommunen kaum geschultert werden kann,1433 erscheinen die Privatisierung oder Verstaatlichung der Aufgabenbereiche der Landschaftsverbände nicht mehr als kosmetische Verschiebemaßnahmen zu sein, innerhalb derer sich die neu aufzubauenden Institutionengeflechte ohnehin erst finden und einspielen müssten. Ein behutsames Festhalten am Status quo, die serielle Erhaltung und Nutzung des bei den Landschaftsverbänden vorhandenen Sachverstands, ihres Erfahrungswissens sowie ihrer Infrastruktur insbesondere im Sozialbereich stellte sich hingegen als pragmatische Lösungsmöglichkeit dar, um sowohl den staatlichen Steuerungs- wie den kommunalen Erhaltungsinteressen nachzukommen, müsste jedoch mit einer besseren Finanzausstattung von LVR und LWL einhergehen. Da es Gemeinden und Gemeindeverbänden an originären, ertragreichen Steuererhebungskompetenzen mangelt, die ein unabhängiges Agieren von den Geldzuweisungen des Bundes und des Landes erlaubten, und eine grundlegende Neuordnung der Bund-Länder-Finanzverfassung illusorisch erscheint, erwüchse hieraus die Notwendigkeit der Ausweitung staatlicher Schlüsselzuweisungen, um die verfassungsrechtlich verlangte kommunale Selbstverwaltungsgarantie nicht durch eine deutliche Erhöhung der Landschaftsumlage auszuhöhlen. Im Kulturbereich mutet eine Kommunalisierung oder Regionalisierung der Arbeit der Landschaftsverbände nicht nur als möglich, sondern sogar als wünschenswert an. Deutungskulturelle Reflektion und Selbstverortung findet vor allem entlang landschaftlicher Strukturgrenzen statt und benötigt kein rheinisch-westfälisches, Zusammengehörigkeit und Identität allenfalls reklamierendes und faktisch ohnehin durchlöchertes Dach. In Gefahr geriete mit diesem Ansatz allerdings die von den Landschaftsverbänden getragene, weiterhin förderungswürdige Museumslandschaft, die als – wenngleich unverbundener und einem Landesbewusstsein entgegenstehender – nordrhein-westfälischer Erinnerungsschatz einen intrinsischen Wert darstellt, der einer möglichen Umorientierung nicht zum Opfer fallen und deshalb anderweitig finanziert werden sollte. Ausweislich des offensichtlichen Verlusts sinnstiftender Bedeutung könnte den Landschaftsverbänden im Zuge einer Verwaltungsreform die Rolle sozialer, staatlich finanzierter Dienstleister übertragen werden; hier liegt bereits heute der Hauptteil ihrer Auf- und Ausgaben, hier ist eine hohe Sachkompetenz zu vermuten. Städtische wie kirchliche Fürsorgetraditionen sowie die ebenfalls aus dem historischen Nordrhein-Westfalen abzuleitende Selbstverwaltungskomponente rechtfertigen eine Kommunalisierung der Sozialpflege und ihre Ansiedlung bei den von anderen Aufgaben befreiten Landschaftszweckverbänden. Umschifft würde auf diese Weise das mit einer radikalen Abschaffung einhergehende Protestpotential, während die erneuerten Landschaftsverbände eine originäre Legitimation 1433
Vgl. hierzu die Grafik des Kommunalfinanzberichts zum Haushaltsstatus der Gemeinden in NRW im September 2009, ebd., S. 15.
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innerhalb des Landesgefüges fänden und den gewünschten Verwaltungsreformleitzielen nicht im Wege ständen. Eine solche Variante wäre mit geringen Reformaufwendungen, Reorganisations- und Umstrukturierungseffekten verbunden und schädigte regionalwirtschaftliche Kreisläufe kaum, entlastete jedoch die Kommunen von Sozialkosten. Regionalverband Ruhr und Landesverband Lippe sind in diese Aufgabenkritik nicht einzubeziehen, da sie aufgrund ihrer anders gelagerten verbandsorganisatorischen Hintergründe nicht ohne Weiteres zu ebensolchen Landschaftszweckverbänden umzuformen wären. H.I.2.1.3. Regionalkreis-/Integrationsmodell Das erstmals 1968 vom nordrhein-westfälischen Innenministerium lancierte Regionalkreismodell sah als einheitliche Mittelinstanz zwischen Land und Gemeinden die Zusammenlegung der Bezirksregierungen, höheren Kommunalverbände und Landkreise zu Verwaltungsverbünden vor; diese sollten sämtliche Aufgaben übernehmen, die nicht oberen Landesbehörden oder Kommunen übertragen werden konnten.1434 1998 griffen Innenund Justizministerium diese Überlegungen auf und schlugen ein an diese angelegtes, modifiziertes Integrationsmodell vor: Ihr Konzept sah die Errichtung von fünf RegionalVerwaltungsämtern vor, die anstelle der aufzulösenden Bezirksregierungen, höheren Kommunalverbände und regionaler Sonderbehörden – bei fachlich-organisatorischer Trennung der Administrativzuständigkeiten in einen staatlich ernannten, Aufsichts- oder Planungsanliegen übernehmenden Strang und in eine mit Satzungs- und Verordnungsrecht ausgestattete, den Kommunen entspringende Regionalversammlung – sowohl staatliche als auch kommunale Verwaltungsangelegenheiten übernehmen sollten.1435 Der Instanzenzug des Landes würde mit der Einsparung eines Administrativzweigs gestrafft, während die organisatorische Verzahnung der staatlich-kommunalen Verwaltungsträger deren Zusammenarbeit erleichterte und bürgernahe Nahräume stärkte. Beiden Modellen stehen zunächst verfassungsrechtliche Bedenken entgegen: Die in den Artikeln 28 GG und 78 LVNRW festgeschriebene Selbstverwaltungsgarantie und die hiermit verbundene ausschließliche Übernahme originär kommunaler Aufgaben durch gemeindliche Träger wäre selbst in einem Modell, das Verantwortlichkeiten durch eine staatlich-kommunale Doppelspitze nach außen kenntlich machte und der kommunalen Seite die Organisationshoheit für ihren Bereich beließe, gefährdet.1436 Unzulässig sind zudem Mischverwaltungen von Staat und Gemeinden, da sie nach Artikel 28, Abs.2 Satz 1 und 2 in Verbindung mit Artikel 83 des Grundgesetzes selbst bei klarer Ausweisung der Zuständigkeiten dem Grundsatz eigenverantwortlicher, zurechenbarer Aufgabenwahrnehmung widersprechen.1437 Da diese Verfassungswidrigkeit nur über die Bundesgesetzge1434 1435 1436
1437
Vgl. Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen: Denkschrift: Überlegungen zum Vorschlag, Regionalkreise einzuführen, Düsseldorf 1968, S. 1f. Vgl. hierzu Ministerium für Inneres und Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen: Verwaltungsmodernisierung in Nordrhein-Westfalen. Eckpunktepapier. Düsseldorf (11.11.1998), S. 11. Vgl. Erichsen, Hans-Uwe/Büdenbender, Martin: Verfassungsrechtliche Probleme staatlich-kommunaler Mischverwaltung, in: Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter (NWVBl.) 2001, S. 161-170, hier: S. 162. Verweisen sei auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Betreuung der Bezieher von Arbeitslosengeld II Vgl. hierzu Vgl. das Urteil des Zweiten Senats vom 20. Dezember 2007, BVerfG, 2 BvR 2433/04 vom 20.12.2007, Absatz-Nr. (1 - 228), einsehbar unter http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20071220_2bvr243304.html (29.10.2011).
H.II. Politische Landschaften und Regionalrätemodell
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bung zu revidieren wäre, entbehrt eine allein auf NRW gerichtete Weiterverfolgung dieses Modells de jure jeglicher Notwendigkeit. Des Weiteren belasten sowohl politische als auch rechtliche Vorbehalte die Errichtung regionaler Vertretungskörperschaften: Würden sie direkt von den Bürgern gewählt, delegitimierten sie den gesamtstaatlichen Landtag und setzten das an sich eher neutrale Verwaltungshandeln der – bereits in Weimarer Zeit erfahrenen – Problematik ihrer Parteipolitisierung und Blockade aus. Eine indirekte Bildung der Versammlungen über Landkreise und Stadträte lieferte der kommunalen Seite zwar eine ausreichende Legitimationskette und minderte den Konkurrenzcharakter, liefe aber Gefahr, sich dem Vorwurf der Bürgerferne auszusetzen; zudem durchkreuzte selbst die passive Teilhabe staatlich entsandter Mandatsnehmer die strikte Trennung der Entscheidungsbereiche.1438 Während die weitgehend kommunal besetzten Regionalräte heute bereits in die hoheitliche Regionalplanung einbezogen sind und dem Wechselspiel aus staatlichen und gemeindlichen Verwaltungsträgern in diese Richtung nichts entgegensteht, ist hingegen ein Hineinregieren der Staatsebene in die Kommunalgeschäfte absolut zu vermeiden. Überschneidungen oder Unklarheiten zwischen den Verwaltungsebenen wären sowohl aus Effizienzgesichtspunkten wie auch zur Erhaltung des Wesensgehalts kommunaler Selbstverantwortung abzubauen, wie auch die Verwirrung der Finanzierungsstränge in einem System staatlicher Steuer- und kommunaler Umlagefinanzierung zu lösen wäre;1439 die Berücksichtigung sämtlicher Aspekte bescherte dem Modell insofern allzu hohe Umsetzungskosten.
H.II. Politische Landschaften und Regionalrätemodell Die Freilegung der räumlichen Strukturierungsmerkmale, die verstehende Begleitung der übereinanderlagernden geschichtlichen Sedimentschichten wie auch die Analyse der originären Landesgeschichte liefern Erklärungsmuster für das schwierige Zusammenwachsen Nordrhein-Westfalens und die seit 1946 unveränderte Dominanz des Landschafts- über das Landesbewusstsein. Zur Abrundung der bisherigen Ausführungen soll eine synoptische Schlussdiskussion die zu Anbeginn gestellte, forschungsleitende Leitfrage nach der Möglichkeit wie der Notwendigkeit der Umkehrung dieses Verhältnisses wie auch – unter Hinzuziehung der zuvor geführten Verwaltungsreformdebatte – alternative Lösungsmöglichkeiten diskutieren. Der nordrhein-westfälische Raumbildungsprozess, die Ergänzung des kognitiven Wissens um durch die emotional besetzte Verbundenheit mit NRW – mithin ein Landesbewusstsein – stockte bislang an der allein geographisch, nicht aber historisch-soziokulturell existierenden geteilten Verortungsbasis; das Erwach(s)en eines übergreifenden Wir erscheint infolgedessen allenfalls zukunftsgerichtet möglich. In der ergänzenden Zusammenschau der theoretischen und der raumgenetischen Ausführungen versprechen kommunitaristische Politikansätze, die Ausweitung öffentlicher Partizipationsmuster und ein Mehr an 1438 1439
Vgl. Schleberger, Erwin: Zur Reform der Mittelebene der Verwaltung in Nordrhein-Westfalen, in: NWVBl. 9 (1997), S. 321-325, hier: S. 323. Vgl Klein, Martin: Zur Zukunft der Mittelebene der Verwaltung in Nordrhein-Westfalen. Teil 1, in: EILDIENST. Informationen für Rat und Verwaltung 11 (1997), S. 275-283, hier: S. 282.
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Landschaftsbewusstsein und Regionalisierung
Bürgerbeteiligung die Konstruktion der Landschaft NRW; die abschließenden Zeilen ersuchen die Konkretisierung dieser Perspektive, um sowohl dem Anspruch des Landes auf Regierbarkeit als auch dem Eigenwert landschaftlicher Verbundenheiten gerecht zu werden. An dieser Stelle kommen die im Verlaufe der Arbeit gewonnen landschaftsstrukturellen Erkenntnisse zum Tragen: Sie liefern Orientierungsmuster für die sachadäquate Einrichtung des administrativen Landesmittelbaus, da unter reinen Effizienzgesichtspunkten geschaffene, großräumige Strukturen das gleichrangige Reformleitziel der Bürgernähe verfehlten, unreflektierte politisch-hierarchische Regionsentwürfe tradierten Raumorientierungen und Lebensrealitäten entgegenstünden und somit von vornherein Gefahr liefen, der Akzeptanz zu entbehren. Will man neue Verwaltungsgebilde erschaffen und mit Leben erfüllen, verspricht die Berücksichtigung landschaftlicher Bindungsgeflechte die Mobilisierung einer gewissen Reformoffenheit und die Bestätigung ohnehin vorhandener Beziehungsgeflechte; die landschaftliche Vielfalt allein kann allerdings keine Gliederungsgrundlage sein, da die ihr folgende kleinteilige Zersplitterung den infolge schwindender Finanzmittel ebenfalls zu beachtenden Wirtschaftlichkeitsaspekten eines konzentrierteren Administrativaufbaus entgegenliefe. Es ist deshalb der Ausgleich zu suchen zwischen der Handhabbarkeit der Reformen, finanziellen Gesichtspunkten und dem Landschaftsbewusstsein in NRW.
H.II.1. Landesbewusstsein und Regionalisierung Das Ansinnen, die wechselseitige Verbundenheit von Land und Bevölkerung durch die Ausweitung öffentlicher Partizipationsforen zu heben, ist zunächst mehr Spekulation denn handfeste Reformperspektive; weder artikuliert sich in der – raumstrukturell schwerlich zu fassenden – nordrhein-westfälischen Landesbevölkerung ein breites Verlangen hiernach, noch besteht Klarheit über realistische Organisationsformen. Möglicherweise stieße die Schaffung relationaler Kooperationsstrukturen die partizipative Erfahrung der Zusammengehörigkeit, die subjektiv-kollektive Selbstverortung innerhalb des relational erfahrenen Gemeinwesens NRW sowie das Erwachen eines Landesbewusstseins an, ohne dass sie einen solchen Selbstvergewisserungsprozess garantierte; sie ergänzen müsste der interpersonal geteilte Nutzungswille. Des Weiteren erweist sich das Verlangen nach einem den Plural an landschaftlichen Bindungen überwölbenden Landesbewusstsein in NRW weiterhin als nur gering ausgeprägt, wie auch die Implementierung übergreifender Interaktionsgeflechte in einem Flächenland mit 18 Millionen Einwohnern zumindest nicht ohne Umstände gelänge: Nordrhein-Westfalen ist keine griechische Polis, in der sich die Bürgerschaft auf dem Marktplatz versammelte und ihre Gemeinschaftlichkeit alltäglich einübte. Die Übereinanderblendung dieser Unsicherheiten mit den räumlichen Strukturierungsmerkmalen und den landschaftshistorischen Tiefenbohrungen leitet zu der Einsicht, ein Landesbewusstsein sei für ein Verwaltungskonstrukt wie „NRW“ keineswegs innere Notwendigkeit und müsse nicht um seiner selbst willen angestrebt oder erzwungen werden. Das Wissen um die tradierten Binnengräben und Raumwahrnehmungen – gegen die nur schwerlich gehandelt werden kann – verleiht die Gelassenheit zu akzeptieren, dass bereits das historische Nordrhein-Westfalen ein äußerst heterogener Behälterraum war, dass er dies bis heute geblieben ist und vor dem Hintergrund der in ihm geschichtlich angelegten,
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in die Gegenwart und Zukunft hineinreichenden Entwicklungspfade vorerst bleiben wird. Ein pragmatisches nordrhein-westfälisches Staatsbewusstseins, eine „pluralistische und pragmatische Deutungskultur, welche die Vielfalt der Soziokulturen widerspiegelt und weiterhin auch kleinräumige Lebenswelten toleriert“,1440 den Teilidentitäten und landschaftlichen Verwurzelungen Raum belässt und sie in das Landesganze einzubinden weiß, erscheint einem hierarchischengen Landesbewusstseinskorsett vorzuziehen, ohne hiermit einer unverbundenen Vielfalt das Wort zu reden; vielmehr ist die Akzeptanz des Landschaftsbewusstseins in NordrheinWestfalen durchaus auch im Sinne des Landes zu nutzen: Das als Rahmen handlungsbasierter Selbstbestimmungsprozesse und einer Politik des Ermöglichens deutlich zu weit gefasste NRW verweist im Umkehrschluss auf den Aufbau einer – sowohl landschaftshistorischen Aspekten, Praktikabilitätsgründen wie auch den Leitzielen einer Verwaltungsreform entsprechenden – „leistungsfähige(n) regionale(n) Kooperationsstruktur“; die vordergründige Vertiefung hergebrachter Strukturgegensätze läge „auch im Interesse des Landes, weil sie Effizienzvorteile bei der Erbringung öffentlicher Leistungen verspricht und zur Mobilisierung der endogenen Potentiale der Regionen beiträgt.“1441 Die an nahräumliche Erfahrungswelten rückgebundene Einbeziehung der Zivilgesellschaft, der Ausbau regionaler Autonomien und die Einbeziehung bürgerlichen Sachverstandes innerhalb einer landesseits vorgegebenen Umhegung versprächen die – freilich zunächst mehr erhoffte denn erwiesene – Erhöhung der Funktionsfähigkeit der Landesverwaltung, entsprächen dem auch durch die Globalisierung angestoßenen wachsenden Verortungsbedürfnis, erfüllten den Anspruch auf Politik als Teilhabe und mobilisierten – im Anschluss an den theoretischen Rahmen dieser Arbeit – wohl eher Partizipationsbereitschaft; die punktuelle Verlagerung hoheitlicher Steuerungs- und Entscheidungskompetenzen entlastete den Gesamtstaat, die Versöhnung hierarchischer mit partizipativen Politikmodellen folgte der kooperationsorientierten politischen Landeskultur und erneuerte die Bedeutung der historisch überlieferten, raumstrukturell bis heute hindurchschimmernden Landschaften als raumgebundene Selbstverwaltungskörperschaften des administrativen Mittelbaus. Jedwede Verwaltungsreform in NRW erfordert sowohl die Beachtung landschaftsstruktureller Bindungen als auch der finanziellen und organisatorischen Umsetzungskosten, um den Leitkriterien der Effektivität, Effizienz und Bürgernähe gerecht zu werden: Wo die Sensibilität für regionale Empfindlichkeiten Widerstände mindert und Transformationsmaßnahmen erleichtert, schont die Beibehaltung hergebrachter Institutionen gegenüber einem Neuaufbau zumindest kurzfristig das Budget und erhält eingespielte Kooperationsgeflechte. Eine leistungsfähige Verwaltungsstruktur hängt auch an der Inbeziehungsetzung hoheitlicher Handlungs- mit lebensweltlichen Wahrnehmungsregionen, doch sind gleichsam – bei aller Begrüßung landschaftlicher Vielfalt – arbeitsökonomische Aspekte nicht vollauf unter den Tisch zu kehren. Verfolgte man eine konsequent landschaftsbasierte Regionalisierungsstrategie, führte dies zu einer heillosen Zersplitterung des Landesgefüges und kaum zu Entlastungen, da wirtschaftliche Skalenerträge für die Schaffung größerer
1440 1441
Kost, Nordrhein-Westfalen, in: Wehling, Die deutschen Länder, S. 184. Blotevogel et. al., Raumwissenschaftliche Studie zur Gliederung des Landes Nordrhein-Westfalen in regionale Kooperationsräume, S.165.
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Administrativeinheiten sprechen.1442 Hinzu kommt, dass selbst relativ homogene Landschaften mit tiefreichenden historischen Wurzeln und engen raumstrukturellen Bindungen wie das Münsterland – etwa mit dem Tecklenburger Land – Subräume umfassen, deren Prägungen sich von dem Mehrheitslandesteil abheben; anstelle des Bedenkens sämtlicher Untereinheiten ist durchaus auch pragmatisch zu entscheiden, um tragfähige Landesstrukturen zu schaffen. Ein Mittelweg zwischen Landschaftsbewusstsein und Wirtschaftlichkeitsaspekten – wobei nicht die Kosten, sondern die Aufgabenerledigung im Vordergrund steht; eine optimierte Landesverwaltung darf mehr kosten als eine schlechte –, aus partiellen Veränderungen und Optimierungen anstelle grundstürzender Neubauten weckte zwar keine große Aufmerksamkeit, verspricht jedoch eine erhöhte Durchführbarkeit und ist großen Würfen auch mit Blick auf die auf Ausgleich bedachte politische Landeskultur vorzuziehen. Wo die Umgestaltung oder Abschaffung der Regierungspräsidien und der bei ihnen verdichteten Aufgabenbereiche einen vergleichsweise hohen Reformaufwand erforderte und sich eine Ausweitung des staatlichen Einflusses auf den kommunalen Bereich nicht zuletzt verfassungsrechtlich als schwierig erwiese, möblierte eine Neuzuschneidung oder Erweiterung der höheren Kommunalverbände die mittlere Verwaltungsebene weiter auf und widerspräche Effizienzgesichtspunkten; eine behutsame Kompetenzverlagerung von der kommunalen auf die staatliche Ebene, die dennoch Selbstverwaltungsrechte beibehielte, erschiene hingegen auch aus Praktikabilitätsgründen als gangbar. Die Umwidmung der Landschaftsverbände zu staatlich finanzierten, sozialfürsorglichen Zweckorganisationen schmälerte die mit einer Komplettstreichung verbundenen Aufwallungen insbesondere in Westfalen, minderte Zuständigkeitsüberschneidungen und entspräche dem faktischen Tätigkeitsbereich der bereits heute zu Landschaftszweckverbänden degenerierten Institutionen; sie erhielte die bei ihnen zu vermutende Fachexpertise, ihre erfahrungsbasierten Sachkenntnisse und Infrastrukturen im Sinne des Landesganzen und entlastete nicht nur die Kommunen finanziell, sondern auch den Staat von dem Aufbau eigener Behördenstränge. Die bislang noch von den Landschaftsverbänden betriebene Kulturarbeit und Identitätspflege erscheint vor dem Hintergrund der Persistenz landschaftlicher Verbundenheiten ohnehin besser auf subregionaler Ebene aufgehoben, wobei das Land den Erhalt der von jenen getragenen Museen als spezifischem, wenngleich separierendem nordrhein-westfälischem Erfahrungsschatz aus intrinsischen Gründen gewährleisten sollte. Effizienz- und Effektivitätsgesichtspunkte sowie der Wunsch nach erweiterter Bürgernähe sprechen für die in Umfang und Detailgenauigkeit weitestmögliche Reduzierung hierarchischer Aufsichtsverwaltung zugunsten der Freilegung regionaler Eigenwege. Innersystematische Einsparungen erschienen trotz der Beibehaltung unaufgebbarer – in staatlicher Auftragsverwaltung auf die Landkreise übertragbarer – rechtlicher Kontrollelemente möglich, da fachliche Maßstäbe im Sinne der Offenheit für regionale Disparitäten, der Abkehr von landeseinheitlichen Lösungen und im Vertrauen auf das gesellschaftliche Selbststeuerungspotential zurückzuführen wären. Verbindliche, unterschiedlich erreichbare Standards und Zielvereinbarungen, (finanzielle) Anreize und sachgemäße Kooperationsformen auch über Bezirksgrenzen hinweg setzten die substaatliche Ebene innerhalb 1442
Vgl. Reichard/Siebart, Teilbetrachtung zur Wirtschaftlichkeit der Handlungsoptionen, in: Bogumil et. al., Gutachten zur Verwaltungsstrukturreform in NRW, S. 181.
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eines landesseits gesetzten Rahmens frei und erbrächten bürgernahe, spezifische Lösungen; wo der Staat sich auf unhintergehbare Planungsaufgaben konzentrierte, erfolgten Feinabstimmung und situationsadäquate Konkretisierung in den Regionen.1443 Eine fortentwickelte, integrierende Mittelstufe zwischen den staatlich-hierarchischen Verwaltungsund den allzu flexiblen Netzwerkstrukturen der bisherigen Regionalisierungsansätze extrahierte die Vorteile beider Modelle, verhieße die Erreichung der verwaltungsreformatorischen Leitziele und mobilisierte das auf regionaler Ebene vorhandene Potential nicht nur innerhalb dieser, sondern auch für das Landesganze. Synoptisch präsentiert sich ein nah am Status quo verbleibendes Reformmodell, das die Stränge des administrativen Mittelbaus annäherte, ohne sie vollauf neu zu ordnen, das Ebenen entlastete, ohne sie komplett abzuschaffen und das arbeitsfähige Gremien errichtete, die sich nicht erst langwierig finden müssten, als vorteilhaft. Bei aller Offenheit für landschaftliche Verbundenheiten kann die seit 1946 gewachsene Landesstruktur nicht völlig umgeworfen werden, um Reformbereitschaft nicht von vornherein zu unterminieren. In Absetzung von wechselnden Zuschnitten oder fundamentalen Neukreationen bietet das weitgehende Festhalten an den bestehenden Bezirksregierungen und ihre Ergänzung durch erweiterte Regionalräte – aufgrund der hier bereits kontinuierlich eingeübten Zusammenarbeit, gewachsener Beziehungsgeflechte und des wechselseitig geteilten Wissens um regionale politisch-kulturelle Handlungskorridore – die Aussicht, die Regionalentwicklung im Sinne des Landes wie seiner Teile zu steuern und hergebrachte Identitäten auf kulturlandschaftlich-raumstruktureller Grundlage sowohl zu schützen als auch für das Landesganze einzuspannen.
H.II.2. Das erweiterte Regionalrätemodell Ein integriertes, behutsam erweitertes Regionalrätemodell zugunsten der bereits heute bei den Bezirksregierungen angesiedelten staatlich-kommunalen Doppelgremien würde sowohl staatlichen Steuerungsinteressen als auch den Postulaten der Dezentralisierung, Selbstverwaltung und Partizipation gerecht; es erhielte den Mehrwert der Regierungspräsidien als regionale Bündelungsbehörden mit Moderatorenfunktion und verspräche infolge der frühzeitigen, institutionalisierten und erweiterten Einbindung der regionalen Zivilgesellschaft in Landesplanung und Flächennutzung systemische Steuerungsgewinne. Die mit ihm einhergehende weitgehende Beibehaltung der formellen territorialen Administrativstrukturen berücksichtigte eingespielte, zum Teil lang aufeinanderbezogene und auch raumstrukturell nachgezeichnete Bindungen, wiese einen Mittelweg zwischen Zentralisierung und Zersplitterung und zöge allenfalls moderate Umsetzungs- und Findungskosten nach sich. Der Verzicht auf eine weitere direkt gewählte Körperschaft vermiede die Delegitimierung zentraler Landesinstitutionen, während die demokratische Legitimationskette auf Seiten der sie beschickenden kommunalen Ebene gewahrt bliebe; wo sie bei den bislang nur beratenen Verbandsvertreter zumindest lang geriete, stellte der staatlicherseits gezogene Rahmen schlussendlich sicher, dass die aus den selbstverantworteten Aufgaben1443
Vgl. zu diesem Ansatz auch Fürst, Dietrich: Steuerung auf regionaler Ebene versus Regional Governance, in: Informationen zur Raumentwicklung, H. 8/9 (2003), S. 441-450.
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bereichen abgeleiteten Entscheidungen nicht gegen das Demokratie- oder Rechtsstaatsprinzip verstießen. Erweitert wäre dieses Modell zunächst, da Regierungspräsidien und Regionalräte die umgeformten Landschaftszweckverbände beerbten und – bis auf die bei jenen verbleibende, staatlich finanzierte Sozialfürsorge – sämtliche der von ihnen bislang wahrgenommenen Tätigkeiten an sich zögen; bereinigt würden auf diesem Wege Kompetenzüberschneidungen und Reibungsverluste, der Abbau von Doppelstrukturen entlastete das gesamtstaatliche Budget. Erweitert wäre dieses Modell zudem durch die bedächtige, je nach Sachfrage unterschiedlich breite Ausweitung des Teilnehmerkreises und den Ausbau des zivilgesellschaftlichen Beratungs- zu einem Mitentscheidungsrechts. Um die Arbeitsfähigkeit des Gremiums nicht übermäßig zu belasten, spannten die semistaatlichen Regionalräte zwar ein integrierendes Dach über ihre Bezirke, versammelten jedoch stets nur den für die zu beratenden Themenbereiche relevanten Teil der regionalen, zuvörderst verbandlich verfassten Öffentlichkeit; auch die erneuerten Landschaftszweckverbände blieben an sie gebunden und etwa an der Planung des regionalen Krankenhausbaus beteiligt. Die Übertragung der Kulturlandschafts- und Denkmalspflege von den Landschaftsverbänden kappte keineswegs sämtliche landschaftshistorischen Wurzeln, da die um Landesverband Lippe oder Westfälischem Heimatbund erweiterten Regionalräte das fortgeführte Landesprogramm Regionale Kulturpolitik allenfalls koordinierten und darüber hinaus der wohnortnahen Eigeninitiative etwa der Heimatverbände Platz beließen. Bestehende Verbandsstrukturen blieben demnach bestehen, sorgten sich weiterhin um ihre Gründungszwecke und sicherten kulturelle Erbbestände. Trotz der Gefahr, die immergleiche Klientel anzusprechen, erweiterten institutionalisierte Bürgersprechstunden oder regelmäßige öffentliche Versammlungen die Austauschbeziehungen zwischen Wählern und Regionalräten und umgingen die Gefahr einer Absonderung der Selbstverständigungsforen von der regionalen Öffentlichkeit, ohne Zwang zur Mitwirkung auszuüben. Die verbesserte Kommunikation und Außendarstellung der Arbeit der Regionalräte und ihrer Bedeutung für das Alltagsleben erhöhte ihre innengerichtete Wahrnehmung und steigerte ihre Akzeptanz als Vertreter regionaler Sonderinteressen gegenüber dem Land. Mit der verbindlicheren, quasi-parlamentarischen Anbindung der regional-zivilgesellschaftlichen Ebene an die Landesgremien gelänge ein Perspektivwechsel mentaler Kartierungen und Lebenswelten auf Nordrhein-Westfalen, festigte jedoch zugleich relationale Binnengeflechte und landschaftliche Bindungen. Unter Berücksichtigung der in der Studie zur Gliederung des Landes Nordrhein-Westfalen extrahierten sieben Handlungsregionen Aachen, Köln/Bonn, Düsseldorf, Ruhrgebiet/Nördlicher Niederrhein, Münsterland, Ostwestfalen-Lippe und Südwestfalen,1444 landschaftshistorisch überlieferter Regionsbildungen und des heutigen nordrheinwestfälischen Landesgefüges trägt ein Regionalrätemodell 5+1 sämtlichen im Laufe der Arbeit konstatierten Befunden am Besten Rechnung. Mit den in ihrem Zuschnitt konservierten Regierungsbezirken erhielten sich eingespielte Regionswahrnehmungen und eingeübte Kooperationsmuster, die selbst mit Blick auf den erst 1972 an Köln angegliederten, land1444
Blotevogel et. al., Raumwissenschaftliche Studie zur Gliederung des Landes Nordrhein-Westfalen in regionale Kooperationsräume, S. 168.
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schaftshistorisch und raumstrukturell jedoch stark aufeinander bezogenen ehemaligen Aachener Regierungsbezirk pragmatischerweise nicht erneut auseinandergerissen werden sollten. Wo – wie im Regierungsbezirk Detmold – unterschiedliche Landschaftstraditionen aufeinandertreffen, sind diese auch aus Wirtschaftlichkeitsaspekten kein hinreichendes Argument mehr für eine Neugliederung Nordrhein-Westfalens; in OWL sind seit 1946 enge Verflechtungen und ein wahrnehmbares Regionsbewusstsein gewachsen, deren Lockerung bewährte Teilhabemuster beschädigte und weder der Region noch dem Land diente. Die kniffligste Frage über die Zukunft des Ruhrgebiets spricht – trotz des Wissens, wirtschaftliche Strukturprobleme nicht allein durch ein weiteres Koordinationsgremium zu lösen, um die Auseinanderfransung des ehemaligen Industriereviers und den Fortbestand landschaftshistorischer Heterogenitäten – ob der Ballung spezifischer Problemstellungen und dem Erfordernis besonderer Hilfsmaßnahmen für die Bildung eines eigenen Ruhrbezirks; diese folgte der kontinuierlichen Aufwertung des Regionalverbands Ruhr, der in zahlreichen Gremien eingeübten ruhrgebietsweiten Zusammenarbeit und der gegenüber den drei Regierungsbezirken Arnsberg, Düsseldorf und Münster primär hier zu vermutenden sachadäquaten Planungskompetenzen. In Absetzung von der weitgehend auf Freiwilligkeit basierenden Kooperation innerhalb des bestehenden Verbändespektrums versprechen der Ausbau des RVRs zu einem – mit erweiterten hoheitlichen Verpflichtungen verbundenen – eigenen Regierungsbezirk und die Bündelung der zahlreichen sonstigen Initiativen in einem erweiterten Regionalrat eine erhöhte Verbindlichkeit der Zusammenarbeit; insbesondere hieran gebrach die ruhrgebietsweite Kooperation bislang und behinderte die notwendige Ballung endogener Ressourcen zur synergetischen Neuausrichtung des einstigen Industriegebiets. Die seit der Preußenzeit aufgezeichnete Gefahr einer (sozioökonomischen) Dominanz des Ruhrgebiets ist infolge der Auswirkungen des Strukturwandels ebenso zurückzuweisen wie die klare Aufgabenzuweisung dem Land letztgültige Kontroll- und Einhegungsrechte bewahrte; ohnehin bestehen bereits heute Ungleichgewichte zwischen den Regierungsbezirken bezüglich ihrer Wirtschafts- und Einwohnerzahlen, ohne das Landesgefüge übermäßig zu destabilisieren. Das Regionalrätemodell 5+1 entspräche weitgehend raumstrukturell bestehenden – etwa der Ausrichtung des nördlichen Bergischen Landes auf Düsseldorf und des südlichen auf Köln/Bonn – oder – wie im Münsterland – historisch begründeten Beziehungsgeflechten, es setzte auf den zumindest seit der Landesgründung etablierten Strukturen auf und bewahrte gewachsene Zusammenhänge. Dem pragmatischen Grundzug der politischen Landeskultur folgend, erbrächte es innersystemische Optimierungen anstelle kompletter Neubauten, akzeptierte die Dominanz des Landschafts- über das Landesbewusstsein in Nordrhein-Westfalen und befreite von dem letztlich nur schwerlich einzulösenden Anspruch, dem Staats- ein ergänzendes Landesbewusstsein zur Seite zu stellen. Das Regionalrätemodell 5+1 konstruierte ein funktionsfähiges, den Kriterien Leistungsfähigkeit, Regierbarkeit und Landschaftsbewusstsein entsprechendes Binnengefüge, sicherte der Vernunftehe Nordrhein-Westfalen gerade hierüber seine bis heute in Frage gestellte Existenzberechtigung und umrahmte das aus Rhein, Ross, Ruhr und Rose sowie deren geschichtlich überlieferten Untereinheiten zusammengefügte nordrhein-westfälische Landschaftspanorama.
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III. Sonstige Publikationen - Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.): Deutscher Planungsatlas. Bevölkerungsentwicklung 1837-1970 in den Gemeinden, 10 Bde., Bd. 1: Nordrhein-Westfalen, Hannover 1978. - Aktion Münsterland e.V./Kulturbüro Münsterland: 10 Jahre Regionale Kulturpolitik Münsterland. 10 Jahre Kulturbüro Münsterland, Münster 2007. - Augel, Johannes: Italienische Einwanderung und Wirtschaftstätigkeit in rheinischen Städten des 17. und 18. Jahrhunderts (Rheinisches Archiv 78), Bonn 1971. - Besch, Werner/Solms, Hans Joachim (Hrsg): Regionale Sprachgeschichte. Sonderheft der Zeitschrift für deutsche Philologie 117 (1998). - Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, 32 Bde., Bd. 4: Kleist–Leyden, Herzberg 1992; Bd. 6: Moenius–Patijn, Herzberg 1993, Bd.10: Shelkov–Stoß, Andreas, Herzberg 1995; Bd. 11: Stoß, Veit– Tieffenthaler, Herzberg 1996; Bd. 13: Voltaire–Wolfram von Eschenbach, Herzberg 1998; Bd. 17: Ergänzungen IV, Herzberg 2000; Bd. 19: Ergänzungen VI, Nordhausen 2001, hrsg. v. Traugott Bautz. - Burgi, Martin/Palmen, Manfred (Hrsg.): Symposium. Die Verwaltungsstrukturreform in NordrheinWestfalen. Vortragsband, Bochum 2008. - Chronik-Verlag (Hrsg.): Die Chronik der Deutschen, Gütersloh/München 2007. - Cornelißen, Christoph: Historische Identitätsbildung im Bindestrichland Nordrhein-Westfalen, Essen 2008. - Der Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (Hrsg.): Regionalisierungstendenzen in Europa und Nordrhein-Westfalen. 4. Erbdrostengespräch, Münster 1994. - Der Ministerpräsident des Landes NRW (Hrsg.): Forum Regionale Kulturpolitik. Vielfalt und Kreativität in den Kulturregionen NRWs, Düsseldorf 2005.
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