Rezeptionskulturen: Fünfhundert Jahre literarischer Mittelalterrezeption zwischen Kanon und Populärkultur 9783110264999, 9783110264982

Hardly anything has been more influential in forming the modern era's definition of itself than its relation to the

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German Pages 454 [456] Year 2012

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Table of contents :
Mittelalterrezeption. Gegenstände und Theorieansätze eines Forschungsgebiets im Schnittpunkt von Mediävistik, Frühneuzeit- und Moderneforschung
FRÜHE NEUZEIT
Wann beginnt im deutschen Sprachraum die Mittelalterrezeption? Vergleichende Beobachtungen zu Rezeptionsweisen volkssprachiger und lateinischer mittelalterlicher Literatur (ca. 1450–1600)
Mittelalter humanistisch. Volkssprachliches Erzählgut im lateinischen Frühhumanismus
Transformationen religiöser und profaner Motive in Wigalois, Widuwilt und Ammenmaehrchen
ROMANTIK UND HISTORISMUS
Populäre Künstlichkeit. Tiecks Minnelieder-Anthologie im Kontext der Popularisierungsdebatte um 1800
Anti-antikes Mittelalter. Romantische Identitätssicherung in Eichendorffs Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands (1857), mit Rückblicken zum Marmorbild
Von der „politische[n] Gewalt des Mittelalters“. Mittelalterrezeption in Eichendorffs politischen Schriften
Renaissancismus im historischen Roman des 19. Jahrhunderts. Wilhelm Grothes Borgia-Trilogie (1867)
Britische Bilder aus der deutschen Vergangenheit. Gustav Freytags Die Ahnen und der Maßstab Walter Scotts
Von Frauen begraben. Zur Generierung des Frauenlob-Bildes in Mittelalter und Neuzeit
Zur Logik des Altdeutschen
Gottfrieds Tristan in der Forschungs- und Ideologiegeschichte des 19. Jahrhunderts
KLASSISCHE MODERNE UND POSTMODERNE
„In dem Augenblick der Zeitenfülle...“ Mittelalterbilder und Geschichtsdenken in der Klassischen Moderne
„Des weiten Innenreiches mitte“. Mittelalter-Imaginationen in der Dichtung Stefan Georges
Historische Realität und Fiktion in Ken Folletts Romanen Die Säulen der Erde und Die Tore der Welt
Der Gral decodiert? Produktive Rezeption eines mittelalterlichen Motivs im Da Vinci Code von Dan Brown
Mittelalterrezeption – multimedial. Fallstudien zu König Artus
Virus Parzival. Der Artusroman als Rollenspiel in Tim Staffels Next Level Parzival
VERMITTLUNGEN: ZUGRIFFE DER JUGENDLITERATUR UND DIDAKTIK
Vom Geöfneten Ritter-Platz (1702) zum postmodernen Jugendroman. Ritterdarstellungen aus vier Jahrhunderten Kinder- und Jugendliteratur
„Der König, der war, und der König, der sein wird“. Die Artus-Rezeption in der Kinder- und Jugendliteratur
(Keine) Freude über die ,Lebenszeichen‘? Vermittlung von Mittelalter und seiner Literatur an die nachfolgende Generation im Deutschunterricht
Autoren- und Werkregister
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Rezeptionskulturen: Fünfhundert Jahre literarischer Mittelalterrezeption zwischen Kanon und Populärkultur
 9783110264999, 9783110264982

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Rezeptionskulturen

Trends in Medieval Philology Edited by Ingrid Kasten · Niklaus Largier Mireille Schnyder Editorial Board Ingrid Bennewitz · John Greenfield · Christian Kiening Theo Kobusch · Peter von Moos · Ute Störmer-Caysa

Volume 27

De Gruyter

Rezeptionskulturen Fünfhundert Jahre literarischer Mittelalterrezeption zwischen Kanon und Populärkultur Herausgegeben von Mathias Herweg und Stefan Keppler-Tasaki

De Gruyter

ISBN 978-3-11-026498-2 e-ISBN 978-3-11-026499-9 ISSN 1612-443X

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book is available from the Library of Congress.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Mathias Herweg / Stefan Keppler-Tasaki Mittelalterrezeption. Gegenstände und Theorieansätze eines Forschungsgebiets im Schnittpunkt von Mediävistik, Frühneuzeit- und Moderneforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

FRÜHE NEUZEIT Johannes Klaus Kipf Wann beginnt im deutschen Sprachraum die Mittelalterrezeption? Vergleichende Beobachtungen zu Rezeptionsweisen volkssprachiger und lateinischer mittelalterlicher Literatur (ca. 1450–1600) . . . . . . . 15 Michael Rupp Mittelalter humanistisch. Volkssprachliches Erzählgut im lateinischen Frühhumanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Bianca Häberlein Transformationen religiöser und profaner Motive in Wigalois, Widuwilt und Ammenmaehrchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

ROMANTIK

UND

HISTORISMUS

Stefan Scherer Populäre Künstlichkeit. Tiecks Minnelieder-Anthologie im Kontext der Popularisierungsdebatte um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Mathias Herweg Anti-antikes Mittelalter. Romantische Identitätssicherung in Eichendorffs Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands (1857), mit Rückblicken zum Marmorbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

VI

Inhalt

Antonie Magen Von der „politische[n] Gewalt des Mittelalters“. Mittelalterrezeption in Eichendorffs politischen Schriften . . . . . . . . 151 Julia Ilgner Renaissancismus im historischen Roman des 19. Jahrhunderts. Wilhelm Grothes Borgia-Trilogie (1867) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Stefan Keppler-Tasaki Britische Bilder aus der deutschen Vergangenheit. Gustav Freytags Die Ahnen und der Maßstab Walter Scotts . . . . . . 185 Judith Lange/Robert Schöller Von Frauen begraben. Zur Generierung des Frauenlob-Bildes in Mittelalter und Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Nathanael Busch Zur Logik des Altdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Johannes Dickhut Gottfrieds Tristan in der Forschungs- und Ideologiegeschichte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248

K LASSISCHE MODERNE

UND

POSTMODERNE

Bastian Schlüter „In dem Augenblick der Zeitenfülle...“ Mittelalterbilder und Geschichtsdenken in der Klassischen Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Jutta Schloon „Des weiten Innenreiches mitte“. Mittelalter-Imaginationen in der Dichtung Stefan Georges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Christine Knust Historische Realität und Fiktion in Ken Folletts Romanen Die Säulen der Erde und Die Tore der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 Annabelle Hornung Der Gral decodiert? Produktive Rezeption eines mittelalterlichen Motivs im Da Vinci Code von Dan Brown . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328

VII

Inhalt

Andrea Sieber Mittelalterrezeption – multimedial. Fallstudien zu König Artus . . . 352 Andrea Schindler Virus Parzival. Der Artusroman als Rollenspiel in Tim Staffels Next Level Parzival . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366

VERMITTLUNGEN: ZUGRIFFE DER JUGENDLITERATUR

UND

DIDAKTIK

Sebastian Schmideler Vom Geöfneten Ritter-Platz (1702) zum postmodernen Jugendroman. Ritterdarstellungen aus vier Jahrhunderten Kinder- und Jugendliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Iris Mende „Der König, der war, und der König, der sein wird“. Die Artus-Rezeption in der Kinder- und Jugendliteratur . . . . . . . . . 411 Ina Karg (Keine) Freude über die ‚Lebenszeichen‘? Vermittlung von Mittelalter und seiner Literatur an die nachfolgende Generation im Deutschunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Autoren- und Werkregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443

MATHIAS HERWEG / STEFAN KEPPLER-TASAKI

Mittelalterrezeption. Gegenstände und Theorieansätze eines Forschungsgebiets im Schnittpunkt von Mediävistik, Frühneuzeit- und Moderneforschung Die Forschung unter dem Titel und dem Gegenstand ‚Mittelalterrezeption‘ schien sich im Lauf der 1980er und 1990er Jahre als regelrechte Spezialdisziplin zu etablieren. Die Reihe der Salzburger Symposien von 1979 bis 1995, mit langem Atem organisiert und in den Bänden Mittelalter-Rezeption I bis V dokumentiert, das DFG-Symposium MittelalterRezeption von 1983 und die Reihe der Materialien und Beiträge zur Mittelalter-Rezeption I bis III 1986 bis 1992 waren angestoßen durch eine breite gesellschaftliche Nachfrage nach Bildern und Derivaten des Mittelalters, einem Verlangen nach Spielformen der Realität und Ergänzungen der eigenen Wirklichkeit, für die in der europäischen Vergangenheit montierbare Fertigteile zur Verfügung standen. Wenn der Eindruck nicht täuscht, markieren die 1950er und 1960er Jahre in der Bundesrepublik und der DDR den Tief- und Erschöpfungspunkt einer Mittelalterrezeption, der Ernst Kantorowiczs Biographie Kaiser Friedrich der Zweite von 1927 und der Nationalsozialismus (mit dem Mittelalter als erster Phase ‚deutscher Größe‘) kurz zuvor noch höchste geschichtsideologische Beweislasten aufgeschultert hatten. Deshalb ist die Neuentstehung der Mittelalterrezeption aus den intellektuellen und sozialen Bedingungen der 1970er Jahre bemerkenswert und trägt deren Geburtszeichen. Die ‚Neue Subjektivität‘ der 1970er Jahre zeigte insofern durchaus neoromantische Symptome, als sie wie die Romantik um 1800 und die Spätromantik des 19. Jahrhunderts ihre Ikonen auffällig oft und programmatisch im Umkreis des Mittelalters fand: Eine markante Startformation bilden hier Peter Rühmkorfs zu Recht oft genannter Essayband Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich (1975) auf der Spur lyrischer Ich-Besessenheit, Günter de Bruyns Tristan und Isolde (1975) als Parabel auf die Unverstaatlichkeit des Individuums und Dieter Kühns Ich Wolkenstein (1977) mit seiner „fast wütenden Besin-

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Mathias Herweg / Stefan Keppler-Tasaki

nung auf das individuelle Ich“.1 Diese Entwicklung grundiert zumindest einen Teil des Interesses, das die Altgermanistik daraufhin an neuzeitlichen Rückgriffen auf das Mittelalter überhaupt entwickelte. Zögerlicher war die Neugier der Neugermanisten, was es mit beidem – populärer Mittelalterrepristination und der scheinbaren Paradoxie einer mediävistischen Neuzeitforschung – auf sich habe. Hierbei dient ‚Mittelalterrezeption‘ als ein eingeführter Begriff und Umbrella Term, der der Auslegung bedarf. Die Variabilität dessen, was in je unterschiedlichen Rezeptionsvorgängen unter ‚Mittelalter‘ und ‚deutscher Frühe‘ verstanden wurde, muss europäisch geweitet, zudem in ein Konzept der Vormoderne eingebettet werden – und der Begriff ‚Vormoderne‘ selbst dabei von all jenen implizit wertenden Implikationen freigehalten werden, die ihn für viele problematisch machen. Ein Transfer nationalkultureller und nationalstaatlicher Kategorien in eine in grundsätzlichen Bereichen vornationale Ära sowie eine annähernd scharfe Abgrenzung zwischen Mittelalter- und Renaissancerezeption nämlich wären in jeder Hinsicht kontraproduktiv. Die ‚internationale‘ Strahlkraft mediävaler ‚Heroen‘ wie Karl, Artus, Richard Löwenherz oder Robin Hood, mediävaler Stile wie Romanik und Gotik (in ihren entsprechenden Neo-Reprisen) erweisen hinlänglich das eine; das weite Feld romantischer und okkasionell schon vorromantischer Vergangenheitskonstruktion, die die imaginäre Grenze um 1500 regelmäßig ignoriert, das andere. Der Rezeptionsbegriff ist zum einen im Wortsinn zu nehmen: In einem Rückgang oder Rückgriff über eine Distanz hinweg wird das Vergangene bewusst in die eigene Gegenwart hineingestellt. Neben künstlerisch-produktiven umfasst dies ebenso reproduktive, wissenschaftliche und (im weitesten Sinn, so auch sprach- oder erinnerungs-) politische Aneignungsformen; dazu kommen Übergangsformen und Hybridphänomene, für die im deutschen Raum so unterschiedliche Namen wie Martin Opitz, Bodmer und Breitinger, Herder oder auch Felix Dahn stehen können. „Rückgang“ betrifft stärker genealogische Rezeptionsweisen, bei denen die Prozessqualität überwiegt. „Rückgriff“ meint mehr die punktuelle Wiederkehr diskursiver und typologischer Muster. Die Mittelalterrezeptionsforschung sollte es sich über die eigentliche Rezeption hinaus nicht nehmen lassen, auch das Fortleben des Mittelalters in die Beobachtung hineinzunehmen. Dies schon deshalb, weil sich bei Autoren wie Hans Sachs oder Jörg Wickram, aber auch in späteren Konstellationen schwer zwischen nachlebendem Mittelalter und dem Beginn neuzeitlicher Mittelalterrezeption unterscheiden ließe. Hinsichtlich der Bearbeitungen mittelalterlich-volkssprachlichen Erzählguts

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PETER WAPNEWSKI : Ein neues Mittelalter? In: Der Spiegel 31 (1977), Nr. 31, S. 137.

Mittelalterrezeption

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im lateinischen Frühhumanismus ließe sich sogar mit MICHAEL RUPP (s. S. 64) von einer synchronen Rezeption sprechen, die gewissermaßen zwischen zwei zu dieser Zeit nebeneinander bestehenden Diskursen stattfindet. Ein Phänomen eigener Spezifik stellt in diesem Zusammenhang Martin Luther und die in seiner bildungsgeschichtlichen Herkunft, seiner Person und seinem Erbe sich verdichtende Rolle des Mittelalters für die Selbstwahrnehmung und Selbstdefinition der christlichen Konfessionen dar. Überhaupt scheint die Longue durée vormoderner Phänomene am unübersehbarsten auf dem Feld der Religion und der religiösen Literatur: ob es nun die Druckgeschichte von Thomas a Kempis betrifft oder die Legendare, Predigtsammlungen und Gebetbücher, die erhebliche Mengen spätmittelalterlicher Texte konservieren. Unübersehbar sind auch die mittelalterlichen Voraussetzungen neuzeitlicher Emblematik, Memorationskunst, Topik und Allegorese. In allen Fällen stellt sich das Problem, was Rezeptionsvorgänge für die Einschätzung von Epochenschwellen besagen und umgekehrt. Die verschiedenen Bedeutungsfacetten von ‚Mittelalterrezeption‘ überschreiten substantiell die bloße Wirkungsgeschichte, die einen mittelalterlichen Gegenstand als Originalereignis setzt und dann dessen schwächer werdenden Nachhall bis hin zum Verrauschen in historistischer Imitation und postmodernem Anspielungsreichtum verfolgt. Selbst die filmische Stoffaneignung stellt gewiss nicht die letzte Stufe der Verschlechterung und Verballhornung in einem Überlieferungsprozess dar, in dem die ursprüngliche Signalstärke abnehmen und das historische Rauschen anschwellen würde. Rezeptionsgeschichte verläuft so wenig linear wie die Geschichte der Medien, in denen diese Rezeption stattfindet. Gerade ‚vormoderne‘ Literatur wird in der Verfilmung nicht mehr ihrer selbst entfremdet als in Textausgaben des 19. und 20. Jahrhunderts. Vielmehr erhält sie die Stimme zurück, mit der man sie einstmals vorgelesen hat, und die Visualität, die sie in bebilderten Handschriften und einer reichen Ausstattungskultur (Wandmalerei, Teppichen, Gebrauchsgegenständen) besaß. Anverwandlungsvorgänge sagen in der Regel mehr über den rezipierenden als über den rezipierten Teil aus. Texte und andere Artefakte, die sich durch Rezeptionsvorgänge auszeichnen, dürfen deshalb nicht subsidiär anstelle eines ‚Originals‘, sondern müssen um ihrer selbst willen genommen werden. Dies schließt ein, dass sich zumindest produktive Mittelalterrezeption nicht einem Verständnis leiht, das Rezeptionsgeschichte als einen Verschlechterungsprozess begreift und als Negativfolie der Zeichnung eines korrekteren Mittelalterbildes zugrundelegt. Mittelalterrezeptionsforschung zielt wesentlich auf die Neuzeit und bedarf mehr als bisher der Beteiligung aus den neueren Literaturwissenschaften, die – komplementär zum weiterhin unverzichtbaren mediävistischen ‚Blick nach vorn‘ – die rückwärtsgewandten Signifikanzen und Kontinuitäten ihrer Texte und Kontexte ins

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Mathias Herweg / Stefan Keppler-Tasaki

Visier nehmen. Hierfür gibt es zwischen Sturm und Drang, Historismus und Anti-Historismus mehr als genügend Anhalt im Kanon, wie jüngere, auch in diesem Band enthaltene Arbeiten zu Goethe, Tieck, Eichendorff, George und Thomas Mann zeigen. Andererseits war Mittelalterrezeptionsforschung bisher dort ein fast ausschließlich mediävistisches Anliegen, wo populärkulturelle Medienprodukte zwischen Goldschnittliteratur und Virtueller Realität intellektuellen Ertrag nur für den bereit zu halten schienen, der in jeder Form am Mittelalter interessiert ist. Eine Neugermanistik aber, die sich zu Fragen des kulturellen Mainstreams öffnet, öffnet sich zugleich zu weiteren Gefilden der Mittelalterrezeption. Als ein erster Türöffner hierfür kann Gustav Freytag dienen, der sich in seiner Kulturgeschichtsschreibung und in seinem Romanzyklus Die Ahnen ausgiebig dem Mittelalter widmet und dafür bei Publikumsliebling und Ivanhoe-Autor Walter Scott in die Lehre geht. Der mediävistische Part sollte es sich im Gegenzug, fachübergreifend und stärker als bislang üblich, nicht nehmen lassen, im Sinn einer zu häufig nur proklamatorischen Einheit des jeweiligen Faches auch in die kanonischen Zentren der Neueren Teildisziplinen vorzustoßen, in der Germanistik also (der dabei rein quantitativ hierzulande die Hauptrolle zukommt) zu Namen wie Goethe, Schiller (dem ‚Bahnbrecher‘ für Mittelalter und Frühneuzeit im klassisch-nachklassischen Drama, nebenbei bemerkt, um den sich bislang noch selten ein germanistischer Mediävist bekümmerte), Eichendorff oder Heine, Keller, C.F. Meyer oder Stifter. Vergangenheit verändert sich von Gegenwart zu Gegenwart. Sie verändert sich für uns und mit uns, und dieser stetige Wandel wird greifbar in der Rezeption. Mit dem Mittelalter lässt sich ein Dialog führen: Es antwortet, wie es befragt wird. Aus der Minnegrotte schallt es, wie man hineinruft. Deshalb auch ist ein historischer Forschungsgegenstand nie ein für alle mal ausgeschöpft, deshalb auch verspricht der stets erneuerte Zugriff auf Phänomene des Mittelalters und seiner Rezeption Ertrag. „Inventing the Middle Ages“,2 verstanden als künste- und disziplinenübergreifende Konstruktion einer ‚großen Erzählung‘ und ihrer zahllosen Stränge und Episoden, muss als ein fortlaufender Prozess gedacht werden, der eine Deutung von rezenten Entwicklungen, namentlich von Modernisierungsprozessen leistet. Wichtige Kontexte, in denen die Mittelalterrezeption und ihre Erforschung von den späten 1970er bis zu den frühen 1990er Jahren standen, vor allem die Alternativbewegung, aber auch der Medientypus des ‚Liedermachers‘, sind heute nicht mehr dominant. Andere Rezeptionsfel-

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NORMAN C ANTOR : Inventing the Middle Ages: The Lives, Works and Ideas of the Great Medievalists of the Twentieth Century, New York 1991.

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der haben sich stabilisiert, so die konstant hohe Mittelalternachfrage im Ausstellungsbetrieb – Konjunkturphänomen seit der Zeichen setzenden Stuttgarter Stauferschau 1977 –, dessen Angebote im Bereich Mittelalter und Frühneuzeit noch immer, und längst kalkulierbar, erhebliche Besucherscharen anziehen, auch wenn bildungsbürgerliche Identitäts- und Evasionsbedürfnisse als Veranstaltungs- und Besuchsimpuls rar geworden sein mögen und sich die einschlägigen ‚Events‘ inzwischen fast bruchlos reihen. Ungebrochen behauptet sich das Faszinosum Mittelalter auch im historischen Roman, marktführend mit dem britischen Bestseller-Autor Ken Follett, im Kinder- und Jugendbuch (dessen prominteste deutsche Vertreterin, Cornelia Funke, dem Mittelalter in Igraine Ohnefurcht 1998 zeitgemäßen Tribut zollte), im Fantasybereich, der über literarische Beiträge hinaus insbsondere in Computerspielwelten ausgreift, und immer wieder im Medium Film, dem es eine besondere Herausforderung zu sein scheint, uns etwas zu zeigen, was wir nie gesehen haben. Serienformate, die sich über Fernsehen und DVD vermitteln, treten ebenfalls hinzu und gewinnen dem abendfüllenden Spielfilm gerade im Avantgardebereich Terrain ab, so in Alexandre Astiers Kaamelott-Spots seit 2005. Medial heterogene Umnutzungen des Mittelalters im Horizont unserer eigenen Voraussetzungen betreffen aus naheliegenden Gründen etwa den Typus des Heiligen und des Märtyrers3 sowie die notorische Bestimmung von westlicher Vergangenheit als östlicher Gegenwart: ein mit geschichtstheoretischen Implikationen versehenes ‚Sie-sind-was-wir-waren‘ angesichts als mittelalterlich apostrophierter Sippenverbände oder Hinrichtungsmethoden. Auffällig auch, wie oft inzwischen die frühmittelalterliche Christianisierung als Seitenthema von Filmen interessiert: In Antoine Fuquas King Arthur von 2004 ebenso wie in Sturla Gunnarssons Beowolf & Grendel von 2005 und Kevin Reynolds’ Tristan & Isolde wird die Rolle des Christentums bei Akten okzidentaler Kulturgründung inszeniert. Verstärkt seit der Jahrtausendwende scheint Mittelalterrezeption die Dimension der historischen Sinnstiftung zurückzuerhalten, die von den 1970er Jahren her eher im Auftrag des staatlichen und staatlich geförderten Ausstellungs- und Schulbuchwesens lag, als einer vitalen Nachfrage auf dem freien Markt der ästhetischen Erfahrungsbedürfnisse zu entsprechen. Offensichtlich noch gestiegen gegenüber früheren Rezeptionsperioden ist – vermutlich mitbedingt durch den Attraktivitäts- und Plausibilitätszerfall universaler Geschichtsideologien und unter dem Druck einer als kulturell nivellierend wahrgenommenen Globalisierung – die Bedeutung

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Vgl. nur den Band Märtyrer-Porträts. Von Opfertod, Blutzeugen und Heiligen Kriegern. Hrsg. von SIGRID WEIGEL , München 2007.

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mittelalterlicher lieux de mémoire in jenem umfassenden Sinne, den im Rückgriff auf MAURICE HALBWACHS die französischen Historiker ETIENNE FRANÇOIS und PIERRE NORA maßgeblich prägten: Topoi des kulturellen Gedächtnisses und der kulturellen Identität, die materiell und ideell, topographisch und figürlich, profan und religiös sein können. Nicht wenige der in den monumentalen Sammelbänden zuerst französischer, dann auch deutscher Erinnerungsorte, die der neue Ansatz hervorgebracht hat, erfassten ‚Orte‘ haben ihren Platz im Mittelalter. Das Spektrum reicht im deutschen Fall vom nationalheroisch instrumentalisierten ‚Kampf um Rom‘ und Karl dem Großen über Canossa, Nibelungenlied und den Bamberger Reiter bis hin zum Mythos Tannenberg; und was den Deutschen ihre Nibelungen und Barbarossa, ist den Schweizern Wilhelm Tell, den Franzosen ‚la pucelle‘ Jeanne d’Arc. In jedem Fall handelt es sich dabei um Rezeptionsphänomene (denn auch Erinnern bedeutet Rezeption, die freilich in Konstruktion übergeht), die sich – vielleicht am deutlichsten zu sehen bei den Nibelungen – vom Ausgangspunkt weit entfernen, das Rezipierte in Projektion eigener Bestrebungen und Bedürfnisse remodellieren und sogar neue, rezentere Erinnerungsorte generieren können (so Canossa den Kulturkampf Bismarcks, so Hagens Mordtat die fatale Mär vom Dolchstoß in der deutschen Zwischenkriegszeit). Rezeptionsphänomene wie diese können eine Dynamik entwickeln, die dem abgenutzten Wort von der ‚Aktualität des Mittelalters‘ pointierte Schärfe verleiht. Blickt man auf den medialen Hype, den die Entdeckung angeblicher Nibelungenliedfragmente 2004 auslöste, vergleicht mit ihr die rasch einkehrende Stille, als sich diese (fachwissenschaftlich durchaus brisanter) als Erec-Textzeugen erwiesen, so zeigt sich, dass sich diese Dynamik auch hier und heute nicht völlig verlor. Jenseits der Grenzen zeugen ‚Erinnerungsorte‘ wie das postjugoslawische Amselfeld für ungleich virulentere Präsenzen des Mittelalters im kollektiven Gedächtnis, die ein neuer Anstoß transdisziplinärer Mittelalterrezeptionsforschung kaum unbeachtet lassen dürfte. Bislang sind es vor allem Historiker, die das erinnerungstopographische Paradigma bedienen; da es sich aber in fast allen Fällen um textualisierte, mithin literarisch kodierte Gedächtnisschübe‚ handelt, ist das Feld auch literaturwissenschaftlich höchst fruchtbar.4

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Zum Forschungsansatz, das Feld der Mittelalterrezeption als konstruktive Erinnerungsarbeit neu zu perspektivieren, vgl. jüngst STEPHANIE WODIANKA : Zwischen Mythos und Geschichte. Ästhetik, Medialität und Kulturspezifik der Mittelalterkonjunktur, Berlin u. a. 2009. Weiter sei verwiesen auf A LEIDA A SSMANN : Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999; PIERRE NORA : Das Abenteuer der Lieux de mémoire. In: Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich – 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von ETIENNE FRANÇOIS u. a., Göttingen 1995, S. 83–92;

Mittelalterrezeption

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Neue Perspektiven der Mittelalterrezeption und künftige Forschungsaufgaben auf ihrem Areal ergeben sich also bereits aus gewandelten Gegenwartskontexten. Dazu kommen unabgegoltene Forderungen und ungenutzte Einsichten aus früheren Forschungsanstrengungen, unter denen (auch stellvertretend für ihr zeitlich-institutionelles Umfeld) diejenigen von THOMAS CRAMER, VOLKER MERTENS, ULRICH MÜLLER und PETER WAPNEWSKI hervorzuheben sind. In methodisch-theoretischer Beziehung gefordert ist die Umakzentuierung von motiv- und stoffgeschichtlichen Fallstudien hin zu diskurs-, institutionen-, formen- und mediengeschichtlichen Fragestellungen. Zur Ergänzung eines grundlegenden quellenphilologischen Instrumentariums, das die potentielle Quellenzugänglichkeit von Rezipiaten und den tatsächlichen Quellengebrauch durch Rezipienten eruiert, bieten sich nach wie vor Modelle von Intertextualität an, die konsequenter als bisher zur Erfassung dialogischer Textbeziehungen genutzt werden können – und die an der Schwelle des Medienwechsels in neue Begründungsmodelle auch von Intermedialität übersetzt werden können. Ein ehrgeizigeres Ziel besteht in der Annäherung an eine eigenständige Rezeptionstheorie, die nicht die Theorie eines impliziten Lesers und individualpsychologischer Vorgänge wäre, sondern eine solche der Modi, Verlaufsmuster und Akteure historischer Kommunikation. Sie müsste weitreichende Implikationen für eine Theorie der kulturellen Evolution haben, damit z. B. auch für Probleme der Periodisierung sowie für die Bedingungen von Innovationen im Verhältnis von Tradition und Emergenz. Eine ebenso grundlegende Frage betrifft das ungelöste Problem von Alterität oder Kontinuität im Wandel vom Mittelalter zur Moderne. Bestimmungsgründe von Modernität wie Säkularisierung, Subjektivität oder Sinnpluralisierung enthalten häufig unausgesprochene Vorstellungen von der (dann nicht mehr, wie oben gefordert, wertungsfrei semantisierten) ‚Vor-Moderne‘, die in der Neuzeitforschung ungern auf die Probe gestellt werden – wie sie im Übrigen Vorurteile im Wortsinn transportieren, die oft genug nicht allein von der scheinbar fremdartigen Vergangenheit, sondern auch von merk-würdigen Momenten der Moderne konterkariert werden. Die für säkulare Zeitgenossen weithin überraschende Wiederkehr des Religiösen im politisch-kulturellen Diskurs des Westens, die auch vor der Revitalisierung von Kreuzzugsrhetorik und kreationistischen Weltdeutungsansätzen nicht haltmacht, ist nur ein Beispiel von vielen. Für die Phasen der Mittelalterrezeption müssen noch Konsequenzen aus der Erkenntnis gezogen werden, dass die Selbstdarstellung der euro-

ders., Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990; Lieux de mémoire, Erinnerungsorte. D’un modèle français à un projet allemand. Hrsg. von ETIENNE FRANÇOIS, Berlin 1996.

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päischen Romantik hinsichtlich ihrer ‚Wiederentdeckung des Mittelalters‘ ebensowenig zum Barwert zu nehmen ist wie die vermeintliche Mittelalterverkennung der Aufklärung. Die intensive Mittelalterrezeption des 18. und schon des 17. Jahrhunderts – in den sich zum Teil kreuzenden Linien bibliomaner Gelehrsamkeit von Goldast über Harsdörffer bis Lessing, reformprogrammatischen Eifers von Opitz bis Bodmer und Breitinger – müsste weiter in die Zeitschriftenliteratur hinein verfolgt werden, vordringlich anhand des ersten literaturhistorisch-mediävistischen Publikationsorgans, des Magazins Bragur (1791–1812). Dazu kommen die editorischen und kommentatorischen Manifestationen einer gewissermaßen vorphilologischen ‚Germanistik‘, die im Einzelfall (so namentlich bei Opitz) verschiedentlich untersucht wurden, aber noch kaum in ihren funktions- und wissenschaftsgeschichtlichen Gesamtzusammenhängen erfasst und wahrgenommen sind. Aus der Kenntnis dieser älteren, gelehrten Tradition wären auch das Verhältnis von spätaufklärerischer und romantischer Mittelalterrezeption und der Mediaevalismus des 19. Jahrhunderts neu einzuschätzen. Und man wird weiter zurückgehen müssen: Mit Peter Wapnewski gilt zwar fraglos: „Weitertradierung, aktualisierende Bearbeitung, Rückgriff und Wiederentdeckung lassen sich im 15. und 16. Jahrhundert nicht deutlich trennen.“5 Doch eben weil dies so ist, muss auch die unmittelbare Zeit im Anschluss an das Mittelalter (als moderner Setzung), die sogenannte Frühe Neuzeit, verstärkt in den Blick der Mittelalterrezeptionsforschung treten. Innerhalb der Mediävistik ist solches in manchen Bereichen schon üblich, so vor allem hinsichtlich der dynastischen Geschichtsschreibung bis ins Spätmittelalter, in der Stoffe aus dem Hochmittelalter zur Ausgestaltung der ruhmreichen Vergangenheit eines Herrschergeschlechtes herangezogen wurden. Freilich endet dieses Verfahren nicht an der Schwelle zur Neuzeit, sondern reicht mindestens bis ins 18. Jahrhundert hinein. Die Rezeption mittelalterlicher Liedkunst durch städtische Meistersinger läuft etwa zur gleichen Zeit aus. Wieviel schließlich der barocke Roman – in seinen hohen wie niederen Formen, in Schäfereyen, heroisch-höfischen Historien, Simpliziaden – mittelalterlicher Epik und Schwankliteratur verdankt, bekennen die Dichter ex negativo oft selbst, nicht zuletzt durch ihre Amadis-Kritik. Der Amadis, der auf verschlungenen, fremdsprachig vermittelten Pfaden letztlich bis ins Milieu der bretonischen Matière zurückführt, ist kein Rezeptions-, doch ein gewichtiges Kontinuitätsphänomen. In merkwürdigem Gegensatz zu seiner Popularität und literaturgeschichtlichen Wirkung freilich gibt es kaum

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Vgl. PETER WAPNEWSKIs Einführung zur ersten Sektion in: Mittelalter-Rezeption. Ein Symposion. Hrsg. von dems., Stuttgart 1986, S. 7–9, hier S. 7f.

Mittelalterrezeption

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einen Text, der literaturwissenschaftlich unzureichender erforscht wäre als dieses Scharnierglied mittelalterlich-neuzeitlicher Romanepik in mehreren europäischen Literaturen. Nicht allein dort schließlich, wo sich das Interesse am Mittelalter im Rahmen des frühneuzeitlichen Polyhistorismus äußert, ist es in einen Gesamthorizont dessen einzuordnen, was überhaupt zu einem bestimmten Zeitpunkt aus früheren Epochen und/oder anderen Kulturen rezipiert wurde. Es geht an dieser Stelle um die Differenzierung, aber auch wechselweise Zuordnung einer Vielfalt von Rezeptionsgeschichten, einer Vielzahl interferierender und korrelierender Rezeptionskulturen. Im Zentrum steht hier die Relation der Mittelalter- zur Antikerezeption. So fragt sich beispielsweise, wie bestimmte Auffassungen der Antike von bestimmten Auffassungen des Mittelalters geprägt sind (bislang dominiert der umgekehrte Blick), wie sich die neuzeitliche Behandlung antiker und mittelalterlicher Mythologie zueinander verhalten und was für die Rezeption des Mittelalters im Vergleich zu anderen Rezeptionsgeschichten spezifisch ist. Aus der im mediävistischen Fachteil vielbeachteten vorhumanistischen Antikenrezeption heraus lassen sich Vergleichsparameter gewinnen: Wieviel ‚Antike‘ steckt noch im Rezeptionskondensat etwa eines mittelalterlichen Aeneasoder Trojaromans, wie stark nähert der Mediävalisierungsprozess das rezipierte Phänomen genuin mediävalen Hervorbringungen an, und war die ex post feststellbare Verwurzelung in einer anderen Zeit und Kultur unter diesen Umständen überhaupt auch dem Zeitgenossen präsent? Anders gefragt und nun in die Moderne gewendet: Hat es überhaupt Sinn, orientalische, antike und mittelalterliche Rezipiate zu einer bestimmten Zeit, etwa im Umfeld von Klassik und Romantik oder der Wende zum 20. Jahrhundert, jenseits des reinen Stoffbefunds analytisch zu scheiden, oder konvergieren sie ununterscheidbar in einer Aussageabsicht und Funktion? Wieviel Mittelalter steckt, weitergefragt, in der Südseefaszination, wieviel Orientklischee in manchem antiken oder mittelalterlichen Rezeptionsereignis? Und was verbindet die streckenweise dominante Südseeästhetik in Fritz Langs cineastischem Monument Die Nibelungen mit dem mediävalen Stoff? Dazu kommen ‚repertoireimmanent‘ Interferenzen zwischen sprach- und nationenspezifisch zunächst disparaten Rezeptionsgeschichten: Die nachmittelalterliche deutsche Artusrezeption in Buch und Film bezieht sich weit weniger auf deutsche als auf anglonormannisch-englische Stoffvorgaben zurück, die germanogene Welt Siegfrieds und der Nibelungen strahlte, allerdings zu einem guten Teil sekundär über Wagner, weit in die romanische, slawische, transatlantische Welt hinein aus, und Dieter Kühns Präsentation Neidharts sowie Oswalds von Wolkenstein lässt sich kaum denken ohne ein Bild vom französischen Mittelalter und dem Bedürfnis nach einer Art von deutschem François Villon.

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Mit einem hierfür noch nicht eingeführten Begriff von ‚Rezeptionskulturen‘ zu sprechen, heißt freilich überdies auch, die interkulturelle Kommensurabilität von Aneignungsweisen und Aneignungsfunktionen der Vergangenheit überhaupt auf den Prüfstand zu stellen. Dafür lohnte es, das disziplinäre Spektrum entschieden in bislang nur randständig einbezogene Bereiche zu weiten. Wenn Alt- und Neuphilologien des ‚klassischen‘ Spektrums längst weithin kooperieren und interagieren, um die Spuren antiker und mittelalterlicher Kultur und Literatur in den nachfolgenden Epochen zu sichern und auszuwerten, wäre es künftig sehr reizvoll, Vertreter der Ägyptologie, der Altorientalistik und der Islamwissenschaften oder der Ostasienwissenschaften mit in den Dialog über integrative oder exklusive ‚Rezeptionskulturen‘ einzubeziehen – um dann das kulturell Eigene, doch eben auch das transkulturell Verbindende von Rezeptionsprozessen je klarer zu fassen. Ob nun innerhalb der eigenen Sprach- und Kulturtradition (und hier dann diachron) oder in Überschreitung ihrer Grenzen (und hier dann synchron und/oder diachron): Rezeptionsvorgänge sind in jedem Fall fast notwendig mit Umbettungen von Texten und textuell überlieferten Gegebenheiten aus einem älteren in ein jüngeres Gattungssystem verbunden. Auch dies scheint ein derzeit noch unzulänglich erforschtes Gebiet. So fehlen noch immer Gattungstheorien, die sich nicht durch den Ausschluss des Zeitraums vor oder nach dem 16. Jahrhundert absichern würden. Wichtig wäre auch ein Blick auf die literarischen Formen, in denen historische Populärkulturen das Mittelalter rezipierten: der Unterhaltungsroman um 1800 (nach Kleist: Rittergeschichten mit und ohne Gespenster), der Comic (Prinz Eisenherz und Seinesgleichen) oder die Illustrierten Zeitschriften des 20. Jahrhunderts. Neben dem Gattungswechsel verbinden sich Rezeptionsprozesse häufig mit einem Medienwechsel, weshalb zu fragen wäre, inwiefern ältere literarische Gattungen vielleicht die Funktionen erfüllten, die in neuerer Zeit ganz andere Medien erfüllen – und umgekehrt. Die Erforschung von Mittelalteraneignungen in Kunst,6 Musiktheater7 und besonders im Film8 steht bereits auf einem hohen Niveau, könnte aber noch stärker auf solche theoretischen Fragen hin akzentuiert werden.

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Vgl. hierzu zuletzt den überwiegend kunsthistorisch ausgerichteten Band Modell Mittelalter. Hrsg. von VICTORIA VON FLEMMING, Köln 2010. Vgl. zuletzt A NDREA SCHINDLER : Mittelalter-Rezeption im zeitgenössischen Musiktheater, Wiesbaden 2009. Vgl. Mittelalter im Film. Hrsg. von CHRISTIAN K IENING /HEINRICH A DOLF, Berlin u. a. 2006; Antike und Mittelalter im Film. Konstruktion, Dokumentation, Projektion. Hrsg. von M ISCHA M EIER /SIMONA SLANICKA , Köln 2006; BETTINA BILDHAUER : Filming the Middle Ages, London 2010.

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Der Beschäftigung mit dem Thema Mittelalterezeption ist schließlich ein gewissermaßen auch fachpolitischer Impuls immanent: Gerade im Zeichen einer Zusammenkunft, auf der sich programmatisch die Einheit des Faches manifestiert, muss dies nur angemerkt werden. In Zeiten zunehmender fachlicher und innerfachlicher Ausdifferenzierung und Eigenständigkeit wohnt der Erforschung der Rezeptions- und Aneignungslinien von der Neuzeit zurück ins Mittelalter das willkommene Potential inne, die Einheit der germanistischen Literaturwissenschaft neu zu profilieren, indem sie Kontinuitäten und Diskontinuitäten aufdeckt und Befunde der beiden Teildisziplinen zusammenführt. Sie kann auch zeigen, dass es eine ‚kurze Geschichte der deutschen Literatur‘, etwa mit Lessing beginnend, unter kulturwissenschaftlichen Vorzeichen nicht geben kann. Gerade das 17. Jahrhundert wäre in eben dieser Richtung konsequenter von beiden Seiten her anzugehen und als Gebiet der Kooperation zwischen Alt- und Neugermanistik zu nutzen. Die Begegnung von Neuzeit und Mittelalter in Rezeptionsprozessen ist gewiss nicht der einzige, doch fraglos ein Forschungsgegenstand, der die Fachidentität zu stärken vermag. Der vorliegende Band versteht sich als Anstoß zu den einleitend skizzierten möglichen Aufgaben künftiger Mittelalterrezeptionsforschung. Er reflektiert sie, kann aber nicht im Ansatz beanspruchen, das umrissene thematischmethodische Panorama bereits zu erschließen. Innerhalb eines großen historischen Durchgangs durch fünf Jahrhunderte, vom Humanismus bis zur Gegenwart und von Jörg Wickram bis zu Dan Brown, liegt der thematische Schwerpunkt auf Grundsatzfragen nach den Formen und Verfassungen der Mittelalterrezeption: eben den für diese Referenzzeit unterschiedlichen ‚Kulturen‘ der Rezeption. Neben historischen wie etwa der humanistischen, der polyhistorischen, romantischen, historistischen etc. lassen sich synchrone ‚Rezeptionskulturen‘ unterscheiden. So ist es auffällig, dass das Mittelalter ausgerechnet Autoren von diskursiv entgegengesetzten Enden des literarischen Feldes anzieht. Es bietet sich sowohl für Schriftsteller mit Unterhaltungsabsichten an, die Mysteriöses, Esoterisches, Drastisches suchen und in der Burgen- und Klösterzeit reichlich finden, wie auch für Autoren, die elitäre und gelehrte Konzepte durch Rückbezug auf ein klerikales und feudales, mithin lateinisch geprägtes Zeitalter zu füllen beabsichtigen. Dabei sind populäre Rezeptionskulturen nicht erst ein Phänomen der jüngeren Massengesellschaft, sondern bereits in der frühen Ära des Buchdrucks, von Jörg Wickram und Hans Sachs an, eine vielgenutzte und gefragte Möglichkeit. Desgleichen zieht sich die anspruchsorientierte Tradition mindestens von Konrad Celtis bis zu Stefan George, Thomas Mann und, in jüngster Zeit, Tim Staffel. Gerade in der deutschen Literatur und der deutschen Rezeption internationaler Literatur spielt die Verortung poetischer Konzepte in

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ästhetischen Hierarchien eine erhebliche, ordnungsstiftende Rolle, die bei der Erforschung literarischer Mittelalterrezeption in hohem Maß zu berücksichtigen ist. Der Band geht auf die Vorträge zweier Tagungen zurück, die die Herausgeber 2008 an der Freien Universität Berlin und 2009 an der Staatlichen Bibliothek Passau veranstaltet haben. Hinzu kommen Erträge eines von ihnen moderierten Clusters in der Sektion 2 („Europäisches Erbe“) des Germanistentages 2010 in Freiburg. Die Herausgeber danken der Freien Universität Berlin für die finanzielle Unterstützung der Tagung in Berlin, Dr. Markus Wennerhold für die organisatorische und finanzielle Untersütztung der Tagung in Passau, Prof. Dr. Ina Karg (Göttingen) für die Bereitstellung des Forums auf den Germanistentag in Freiburg. Für redaktionelle Mitarbeit sei Gigi Adair und Sophie Annette Kranen (beide Berlin) sowie Klara Helmholz und Sannah Mattes (beide Karlsruhe) herzlich gedankt.

FRÜHE NEUZEIT

JOHANNES KLAUS KIPF

Wann beginnt im deutschen Sprachraum die Mittelalterrezeption? Vergleichende Beobachtungen zu Rezeptionsweisen volkssprachiger und lateinischer mittelalterlicher Literatur (ca. 1450–1600) „Von Mittelalterrezeption kann man sinnvollerweise erst dann sprechen, wenn das Mittelalter zu Ende ist“,1 stellte JOACHIM BUMKE 1984 fest. Daher kommt auch ein Beitrag, der nach dem Beginn der Mittelalterrezeption im deutschen Sprachraum fragt, um eine Stellungnahme zur Frage, wann das Mittelalter im deutschen Sprachraum ende, nicht herum. Damit ist allerdings eine Gretchenfrage durch eine andere ersetzt, da es für „die konventionelle Scheidung von Mittelalter und Neuzeit“ „kaum eine wissenschaftlich haltbare Begründung“2 gibt, und „Periodenbezeichnungen allesamt […] perspektivisch bedingt“3 sind. Ausgehen werde ich von der in Geschichtswissenschaft und Germanistik aus pragmatischen Gründen akzeptierten Epochengrenze um 1500 (plus/minus 20 Jahre), da diese sich nach JAN-DIRK MÜLLERs Beobachtungen auch auf Verschiebungen in der Selbstwahrnehmung, der „Epochenerfahrung“,4 stützen kann.

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JOACHIM BUMKE : Phasen der Mittelalter-Rezeption. Einleitung. In: Mittelalter-Rezeption. Ein Symposium. Hrsg. von PETER WAPNEWSKI, Stuttgart 1986, S. 7–9, hier S. 7. BUMKE (wie Anm. 1), S. 7. Vgl. DIETER M ERTENS : Mittelalterbilder in der Frühen Neuzeit. In: Die Deutschen und ihr Mittelalter. Themen und Funktionen moderner Geschichtsbilder vom Mittelalter. Hrsg. von GERD A LTHOFF, Darmstadt 1992, S. 29–54 u. 177–186, hier S. 29. Vgl. umfassend DOROTHEA K LEIN : Wann endet das Spätmittelalter in der Geschichte der deutschen Literatur? In: Forschungen zur deutschen Literatur des Spätmittelalters. Fs. für Johannes Janota. Hrsg. von HORST BRUNNER /WERNER WILLIAMS-K RAPP, Tübingen 2003, S. 299–316. Vgl. JAN-DIRK MÜLLER : ‚Alt‘ und ‚neu‘ in der Epochenerfahrung um 1500. Ansätze zur kulturgeschichtlichen Periodisierung in frühneuhochdeutschen Texten. In: Traditionswandel und Traditionsverhalten. Hrsg. von WALTER H AUG /BURGHART WACHINGER , Tübingen 1991, S. 121–144, hier S. 121f.

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Auch auf die Frage nach dem Beginn der Mittelalterrezeption im deutschen Sprachraum soll hier nicht allein mit einer oder mehreren Jahreszahlen geantwortet werden, sondern es werden Kriterien für die Unterscheidung der Phänomene kontinuierlicher literarischer Überlieferung und Tradition von einer Mittelalterrezeption im engeren Sinne vorgeschlagen. Ein für Forschungen zum 18. bis 21. Jahrhundert vielleicht praktikabler Grundsatz, Mittelalterrezeption erst dort beginnen zu lassen, wo die Rezipienten das Rezipierte explizit dem Mittelalter zuordnen, hilft für unsere Fragestellung nur bedingt weiter, da media aetas und verwandte Begriffe in der gelehrten Diskussion Deutschlands erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts zögerlich aufgenommen werden5 und vergleichbare Redeformen im Deutschen kontinuierlich erst später belegt sind.6 Für das Kompositum ‚Mittelalter‘ wird gar erst 1772 als Jahr des Erstbelegs genannt.7 Eine Mittelalterrezeption im strengsten Sinn, die das Mittelalter als entfernte Epoche wahrnimmt und sie mit einer dem heutigen Mittelalterbegriff verwandten Bezeichnung benennt, beginnt – nach vereinzelten Lehnübertragungen im 16. Jahrhundert8 – in deutscher Sprache nach heutigem Kenntnisstand erst im 17. Jahrhundert. So teilt Daniel Georg Morhof, Professor der Poesie in Rostock und Kiel, in seinem Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie / deren Uhrsprung / Fortgang und Lehrsätzen (1682) die Geschichte der deutschen Sprache und Poesie ein in eine „Uhralte“ (von den Anfängen bis etwa 800), eine „andere und mittlere“ (von Karl dem Großen bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts) und eine „Neweste Zeit“ (das 17. Jahrhundert seit Martin Opitz).9 Er übernimmt damit das in der humanistischen Historiographie längst gängige Drei-Zeitalter-Schema,10 wendet es aber nun auf die Geschichte der deutschen Sprache und Literatur an. Die ‚uralte‘,

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Dazu s. u., S. 33–35. Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Leipzig 1884, Bd. 12, Sp. 2939, mit Belegen aus dem mittleren 18. bis frühen 19. Jahrhundert. 7 HORST GÜNTHER : Neuzeit, Mittelalter, Altertum. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von K ARLFRIED GRÜNDER /JOACHIM R ITTER , Basel u. a. 1984, Bd. 8, Sp. 782–798, hier Sp. 791; M ERTENS (wie Anm. 3), S. 31. 8 Vgl. UWE NEDDERMEYER : Das Mittelalter in der deutschen Historiographie vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. Geschichtsgliederung und Epochenverständnis in der frühen Neuzeit, Köln u. a. 1988, S. 109 u. 112–117, der einige, allerdings nicht traditionsbildende Lehnübersetzungen Ägidius Tschudis (Die uralt wahrhafftig Alpisch Rhetia, 1538) und Joachim Vadians (Von dem mönchsstand, 1545) anführt. 9 Daniel Georg Morhof: Unterricht von der teutschen Sprache und Poesie. [Nach der 2. Aufl. Lübeck u. a. 1700] Hrsg. von HENNING BOETIUS, Bad Homburg u. a. 1969, S. 140, 154 u. ö. Vgl. K NUT K IESANT: Die Rezeption spätmittelalterlicher Literatur im 17. Jahrhundert. Daniel Georg Morhof. In: Deutsche Literatur des Spätmittelalters. Ergebnisse, Probleme und Perspektiven der Forschung, Greifswald 1986, S. 376–385, hier S. 378. 10 Vgl. unten S. 36f. mit Anm. 95.

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der Antike entsprechende Periode ist dabei – aus Sicht der frühneuzeitlichen Gelehrten – indirekt durch die Germania des Tacitus bezeugt. Die ‚neueste Zeit‘ beginnt nicht bereits mit der italienischen Renaissance oder deren deutscher Rezeption, sondern mit Opitzens Dichtungsreform. Auch die Schwierigkeit einer trennscharfen Abgrenzung hat BUMKE 1984 gesehen, wenn er bemerkt, dass „der Begriff Mittelalterrezeption […] im Hinblick auf das 15. und 16. Jahrhundert viel von seiner Schärfe“ verliere11 und es „besonders schwer“ sei, „[f ]ür die Beschäftigung mit altdeutscher Literatur […] die Anfänge deutlich abzugrenzen“.12 Die von ihm für diese Schwierigkeit genannten Beispiele sind allerdings so instruktiv, dass sie hier aufgegriffen werden sollen, um mit ihnen die vergleichenden Beobachtungen zu Rezeptionsweisen mittelalterlicher deutscher Literatur zu strukturieren. BUMKE fragt: Gehört Sebastian Brants Freidank-Bearbeitung von 1508 eher in den Zusammenhang der seit dem 13. Jahrhundert niemals abgerissenen und bis weit ins 16. Jahrhundert hinein lebendigen Wirkungsgeschichte der Bescheidenheit oder soll man sie als bewußten Rückgriff werten und in eine Reihe stellen mit Georg Wickrams Albrecht von Halberstadt-Ausgabe von 1545 und Martin Opitz’ Annolied-Ausgabe von 1639?13

Damit ist die hier entscheidende Frage gestellt und mit dem Stichwort ‚bewußter Rückgriff‘ ein Kriterium angedeutet, wobei sich die Frage stellt, wodurch sich ein ‚bewußter Rückgriff‘ auszeichnet. Ein näherer Blick auf BUMKEs Beispiele kann zur Schärfung dieses Kriteriums beitragen, weil die genannten Drucke und Ausgaben als Paradigmen für Rezeptionsweisen deutschsprachiger mittelalterlicher Texte durch Gelehrte und literarisch interessierte Laien der Frühen Neuzeit gelten können. In einem ersten Teil, der sich mit der Rezeption volkssprachiger Literatur beschäftigt, werden einige Beobachtungen zu den drei von BUMKE genannten Beispielen von Drucken mittelalterlicher deutschsprachiger Werke durch profilierte Autoren der beginnenden Frühen Neuzeit vorgebracht, um so Kriterien zu gewinnen für eine methodisch begründete Beantwortung der Frage nach dem Beginn der Mittelalterrezeption im deutschen Sprachraum. In einem kürzeren zweiten Teil werden dann Verbindungslinien zur Rezeption des lateinischen Mittelalters um 1500 in Deutschland gezogen.

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BUMKE (wie Anm. 1), S. 7. BUMKE (wie Anm. 1), S. 7. BUMKE (wie Anm. 1), S. 7.

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Abb. 1 Der Freidanck, Straßburg: Johannes Grüninger 1508 (München, BSB, 4° P.o.germ. 64 r), Titelseite

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1. Rezeptionsweisen volkssprachlicher Literatur Erstes Paradigma: Brants Freidank Als Sebastian Brant, oberster Verwaltungsbeamter der freien Reichsstadt Straßburg,14 1508 bei Johannes Grüninger ein Buch mit dem Titel Der Freidanck zum Druck brachte (Abb. 1),15 war er in Gelehrtenkreisen und – aufgrund seines erstmals 1494 erschienenen Narrenschiffs – auch darüber hinaus ein berühmter Mann. Den Freidank, die eigentlich Bescheidenheit (d. h. ‚Klugheit‘) überschriebene, unter dem Autornamen Freidank überlieferte Sammlung von Spruchdichtungen aus dem 13. Jahrhundert,16 gab Brant auch als Ergänzung zum Narrenschiff heraus. Während dieses allerdings vorrangig die menschlichen Torheiten kritisiert, liegt das Schwergewicht der Bescheidenheit auf dem Preis der Klugheit. Durch die Beigabe von 46 Holzschnitten wird Brants Freidank-Druck (wie das Narrenschiff) zu einem „Bildbuch“.17 Brants Einschätzung der Spruchdichtung und die Intention seiner Bearbeitung kommen in zwei kurzen paargereimten Paratexten zum Ausdruck. In der kurtze[n] liebliche[n] vorrede In herrn frydanck lässt Brant den Dichter selbst sprechen: Ich bin lang zeit verlegen bliben Und wer noch manichem unerkant Het mich nit funden doctor Brant Mich neben seim schiff lassen schwymmen Und mir mein orgel machen stymmen Mein kürtzen rymen corrigiert Uß vinster in das liecht gefiert Dem sag ich billich lob und ere Wer woll der hor zů meiner lere Die von eim leyen ist gedicht Der fündt das neben auch bericht

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Vgl. zuletzt umfassend JOACHIM K NAPE : Brant, Sebastian. In: Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon. Hrsg. von FRANZ JOSEF WORSTBROCK, Berlin u. a. 2005ff., Bd. 1/1, Sp. 247–283, zum Amt Sp. 248. Nach Abschluss des Manuskripts erschien: Sebastian Brant: Der Freidank. Hrsg. von BARBARA L EUPOLD. Stuttgart 2010. VD 16, F 2542. Vgl. THOMAS WILHELMI : Sebastian Brant-Bibliographie, Bern u. a. 1990, S. 111, Nr. 332; weitere Drucke (und Bearbeitungen) ebd., S. 112f., Nr. 333–339. Vgl. umfassend BARBARA L EUPOLD : Die Freidankausgabe Sebastian Brants von 1508 und ihre Folgedrucke. Untersuchungen zum Medienwechsel einer spätmittelalterlichen Spruchsammlung an der Schwelle zur Neuzeit, Diss. Marburg 2007, online unter http://archiv. ub.unimarburg.de/diss/z2007/0131/pdf/dbl.pdf (Stand: 15.9.2008). Vgl. K LAUS GRUBMÜLLER : Freidank. In: Kleinstformen der Literatur. Hrsg. von WALTER H AUG /BURGHART WACHINGER , Tübingen 1994, S. 38–55. Vgl. K NAPE (wie Anm. 14), Sp. 272.

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Das ich auch etwas hab gelesen Wie wol ich bin ein teütscher gwesen (vv. 6–18)18

Wir erfahren über Freidank, dass er ein Laie und ein Deutscher war, gleichwohl belesen, und dass seine Spruchsammlung erst vom Bearbeiter Brant bekannt gemacht worden sei. Dabei nimmt dieser sich allerdings die Freiheit, Freidanks kürtze[] rymen zu corrigier[en] und die Vorlage auch generell zu überarbeiten, seine orgell zu stymmen. So stellt er gegenüber der nächststehenden Überlieferungsgruppe die Reihenfolge der Kapitel von Grund auf um19 und fügt einige Verse hinzu.20 Ferner gibt Brant der deutschen didaktischen Dichtung marginal (außen und zum Teil innen) biblische und gelehrte Similien hinzu, wie er es bereits beim Narrenschiff in der lateinischen Übersetzung seines Schülers Jakob Locher (1498) getan hatte.21 In der abschließenden, ebenfalls paargereimten Additio ad fridanck kommentiert Brant diese Beigaben, die dem gelehrten Leser „den intellektuellen Traditionsbezug“22 der didaktischen Spruchdichtung transparent machen: Wer das fürnemen gesyn in mir Das ich all rymen wolt glosieren Mit concordantzen corrigieren Ich wolt bald haben getzogen har Poeten. recht und bybel gar Aber es ist hie mit genůg Wer mer wil suchen, hat gut fůg

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Sebastian Brant: Kleine Texte. Hrsg. von THOMAS WILHELMI, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, S. 558f., Nr. 421. „Ich bin lange Zeit vergessen gewesen und wäre vielen noch unbekannt, hätte Doktor Brant mich nicht gefunden, mich nicht neben seinem Schiff schwimmen lassen, mir meine Orgel gestimmt, meine kurzen Verse korrigiert und hätte er mich nicht aus dem Dunkeln als Licht geführt. Den lobe ich mit Recht und erweise ihm Ehre. Wer will, der höre auf meine Lehre, die von einem Laien gedichtet wurde. Derjenige findet am Rand vermerkt, dass ich auch etwas gelesen habe, obwohl ich ein Deutscher war.“ 19 Vgl. L EUPOLD (wie Anm. 15), S. 57–69, bes. S. 66. 20 Vgl. L EUPOLD (wie Anm. 15), S. 71–75, auf der Grundlage von A DOLF TIEDGE : Sebastian Brants Freidank-Bearbeitung in ihrem Verhältnis zum Original, Halle/S. 1903, S. 49–75. 21 Vgl. ausführlich L EUPOLD (wie Anm. 15), S. 76–95; zum buchgeschichtlichen Kontext JOHANNES K LAUS K IPF : „Pluto ist als vil als Lucifer“. Zur ältesten Verwendung gedruckter Marginalnoten in deutschen literarischen Texten (bis 1520). In: „Am Rande bemerkt“. Anmerkungspraktiken in literarischen Texten. Hrsg. von BERNHARD M ETZ /SABINE ZUBARIK, Berlin 2008, S. 33–58, bes. S. 42–47. 22 NIKOLAUS HENKEL : Der Zeitgenosse als Narr. Literarische Personencharakteristik in Sebastian Brants ‚Narrenschiff ‘ und Jakob Lochers ‚Stultifera navis‘. In: Self-fashioning/ Personen(selbst)darstellung. Hrsg. von RUDOLF SUNTRUP /JAN VEENSTRA , Frankfurt/M. u. a. 2003, S. 53–78, hier S. 56 (mit Blick auf Brants Marginalien zur Stultifera navis).

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Er fyndt das yn dem narren schiff Da ich weiße und thoren triff.23

Die Glossen – Brant nennt sie bibelphilologisch concordantzen24 – belegen die Übereinstimmung seiner Didaxe mit den ethischen Aussagen der Bibel, des römischen und kirchlichen Rechts und der antiken Dichter. Freidank wird hier als deutscher Laiendichter präsentiert, dessen Werk ethisch in Übereinstimmung mit den entscheidenden Autoritäten steht (Abb. 2). Das Alter seines Werks, für das Brant freilich auch kaum Anhaltspunkte haben konnte,25 ist allein durch die Aussage, es sei lang zeit […] verlegen blieben, angedeutet; kein Wort fällt etwa über die Verständlichkeit der Sprache. Diese Einschätzung Freidanks setzt auch ein weiterer, zweifach (Conclusio correctoris und Beschluß red) überschriebener Paratext der Ausgabe fort, dessen Verfasserschaft unklar ist:26 [F]Ar hin freydanck myn gůter fründ Jn aller welt din ler verkünd Das menglich bey dir sehen kan Das man vor tziten auch hat gehan

23 Brant: Kleine Texte (wie Anm. 18), S. 558, Nr. 422. „Hätte ich vorgehabt, alle Verse zu glossieren und sie mit Konkordanzen [Similien] auszustatten, dann hätte ich die antiken Dichter, das Recht und die Bibel eifrig [gemeint: noch eifriger] herangezogen. Aber hiermit will ich es bewenden lassen. Wer mehr suchen will, der findet das zu Genüge in meinem Narrenschiff, in dem ich Weise und Toren kritisiere.“ 24 Zur Verwendung des Begriffs besonders in lateinischen Bibeldrucken der Inkunabelzeit vgl. K IPF (wie Anm. 21), S. 37–39 u. Abb. 1. 25 Die Bescheidenheit kann indirekt, über die früheste Bezeugung in Rudolfs von Ems Alexanderroman, die Brant schwerlich gekannt haben dürfte, datiert werden; vgl. GRUBMÜLLER (wie Anm. 16), S. 38 mit Anm. 1. Die Zeugnisse über die historischen Personen namens Freidank, die die moderne Forschung beigebracht hat (vgl. ebd., S. 46 mit Anm. 28–31), konnte Brant nicht kennen. Die Akkon-Sprüche des Freidank-Corpus, die am ehesten eine Datierung nach internen Kriterien erlauben (vgl. ebd., S. 51f.), sind in der Ausgabe von 1508 nicht enthalten; vgl. L EUPOLD (wie Anm. 15), S. 64–66. 26 Der Freidanck. Straßburg: Johannes Grüninger 1508 (VD 16 F 2542; München, BSB, 4° P.o.germ. 64 r), Bl. [O4]v–[O5]r. Abdruck auch in: Sebastian Brants Narrenschiff. Hrsg. von FRIEDRICH ZARNCKE, Leipzig 1854, S. 168f. Dass diese Beschluß red von Brant selbst stammt, ist – entgegen LEUPOLD (wie Anm. 15), S. 122 mit Anm. 403, und GRUBMÜLLER (wie Anm. 16), S. 38 – nicht ausgemacht. Es ist möglich, dass die Bezeichnung corrector von Brant selbst verwendet wird, der ja für sich in Anspruch nimmt, Freidank ‚korrigiert‘ zu haben. Ebenso gut könnte aber auch einer der Korrektoren in Grüningers Offizin sich so nennen. Als solcher ist für das Jahr 1508 Johannes Adelphus Muling bezeugt, der eine Reihe von Druckkolophonen mit seinem Namen (zumeist mit der Selbstbezeichnung castigator, einmal aber auch corrector) versah; vgl. FRANZ JOSEF WORSTBROCK: Muling, Johannes Adelphus. In: Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon. Hrsg. von FRANZ JOSEF WORSTBROCK, Berlin u. a. 2005ff., Bd. 2/1, Sp. 255–277, hier Sp. 257 u. 261f. Mir scheint es eher unwahrscheinlich, dass Brant mit folgendem Selbstlob in der 3. Person auf sich referiert; vgl. Der Freidanck, Bl. [O5]r: Dich lobet einer der do het / Geschriben mer dan du geredt / Vnd wißt auch noch zů schriben mer / Aber er gundt dir din ere.

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Abb. 2 Der Freidanck, Straßburg: Johannes Grüninger 1508 (München, BSB, 4° P.o.germ. 64 r), Bl. B ijr

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In tütschen landen dapfer lüt Die warheit redten alle tzyt.27

Freidank ist für Brant (und seinen corrector, in dem manche Brant selbst sehen)28 Repräsentant einer tradierenswerten volkssprachigen Laienkultur einer ungenau bestimmten Vergangenheit, die, wie die marginalen concordantzen belegen, in Übereinstimmung mit religiösen, rechtlichen und moralischen Autoritäten der gelehrten Welt steht. Brants Freidank-Ausgabe steht so auch in einer Linie mit seinen zweisprachigen Ausgaben lateinischer Schultexte wie der Thesmophagia, der Disticha Catonis und anderer, die Brant ungeschieden nach spätantiker oder mittelalterlicher Herkunft wegen ihrer ethisch-didaktischen Vorbildlichkeit mit eigenen deutschen Reimpaarübersetzungen drucken ließ.29 Zu diesem Argument passt die Tatsache, dass Brant den Text sprachlich akualisiert und Freidanks kürtze ryme[n] literarisch corrigier[t]. Zwar nimmt Brant für seinen Druck einen Neuansatz in Anspruch, denn er will das Buch ja uß dem vinster ins liecht gezogen haben. Doch diese (ohnehin topische) Aussage30 entspricht nicht den Tatsachen der überaus breiten, bis ins 16. Jahrhundert hinabreichenden handschriftlichen Überlieferung – das Marburger Repertorium zählt 204 Handschriften31 – und der gleichfalls erstaunlichen literarischen und außerliterarischen Rezeption32 dieses Spruchdichters. Brants Bearbeitung der Bescheidenheit geht sogar ein Teildruck in Leipzig um 1490 voraus.33

27 Der Freidanck (wie Anm. 26), Bl. [O5]r. „Gehe hinaus, Freidank, mein guter Freund, und verkünde vor aller Welt deine Lehre, damit viele an dir ablesen können, dass es einst in den deutschen Ländern tüchtige Leute gab, die stets die Wahrheit sagten.“ 28 So vor allem L EUPOLD (wie Anm. 15), S. 122 mit Anm. 403 (s. o. Anm. 26). 29 Vgl. K NAPE (wie Anm. 14), Sp. 268–270; NIKOLAUS HENKEL : Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte, München 1988, S. 203–206; MICHAEL BALDZUHN : Schulbücher des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Die Verschriftlichung von Unterricht in der Text- und Überlieferungsgeschichte der ‚Fabulae‘ Avians und der deutschen ‚Disticha Catonis‘, Berlin u. a. 2009, S. 310–321. 30 Vgl. zum humanistischen Topos L EUPOLD (wie Anm. 15), S. 121–123. Freilich sagt dies noch nichts über den Wahrheitsanspruch oder -gehalt dieser Behauptung. 31 Vgl. STEFANIE HEIN /INES HEISER /BARBARA L EUPOLD u. a.: Noch einmal: Das Marburger Repertorium der Freidank-Überlieferung. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 134 (2005), S. 411–413, hier S. 412. Vgl. die detaillierte Dokumentation unter www.mrfreidank.de/hss (Stand 15.1.2010). Verzeichnet sind dort allein acht datierte Handschriften des 16. Jahrhunderts, zumeist aus dem Komplex der ‚Autoritäten‘-Handschriften oder der sog. Freidank-Predigten. 32 Vgl. INES HEISER : Autorität Freidank. Studien zur Rezeption eines Spruchdichters im späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit, Tübingen 2006, bes. S. 105–159. 33 Dieser Druck (Leipzig: Konrad Kachelofen, etwa 1490–1495) gibt allerdings die lateinisch-deutschen Proverbia Fridanci wieder, eine spätestens im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts entstandene Übersetzung einiger Reimpaarsprüche aus der Bescheidenheit in

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Brants Freidank-Bearbeitung steht somit, so kann BUMKEs eingangs zitierte Frage auf Grundlage der Selbstzeugnisse des Herausgebers und neuerer Forschungsergebnisse beantwortet werden, weitgehend in Kontinuität zu der bis ins 16. Jahrhundert reichenden Freidank-Überlieferung und -Rezeption und kann nicht als Specimen frühneuzeitlicher Mittelalterrezeption verbucht werden, sofern man damit die Absicht des Rezipienten, ein sprachliches und literarisches Zeugnis vergangener Zeit in seiner Andersartigkeit zu dokumentieren und vorzustellen, d. h. ein philologisches Interesse an alter deutscher Sprache und Literatur,34 voraussetzt. Eine solche Absicht ist für Brants Freidanck nicht zu erkennen, und auch ein Bewusstsein der sprachlichen Andersartigkeit des Rezipierten lässt sich allenfalls aus der Äußerung über die Korrekturbedürftigkeit erschließen. Allerdings geht Brants Freidank-Druck insofern über einen bloßen Beitrag zur Überlieferung des Texts hinaus, als die Bescheidenheit durch die Beigaben Brants (und des vielleicht von ihm zu unterscheidenden Korrektors), sowohl durch die rahmenden Paratexte als auch durch die Marginalglossen, den Lesern als kulturell respektables und ethisch vorbildliches Zeugnis deutscher Vergangenheit in der Volkssprache präsentiert wird. Diese paratextuelle Betonung der Respektabilität der deutschsprachigen Vergangenheit ist zwar mit dem Bewusstsein historischer Distanz verbunden, jedoch nicht mit der Wahrnehmung grundsätzlicher Verschiedenheit zu dieser Vergangenheit. Dafür spricht auch, dass Brant gemeinsam mit Locher 1498 in der Stultifera navis einen zeitgenössischen, nur vier Jahre alten deutschsprachigen Text mit einer vergleichbaren Rahmung aus programmatischen Einleitungstexten und gelehrten Marginalien versah, sein Narrenschiff von 1494.35

lateinische Hexameter, denen häufig (und so auch hier) die deutschen Vorlagen zu Lernzwecken beigegeben waren. Vgl. H ENKEL : Übersetzungen (wie Anm. 29), S. 89–92, 253– 255 u. ö.; L EUPOLD (wie Anm. 15), S. 22 u. Abb. 6–10; Datierung nach dem Eintrag des Marburger Repertoriums der Freidank-Überlieferung auf www.mrfreidank.de/18 (Stand 15.1.2010). 34 Vgl. NORBERT KÖSSINGER : Die Anfänge der Mittelalterphilologie. Zur Wiederentdeckung und Edition deutschsprachiger Texte des Mittelalters in der frühen Neuzeit. Mit einer Fallstudie zu Johann Schilters ‚Thesaurus antiquitatum Teutonicarum‘ (Ulm 1726–1728). In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 38 (2008), S. 32–51, bes. S. 36, 48f. u. ö. 35 Vgl. dazu MICHAEL RUPP : ‚Narrenschiff ’ und ‚Stultifera navis‘. Deutsche und lateinische Moralsatire von Sebastian Brant und Jakob Locher in Basel 1494–1498. Münster u. a. 2002, bes. S. 233–245.

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Zweites Paradigma: Georg Wickrams Metamorphosis Ovidij Anders als Brant artikuliert Georg Wickram, der 1545 die erste gedruckte Bearbeitung von Ovids Metamorphosen in deutscher Sprache bei Ivo Schöffer in Mainz herausgab, ein Bewusstsein von der sprachlich-literarischen Andersartigkeit seiner Vorlage, der Übertragung dieses Hauptwerks antiker Mythologie durch Albrecht von Halberstadt, deren mittelhochdeutsches Original von 1210 oder 1190 stammt.36 Zwar modernisiert Wickram gleichfalls sowohl die lautliche als auch die metrische Gestalt seiner Vorlage, doch gibt der Colmarer Stadtangestellte zumindest eine Probe der Versgestalt seiner heute verlorenen Vorlage, Albrechts Vorrede, aber auch dies nicht in unveränderter Form, sondern lautlich modernisiert. Auch äußert sich Wickram ausführlicher als Brant zur Absicht seiner Ausgabe sowie zur Einschätzung der Vorlage und seinen Bearbeitungsprinzipien. Als Wickram seine Metamorphosen-Bearbeitung im Dezember 1544 abschloss, gab es – anders als zu anderen Hauptwerken der römischen Dichtung wie Vergils Aeneis37 – noch keine gedruckte deutsche Übersetzung von Ovids Hauptwerk.38 Wickram, seinem Zeugnis im Widmungsbrief zufolge deß Lateins gar unkundig,39 konnte als Übersetzer keine Abhilfe schaffen. Allerdings hatte er Zugriff auf einen heute verlorenen vollständigen Textzeugen von Albrechts mittelhochdeutschem Original und nahm diesen als Vorlage für eine eigene Überarbeitung. Anders als die humanistischen Übersetzer antiker Autoren war Wickram vor allem an der Vermittlung des Stoffs interessiert, da er auf die sprachliche Form des Originals keinen eigenen Zugriff hatte. Auf dem Titelblatt pries er die

36 Vgl. grundlegend BRIGITTE RÜCKER : Die Bearbeitung von Ovids Metamorphosen durch Albrecht von Halberstadt und Jörg Wickram und ihre Kommentierung durch Gerhard Lorichius, Göppingen 1997, zur umstrittenen Datierung S. 32–40. 37 Vgl. zuletzt C AROLA R EDZICH : „… in zeiten des fridens ein gelerte gab“. Zu Thomas Murners Übertragung der ‚Aeneis‘ (1515) und ihrer Widmungsvorrede an Kaiser Maximilian I. In: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 17 (2007/2008), S. 107–121. 38 Wickrams Überarbeitung von Albrechts Übertragung blieb die einzige annähernd komplette Übersetzung der Metamorphosen bis in die Barockzeit; sie wurde zu seinen Lebzeiten zweimal (1545 und 1551) gedruckt, in überarbeiteter und ergänzter Form noch dreimal zwischen 1581 und 1631; vgl. Georg Wickram: Werke. Hrsg. von JOHANNES BOLTE , Tübingen 1905, Bd. 7, S. V–XI. 39 Georg Wickram: Sämtliche Werke. Hrsg. von H ANS -GERT ROLOFF, Berlin u. a. 1990, Bd. 13/1, S. 5, Z. 24 („der lateinischen Sprache gänzlich unkundig“). Diese Einschätzung wird von mehreren ähnlichen Äußerungen im Werk gestützt und auch von der Forschung als weitgehend zutreffend eingeschätzt; es kann ausgeschlossen werden, dass Wickram in der Lage war, ohne fremde Hilfe lateinische Werke größeren Umfangs zu verstehen; vgl. JAN-DIRK MÜLLER : Wickram – ein Humanist? In: Vergessene Texte – verstellte Blicke. Neue Perspektiven der Wickram-Forschung. Hrsg. von M ARIA E. MÜLLER / NORBERT M ECKLENBURG, Frankfurt/M. u. a. 2007, S. 21–39, hier S. 24 mit Anm. 10.

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Ausgabe an als Jederman lüstlich/besonder aber allen Malern / Bildthawern / vnnd dergleichen allen künstnern nützlich / Von wegen der ertigen Invention vnnd Tichtung.40 Die Leistung des übersetzenden Vorgängers wurde keinesfalls verschwiegen: Die Metamorphosen seien Etwan durch den Wolgelerten M[eister] Albrechten von Halberstat inn Reime weiß verteutscht / Jetz erstlich gebessert vnd mit Figuren der Fablen gezirt / durch Georg Wickram zu Colmar.41 Doch ging es Wickram nicht darum, Albrechts Ovid-Bearbeitung als ein Zeugnis hochmittelalterlicher Antikerezeption in der sprachlichen Gestalt, die er vorfand, zu präsentieren, sondern sie diente ihm allein als Hilfsmittel, den edlen poeten42 Ovid auch den Lateinunkundigen zugänglich zu machen. Mehrfach entschuldigt sich Wickram für die Unzulänglichkeit der vorgelegten Verse, er sagt, das solcher reiche und lieplich poet [Ovid] wirdig gewesen wer / mit hoherm verstand / bessern reimen und zierlicherem teütschen an tag zů bringen,43 als in der vorgelegten Form. Besonders den mitteldeutschen Vorgänger glaubt Wickram verteidigen zu müssen: wiewol er dessen reimen […] inn keynen weg schelten kan / so seind sie doch mit solchemm alten Teütsch und kurtzen versen gemachet / so daß sie mit keynem verstand gelesen mogen werden.44 Allein um zu zeigen, wie schwer verständlich Albrechts Verse seien, gibt Wickram seinem Druck eine (vorgeblich unbearbeitete) Probe der Vorlage bei, Meyster Albrechts Prologus.45 Auch hierfür entschul-

40 Wickram (wie Anm. 39), S. 3 („jedermann angenehm, besonders aber den Malern, Bildhauern und überhaupt allen Künstlern aufgrund der geschickten Erfindungsgabe und der Dichtung“). 41 Wickram (wie Anm. 39), S. 3 („einst durch den hochgelehrten M.[eister] Albrecht von Halberstadt in Versen verdeutscht, jetzt erstmals verbessert und mit Bildern zu den Geschichten geziert durch Georg Wickram aus Colmar“). Zur Übersetzung von Figuren mit „Bildern“ vgl. WOLFGANG NEUBER : Prekäre Theologie. Textsemantik und Bildsemantisierung am Beispiel von Wickrams erstem Bild seiner ‚Metamorphosen‘. In: Vergessene Texte – verstellte Blicke. Neue Perspektiven der Wickram-Forschung. Hrsg. von M ARIA E. MÜLLER /NORBERT M ECKLENBURG, Frankfurt/M. u. a. 2007 (wie Anm. 39), S. 185–197, hier S. 185f. Anm. 4; zur kunstgeschichtlichen Einordnung der Holzschnitte vgl. A NNA SCHREURS : Ein „selbwachsner Moler“ illustriert die Malerbibel. Wickrams Holzschnitte zu Ovids ‚Metamorphosen‘. In: Ebd., S. 169–183. 42 Wickram (wie Anm. 39), S. 11, Z. 2. 43 Wickram (wie Anm. 39), S. 5, Z. 14–17 („dass dieser fähige und anmutige Dichter es verdient hätte, mit größerem Verstand, besseren Versen und in anmutigerer Sprache auf deutsch vorgelegt zu werden“). 44 Wickram (wie Anm. 39), S. 6, Z. 8–11 („Obwohl er seine Verse keineswegs kritisieren möchte, so sind sie doch in derart altertümlichen Deutsch und in so kurzen Versen gemacht, dass man sie beim Lesen nicht recht versteht“). 45 Wickram (wie Anm. 39), S. 7, Überschrift.

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digt sich Wickram in einer zweiten Vorrede an den [fr]euntliche[n] liebe[n] Leser:46 wollest mir nit zů argem ermessen daß ich obgemelte Meister Albrecht [!] Vorred imm Ingang diß bůchs gestelt/dann das auß keyner verachtnuß geschehen / sunder alleyn darum / das du magst erkennen / wo dise bücher solcher gestalt getruckt weren worden / das sie mit schwerem verstand hetten mügen gefaßt werden / wie dann die alten reimen gemeinlich mit schwerem verstand außgetruckt seind.47

Daher hat Wickram – seinem Verständnis nach gezwungenermaßen – die reimen Albrechts nit alleyn geendert oder corrigiert/sunder gantz von neüwem nach meinem vermogen inn volgende ordnung brocht.48 Wie tief Wickrams Bearbeitung in die Vorlage eingreift, ist zu ermessen, seit zwischen 1859 und 1966 verschiedene Bruchstücke aus ein und derselben Pergamenthandschrift vom Ende des 13. Jahrhunderts gefunden wurden, die einige hundert Verse Albrechts in mittelhochdeutscher Sprachform überliefern.49 Ersichtlich wird dies etwa aus dem Beginn des Fragments A, das Albrechts Version der Geschichte von Progne und Philomela überliefert,50 die hier synoptisch mit Wickrams Version derselben Stelle wiedergegeben ist:51 Oldenburger Fragment A diu] vrowe irem manne: „ob] ich eteswanne iu v]lîz in hulden iht getete, vol]gt, herre, mîner bete:

Wickrams Druck 1545 Progne irn man batt herzlich sehr, Er solt sie lossen uber meer Zů ihrer schwester Philomelam; Dann sie ihr entlich solchs fürnam,

46 Wickram (wie Anm. 39), S. 10, Z. 1. 47 Wickram (wie Anm. 39), S. 10, Z. 1–8 („dies sei nicht aus Missachtung geschehen, sondern allein deswegen, um erkennbar zu machen, dass die vorliegenden Bücher unverständlich gewesen wären, wenn sie so [unverändert] gedruckt worden wären, wie ja gemeinhin die alten Verse schwer verständlich ausgedrückt sind“). 48 Wickram (wie Anm. 39), S. 6, Z. 12–14 (in der Widmungsvorrede an Wilhelm Böcklin; „nicht nur geändert und verbessert, sondern gänzlich neu nach meinem Können in die folgende Ordnung gebracht“). 49 Zu den Fragmenten vgl. zuletzt zusammenfassend RÜCKER (wie Anm. 36), S. 54–85. 50 Veröffentlicht zuerst von AUGUST LÜBBEN : Neues Bruchstück von Albrecht von Halberstadt. In: Germania 10 (1865), S. 237–245; synoptisch zu Wickrams Text bei RÜCKER (wie Anm. 36), S. 344–350. Vgl. zuletzt L ENA BEHMENBURG : „Dieweil ir swester was sein weib“. Zur Bedrohung der familiären Ordnung in Georg Wickrams ‚Philomela‘. In: Vergessene Texte – verstellte Blicke. Neue Perspektiven der Wickram-Forschung. Hrsg. von M ARIA E. MÜLLER /NORBERT M ECKLENBURG, Frankfurt/M. u. a. 2007, S. 135–146. 51 Zitiert nach RÜCKER (wie Anm. 36), S. 344f. Vor der Klammer ] stehen die Ergänzungen LÜBBENs (wie Anm. 50) für den durch Beschneiden eingetretenen Textverlust. Vgl. auch den stärker normalisierten und daher lesefreundlicheren Text mit Anmerkungen zur Textkritik und zur Übersetzung von FRIEDRICH NEUMANN : Meister Albrechts und Jörg Wickrams Ovid. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 76 (1954), S. 321–389, hier S. 343f.

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lat] mich varen über sê vf] daz daz ich gese, Den] vater vnde die swester min. ma]ch des aber niht sin diu] swester kome zů mir here. vf] daz er dich gewere.52

Das sie wolt iren vatter sehen, Wo das ir man wollt lossen bschehen: „So aber solchs je nit mag sein, So bitt ich, Konig und Herre mein Bring mir mein schwester zů mir her! Damit mein vatter dich gewer.53

Dieser Ausschnitt ist ein extremes Beispiel dafür, wie weit sich Wickram nicht nur in Metrik und Reimwörtern, sondern auch in Syntax, Aufteilung von Erzähler- und Figurenrede, Verwendung direkter vs. indirekter Rede von seiner Vorlage, deren konkrete Gestalt wir freilich nicht kennen, entfernt haben mag. Repräsentativer für den Bearbeitungsgrad der Metamorphosis Ovidij als dieses Extrembeispiel sind die folgenden Verse, die an die vorhergehenden anschließen. Oldenburger Fragment A De]r vrouwen bete wart getân. de]r koning niht enbeite. wa]n daz er sich bereite mi]t den schiffen an die vart. ou]ch stunt der wint darewart, dar] der koning wolde vare. de]s quam er uil schiere dare.54

Wickrams Druck 1545 Der frawen bitt ward volg gethon. Der Konig do nit lenger beyt. Uff solche fart er sich bereyt Mit vil der schiffen zů der fart. Der wind ihm auch gantz glücklich wardt Zů seinem fürgenommen far Darumb kam er kürtzlichen dar.55

Im Allgemeinen ist hier die Syntax der Vorlage weniger angetastet, aus metrischen Gründen sind Füllwörter eingeführt und unverständlich gewordene Wörter (darewart: ‚dorthin‘) durch ähnlich klingende ersetzt. Immerhin sind Vorlage und Bearbeitung einander versweise problemlos zuzuordnen. 52

Fragment A 1–10. („Die Frau [sprach] zu ihrem Mann: ‚Wenn ich auch nur irgendwann auf freundliche Weise dienstfertig euch gegenüber war, dann gewährt mir die Bitte und lasst mich übers Meer fahren, so dass ich meinen Vater und meine Schwester sehen kann! Falls dies aber nicht sein kann, möge die Schwester zu mir kommen, damit er dir [deine Bitte] gewähre.‘“) 53 Wickram (wie Anm. 39), VI 906–915. („Progne bat ihren Mann recht herzlich, er solle sie übers Meer zu ihrer Schwester Philomela lassen, denn sie hatte sich endlich vorgenommen, ihren Vater zu sehen, falls ihr Mann das zuließe. ‚Wenn dies aber nicht sein kann, so bitte ich dich, mein König und Herr, dann bring meine Schwester zu mir her! Damit mein Vater dir [deine Bitte] gewähre.‘“) 54 Fragment A 16–22. („Die Bitte der Frauen wurde erfüllt. Der König wartete nicht darauf, sondern rüstete sich und seine Schiffe für die Fahrt. Der Wind stand auch günstig in der Richtung, in die der König wollte; daher gelangte er sehr rasch dorthin.“) – Für die Lesart darewart (A 20) als ein Wort folge ich NEUMANN (wie Anm. 51), S. 344. 55 Wickram (wie Anm. 39), VI 921–927. („Der Bitte der Frau leistete man Folge. Der König wartete nicht länger. Er bereitete sich zu einer solchen Fahrt, mit vielen Schiffen zu der Fahrt. Der Wind stand für ihn auch günstig in der Richtung, die er sich vorgenommen hatte. Deshalb gelangte er schnell dorthin.“).

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Jedenfalls bieten die Oldenburger Fragmente Gelegenheit, Wickrams Erneuerung der Verse Albrechts nachzuvollziehen und zu ermessen, dass es unmöglich ist, allein aus dem Druck von 1545 die mittelhochdeutsche Version Albrechts zu rekonstruieren, wie es KARL BARTSCH noch vor Bekanntwerden der ersten Fragmente begonnen hatte.56 Albrechts Werkeingang dagegen hat Wickram nach eigenem Bekunden unverändert gelassen.57 Auch dieser ist aber nach allgemeiner Überzeugung von Wickram keineswegs diplomatisch (zeichengetreu) wiedergegeben worden.58 Er behauptet auch nur, dass man an der Wiedergabe von Meyster Albrechts prologus ablesen könne, [w]ie […] semliche reimen geschriben seind.59 Schon ein flüchtiger Blick auf den Prologbeginn zeigt aber, dass die lautliche Gestalt nicht dem Mittelhochdeutschen um 1200 entspricht, wie es für Albrecht anzusetzen ist: Arme und rich, Den ich willicklich Meines dienstes bin bereit Zů lhone meiner arbeyt / Vernemend alle besunder Die manigfalden wunder / Die ich euch inn disem bůch sag / Wie vor manigem altem tag Do die welt gemachet ward Die Leüt wurden verkart Und manig weiß verschaffen / Das leyen und pfaffen Unglaublich ist / Doch wisset ir wol seit diser frist, Daß gott geschůff Adam Biß zů Abraham, Der sein erste hold Waß/ das er nie wold Sich niemand künd Durch der leüte sünd Die sich versencket hetten.60

56 Albrecht von Halberstadt und Ovid im Mittelalter, Quedlinburg u. a. 1861; vgl. dazu NEUMANN (wie Anm. 51), S. 325 Anm. 2.; RÜCKER (wie Anm. 36), S. 86–92. 57 Wickram (wie Anm. 39), S. 6, Z. 6–8: wie aber semliche reimen geschriben seind/werden an volgendem blat inn seiner vorred / die ich nit hab enderen wollen/ gelesen […]. („wie aber sämtliche Verse geschrieben sind, kann auf dem folgenden Blatt in seiner [Albrechts] Vorrede, die ich nicht habe ändern wollen, gelesen werden“). 58 Vgl. RÜCKER (wie Anm. 36), S. 29. 59 Wickram (wie Anm. 39), S. 6, Z. 9. 60 Wickram (wie Anm. 39), S. 7, vv. 1–21 (Hervorhebungen der Diphthongierungen JKK). „Arme und Reiche, denen ich als Lohn meiner Arbeit gerne zu Diensten bin, hört jeder

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Die neuhochdeutsche Diphthongierung ist beispielsweise mit Ausnahme von Reimwörtern relativ konsequent durchgeführt. Überdies erweckt der Gebrauch von und den Eindruck, hier müsse des Reims wegen unde gestanden haben. An späterer Stelle erzwingt das Verspaar Von latin zů Teütsche. / So vil gůter Leüte (vv. 55f.) geradezu die Konjektur ze diute/liute im Reim. Größen des Fachs wie MORIZ HAUPT,61 BARTSCH62 und EDWARD SCHRÖDER63 sahen sich aus den genannten Gründen zu kritischen Herstellungsversuchen veranlasst, die beim prologus größere Erfolgsaussichten haben als bei Wickrams bearbeitetem Text, obgleich wir angesichts der Möglichkeit, dass Wickram eine Handschrift etwa des 15. Jahrhunderts vorlag, in der einige oder sämtliche genannte Phänomene des Lautwandels bereits wirksam waren, Sicheres kaum sagen können. Freilich behandelt Wickram seine Vorlage keineswegs ohne historisches Bewusstsein. Dem Prolog entnimmt er, dass Albrecht seine Verdeutschung 1210 begonnen habe,64 er bezeichnet Albrecht als wolgelerten Mann sowie als Meyster, und er wiederholt Albrechts Gönnerzeugnis für Landgraf Hermann I. von Thüringen. Auch nimmt er die sprachliche Alterität, das alte teütsch bzw. die alten reymen seiner Vorlage wahr, doch er erblickt darin allein ein Hindernis für die Verständlichkeit (ihren schweren verstand), kein erhaltenswertes Zeugnis einer vergangenen Sprachstufe. So kann Wickrams Bearbeitung der Metamorphosen des Albrecht von Halberstadt zweifellos als ein Zeugnis der Rezeption eines mittelalterlichen Textes gelten, das die sprachliche Andersartigkeit des Rezipierten und sein Alter zur Kenntnis nimmt. Aber Wickram hatte Albrecht gegenüber nur ein äußerst begrenztes dokumentarisches Interesse; Albrechts Text war ihm in

einzeln auf die vielfältigen Wunder, von denen ich in diesem Buch erzähle, wie vor langer Zeit, als die Welt erschaffen wurde, die Menschen verwandelt und auf vielfältige Weise umgestaltet wurden, so dass es Pfaffen und Laien unglaublich erscheint. Doch wisst ihr genau, dass seit der Zeit, da Gott Adam erschuf, bis zu Abraham, der als erster zu ihm gehörte, dass er [Gott] sich nie mehr offenbaren wollte wegen der Sünden der Menschen, in die sie versunken waren.“ Die Übersetzung ‚sich offenbaren‘ basiert auf der Normalisierung von künd (v. 19) zu künde und dessen Interpretation als sog. thüringischer Infinitiv von künden; vgl. so erstmals MORIZ H AUPT: Die Vorrede Albrechts von Halberstadt. In: Zeitschrift für deutsches Alterthum 3 (1843), S. 289–292, hier S. 289. 61 Bei H AUPT (wie Anm. 60), S. 290 findet sich für vv. 55f. erstmals die Normalisierung diute/liute. 62 Vgl. Anm. 56. 63 Der Prolog des Albrecht von Halberstadt. In: Nachrichten der K. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-historische Klasse 1909, S. 64–102. 64 Vgl. Wickram (wie Anm. 39), S. 6, Z. 27. Die Schreibung 1212 in der Widmungsvorrede des Drucks von 1545 ist sicher ein Druckfehler, da Wickram in der Marginalie zu Albrechts umstrittener Datierung im Prolog (vv. 84f.) bemerkt, es sei 335 Jar her, das diss Buch erstlich verteutscht (ebd., S. 9), mithin von seiner Entstehung im Jahr 1210 ausgeht; vgl. RÜCKER (wie Anm. 36), S. 33 mit Anm. 61.

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erster Linie Mittel zum Zweck, um den reiche[n] und lieplich[en] Poet[en] Ovid65 lesen zu können. Es handelt sich bei dem Druck der Metamorphosis Ovidij durch Wickram eher um den Fall einer durch das Mittelalter ermöglichten, zugleich aber auch gestörten Antikerezeption, jedenfalls nicht um ein Zeugnis der philologischen Mittelalterrezeption. Dies muss gerade angesichts der Tatsache betont werden, dass Wickram sonst ein lebhaftes Interesse an altdeutscher Literatur zeigte und ein Jahr nach dem Druck der Metamorphosis Ovidij die Kolmarer Liederhandschrift erwarb,66 in Colmar eine Meistersingergesellschaft gründete, ihr 1549 eine Schulordnung gab und zahlreiche Meisterlieder abschrieb.67 Drittes Paradigma: Martin Opitz und das Annolied Martin Opitz, der jüngste der drei von BUMKE genannten potentiellen Mittelalterrezipienten, kann anders als Brant und Wickram als Repräsentant einer philologischen Rezeption gelten. Denn Opitz druckte in seiner Ausgabe des Annolieds (1639) die handschriftliche Vorlage nicht nur als Zeugnis eines mittelalterlichen Reichspatriotismus ab, sondern auch als Monument der Geschichte der deutschen Sprache.68 Er brachte die frühmittelhochdeutsche Zeitdichtung,69 die er im lateinischen Titel der Ausgabe „Dichtung eines Ungenannten deutschen Dichters über den heiligen Anno, Erzbischof von Köln, vor etwa 500 Jahren verfasst“70 nennt, zumindest der Intention nach so zum Druck, wie er sie in seiner Vorlage

65 Wickram (wie Anm. 39), S. 4, Z. 15. 66 Vgl. HORST BRUNNER : Die alten Meister. Studien zu Überlieferung und Rezeption der mittelhochdeutschen Sangspruchdichter im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, München 1975, S. 70. 67 Vgl. dazu CHRISTOPH PETZSCH : Jörg Wickrams Singergesellschaft und ihre große Liederhandschrift. In: Annuaire de la Société d’Histoire et d’Archéologie de Colmar 25 (1975/76), S. 91–119; zusammenfassend BURGHART WACHINGER : Kolmarer Liederhandschrift. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearbeitete Auflage hrsg. von KURT RUH /BURGHART WACHINGER , Berlin u. a. 1978ff., Bd. 5, Sp. 27–39, hier Sp. 39. 68 Vgl. grundlegend ERNST HELLGARDT: Zur Rezeption des ‚Annoliedes‘ bei Martin Opitz. In: Mittelalter-Rezeption. Ein Symposium. Hrsg. von PETER WAPNEWSKI, Stuttgart 1986, S. 60–79; Edition mit Opitz’ Kommentar und englischer Übersetzung durch R. GRAEME DUNPHY: Opitz’s Anno. The Middle High German ‚Annolied‘ in the 1639 edition of Martin Opitz, Glasgow 2003. 69 Vgl. zum Begriff M ATHIAS HERWEG : Ludwigslied, De Heinrico, Annolied. Die deutschen Zeitdichtungen des frühen Mittelalters im Spiegel ihrer wissenschaftlichen Rezeption und Erforschung, Wiesbaden 2002, bes. S. 1–10, zu Opitz’ Ausgabe S. 297–306. 70 Vgl. DUNPHY (wie Anm. 68), S. 34: Incerti poetae teutonici rhythmus de Sancto Annone Colon.[iensi] archiepiscopo ante D aut ciciter [!] annos conscriptus.

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vorfand. In seinen Anmerkungen glossierte Opitz in lateinischer Sprache 225 schwer verständliche Wörter des frühmittelhochdeutschen Textes mit Verweisen auf existierende Wörterbücher, auf neuhochdeutsche oder niederländische Entsprechungen sowie etymologische Erklärungen gelehrter Zeitgenossen. Im Brief vom 10. März 1639 an Fürst Ludwig I. von Anhalt-Köthen, den Gründer der Fruchtbringenden Gesellschaft, kündigt Opitz seine Ausgabe an als ein schön geticht so ein deutscher Poët vor 500. jharen vndt drüber Zue gedechtniß des Cöllnischen Ertzbischoffs Anno auffgesetzt, bey welchem der Nährende [d. h. Fürst Ludwig] viel wörter der alten Francken, Sachsen vndt in gemein gantz Deutschlands erkläret auß solchen schrifften vndt gedechtnissen, die in das gemein nicht bekandt auch theils niemals noch an das liecht kommen sindt.71

Opitz’ eigentlichem Widmungsbrief an den Ratspräses seines Wohnorts Danzig zufolge ist das Annolied „ein überaus seltener Überrest der alten Sprache“ (prisci sermonis […] rara certe particula).72 Das Ziel der Ausgabe ist es – so die Prolegomena –, „die uralte Ehrwürdigkeit der Muttersprache“73 auszubreiten (priscam linguæ maternæ gloriam […] dilatare),74 ein Ziel, das für Opitz im Einklang steht mit seinem und seiner Mitstreiter Bemühen um die Pflege der Gegenwartssprache.75 Opitz’ Ausgabe des Annolieds erfüllt durch die diplomatische Wiedergabe in dokumentarischer Absicht und durch den sprachlich-erklärenden Kommentar zwei Kriterien einer philologischen Mittelalterrezeption. Die Ausgabe kann in Ermangelung handschriftlicher Überlieferung auch heute noch als Grundlage sämtlicher Editionen eines frühmittelhochdeutschen Sprach- und Literaturdenkmals dienen, weil sie – anders als Wickrams Bearbeitung von Albrechts von Halberstadt deutschen Metamorphosen und als Brants Freidank-Bearbeitung – dokumentarischen Anspruch hat und gegenüber dem Text in der alten Sprachstufe daher konservativ und (der Intention nach) diplomatisch verfährt.76 Ein vergleichbares philologisches Interesse deutscher Gelehrter an Denkmälern altdeutscher Sprache, eine – so ERNST HELLGARDT – „gelehrte[]

71 72 73 74 75 76

Zit. nach DUNPHY (wie Anm. 68), S. 17. DUNPHY (wie Anm. 68), S. 36. So die Übersetzung von HELLGARDT: Zur Rezeption des ‚Annoliedes‘ bei Martin Opitz (wie Anm. 68), S. 65. DUNPHY (wie Anm. 68), S. 44. Vgl. DUNPHY (wie Anm. 68), S. 44: nos, qui linguæ Germanicæ cultum hodiernum cum laude aliqua iuvenes hucusque auximus & protulimus […]. DUNPHY (wie Anm. 68), S. 24, kann an Beispielen plausibel machen, dass die Mehrzahl der offenkundigen Fehler in der Edition „go back to oversights in the Hünefeld publishing house“.

Wann beginnt im deutschen Sprachraum die Mittelalterrezeption?

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Auseinandersetzung [mit mittelalterlichen deutschen Texten] aus bewußter historischer Distanz heraus“,77 beginnt nicht erst im 17. Jahrhundert, sondern bereits mit den Bemühungen des Johannes Trithemius um Otfrids Evangelienbuch, die 1495 in seinem Artikel zu Trithemius im Catalogus illustrium virorum Germaniam […] exornantiam erstmals erkennbar werden, und hat im 16. Jahrhundert eine Reihe weiterer prominenter Vertreter, darunter die kommentierte Erstedition durch Matthias Flacius Illyricus78 oder die Wiederentdeckung der Manessischen Liederhandschrift durch Bartholomäus Schobinger sowie Melchior Goldasts Ausgabe dreier didaktischer Dichtungen des Hochmittelalters.79 Was diese Zeugnisse einer philologischen Mittelalterrezeption, die zugleich die Anfänge der deutschen Philologie markieren,80 von Brants Freidank-Ausgabe, Wickrams Albrecht von Halberstadt-Bearbeitung oder weiteren Zeugnissen der „Rezeption mittelalterlicher deutscher Sprachkultur, die aus der Kontinuität schriftlicher und mündlicher Überlieferung noch mehr oder weniger unmittelbar hervorgeht“,81 abhebt, ist die Intention, die sprachliche und historische Alterität der alten Texte zu dokumentieren und zu erklären.82 Zwar nehmen auch Brant und Wickram die sprachliche und historische Differenz der alten Texte wahr, doch sie erscheint ihnen nicht dokumentierens- und erklärenswert; sie wird vielmehr allein als Hindernis ihrer Verständlichkeit wahrgenommen.

77 ERNST HELLGARDT: „… nulli suo tempore secundus“. Zur Otfriedrezeption bei Johannes Trithemius und im 16. Jahrhundert. In: Sprache, Literatur, Kultur. Studien zu ihrer Geschichte im deutschen Süden und Westen. Fs. Wolfgang Kleiber. Hrsg. von A LBRECHT GREULE /UWE RUBERG, Stuttgart 1989, S. 355–375, hier S. 355. 78 Vgl. dazu ausführlich NORBERT KÖSSINGER : Otfrids ‚Evangelienbuch‘ in der frühen Neuzeit. Studien zu den Anfängen der deutschen Philologie, Tübingen 2009, zu Trithemius S. 3–11 u. 21–32, zu Flacius S. 118–161. 79 Vgl. ULRICH SEELBACH : Mittelalterliche Literatur in der frühen Neuzeit. In: Das Berliner Modell der Mittleren Deutschen Literatur. Beiträge zur Tagung Kloster Zinna 29.9.– 1.10.1997. Hrsg. von CHRISTIANE C AEMMERER /WALTER DELABAR /JÖRG JUNGMAYR , Amsterdam u. a. 2000, S. 89–115, bes. S. 100–106. 80 Vgl. pointiert ERNST HELLGARDT: Originalität und Innovation. Konzepte der Reflexion auf Sprache und Literatur der deutschen Vorzeit im 16. Jahrhundert. In: Innovation und Originalität. Hrsg. von WALTER H AUG /BURGHART WACHINGER , Tübingen 1993, S. 162–174, hier S. 355: „Mit den Erwähnungen des Namens Otfrid von Weißenburg in den Schriften des […] Johannes Trithemius […] beginnt die Geschichte der Deutschen Philologie.“ Vgl. weiter ausholend KÖSSINGER : Otfrids ‚Evangelienbuch‘ (wie Anm. 78), S. 12–20. 81 HELLGARDT: „… nulli suo tempore secundus“ (wie Anm. 77), S. 355. 82 Vgl. DUNPHY (wie Anm. 68), S. 20: „Intent on showing that early German literature is a subject worthy of study in its own right, he explores the linguistic complexities of the Annolied with relish, frankly admitting that this interests him more than the historical aspects of the poem.“ Ebenso bereits H ERWEG (wie Anm. 69), S. 303–305.

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Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass sich die ersten Zeugnisse einer Rezeption mittelalterlicher deutschsprachiger Texte, die diese als Zeugnisse einer vergangenen Epoche wahrnehmen, in der Regel an ein gelehrtes Publikum wenden und daher lateinisch abgefasst sind. Entweder stehen sie im Kontext lateinischer Abhandlungen über die deutsche Geschichte oder aber sie treten als lateinisch eingeleitete und kommentierte Editionen auf. Nur ausnahmsweise, etwa in Sebastian Münsters Cosmographei (1537) und in Johannes Stumpfs Eidgenössischer Chronik (1547/48), erscheinen sie auch im Kontext deutschsprachiger Historiographie.83 Zwischenfazit Als Resümee dieses vergleichenden Blicks auf Rezeptionsweisen deutschsprachiger mittelalterlicher Literatur soll, wie angekündigt, keine Jahreszahl als Datum des Beginns der Mittelalterrezeption stehen, sondern ein Vorschlag zur Definition. Von Mittelalterrezeption in der Frühen Neuzeit sollte genau dann gesprochen werden, wenn die Rezipienten ein Bewusstsein sprachlicher Alterität des rezipierten Textes und ein Bewusstsein historischer Distanz zu diesem erkennen lassen. Von philologischer Mittelalterrezeption als einem Spezialfall derselben würde ich genau dann sprechen, wenn der Rezipient sich darum bemüht, die sprachliche Verfasstheit des rezipierten Textes zu dokumentieren, möglicherweise auch zu erklären. Von den drei einleitend zitierten Beispielen BUMKEs ist allein Opitz’ kommentierte Ausgabe des Annolieds ein Beispiel philologischer Mittelalterrezeption. Aus Wickrams Bearbeitung von Albrechts von Halberstadt MetamorphosenÜbersetzung spricht nur ein extrem eingeschränktes dokumentarisches Interesse, aber ein klares Bewusstsein von der Alterität des rezipierten Textes, die freilich nur als ein zu beseitigendes Verstehenshindernis wahrgenommen wird. Ebenso ist Brants Freidank-Druck sprachlich modernisierend und ethisch-didaktisch aktualisierend, daher unphilologisch, dennoch präsentiert er den Text als ein Zeugnis achtenswerter Gelehrsamkeit und gültiger Lehre aus deutscher, zumal deutschsprachiger Vergangenheit. Zu berücksichtigen ist dabei, dass die zeitliche Differenz zum rezipierten Text erheblich variiert. Trennen Freidank und Sebastian Brant nur knapp 200 Jahre und Albrecht von Halberstadt und Wickram etwa 250, so liegen zwischen Martin Opitz und dem Annolied bereits rund 560 Jahre; Matthi-

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Vgl. HELLGARDT: Originalität und Innovation (wie Anm. 80), S. 163–167, eine Zusammenstellung „der Texte, die im Laufe des 16. Jahrhunderts durch den Druck zugänglich wurden“.

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as Flacius und Otfrid schließlich sind durch knapp 700 Jahre voneinander getrennt. Mit zunehmendem Alter steigt offenbar auch die Fremdheit der sprachlichen Zeugnisse und damit ihre Attraktivität als Dokumente der Geschichtlichkeit von Sprache und Literatur. Vergleichbare Differenzierungen wären an den vielfältigen Rezeptionszeugnissen mittelalterlicher Literatur in der frühen Neuzeit vorzunehmen, die mithilfe der Zusammenstellungen HELLGARDTs,84 JOHANNES JANOTAs85 und ULRICH SEELBACHs86 inzwischen ansatzweise zu überblicken, die aber nur in wenigen Ausnahmefällen bereits flächendeckend erschlossen sind.87 Um nun nicht missverstanden zu werden, ist festzuhalten: Es geht hier nicht darum, das Phänomen Mittelalterrezeption auf seine philologische Spielart einzugrenzen und jede nichtphilologische Beschäftigung mit Stoffen, die dem Mittelalter entstammen, aus dem Forschungskontext ‚Mittelalterrezeption‘ auszuschließen. Man könnte beispielsweise – hier denke ich etwa an Ulrich Fuetrers Bearbeitungen hochmittelalterlicher Romane vom Ende des 15. Jahrhunderts, die BERND BASTERT allerdings als Phänomen der „Literarische[n] Kontinuität im Spätmittelalter“ versteht,88 – vielleicht sogar von einer Mittelalterrezeption im ausgehenden Mittelalter sprechen – dies allerdings im Widerspruch zur eingangs zitierten Einstellung Bumkes. Hier geht es allein darum, zu differenzieren und nicht durch die Etikettierung als ‚Mittelalterrezeption‘ grundverschiedene Phänomene über einen Kamm zu scheren.89 Insbesondere möchte ich davor warnen, die Bearbeitungen, das Wieder-, Neu- oder Umerzählen mittelalterlicher Stoffe, wie wir es bei Ulrich Fuetrer, in den Prosaauflösungen und Drucken hochmittelalterlicher Romane,90 im 16. Jahrhundert dann namentlich bei

84 Vgl. HELLGARDT: Originalität und Innovation (wie Anm. 80), S. 163–167. 85 JOHANNES JANOTA : Zur Rezeption mittelalterlicher Literatur zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert. In: Das Weiterleben des Mittelalters in der deutschen Literatur. Hrsg. von JAMES F. POAG /GERHILD SCHOLZ WILLIAMS, Kronberg/Ts. 1983, S. 37–46. 86 SEELBACH (wie Anm. 79), S. 89–115. 87 Vgl. hierzu die wissenschafts- bzw. philologiegeschichtlichen Studien von HERWEG (wie Anm. 69) sowie KÖSSINGER : Otfrids ‚Evangelienbuch‘ (wie Anm. 78), bes. S. 215f. (zu den wenigen ebenfalls monographisch erschlossenen Beispielen frühneuzeitlicher Mittelalterrezeption). 88 Vgl. BERND BASTERT: Der Münchner Hof und Fuetrers ‚Buch der Abenteuer‘. Literarische Kontinuität im Spätmittelalter, Frankfurt/M. u. a. 1993, Untertitel; vgl. auch HORST WENZEL : Alls in ain summ zu pringen. Füetrers ‚Bayerische Chronik‘ und sein ‚Buch der Abenteuer‘ am Hof Albrechts IV. In: Mittelalter-Rezeption. Ein Symposium. Hrsg. von PETER WAPNEWSKI, Stuttgart 1986, S. 10–31. 89 Vgl. WOLFGANG H ARMS : Das Interesse an mittelalterlicher deutscher Literatur zwischen der Reformationszeit und der Frühromantik. In: Akten des VI. Internationalen Germanistenkongresses Basel 1980, Bern u. a. 1981, Bd. 1, S. 60–84, hier S. 62. 90 Vgl. A LOIS BRANDSTETTER : Prosaauflösung. Studien zur Rezeption der höfischen Epik im frühneuhochdeutschen Prosaroman, Frankfurt/M. 1971; H ANS -JOACHIM KOPPITZ :

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Hans Sachs beobachten können, in gleicher Weise als ‚Mittelalterrezeption‘ zu bezeichnen91 wie die hier thematisierten bewussten historischen Rückgriffe oder die Anfänge der deutschen Philologie.92

2. Rezeptionsweisen lateinischer mittelalterlicher Literatur im deutschen Humanismus In einem zweiten, kürzeren Schritt soll nun auf einige Perspektiven der Forschung zur Rezeption lateinischer Literatur des Mittelalters, sofern sie als Bestandteil der Kultur Deutschlands wahrgenommen wurde, eingegangen werden. Ich möchte insbesondere versuchen, Verbindungslinien zwischen der Rezeption deutschsprachiger und lateinischer Werke um 1500, die gleichzeitig und zum Teil durch dieselben Personen erfolgten, aufzuzeigen. Die Epochenbezeichnung ‚Mittelalter‘ ist bekanntlich eine humanistische Erfindung, näherhin Francesco Petrarcas, der seine eigene Lebenszeit, das 14. Jahrhundert, als dunkle Zwischenzeit wahrnahm und die gesamte Epoche seit dem Untergang des alten Rom als eine finstere Zwischenperiode zwischen der vorbildlichen antiken Kultur und der erstrebten Erneuerung der studia und des sermo Romanus (der klassischen Latinität) beschrieb.93 Seit Flavio Biondo (um 1450) wurde die Rede vom medium aevum auch in der Historiographie verwendet und – vermittelt durch Enea Silvio Piccolomini – schon bald im deutschen Humanismus rezipiert.94 Besonders Beatus Rhenanus hat in seinem Kommentar zur Germania des

Studien zur Tradierung der weltlichen mittelhochdeutschen Epik im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert, München 1980. 91 Vgl. in diesem Sinn auch die Ausklammerung „aktive[r], umgestaltende[r] Rezeption mittelalterlicher Literatur“ bei SEELBACH (wie Anm. 79), S. 92, Anm. 11. Einen einschlägigen Fall dieser Art avisiert der Beitrag von BIANCA H ÄBERLEIN im vorliegenden Band. 92 Gerade die einschlägige Dissertation von WINFRIED NEUMANN, die als „Studien zur Mittelalter-Rezeption bei Hans Sachs“ begonnen wurde (Zeitenwechsel. Weltliche Stoffe des 12. bis 14. Jahrhunderts in Meisterliedern und motivverwandten Dichtungen des Hans Sachs, Heidelberg 2005, S. VII) zeigt, dass bei Sachs nirgends ein Bewusstsein dafür zu erkennen ist, dass er hier Umdichtungen alter Texte, die eine konkrete historische Situierung haben, vornimmt. 93 Vgl. K ARLHEINZ STIERLE : Francesco Petrarca. Ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts, München 2003, S. 13f., 446f., 737–743 u. ö.; ferner LUCIE VARGA : Das Schlagwort vom ‚finsteren Mittelalter‘, Baden u. a. 1932, bes. S. 39–41. 94 Vgl. grundlegend NEDDERMEYER (wie Anm. 8), S. 12–32; neuere Literatur bei UTA GOER LITZ : Literarische Konstruktion (vor-)nationaler Identität seit dem ‚Annolied‘. Analysen und Interpretationen zur deutschen Literatur des Mittelalters (11.–16. Jahrhundert), Berlin u. a. 2007, S. 307–309.

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Tacitus (1519) eine Einteilung in eine prisca und eine media antiquitas eingeführt,95 die in seinen epochalen Res Germanicae (1531) als Unterscheidung einer Romana antiquitas von der media antiquitas verfestigt ist.96 Die „mittlere Vergangenheit“97 und ihre Erforschung liege deshalb in besonderem nationalen Interesse der Deutschen, weil sie – so Rhenanus im Widmungsbrief an den deutschen König Ferdinand vom 1. März 1531 – „uns [Deutsche] am meisten angehe“ (ad nos maxime pertinet).98 Auch in seinem Briefwechsel, etwa gegenüber Johannes Aventin, spricht Rhenanus von media antiquitas bzw. media tempora.99 Die media tempora umfassen nach Rhenanus’ Begriffsgebrauch bereits die Völkerwanderung, wie sich aus der Verwendung des Terminus im Titel einer Sammelausgabe der Werke Prokops in lateinischer Sprache und anderer Historiker dieser Zeit ergibt.100 1522 hatte Joachim Vadian in den Scholien zu seiner Ausgabe von Velleius Paterculus erstmals die später gebräuchlichste Begriffsvariante media aetas benutzt, und er verwendet ebenfalls erstmals verwandte Begriffe wie mitler jaren und mitteljärig auch im Deutschen (1545).101 Repräsentanten der europäischen Bildungsbewegung des RenaissanceHumanismus haben also in ihrer scharfen Selbstabgrenzung von der jüngeren Vergangenheit und von einem Teil der Zeitgenossen den Begriff des Mittelalters hervorgebracht, aus dem später die Epochentrias ‚Antike – Mittelalter – Neuzeit‘ hervorgehen wird.102 Um die Voraussetzungen einer humanistischen Mittelalterrezeption in Deutschland verständlich zu machen, ist ein Spezifikum des deutschen Renaissance-Humanismus zu vergegenwärtigen. Anders als ihre italienischen Vorbilder konnten sich die deutschen Humanisten nicht auf die (vorgebliche oder tatsächliche) regionale, sprachliche und genealogische

95 Vgl. grundlegend ULRICH MUHLACK : Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München 1991, S. 170f. 96 Vgl. FELIX MUNDT: Beatus Rhenanus, Rerum Germanicarum libri tres (1531). Ausgabe, Übersetzung, Studien, Tübingen 2008, S. 444–450, zum Widmungsbrief der Res Germanicae S. 540f. 97 MUNDT (wie Anm. 96), S. 29, übersetzt antiquitas mit „Antike“ bzw. „Geschichte“; die hier vorgeschlagene Übersetzung „Vergangenheit“ vermag an beiden Stellen zu gelten. 98 MUNDT (wie Anm. 96), S. 28, Z. 25f. 99 Vgl. Beatus Rhenanus: Briefwechsel. Hrsg. von A DALBERT HORAWITZ /K ARL H ARTFELDER , Leipzig 1886, S. 340, Nr. 243, dazu MUNDT (wie Anm. 96), S. 489, und EDMUND VON OEFELE : Aventiniana. In: Oberbayerisches Archiv für vaterländische Geschichte 44 (1887), S. 1–32, hier S. 21f., Nr. 14. Vgl. NEDDERMEYER (wie Anm. 8), S. 107f. 100 Vgl. MUNDT (wie Anm. 96), S. 454f. 101 Vgl. NEDDERMEYER (wie Anm. 8), S. 108 mit Anm. 38, u. S. 114. 102 Vgl. weiterführend NEDDERMEYER (wie Anm. 8), S. 15–32 u. 101–128.

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Kontinuität zur römischen Antike berufen.103 Sie mussten also in der eigenen – und das heißt hier fast stets: mittelalterlichen – Geschichte nach Personen, Werken und Leistungen Ausschau halten, die zur identifikatorischen Anknüpfung geeignet schienen. Hier aber tat sich ein Dilemma auf. Während die deutschen Humanisten sich in ihrem Selbstverständnis durch die am klassischen Altertum orientierte, klassizistische Latinität auszeichneten, mussten sie für die Konstruktion einer gelehrten Nation gerade auf mittelalterliche lateinische Zeugnisse zurückgreifen, die aus sprachkritischer Sicht als Dokumente für den Niedergang der lateinischen Sprache hätten gelten müssen, die aber aus der Perspektive der Nationskonstruktion, wie sie gegenwärtig im Fokus der Forschung steht,104 als Zeugnisse einer hochstehenden Bildung in Deutschland herangezogen wurden.105 Ihnen ging es um den Nachweis, dass die ‚alten Deutschen‘ keine Barbaren waren, sondern Bildung besaßen. Der Schwerpunkt der einschlägigen Forschung ist einerseits die Geschichte der gedruckten Erstausgaben mittelalterlicher Dichtwerke oder Historiographen, andererseits die Historiographiegeschichte.106 Selten aber wurde versucht, die Anfänge der philologischen Rezeption des lateinischen und des volkssprachigen Mittelalters in Beziehung zu setzen. Dennoch ist die Problemstellung für frühneuzeitliche Rezipienten deutscher Vergangenheit eine ähnliche, gleich ob die rezipierten Texte lateinische oder deutschsprachige sind. Erstes Paradigma: Konrad Celtis und das lateinische Mittelalter Deutschlands Für den deutschen Erzhumanisten Konrad Celtis freilich war Bildung in der Volkssprache eine Contradictio in adiecto, es gab sie nur in lateinischer und griechischer Sprache; seine Musen verstanden kein Deutsch.107 Doch 103 Vgl. (auch zum Folgenden) FRANZ JOSEF WORSTBROCK : Über das geschichtliche Selbstverständnis des deutschen Humanismus [zuerst 1974]. In: Ders.: Ausgewählte Schriften. Hrsg. von SUSANNE KÖBELE /A NDREAS K RAß, Stuttgart 2005, Bd. 2, S. 9–28, bes. S. 22–28; DIETER M ERTENS : Deutscher Renaissance-Humanismus. In: Humanismus in Europa. Hrsg. von der Stiftung „Humanismus heute“ des Landes Baden-Württemberg, Heidelberg 1998, S. 187–210, bes. S. 203–205. 104 Vgl. exemplarisch die unten in Anm. 153–155 genannten Titel. 105 Vgl. G : Literarische Konstruktion (wie Anm. 94), S. 310f. 106 Vgl. zusammenfassend NEDDERMEYER (wie Anm. 8); ferner M ERTENS (wie Anm. 3); M ARTINA H ARTMANN : Humanismus und Kirchenkritik. Matthias Flacius Illyricus als Erforscher des Mittelalters, Stuttgart 2001, S. 23–46. 107 Vgl. zu Celtis zuletzt zusammenfassend JÖRG ROBERT: Celtis, Konrad. In: Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon. Hrsg. von FRANZ JOSEF WORSTBROCK, Berlin u. a. 2005ff., Bd. 1/2, Sp. 375–427, zur Editionstätigkeit Sp. 382–385.

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für lateinische Werke des deutschen Mittelalters interessierte er sich und gab deren zwei mit großem Gepränge zum Druck. Den Anfang machte 1501 die Ausgabe der Werke Hrotsvits von Gandersheim nach einer Handschrift, die Celtis bereits 1493 im Regensburger Benediktinerkloster St. Emmeram entdeckt hatte.108 Sie ging jahrelang im Bekanntenkreis herum und wurde abgeschrieben, blieb aber – ein seltener Glücksfall – trotz ihrer Verwendung als Druckvorlage erhalten.109 Die sechs Legendendramen, acht Verslegenden und die Historia Oddonum der Gandersheimer Kanonissin des 10. Jahrhunderts widmete Celtis in der mit acht Holzschnitten, darunter zwei Widmungsbildern Albrecht Dürers,110 ausgestatteten Ausgabe Kurfürst Friedrich III. (dem Weisen) von Sachsen. Celtis preist die Autorin aus ottonischer Zeit dort als „deutsche Dichterin“ (poeta Germanica111) sowie als illustris mulier german[a],112 er lobt ihre Bildung in den Artes, wiewohl sie „inmitten der Barbarei und in schrecklichem Zustand des Vaterlands“113 lebte, und vergleicht sie mit Sappho, Eustochium, Ruth, Judith und Esther.114 Die Mitglieder der Sodalitas Celtica, Celtis’ Freundeskreis, steuerten zwölf lateinische und ein griechisches Lobgedicht (von Willibald Pirckheimer) auf die Dichterin bei.115 Celtis wurde mit der Hrotsvit-Ausgabe „zum Vater der Editions- und Interpreta-

108 Heute München, BSB, Clm 14485. Vgl. Hrotsvit: Opera. Hrsg. von WALTER BERSCHIN, München u. a. 2001, S. X–XV. 109 Vgl. C ARMEN C ARDELLE DE H ARTMANN : Die Roswitha-Edition des Humanisten Conrad Celtis. In: Schrift – Text – Edition. Fs. Hans Walter Gabler. Hrsg. von CHRISTIANE HENKES , WALTER H ETTCHE , G ABRIELE R ADECKE u. a., Tübingen 2003, S. 137–147 (mit der älteren Literatur). 110 Vgl. HEINRICH GRIMM : Des Conradus Celtis editio princeps der ‚Opera Hrosvite‘ von 1501 und Albrecht Dürers Anteil daran. In: Philobiblon 18 (1974), S. 3–25; DIETER WUTTKE : Dürer und Celtis [zuerst 1980]. In: Ders.: Dazwischen. Kulturwissenschaft auf Warburgs Spuren, Baden-Baden 1996, Bd. 1, S. 358–387. Ausführlich P ETER LUH : Kaiser Maximilian gewidmet. Die unvollendete Werkausgabe des Conrad Celtis und ihre Holzschnitte, Frankfurt a. M. 2001, S. 55–67. 111 Zitiert (unter stillschweigender Auflösung der Abbreviaturen) nach Opera Hrosvite illustris virginis et monialis Germane, gente Saxonica orte nuper a Conrado Celte inventa. Nürnberg 1501 (ND Hildesheim 2000), Bl. a iiir. Abdruck auch in Der Briefwechsel des Konrad Celtis. Hrsg. von H ANS RUPPRICH, München 1934, S. 461–467. 112 Opera Hrosvite (wie Anm. 111), Bl. a iiiiir. 113 scripserit et femina in media barbarie et patria horrida genita. Opera Hrosvite (wie Anm. 111), Bl. a iiv. 114 Vgl. Opera Hrosvite (wie Anm. 111), Bl. a iiv. 115 Opera Hrosvite (wie Anm. 111), Bl. a iiir –iiiiv: Sodalitatis litterarie epigrammata In Norinbergae Conuentu principum et decretoriis Imperii diebus constituta. In opera Hrosuithae clarissima uirginis et monialis Germanicae. Abdruck bei RUPPRICH (wie Anm. 111), S. 468– 471.

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tionsgeschichte einer [zuvor] nahezu vergessenen Autorin“;116 nach FRANZ JOSEF WORSTBROCK markiert die Ausgabe gar „de[n] Anfang d[eu]t[scher] M[ittelalter]-Wissenschaft“.117 Neuere philologische Untersuchungen118 betonen allerdings die Grenzen von Celtis’ philologischer Sorgfalt: Zwar korrigierte er, wie man am benutzten Manuskript nachvollziehen kann, den lateinischen Text – allerdings mit unterschiedlicher Intensität – in der Handschrift durch,119 aber er verglich den fertigen Satz nicht mehr mit der Vorlage, wie aus Druckfehlern und Abweichungen des Drucks von der Handschrift hervorgeht. Auch hat Celtis ohne Kennzeichnung metrische Zusammenfassungen (argumenta) und an zwei Stellen sogar Verse in Hrotsvits Text eingefügt.120 Diese Einschränkungen können jedoch nicht in Frage stellen, dass es sich bei Celtis’ Hrotsvit-Ausgabe um eine Edition nach zeitgenössischen philologischen Maßstäben handelt, wie sie sonst nur antiken Autoren zuteil wurde. CARMEN CARDELLE DE HARTMANN attestiert Celtis „Respekt vor dem Text und seiner Eigenart“, ja sogar „extreme Zurückhaltung“ der Vorlage gegenüber.121 Zweifellos war es sein Ziel, Hrotsvits Werke in der überlieferten sprachlichen Gestalt des 10. Jahrhunderts wiederzugeben, um sie in ihrer „Originalität und Einzigartigkeit“122 zu dokumentieren. Celtis’ zweite Edition einer mittellateinischen Dichtung ist womöglich ein noch deutlicherer Beleg für die patriotische Motivation der Beschäftigung mit dem deutschen Mittelalter. Die handschriftliche Druckvorlage mit dem Ligurinus Gunthers des Dichters, einem Epos über die Italienzüge Friedrich Barbarossas, die Celtis wohl 1504 in der Zisterzienserabtei Ebrach im Steigerwald fand, entlieh, aber nie zurückgab, ist verschollen. Da keine andere Handschrift des Werks erhalten ist, ist der im Namen einer Sodalitas litterariae Augustanae, einer sonst kaum bezeugten Gemeinschaft Augsburger Humanisten,123 herausgegebene Erstdruck des Epos einzige Grundlage unserer Kenntnis des Textes.124 Wie in der Hrotsvit116 URSULA HESS: Hrotsvit von Gandersheim, Opera. In: Amor als Topograph. 500 Jahre ‚Amores‘ des Conrad Celtis. Ein Manifest des deutschen Humanismus. Hrsg. von CLAUDIA WIENER/ JÖRG ROBERT/GÜNTER und URSULA HESS, Schweinfurt 2002, S. 125–131, hier S. 126. 117 FRANZ JOSEF WORSTBROCK : Humanismus. III. Deutsches Reich. In: Lexikon des Mittelalters, München 1977–1999, Bd. 5, Sp. 193–197, hier Sp. 195. 118 GRIMM (wie Anm. 110); WUTTKE (wie Anm. 110); H ARTMANN (wie Anm. 109). 119 Vgl. H ARTMANN (wie Anm. 109), S. 145. 120 Vgl. H ARTMANN (wie Anm. 109), S. 146. 121 H ARTMANN (wie Anm. 109), S. 146. 122 H ARTMANN (wie Anm. 109), S. 147. 123 Vgl. dazu JAN-DIRK MÜLLER : Konrad Peutinger und die Sodalitas Peutingeriana. In: Pirckheimer-Jahrbuch 12 (1997), S. 167–186. 124 Ligurini de gestis imp. caesaris Friderici primi Augusti libri decem […], Augsburg 1507 (ND, hrsg. von FRITZ PETER K NAPP, Göppingen 1982). Vgl. grundlegend ERWIN A SS-

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Edition von 1501 stilisieren Titel, Widmungsbrief und ein Geleitgedicht die Bemühungen des Editors um die Auffindung und Sicherstellung des Textes, den Celtis apud Francones in sylua Hercynia et druydarum Ebracensi coenobio („bei den Franken im Herkynischen Wald und den Druiden des Klosters Ebrach“) aufgefunden habe.125 Im Widmungsgedicht Ad Ligurinum stellt Celtis das Epos den antiken Gattungsbegründern Vergil, Statius, Lukan, aber auch dem wichtigsten Epiker des Mittelalters, Walter von Châtillon, an die Seite.126 Das kriegerische Deutschland (bellax Germania) möge sich an „unserem Dichter“ erfreuen, der „mit solcher Beredtheit den Ruhm der Deutschen besingt“.127 Die Mitglieder der kurzlebigen Augsburger Gelehrtengesellschaft betonen, dass ihre „besondere Vaterlandsliebe“ (peculiaris amor patriae)128 sie zur Finanzierung der Ausgabe veranlasst habe. Im Kolophon erwähnt Celtis stolz, dass Dozenten an fünf Universitäten „in ganz Deutschland“ (per universam Germaniam)129 bereits über den Ligurinus läsen. Celtis’ Editionen mittellateinischer Werke erweisen sich – weit mehr als es die zeitgenössischen Drucke deutschsprachiger Texte des Mittelalters tun – als Beiträge zu der von ihm betriebenen Rekonstruktion einer nationalen Bildungs- und Literaturgeschichte. Zweites Paradigma: Hermanns von Neuenahr Ausgabe von Einhards Karlsvita Als letztes Beispiel sei die Editio princeps der Vita Karoli magni Einhards durch Hermann Graf von Neuenahr (Köln 1521) genannt.130 Der Humanist und Unterstützer Reuchlins131 nutzte seine Ausgabe der ersten

MANN :

125 126 127 128 129 130 131

Einleitung in: Gunther der Dichter, Ligurinus. Hrsg. von dems., Hannover 1987, S. 2–35; zur Rezeption im deutschen Humanismus C LAUDIA WIENER : Guntherus poeta, Ligurinus. In: Amor als Topograph. 500 Jahre ‚Amores‘ des Conrad Celtis. Ein Manifest des deutschen Humanismus. Hrsg. von CLAUDIA WIENER /JÖRG ROBERT/GÜNTER und URSULA H ESS , Schweinfurt 2002, Nr. 32, S. 133f. A SSMANN (wie Anm. 124), S. 2 (Titel des Drucks von 1507). Abdruck bei A SSMANN (wie Anm. 124), S. 8 mit Kommentar Anm. 27. Ebd., S. 8: Gaudeat hoc nostro bellax Germania vate / Theutonicum tanto qui canit ore decus! Zit. nach A SSMANN (wie Anm. 124), S. 7. A SSMANN (wie Anm. 124), S. 25. Genannt sind Wien, Ingolstadt, Tübingen, Freiburg und Leipzig. Einhart: Vita et gesta Karoli Magni, Köln 1521 (VD 16, A 2883, E 726; München, BSB, 4° Germ.g. 40 w). GÖTZ-RÜDIGER TEWES : Neuenahr, Graf Hermann von, d. Ä. In: Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon. Hrsg. von FRANZ JOSEF WORSTBROCK, Berlin u. a. 2005ff., Bd. 2/2, Sp. 408–418. Vgl. ferner M ATTHIAS M. TISCHLER : Einharts ‚Vita Karoli‘. Studien zur Entstehung, Überlieferung und Rezeption, Hannover 2001, S. 874f., 1666–1671.

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Abb. 3 Einhart: Vita et gesta Karoli Magni, Köln: Johann Soter 1521 (München, BSB, 4° Germ.g. 40 w), Titelseite

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Lebensbeschreibung Karls des Großen und der sogenannten Einhard-Annalen für einen gelehrten Appell an den neu gewählten Kaiser Karl V., in der Nachfolge und Überbietung Karls des Großen den Ruhm des Heiligen Römischen Reichs zu mehren und sich so den Namen Karolus Maximus zu verdienen.132 Zuvor hatte Neuenahr Karl im Wahlkampf um die Nachfolge Maximilians gegen den französischen Widersacher Franz I. publizistisch massiv unterstützt. Seinen Appell führt der Graf in einem achtseitigen Widmungsbrief an den jungen Kaiser aus, der zugleich als historische Einleitung in das Werk und die karolingische Geschichte dient. Das Titelblatt zeigt (Abb. 3) die beiden Karoli auf einem Holzschnitt des Anton Woensam von Worms133 „kontinuitätsstiftend“134 gegenübergestellt. Auffällig an diesem auch in der Humanismusforschung135 recht unbekannten Bildzeugnis ist der Unterschied in Kleidung, Haartracht und Herrschersymbolik zwischen dem frühmittelalterlichen und dem frühneuzeitlichen Karl. Der Frankenherrscher wird hier nämlich nicht wie ein Herrscher des 16. Jahrhunderts dargestellt, sondern entweder als Herrscher in römischer Tradition mit kurzem Rock und möglicherweise einem Strahlenkranz, womöglich aber auch als noch recht primitiver Germane (mit Kronreif ?). Die Historisierung Karls wird besonders deutlich, wenn wir Woensams Holz-

132 Vgl. den Schluss des Widmungsbriefs, Bl. Bv: Tu uero huius uiri sanctimoniam imitatus, iure optimo K AROLUS M AXIMUS appellaberis, ut te per omnes terrarum et colant et admirentur. („Du wirst, dieses Mannes Heiligkeit nachahmend, wirklich mit vollem Recht Karl der Größte genannt werden, so dass dir durch alle Länder gehuldigt und du bewundert werden wirst.“) Vgl. zu diesem Topos BERND MOELLER : Karl der Große im 16. Jahrhundert. In: Die Präsenz der Antike im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Hrsg. von LUDGER GRENZMANN /K LAUS GRUBMÜLLER /FIDEL R ÄDLE u. a., Göttingen 2004, S. 109–124, hier S. 120f. 133 Vgl. JOHANN JAKOB M ERLO : Anton Woensam von Worms, Maler und Xylograph zu Köln. Sein Leben und seine Werke. Kunstgeschichtliche Monographie, Leipzig 1864–1884; LUDWIG H EBDING : Anton Woensam von Worms, Illustrator des frühen Kölner Buchdrucks. In: Der Wormsgau 10 (1972/73), S. 24–28; zuletzt BARBARA JAKOBY: Der Maler und Holzschneider Anton Woensam und seine Arbeiten für die Kölner Kartause. In: Die Kölner Kartause um 1500. Eine Reise in unsere Vergangenheit. Hrsg. von WERNER SCHÄFKE , Köln 1991, S. 373–389. Nicht zugänglich war mir ELSE SCHULZ : Zum Holzschnittwerk des Anton Woensam von Worms, Diss. Köln 1950. – Zum Drucker vgl. WOLFGANG SCHMITZ : Das humanistische Verlagsprogramm Johannes Soters. In: Humanismus in Köln. Hrsg. von JAMES V. M EHL , Köln u. a. 1991, S. 77–117, bes. S. 83f. u. 116, Abb. 4. 134 So TEWES (wie Anm. 131), Sp. 416. 135 Zur Rezeption Karls des Großen in Humanismus und Reformation vgl. UTA GOERLITZ : Lateinische Karls-Rezeption und ihre Umsetzung in den volkssprachlichen Diskurs bei Johannes Aventinus, Johannes Cuspinianus und Caspar Hedio. In: Karl der Große in Renaissance und Moderne. Zur Rezeptionsgeschichte und Instrumentalisierung eines Herrscherbildes. Hrsg. von FRANZREINER ERKENS, Berlin 1999, S. 39–54; BERND MOELLER : Karl der Große in der Reformation. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 104/105 (2003), S. 197–211; ders.: Karl der Große im 16. Jahrhundert (wie Anm. 132).

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Abb. 4 Albrecht Dürer: Karl der Große im Krönungsornat, Gemälde für die Nürnberger Heiltumskammer (1511–13), Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum (Leihgabe der Stadt Nürnberg), Gm 167

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schnitt von 1521, der gewiss in Zusammenarbeit mit Neuenahr konzipiert wurde, mit Albrecht Dürers berühmtem Gemälde für die Nürnberger Heiltumskammer von 1511–13 vergleichen (Abb. 4), in dem Keiser Karlus, der das Remisch reich den teitschen under tenig macht, wie es in der Bildumschrift heißt, dem Kaiser Sigismund, der die Reichsinsignien nach Nürnberg überführen ließ, in weitgehend vergleichbarer Kleidung und Haltung gegenübergestellt wird und auf dem Karl in anachronistischer Weise die in Nürnberg bewahrten Insignien Schwert, Reichsapfel und Reichskrone trägt.136 Neuenahr fügte seiner Ausgabe eine eigene Brevis narratio de origine et sedibus priscorum Francorum an,137 eine auf Tacitus aufbauende „kurze Abhandlung über den Ursprung und die Siedlungsplätze der alten Franken“, zusätzlich eine kurze Sammlung von „Zeugnissen aus ihren Gesetzen, dass die Franken Deutsche gewesen sind“ (Ex suis legibus testimonia Francos fuisse Germanos).138 Diese ist ein bemerkenswert früher Beleg für die Beschäftigung mit den fränkischen Stammesrechten (Lex Salica und Lex Ripuaria) sowie den Institutionen Karls als sprachgeschichtlichen Dokumenten.139 Gleichzeitig ist diese kurze Abhandlung ein Dokument für die gemeinsame Rezeption volkssprachiger Vokabeln und mittelalterlicher lateinischer Texte sowie deren gemeinsamer Heranziehung zur Klärung historischer Fragen. Die Reihe der humanistischen Editionen mittelalterlicher lateinischer Dichter und Autoren des deutschen Kulturraums ließe sich weiter fortführen. Die gegenwärtig wohl beste, aber sicher unvollständige Zusammenstellung zählt zwischen 1477 und 1550 allein 33 Erstdrucke mittelalterlicher Dichter und Autoren,140 darunter so prominente Editiones principes

136 Vgl. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg. Die Gemälde des 16. Jahrhunderts. Bearb. von KURT L ÖCHER , Ostfildern 1997, S. 203–210, Abb. S. 204. 137 Einhart (wie Anm. 130), Bl. B 2r –C 1v. Vgl. zu deren Druckgeschichte TISCHLER (wie Anm. 131), S. 1671f. 138 Einhart (wie Anm. 130), Bl. C 2r –C 3r. 139 Angeführt werden etwa aus der Lex Ribuaria die Vokabeln ermordet, ermorden (Einhart [wie Anm. 130], Bl. C 2r), Spatha, Helmum, Beinberga, frid (Bl. C 2v), aus der Lex Salica Feed, Herbannus, Scara, Herberga (Bl. C 3r). Die Lex Ribuaria wurde erst 1530 durch Johannes Sichardus, die Lex Salica gar erst um 1550 durch Johannes Tilius erstmals herausgegeben; vgl. Lex Ribvaria. Hrsg. von FRANZ BEYERLE /RUDOLF BUCHNER , Hannover 1954, S. 40; Pactus Legis Salicae. Hrsg. von K ARL AUGUST ECKHARDT, Hannover 1962, S. XXVII. 140 NEDDERMEYER (wie Anm. 8), S. 276f. Anm. 77. Zu ergänzen ist etwa die Editio princeps der Historia trium regum des Johannes von Hildesheim durch Ortwin Gratius (Köln 1514); vgl. GERLINDE HUBER-R EBENICH : Gratius, Ortwin. In: Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon. Hrsg. von FRANZ JOSEF WORSTBROCK, Berlin u. a. 2005ff., Bd. 1/3, Sp. 929–936, hier Sp. 944.

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wie die der Werke Ottos von Freising durch Johannes Cuspinian u. a. oder der Historia Gothorum des Jordanes 1515 durch Konrad Peutinger und Johannes Stabius.141 Dabei zeigt die genaue Lektüre der Widmungsbriefe und weiterer Paratexte, dass mehrfach die gelehrten Drucker und ihre Mitarbeiter ebenso großen Anteil an der Erarbeitung der Texte haben wie die durch Widmungsbriefe als Editoren auftretenden Humanisten. So sollten Matthias Schürer „und seine nicht näher genannten Mitarbeiter“142 neben oder noch vor Cuspinian als Herausgeber der Erstausgabe der Werke Ottos und Rahewins von Freising143 genannt werden,144 da „[d]ie Hauptarbeit an der Edition […] in Straßburg geleistet worden sein [dürfte]“.145 Auch für die buchtechnisch äußerst aufwendige Erstausgabe von Hrabanus Maurus’ Figurengedicht De laudibus sanctae crucis durch einen Kreis oberrheinischer Humanisten (darunter Brant und Johannes Reuchlin) unter Jakob Wimpfelings Führung vom Jahr 1503146 dürfte der Drucker Thomas Anshelm entscheidende Mitarbeit geleistet haben, obwohl Wimpfeling nach Zeugnis des Widmungsbriefs und der ihm zuzuordnenden Peroracio147 als Hauptherausgeber gelten darf.148

141 Vgl. UTA GOERLITZ : Maximilian I., Konrad Peutinger und die humanistische Mittelalterrezeption. In: Jahrbuch der Oswaldvon-Wolkenstein-Gesellschaft 17 (2008/2009), S. 61–77, bes. S. 62–65. 142 BRIGITTE SCHÜRMANN : Die Rezeption der Werke Ottos von Freising im 15. und frühen 16. Jahrhundert, Stuttgart 1987, S. 118 Anm. 83. 143 Ottonis Phrisingensis Episcopi, viri clarissimi, Rerum ab origine mundi ad ipsius vsque tempora gestarum, libri octo. Eiusdem de gestis Friderici primi Aenobarbi Caesaris Augusti Libri Duo. Rahevici [!] Phrisingensis ecclesie Canonici Libri duo, prioribus additi, de eiusdem Friderici Imperatoris gestis, Straßburg: Matthias Schürer 1515, vgl. zur Herausgeberschaft die Vorrede Ad Lectorem Bl. [A7]v; benutztes Exemplar: München, BSB, H. un. 04. Online-Digitalisat unter http://daten.digitalesammlungen.de/bsb00007723/image_1 (Stand 15.2.2010). 144 Vgl. zusammenfassend WINFRIED STELZER : Cuspinianus, Johannes. In: Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon. Hrsg. von FRANZ JOSEF WORSTBROCK, Berlin u. a. 2005ff., Bd. 1/2, Sp. 519–537, zur Ausgabe Ottos und Rahewins von Freising Sp. 528. 145 SCHÜRMANN (wie Anm. 142), S. 118. Cuspinian hatte eine von Jakob Spiegel im Wiener Schottenkloster entdeckte Handschrift nach Straßburg übersandt und einen Widmungsbrief beigesteuert; in Schürers Offizin wurde die Wiener Handschrift mit zwei weiteren Textzeugen aus St. Trudpert im Schwarzwald und Marbach im Elsass verglichen und der Text konstituiert. Der Druck war im März 1515 abgeschlossen, während Cuspinians Widmungsbrief bereits vom 1. März 1514 datiert. 146 Magnencij Rabani Mauri De Laudibus Sancte crucis opus. erudicione versu prosaque mirificum, Pforzheim: Thomas Anshelm 1503 (VD 16, H 5271); benutzt wurde das Exemplar der BSB München (Rar. 2085) aus dem Besitz Hartmann Schedels. Online-Digitalisat unter http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00019912/image_1 (Stand 15.2.2010). 147 Rabani Mauri De Laudibus Sancte crucis opus (wie Anm. 146), Bl. C iiv–iiir. 148 Vgl. WOLFGANG SCHMITZ : Zur Drucklegung von Hrabans ‚Liber de laudibus s. crucis‘ i. J. 1503. In: Architectura poetica. Fs. Johannes Rathofer. Hrsg. von ULRICH ERNST/BERN-

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Freilich treten hier in verstärktem Maße dieselben Probleme auf, die zum Titel dieses Beitrags geführt haben. Warum wird etwa die eben genannte Ausgabe der Figurengedichte des Hrabanus Maurus zur humanistischen Mittelalterrezeption gezählt, nicht aber die vier Drucke seiner Historia sanctae Catherinae, die stets gemeinsam mit dem Passionstraktat des Nürnberger Franziskaners Johannes Kannemann zwischen etwa 1477 und etwa 1491 in Köln, Reutlingen, Bamberg und Nürnberg erschienen,149 und warum lässt WORSTBROCK die ‚deutsche Mittelalter-Wissenschaft‘150 mit Celtis’ Hrotsvit-Ausgabe beginnen und nicht mit dem Druck von Hucbalds von St. Amand scherzhaftem Carmen de laude calvorum durch einen Anonymus von etwa 1496, dem zwar kein Widmungsbrief, aber immerhin der Eintrag zu Hucbald aus Trithemius’ Liber de scriptoribus ecclesiasticis beigegeben ist?151 Gegen den Druck des Hucbald-Gedichts als Zeugnis der Rezeption des deutschen Mittelalters könnte man anführen, dass dieser – im genannten Druck durch das Trithemius-Exzerpt belegt – um 1500 als „Franzose“152 wahrgenommen wurde, doch dieses Argument versagt bei Hrabans Katharinenlegende. Auch in diesen Fällen wird man wohl am ehesten auf das Bewusstsein von historischer Distanz gegenüber dem edierten Text verweisen, das etwa durch Widmungsbriefe, Geleitgedichte oder beigegebene eigene Abhandlungen fassbar wird. Und auch ein Bewusstsein der Wiederentdeckung nach (vermeintlich oder tatsächlich) langer Vergessenheit der alten Texte könnte entscheidend für eine Zuordnung zur Mittelalterrezeption sein, während eine kontinuierliche Überlieferung gegen einen Akt des bewussten Rückgriffs und damit gegen die Zuordnung zur Mittelalterrezeption sprechen würde.

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HARD SOWINSKI, Köln u. a. 1990, S. 389–400, bes. S. 392–396 (mit der älteren Literatur). Datenbank des Gesamtkatalogs der Wiegendrucke (www.gesamtkatalogderwiegendrucke.de, Stand 15.2.2010), M16051, M16057, M16060 u. M16062; vgl. VOLKER HONEMANN : Kannemann, Johannes. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearbeitete Auflage hrsg. von KURT RUH /BURGHART WACHINGER u. a., Berlin u. a. 1978ff., Bd. 4, Sp. 983–986. Dazu s. o. Anm. 118. Carmen mirabile de laude caluorum hugbaldi monachi ad Carolum imperatorem caluum, Mainz: Peter Friedberg, um 1496. Gesamtkatalog der Wiegendrucke (wie Anm. 149), n0202; München, BSB, 4° Inc.s.a. 1047; online unter http://daten.digitale-sammlungen. de/bsb00039449/ (Stand 15.2.2010). Vgl. Carmen mirabile (wie Anm. 151), Titelbl.v: Hugbaldus monachus Eluonensis: ordinis diui patris Benedicti. natione Gallus. („Hugbald, Mönch von St. Amand, aus dem Orden des heiligen Vaters Benedikt, von Herkunft ein Franzose“).

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3. Resümee Obwohl die zuletzt gestellten Fragen als Forschungsdesiderate vorerst offen bleiben können, sollen die Ergebnisse des Beitrags abschließend in aller Kürze resümiert werden. Unstreitig dienen die humanistischen Editionen mittellateinischer Texte, die früher und in größerer Dichte einsetzen als die philologische Rezeption des deutschsprachigen Mittelalters, dem Nachweis der gelehrten Tradition der deutschen natio und der Widerlegung des vor allem von italienischen Humanisten erhobenen Barbarenvorwurfs gegen die Deutschen. Schon damit stehen sie im selben kulturgeschichtlichen Kontext wie die frühen Zeugnisse der philologischen Beschäftigung mit dem deutschsprachigen Mittelalter. Zusätzlich gibt es personelle Verflechtungen und Humanisten, die sich für lateinische wie deutschsprachige Zeugnisse der deutschen Vergangenheit gleichermaßen interessieren. Johannes Trithemius, Joachim Vadian, Johannes Aventin, Beatus Rhenanus, Matthias Flacius und viele andere sind für die Suche nach und die Edition von mittelalterlichen Texten in lateinischer wie deutscher Sprache gleichermaßen oder doch ähnlich bedeutend. Das Bemühen der deutschen Humanisten um die nationale Vergangenheit, deren Kontinuität damit ebenfalls behauptet wurde, ist in jüngster Zeit in gewichtigen Studien von historischer,153 latinistischer154 und germanistischer Seite155 ausgeleuchtet worden. Soweit ich sehe, steht die Integration der Vor- und Frühgeschichte der deutschen Philologie156 in die neuere Forschung zum humanistischen Nations- und Vergangenheitsdiskurs jedoch noch weitgehend aus. Um abschließend auf die titelgebende Frage meines Beitrags zurückzukommen: Eine Beschäftigung mit der mittelalterlichen Vergangenheit Deutschlands als ein bewusster Rückgriff auf die eigene Geschichte beginnt im deutschen Humanismus um das Jahr 1500 überall dort, wo sprachlich-

153 C ASPAR HIRSCHI : Wettkampf der Nationen. Konstruktion einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Göttingen 2005, zum Diskurs über die Antibarbaries vgl. S. 302–319. 154 CHRISTOPHER B. K REBS : Negotiatio Germaniae. Tacitus’ Germania und Enea Silvio Piccolomini, Giannantonio Campano, Conrad Celtis und Heinrich Bebel, Göttingen 2005. 155 GERNOT MICHAEL MÜLLER : Die ‚Germania generalis‘ des Conrad Celtis. Studien mit Edition, Übersetzung und Kommentar, Tübingen 2001; GOERLITZ : Literarische Konstruktion (wie Anm. 94). 156 Vgl. dazu KÖSSINGER (wie Anm. 34 u. 78); sowie weiterführend GRAEME DUNPHY: Melchior Goldast und Martin Opitz. Humanistische Mittelalter-Rezeption um 1600. In: Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von NICOLA MCLELLAND /H ANS -JOCHEN SCHIEWER /STEFANIE SCHMITT, Tübingen 2008, S. 105–121.

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literarische Zeugnisse der Vergangenheit in ihrer historischen, sprachlichen und literarischen Andersartigkeit und im Bewusstsein der eigenen Distanz zum Rezipierten wahrgenommen werden. Dies gilt sowohl für die lateinischen als auch die deutschsprachigen Monumente der deutschen Geschichte und Literatur. Wenn es zutrifft, dass aus Sicht der deutschen Literaturgeschichte viel für eine „Epochenzäsur“ zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit „um 1500/20“ spricht,157 dann scheint der Beginn der Mittelalterrezeption annähernd mit dem Ende der wahrgenommenen Epoche ineinszufallen. Da auch „die antiker Latinität gänzlich ferne deutschsprachige Literatur des Mittelalters ihren Einzug in die gelehrte, historischphilologische Beschäftigung mit der media aetas“ unter der Voraussetzung „systematische[r] historische[r] Distanzierung“ hält,158 liegt nichts näher, als die Kulturgeschichte der frühesten philologischen und historiographischen Mittelalterrezeption ungeschieden oder zumindest vergleichend für die Rezeption lateinischer und volkssprachiger Zeugnisse zu schreiben.

157 K LEIN (wie Anm. 3), S. 316. 158 Beide Zitate GOERLITZ : Maximilian I., Konrad Peutinger und die humanistische Mittelalterrezeption (wie Anm. 141), S. 71.

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Mittelalter humanistisch Volkssprachliches Erzählgut im lateinischen Frühhumanismus Mittelalterrezeption meint im Bereich der Literaturwissenschaft in erster Linie den Transfer mittelalterlicher Werke, Stoffe oder auch bloßer Motive in ein historisch und kulturell differentes Referenzsystem. Dieser Transfer vollzieht sich jeweils in einzelnen Fällen künstlerischproduktiver Aneignung einer mittelalterlichen Vorlage, die für die Gegenwart des Rezipienten von einigem Wert oder von Aussagekraft zu sein scheint: sei es, dass er in der fernen Epoche die Wurzeln und Idealformen der eigenen kulturellen Identität zu erblicken meint und diese wiedergewinnen möchte, sei es, dass die Vorlage gerade durch ihre historische Alterität dazu herausfordert, sie für die Gegenwart neu fruchtbar zu machen und damit der eigenen Kultur gewissermaßen von außen neue Impulse zu geben. Die Forschung zur deutschen Mittelalterrezeption setzt schon seit längerer Zeit deren Beginn in der Frühen Neuzeit an. Dies betrifft vor allem die dynastische Geschichtsschreibung des Spätmittelalters, in der Stoffe aus dem Hochmittelalter zur Ausgestaltung der ruhmreichen Vergangenheit eines Herrschergeschlechtes herangezogen wurden.1 Jan-Dirk Müller hat eine solche Verklärung des Hochmittelalters für den Hof Kaiser Maximilians I. beschrieben, die sich nicht nur auf das Gebiet der Literatur beschränkt.2 Dennoch ist gerade im späten 15. Jahrhundert, in dem viele Traditionen aus dem Hochmittelalter noch lebendig sind, stets schwer zu entscheiden, wo von echter Rezeption gesprochen werden kann und wo lediglich bestehende Traditionen weitergeführt werden. Anders und mit den Worten Peter Wapnewskis gesagt: „Weitertradierung, aktualisierende 1 2

Vgl. z. B. HORST WENZEL: „Alls in ain summ zu pringen“. Füetrers ‚Bayerische Chronik‘ und sein ‚Buch der Abenteuer‘ am Hof Albrechts IV. In: Mittelalter-Rezeption. Ein Symposion. Hrsg. von PETER WAPNEWSKI, Stuttgart 1986, S. 10–31. JAN-DIRK MÜLLER : Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I., München 1982.

Mittelalter humanistisch

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Bearbeitung, Rückgriff und Wiederentdeckung lassen sich im 15. und 16. Jahrhundert nicht deutlich trennen.“3 Da die Umbrüche in der Frühen Neuzeit bekanntermaßen allmählich und auf verschiedenen Feldern zeitlich und regional versetzt vor sich gingen, ist also bei allen Fällen von Mittelalterrezeption in der Frühen Neuzeit zunächst danach zu fragen, ob und wo zwischen der Tradition, auf die zurückgegriffen wird, und dem rezipierenden System eine Diskontinuität liegt, die den Begriff der Rezeption rechtfertigen würde, wenn man sie möglichst klar als eine solche beschreiben möchte. Häufig wird eine solche historische oder kulturelle Diskontinuität von den Autoren auch bewusst deutlich gemacht, um ein Werk als Ergebnis eines Rezeptionsprozesses zu kennzeichnen. Die hier zu behandelnden Beispiele sind lateinische Erzählungen, die sich auf deutsche Vorlagen berufen, und man könnte natürlich erwägen, inwieweit die Erwähnung und manchmal auch die Problematisierung der Sprachgrenze sie bereits als Beispiele für Rezeption im genannten Sinne ausweist. Es ist zunächst die Epistola iucunda, dann die Historia de comite quodam ex Sopheya, beide aus der Feder des Humanisten Samuel Karoch von Lichtenberg. Den Abschluss macht die in Leipzig gedruckte Novelle Historia occisorum in Kulm von Paulus Niavis. Alle drei stehen für eine Rezeption volkssprachlicher Erzählstoffe im Frühhumanismus: Erzählstoffe, deren Tradition zwar im Mittelalter verwurzelt, aber zum Zeitpunkt ihrer Übernahme nach wie vor lebendig ist. Man wird also kaum von einer durch historische Entfernung definierten Diskontinuität sprechen können, über die hinweg der Transfer verläuft. Doch liegt der Fall beim näheren Hinsehen auch anders, denn die Grenze zwischen den beteiligten Referenzsystemen ist vielmehr durch eine kulturelle Differenz zu bestimmen, die – über die bloße Sprachgrenze hinaus – zwei von verschiedenen Traditionen und Interessen bestimmte Diskursfelder voneinander trennt. Die Transformationsprozesse, welche die genannten Erzählungen beim Transfer über diese Grenze durchlaufen, sollen im Folgenden untersucht werden. Zunächst zu Samuel Karoch von Lichtenberg. Seine Vita weist ihn als Paradebeispiel eines Wanderhumanisten aus; nicht zuletzt aufgrund dessen liegt auch vieles davon im Dunkeln.4 Für die vorliegenden

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Vgl. die Vorbemerkungen WAPNEWSKIs zur ersten Sektion in Mittelalter-Rezeption (wie Anm. 1), S. 7–9, Zitat S. 7f. Nach wie vor ist die grundlegende Studie zu Karoch von Lichtenberg von HEINZ ENTNER : Frühhumanismus und Schultradition in Leben und Werk des Wanderpoeten Samuel Karoch von Lichtenberg. Biographisch-literarhistorische Studie mit einem Anhang unbekannter Texte, Berlin 1968; wichtige Ergänzungen liefert FRANZ JOSEF WORSTBROCK : Neue Schriften und Gedichte Samuel Karochs von Lichtenberg. Mit einer Werkbibliographie. In:

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Zusammenhänge sind allerdings manche Stationen von Bedeutung. Erstes wichtiges Zeugnis ist seine Immatrikulation in Leipzig im Wintersemester 1462/63; vermutlich hatte er sich vorher schon eine ganze Zeit lang dort aufgehalten. 1470 verlässt er Leipzig, offenbar auf dem Weg nach Italien; er selbst erwähnt einen Aufenthalt in Venedig. Aus Vorlesungsankündigungen und Universitätsmatrikeln lassen sich die Stationen Erfurt, Ingolstadt und Basel rekonstruieren. Auf dem Rückweg von einer weiteren Italienreise gelangte er wohl 1480 über Wien nach Tübingen. Zwischen 1482 und 1485 kommen Biberach, zwei Aufenthalte in Heidelberg, ein weiterer in Erfurt und schließlich einer in Köln dazu. Anfang der 90er Jahre ist er abermals in Wien zu finden, dann verliert sich die Spur; 1499 wird er zum letzten Mal als lebend erwähnt. Schmähungen seiner Kollegen scheinen ihn verfolgt zu haben wie die regelmäßig wiederkehrende finanzielle Not, die ihn auf seinen Wanderschaften begleitete. Leipzig ist die Station mit der längsten nachweisbaren Aufenthaltsdauer, wo er auf jeden Fall die Möglichkeit hatte, humanistisches Gedankengut kennen zu lernen.5 Vermutlich gehörte er zum Kreis um Heinrich Stercker, in dem unter anderen Hartmann Schedel verkehrte. Aus dessen Besitz ist eine Sammelhandschrift mit Briefen Sterckers erhalten, in der auch die Historia de duobus amantibus, also die Geschichte von Euryalus und Lucretia des Eneas Silvio Piccolomini überliefert ist.6 Man geht davon aus, dass diese Abschrift während Schedels Aufenthalt in Leipzig angefertigt wurde. Auch einige Schriften Francesco Petrarcas machten zu dieser Zeit in Leipzig die Runde, wie es Jürgen Geiß beschrieben hat.7 In den Jahren nach 1460 entsteht zudem im Thomas-Kloster ein großer Sammelkodex mit deutschen Erzählungen. Die meisten davon sind Übersetzungen aus dem Lateinischen, darunter eine auf der lateinischen Version Petrarcas basierende Griseldis und eine weitere des Apolloniosromans. Obwohl

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Zeitschrift für deutsches Altertum 112 (1983), S. 82– 125; wieder in: ders.: Ausgewählte Schriften. Hrsg. von SUSANNE KÖBELE /A NDREAS K RAß, Stuttgart 2005, Bd. 2, S. 109– 152; vgl. ferner ders.: Karoch (Caroch, Karoth), Samuel, von Lichtenberg (Samuel de Monte Rutilo). In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearbeitete Auflage hrsg. von KURT RUH /BURGHART WACHINGER , Berlin u. a. 1978ff., Bd. 4, Sp. 1030–1041. Hierzu ENTNER : Frühhumanismus (wie Anm. 4), S. 56–58. Es handelt sich um den heute in der BSB München aufbewahrten clm 216. Vgl. FRANZ JOSEF WORSTBROCK : Stercker, Heinrich (Heinricus de Meilerstadt). In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearbeitete Auflage hrsg. von KURT RUH /BURGHART WACHINGER , Berlin u. a. 1978ff., Bd. 9, Sp. 302–304. JÜRGEN GEISS : Zentren der Petrarca-Rezeption in Deutschland (um 1470–1525). Rezeptionsgeschichtliche Studien und Katalog der lateinischen Drucküberlieferung, Wiesbaden 2002; zu Leipzig S. 83–99.

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unabhängig von den Übersetzungen Steinhöwels entstanden, weist die Sammlung doch einige Parallelen zu dessen Œuevre auf.8 Nach allem, was sich rekonstruieren lässt, waren also in den Jahren zwischen 1460 und 1470 humanistische Erzählungen in Leipzig sicherlich bekannt, neben der Historia de duobus amantibus auch die Vorlagen zu den Übersetzungen des Thomas-Chorherren. In dieser Zeit entsteht dort auch die Karoch von Lichtenberg zugeschriebene Epistola de amore.9 Sie erzählt die Geschichte vom geprügelten Ehemann, die in Boccaccios Decamerone enthalten und von der interessanterweise keine lateinische Zwischenstufe bekannt ist.10 In dieser Version spielt sie im studentischen Milieu, also in einer für die Leipziger Rezipienten Karochs bekannten Lebenswelt. Unabhängig davon, ob die im Übrigen recht breit überlieferte Epistola de amore11 von Karoch selbst stammt oder nur in den Kreisen entstanden ist, zu denen er Zugang hatte, bleibt sie ein Beispiel für die Rezeption ursprünglich volkssprachlicher Erzählungen aus Italien. Auch die in Deutschland bekannten lateinischen Versionen einzelner Novellen Boccaccios – von Griseldis und Guiscardo et Sigismunda – verhehlen nicht ihren volkssprachlichen Ursprung. Und so ist es nicht verwunderlich, wenn Vertreter des deutschen Frühhumanismus nach diesem Vorbild Stoffe aus der Tradition ihrer Volkssprache im Lateinischen neu fassen und mit ihren italienischen Kollegen auf diese Weise in Wettstreit treten. Ein solches Zeugnis ist die Briefnovelle, die als Epistola iucunda 1492 in Wien gedruckt wird.12 In ihr erzählt der Verfasser seinem Adressaten eine vorgeblich ihm jüngst zu Ohren gekommene Begebenheit. Der Kern der Geschichte ist ihr zweiter Teil: Ein Fürst will einen Abt auf die Probe stellen und gibt ihm dazu drei Fragen auf, die jener innerhalb von drei Tagen beantworten soll, zu denen ihm aber keine Antworten einfallen. Ein Koch des Klosters bietet sich an, als Abt verkleidet die Antworten zu geben, und bekommt die Zustimmung dazu. Im Ornat des Abtes erhält er dann die Fragen: Wie weit ist es von Sonnaufgang bis Sonnenuntergang?

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Gemeint ist MS 1279 der Universitätsbibliothek Leipzig. Zur Datierung vgl. C HRISTOPH M ACKERT: Wasserzeichenkunde und Handschriftenforschung. Vom wissenschaftlichen Nutzen publizierter Wasserzeichensammlungen: Beispiele aus der Universitätsbibliothek Leipzig. In: Piccard-Online: Digitale Präsentationen von Wasserzeichen und ihre Nutzung. Hrsg. von JEANNETTE GODEAU /GERALD M AIER /PETER RÜCKERT, Stuttgart 2007, S. 91–118, hier S. 93–97. 9 Epistola de amore cuiusdam studentis erga mulierem civaticam, Nr. 5 im Werkverzeichnis von WORSTBROCK : Neue Schriften und Gedichte (wie Anm. 4). 10 Giovanni Boccaccio: Decamerone VII,7. 11 WORSTBROCK : Neue Schriften und Gedichte (wie Anm. 4), listet unter Nr. 5 insgesamt 14 Handschriften auf. 12 Epistola iucunda, Nr. 44 bei WORSTBROCK : Neue Schriften und Gedichte (wie Anm. 4).

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Wie tief ist das Meer? Und wie groß ist die Entfernung zwischen Glück und Unglück? Der Koch antwortet, von Aufgang bis zum Untergang der Sonne sei es eine Tagesreise weit, das Meer sei einen Steinwurf tief, und wenn man bei schönem Wetter eine Seefahrt antrete und ein Sturm plötzlich das Schiff versenke, könne man die dritte Frage selbst beantworten. Die Antworten gefallen dem Fürsten sehr, und als der Koch sich zu erkennen gibt, setzt er ihn an die Stelle des bisherigen Abtes, dem er ohnehin nie gewogen war. Dieser zweite Teil der Geschichte ist auch bekannt als der Schwank vom Kaiser und Abt, und zwar in Form eines früher Hans Folz zugeschriebenen Fastnachtsspiels,13 überliefert in einer Sammelhandschrift, die etwa zeitgleich mit dem Druck der Epistola iucunda entstanden sein dürfte.14 Als direkte Vorlage scheidet es demnach wahrscheinlich aus. Es repräsentiert aber einen sehr stark und in den verschiedensten Varianten verbreiteten Erzähltypus, bei dem ein listiger Rätsellöser drei Fragen beantworten muss, so dass Karoch also auf eine Erzähltradition zurückgreifen konnte. WALTER ANDERSON weist von diesem Erzähltypus über 600 Varianten zwischen dem 9. und 20. Jahrhundert nach;15 in der deutschen Literatur ist er erstmals im Pfaffen Amis des Stricker belegt.16 Karochs Version entspricht der am häufigsten belegten Variante, in der ein Abt von einer adligen Person der weltlichen Obrigkeit die Fragen gestellt bekommt. Neu, und eventuell hier zum ersten Mal belegt, ist die Figur des Kochs. Auch die Kombination der Rätselfragen ist in der vorliegenden Version sonst nirgends nachweisbar.17 Gegenüber dem in ähnlicher Form gut belegten zweiten Teil der Geschichte ist der erste Teil der Epistola iucunda sonst nicht bezeugt, möglicherweise geht er auf Karoch selbst zurück.18 Im Fastnachtsspiel kommen

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Fastnachtsspiele des fünfzehnten Jahrhunderts, Theil I. Hrsg. von A DELBERT VON K ELLER , Stuttgart 1853, hier Nr. 22, S. 199–210; Vgl. JOHANNES JANOTA : Kaiser und Abt. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearbeitete Auflage hrsg. von KURT RUH /BURGHART WACHINGER , Berlin u. a. 1978ff., Bd. 4, Sp. 941–943, ferner LUTZ RÖHRICH : Erzählungen des späten Mittelalters und ihr Weiterleben in Literatur und Volksdichtung bis zur Gegenwart, Bern 1962, Bd. 1, S. 146–172 mit Parallelen und S. 281–288 mit Literatur. Sog. Sammelhandschrift des Claus Spaun aus der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, cod. 18. 12 Aug. 4o, hier Bl. 129v–137v. Terminus ante quem ihrer Entstehung ist 1494. WALTER A NDERSON : Kaiser und Abt. Die Geschichte eines Schwanks, Helsinki 1923. Der Stricker: Der Pfaffe Amis, vv. 55–180. Vgl. ENTNER : Frühhumanismus (wie Anm. 4), S. 47–48; ausführlicher zur Einordnung in die Tradition ders.: Noch eine Variante von ‚Kaiser und Abt‘. In: Fabula 8 (1966), S. 237–240. ENTNER : Frühhumanismus (wie Anm. 4), S. 47.

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die Geschehnisse dadurch in Gang, dass der Kaiser seine Fürsten fragt, wie er die verheerenden Zustände im Reich abstellen könne. Diese führen die gegenwärtige Krise auf die schlechten Ratschläge des in der Runde anwesenden Abtes zurück und empfehlen dem Kaiser, künftig nicht mehr auf ihn zu hören. Der Kaiser möchte ihn nochmals eingehend prüfen und stellt ihm die Rätselfragen: Wie viel Wasser ist im Meer? Wie viel würde der Kaiser kosten, wenn man ihn kaufen könnte? Und wer ist dem Glück am nächsten? Der Abt bittet sich Bedenkzeit aus und geht ins Kloster zurück. Die Pointe im Fastnachtsspiel liegt in der Lösung der Fragen: Im Kloster kann auch der gebildete Prior keine Antworten finden, also bittet man einen Müller, als Abt verkleidet die Antworten zu geben. Der Müller findet auf seine Weise die Lösung: Im Meer seien drei Kufen Wasser; es komme nur darauf an, wie groß diese seien. Da Jesus um 30 Silberlinge verraten worden sei, könne der Kaiser höchstens 28 kosten, und dem Glück am nächsten sei er selbst, denn er sei gestern noch Müller gewesen und heute Abt. Diese Anspielung versteht der Kaiser und setzt den Müller als Abt ein. Bei Karoch besteht der erste Teil aus einer fast eigenständigen Schwankhandlung: Der Geiz des Abtes, mit dem er das Kloster in äußerster Kargheit führt, treibt einen Mönch dazu, heimlich ins nächste Dorf zu gehen, um ein Hähnchen zu essen. Die Händlerin verlangt nach dem Essen einen Wucherpreis, und er rächt sich, indem er bei ihr 20 Hähnchen für das Kloster bestellt, die dann weder abgeholt noch bezahlt werden. Die Händlerin beschwert sich erst beim ahnungslosen Abt und dann beim Fürsten, wodurch der eben erzählte zweite Teil in Gang kommt. Karochs Version formuliert auf diese Weise pointierter als das Fastnachtsspiel eine Moral der Geschichte: Der Ausgangspunkt der Handlung sind avaritia und invidia des Abtes, durch die belastet er sein Amt nicht angemessen versieht. Legt man das von WALTER HAUG entwickelte Strukturschema mittelalterlicher Kurzerzählungen zugrunde, wird die Bearbeitungstendenz sehr deutlich. Für Haug handelt eine mittelalterliche Kurzerzählung stets von einem Verstoß gegen die Ordnung und einer Replik darauf. Diese Replik kann auch mehrfach und gestuft erfolgen.19 Im Falle des Fastnachtsspiels bestünde die Störung der Ordnung aus der offensichtlichen Dummheit des Abtes; die Replik durch die Räte des Kaisers führt zu einer List des Abtes und setzt so eine Handlungskette in 19

WALTER H AUG : Entwurf zu einer Theorie der mittelalterlichen Kurzerzählung. In: Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts. Hrsg. von dems./BURGHART WACHINGER , Tübingen 1993, S. 1–36. Dieser Entwurf wurde zuletzt aufgenommen von K LAUS GRUBMÜLLER : Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau – Märe – Novelle, Tübingen 2006.

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Gang, die wiederum in dessen Absetzung gipfelt. Karochs Fassung nähert durch eine starke Betonung der moralischen Ebene das Ganze viel stärker dem Exempel an. Ersichtlich ist dies zunächst an der Figur des Abtes: Ausgangspunkt der Handlung bzw. Störung der Ordnung sind dessen Todsünden und ihre Auswirkungen auf den Konvent. Die Repliken des Mönchs und der Händlerin beruhen ihrerseits auf deren Gier und führen zur Probe durch den Fürsten. Der Koch rettet scheinbar die Situation, wird dann aber an die Stelle des Abtes gesetzt. Für die Zusammenhänge des Transfers ins Lateinische ist vor allem die Rahmung interessant, durch welche die Erzählung zur Briefnovelle wird. KLAUS GRUBMÜLLER hat darauf hingewiesen, dass novellistisches Erzählen im Mittelalter solch einen Rahmen brauche. Die zum mündlichen Vortrag bestimmten und in Versform abgefassten Mären erhielten ihn durch die reale Situation ihrer performativen Darbietung. Das Decamerone integriere diese Rezeptionssituation durch seine fiktionale Rahmenhandlung in die Ebene des Textes.20 Und so fehlt auch den lateinischen Novellen in den seltensten Fällen ein Element, mit dem ein Erzähler und ein Adressat bestimmt werden; meistens ist dies die Form der Briefnovelle. Petrarca, der die Griseldis aus der Rahmenerzählung des Decamerone herausgelöst hatte, gibt seiner Version eine solche Form; genau so verfährt auch Aeneas Silvio Piccolomini in seiner erwähnten Historia de duobus amantibus und nicht zuletzt die ebenfalls schon angesprochene Epistola de amore Karochs selbst. Auf gleiche Weise ist die Epistola iucunda an einen dem Verfasser bekannten Adressaten gerichtet, nämlich an den Wiener Arzt Bartholomäus Stäber. Nach der Grußadresse beginnt sie wie folgt:21 Cum ab antenni hactenus seculo ad nos usque traductam sit, ut mortales plerique, vel humanitatis vicinitate, vel literalistica coamantia connexi, interiectis alterutrum vicibus, aut verbis aut litteris, conveniant, ego ex te in me experior utrumque.22 Es geht also um Kommunikation zwischen Menschen, die untereinander mündlich oder schriftlich Geschichten austauschen. Der vorliegende Text thematisiert Mündlichkeit und Schriftlichkeit zugleich, denn die besondere facecia, die der Ich-Erzähler beim Zechen gehört haben will, soll nun schriftlich mitgeteilt werden. Mit der Grußformel eröffnet Karoch 20 GRUBMÜLLER : Die Ordnung (wie Anm. 19), S. 297. 21 Das davor stehende Incipit adressiert den Brief gewissermaßen an einen größeren Leserkreis um; es kann aber auch vom Schreiber stammen und nicht vom Autor selbst, muss also nicht im ursprünglichen Konzept des Texts enthalten sein. 22 ENTNER : Frühhumanismus (wie Anm. 4), S. 146. „Nachdem es seit der Zeit von Antemna bis zu unserer überliefert ist, dass die meisten Sterblichen entweder durch die Nähe zur Bildung oder durch eine gemeinsame Liebe zur Schrift verbunden sind und zum gegenseitigen Austausch von Worten oder Schriften zusammenkommen, haben wir es gegenseitig aneinander erfahren.“

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einen Ort schriftlicher Kommunikation, dem die Situation der mündlichen Erzählung, welcher die angekündigte materia angeblich entspringt, gegenübergestellt wird. Der Verfasser spielt so mit Kategorien der üblichen Einkleidung novellistischen Erzählens im Anschluss an Boccaccio, wo die Rahmenerzählung die einzelnen Stücke jeweils in eine bestimmte Situation des mündlichen Vortrags versetzt. Dominiert bei Boccaccio diese Variante, so lässt Karoch in der Einleitung seiner Erzählung beide Möglichkeiten ineinander verschwimmen, um sie gleichwertig zu beurteilen; auf den Punkt bringt dies die Formulierung, der Freund solle beim Lesen des Briefs die Ohren spitzen.23 Auch über die handelnden Personen bindet Karoch die Geschichte an die lateinisch-gebildete Sphäre an: Zum einen durch den Adressaten, Bartholomäus Stäber. Aber auch die eigentliche Hauptperson, der listige Koch, ist ein Gelehrter: Karoch bezeichnet ihn als conversus [...] Celtica ex propagine productus, alme universitatis studii Wienensis iuris baccalarius, militari exercitio apprime comprobatus, aduc novicius;24 darüber hinaus stellt er sich dem Fürsten als Johannes ex Lapide Rubeo vor. Er ist vermutlich identisch mit einem „Johannes Rotnstainer de Gretz“, der im Sommersemester 1492 an der Wiener Universität als scholar eingeschrieben war.25 Karoch schreibt diese Geschichte also einem ihm bekannten Gelehrten auf den Leib. Damit wird aus der landläufig und auch mündlich verbreiteten Erzählung eine lateinische Novelle, die nur von Eingeweihten auf allen Ebenen verstanden wird, und die vielleicht auch zu dem Zweck verfasst wurde, in Wien für ihren Autor zu werben.26 Um den Übergang zur Absetzung des Abtes durch den Fürsten auf ähnliche Weise gestalten zu können wie im Fastnachtsspiel, musste Karoch nochmals eingreifen. Dort kann der Müller die letzte, allgemein gehaltene Frage nach der Nähe zum Glück geschickt aufnehmen und auf seine momentane Situation beziehen. Dem Koch in der Briefnovelle liegt zuletzt die Frage nach der Nähe vom Glück zum Unglück vor, so dass der Übergang anders erfolgen muss. Hier steht der Fürst voll Bewunderung

23 ENTNER : Frühhumanismus (wie Anm. 4), S. 146. Tu igitur huic rei patulas arrige aures et fatalicium, tum derisu tum corrisu dignum, percipies. „Spitze Du also für diese Sache die offenen Ohren und vernimm eine Begebenheit, die man bald verlachen, und mit der man bald wieder mitlachen muss.“ 24 ENTNER : Frühhumanismus (wie Anm. 4), S. 148. „Ein Converse […], vom Volk der Kelten, Baccalaureus der Rechte von der Universität Wien, sehr erprobt im Kriegsdienst, und bis jetzt Novize.“ 25 Vgl. ENTNER : Variante (wie Anm. 17), S. 239. 26 Das vermutet ENTNER : Frühhumanismus (wie Anm. 4), S. 38. Allerdings scheint mir die ganze Neugestaltung der Novelle nicht ausschließlich der Gönnerwerbung geschuldet zu sein, wie es dort dargestellt wird.

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über die Weisheit des Abtes auf und will sich mit ihm verbrüdern (mit den Worten Exsurge, ut congentemur!), und der vermeintliche Abt deutet Vorbehalte an (Princeps, aduc scrupuli quippiam restat).27 Auf die Nachfrage des Fürsten gibt er an, im Kloster sei der Wechsel des Schicksals sehr schnell möglich, denn gestern sei er noch Koch gewesen, heute Abt. Damit ist der Amtswechsel ebenfalls durch eine andeutungsweise erfolgte Enthüllung der Farce eingeleitet. So erhält die Epistola iucunda eine besondere Pointe: Ist es im Fastnachtsspiel ein Müller, der mit seiner Schläue den Abt in dessen Scheinbildung überlistet, übernimmt diese Rolle hier ein nicht mit Todsünden behafteter Novize, der auch durch seine Bildung als Nachfolger im Amt besser geeignet sein durfte. An der Zeichnung dieser Figur wird einmal mehr die moralisierende Tendenz dieser Fassung deutlich: Der Schluss wirkt wie eine gerechte Bestrafung der Sündhaftigkeit des Abts und zugleich wie eine Belohnung der Gewitztheit des Kochs. Darauf läuft die Geschichte in dieser Fassung letztlich auch hinaus: auf die Hervorhebung einer dem Verfasser bekannten Person und deren Eignung für herausragende Positionen. Der nächste hier zu behandelnde Text erzählt die in einem deutschen Meisterlied gleichen Titels überlieferte Geschichte des Grafen von Savoyen.28 Das Meisterlied stammt eventuell noch aus dem 14. Jahrhundert und war zu seiner Zeit recht populär, was nicht nur eine breite Überlieferung belegt, sondern auch die Tatsache, dass der Titel im 16. Jahrhundert als Tonname verwendet wurde.29 Der Inhalt lautet in Kürze: Der Graf von Savoyen verfällt, begünstigt von Glück und Wohlstand, dem Hochmut. Ein Engel stellt seine Frau, die eine Schwester des Königs von Frankreich ist, und ihn selbst vor die Wahl ewiger Verdammnis oder eines zehn Jahre andauernden irdischen Elends. Natürlich wählen sie die letztere Alternative, und so fallen fremde Truppen in das Land ein und zwingen beide dazu, mittellos zu fliehen. Kaufleute, auf deren Schiff sie mitfahren, wollen die Frau für sich haben und den Mann umbringen. Auf ihr eigenes Anraten verkauft er seine Frau an die Kaufleute und rettet so zunächst sein Leben, wird aber vom Schiff gestoßen. Die zurückgebliebene Frau nutzt geschickt die Rivalitäten unter den Kaufleuten aus und bringt den ältesten unter ihnen dazu, für einen Weiterverkauf einzutreten. Er erfolgt an den König

27 Bei ENTNER : Frühhumanismus (wie Anm. 4), S. 148. 28 Ediert in Teilen von JOHANNES ERBEN : Ostmitteldeutsche Chrestomathie. Proben der frühen Schreib- und Druckersprache des mitteldeutschen Ostens, Berlin 1961, S. 74–91. 29 Vgl. FRIEDER SCHANZE : Der Graf von Savoyen. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearbeitete Auflage hrsg. von KURT RUH /BURGHART WACHINGER , Berlin u. a. 1978ff., Bd. 3, Sp. 217–219.

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von Frankreich, also ihren Bruder, der sie in seiner Ahnungslosigkeit zur Frau nehmen will, sich aber Bedenkzeit ausbittet. Ein in der Zwischenzeit veranstaltetes Turnier gewinnt der dort auftauchende Graf, den seine Frau erkennt, um daraufhin dem König ihre Identität und die ihres Mannes zu enthüllen. Er gibt beiden ihren Besitz wieder und versetzt sie in ihren alten Stand zurück. Der Stoff trägt nicht nur Züge einer Legende, sondern entstammt auch entsprechenden Zusammenhängen. Die Verbindungen gehen bis zur Eustachiuslegende; HEINZ ENTNER sieht Parallelen mit der aus dem 13. Jahrhundert überlieferten Erzählung Die Gute Frau. Die vorliegende Fassung Karochs ist lediglich in einer Hamburger Handschrift Heidelberger Provenienz überliefert und darüber hinaus nur unvollständig erhalten.30 Man nimmt an, dass die Geschichte in Heidelberg und im Umkreis des seit 1476 regierenden Kurfürsten Phillip des Aufrichtigen geschrieben wurde, als Karoch sich Anfang der 1480er Jahre dort aufhielt. Offenbar zielt sie auf eine literarische Huldigung der Mutter des Kurfürsten, Margarete von Savoyen. Erhalten ist der Teil vom Anfang bis zur Begegnung des Paars mit den Kaufleuten, die sie auf ihr Schiff lassen werden. Doch kann man schon an diesem Torso signifikante Beobachtungen machen. ENTNER hat wichtige Veränderungen aufgezeigt, vor allem in der Gestaltung der Charaktere. Zeichne das Meisterlied die beiden noch mit den üblichen Topoi als idealisiertes Fürstenpaar, lasse die Fassung Karochs die Figur des Grafen als einen unentschlossenen, zögerlichen Charakter erscheinen, der hinter der Entschlossenheit und Tatkraft seiner Frau deutlich zurücktrete. Gleichzeitig werde die Prüfung der beiden umgedeutet: Gehe es im Meisterlied um Buße durch Bewährung im Leiden, komme es in Karochs Fassung darauf an, mit eigener virtus die Wechselfälle Fortunas zu ertragen, eine Aufgabe, der die Frau sich deutlich besser gewachsen zeige.31 Es mag dies eine humanistische Umdeutung des Stoffs sein, man muss aber angesichts der vermutlichen Adressaten am Hof des Kurfürsten auch auf die bewusste Exponierung ritterlicher Tugenden hinweisen. Der Erzähler bescheinigt der Gräfin, dass sie feminei quamquam sexus fuerit, masculino tamen ingenio pollet. Sie weist ihren Mann mit deutlichen Worten zurecht (vir ergo esto!) und bekennt zugleich ihre Unterwerfung als Ehefrau: Ego etsi femina sim et modica, tamen marita tua, que in vitam mortemque prodire, cunctasque 30 Mit vollem Titel Historia de comite quodam ex Sopheya suaque cara coniuge, überliefert in Cod. philol. 126 in 4° der UB Hamburg. Edition bei ENTNER : Frühhumanismus (wie Anm. 4), S. 142–145; Nr. 12 im Werkverzeichnis von WORSTBROCK : Neue Schriften und Gedichte (wie Anm. 4). 31 ENTNER : Frühhumanismus (wie Anm. 4), S. 50–54.

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calamitates non modo tecum, sed pro te ferre parata sum. Die Tugenden werden also durch die Gräfin repräsentiert.32 Es wird dabei sehr deutlich, dass ihr Eigenschaften zugehören, die nach damaligem Rollenverständnis dem Grafen hätten zugeordnet werden müssen; Karoch legt dennoch Wert darauf, sie zugleich als gehorsame Ehefrau zu charakterisieren. Auch hier ist die Rahmung – soweit überliefert – interessant. So heißt es am Beginn, die Erzählung sei als Exempel einer Bewährung in den Wechselfällen des Schicksals zu verstehen: Humanum genus, ut nature influxu diversificatum, sic et habitudine distinctum, ast operationum eius actio variis eventibus intersecta est. Als sei das noch zu Schildernde ein solcher eventus gewesen, fährt der Text fort: Lectitanti igitur mihi nudiusquartus vulgarem quandam, plebeia quasi lingua fabrefactam, sed longis verborum circuitionibus diffusam de comite quodam ex Sopheya suaque cara coniuge historiam, res annotatu digna mihi visa est.33 Die Geschichte beginnt also mit einer im weitesten Sinne moralisierenden Sentenz, bevor die Herkunft des Stoffs genannt wird. Auch die folgenden Bemerkungen über die Transformation beim Übertragen ins Lateinische entsprechen dem normalen Programm eines Prologs: Sed quoniam stilus ipsus agrestis crudusque erat, persuasi mihi, in comptam (quantum possem) brevemque stili formam traducere, ut mei, videlicet Samuelis de Monte Rutilo, saltem veluti modici doctrilantis in lucem vocabulum prodeat, qui hanc ex Teutonico in Latinum historiographandi nunc provinciam capesso. Res siquidem herilis atque nobilis aliquid recitandi comitatis ut habeat, expedit; res [ENTNER: rest] aut rustica suo ut coquatur iure, dignumduco. Neu autem sententiam rei, prestolantes, ambagibus remorer, quid pretendam animadverti velim.34

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Vgl. ENTNER : Frühhumanismus (wie Anm. 4), S. 54, die Zitate hier S. 144; „obwohl sie weiblichen Geschlechts war, strotzte sie dennoch vor männlicher Veranlagung [...]. Auch wenn ich eine Frau bin, eine nicht besonders starke dazu, bin ich dennoch deine Ehegattin, die bereit ist, in Leben und Tod bei dir zu sein und alle Unglücksfälle nicht nur mit dir, sondern auch für dich zu ertragen.“ 33 ENTNER : Frühhumanismus (wie Anm. 4), S. 142. „Wie das Menschengeschlecht durch den Einfluss der Natur in sich unterschiedlich ist, so ist es auch in seiner inneren Haltung verschieden. Aber die Ausführung seiner Taten wird von verschiedenen Zufällen durchkreuzt. Als ich vor vier Tagen eine allgemein bekannte Geschichte über einen Grafen aus Savoyen und seine liebe Gattin las, die in der Volkssprache künstlerisch verfertigt, aber durch große, wortreiche Weitschweifigkeit ausgedehnt war, schien die Geschichte mir doch der Aufzeichnung wert.“ 34 ENTNER : Frühhumanismus (wie Anm. 4), S. 142. „Aber da ihr Schreibstil ungeschliffen und roh war, hielt ich mich davon überzeugt, sie, so gut ich kann, in eine der Kürze verpflichtete Form des Schreibstils zu überführen, damit ein Wörtchen von mir, und zwar von Samuel von Lichtenberg, veröffentlicht werde, und die zumindest wie das eines einigermaßen gelehrten Menschen, der ich mich nun von vom Deutschen ins Latein aufmache, ins Reich der Geschichtsschreibung. Es ist förderlich, dass dieser Stoff, der ja zumal herrschaftlich und vornehm ist, beim Vortrag etwas Gefälliges hat, oder dass er, ungeschliffen wie er ist, nach seinem Recht zur Reife gebracht wird. Damit ich aber nicht

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Ausdrücklich benennt Karoch eine schriftliche Vorlage, obwohl er zugleich erwähnt, dass der Stoff allseits bekannt sei. Anlass ihrer Überarbeitung sei die defiziente, ungeschlachte Form, die den Stoff nicht angemessen präsentiere. Damit wird die historia zu einer Stilübung deklariert, die an einem bekannten Stoff das Abfassen von Novellen vorführt, für die im Lateinischen häufig der Begriff historia steht – diese Gattung umschreibt Karoch auch mit der blumigen Wendung von der provincia historiographandi, in die er zu segeln gedenkt. Im Gegensatz zur Epistola iucunda gibt sich die Historia de comite quodam ex Sopheya ganz offen als ein Schaustück humanistischer Rhetorik, auch wenn Karoch dabei seinen ganz eigenen Stil entfaltet, der in seinen Umschreibungen und Redundanzen alles andere als klassisch ist und der sich nicht erkennbar bemüht, das im eben zitierten Prolog genannte Ziel der brevitas im klassischen Sinne zu erreichen. Allerdings wäre noch näher zu fragen, inwieweit genau die klassische Latinität für Karoch von Lichtenberg der Maßstab war. Festzuhalten bleibt aber, dass der Prolog vom Standpunkt lateinischer Bildung aus die gängige Perspektive auf volkssprachliche Literatur einnimmt, von dem aus diese meist als inferior betrachtet wurde. Karoch hat dann, wie ENTNER gezeigt hat, die Geschichte auf die Darstellung der Charaktere zugespitzt und dabei an der Gräfin exemplarisch adlige virtus vorgeführt. Alles in allem ist die Historia de comite damit dazu angetan, der Familiengeschichte des Fürsten ein literarisch überhöhtes Fundament zu verleihen. Es ist bekannt, dass bereits der Onkel und Adoptivvater Philipps, Kurfürst Friedrich I. der Siegreiche, humanistische Interessen pflegte und zumindest einen Kreis von Gelehrten um sich versammelte, aus dem auch die entsprechende literarische Produktion hervorging.35 Philipp selbst galt in der Forschung lange Zeit als besonders interessiert an Literatur und Bildung. MARTINA BACKES hat gezeigt, dass dies für die Person Philipps wohl nicht uneingeschränkt gilt.36 Gleichwohl beschreibt sie ein reges künstlerisches und literarisches Leben an seinem

den Kern der Sache, ihr wartenden, durch Umschweife zurückhalte, will ich mich dem zuwenden, was ich vor mir hatte.“ 35 JAN-DIRK MÜLLER : Der siegreiche Fürst im Entwurf des Gelehrten. Zu den Anfängen eines höfischen Humanismus in Heidelberg. In: Höfischer Humanismus. Hrsg. von AUGUST BUCK, Weinheim 1989, S. 17–50. 36 M ARTINA BACKES : Das literarische Leben am kurpfälzischen Hof zu Heidelberg im 15. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Gönnerforschung des Spätmittelalters, Tübingen 1992, zur Regentschaft Philipps hier S. 136–171. Verwiesen sei ferner auf die Dokumentation der Arbeit des Münsteraner SFB 231 in: Wissen für den Hof. Der spätmittelalterliche Verschriftungsprozeß am Beispiel Heidelberg im 15. Jahrhundert. Hrsg. von JAN-DIRK MÜLLER , München 1994.

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Hof. So habe dort auch „die Pflege der eigenen Geschichte, das Sich-Vergewissern der eigenen dynastischen Herkunft“ eine Bedeutung gehabt,37 und auch für volkssprachliche Erzählstoffe des Hochmittelelters herrschte Interesse.38 Die Historia de comite quodam ex Sopheya greift also einiges auf, was am Heidelberger Hof in dieser Zeit in Mode war. Es ist gut vorstellbar, dass ihr Verfasser mit ihr dort auf sich aufmerksam machen wollte. Im Zusammenhang mit dem allgemeinen Interesse für Novellistik in Leipzig, von dem Karoch von Lichtenberg den ersten Impuls für seine Arbeit mit lateinischer Novellistik erhalten hat, entstand ein weiteres Beispiel dieser Art. Es stammt von Paulus Niavis oder Paul Schneevogel aus Eger, der, nach dem Magisterexamen im Wintersemester 1481/82 an der Universität Leipzig und einer sich anschließenden Tätigkeit an Lateinschulen in Halle und Chemnitz bis 1488, sich danach noch einige Zeit in Leipzig aufgehalten hatte, bevor er 1490 Stadtschreiber in Zittau und ab 1497 in Bautzen wurde.39 Die Historia occisorum in Kulm, um die es hier geht, ist ohne Angabe von Ort und Jahr gedruckt worden, aber wohl in Leipzig und in den Jahren um 1490 erschienen, möglicherweise also erst zu einem Zeitpunkt, an dem Niavis Leipzig bereits verlassen hatte. Die Geschichte gilt als Gründungslegende der heute noch zu besichtigenden Wallfahrtskirche Maria Kulm im Egerland, von der die Version des Paulus Niavis die früheste schriftlich überlieferte Fassung darstellt, der einige weitere bis hin zu Bühnenstücken des 19. Jahrhunderts folgen.40 Sie handelt von einer Bande von Räubern und Mördern, die jeden ausraubt und umbringt, der den Wald auf dem Kulmberg durchquert. Da sie sich und die Leichname ihrer Opfer in alten Bergwerken versteckt, scheint sie unauffindbar. Irgendwann verlegen die Verbrecher sich darauf, als Adlige verkleidet junge Frauen aus angesehenen und begüterten Familien mit Eheversprechen zur gemeinsamen Flucht zu überreden, auf der sie ihre Opfer dann ebenfalls ausrauben und umbringen. Durch einen Zufall kann die Dienerin eines Ritters aus der Umgebung einen dieser Morde beobachten und am Hof melden. Der Ritter sorgt dann mit Bedacht dafür, dass die ganze Bande festgenommen und ihrer Strafe zugeführt werden kann.

37 BACKES : Das literarische Leben (wie Anm. 36), S. 155. 38 BACKES : Das literarische Leben (wie Anm. 36), S. 162–171. 39 Über die Vita informiert am besten FRANZ JOSEF WORSTBROCK : Schneevogel (Sneevogil, Snefogel, latinisiert: Niavis), Paul. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearbeitete Auflage hrsg. von KURT RUH /BURGHART WACHINGER , Berlin u. a. 1978ff., Bd. 8, Sp. 777–785. 40 Hierzu generell M ICHAEL RUPP : Der Petrarca aus Böhmen. Paulus Niavis und die humanistische Novelle in Leipzig. In: Pirckheimer-Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 23 (2008), S. 59–104; zur Nachwirkung S. 75–77; Edition S. 80–104.

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Im Widmungsbrief an den befreundeten Kanoniker Wilhelm N. beschreibt Niavis die Geschichte als eine seit Generationen weitererzählte Begebenheit, die er nun in den Druck befördere: Itaque cum sepissime hanc seu historiam : seu fabulam a progenitoribus meis audiueram : qui se a suis percepisse dixerunt; [...] cen[Aii v]sebam haud inutile pro ingenij viribus in latinam transferrem vt id quod popularibus iocundum est nobis foret ampliorem vel legendi concitacionem : vel audiendi allaturum.41 Auch für Niavis gibt es also eine Trennung zwischen volkssprachlichem Erzählgut und dem, was pro ingenii viribus verfasst ist. Für diese Zielgruppe scheint ausschließlich eine lateinische Fassung die angemessene Form zu sein. Und in diesem Bereich gilt ein anderer Horizont, in dem Erzählungen aufgenommen und eingeordnet werden. Dementsprechend beschreibt Niavis die Latinisierung der Geschichte von den Räubern auf Maria Kulm als Nachfolge seiner Vorgänger Francesco Petrarca und Leonardo Bruni, qui fabulas amenas / de vulgari in latinum transtulerunt. Damit meint er die lateinischen Fassungen der volkssprachlichen Novellen Boccaccios, also Petrarcas Version der Griseldis und die Übersetzung von Guiscardo et Sigismunda durch Leonardo Bruni. Mit dem Anschluss an diese Autoren bindet Niavis die Historia occisorum in Kulm nicht nur an die Tradition der lateinischen Novellistik an, sondern stellt sie in eine weit über diese hinausreichende Tradition – zumindest seiner Darstellung nach. Denn er sieht Petrarca und Bruni als Nachfolger Platos und Ciceros, deren Werke einen reichen Schatz an Erzählstoffen böten – ob er damit exemplarische Erzählungen meint oder die fiktionale Einkleidung der von ihm als Beleg benannten Dialoge der antiken Philosophen (etwa den Timaios Platos oder Ciceros Orator), wird nicht ganz klar. Wichtig ist für Niavis ohnehin die rhetorische Tradition, in die er sich damit stellt, um aus der mündlich überlieferten Erzählung des Egerlands eine humanistische Novelle werden zu lassen. Tatsächlich verfolgt er dieses Ziel auch in der Ausgestaltung, indem er vor allem das Schicksal einer jungen Frau, die von ihrem Mörder zunächst mit einem Heiratsversversprechen zur Flucht überredet und dann umgebracht wird, in deutliche Nähe zur Figur der Griseldis bringt, die ihrerseits von ihrem Gatten mörderischen und erniedrigenden Prüfungen unterworfen wird. Gestaltet Petrarca aber seine Griseldis im Anklang an die

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Bl. Aiir/v, in meiner Edition (wie Anm. 40) S. 75. „Und weil ich sehr häufig diese Geschichte – sei es eine wahre Geschichte oder eine erfundene – von meinen Vorfahren gehört hatte, die sie wiederum von den ihren gehört zu haben behaupteten, [...] halte ich es nicht für nutzlos, sie für die Männer von Begabung ins Lateinische zu übertragen, damit das, was dem Volk gefällt, uns eine noch größere Bewegung des Gemüts beim Lesen oder Hören bringe.“

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biblische Figur Hiobs, stellt Niavis dagegen das namenlos bleibende Opfer als Beispiel einer imitatio Christi dar. So wird die Novelle zu einer belehrenden Geschichte von constantia und pietas, die das Mordopfer zeigt, aber auch von den Werten höfischen Adels, die einen Ritter dazu führen, die Mörderbande zu entdecken und festzusetzen.42 Ich fasse zusammen: Die Epistola iucunda und die Historia occisorum in Kulm werden in ihren schriftlichen lateinischen Versionen deutlich an den Bezugsrahmen lateinischer Erzählungen angepasst, der von den einzeln übersetzten Novellen Boccaccios und der Historia de duobus amantibus geprägt war. Das Motiv ihrer Übertragung liegt zunächst im Bestreben, den lateinischen Erzählungen aus Italien ‚eigene‘ gegenüberzustellen. Ein weiterer Aspekt kommt an der Historia de comite quodam ex Sopheya am deutlichsten zum Tragen: Sie gibt sich als Stilübung, mit der ihr Autor offenbar im humanistischen Kreis in Heidelberg bestehen wollte. Alle drei Geschichten aber weisen auch deutliche Verbindungen zum lokalen Milieu ihres Erscheinens auf. Die Epistola iucunda setzt eine reale Person aus dem Wiener Bekanntenkreis ihres Verfassers als Protagonist einer bereits anderweitig bekannten Geschichte ein und ist an einen weiteren Bekannten adressiert. Die Historia de comite quodam ex Sopheya thematisiert die dynastische Vergangenheit der Familie des Heidelberger Kurfürsten und möglichen Gönners Philipps des Aufrichtigen, und auch der Historia occisorum in Kulm sind deutlich Lokalbezüge eingeschrieben. Jede dort erwähnte Ortschaft ist nachweisbar und zum Zeitpunkt des Drucks bekannt, vor allem die Wallfahrtskirche Maria Kulm. Im Widmungsbrief verständigt sich Niavis auch mit seinem Adressaten über die beiden bekannte Gegend und die beiden bekannte Begebenheit. Der Rezeptionsvorgang läuft also in zwei Richtungen; denn durch solche Anbindungen an ihre eigene Lebenswelt holen Karoch und Niavis diese neue Form des Erzählens auf der lateinischen Ebene über die Alpen und schreiben ihr ihre neue Heimat auf der Textebene eindeutig ein. Zugleich liegt darin auch eine Gegenbewegung: Mit den lateinischen Versionen italienischer Novellen war zunächst nicht nur die neue Form präsent, sondern auch neue Erzählstoffe, die auf der lateinischen Seite einen völlig neuen Horizont eröffneten. Auf diese Weise wurde der lateinische Diskurs im deutschen Raum zu einem veränderten Bezugsrahmen, zu einem kulturell differenten Referenzsystem, verschieden vor allem von dem, aus dem die hier besprochenen volkssprachlichen Erzählstoffe stammen, die nun vor diesem Horizont gesehen werden konnten. Wenn sie also in den Bereich des Lateinischen überführt werden, kann man von einem Rezep-

42 Vgl. RUPP : Petrarca aus Böhmen (wie Anm. 40), S. 69–73.

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tionsphänomen sprechen, das mehr impliziert als die bloße Übertragung in eine andere Sprache, und zwar von einer synchronen Rezeption, die gewissermaßen zwischen zwei zu dieser Zeit nebeneinander bestehenden Diskursen stattfindet. Ebenso kann man dies als Rezeption mittelalterlicher Stoffe im Humanismus sehen, insofern die rezipierten Traditionen im Mittelalter wurzeln und in ein vom Humanismus geprägtes Umfeld überführt werden. Letztlich ist es also die lateinische Literatur im deutschen Sprachraum, die zweierlei rezipiert: Die Novellen aus Italien und volkssprachliche Erzählstoffe aus dem deutschen Sprachraum. Ergebnis des Prozesses ist die neue Form der lateinischen Novelle in Deutschland.

BIANCA HÄBERLEIN

Transformationen religiöser und profaner Motive in Wigalois, Widuwilt und Ammenmaehrchen Bei ihrer Jagd nach Daten und Fakten, die sie zur Konstruktion des gesuchten Priesterreiches brauchen konnten, stießen unsere Freunde auf einen gewissen Kyot. Er war ein junger Mann aus der Champagne, der gerade eine Reise in die Bretagne hinter sich hatte und noch ganz erfüllt war von Geschichten über ruhelos umherziehende Ritter, Zauberer, Feen und Geister, die sich die Bewohner jenes Landes abends am Feuer erzählten. Als Baudolino ihm gegenüber die Wunder des Palastes des Priesterkönigs Johannes erwähnte, rief er ganz aufgeregt: „Ja, von solch einem Schloß oder einem ganz ähnlichen habe ich auch schon in der Bretagne gehört! Es ist das Schloß, in dem sie den Gradal aufbewahren!“ „Was weißt du über den Gradal?“ fragte Boron mit einem plötzlichen Mißtrauen, als hätte Kyot die Hand nach etwas ausgestreckt, das ihm gehörte. „Was weißt denn du darüber?“ fragte Kyot ebenso mißtrauisch zurück. „He, he“, mischte sich Baudolino ein, „wie es scheint, liegt euch beiden sehr viel an diesem Gradal. Was ist das denn? Soweit ich weiß, müßte ein gradalis so etwas wie ein Napf oder eine Schüssel sein.“1

1. „Literatur und Kultur: Irgendwie – man ahnt es – hängen sie zusammen.“2 In Umberto Ecos Baudolino wird der moderne Leser mit mittelalterlichen literarischen und kulturellen Motiven konfrontiert.3 Auch – oder insbesondere – bei der Rezeption mittelalterlicher Texte wird der moderne Rezipient häufig auf Phänomene stoßen, die ihm heute fremd sind und die aus einem Kontingent von literarischen Anspielungen und kulturel1 2 3

Umberto Eco: Baudolino. Übers. von Burkhart Kroeber, 2. Aufl. München 2007, S. 168. DIETRICH H ARTH : Die literarische als kulturelle Tätigkeit: Vorschläge zur Orientierung. In: Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle. Hrsg. von H ARTMUT BÖHME /K LAUS R. SCHERPE , Reinbek 1996, S. 320–340, hier S. 320. Vgl. HORST FUHRMANN : Das Mittelalter in der Literatur. Umberto Eco und sein Roman ‚Baudolino‘, Wolnzach 2003.

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len Mustern schöpfen. Ähnlich wie dieses Verhältnis von modernen Rezipienten und mittelalterlichen Texten ist dasjenige von mittelalterlichen Erzählstoffen und deren Retextualisierungen, die in hohem Maße die den mittelalterlichen Romanen inhärenten Motive aufgreifen, verarbeiten und transformieren. Häufig werden bei dieser Rezeption von literarischen und kulturellen Motiven aktuelle kulturelle Kontexte aufgegriffen und eingeflochten. Dabei stellt sich die Frage, wie literarisches und kulturelles Wissen in die Retextualisierungen transferiert wird, was übernommen und gegebenenfalls transformiert und was nicht übernommen wird. Wie werden einzelne Motive verarbeitet und mit dem aktuellen kulturellen Kontext in Beziehung gebracht? Um den Begriff ,Transformation‘ von anderen verwandten Termini wie ,Rezeption‘ oder ,Adaptation‘ abzugrenzen, sei in aller Kürze der Begriff in seiner Bedeutung für diesen Beitrag definiert: von dem lateinischen Verb transformare ausgehend (dt. umbilden, verwandeln, verändern, umgestalten; zusammengesetzt aus lat. trans-, dt. hinüber und lat. -formare, dt. gestalten, bilden, schaffen), wird ,Transformation‘ hier als ein den jeweiligen kulturellen Kontext einbeziehendes Umgestalten des Stoffes verstanden. In Abgrenzung zu der den Erzählstoff aufnehmenden Rezeption und zu der den Stoff an den jeweiligen kulturellen Kontext anpassenden Adaptation, wird somit die Bewegung des Transformationsprozesses betont. Die Abgrenzung zur ,Adaptation‘ liegt m. E. in dem Wandel spezieller Motive und Wissenselemente in eine bestimmte Zielkultur, einem aktuellen kulturellen Kontext.4 Literarische Werke greifen „auf die in einer Kultur verfügbaren Wissenselemente, Topoi, Stereotype, Wertehierarchien und narrativen Schemata zurück und verarbeite[n] diese im Medium der Fiktion zu einem neuen Ganzen.“5 BIRGIT NEUMANN und ANSGAR NÜNNING benennen diese Verarbeitung von kulturellem Wissen – wobei literarische Traditionen ebenfalls zum kulturellen Wissen gehören – als ,Webstellen‘, an denen der

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Das Lexikon des Mittelalters gibt für den Begriff ,Transformation‘ lediglich den kulturellen Übergang von der Antike zum Mittelalter an. Vgl. F. PRINZ : Transformation. In: Lexikon des Mittelalters, München 2003, Bd. 8, Sp. 937–941. Meyers enzyklopädisches Lexikon unterscheidet zwischen mathematischen, biologischen, wissenschaftslogischen und sprachwissenschaftlichen Verwendungen des Begriffs und führt keine literaturwissenschaftliche Definition an. Meyers enzyklopädisches Lexikon. Mannheim 1978, Bd. 23, S. 645f. BIRGIT NEUMANN /A NSGAR NÜNNING : Kulturelles Wissen und Intertextualität. Grundbegriffe und Forschungsansätze zur Kontextualisierung von Literatur. In: Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur. Hrsg. von M ARION GYMNICH /BIRGIT NEUMANN /A NSGAR NÜNNING, Trier 2006, S. 3–28, hier S. 6.

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Text „zum Schnittpunkt vielfältiger, sich überschneidender und wechselseitig beeinflussender (Inter-)Texte und (Inter-)Diskurse“ wird.6 Da NEUMANN und NÜNNING eine intertextuelle Methode unter Rückgriff auf den ,New Historicism‘ für die kulturwissenschaftliche Arbeit aufgreifen, muss hier der Begriff ,Webstellen‘ modifiziert werden: Nicht die Intertextualität der Texte steht im Vordergrund, sondern das je spezifisch kulturelle und literarische Wissen des kulturellen Kontextes, das auf die Texte einwirkt und wie dieses Einwirken wiederum in Retextualisierungen des Stoffes verarbeitet wird. Kultur ist hier zu verstehen als „das Zusammenwirken materialer, sozialer und mentaler Phänomene“.7 Hierbei wird aus einem Teilaspekt – dem materialen Phänomen ,Literatur‘ –, aus der Verdichtung von kulturell geprägten Werten, Normen, Weltwissen und -anschauungen in literarischen Texten, die Kultur einer historischen Gesellschaft abstrahiert.8 Es darf jedoch nicht aus dem Blick geraten, dass es sich dabei immer um literarische Verdichtungen handelt. Demnach kristallisieren sich nicht alltagsweltliche Phänomene heraus, sondern im Rahmen der Fiktion und Narration verhandelte kulturelle Phänomene.

2. Rezeption vom Mittelalter bis zur frühen Neuzeit In Deutschland ist der durch religiöse Aufladung – nicht nur im Mittelalter, sondern noch heute – an Popularität gewinnende Wigalois Wirnts von Grafenberg bis in die frühe Neuzeit rezipiert und bearbeitet worden. So existieren mehrere Drucke der Prosabearbeitung Wigoleis vom Rade aus dem späten 15. und 16. Jahrhundert. Eine weitere Bearbeitung findet sich im aus dem späten 15. Jahrhundert stammenden Buch der Abenteuer des Ulrich Füetrer. Im Januar 2006 entdeckte CHRISTOPH FASBENDER das auf 1455 datierte Erfurter Fragment Wigelis, das von den Abenteuern des Wigalois erzählt.9 Zudem existiert ein den Wigalois-Stoff aufgreifender jiddischer Versroman Widuwilt aus dem 16. Jahrhundert,10 der wiederum

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NEUMANN /NÜNNING (wie Anm. 5), S. 7. A NSGAR NÜNNING /ROY SOMMER : Einleitung. In: Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft. Disziplinäre Ansätze – Theoretische Positionen – Transdisziplinäre Perspektiven. Hrsg. von A NSGAR NÜNNING /ROY SOMMER , Tübingen 2004, S. 9–29, hier S. 19. Vgl. NÜNNING /SOMMER (wie Anm. 7), S. 19. Vgl. die erst kürzlich erschienene und eine Transkription sowie Abbildungen des Fragments enthaltende Habilitationsschrift von CHRISTOPH FASBENDER : Der ‚Wigelis‘ Dietrichs von Hopfgarten und die erzählende Literatur des Spätmittelalters im mitteldeutschen Raum, Stuttgart 2010. Es gibt eine Tradition der jiddischen Retextualisierungen mittelalterlicher Romane, für die der Dukus Horant, dessen heldenepischer Stoff enge Berührungen mit der Kudrun

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in einem frühneuzeitlichen Prosaroman von Johann Ferdinand Roth eine Bearbeitung gefunden hat: Vom Koenige Artus und vom bildschoenen Ritter Wieduwilt. Ein Ammenmaehrchen.11 Noch um 1910 erschien ein Jugendbuch Die Abenteuer des Ritters mit dem Rade Guy von Waleis,12 1994 zudem eine moderne Nacherzählung von Gernot Wildt: Wigalois, der Ritter mit dem Rade. Ich habe drei Texte dieser langen (und noch andauernden) Rezeptionsgeschichte ausgewählt: Den Wigalois Wirnts von Grafenberg, die jiddische Bearbeitung Widuwilt und das Ammenmärchen von Johann Ferdinand Roth. Diese sind m. E. in ihrer kulturellen und literarischen Kontextualisierung sowie durch ihre zeitliche und kulturelle Distanz zueinander in besonderem Maße geeignet, um kultur- und literaturspezifisches Wissen in Retextualisierungen des Stoffes aufzuzeigen. Der Wigalois Wirnts von Grafenberg zeichnet sich unter den Artusromanen durch seine markant religiöse Thematik aus. Religiöse Elemente werden zwar schon im Parzival Wolframs von Eschenbach eingeführt, allein erst im Wigalois wird der Protagonist als wahrlich christlicher Erlöser gezeichnet und in das weltliche Genre des Artusromans eingespielt. Der Held muss zahlreiche Abenteuer bewältigen, bis er endlich vor seiner Hauptaufgabe, dem Kampf gegen den von einem Feuerwesen bewachten und mit allerhand Wunderwaffen ausgestatteten Zauberer Roaz, steht. Roaz selbst geht eine Zauberwolke voran, in der sich der Teufel verbirgt, und das Reich Korntin, in dem der Abschlusskampf stattfindet,13 wird als Jenseitsreich und ein der Hölle ähnlicher Ort dargestellt (Wig., vv. 4513– 4562). Wigalois zeichnet sich durch ein tiefes Gottvertrauen aus, das ihn immer wieder vor unheimlichen und wunderlichen Gestalten schützt und âventiuren bestehen lässt. Auf dem Höhepunkt der Abenteuerhandlung siegt der durch priesterlichen Segen geschützte christliche Held über die teuflische Macht des Heiden Roaz. Im Status des Erlösers und gerechten Herrschers erfüllt sich die Bestimmung des höfischen Ritters, die ihn von Anfang an auszeichnet.

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aufweist, ein Beispiel wäre; ferner existieren jüdischdeutsche Drucke des Fortunatus, des Kaiser Octavianus u. a. Eine Einführung in den Wigalois sowie eine Auflistung der Überlieferungsträger und Rezeptionszeugnisse bietet jetzt CHRISTOPH FASBENDER : Der ,Wigalois‘ Wirnts von Grafenberg. Eine Einführung, Berlin u. a. 2010. Deutsche Rittersagen. Die Abenteuer des Ritters mit dem Rade Guy von Waleis. Der Jugend erzählt von Eugen Weimann. Mit 8 Vollbildern nach Originalzeichnungen von H. Tiedemann, Elberfeld [ca.] 1910. Der Abschlusskampf wird hier als das Ende der âventiurehaften Episoden begriffen. Den eigentlichen Schluss bildet die Namur-Episode. Vgl. dazu zuletzt R ABEA BOCKWYT: Ein Artusritter im Krieg. Überlegungen zur Namûr-Episode im ,Wigalois‘ des Wirnt von Grafenberg aus intertextueller Perspektive. In: Neophilologus 94 (2010), S. 93–108.

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Die jiddische Retextualisierung des Wigalois-Stoffes übernimmt größtenteils die Handlung des Wigalois. Der Kampf gegen Roaz wird allerdings erheblich verändert, der heidnische Zauberer durch dessen teuflische Mutter ersetzt. Sie verletzt Widwilt mit einem Speer an der Schulter und belegt ihn mit einem Bann, genauer: einem Redeverbot. Erst wenn seine Geliebte Lorel ihn dreimal gebeten hat, doch wieder zu sprechen, darf sie den abgebrochenen Speer herausziehen. Daraufhin werde er Lorel heiraten und die Herrschaft des Landes übernehmen können. Anstelle eines Abschlusskampfes wird ein neuer Erzählstrang eingeführt: Da Widwilt verwundet wurde, verweilt er bei dem von ihm geretteten Grafen und dessen Tochter. Diese soll ihn heiraten, Widwilt aber hält sich strikt an das ihm auferlegte Verbot und bleibt stumm. Mit einer von ihrem Vater ersonnenen List entfernt sie den Speer, Widwilt jedoch schweigt noch immer. Nachdem die Hochzeit angesetzt ist, reist unter anderen Lorel auf das Fest und erfährt, dass der Bräutigam ihr totgeglaubter Widwilt ist. Es kommt zu einem Streit um den Bräutigam, der von König Artus als Richter aufgelöst wird. Widwilt kann Lorel heiraten, und der Tochter des Grafen wird ein anderer Mann zugesprochen. Die Prosabearbeitung aus dem Jahr 1786 von Johann Ferdinand Roth14 Vom Koenige Artus und dem bildschoenen Ritter Wieduwilt. Ein Ammenmaehrchen übernimmt ihrerseits die Handlung des Widuwilt.15 Wie

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Johann Ferdinand Roth (1748–1814) war Nürnberger Pfarrer, Aufklärer und Historiker. Er verfasste unter anderem Abhandlungen zur Geschichte Nürnbergs: Geschichte des Nürnbergischen Handels, Leipzig 1800–1802; Leben Albrecht Dürers, des Vaters der deutschen Künstler. Nebst alphabetischem Verzeichnisse der Orte, an denen seine Kunstwerke aufbewahret werden, Leipzig 1791; Schilderung der vier Jahreszeiten der Jugend gewidmet, Nürnberg 1785. Die Forschung hat sich bisher kaum mit Roth beschäftigt: Vgl. ACHIM JAEGER : Ein jüdischer Artusritter. Studien zum jüdisch-deutschen ‚Widuwilt‘ (‚Artushof ‘) und zum ‚Wigalois‘ des Wirnt von Gravenberc, Tübingen 2000; Art. Johann Ferdinand Roth. Pfarrer, Forscher, Lehrer 1748–1814. In: Berühmte Nürnberger aus neun Jahrhunderten. Hrsg. von CHRISTOPH VON IMHOFF, Nürnberg 1984, S. 229–230. Vorlage war die Textfassung Jüdischer Geschicht-Roman / von dem grossen König Arturo in Engelland / und dem tapffern Helden Wieduwilt. In: Johann Christof Wagenseil: Belehrung der JüdischTeutschen Red- und Schreibart, Königsberg 1699, S. 157–292. JAEGER , S. 387: „Beim Ammenmärchen handelt es sich im Grunde um eine Nacherzählung der Handlung nach der Wagenseilschen Vorlage. Es sind jedoch erhebliche Veränderungen vorgenommen worden, die besonders den politischen Gehalt und die Aktualisierung des Textes betreffen. Roths Bearbeitung führt deutlich vor Augen, wie ein Werk, das seit Jahrhunderten der jüdischen Erzähltradition zuzurechnen ist, für ein nichtjüdisches Publikum aufgegriffen und ,neu erzählt‘ wurde, während zur gleichen Zeit jüdisch-deutsche Drucke des Artushof im Umlauf waren.“ Ammenmärchen ist „eine seit der Antike meist in abfälligem Ton gebrauchte Bezeichnung für das in Kinderstuben gängige Erzählgut.“ E LFRIEDE MOSER-R ATH : Ammenmärchen. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begr. von KURT R ANKE , Berlin u. a. 1977, Bd. 1, Sp. 463f., hier Sp. 463.

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werden nun, ausgehend vom Wigalois über den Widuwilt bis hin zum Ammenmärchen, die in den Texten verarbeiteten literarischen und kulturellen Kontexte jeweils transformiert, und wie wirken diese Kontexte auf die einzelnen Texte und deren Verarbeitung von literarischem und kulturellem Wissen ein? Ich möchte dies zunächst an einem Topos festmachen, der sich in allen drei Texten finden lässt: Waer ich ein alsô wîser man daz ich wol möhte – als ich doch kan – gesprechen nâch des herzen gir! leider, nû geswîchent mir beidiu zunge und ouch der sin, daz ich der rede niht meister bin die ich ze sprechen willen hân, wan daz ichz dar ûf hân getân daz ich mînen willen hie gerne erzeicte – wesse ich wie – daz ez die wîsen dûhte guot. (Wig., vv. 33–43)16 is es gleich nit gisezt gar wol, so is es mein erst mal. (Wid., vv. 13f.)17 Ich bin ein spahnnagelneuer Schriftsteller und wage mich zum erstenmal mit diesem Buechelchen auf das gefahrvolle und klippenreiche Meer der Autorschaft. Doch sag ich das Ihnen ins Ohr – daß es ja nicht mein Herr Verleger erfaehrt, er koennte mir sonst mein Manuscript wieder heimschicken, das ich doch gar zu gerne gedruckt sehen moechte. (Amm., S. 17)18

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„Ausdrücke wie ,Ammenmärchen‘ bezeichnen freilich keineswegs nur Märchen im engeren Sinne, sie schließen – wie auch der Begriff Märchen und Märlein – alle ,unwahren Geschichten‘, vor allem auch Sagen und Schwankhaftes, ein.“ HERMANN BAUSINGER : Aufklärung. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begr. von KURT R ANKE , Berlin u. a. 1977, Bd. 1, Sp. 972–983, hier Sp. 981. Hier und im Folgenden zitiert nach: Wigalois der Ritter mit dem Rade von Wirnt von Gravenberc. Hrsg. von J. M. N. K APTEYN. Bd. 1: Text, Bonn 1926. Die Übersetzung wird hier und im Folgenden zitiert nach Wirnt von Grafenberg: Wigalois. Text der Ausgabe von J. M. N. K APTEYN. Übers. von Sabine Seelbach/Ulrich Seelbach. Berlin u. a. 2005. „Wäre ich ein derart verständiger Mann, der so wie es sein Herz begehrt, erzählen könnte (so wie ich es weiß)! Leider versagen mir nun Redegewandtheit und Kunstverstand den Dienst, so daß ich die Erzählung nicht meistern kann, die ich vortragen will. Dennoch habe ich es gewagt, um meinen guten Willen hier zu erweisen (wüßte ich nur wie), so daß es die Verständigen für gut befinden könnten.“ Hier und im Folgenden zitiert nach: Arthurian Legends or the Hebrew-German Rhymed version of the Legend of King Arthur. Hrsg. von L. L ANDAU, Leipzig 1912. Übersetzung hier und im Folgenden B. H. „Ist es zwar nicht so gut erzählt, so ist es doch mein erstes Mal.“ Hier und im Folgenden zitiert nach: Vom Koenige Artus und von dem bildschoenen Ritter Wieduwilt. Ein Ammenmaehrchen, Leipzig 1786.

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Auch wenn sich die drei Texte im Eingangstopos des unerfahrenen Dichters/Bearbeiters/Schriftstellers sehr wohl ähneln, gibt es doch bei näherem Hinsehen auch markante Nuancen. Dies wird besonders beim Ammenmärchen deutlich, indem auf ein Thema hingewiesen wird, das es in den kulturellen Kontexten des Wigalois und des Widuwilt so nicht gegeben hat. Der Erzähler gibt zu befürchten vor, sein Verleger könnte von seiner Unerfahrenheit als Schriftsteller erfahren. Diese Abhängigkeit kennt der mittelalterliche Dichter selbstverständlich nicht – man denke allerdings an die Förderung durch Mäzene, die aber zumindest in mittelhochdeutscher Epik selten so deutlich problematisiert wird. Im Widuwilt wird nichts dergleichen erwähnt. Das Ammenmärchen übernimmt mithin den Topos des unerfahrenen Dichters aus dem jiddischen Text und erweitert ihn um einen kulturell spezifischen Kontext seiner Entstehungszeit.

3. „In diesem Sinne kann jeder ,Text‘ zum ,Kontext‘ eines anderen ,Textes‘ werden.“19 Die Texte, die aus Wissenselementen, Topoi, Stereotypen, Normen und Werten einer Kultur schöpfen, wirken zurück auf andere Bereiche der Kultur, insbesondere auf andere Texte. Die literarischen Texte „stehen damit in einem offenen und dynamischen Bezug zum kulturellen Wissen ihrer Entstehungszeit“.20 Die kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft befasst sich seit längerem mit dem Zusammenhang von literarischen und kulturellen Kontexten und damit, wie diese narrativiert und transformiert werden.21 JÜRGEN LINK und ROLF PARR gehen von einem „input“

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JAN-DIRK MÜLLER : Einleitung. In: Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik. Hrsg. von dems., München 2007, S. VII–XI, hier S. VII. 20 NEUMANN /NÜNNING (wie Anm. 5), S. 6. 21 Einen Forschungsüberblick bietet URSULA PETERS : Historische Anthropologie und mittelalterliche Literatur. Schwerpunkte einer interdisziplinären Forschungsdiskussion. In: Dies.: Von der Sozialgeschichte zur Kulturwissenschaft. Aufsätze 1973–2000. Hrsg. von SUSANNE BÜRKLE /L ORENZ DEUTSCH /TIMO R EUVEKAMP-FELBER , Tübingen u. a. 2004, S. 199–224; vgl. außerdem in demselben Sammelband: URSULA PETERS : Zwischen New Historicism und Gender-Forschung. Neue Wege der älteren Germanistik, S. 225–255; URSULA P ETERS : Text und Kontext. Die Mittelalter-Philologie zwischen Gesellschaftsgeschichte und Kulturanthropologie, Wiesbaden 2000; URSULA PETERS : Die Gesellschaft der höfischen Dichtung im Spiegel der Forschungsgeschichte. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 128 (2009), S. 3–28. Außerdem hat sich JAN-DIRK MÜLLER ausführlich mit dem Thema beschäftigt: JAN-DIRK MÜLLER : Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007.

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der Kultur in die Literatur aus.22 Literarische Texte wirken jedoch ebenso auf ihren Kontext wie der Kontext sich auf literarische Texte, Formen, Gattungen usw. auswirkt. LINK geht weiter davon aus, dass „jeder output […] wieder input fernerer Produktion werden [kann].“23 Ein derart weit gefasster Interdiskursivitätsbegriff, wie ihn LINK und PARR proklamieren, dass nämlich jeder literarische Text selbst einen Interdiskurs aus Spezialdiskursen darstelle, muss, um für eine literaturwissenschaftliche Analyse fruchtbar zu sein, modifiziert werden.24 Die Interdiskursivität wäre dann eine wechselseitig sich beeinflussende Beziehung von Diskursen zwischen Text und Kontext. Kulturelle und literarische Phänomene verändern sich in ihrer narrativen Umsetzung, doch wird bei der Retextualisierung dieser Texte (und mit ihnen auch kultureller Phänomene) immer wieder aktuelles kulturelles Wissen eingeflochten, während anderes entfällt.25 So entsteht in gewisser Weise ein Zyklus: Von den Bearbeitern wird kulturelles und literarisches Wissen des vorgängigen Textes erkannt und verarbeitet. Dabei ist dieses Wissen stets schon durch die literarische Darstellung modifiziert, aktuelle Phänomene werden eingearbeitet. Kultur wird hier nicht nur aus der Distanz einer diachronen Perspektive betrachtet, sondern durch das Vermittlungsmedium Literatur, das gleichsam als Bestandteil des kulturellen Gesamtsystems aufgefasst werden kann. Kulturelle Phänomene werden im Medium Literatur reflektiert, literarische Texte sind dabei immer Teil ihres eigenen Kontextes. Bei diesem Oszillieren zwischen Kultur- und Literaturwissenschaft, zwischen Kontext und Text darf das spezifisch Literarische jedoch nicht aus dem Blick geraten. Text und Kontext werden durch ihre immer schon narrativierte Form in mittelalterlichen Texten und deren Retextualisierungen aufgenommen, die ebenfalls als Text mit ihrem Kontext verwoben sind.26

22 Vgl. JÜRGEN L INK /ROLF PARR : Semiotik und Interdiskursanalyse. In: Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. Hrsg. von K LAUS -MICHAEL BOGDAL , 3. Aufl. Göttingen 2005, S. 108–133, hier S. 125. 23 JÜRGEN L INK : Elementare Literatur und generative Diskursanalyse, München 1983, S. 22. 24 Vgl. L INK /PARR (wie Anm. 22), S. 108. 25 Vgl. hierzu das Sonderheft der Zeitschrift für deutsche Philologie 124 (2005): Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von JOACHIM BUMKE /URSULA PETERS ; hier insbesondere die Beiträge von JOACHIM BUMKE : Retextualisierungen in der mittelalterlichen Literatur, besonders in der höfischen Epik. Ein Überblick, S. 6–46; BERND BASTERT: Rewriting ‚Willehalm‘? Zum Problem der Kontextualisierungen des ‚Willehalm‘, S. 117–138; LUDGER L IEB : Die Potenz des Stoffes. Eine kleine Metaphysik des ,Wiedererzählens‘, S. 356– 379. 26 Vgl. NEUMANN /NÜNNING (wie Anm. 5), S. 17: „Als fiktionales Medium […] hat Literatur prinzipiell die Möglichkeit, die gesamte Diskursvielfalt einer oder mehrerer Epochen anklingen zu lassen und bislang kulturell getrennte, sogar widersprüchliche oder

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Speziell in Retextualisierungen von mittelalterlichen Erzählstoffen lässt sich beobachten, dass durch die Rekonfiguration des kulturellen und literarischen Wissens etwas Neues hervorgebracht wird, „das vorgängig noch nicht existent sein konnte“.27 Der literarische Text fungiert so als Schnittpunkt unterschiedlicher Texte und Kontexte; er ist nicht passiv, sondern bringt durch Selektion und Verarbeitung der vorgängigen Kontexte kulturelles Wissen neu hervor.28 Der literarische Text wird in der Retextualisierung nicht als einzelner Spezialdiskurs aufgefaßt. Vielmehr selektiert, modifiziert und aktualisiert der Bearbeiter des mittelalterlichen Textes den Stoff, um ihn für sein je spezifisches Publikum attraktiv zu machen. Es geht nicht um eine alltagsweltliche Bestimmung der kulturellen Phänomene, sondern darum, wie diese in späteren Bearbeitungen aktualisiert werden. An drei ausgewählten Motiv- und Episodenbeispielen der oben avisierten Texte sei dies nun veranschaulicht.

4. Der Drache Wigalois kämpft unter anderem gegen den Drachen Pfetan, der den Ehemann und die Ritter einer Dame entführt hat. Diese âventiure bildet insofern einen ersten Höhepunkt des Werkes, als Wigalois von dem Drachen so stark verletzt wird, dass er in eine Ohnmacht fällt und von Fischersleuten seiner Rüstung und Waffen beraubt wird. Dies erscheint bei dem in der Forschung weitestgehend als ,krisenlosen Helden‘ bezeichneten Wigalois eben doch als Andeutung einer Krise, kurz bevor das die âventiureReihe abschließende Abenteuer zu Korntin beginnt.29 Im Wigalois wird der Drache sehr detailliert beschrieben.30 Der Drache als wundersames, Leid und Not über die Menschen bringendes Wesen wird von der christ-

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antagonistische Diskurse in ein Verhältnis der wechselseitigen Perspektivierung und Einflussnahme treten zu lassen. Im Medium der Fiktion können Diskurselemente der extratextuellen Kultur auf neuartige Weise strukturiert, aber auch bestehende Diskurse durch neue, rein imaginative Elemente angereichert und umgedeutet werden.“ Es ist hier noch zu modifizieren, dass nicht nur rein imaginative Elemente hinzukommen können, sondern auch spezifisch aktuelle Diskurse der Entstehungszeit. NEUMANN /NÜNNING (wie Anm. 5), S. 17. Vgl. NEUMANN /NÜNNING (wie Anm. 5), S. 7 u. 18. Vgl. den Forschungsüberblick zum Thema bei M ARKUS WENNERHOLD : Späte mittelhochdeutsche Artusromane. ,Lanzelet‘, ,Wigalois‘, ,Daniel von dem Blühenden Tal‘, ,Diu Crône‘. Bilanz der Forschung 1960–2000, Würzburg 2005, S. 114– 121; ferner SYBILLE WÜSTEMANN : Der Ritter mit dem Rad: die ,staete‘ des ,Wigalois‘ zwischen Literatur und Zeitgeschichte, Trier 2006, S. 32. Die Beschreibung des Drachen Pfetan ist nach C LAUDE L ECOUTEUX die erste derart detaillierte Darstellung eines Drachen in der deutschen Literatur (Wig., vv. 5028–5074).

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lichen Erlöserfigur Wigalois getötet. Die Überwindung eines Drachen, der die düsteren unterweltlichen Mächte verkörpert, bedeutet die Wiederholung und Wiedervergegenwärtigung Christi, der dem Chaos ein Ende setzte und die göttliche Ordnung bestätigte.31 NORBERT KRINES vertritt in seiner Analyse der Wigalois-Bilderhandschriften die These, dass Wigalois im Bildprogramm der Donaueschinger und der Dresdener Handschrift mit dem Heiligen Georg in Verbindung gebracht werde.32 CLAUDE LECOUTEUX befasst sich mit der Beschreibung Pfetans und verweist hinsichtlich einzelner Merkmale auf verschiedene Quellen. Er geht davon aus, dass Wirnt seine Kenntnisse aus Naturgeschichten und enzyklopädischem Wissen schöpfte: Aus unserer Untersuchung ergibt sich, daß auf eine riesige Schlange verschiedene Körperteile gepfropft worden sind, vom gladius der Schnabel, von der serra der schneidende Kamm, vom Basiliscus der kamp, vom Greifen die Füße, wobei ein Einfluß der Plastik spürbar wird. In Bezug auf die Flügel knüpft der Dichter an die Vulgärtradition an oder entlehnt sie der anderen serra.33

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Vgl. CLAUDE L ECOUTEUX : Der Drache. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 108 (1979), S. 13–31, hier S. 23. Vgl. unter anderem ROLF BRÄUER : Die arthurische Dämonologie. Umdeutung eines archaischen Mythos zu einem mythischen Teilsystem ritterlich-höfischer Utopie. In: Dämonen, Monster, Fabelwesen. Hrsg. von ULRICH MÜLLER /WERNER WUNDERLICH, St. Gallen 1999, S. 77–88; SHEILA R. C ANBY: Drachen. In: Fabeltiere. Von Drachen, Einhörnern und anderen mythischen Wesen. Hrsg. von JOHN CHERRY, Stuttgart 2009, S. 19–67; PETRA GILOY-HIRTZ : Begegnung mit dem Ungeheuer. In: An den Grenzen höfischer Kultur. Anfechtungen der Lebensordnung in der deutschen Erzähldichtung des hohen Mittelalters. Hrsg. von GERT K AISER , München 1991, S. 167–209, hier S. 187–188: „Als dramatisch-symbolischer Akt, in religiösem Ritus kulthaft vollzogen wie dann in mündlich tradierten und schriftlich fi xierten Geschichten ist jene Konfiguration als universelles Muster – wenngleich in unerschöpflichen Varianten – kontinuierlich präsent. Globale Deutungen gibt es viele: sie verstehen den Drachenkampf als Zeichen für die symbolische Wiederholung des Schöpfungsaktes, die Verwandlung des Chaos, für den Sieg über die kosmischen Mächte des Bösen schlechthin und damit als psychologisch bedeutsames Muster der Herstellung und Wahrung individueller wie kollektiver Identität. Ob Akt der Erinnerung, ,Archetypus urmenschlicher Geschichtsdeutung‘, Benennung und zugleich Bannung von traumatischen Ängsten und Bedrohungen, sein Sinnpotential aktualisiert sich in je verschiedener Weise“; MONIKA UNZEITIG -HERZOG : Vom Sieg über den Drachen. Alte und neue Helden. In: Chevaliers errants, demoiselles et l’Autre. Höfische und nachhöfische Literatur im europäischen Mittelalter. Festschrift für Xenja von Ertzdorff zum 65. Geburtstag. Hrsg. von TRUDE EHLERT, Göppingen 1998, S. 41–61, hier S. 47, gibt ebenfalls eine christlich-religiöse Deutung des Drachenkampfs: „Die Aventiure-Reihe, die zur Befreiung von Korntin führt, ist deutlich christlich-religiös konnotiert, und entsprechend diesem thematischen Bezug wird der Drache als Verbündeter des Teufels dargestellt, der mit Gottes Beistand und Hilfe besiegt werden kann.“ Vgl. NORBERT K RINES : Ein Bild von einem Drachen. ,deheine crêâtiure ie gesaehe dehein man‘. In: Mythos Drache – Schwingen, Schuppen, Schwefeldämpfe. Hrsg. von Studierenden der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Priesendorf 2002, S. 108– 111, hier S. 110. L ECOUTEUX (wie Anm. 30), S. 28.

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Der Drache als ungeheuerliches Mischwesen, narrativ zusammengesetzt aus unterschiedlichsten enzyklopädischen und literarischen Traditionen, verkörpert das in der christlichen Tradition chaosbringende Böse. Die Figur des Helden steht als dessen Antagonist mehr denn je als christlicher Erlöser und Retter Korntins im Fokus der Erzählung. So erfährt die Figurenkonzeption des Wigalois durch das ihm entgegengesetzte Böse eine christlich-religiöse Erweiterung. Wigalois erlöst den Grafen und das Land von der bösen Kreatur, so dass sie ohne Angst und Schrecken leben können. Das Hässliche des Drachen ist dabei als Ausdruck der Distanz gegenüber Gott zu verstehen. Bereits in der Offenbarung des Johannes wird Satan bzw. der Teufel als Drache beschrieben: et proiectus est draco ille magnus serpens antiquus qui vocatur Diabolus et Satanas qui seducit universum orbem proiectus est in terram et angeli eius cum illo missi sunt et audivi vocem magnam in caelo dicentem nunc facta est salus et virtus et regnum Dei nostril et potestas Christi (Offenbarung 12,9f.).34

Nicht die Körperkraft, sondern der Glaube allein hilft Wigalois, den Drachen zu töten, denn vür sich tet er den gotes segen / dô er den wurm rehte ersach (Wig., v. 5019f.). Diese Handlung wird im Widuwilt intensiviert, indem Widwilt die Brut des Drachen tötet. Die Episode wird außerdem in ihrer strukturellen Anlage erheblich erweitert: Widwilt gelangt nach dem Erwachen aus der Ohnmacht auf die Burg des geretteten Grafen und soll dessen Tochter heiraten. Damit beginnt, wie schon einleitend erwähnt, ein neuer Motivkreis im Widuwilt, der im Wigalois so nicht erzählt wird. Als Widwilt gegen die teuflische Mutter des Riesen kämpft, sticht sie ihm mit einem Speer in die Schulter und bricht diesen ab. Nachdem sie Widwilt das Schweigegebot auferlegt hat, kommt er abermals zum Grafen. Dieser lässt seine Tochter den Speer herausziehen, und der Streit um den potenziellen Bräutigam beginnt. Möglicherweise wurde die Drachen-Episode in dieser Weise ausgebaut, weil bei einem dezidiert jüdischen Publikum nicht die christliche Erlöser-

34 Biblia Sacra Vulgata. Editio quinta. Hrsg. von ROBERT WEBER /ROGER GRYSON. Deutsche Bibelgesellschaft,Stuttgart 2007. Übersetzung: „Und es wurde hinausgeworfen der große Drache, die alte Schlange, die da heißt: Teufel und Satan, der die ganze Welt verführt, und er wurde auf die Erde geworfen, und seine Engel wurden mit ihm dahin geworfen. Und ich hörte eine große Stimme, die sprach im Himmel: Nun ist das Heil und die Kraft und das Reich unseres Gottes geworden und die Macht seines Christus.“ Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Mit Apokryphen. Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984. Hrsg. von der Evangelischen Kirche in Deutschland, Stuttgart 1999.

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Figur mit dem Kontext der Offenbarung im Vordergrund stehen konnte, sondern der Drachenkampf als eine eigene Höhepunkt-âventiure aufgefasst wurde. So wurde der Wigalois in seiner strukturellen Anlage hin zu einer Episoden-Erzählung umgestaltet. Der Kampf gegen Roaz wird ersetzt durch den Kampf gegen die Teufelsmutter; die Tochter des Grafen wird in das Schlussabenteuer eingebunden.35 Der Heilsbringer und Drachentöter erscheint in der Struktur des Romans – nicht in der Episode selbst, denn Widwilt befreit die Menschen nicht nur von dem Drachen, sondern tötet auch noch dessen Brut – entmystifiziert zum potenziellen Bräutigam für die Tochter des Grafen. Beide Episoden sind miteinander verbunden. Damit rückt die christliche Erlöser-Figur in den Hintergrund, zumal der Drache nicht mehr mit einem tödlichen Atem ausgestattet ist und deswegen auch magische Hilfsmittel wie beispielsweise das Zauberbrot fehlen. Das religiöse Motiv der Überwindung einer unterweltlichen Macht wird zu einem Hochzeitsstreit ‚säkularisiert’, der mit dem abgebrochenen Speer und dem Tabu der Teufelin märchenhafte Züge annimmt. Das Ammenmärchen wiederum weitet seine Vorlage geringfügig aus, auch wenn hier keine ähnlich detaillierte Beschreibung des Drachen wie im Wigalois gegeben wird. Gerade für ein Werk, das sich selbst als ,Ammenmärchen‘ ausweist, wäre eine ausführliche, märchenhafte Beschreibung des Drachen gattungskonform. HERMANN BAUSINGER konstatiert, dass es in der Gattung ,Ammenmärchen‘ eine „Neigung zur Kumulation von Motiven und eine weitgehende Beliebigkeit in deren Verknüpfung“ gebe.36 „Tatsächlich scheint nicht nur das Märchen, sondern ein großer Teil des volkstümlichen Erzählgutes dank der darin zum Ausdruck kommenden Fabulierlust und den irrationalen Zügen in krassem Widerspruch zu den Prinzipien der Ammenmärchen zu stehen.“37 Johann Ferdinand Roth kleidet, wie im Weiteren zu zeigen ist, den jiddischen Text zwar in ein märchenhaftes Korsett, lässt den Erzähler aber stets didaktisch kommentieren und thematisiert kontinuierlich aktuelle politische und gesellschaftliche Themen, so wie sich im Wigalois der Erzähler ebenfalls immer wieder didaktisch zu Wort meldet.38 Märchenhafte Elemente wie der Drache werden ausgeweitet, um die ,Alibi-Gattung Ammenmärchen‘ aufrecht zu erhalten. Der Erzähler flicht dafür auch komische Elemente in den Text ein und erzählt in märchenhaftem Stil weniger düster und ernst als

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Im Widuwilt fehlt die abschließende Namur-Episode. BAUSINGER (wie Anm. 15), Sp. 978. BAUSINGER (wie Anm. 15), Sp. 973. BAUSINGER (wie Anm. 15), Sp. 977: „Immer wieder greift der Erzähler ein mit Begründungen, Erläuterungen, Anspielungen. Insbesondere relativiert er das Wunderbare, betont dessen irrealen Charakter.“

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noch im Wigalois. Er transformiert die Drachen-Episode des Widuwilt in einem dem Ammenmärchen angemessenen Rahmen: „Was den Herrn Riesen und den Lindwurm anbetrifft – da wollt ich mir schon helfen; aber – die Weiber – die Weiber – – die machen mir warm den Kopf“ (Amm., S. 170). Oder: „Sobald der Lindwurm eine huebsche Portion Feuer hatte ausgespieen, sobald griff er wieder nach dem Koenig und wieß ihm seinen Rachen zum Aufenthalt an.“ (Amm., S. 180) Der Artusstoff wird verniedlicht und komisch reflektiert, wobei schon der Erzählstil ein junges Publikum insinuiert, das zu später Stunde das Märchen von König Artus und Wieduwilt hört. Am Ende eines Kapitels wird zudem häufig eine ,GuteNacht-Stimmung‘ erzeugt, wie z. B. im ersten Abendstündchen: „Eine gute Nacht wuenscht der Erzaehler dem gaehnenden Leser und der nickenden Leserin“ (Amm., S. 39); oder dort, wo der Erzähler den Schlaf adressiert und an das Kapitel anschließt: „Besuche, o sueßer Schlaf, fleißig die bekuemmerte, traurende Menschheit! […] besuche auch mich in meiner niedrigen Huette, an der Seite des schlummernden Weibchens!“ (Amm., S. 74). 5. Das wilde Weib und die Teufelin Eine weitere ,Webstelle‘, an der kulturelle und literarische Kontexte in den Texten sichtbar werden, ist die Gestalt des riesenhaften Waldweibs Ruel im Wigalois. Im Widuwilt wandelt sich das Waldweib zur Teufelsmutter, die den Helden mit ihren 400 im Wald herumlaufenden und mit Feuer ausgestatteten Töchtern angreift. Wie aber wird die Figur im Widuwilt und im Ammenmärchen konkret rezipiert, und was wird durch das Aufgreifen des literarischen und kulturellen Kontextes über das retextualisierte Motiv deutlich? ûz dem hole sach er ein wîp gegen im loufen dar, diu was in einer varwe gar swarz, rûch als ein ber. vil grôziu schoene was der und guot gebaerde tiure, wan si was ungehiure: […] daz houbet grôz, ir nase vlach. daz wîp ûz grôzer riuhe sach als zwô kerzen brünnen dâ. ir brâ lanc unde grâ, grôze zene, wîten munt; zwei ôren hêt si als ein hunt, diu hiengen nider spanne breit.

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[…] Daz wîp dûht in unsüeze: starkiu bein, krumbe vüeze hêt si, sus was si gestalt. ein kurziu naht diu machet in alt swer bî ir solde sîn gelegen; sô süezer minne kunde si pflegen. (Wig., vv. 6285–6352)39

Die Komik in der Figurenzeichnung ist bei Wirnt deutlich. Der Erzähler vergleicht Ruel mit der Schönheit anderer Frauen wie Enite und Jeschute. Der Horror des Grotesken wird durch den Vergleich mit der höfischen Dame verharmlost und damit gebrochen. Die Vorstellung gar einer Liebesnacht mit der starken Ruel […] verwandelt das gefährliche Scheusal in eine komische Figur, die dann – man denke an ihre überstürzte Flucht – der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Ein solcher Umschlag des Häßlichen ins Groteske und dann ins Komische kennzeichnet nicht generell die historische Entwicklung, ist aber ein Beleg dafür, wie das konventionelle literarische Muster gebrochen werden kann.40

Im theologischen Diskurs des Mittelalters können unterschiedliche Konzepte von Hässlichkeit ausgemacht werden: Die augustinische Tradition rechtfertigt so das Hässliche auf Grundlage der paulinischen Lehre durch den Sündenfall, wodurch Hässlichkeit ihren latenten Ursprung jenseits des Christlichen habe. Andererseits bietet aber die deformitas Christi nach Auslegung etwa des Hieronymus oder Gregors des Großen die Möglichkeit, etwas könne in hässlicher Gestalt auftreten, aber dennoch von seelischer Schönheit sein.41

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„Aus der Höhle sah er eine Frau ihm entgegenlaufen; die war ganz schwarz und behaart wie ein Bär. Blendende Schönheit und feines Benehmen waren ihr fremd, denn sie sah abscheulich aus: […] Sie hatte ein grobes Haupt und eine platte Nase. Aus behaartem Gesicht schauten der Frau zwei Augen wie brennende Kerzen. Sie hatte langgezogene graue Brauen; ihre Zähne waren riesig, der Mund breit, ihre Ohren eine Spanne breit, hingen wie die eines Hundes an den Seiten herab. […] Die Frau erschien ihm nicht liebenswürdig: mächtige Beine, unförmige Füße hatte sie, so war sie beschaffen. Eine kurze Liebesnacht mit ihr würde jeden um Jahrzehnte altern lassen, so süße Minne wußte sie zu spenden.“ 40 GILOY-HIRTZ (wie Anm. 31), S. 177. 41 JULIA ZIMMERMANN : Hässlichkeit als Konstitutionsbedingung des Fremden und Heidnischen? Zur Figur der Cundrîe in Wolframs von Eschenbach ,Parzival‘ und in Albrechts ,Jüngerem Titurel‘. In: Mitteilungen des Deutschen Germanisten-Verbandes 54 (2007), S. 202– 223, hier S. 204; vgl. zu Hässlichkeitsbeschreibungen und zur Poetik des Hässlichen vor allem WOLFGANG BRANDT: Die Beschreibung häßlicher Menschen in höfischen Romanen. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 35 (1985), S. 257–278, der den narrativen Aspekt der Toposverwendung in Beschreibungen hässlicher Menschen im höfischen Roman untersucht; RÜDIGER SCHNELL : Ekel und Emotionsforschung. Mediävistische Überlegungen zur ‚Aisthetik‘ des Hässlichen. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 79 (2005), S. 359–432; K LAUS R IDDER : Gelehrtheit und Häßlichkeit

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Die Beschreibung der Ruel erinnert an die Darstellung des Waldmenschen im Iwein Hartmanns von Aue (vv. 425–470) und an die Gralsbotin Cundrîe aus dem Parzival Wolframs von Eschenbach (VI. Buch, 312,2–314,10; X. Buch, 518,1–519,1).42 Unterschiede liegen m. E. darin, dass Ruel nicht wie der Waldmensch aus dem Nichts auftaucht, sondern eine eigene Vergangenheit erhält. Ihr Mann wurde im Zweikampf getötet. Motiviert ist der Angriff auf Wigalois durch ihre Trauer und Rache. BARBARA SEITZ konstatiert, dass in ,nachklassischen‘ Epen im Gegensatz zu den ,klassischen‘ „die szenische Eingliederung wieder aufgegeben“ werde und die Beschreibungen lediglich „Beschreibungseinlagen“ seien.43 Für Ruel kann diese Annahme wegen ihrer Vorgeschichte nicht gelten. Zudem verdeutlicht die Szene die außergewöhnliche Intertextualitätsstrategie Wirnts von Grafenberg. Nicht nur wird Ruel mit Jeschute und Enite verglichen – mit komischer Wirkung, die sich daraus speist, dass Enite und Jeschute den Inbegriff von Schönheit darstellen –, es wird zudem auf die Kussraub-Episode des Parzival (Wig., vv. 6325– 6342) und auf Wolfram von Eschenbach Bezug genommen, über den es heißt: leien munt nie baz gesprach (Wig., v. 6346; „Nie hat ein Laie besser erzählt.“). Verglichen mit Cundrîe eröffnen sich weitere Unterschiede: Cundrîe wird zwar ebenfalls mit animalischen Zügen dargestellt, sie ist jedoch mit kostbaren Kleidern

im höfischen Roman. In: Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld. Hrsg. von K LAUS R IDDER /O TTO L ANGER , Berlin 2002, S. 75–95, der sich hauptsächlich mit der Cundrîe aus dem Parzival Wolframs von Eschenbach und mit der Sibille aus dem Eneasroman Heinrichs von Veldeke befasst; M ICHAEL DALLAPIAZZA : Häßlichkeit und Individualität. Ansätze zur Überwindung der Idealität des Schönen in Wolframs von Eschenbach ,Parzival‘. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 59 (1985), S. 400–421. 42 Vgl. Hartmann von Aue: Iwein. Text der siebenten Ausgabe von G. F. Benecke, K. Lachmann und L. Wolff. Übers. von Thomas Cramer, 4. Aufl. Berlin u. a. 2001; Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übers. von Peter Knecht. Mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der Parzival-Interpretation von BERND SCHIROK , 2. Aufl. Berlin u. a. 2003. Beschreibungen hässlicher Menschen fi nden sich vielfach in der mittelhochdeutschen Literatur. So auch im Gregorius Hartmanns von Aue (vv. 3423–3465), in dem der büßende Gregorius beschrieben wird; in der Crône Heinrichs von dem Türlîn (vv. 9340–3425) wird ebenfalls ein wildez wîp in all ihrer Hässlichkeit dargestellt. Außerdem gibt es in der Crône einen übermäßig hässlichen Knecht (vv. 19625– 19786). Vgl. dazu INGRID K ASTEN : Häßliche Frauenfiguren in der Literatur des Mittelalters. In: Frauen im Mittelalter. Hrsg. von BEA LUNDT, München 1991, S. 255– 276, hier S. 274, die die Figur der Ruel übergeht und lediglich die wilde Frau aus der Crône behandelt: „Weitere Typen von häßlichen Frauen sind in der deutschen Literatur des Mittelalters nicht nachweisbar.“ 43 BARBARA SEITZ: Die Darstellung häßlicher Menschen in mittelhochdeutscher erzählender Literatur von der Wiener Genesis bis zum Ausgang des 13. Jahrhunderts, Zwickau 1967, S. 13.

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ausgestattet und gilt als überaus gelehrt. „Im Gegensatz zu Cundrie gehören die ‚wilden‘ Frauen einer unhöfischen, nicht zivilisierten Welt an.“44 Dass Wigalois sich nicht aus eigener Kraft von Ruels Fesseln befreien kann, sondern allein durch die Hilfe Gottes, nachdem er ein Stoßgebet gen Himmel gesandt hat, stellt eine Besonderheit der Episode dar. Das religiöse und literarische Motiv des riesenhaften Waldweibs wird durch die als gottergeben gezeichnete Figur des Wigalois in einen religiösen Rahmen versetzt. Im Widuwilt wird Ruel, diesen Rahmen akzentuierend, sogar zur Teufelsmutter des Riesen Lucifer transformiert: si war stark un’ gros un’ hoch, das si zu stis mench bêm gros, di do warn on mos, drum das si eilit aso ser, dr noch fand si den jungn her. do hort der jung man ein gros gibrechn in dem tan, do si di bem zu stis um‘ zu brach. do si Widwilt fand, nun hort, wi si sprach: „nun sag mir, du jungr büs wicht, wi halstu mich aso gar vor nicht un’ das du aso gar hofertig tust reitn un’ du wilst mit meinem son streitn? un’ du host mir dr zu meini meid gislagn, zwar es wert dir nümr vr tragn.“ […] wen si was aso gros un’ un gihüer on mos, das er si mit dem kopf kum kont sehn, drum dr schrak er, das er kum kont jehn. (Wid., vv. 99,10–30)45

44 DOROTHEA BÖHLAND : Integrative Funktion durch exotische Distanz. Zur Cundrie-Figur in Wolframs ,Parzival‘. In: Böse Frauen – Gute Frauen. Darstellungskonventionen in Texten und Bildern. Hrsg. von ULRIKE G AEBEL /E. K ARTSCHOKE , Trier 2001, S. 45–58, hier S. 48. Sie merkt außerdem (S. 47f.) an, dass Cundrie eher ein singuläres Phänomen sei und nichts mit den wilden Frauen gemein habe. 45 „Sie war so stark und überaus groß, dass sie manche große Bäume umstieß, von denen es dort viele gab. Indem sie sich so sehr beeilte, fand sie den jungen Herrn noch. Da hörte der junge Mann ein großes Brechen (der Bäume) in dem Wald, in dem sie die Bäume umstieß und zerbrach. Als sie Widwilt fand, nun hört, wie sie sagte: ‚Nun sag mir, du junger Bösewicht, wie kannst du es wagen, mich nicht zu beachten und so hoffärtig reiten und willst mit meinem Sohn kämpfen? Und dazu hast du mir meine Töchter geschlagen, das wird dir noch Leid tun.‘ […] Denn sie war so groß und überaus ungeheuerlich, dass er ihren Kopf kaum sehen konnte, deswegen erschrak er so sehr, dass er kaum sprechen konnte.“

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Im jiddischen Widuwilt steht die Mutter des Riesen Lucifer im Vordergrund. Das könnte am prominenten Vorbild der hebräischen Mythologie orientiert sein, wie ACHIM JAEGER annimmt: „Der Talmud erwähnt Lilith häufiger als frauengesichtiges Wesen mit Flügeln und langen Haaren“,46 das als Mutter vieler Dämonen namhaft gemacht wird.47 Nach EDITH WENZEL erscheint Lilith in der Kabbala als Partnerin des Satans und fungiert im Reich des Bösen als Königin.48 Dieses aus der jüdischen Kultur stammende Bild könnte tatsächlich in den Widuwilt aufgenommen worden sein.49 Erwähnt wird Lilith in Jes. 34,14 anlässlich der Ankündigung des Gerichts über Edom. Edom wird dabei ähnlich finster dargestellt wie das Land Korntin, in dem das Schlussabenteuer von Wigalois stattfindet: et convertentur torrentes eius in picem et humus eius in sulphur et erit terra eius in picem ardentem / nocte et die non extinguetur in sempiternum ascendet fumus eius a generatione in generationem desolabitur in saeculum saeculorum non erit transiens per eam (Jes. 34,9f.).50 Diese Annahme kann jedoch nicht als gesichert gelten, denn im Widuwilt wird Lilith nicht explizit erwähnt, und auch das Aussehen der Teufelsmutter gleicht nicht der mythologischen Figur. Andererseits kann die verstärkt teuflische Zeichnung der Figur auch daher rühren, dass der Bearbeiter des Widuwilt den verwandtschaftlichen Zusammenhang mit dem Riesen Lucifer auszuweiten und damit zugleich den literarischen Kontext des Wigalois auszublenden suchte. Die Figur wird eher ihrem textinternen verwandtschaftlichen Kontext angepasst als einem literarischen Kontext der Entstehungszeit. Im Widuwilt werden so mit einer Annäherung der Figur an ihren textinter-

46 JAEGER (wie Anm. 14), S. 286ff. 47 EDITH WENZEL : Lilith. In: Dämonen, Monster, Fabelwesen. Hrsg. von ULRICH MÜLLER /WERNER WUNDERLICH, St. Gallen 1999, S. 395–402, hier S. 395: „Lilith ist ein weiblicher Dämon, der in der jüdischen Dämonologie eine zentrale Stellung einnimmt und dessen Ursprünge auf den babylonischen bzw. sumerischen Kulturkreis zurückgehen.“ Vgl. zur mythologischen Lilith-Figur SIEGMUND HURWITZ : Lilith – Die Erste Eva. Eine historische und psychologische Studie über dunkle Aspekte des Weiblichen. Mit einem Vorwort von Marie-Louise von Franz, Einsiedeln 2004, der im ersten Teil einen guten Überblick über die literarische und mythologische Tradition der Lilith gibt. 48 Vgl. WENZEL (wie Anm. 47), S. 397. 49 Vgl. zur Lilith in der Bibel WENZEL (wie Anm. 47), S. 395: „In der Bibel wird Lilith nur einmal und zwar in der Vision des Propheten Jesaja erwähnt (Jes. 34,14). Sie taucht dort als Wüstengespenst auf, das sich am Tage der Rache zusammen mit Hyänen, Wüstenhunden und Bocksgeistern in dem verwüsteten Land niederlassen wird. Über ihr Wesen und Aussehen wird nichts Näheres berichtet.“ 50 Biblia Sacra Vulgata (wie Anm. 34). Übersetzung: „Da werden Edoms Bäche zu Pech werden und seine Erde zu Schwefel; ja, sein Land wird zu brennendem Pech werden, das weder Tag noch Nacht verlöschen wird, sondern immer wird Rauch von ihm aufgehen. Und es wird verwüstet sein von Geschlecht zu Geschlecht, dass niemand hindurchgehen wird auf ewige Zeiten.“ Die Bibel (wie Anm. 34).

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nen Kontext neue Perspektiven für ein jüdisches Publikum eröffnet. Der Konflikt zwischen Roaz und Wigalois wird von dem zwischen der Mutter des Riesen und Widwilt abgelöst. So hat sich die Komik, die bereits in der Darstellung des Waldweibs Ruel im Wigalois zum Vorschein kommt – etwa durch die Andeutung einer Liebesnacht mit Ruel –, in eine Begegnung mit der Teufelsmutter verwandelt, die entfernt an die mythologische Figur Lilith erinnert.51 Das Motiv wird ausgeweitet und in das eigentliche Schlussabenteuer transferiert, wobei Widwilt – zunächst in einem Baum gefangen – sich selbst befreien kann. Das Waldweib Ruel wird aus der Darstellung herausgenommen. Die Intertextualitätsverweise zum Erec Hartmanns von Aue und zum Parzival geraten völlig außer Acht. Die Teufelsmutter benötigt keine Vergleichsfolie. Ihr teuflischer Hintergrund rührt aus ihrem verwandtschaftlichen Verhältnis zu Lucifer und aus dem Beschützerinstinkt für ihre Kinder, insbesondere für ihren Sohn. Die Ansprache der Teufelsmutter an Widwilt trägt mit einer derben Ausdrucksweise komische Züge, die im Ammenmärchen wiederum übernommen und zugespitzt werden: Als sie im Walde erblickte den Ritter, da lief sie durch Dick und durch Duenn und riß im eilen manche starke Baeume mit der Wurzel aus, als waeren es – Gestraeuche. Das Knacken der zerbrochenen Baeume, das Geprassel der fallenden Baeume drang maechtig, drang fuerchterlich zu den Ohren des Ritters, welcher bisher zu Fuße im Walde aus Langeweile herumspazierte. Er hoerte, stutzte und – stand. Vor ihm stand da die leibhaftige Mutter des Erzriesen und sprach die vernehmlichen Worte mit schrecklicher Stimme eines erboßten und zankenden Weibes: „Hund von einem Kerl, wie unterstehst du dich zu betreten mein Gebiet, um mit meinem Sohne zu kaempfen? Ueberdieses hast du mir auch viele von meinen Toechtern erschlagen – […]. Sie war so groß, daß er ihren Kopf mit den Augen nicht konnte erreichen. (Amm., S. 212–213)

Im Ammenmärchen wird die Riesenmutter teilweise komisch gezeichnet, indem ihr Ausdrücke wie „Hund von einem Kerl“ in den Mund gelegt werden. Ebenfalls in einem eher groben, unhöfischen Ton spricht die Rie-

51

Zur komischen Darstellung Ruels in Verbindung mit der Liebesnacht-Anspielung des Erzählers: SCHNELL (wie Anm. 41), S. 423f.: „Was ist die emotionale Wirkung dieser literarischen Projektion von intimer Nähe mit einer ekelhaften Person? Denkbar ist, daß eine solche Vorstellung starke Ekelgefühle hervorruft, die aber – im Bewußtsein der eigenen Nicht-Betroffenheit – genossen werden können. Möglicherweise zielt aber die literarische Zusammenstellung von Unvereinbarem oder Undenkbarem (Liebesnacht mit häßlicher Person) auf Komik und ein befreiendes Lachen auf Seiten der Rezipienten angesichts der beängstigenden und ekelerregenden Häßlichkeit einer Protagonistin. Die Komik würde dann die nötige Distanz zum narrativen Geschehen herstellen und so den Eindruck des Ekelhaften mildern.“

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senmutter zu Widwilt. Das Motiv wird burlesk zugespitzt, weil es Johann Ferdinand Roth nicht mehr um die christlich-religiös konnotierte Teufelsmutter Lucifers ging, sondern um die komische Zeichnung der Figur im Zeichen der ,Alibi-Gattung Ammenmärchen‘. Außerdem wird das Komikpotenzial der dämonischen Töchter aufgenommen und auf die Spitze getrieben, um dezidiert gesellschaftskritische Themen aufzunehmen: Sie waren alle von ungeheurer Groeße, schwarz wie die Mohren, aber haeßlichern Anblicks als diese. Ihre saubere Mutter war – die Mutter des Riesen, von welchem die Rede ist. Der Apfel faellt nicht weit vom Stamme – wie die Mutter, so die Toechter, pflegt manches alte Muetterchen von den schoenen Toechtern der schoenen Nachbarin zu sagen, welche mehrere Liebhaber zaehlt, als sie weiland gehabt zu haben zaehlen kann. – Und dies alte und wahre Sprichwort traf auch bey oben geruehmten vierhundert Toechterchen ein. Aber es laeßt sich nicht sagen, es laeßt sich nicht schreiben, wie viel sie dem Ritter zu schaffen gemacht. Mancher geplagte Ehemann wird hier vielleicht ausrufen: „Ja, fang einer nur mit den Weibern an! Da kommt er nicht unzerzauset und unzerkrazt davon!“ wenn anders der Eheteufel vom Weibchen nicht zugegen ist. Sollte sie aber im Stueblein seyn – so behalte jeder Ehemann, der taeglich seine liebe Noth hat mit seiner andern Haelfte, diesen Ausruf rein saeuberlich in Petto, wie – Se. Heiligkeit der Pabst die Kardinaele. (Amm., S. 208–209)

Das Motiv der 400 Töchter wird für einen Exkurs über Ehefrauen genutzt. Der Erzähler leitet dabei von den märchenhaften Themen zu einer aktuellen Gesellschafts- und Kirchenkritik über. Für die Anspielung auf den Papst ist zu bedenken, dass Johann Ferdinand Roth protestantischer Pfarrer war. Ein drittes Beispiel, der medizinische Kontext, soll verdeutlichen, dass die Texte auch profane Motive für ein je unterschiedliches Publikum transformieren und auf diese Weise kulturelle Kontexte ihrer Entstehungszeit einflechten.

6. „Der Koenig sandte nach den besten Aerzten im Lande“ Dezidiert medizinische Motive finden sich im Wigalois nur in Ansätzen. Nachdem der Held den Drachen getötet hat und von diesem in einem letzten Schlag an den See geschleudert wurde, findet ihn eine Fischerfamilie und beraubt ihn seiner Waffen und Rüstung. Den geretteten Grafen findet und pflegt dessen Frau.52

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Wig., vv. 5241–5245. Vgl. zur Medizin und Heilkunde im Mittelalter TORSTEN H AFERDie Darstellung von Verletzungen und Krankheiten und ihrer Therapie in mittelalterlicher deutscher Literatur unter gattungsspezifischen Aspekten, Heidelberg 1991; ORTRUN R IHA : Medizin und Magie im Mittelalter. In: Heilkunde im Mittelalter. Hrsg. von ders., LACH :

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Widuwilt weitet das hier nur implizite medizinische Motiv aus. Dem Helden soll der abgebrochene Speer aus der Schulter entfernt werden: der künig schikt bald nach ropheanim zwar di ropheanim di kamen al in dahr un’ si soltn im heiln seini wundn. (Wid., vv. 95,35–37)53

Die Ropheanim sind hebräische Ärzte.54 Das medizinische Element, das sich im Wigalois noch durch eine heilkundige Frau und deren Salben kundgibt, wird entsprechend dem kulturellen Kontext eines jüdischen Publikums transformiert. Die Ärzte jedoch können Widwilt nicht helfen. Nur Lorel kann sein Schweigen brechen. Der Kontext wird aufgenommen und in einen Zusammenhang mit der Handlung gebracht. Ähnlich gelingt es dem Ammenmärchen, den kulturellen Kontext seiner Entstehungszeit im medizinischen Motiv zu aktualisieren: Der König sandte nach den besten Aerzten im Lande; von allen Orten und Enden her mußten sie kommen an seinen Hof. Diese verordneten die kraeftigsten und kostbarsten Arzneyen, den jungen Ritter wieder zu staerken und zu erquicken. Alle Apotheker bekamen zu thun – der Recepte, in hieroglyphischer Sprache geschrieben, gab es die Huell’ und gab es die Fuell’. Da wurde gedistillirt im finstern und rauchigen Laboratorium; da wurde gestampft und gestoßen manch’ Puelverchen im messingenen Moerser, daß im Hause die sorgsame Apothekerin kaum ihre eigenen Worte hoerte, womit sie in der reinlichen Kueche die Maegde zur Ordnung und Arbeitsamkeit ermahnte, um den fleißigen Mann und die arbeitsamen Gehuelfen mit kraeftigen Speisen zu staerken. (Amm., S. 201–202) Als diese aber die gehoerige Amtsmiene annahmen, in ihr Gesicht der Ernst der Weisheit vom Hintertheil des Kopfs vortrieben, die noethigen Posituren ausspaeheten, die unbarmherzigen Instrumente zum Schneiden herbeytrugen, und nun freudig Hand ans Werk – naemlich an die Achsel des stummen Ritters – legen wollten; da – schlug mein Ritter links und rechts aus – Feigen flogen hin, Feigen flogen her – manche dreyzopfige Alongeperücke lag zerzaust auf dem Kampfplatz – mancher Kahlkopf wurde da zum erstenmale gesehen. Man wollte den Ritter am Stuhle anbinden mit Seilen und Stricken – aber der Ritter zerriß Seile und Stricke. Mit Haenden und Fueßen straeubte er sich – wen seine Fueße und Haende beruehrten, der bekam Wunden oder Beulen. Die chirurgischen Operationen applicirten die Herren Aerzte und Wundaerzte gar collegialisch an sich

Berlin 2005, S. 64–72; TOMAS TOMASEK : Kranke Körper in der mittelhochdeutschen höfischen Literatur. Eine Skizze zur Krankheitsmotivik. In: Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld. Hrsg. von K LAUS R IDDER /O TTO L ANGER , Berlin 2002, S. 97–115. 53 „Der König schickte bald nach den Ophanim (Ärzten). Diese kamen alle hinein, und sie sollten ihm seine Wunden heilen.“ 54 Vgl. JAEGER (wie Anm. 14), S. 270. Vgl. zu jüdischen Ärzten im Mittelalter: M ICHAEL TOCH : Die Juden im mittelalterlichen Reich, 2. Aufl. München 2003, bes. S. 9.

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selber – zum großen Vergnuegen der lachenden Zuschauer und selbst des Herrn Ritters, welcher der eigentliche Gegenstand derselben hatte seyn sollen. (Amm., S. 238–239)

Der Text geht hier speziell auf ein Publikum des 18. Jahrhunderts ein. Die Allongeperücke beispielsweise war zu der Entstehungszeit des Textes gar nicht mehr in Mode, womit auf die veralteten Methoden der Ärzte abgehoben wird. Im Rahmen des Ammenmärchens und unter Gebrauch der komischen Elemente kann Johann Ferdinand Roth die medizinischen Vorgehensweisen seiner Zeit karikieren.55

7. Fazit An den sogenannten ,Webstellen‘ der behandelten Texte konnte gezeigt werden, dass bestimmte Motive nicht nur das Potenzial zur Transformation aufweisen und dieses auch von den Bearbeitern genutzt wird, sondern an diesen narratologischen Schnittpunkten das je spezifisch literarische und kulturelle Wissen auf die Texte einwirkt, das wiederum eine narrative Verdichtung erfährt. Insbesondere das Ammenmärchen nimmt die märchenhaften, mythologischen, literarischen und medizinischen Elemente auf, wandelt sie allerdings insofern, als es wiederholt aktuelles Zeitgeschehen einflicht, die religiöse Thematik zurücknimmt, Wunderbares relativiert und didaktisch kommentiert (auch Wirnt lässt den Erzähler kontinuierlich didaktisch kommentieren). Es übernimmt die Komik des Widuwilt, um mit ihr Didaxe und Zeitkritik einzukleiden. Die ,Webstellen‘ der Texte, die das literarische mit dem kulturellen Wissen verbinden, treten besonders in den Transformationen auf. Weil die kulturellen und literarischen Kontexte für sein jüdisches Publikum nicht aktuell und interessant zu sein schienen oder die Rezipienten mit diesen Themen und literarischen Anspielungen nicht vertraut waren, blendet der Widuwilt zeitkritische Themen und literarische Traditionen des ,Wigalois-Kontextes‘ aus. Im Ammenmärchen werden diese Zeitbezüge wieder in das extrem Märchenhafte des Textes integriert, um rezente Themen zu reflektieren und didaktische Einschübe zu geben. Die Grundstruktur des Erzählstoffes bleibt erhalten – und öffnet sich doch einem neuen Rezipientenkreis.

55

Die Entzifferung der Hieroglyphen beispielsweise war zu der Entstehungszeit des Ammenmärchens noch nicht vollständig erfolgt. Erst im 18. Jahrhundert war europaweit überhaupt ein Fortschritt in der Entzifferung zu erkennen.

ROMANTIK

UND

HISTORISMUS

STEFAN SCHERER

Populäre Künstlichkeit Tiecks Minnelieder-Anthologie im Kontext der Popularisierungsdebatte um 1800 Ludwig Tiecks Vorrede zur Anthologie Minnelieder aus dem schwäbischen Zeitalter von 1803 gehört zu den bedeutendsten poetologischen Texten der Frühromantik, insofern hier die Theorie und Praxis frühromantischer Poesie literarhistorisch gewendet wird.1 Zwar gelangt die sogenannte ‚altdeutsche‘ Literatur nicht erst um 1800 in den Blick der akademischen Aufmerksamkeit: Gesammelt und kommentiert wird sie bereits Mitte des 18. Jahrhunderts, insbesondere von Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger mit ihrer Sammlung von Minnesingern aus dem schwaebischen Zeitpuncte von 1758/59.2 Diese Aufbereitung blieb aber mehr oder weniger wirkungslos, weil sie in erster Linie das Feld der Gelehrtenkultur bestellte. An diese Grenzen knüpft die romantische Aufmerksamkeit an. Sie will die ältere Literatur einem breiteren Publikum jenseits der Gelehr-

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K RISTINA H ASENPFLUG : „Denn es giebt doch nur Eine Poesie …“. Tiecks „Minnelieder“ – ein romantisches Literaturprogramm. In: Edition und Übersetzung. Zur wissenschaftlichen Dokumentation des interkulturellen Texttransfers. Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für Germanistische Edition, 8. bis 11. März 2000. Hrsg. von BODO P LACHTA /WINFRIED WOESLER , Tübingen 2002, S. 323–340; A NGELIKA KOLLER : Minnesang-Rezeption um 1800. Falldarstellungen zu den Romantikern und ihren Zeitgenossen und Exkurse zu ausgewählten Sachfragen, Frankfurt/M. 1992, S. 83–96; HORST L. PREISLER : Gesellige Kritik. Ludwig Tiecks kritische, essayistische und literarhistorische Schriften, Stuttgart 1992, S. 164–190. Zu einer von Tiecks „bedeutendsten Leistungen überhaupt“ wird die Anthologie erklärt von ROGER PAULIN : Ludwig Tiecks Essayistik. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 14 (1982), H. 1, S. 126–156, hier S. 143. JOHANN JAKOB BODMER /JOHANN JAKOB BREITINGER (Hrsg): Sammlung von Minnesingern aus dem schwaebischen Zeitpuncte CXL Dichter enthaltend; durch Ruedger Manessen, weiland des Rathes der Uralten Zyrich. Aus der Handschrift der Königlich Französischen Bibliotheck herausgegeben, 2 Theile, Zürich 1758–1759; einen Vergleich zwischen Bodmer und Tieck mit tabellarischen Übersichten im Anhang unternimmt VOLKER M ERTENS : Minnesangs zweiter Frühling. Von Bodmer zu Tieck. In: wort unde wîse, singen unde sagen. Festschrift für Ulrich Müller zum 65. Geburtstag. Hrsg. von INGRID BENNEWITZ , Göppingen 2007, S. 159–180.

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ten zugänglich machen. Erst mit der Romantik verbindet sich daher der Topos von der Entdeckung, wenn nicht Erfindung des Mittelalters. In diesem Rahmen spielt Ludwig Tieck eine zentrale Rolle, selbst wenn die verschiedenen Projekte, in denen er die mittelalterliche Literatur erschloss, weitaus weniger erfolgreich gewesen sind als die daran anknüpfenden Adaptionen von Arnim und Brentano. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Um 1800 war Tieck noch Vorläufer. Als universitäre Disziplin etablierte sich die Philologie erst um 1810. Zwar besetzte Tieck, obwohl an ihn Rufe der Universitäten Heidelberg und München ergingen, nie einen Lehrstuhl (weil er diesen Rufen nicht folgte). In der Vermittlung von Sprache, Nation und Geschichte gilt er aber als „Vater der deutschen Germanistik“.3 Die neuere Wissenschaftsgeschichte sieht in ihm einen „Grenzgänger zwischen Poesie und gelehrter Forschung“.4 Dabei kommt Tieck gerade im Zeichen der „vorprofessionellen Absicht der Popularisierung“ um 1800 aufgrund seiner „Doppelorientierung an poetischen wie an philologischen Belangen“, d. h. über den „Zusammenhang von Poetisierung und Philologisierung“5 die entscheidende Scharnierfunktion im Übergang von der gelehrten zur disziplinären Gemeinschaft zu.6 Trotz ihres Anspruchs, die literarische Überlieferung popularisierend zu vergegenwärtigen, betont Tieck in der berühmten Vorrede zu seiner Anthologie geradezu leitmotivisch die „Künstlichkeit“7 der ‚altdeutschen‘ Poesie. Er akzentuiert damit vor allem deren Kontrast zur gelehrten Regelpoesie. Den Minneliedern eigne dagegen eine ungeregelte „Mannigfaltigkeit“8 der Vers- und Strophenformen, wobei diese Artistik

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ROGER PAULIN : Ludwig Tieck. Eine literarische Biographie, München 1988, S. 142; vgl. dazu R ALF K LAUSNITZER : Tieck und die Formierung der neueren Philologien. In: Ludwig Tieck. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von STEFAN SCHERER /CLAUDIA STOCKINGER , Berlin u. a. 2011, S. 604–619. ULRICH HUNGER : Die altdeutsche Literatur und das Verlangen nach Wissenschaft. Schöpfungsakt und Fortschrittsglaube in der Frühgermanistik. In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hrsg. von JÜRGEN FOHRMANN /WILHELM VOßKAMP, Stuttgart u. a. 1994, S. 236–263, hier S. 256. STEFFEN M ARTUS : Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin u. a. 2007, S. 409, 395 u. 403. Vgl. RÜDIGER K ROHN : „... daß Alles Allen verständlich sey ...“. Die Altgermanistik des 19. Jahrhunderts und ihre Wege in die Öffentlichkeit. In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hrsg. von JÜRGEN FOHRMANN /WILHELM VOßKAMP, Stuttgart u. a. 1994, S. 264–333, hier S. 277. Ludwig Tieck: Vorrede. In: Minnelieder aus dem Schwäbischen Zeitalter neu bearbeitet und herausgegeben von Ludewig Tieck. Mit Kupfern [von Ph. O. Runge], Berlin 1803 (ND Hildesheim 1966), S. XI. Tieck: Vorrede (wie Anm. 7), S. XII.

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ihrer Verständlichkeit keinen Abbruch tut. Wegen ihrer Musikalität durch Reim und Assonanz kann diese Kunst vielmehr wie selbstverständlich verstanden werden – eben so, wie Musik jenseits ihres semantischen Gehalts unmittelbar eingeht. Zugleich repräsentiert die ‚altdeutsche‘ Poesie einen ursprünglichen Zustand des menschlichen Geistes, so die zeitgemäße geschichtsphilosophische Unterstellung, so dass der Leser im unmittelbaren Verstehen an diesem Ursprung teilhat – und in der Rezeption der Minnelieder damit selbst wieder naiv wird.9 Mit seiner zentralen Formel von der ‚Einen Poesie‘10 in der Vielfalt ihrer Töne akzentuiert Tieck nicht zuletzt, dass gerade die ‚altdeutsche‘ Lyrik als Verständigungsmodell für die romantische Poesie fasziniert.11 Mit anderen Worten beurteilt er die ‚altdeutsche‘ Lyrik nach Maßgabe der neuen Autonomieästhetik seit den 1780er Jahren, die er mit literarischen Werken wie dem Drama Ritter Blaubart (1796) und dessen Prosa-Komplement Die sieben Weiber des Blaubart (1797) seit Mitte der 1790er Jahre selbst durchzusetzen half.12 Diese ersten genuin romantischen Werke, zu denen unter anderem noch die Märchennovelle Der blonde Eckbert (1797) zu zählen ist, integrieren auf neuartige Weise eine ebenso neuartige Stimmungslyrik in Prosatexte und Dramen, die sich durch diese Mischung der Gattungen selbst in Richtung der von Friedrich Schlegel wenig später postulierten progressiven Universalpoesie verwandeln.13 Die Projektion autonomieästhetischer Vorgaben in die mittelalterliche Literatur bildet die zentrale Ansatzstelle dafür, dass die Minnelieder-Antho-

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Vgl. STEFAN SCHERER : Künstliche Naivität. Lyrik der Romantik. In: Der Deutschunterricht 57 (2005), H. 3, S. 44–54. Diese Sehnsucht nach Naivität, die durch das sentimentalische Differenzbewusstsein hindurchgegangen ist, hängt unter anderem auch mit dem Konzept der ‚Jugend‘ zusammen, das im 18. Jahrhundert erfunden und um 1800 philologisch gewendet wird; dazu M ARTUS : Werkpolitik (wie Anm. 5), S. 396f. Tieck: Vorrede (wie Anm. 7), S. If. Den Artikel schreibt Tieck programmatisch groß, um die höhere Einheit der Poesie in der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen zu betonen: „Denn es giebt doch nur Eine Poesie, die in sich selbst von den frühesten Zeiten bis in die fernste Zukunft, mit den Werken die wir besitzen, und mit den verlohrnen, die unsre Phantasie ergänzen möchte, so wie mit den künftigen, welche sie ahnden will, nur ein unzertrennliches Ganze ausmacht“ (S. II). Vgl. DETLEF K REMER : Romantik. Lehrbuch Germanistik, 3. Aufl. Stuttgart u. a. 2007, S. 278; hier S. 276–278 auch zur Musikalität romantischer Lyrik im Spiegel der Minnelieder-Anthologie. Zu Tiecks Begründung der romantischen Poesie als Durchsetzung der Autonomieästhetik vgl. STEFAN SCHERER : Ursprung der Romantik. Blaubart-Konstellationen bei Tieck. In: Blaubarts Wiederkehr. Hrsg. von A LFRED M ESSERLI /LUCIANO ROSSI, Alessandria [erscheint 2011]. STEFAN SCHERER : Lyrik. In: Ludwig Tieck. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von dems./ CLAUDIA STOCKINGER , Berlin u. a. 2011, S. 476–495.

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logie trotz aller von Tieck betonten ‚Künstlichkeit‘ und Alterität der Lieder nicht ausschließlich für den Gelehrten konzipiert ist. Das ist weitaus weniger paradox, als es zunächst scheint. Auf jeden Fall grenzt sich Tieck damit von den gelehrten Sammlungen des 18. Jahrhunderts seit Bodmer und Breitinger ab. Seine Bearbeitung will explizit populär sein14 – nicht im Sinne bloßer Unterhaltung, sondern auf eine Weise, die mit der Idee der progressiven Universalpoesie übereinkommt, die Friedrich Schlegel im berühmten 116. Athenäum-Fragment propagiert hatte: Bereits die Minnelieder, so insinuiert Tieck, entsprechen der romantischen Poesie, denn bereits in ihnen äußere sich die Liebe der Töne durch Reim und Assonanz, so dass der Leser die ‚Eine Poesie‘ in der Vielfalt ihrer Stimmen fühlt. Diese Ganzheit ist ein sekundärer Effekt sprachlicher Anordnungen. Tieck hatte die entsprechenden literarischen Techniken in seiner romantischen Stimmungslyrik seit Mitte der 1790er Jahre erprobt, eingebettet in seine Prosabearbeitungen der sogenannten ‚Volksbücher‘, in seinen Roman Franz Sternbalds Wanderungen (1798) oder in zahlreichen Dramen vom Prinzen Zerbino (1796–98) über das Trauerspiel Leben und Tod der heiligen Genoveva (1799) bis hin zum Universallustspiel Kaiser Octavianus (1804). Nach 1800, mit der bearbeitenden Rezeption der ‚altdeutschen‘ Literatur, werden die neuen lyrischen Möglichkeiten von Tieck dann auch literarhistorisch reflektiert. Die „mannichfaltigen verschiedenen Gestalten“ der Minnelieder15 gehen auf die spezifisch anders gelagerten metrischen Verhältnisse vor der Regelpoetik zurück; genauer gesagt darauf, dass das Prinzip der strikten Alternation, das Opitz im Buch von der deutschen Poeterey (1624) festgeschrieben hatte, noch nicht dergestalt wirksam ist, wie es seitdem an Autoren wie Weckherlin zu beobachten war (insofern sich bei diesen die Normativität der neuen Regel an der entsprechenden Umgestaltung seiner Gedichte aus der Zeit vor 1624 anzeigt). Die spezifische Flexibilität der Lyrik vor Opitz, geschuldet dem noch nicht absolut gültigen

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Vgl. Tieck: Vorrede (wie Anm. 7), S. V: „Ohngeachtet dieser Bemühungen ist das größere Publikum immer noch mit der ältern deutschen Zeit unbekannt geblieben, es sind dadurch nur immer wieder Gelehrte veranlaßt worden Untersuchungen anzustellen, und die Wirkung, welche sie beabsichtigen, ist noch auf keine Weise erreicht worden. [...] Diese Vorstellungen [von der „Barbarey des sogenannten Mittelalters“] wurden dadurch unterhalten, daß das Studium der Gedichte, welche im Druck erschienen sind, mit Mühe verbunden und das völlige Verständnis dem Ungelehrten fast unmöglich ist. Dazu kam, daß alle Umbildungen und Uebersetzungen, welche populärer und bekannter wurden, sich immer auf die moralischen Gedichte gewandt haben.“ Tieck: Vorrede (wie Anm. 7), S. I.

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Alternationsprinzip,16 ermöglicht dagegen eine weniger stringent geregelte Vielfalt der Metren und Strophenformen, in denen sich um 1800 die progressive Universalpoesie literarhistorisch gespiegelt sehen konnte. Das Versprechen auf Popularität besteht für Tieck dabei in der Möglichkeit, diese komplexen, weil variantenreichen Bauformen naiv wahrnehmen zu können. Weil die Gedichte wie Musik wirken, setzt das Verstehen dieser formal und semantisch fremdartigen Gebilde, aller Alterität zum Trotz, tatsächlich keine besonderen Kenntnisse voraus. Popularität soll also ermöglicht werden kraft einer sekundär erzeugten Verständlichkeit durch diese Fremdartigkeit hindurch, indem die Lieder ihre ‚Künstlichkeit‘ wie Musik bezaubernd überspielen. In diesem Sinn stellt Tieck sein Anthologie-Projekt in die Popularisierungsdebatte um 1800 ein, ohne damit die Kunstidee bzw. die Autonomie der romantischen Poesie preiszugeben. Er macht mittelalterliche Lyrik für den zeitgenössischen Leser verfügbar, indem er sie nach Maßgabe der romantischen Stimmungslyrik umgestaltet und auf diese Weise ihre historische Alterität abmildert. Diese Aktualisierung begründet das Versprechen, für ein breiteres Publikum attraktiv sein zu können. Zugleich verbindet sich mit dieser popularisierenden Vergegenwärtigung der kulturpolitische Anspruch, die deutsche Literatur des Mittelalters in den Kanon der europäischen Literatur einzubetten, ja sie als gleichrangig mit Dante, Petrarca, Cervantes, Calderón und Shakespeare als den großen Vorbildern romantischer Poesie auszuweisen. Für die bildende Kunst hatte Tieck die Gleichrangigkeit von Dürer und Raffael bereits in den zusammen mit Wackenroder verfassten Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1797) und in den Phantasien über die Kunst (1799) postuliert. Darüber hinaus wurde hier die Instrumentalmusik zur höchsten aller Künste aufgewertet. Deren Suggestivität will romantische Poesie in der Sprache freisetzen, indem jeder Leser ihre Töne, die sich im Reim küssen und liebend verschlingen, ganz unmittelbar versteht. Der Titelkupfer der Anthologie (nach Runge) veranschaulicht diese Idee und setzt sie damit im anderen Medium so verständlich ins Bild, wie es Tiecks Bearbeitung der Minnelieder selbst anstrebt (Abb.). Diesen grundsätzlichen Ausgangsbeobachtungen will ich nun im Folgenden in drei Schritten und einem knappen Ausblick genauer nachgehen: Erstens skizziere ich die Frage nach der Popularität um 1800. Zweitens gebe ich einen knappen Abriss über Tiecks Rezeption der ‚altdeutschen‘ Literatur. In einem dritten Abschnitt erläutere ich die Anlage der Minne-

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Vgl. E SKE BOCKELMANN : Propädeutik einer endlich gültigen Theorie von den deutschen Versen, Tübingen 1991.

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Abb. Philipp Otto Runge: Sich küssendes Paar in einem Kranz von Rosen = Titelvignette zu Tiecks Minneliedern

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lieder-Anthologie. Der Ausblick deutet schließlich die tatsächlich populären Folgen dieser Sammlungs- und Adaptionstätigkeiten in der späteren Romantik seit Brentano und Arnim an.

1. Popularität um 1800 Um 1800 taucht das Wort ‚populär‘ verstärkt in verschiedenen Kontexten auf, so etwa in Friedrich Schlegels Vorwort zu seiner neuen Zeitschrift Europa, die im selben Jahr der Minnelieder-Anthologie 1803 begründet wird. Schlegel kündigt hier die „mannichfaltigste Verschiedenheit der Gegenstände“ an, die „so populär sein [wollen] als nur irgend möglich“, um des „großen Publikums“ gewiss zu werden.17 In der Umbruchsituation um 1800 wird also die Frage nach der Popularität selbst virulent, wie gerade der Vergleich mit dem sehr viel exklusiveren Athenäum, dem VorgängerProjekt der Schlegels, zeigt. Nach Gottfried August Bürgers Vorrede zur Ausgabe seiner Gedichte (1778/89) und Schillers berühmter Replik von 1791 gegen deren Anspruch auf Volkstümlichkeit jenseits der engen Zirkel der Gelehrtenstuben18 verstärkt sich seit 1800 die Aufmerksamkeit auf eine Kunst und Literatur, die nun nicht mehr nur ein exklusives Publikum diesseits des primären Bildungsanspruchs ansteuern will. Dieser Anspruch gilt nun auch zunehmend für das wissenschaftliche Wissen. ‚Populär‘ wird seit 1800 synonym gefasst mit ‚leicht fasslich‘, ‚gemeinverständlich‘, ‚volkstümlich‘. Nach 1850 wird es zum Titelattribut für Buch- und Zeitschriftenpublikationen, wobei nun auch die Neologismen „populär-naturwissenschaftlich“ und „wissenschaftlich-populär“ auftauchen.19 Popularisierung wurde jetzt zum geradezu inflationär gebrauchten Schlagwort, denn im 19. Jahrhundert war die Idee und Praxis der entstehenden Disziplinen in den Wirkungsanspruch zwischen spezialisierter Wissenschaft und nichtprofessionellem Publikum eingespannt. In erster Linie zielt Popularisierung auf die Naturwissenschaften, die als neuer Disziplinenkomplex im 19. Jahrhundert entstanden war, aber natürlich auch

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Friedrich Schlegel an August Wilhelm Schlegel, 15.1.1803, zitiert nach ERNST BEHLER : Europa. Die Geschichte einer Zeitschrift. In: Europa. Eine Zeitschrift. Hrsg. von FRIEDRICH SCHLEGEL . Erster Band 1803. ND Darmstadt 1973, S. 1–58, hier S. 14. Vgl. im Überblick H ANS -O TTO HÜGEL : Populär. In: Handbuch Populäre Kultur. Hrsg. von H ANS -O TTO HÜGEL , Stuttgart u. a. 2003, S. 342–348, hier S. 344. Vgl. insgesamt A NDREAS DAUM : Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848–1914, München 2002, S. 33–43, hier S. 36.

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auf die Philologie, die sich um 1810 als akademische Disziplin an den Universitäten etablierte. In diesem Jahr erfolgte die Berufung Friedrich Heinrich von der Hagens auf die Stelle eines außerordentlichen Professors für Deutsche Sprache und Literatur an der neu gegründeten Berliner Universität. Bemerkenswert ist an dieser ersten germanistischen Fachprofessur, dass die zwar umstrittene, aber erfolgreiche Ausgabe des Nibelungenlieds von der Hagens in der ersten Version auf Tiecks Materialien basierte. Sie setzt auf sprachliche Umarbeitungen, um „einer adaptionswilligen Literatur den Zugang zu den ‚altdeutschen‘ Erzählungen zu erleichtern“.20 Die Leistung von der Hagens ist aber bei anderen Vertretern, insbesondere bei den Brüdern Grimm, nicht unumstritten. Wilhelm Grimm kritisiert die auf „Erneuung“ der mittelhochdeutschen Überlieferung abzielende Edition als „Modernisierung, die schlechter ist als das Original, und doch nicht modern“.21 Für Jacob Grimm ist deshalb erst Georg Friedrich Benecke „überhaupt der erste“ gewesen, „der auf unsern Universitäten eine grammatische kenntnis altdeutscher sprache weckte“.22 Selbst wenn damit auch Tiecks Umgang mit der mittelalterlichen Literatur bei den späteren Philologen umstritten war, wird seine Bedeutung für die Begründung der Germanistik als Disziplin doch gesehen – und im Grunde genommen auch anerkannt. So weckt die „hinreiszende vorrede“ der Minnelieder-Anthologie Jacob Grimms Interesse für den deutschen Minnesang,23 auch wenn er später, als er 1850 die Begründer einer historischen Schule der Rechtswissenschaften rühmt, nicht Tiecks Anthologie, sondern die auf das Jahr 1803 datierte Entdeckung der Sammlung Bodmers/Breitingers in der Bibliothek des Marburger Lehrers Friedrich Karl von Savigny zu seinem „germanistischen

20 L OTHAR BLUHM : „die Wissenschaft für deutsche und nordische Alterthümer ist bei uns im Entstehen, sie bildet sich so eben“. Jacob und Wilhelm Grimm und die frühe Deutsche Philologie. In: Zur Geschichte und Problematik der Nationalphilologien in Europa. 150 Jahre Erste Germanistenversammlung in Frankfurt am Main (1846–1996). Hrsg. von FRANK FÜRBETH /PIERRE K RÜGEL /ERNST M ETZNER u. a., Tübingen 1999, S. 67–76, hier S. 74. 21 WILHELM GRIMM : [Rezension] Der Nibelungen Lied, herausgegeben durch Friedrich Heinrich von der Hagen [1809]. In: Ders.: Kleinere Schriften. Hrsg. von GUSTAV HINRICHS, Berlin 1881, Bd. 1, S. 61–91, hier S. 73. 22 JACOB und WILHELM GRIMM : Werke. Hrsg. von LUDWIG ERICH SCHMITT, 2. Aufl. Berlin 1879 (ND hrsg. von O TFRID EHRISMANN, Hildesheim u. a. 1991), Abt. I, Bd. 1, S. 149. 23 JACOB GRIMM : Selbstbiographie. In: JACOB und WILHELM GRIMM : Werke. Hrsg. von LUDWIG ERICH SCHMITT, 2. Aufl. Berlin 1879 (ND hrsg. von O TFRID EHRISMANN, Hildesheim u. a. 1991), Abt. I, Bd. 1, S. 6.

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Urerlebnis“24 verklärt. Die Beschäftigung mit der ‚altdeutschen‘ Literatur ist damit dennoch auf Tieck zurückführbar. Neben der wissenschaftsinternen Debatte, die immer stärker zwischen Spezialisierung, Historisierung und Popularisierung differenziert, lassen sich die spezifischen Grenzen der Popularisierung um 1800 nicht zuletzt durch einen weiteren Aspekt erklären: Populär ist, was durch seine Distributionsformen geeignet ist, einen breiten, sozial und bildungsbezogen nicht spezifizierten Rezipientenkreis zu erreichen.25 Insofern entsteht letztlich erst mit neuen Massenmedien wie den Familienzeitschriften tatsächlich eine „Populäre Kultur“ in Deutschland.26 Verschiedene Faktoren spielen bei diesen Entwicklungen hinein: so unter anderem die Lesefähigkeit im Prozess der Alphabetisierung oder technologische Innovationen, die überhaupt erst Auflagen über 10.000 ermöglichten – um nur zwei Hintergründe neben vielen anderen Faktoren wie Kommunikationstechnologien, den Ausbau des Postversand- oder des Verkehrswesens durch die Eisenbahn zu nennen. Vor den Familienzeitschriften wie der Gartenlaube seit 1853 gibt es auf jeden Fall keine Formate, die ihrer Verbreitung im Blick auf Massenbedeutung und Langlebigkeit gleichkommen. Zugleich wird damit erst jetzt die Unterhaltung in den Mittelpunkt eines Programmangebots gestellt. Erst jetzt richtet sich das ganze Medium vollends darauf aus – auch durch neue Formen der Wissenspopularisierung, zu denen insbesondere Illustrationen gehören, auf die ja auch bereits Tieck zur Veranschaulichung seiner poetologischen Auffassungen setzte. Die Frage nach der Popularität selbst stellt sich indes, wie angedeutet, bereits in der Gründungsphase der Autonomieästhetik, genauer ab den 1780er Jahren. Seit Bürgers Vorrede zur Ausgabe seiner Gedichte und Schillers Rezension in der berühmten ‚Bürger-Kritik‘ gibt es eine Debatte um eine Kunst bzw. Literatur, die nun ein nicht exklusives Publikum jenseits des primären Bildungsanspruchs ansteuern will. Mit der Autonomie des Literatursystems ergeben sich nämlich neue Offerten auf dem literarischen Markt, die neu auszutarieren sind: Kulturelle Aktivitäten müssen jetzt ein Profil zwischen exklusiver Abschließung im Zeichen des Schönen, Wahren, Guten und bestimmten Adressatenkalkülen entwickeln, 24 JACOB GRIMM : Das Wort des Besitzes. In: JACOB und WILHELM GRIMM : Werke. Hrsg. von LUDWIG ERICH SCHMITT, 2. Aufl. Berlin 1879 (ND hrsg. von OTFRID EHRISMANN, Hildesheim u. a. 1991), Abt. I, Bd. 1, S. 115f. 25 CHRISTINE H AUG : Populäre Lesestoffe. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. von GEORG BRAUNGART/H ARALD FRICKE /K LAUS GRUBMÜLLER u. a., Berlin u. a. 2003, Bd. 3, S. 124–127. 26 H ANS -O TTO HÜGEL : Lob des Mainstreams. Zu Begriff und Geschichte von Unterhaltung und Populärer Kultur, Köln 2007, S. 58.

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also zwischen der elitären Kommunikation über Kunst und Philosophie und dem Offenhalten von Anschlüssen für neue Leser in den Positionierungskämpfen, die im Rahmen der Gruppenbildungsprozesse von Klassik und Romantik um 1800 ausgetragen werden. Vor diesem Hintergrund positionierte sich ja bereits Schiller gegen Bürger, indem er die autonome Kunst gegen ihre breitenwirksame Aufbereitung für das ‚Volk‘ verteidigte, obwohl er in seiner Mannheimer Zeit mit dem Bürgerlichen Trauerspiel Kabale und Liebe (1784) selbst noch populäre Effektivität vor dem Hintergrund seiner Auffassung von der Bühne als einer moralischen Anstalt anstrebte.27 Die Debatte zwischen populärer Unterhaltung und exklusiver Kunst schlägt sich um 1800 gerade im Zeitschriftwesen nieder, zumal periodische Printmedien stets eine vermittelnde Position einnehmen müssen: Literatur- und Kulturzeitschriften sind auf Leserbindung angewiesen, um überhaupt existieren zu können.28 Goethes Einleitung in die Propyläen (1798) entwirft die Zeitschrift daher als medialen „Raum zwischen dem Inneren und Äußeren, zwischen dem Heiligen und dem Gemeinen“.29 Das Athenäum der Brüder Schlegel empfiehlt den Wechsel von „Abhandlungen mit Briefen, Gesprächen, rhapsodischen Betrachtungen und aphoristischen Bruchstücken“ dagegen noch der „Prüfung der Kenner“, wiewohl die „Unabhängigkeit des Geistes“ zugleich der „Unterhaltung aller Leser“ mit dem Wunsch dient, „so viel anziehendes und belehrendes in unsre Vorträge zu legen, als ernstere Zwecke [es] erlauben“.30 Europa, die 1803–1805 nachfolgende Zeitschrift Friedrich Schlegels, will dann im Gegensatz zu dieser Exklusivität – ich wiederhole noch einmal die bemerkenswerte Akzentverschiebung nach 1800 – „so populär sein als nur irgend möglich“, um des „großen Publikums“ gewiss zu werden.31 Um 1800 wird damit auf jeden Fall die Frage nach den Voraussetzungen für Autonomie debattiert. Selbstverständigung des autonomen Kunstsystems auf der einen, dessen Rückkopplung an den populären Konsum in einem anonymen Markt auf der anderen Seite sind Ermöglichungs-

27 Vgl. STEFAN SCHERER : Einführung in die Dramen-Analyse, Darmstadt 2010, S. 102–115. 28 Zum Stellenwert und zur Funktion der Literatur- und Kulturzeitschrift vgl. GUSTAV FRANK /M ADLEEN PODEWSKI /STEFAN SCHERER : Kultur – Zeit – Schrift. Literatur- und Kulturzeitschriften als ‚kleine Archive‘. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 34 (2009), H. 2, S. 1–45. 29 Johann Wolfgang Goethe: Einleitung in die Propyläen. In: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe. Hrsg. von ERICH TRUNZ , 9. Aufl. München 1981, Bd. 12, S. 38. 30 August Wilhelm Schlegel/Friedrich Schlegel: Vorerinnerung. In: Athenäum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Ersten Bandes Erstes Stück, Berlin 1798 (ND Darmstadt 1992), ohne Paginierung. 31 Friedrich Schlegel an August Wilhelm Schlegel, 15. Januar 1803 (wie Anm. 17), S. 14.

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bedingungen für neue Publizitätsformen. Ähnliche Ansprüche formuliert auch Tieck bei seiner Hinwendung zur älteren Literatur. Diese verschobene Aufmerksamkeit bahnt sich in seinen Poetisierungen von ‚Volksbuch‘Vorlagen in epischer und dramatischer Form seit Mitte der 1790er Jahre schon an. Die nichtpoetische Variante setzt dann mit der Aufbereitungstätigkeit der Minnelieder 1803 ein. Noch expliziter benennt Tieck den damit verbundenen Anspruch im Rahmen seines Heldenbuch-Projekts seit 1806: Die Gedichte sollen „recht eigentlich populär“ gemacht und „allen Classen von Lesern in die Hände“ gegeben werden, „wo möglich den Kindern“.32 In der Vorrede zu den Minneliedern formuliert er diesen Aspekt noch zurückhaltender, denn hier interessiert eher noch die literarhistorische Beglaubigung romantischer Poesie im Kontext der deutschen Literaturgeschichte. Diese literarhistorische Absicherung der eigenen poetischen Praxis kann man auf die paradoxe Formel ‚Simplizität und Popularität durch potenzierte Künstlichkeit‘ zuspitzen.

2. Tiecks Rezeption der ‚altdeutschen‘ Dichtung33 Der Terminus ‚altdeutsche‘ Literatur wird zu Beginn des 19. Jahrhunderts einigermaßen unspezifisch für die gesamte deutsche Literatur von den Anfängen bis zum Barock und darüber hinaus auch für die Volksdichtung der folgenden Jahrhunderte gebraucht. Wieviel Tieck vor 1800 von der mittelalterlichen Literatur kannte, ist im Einzelnen nur schwer festzustellen.34 Erste Spuren gehen auf die Briefe an den Jugendfreund Wackenroder zurück, in denen Tieck zur Jahreswende 1792/93 noch die „erstaunliche Einförmigkeit“ der Minnesänger „in allen ihren Ideen“ bemerkt. Wackenroder moniert dagegen Tiecks fehlenden Überblick, wenn er „blos die Minnesinger“ kenne.35 Erst während des gemeinsamen Studienauf32

Dichter über ihre Dichtungen: Ludwig Tieck. Hrsg. von UWE SCHWEIKERT, München 1971, S. 297. 33 Vgl. ausführlicher UWE M EVES : ‚Altdeutsche‘ Literatur. In: Ludwig Tieck. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von STEFAN SCHERER /CLAUDIA STOCKINGER , Berlin u. a. 2011, S. 207– 218; ders.: Zu Ludwig Tiecks poetologischem Konzept bei der Erneuerung mittelhochdeutscher Dichtungen. In: Mittelalter-Rezeption I. Gesammelte Vorträge des Salzburger Symposiums „Die Rezeption mittelalterlicher Dichter und ihrer Werke in Literatur, Bildender Kunst und Musik des 19. und 20. Jahrhunderts“. Hrsg. von JÜRGEN KÜHNEL /H ANS -DIETER MÜCK / ULRICH MÜLLER , Göppingen 1979, S. 107–126. 34 Dazu die einschlägigen Forschungen von GISELA BRINKER-G ABLER : Poetisch-wissenschaftliche Mittelalter-Rezeption. Ludwig Tiecks Erneuerung altdeutscher Literatur, Göppingen 1980. 35 Wilhelm Heinrich Wackenroder: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von SILVIO VIETTA /R ICHARD L ITTLEJOHNS, Heidelberg 1991, Bd. 2, S. 107 u. 118.

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enthalts im Sommersemester 1793 an der Universität Erlangen mit den Reisen nach Nürnberg, Bamberg, zum Schloss Pommersfelden, nicht zuletzt durch Wackenroders Bibliotheksrecherchen für seinen Berliner Lehrer Erduin Julius Koch, wandelte sich Tiecks Auffassung vom Mittelalter. In Nürnberg lernte er Johann Heinrich Häßlein kennen, der Hans Sachs herausgab, daneben Georg Wolfgang Panzer, den Herausgeber der Annalen der älteren deutsche Litteratur (seit 1793). Hier begegnete Tieck dem Straßburger Druck des Dietrich von Bern (1577). Um 1795 eignete er sich dann die „verkannten und verschmähten Volksbücher“ an.36 Zeugnisse dieser Anverwandlung sind die poetisierenden Neubearbeitungen Die Geschichte von den Heymons Kindern, Wundersame Liebesgeschichte der schönen Magelone und Denkwürdige Geschichtschronik der Schildbürger, die 1797 in der Sammlung Volksmährchen. Herausgegeben von Peter Leberecht erscheinen. Auf diese ‚Volksbücher‘ greifen wenig später auch Tiecks Universaldramen wie Leben und Tod der heiligen Genoveva (1799) und Kaiser Octavianus (1804) zurück. Dieses Drama ist – nebenbei bemerkt – auch der Höhepunkt der literarischen Frühromantik.37 Die in den ‚Volksbüchern‘ erkannte Naivität der Darstellung verschränkt sich hier mit der Kunstidee durch Anverwandlung der verschiedensten Metren und Gedichtformen der gesamten europäischen Literatur: „Es schien mir gut, fast alle Versmaaße, die ich kannte, ertönen zu lassen, bis zu der Mundart und dem Humor des Hans Sachs hinab, so wie mir auch die Prosa unerlaßlich schien, um den ganzen Umkreis des Lebens und die mannichfaltigsten Gesinnungen anzudeuten“.38 Im Kaiser Octavianus integriert Tieck neben dem Spektrum romanischer Vers- und Strophenmaße auch metrische Formen mittelalterlicher Literatur, indem er einzelne Figuren wie König Edward etwa die Nibelungenstrophe sprechen lässt.39 Die extreme Künstlichkeit dieser Gestaltung durch teils höchst komplizierte Strophenformen (etwa der spanischen Silva) sollte dem Verständnis aber keine Widerstände entgegensetzten, denn auch diese Dramatik will wirken wie Musik. Klangpoetisch durchorganisierte Stimmungsgedichte in Dramen verselbständigen sich bei Tieck in dieser Phase derart, dass daraus regelrechte ‚Wortopern‘ hervorgehen. All diese literarisierenden ‚Neubearbeitungen‘40 von Volks36 So der Hinweis in seiner späteren Vorrede zum elften Band der Schriften von 1829. Ludwig Tieck: Schriften, Berlin 1829 (ND Berlin 1966), Bd. 11, S. XLI. 37 Vgl. STEFAN SCHERER : Witzige Spielgemälde. Tieck und das Drama der Romantik, Berlin u. a. 2003, S. 363–400, hier S. 383. 38 Ludwig Tieck: Schriften, Berlin 1828 (ND Berlin 1966), Bd. 1, S. XXXIX. 39 Ludwig Tieck: Kaiser Octavianus. In: Schriften, Berlin 1828 (ND Berlin 1966), Bd. 1, Berlin 1828, S. 248; vgl. SCHERER: Witzige Spielgemälde (wie Anm. 37), S. 381. 40 M AREK ZYBURA : Ludwig Tieck als Übersetzer und Herausgeber. Zur frühromantischen Idee einer „deutschen Weltliteratur“, Heidelberg 1994, S. 124.

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buch-Vorlagen sollten trotz ihrer z. T. ins Extrem gesteigerten Artifizialität „die Grenzen des für das gebildete Publikum geltenden Literaturbegriffs provokativ“ überschreiten.41 Neue Impulse für die Auseinandersetzung mit dem deutschen Mittelalter erhielt Tieck während seines Jenaer Aufenthalts von Oktober 1799 bis Juni 1800, hier besonders durch August Wilhelm Schlegel, der sich damit im Rahmen seiner Geschichte der deutschen Dichtkunst, die er im Wintersemester 1798/99 las, auseinandersetzte. Im Dezember 1801 entleiht Tieck aus der Dresdner Bibliothek den Frankfurter Heldenbuch-Druck von 1560 (mit Ortnit, Wolfdietrich, Rosengarten und Laurin), den ersten Band von Christoph Heinrich Myllers Sammlung deutscher Gedichte (unter anderem mit dem Nibelungenlied, Heinrichs von Veldeke Eneas-Roman, Wolframs von Eschenbach Parzival, Hartmanns von Aue Der arme Heinrich) und den Parzival-Druck von 1477. Im Frühjahr 1802 versucht er, den Verleger Frommann für verschiedene Projekte zu gewinnen. Dazu gehört eine „neue Bearbeitung u. Umdichtung“ des Nibelungenlieds, in der die nordische Mythologie einbezogen ist, so dass daraus „vielleicht eine Art von Ilias und Odyssee werden“ könne.42 Daran sollte sich „eine neue Bearbeitung der deutschen Heldenbücher“ anschließen: „Diese beiden Sachen müssen einen dauerhaften Grund auf viele Jahre legen, das Publikum zur Poesie erziehn, und man wird alsdann erst wissen, was die Deutsche Poesie ist“.43 Nach der Übersiedlung nach Ziebingen im Oktober 1802 betreibt Tieck aber zunächst seine Studien zu den Minnesängern. Er benutzte dazu August Wilhelm Schlegels Exemplar der Sammlung von Minnesingern aus dem schwaebischen Zeitpuncte von Bodmer und Breitinger (1758/59). Tieck schreibt die Gedichte immer wieder um. Im Oktober 1803 ist die Vorrede fertig. Die hier formulierte Idee von der ‚Einen Poesie‘ in der Vielgestalt ihrer Erscheinungsweisen kommt mit den Auffassungen Friedrich Schlegels, vor allem aber seines Bruders August Wilhelm Schlegel als dem eigentlichen Popularisator der frühromantischen Theorie überein, gerade was die Verschränkung von Kunst- und Geschichtsphilosophie sowie die spezifische Verbindung von ahistorischer Mittelalterbegeisterung und literarhistorischer Verortung der „eigentliche[n] Blüthenzeit der Romantischen Poesie“ betrifft.44 Anerkennend äußerten sich Brentano, A. W.

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ERNST R IBBAT: Ludwig Tieck. Studien zur Konzeption und Praxis romantischer Poesie, Kronberg/Ts. 1978, S. 157. 42 Ludwig Tieck an Friedrich Frommann, Frühjahr 1802. In: Dichter über ihre Dichtungen: Ludwig Tieck (wie Anm. 32), Bd. 2, S. 276. 43 Ludwig Tieck an Friedrich Frommann, Frühjahr 1802. In: Dichter über ihre Dichtungen: Ludwig Tieck (wie Anm. 32), Bd. 2, S. 289. 44 Tieck: Vorrede (wie Anm. 7), S. VIII.

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Schlegel und Jacob Grimm zur Vorrede, ohne dass sie mit Tiecks Modernisierung bzw. Angleichung der Gedichte an die eigene romantische Lyrik einverstanden waren.45 Gerade die Grimms wenden sich dagegen, „jene längst entschwundene Zeit“ wieder hervorzusuchen, denn es geht ihnen nicht darum, diese „wiederherzustellen“, sondern vielmehr um einen „Weg zu der richtigen Würdigung“ historischer Zeugnisse.46 Die Auswahl und Bearbeitung der insgesamt 221 Lieder von 73 Minnesängern (gegenüber 140 Autoren bei Bodmer/Breitinger) lässt erkennen, wie Tieck das Bild von der ‚altdeutschen‘ Literatur konstruiert: Er beschränkt sich auf die Minnelieder und klammert die Spruchdichtung wegen ihrer Zeitbezüge und ihres moralisch-didaktischen Inhalts mehr oder weniger aus. Tieck meidet damit vorab Aspekte, die auf politischgesellschaftliche Konflikte, auf eine Disharmonie zwischen Kaiser und Papst sowie zwischen Dichtern und Auftraggebern hinweisen konnten.47 Die erneuernde Bearbeitung gründet darauf, „nichts an dem eigentlichen Character der Gedichte und ihrer Sprache zu verändern“.48 Die Lieder sollen sich ungebunden und frei „alle Wendungen, Teutologien [sic] und Abkürzungen“ erlauben.49 Tieck ist also vor allem von der metrischen Variabilität und Flexibilität der sprachlichen Gestaltung fasziniert. Genau dies entspricht seiner Freude an der ‚schönen‘ Ungeregeltheit, die seine eigenen Gedichte organisiert. In den Minneliedern erkennt er die eigene Stimmungspoesie, wenn er im „zarten Schwung und Tanz mannigfaltiger Laute“ die Funktion erkennt, die „Seele des Gedichtes“ ‚schweben‘ zu lassen.50 „[M]anche der alten Worte“ seien so belassen worden, „wie sie ursprünglich gebraucht waren“, um „keine Form des Verses“ zu ‚verletzen‘.51 Indem die lautlichen, formalen und ästhetischen Eigenheiten im Bemühen bewahrt werden, „keinen Ton eines Dichters, der von der Art und Weise der übrigen abweicht, zu unterdrücken“,52 tritt die Aufmerksamkeit

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Vgl. detailliert M EVES : ‚Altdeutsche‘ Literatur (wie Anm. 33), sowie K LAUSNITZER : Tieck und die Formierung der neueren Philologien (wie Anm. 3). 46 So aus einer Nachschrift von Wilhelm Grimms Freidank-Kolleg, zitiert im Kontext nach STEFFEN M ARTUS : „Zu Professoren taugen wir wohl beide nicht“. Die Vorlesungen von Jacob (1785–1863) und Wilhelm Grimm (1786–1859). In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 20 (2010), S. 79–103, hier S. 87. 47 Vgl. Tieck: Vorrede (wie Anm. 7), S. Vf. 48 Tieck: Vorrede (wie Anm. 7), S. XXVI. 49 Tieck: Vorrede (wie Anm. 7), S. XII. 50 Tieck: Vorrede (wie Anm. 7), S. XIV. 51 Tieck: Vorrede (wie Anm. 7), S. XXVIf. 52 Tieck: Vorrede (wie Anm. 7), S. XVIIIf.

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auf Inhalte zugunsten der Individualität eines Lyrikers und nicht zuletzt zugunsten der genuin romantischen Kategorie der ‚Stimmung‘ zurück.53 Tiecks Bearbeitung zielt demnach auf eine behutsame grammatische und orthographische Modernisierung in der Angleichung der mittelhochdeutschen Sprache an das Gegenwartsdeutsch: Die Leser sollen dem Herausgeber dazu „auf halbem Wege entgegenkommen [...], so wie er ihnen halb entgegen geht“.54 Die Veränderungen bestehen in der Regel darin, dass Tieck alles weglässt, was nur den Gelehrten interessieren könne. Strophen seien „in Ordnung“ gebracht oder ausgelassen worden: „Ich habe mir immer die Melodie der Lieder deutlich zu machen gesucht“.55 Der ältere Lautstand wird möglichst bewahrt, selbst wenn dadurch das rechte Verständnis (im Sinne inhaltlichen Verstehens) gefährdet werde. Neben einer modernisierenden Angleichung an den Verständnishorizont des zeitgenössischen Publikums ist die Neigung zu beobachten, die klangliche Wirkung mittels Assonanzen und neu akzentuierten Reimen zu verstärken. Beispielhaft sei eine Strophe Walthers von der Vogelweide zitiert: Viel minnigliche Minn’ ein Wort! Warumme thust du mir so weh? Du zwingest mich, nun zwinge auch dort, Versuche wer dir widersteh, Ob du was kannst, magst du nun zeigen, Du darffst nicht sagen, du könnst nicht in ihr Herze steigen; Es war nie Schloß so mannigfalt Das vor dir bestünde du liebe Meisterinne, schließ auf, sie ist gegen dich zu kalt.56

Bei Bodmer/Breitinger lauten diese Verse so: Vil minneklichiu minne la War umbe tuost du mir so vve Du tvvingest hie nu tvvinge ouch da Versuoche vver dir vvider ste Nu la schovven ob du iht tiugest Du darfst niht iehen das du in ir herze miugest Es vvart nie slos so manicvalt

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Zur „‚Stimmung’ als literaturgeschichtliche Kategorie“ der Romantik vgl. M ARTUS : Werkpolitik (wie Anm. 5), S. 410–422; zur Stimmung als Kennzeichen der romantischen Lyrik vgl. SCHERER : Künstliche Naivität (wie Anm. 9), S. 45f. 54 Tieck: Vorrede (wie Anm. 7), S. XXVII; vgl. zu den Veränderungen im Einzelnen M ERTENS : Minnesangs zweiter Frühling (wie Anm. 2), S. 162f., zur metrischen Normalisierung S. 164f.: Dass „das Metrum reguliert-langweilig wird“, geht auf das seit Opitz wirksame Alternationsprinzip zurück, so dass strikte ‚Treue‘ kaum möglich ist. 55 Tieck: Vorrede (wie Anm. 7), S. XXVf. 56 Ludwig Tieck: Minnelieder aus dem schwäbischen Zeitalter (wie Anm. 7), S. 197f.

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Das vor dir gestuende du liebe meisterinne Slius uf sist vvider dich ze balt57

Die aktuelle Ausgabe58 verzeichnet folgende Gestalt: Gnædeclîchiu Minne, lâ! owê, wes tuost dû mir sô wê? dû twingest hie, nû twinge och dâ, und sich, wâ ez dir widerstê. Nû wil ich sehen, ob dû noch tügest. dû endarft niht jehen, daz dû in ir herze enmügest! ez wart nie sloz sô menecvalt, daz eht dir widerstüende, diebe meisterinne. tuon ûf! sist wider dich ze balt!

Tieck transformiert zudem die beiden letzten Zeilen in eine Langzeile, so wie er es auch in seinem eigenen Gedicht Der Minnesänger praktiziert, um mit der abschließenden Wirkung zugleich den Bezug auf die Nibelungenstrophe (und damit auch auf die älteste Stufe des Minnesangs beim Kürenberger) präsent zu halten.59 Gerade weil er den alten Ton bewahren will, formulierten die zeitgenössischen Rezensionen den „Wunsch nach einer weitergehenden Erneuerung der alten Sprache“.60 Daran lässt sich ablesen, dass das Publikum auch mit der moderaten Angleichung an das Neuhochdeutsche offenbar noch immer überfordert war. Im Juli 1803, nach Fertigstellung der Anthologie, wandte sich Tieck dem Dietrich von Bern zu (vermutlich der Abschrift des Straßburger Drucks von 1577). Seine Abschriften des König Rother überließ er 1808 von der Hagen zur Veröffentlichung, so dass Tieck als dessen eigentlicher Wiederentdecker gelten kann. Bei der Übersendung des Manuskripts im Oktober 1807 an Johann Georg Zimmermann äußerte er sich zu seinem Vorgehen: „Die Eigenthümlichkeit dieses wunderbaren Gedichtes liegt auch in Kleinigkeiten, ich habe es unserer Sprache so nahe als möglich zu

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Bodmer/Breitinger: Sammlung von Minnesängern (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 119. Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 14. Aufl. der Ausgabe von K ARL L ACHMANN. Mit Beiträgen von THOMAS BEIN und HORST BRUNNER hrsg. von CHRISTOPH C ORMEAU, Berlin u. a. 1996, hier S. 115. 59 Vgl. Tiecks Auswahl unter dem Rubrum „von Kürenberg“: Minnelieder (wie Anm. 7), Nr. 30, S. 41–43. 60 GISELA BRINKER-G ABLER : Poetisch-wissenschaftliche Mittelalter-Rezeption (wie Anm. 34), S. 161. Vgl. dazu etwa die Rezension in der Allgemeinen Literaturzeitung, Nr. 109, 7.5.1806, S. 249–253, hier S. 252, online unter http://zs.thulb.unijena.de/servlets/MCRIViewServlet/ jportal_derivate_00077998/ALZ_1806_Bd1u2_447.tif ?mode=generateLayout&XSL. MCR .Module-iview.move=reset (Stand 26.4.2010).

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bringen gesucht, ohne das Gepräge des Alterthums zu verwischen“.61 Das in der Vorrede der Minnelieder formulierte Verfahren zeigt sich demnach auch hier, wenn veraltete oder in ihrer Bedeutung veränderte Wörter und deren Wortstellung beibehalten bleiben.62 Umstellungen innerhalb der Verszeile nahm Tieck vor allem dann vor, wenn damit eine Reimwirkung, Assonanzen oder bestimmte Lautähnlichkeiten inszeniert werden konnten. Die Aussparung der politisch-geschichtlichen Thematik unterstreicht, was schon in den Minneliedern zu beobachten war: Diese Aspekte sollten in den Hintergrund gedrängt werden, um das Bild einer harmonischen Blütenzeit im 12./13. Jahrhundert entwerfen zu können. Insgesamt besteht Tiecks Bedeutung für die ältere Germanistik darin, dass seine erste Dresdner Zeit (1801/02) den Beginn der intensiven Auseinandersetzung mit der ‚altdeutschen‘ Literatur markiert, die sich dann über 15 Jahre erstreckt. Tieck erschließt Textausgaben und Handschriften durch Bibliotheksreisen. Abschriften, Vergleiche und Beschreibungen etwa von König Rother stellt er von der Hagen für die Veröffentlichung zur Verfügung. Geplant wird ein zusammenfassendes Werk über altdeutsche Handschriften und eine Geschichte der ‚altdeutschen‘ Poesie, eingebettet in eine Geschichte der Poesie überhaupt, ohne dass davon aber viel publiziert wurde – geschuldet seiner unsteten Arbeitsweise mit zahlreichen, oft unrealisiert gebliebenen Projektideen und immer wieder auftretenden mentalen wie gesundheitlichen Krisen. Nach 1810 macht sich die wachsende Konkurrenz der Spezialisten bemerkbar. Mit den akademisch orientierten Gelehrten wollte Tieck aber gar nicht konkurrieren. Seine popularisierende Vergegenwärtigung älterer Texte will vielmehr die Zeugnisse vergangenen Lebens dem zeitgenössischen Leser nahe bringen, indem er die ‚altdeutsche‘ Literatur mit seiner eigenen romantischen Poesie kontaminiert. Sie verstehen sich als ‚Akkomodationen‘63 der mittelhochdeutschen Überlieferung an den Verständnishorizont der eigenen Zeit.

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Ludwig Tieck an Johann Georg Zimmer, 11.10.1807. In: Dichter über ihre Dichtungen: Ludwig Tieck (wie Anm. 32), Bd. 2, S. 293. Vgl. Ludwig Tieck: „Alt-Deutsche Epische Gedichte“. Großentheils zum erstenmahl aus Handschriften bekannt gemacht und bearbeitet von Ludwig Tieck. I: „König Rother“. Hrsg. von Uwe Meves, Göppingen 1979, S. XXVI–XXXVIII. So K LAUSNITZER : Tieck und die Formierung der neueren Philologien (wie Anm. 3). Vgl. DETLEF K REMER : Ingenium und Intertext. Die Quelle als psychosemiotischer Motor in der Literatur der Romantik. In: „Quelle“. Zwischen Ursprung und Konstrukt. Ein Leitbegriff in der Diskussion. Hrsg. von THOMAS R ATHMANN /NIKOLAUS WEGMANN, Berlin 2004, S. 241–256, hier S. 244: „Gegenüber der disziplinierten Textkritik Karl Lachmanns, Georg Friedrich Beneckes oder auch Jacob Grimms zeichnen sich die im eigentlichen Sinne romantischen Editionsprojekte dadurch aus, dass sie eher an einer konstruktiven Metamorphose oder kongenialen Um- bzw. Fortschrift“ und damit „weniger an einer di-

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3. Anlage der Minnelieder-Anthologie Die ganze Anthologie besteht aus insgesamt vier Teilen: Der wirkungsmächtigen Vorrede folgt der Nachdruck der Lieder, die im Vergleich zu Bodmer/Breitinger auf 221 Gedichte beschränkt und in der Annäherung an die Gegenwartssprache bei Verstärkung der Musikalität moderat bearbeitet werden. Eingangs platziert Tieck einfache Lieder, um die komplexeren und dunkleren, für ihn z. T. selbst rätselhaft bleibenden Gedichte (etwa des Kürenberger) darin einzubetten.64 Insgesamt orientiert er sich an der Anordnung nach Autoren, wie sie bei den Schweizern vorliegt, so dass die Sammlung mit Kaiser Heinrich einsetzt und mit Strophen eines Autors mit dem Künstlernamen ‚der Kanzler‘ beschlossen wird. (Bei Bodmer/ Breitinger bilden dessen Lieder zwar nicht den Abschluss, sie stehen unter Nr. 135 aber auch hier gegen Ende der Sammlung.65) Die Anzahl der Gedichte einzelner Autoren signalisiert deren Relevanz für Tieck: Neben Walther von der Vogelweide gehört Heinrich von Morungen zu den am stärksten vertretenen Minnesängern, wobei Tieck im Verhältnis zu Bodmer/Breitinger von diesem die meisten Gedichte übernimmt.66 Heinrich von Morungen kommt für Tieck auch deshalb ein besonderer Stellenwert zu, weil er „fast alle einzelnen Töne der Minnesinger“67 vereinige, wenngleich der Anspruch der Sammlung eben gerade darin besteht, „die völlige Eigenthümlichkeit“ jedes Autors zu dokumentieren.68 Morungens Lieder seien „einfach, zärtlich, leidenschaftlich und spielend, und doch bleibt er sich in allen Gedichten auf eine gewisse Weise gleich“.69 Tieck erkennt

plomatischen Texttreue“ interessiert sind, weil sie „von einem aktuellen kulturpolitischen Interesse“ geleitet werden. 64 Vgl. Tieck: Vorrede (wie Anm. 7), S. XXVIIIf. 65 „Zwar beginnt auch Tieck mit ‚Kayser Heinrich‘ und endet ebenfalls mit dem Kanzler, die Folge dazwischen ist jedoch Tiecks eigene; er verfährt im wesentlichen nach Kriterien von Variation und Konstanz, die das Lesen und Genießen befördern sollen: Er spannt einen Bogen von ‚leicht‘ über ‚dunkel‘ und ‚künstlich‘, ‚heiter‘, ‚fröhlich‘, ‚zärtlich‘, ‚ernst‘, ‚edel‘ wieder zu ‚einfach‘ und ‚leicht verständlich‘, wie er in der Vorrede ausführt. Ähnliches steht beieinander, so die Marienlieder von Nr. 136 (Gottfried von Straßburg) bis 140 (Walther, 36,21–37,23), aber die unterschiedlichen Versformen garantieren dennoch Abwechslung“. M ERTENS : Minnesangs zweiter Frühling (wie Anm. 2), S. 162. 66 Zur Orientierungen seien folgenden Zahlen genannt: Von Walther von der Vogelweide nimmt Tieck 46 Strophen auf (Nr. 140–154), während dieser bei Bodmer/Breitinger im ersten Band die S. 101–142 (mit durchschnittlich 11–12 Strophen auf einer in Doppelspalten gesetzten Seite) einnimmt. Von Heinrich von Morungen übernimmt Tieck 63 Strophen (Nr. 171–188), während bei Bodmer/Breitinger von diesem im ersten Band 105 Strophen (S. 49–57) publiziert sind. 67 Tieck: Vorrede (wie Anm. 7), S. XXIX. 68 Tieck: Vorrede (wie Anm. 7), S. XVIII. 69 Tieck: Vorrede (wie Anm. 7), S. XXIX.

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also die spezifische Individualität und Artistik einer Autorschaft, in der er seine eigenen, ‚spielend‘ experimentellen romantischen Gedichte literarhistorisch gespiegelt sehen konnte. Den dritten Teil der Anthologie bilden die Illustrationen, verteilt auf den Eingang und Schluss der ganzen Publikation: Bereits das Titelblatt wird mit einem Kupfer nach einer Vorlage von Philipp Otto Runge versehen (s. o.), der so auf die Überwindung der Zeitlichkeit von Liebe, auf das Ewige abzielt, wie es dann die Vorrede ausführen wird, und der damit die „hinter der Edition stehende Idee in einem andern Medium“ artikuliert.70 Auch in der bildkünstlerischen Veranschaulichung, zu der noch der abschließende Kupferstich nach Runge direkt im Anschluss an das eigene Gedicht Der Minnesänger gehört,71 zeigt sich Tiecks Anspruch auf Popularisierung der eigenen Poetologie. Den textuellen Abschluss der Anthologie bildet demnach ein eigenes Gedicht noch ohne Überschrift, das Tieck später unter dem Titel Der Minnesänger in die Sammlung seiner Gedichte (1821/23) aufnimmt.72 Neben dem Gedicht Brief der Minne (1806)73 handelt es sich um Tiecks genauesten Versuch, die Darbietungslogik der Minnelieder in einem eigenen Gedicht durch wechselnde Verslängen und eine Langzeile am Strophenschluss nachzuahmen.74 Gerade in diesem Gedicht steigert Tieck die Musikalisierung, die er in den Minneliedern erkennt, durch Assonanzen und weitere Parallelismen75 derart, dass die Verschmelzung der Liebe in der Versöhnung der Töne klanglich Ereignis wird: Also muß ein liebes Singen Innig Wie es flüchtig geistig schwebet, Kaum bewußt sich daß es lebet, Das geliebte Herz durchdringen: Ach, das bin ich! Klagt die Seele in die Töne, Um so kürzer euer Leben, um so mehr nur hold und schöne.

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H ASENPFLUG : Tiecks Minnelieder (wie Anm. 1), S. 336. Vgl. Tieck: Minnelieder (wie Anm. 7), S. 284; einsehbar auch bei Google Books. Ludwig Tieck: Gedichte. In: Schriften in zwölf Bänden. Hrsg. von H ANS P. BALMES / ACHIM HÖLTER /M ANFRED FRANK u. a., Frankfurt/M. 1985ff., Bd. 7, S. 149–152. Tieck: Gedichte (wie Anm. 72), S. 288–290. „Tieck imitiert im Wechsel der Verslänge und in einer jede der elf achtzeiligen Strophen beschließenden Langzeile mittelalterliche Prosodie und verknüpft das Minnesujet mit einer Variation romantischer Liebe, in der der Poesie die Funktion melancholischen Eingedenkens zukommt“. K REMER : Romantik (wie Anm. 11), S. 278. Dazu WINFRIED M ENNINGHAUS : Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion, Frankfurt/M. 1987.

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Was soll Liebe doch wohl lieben, Liebe, Als das schöne arm Vergängliche? Pflegen muß sie zart die kränkliche Freude, und sich daran üben, Denn sie bliebe Nicht die Liebe, wenn das eine, Was da ist und bleibt, ihr Wunsch wie Freude sollte sein alleine.76

Im Rahmen der Anthologie dient das Schlussgedicht dazu, die Vergänglichkeit des Frühlings und seiner Blumen, von der es spricht, auf „die Blüthe der Romantischen Poesie in Europa“77 und nicht zuletzt auf die Blütenlese der Sammlung selbst zu beziehen.78 Der Minnesänger ist somit ein poetologisches Gedicht, das die Ausgabe der Minnelieder in ihrem Anspruch literarisch deutet – und in diesem Sinn als Poesie der Poesie, genauer als romantische Poesie der ‚altdeutschen‘ Poesie zu verstehen, in der die liebende Versöhnung der Poesie mit der Welt unmittelbar fühlbar wird.79 Die Vorrede der Anthologie führt von daher letztlich aus, was Tieck unter romantischer Lyrik im Gewand der ‚altdeutschen‘ Poesie versteht. Diese Poesie sei älter als die klassische Zeit der italienischen Literatur Dantes: „Im 12ten und 13ten Jahrhundert war die Blüthe der Romantischen [!] Poesie in Europa“.80 Deren „wunderbare Farben und Töne führen das Gemüth in ein so zauberisches Gebiet von Klarheit und träumerischen Erscheinungen, daß es sich gefesselt fühlt, und bald in dieser Welt einheimisch wird“.81 Diese Dichtung sei „kein Kampf gegen etwas“ gewesen wie später in der Aufklärung, „kein Beweis, kein Streit für etwas, sie setzte in schöner Unschuld den Glauben an das voraus, was sie besingen wollte“: „Kein Gedanke, kein Ausdruck ist gesucht, jedes Wort steht nur um sein selbst willen da, aus eigener Lust, und die höchste Künstlichkeit und Zier 76 Tieck: Minnelieder (wie Anm. 7), S. 283. 77 Tieck: Vorrede (wie Anm. 7), S. VI. 78 „Alle Blüthen sind verstreuet, / Grünen / Möchte Laub und Gras so treulich, / Blumen möchten sich erfreulich / [...] / Darum pflückt die Garten-Sterne / Sinnend / Gern das liebesschwangre Herze [...] / Wunsch, Andenken ewiges, sind die Blumen, die er kann gewinnen“. Tieck: Minnelieder (wie Anm. 7), S. 281–284. 79 Vgl. auch das Gedicht Brief der Minne: „Ihr süßen Worte, / Ihr leichtbeschwingte sanfte Reime, / Die mit dem zartenKlange, / Summen mit dem harmon’schen Flügel / Durch die Bäume / Über Berge fliegt und Hügel, / Liebkoset euch auf eurem Gange / Und nahet euch demütig jenem Orte, / Wo reizend steht die Schönste unter Schönen. / Da wollet tönen / Und sagen, klagen, wie mein Herz schon lange / Entbehrt des Lebens. Schürzet euch zum Reisen, / Die lieblichsten der Weisen / Legt an, und weint und lacht, wenn euch zum Gruße / Die Sprache fehlt, so redet wie die Liebenden im Kusse“. Tieck: Gedichte (wie Anm. 72), S. 288. 80 Tieck: Vorrede (wie Anm. 7), S. VI. 81 Tieck: Vorrede (wie Anm. 7), S. VIII (Hervorhebung St. Sch.).

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zeigt sich am lieblichsten als Unbefangenheit oder kindlicher Scherz mit den Tönen und Reimen.“82 Wenig später zitiert Tieck Schillers Formel von der „Freiheit des Gemüthes“, die sich in den ‚altdeutschen‘ Liedern als „schöne Willkührlichkeit [...] nicht ausschließlich und mit ängstlichem Vorurteil an einen Gegenstand heftet und sich dadurch unfähig macht, andre zu genießen und zu verstehen.“83 „Keine Auktorität, keine Regel“ habe diese Formen zugerichtet, „jeder Sinn folgte seinem Antriebe, nachdem er sich zur Künstlichkeit oder Simplizität neigte“ – in beiden Fällen aber „prächtig und auffallend für das Ohr“,84 so „daß man das Nothwendige und Zufällige daran nicht mehr unterscheiden kann“.85 Einfachheit und Künstlichkeit sind dieser Logik zufolge identisch: Die Opposition fällt im schönen Klang einer ungeregelten Vielstimmigkeit zusammen, weil in der musikalischen Stimmung alle Differenzen fühlbar verschwinden. Der Reim sei daher nicht als „Trieb zu Künstlichkeit“ aufzufassen, sondern als „Liebe zum Ton und Klang“ aus dem „Gefühl“ heraus zu vernehmen, „daß die ähnlichlautenden Worte in deutliche oder geheimnisvollere Verwandtschaft stehen müssen“.86 Er dient dem „Bestreben die Poesie in Musik, in etwas Bestimmt-Unbestimmtes zu verwandeln“.87 Der Reim vermählt also durch „Wohllaut im gleichförmigen Zusammenklang der Wörter“, „unbekümmert um die Prosodie der Alten, er vermischt Längen und Kürzen um so lieber willkürlich, damit er sich um so mehr dem Ideal einer rein musikalischen Zusammensetzung annähere“.88 Tieck schreibt, wie man sieht, die mittelalterliche Minne in die Liebe der Töne um, die er in seinem eigenen Schlussgedicht Der Minnesänger als Nachahmung der Minnelieder noch weiter zur indifferent schwebenden Klang- und Stimmungspoesie steigert. Selbstreflexiv wird diese Auffassung und poetische Praxis schließlich noch einmal im Gedicht Glosse verdichtet, das ebenfalls 1803 entstanden ist

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Tieck: Vorrede (wie Anm. 7), S. XI (Hervorhebung der autonomieästhetischen Position in der spezifisch romantischen Variante St. Sch.). Tieck: Vorrede (wie Anm. 7), S. XIf.; zu Schillers einschlägiger, in den ästhetischen Schriften seit den 1790er Jahren wiederholt aufgebrachter Formel vgl. die Variante von der „Freiheit des Gemütes in dem lebendigen Spiel aller seiner Kräfte“ in der Vorrede zur Braut von Messina, die 1803 als Buchausgabe erscheint. Friedrich Schiller: Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie. In: Ders.: Werke in drei Bänden. Hrsg. von HERBERT G. GÖPFERT, 5. Aufl. München 1984, S. 471–477, hier S. 417. Tieck: Vorrede (wie Anm. 7), S. XII (Hervorhebung St. Sch.). Tieck: Vorrede (wie Anm. 7), S. XIII. Tieck: Vorrede (wie Anm. 7), S. XIII. Tieck argumentiert hier mit August Ferdinand Bernhardis Sprachlehre von 1801; vgl. zu ihrer Wirkung auf die frühromantische Poetologie CLAUDIA STOCKINGER : Das dramatische Werk Friedrich de la Motte Fouqués. Ein Beitrag zur Geschichte des romantischen Dramas, Tübingen 2000, S. 39f. Tieck: Vorrede (wie Anm. 7), S. XIII. Tieck: Vorrede (wie Anm. 7), S. XIIIf.

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und den Phantasus, Tiecks Sammlung der wichtigsten romantischen Prosatexte und Dramen als Archiv einer erinnerten Romantik von 1812/16, beschließt: „Liebe denkt in süßen Tönen, / Denn Gedanken stehn zu fern, / Nur in Tönen mag sie gern / Alles, was sie will, verschönen.“89 In diesen Versen artikuliert sich die Quintessenz frühromantischer Poesie,90 die in den Minneliedern ihr literarhistorisches Vorbild erkennt.

4. Ausblick: Achim von Arnim und Clemens Brentano Auch Arnims und Brentanos Werke der Heidelberger Romantik kennzeichnet eine Strategie der „modernisierenden Textfortschreibung“91 durch Anverwandlung älterer literarischer Zeugnisse, in der Regel von Texten aus der Zeit vor der Aufklärung vom Mittelalter bis zum Barock. Auch diese Publikationen dienen populären Zwecken, nun aber in neuer Absicht, die auf den Umbruch von der Frühromantik zur politischen Romantik nach 1803/06 hinweist. Vor allem Arnims Projekte zielen auf Gemeinschaftsbildung ab, verhandelt über den semantischen Komplex ‚Volk‘: Angestrebt wird eine „Poetisierung der Welt mittels Volksbildung“.92 Dieses Literaturprogramm geht auf Tiecks Praxis zurück, mittelalterliche und frühneuzeitliche Quellen zu adaptieren. Der entscheidende Unterschied zu Tieck besteht indes darin, dass dieser die Literarisierung älterer Quellen von politischen Zwecken völlig freihält. Arnim dagegen betreibt das „ruhige Anschließen an das Vergangene, um zur Zukunft zu gelangen“, wie er in seinem Nachlasstext Was soll geschehen im Glücke schreibt, der nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt im Oktober 1806 entstand.93

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Ludwig Tieck: Phantasus. In: Schriften in zwölf Bänden. Hrsg. von H ANS P. BALMES / ACHIM HÖLTER /M ANFRED FRANK u. a., Frankfurt/M. 1985ff., Bd. 6, S. 1141 (Hervorhebung St. Sch.). 90 PAUL GERHARD K LUSSMANN : Bewegliche Imagination oder Die Kunst der Töne. Zu Ludwig Tiecks ‚Glosse‘. In: Gedichte und Interpretationen, Bd. 3: Klassik und Romantik. Hrsg. von WULF SEGEBRECHT, Stuttgart 1984, S. 343–357; zur Verbindung dieses Gedichts mit der Minnelieder-Anthologie vgl. S. 353 u. 356. 91 C LAUDIA NITSCHKE : Die Erreichbarkeit von Gemeinschaft. Die Konstruktion von „Volk“ und Individualität im ‚Wintergarten‘. In: Romantische Identitätskonstruktionen. Nation, Geschichte und (Auto-)Biographie. Glasgower Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hrsg. von SHEILA DICKSON /WALTER PAPE , Tübingen 2003, S. 89–103, hier S. 103. 92 EDI SPOGLIANTI : Arnims Plan eines nationalen Volkstheaters. In: „Frische Jugend, reich an Hoffen“. Der junge Arnim. Zernikower Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hrsg. von ROSWITHA BURWICK /HEINZ H ÄRTL , Tübingen 2000, S. 189–199, hier S. 191. 93 Achim von Arnim: Was soll geschehen im Glücke. In: Ders.: Werke in sechs Bänden.

Populäre Künstlichkeit

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Die politische Indienstnahme dieser poetisierenden Sammeltätigkeit ereignet sich bei Arnim im gesamten Gattungsspektrum zwischen ‚Volkslied‘, ‚Volksnovellistik‘ und ‚Volksdramatik‘, indem es sich auf die drei Werkkomplexe Des Knaben Wunderhorn, die Novellensammlung Wintergarten und auf die Schaubühne verteilt.94 Die Schaubühne sollte ursprünglich Alte deutsche Bühne heißen. Der komplementäre Impuls zur Sammlung Alte deutsche Lieder, zum Untertitel des Wunderhorns also, liegt auf der Hand. So funktionieren die drei Werkkomplexe als generische Diversifikationen einer vergleichbaren Sammlungs- und Publikationstätigkeit, die sich im Fortgang der politischen Ereignisse vor dem Hintergrund der Befreiungskriege immer stärker selbst politischen Wirkungsabsichten verschreibt. Gerade im Blick auf den populären Anspruch sind diese Projekte aber sehr unterschiedlich erfolgreich gewesen. Populär wurde im Letzten nur Des Knaben Wunderhorn, wenn auch verzögert, was eben viel mit dem im Vergleich zur Situation um 1850 noch wenig ausdifferenzierten Literaturbetrieb samt Vervielfältigungs- und Verbreitungsmöglichkeiten zu tun hat. Im Unterschied zu Arnim dient die poetisierende Philologie Tiecks in erster Linie der literarhistorischen Beglaubigung für seine Konstruktion romantischer Autorschaft. In der älteren Literatur erkennt Tieck den Ursprung romantischer Poesie. Die eigene romantische Poesie wird in die Minnelieder hineinprojiziert, um sie literarhistorisch abzusichern. Markiert wird damit zugleich der populäre Anspruch romantischer Poesie als ‚Volksdichtung‘. Dieser Anspruch erfüllt sich dann aber tatsächlich erst im künstlich erzeugten ‚Volksliedton‘, den Arnim und Brentano in Des Knaben Wunderhorn begründen werden. Aber auch diese Sammlung war zunächst gar nicht so erfolgreich, geschuldet vor allem dem hohen Preis der drei Bände. Dennoch wird der hier generierte neue ‚Volksliedton‘ als ‚Kunstton‘95 durch Anverwandlung auch von Gedichten aus dem Mittelalter dann in der Lyrik des 19. Jahrhunderts – von Eichendorff über Heine und Mörike bis Storm – tatsächlich populär.

Hrsg. von ROSWITHA BURWICK /PAUL MICHAEL LÜTZELER /R ENATE MOERING u. a., Frankfurt/M. 1989–1994, S. 200–205, hier S. 202. 94 Vgl. im Einzelnen STEFAN SCHERER : Arnims Idee einer Volksdramatik. In: 200 Jahre Heidelberger Romantik. Hrsg. von FRIEDRICH STRACK, Berlin u. a. 2008, S. 225–243. 95 Vgl. SCHERER : Künstliche Naivität (wie Anm. 9), S. 46.

MATHIAS HERWEG

Anti-antikes Mittelalter Romantische Identitätssicherung in Eichendorffs Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands, mit Rückblicken zum Marmorbild Sinnend wandl’ ich, wo die Eiche, / Auf der manch’ Jahrhundert grauet, / Prachtvoll aus des Staubes Reiche / Hin zu höhern Zonen schauet. Unter deren kühlen Schatten / Einst vielleicht sich Ritter strekten, / Und der Ahnen Heldenthaten / Aus der Zeiten Schlummer wekten. Wo im Glantz verklärter Seelen / Um des Stammes Epheuranken / Sanft entschwebt den Grabeshöhlen / Alter Barden Geister wanken. [...] Hier steh ich, und staunend wallen / Meines Geistes freye Blike / Zu der Vorzeit düstern Hallen, / Zu der Väter Muth zurüke. (Joseph von Eichendorff, 1803)1

1. Impulse: Literaturgeschichte als „Fortsetzung der Poesie mit anderen Mitteln“2 Im Rahmen des Gesamtwerks Joseph von Eichendorffs steht die im Todesjahr des Dichters erschienene Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands mit einer Reihe weiterer, durchweg weniger umfassend angelegter Schriften für den Versuch, die Deutungshoheit über die literarische longue

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HKA = Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-kritische Ausgabe. Begr. von WILHELM KOSCH /AUGUST SAUER , fortgef. und hrsg. von HERMANN KUNISCH /H ELMUT KOOPMANN. Band I/3: Gedichte, 2. Teil: Verstreute und nachgelassene Gedichte. Text. Hrsg. von URSULA R EGNER , Tübingen 1997, S. 95f. GÜNTHER SCHIWY: Joseph von Eichendorff. Der Dichter und seine Zeit. Eine Biografie, 2. Aufl. München 2007, S. 640.

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durée im romantischen Sinn neu zu bestimmen. Diese Intention, die weniger auf archivierende Bestandsaufnahme als auf aktualisierende Apologetik zielt, dazu die stark konfessionelle Tendenz, grenzen das Werk von der Vielzahl literarhistorischer Kompendien ab, die das 19. Jahrhundert im Zeichen der vorwissenschaftlichen Konstituierung und universitären ‚Disziplinierung‘ der germani(sti)schen Philologie hervorbrachte. Näher als Koberstein, Gervinus, Wackernagel oder später Scherer steht Eichendorff insofern Heinrich Heine, dessen zwei Jahrzehnte frühere Romantische Schule (1836) zwar häufig konträre, doch in Intention und Tendenz kommensurable Positionen bezieht. Die Genese der Poetischen Literatur Deutschlands ist in den jüngsten Biographien wie im Anhang der einschlägigen Ausgabe eingehend dokumentiert,3 so daß hier knappe Hinweise genügen. Den ersten Impuls, sich auf literarhistoriographisches Feld zu begeben, erhielt der Dichter durch seinen entschieden katholischen Freund Karl Ernst Jarcke, der am 15. Dezember 1844 brieflich anregte, einer drei Jahre zuvor publizierten, dezidiert protestantischen Literaturgeschichte – der Deutschen poetischen Literatur seit Klopstock und Lessing (1841, ²1847) aus der Feder des Schweizer protestantischen Theologen und Historikers Heinrich Gelzer4 – ein katholisches Pendant zur Seite, respektive entgegen, zu stellen. Eichendorff begann seine Arbeit mit umfangreichen Exzerpten aus Gelzers Werk, die auch schon Gegenpositionen fixierten, dazu mit Notaten aus der führenden Literaturgeschichte des Vormärz, Georg Gottfried Gervinus’ 1835–42 fünfbändig erschienener, von nationalliberalem (und insofern nicht eben katholischem) Geist durchwehter Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen. Schon in diesen Exzerpten und in ergänzenden Entwürfen klärt sich die Rolle, die für Eichendorffs Gegenkonzept gerade das Mittelalter gewann – und dies, obwohl diese Epoche zunächst gar nicht in den Horizont des Autors fiel, weil der geplante ‚Anti-Gelzer‘ naturgemäß von der

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Vgl. hinsichtlich der Biographien neben SCHIWY (wie Anm. 2), S. 636–640, bes. H ARTWIG SCHULTZ : Joseph von Eichendorff. Eine Biografie, Frankfurt/M. 2007, hier S. 270– 291; Ausgabe und, wo nicht anders vermerkt, im Fortgang Zitiergrundlage: JEW = Joseph von Eichendorff, Werke in sechs Bänden. Hrsg. von WOLFGANG FRÜHWALD /BRIGITTE SCHILLBACH /H ARTWIG SCHULTZ . Bd. 6: Schriften zur Literaturgeschichte. Hrsg. von H ARTWIG SCHULTZ , Frankfurt/M. 1990, S. 805–1074 (Text), S. 1394–1466 (Kommentar), hier 1394–1400. Vgl. zu diesem und den später noch zu nennenden Bezugswerken Eichendorffs H ANS EGON H ASS : Eichendorff als Literarhistoriker. Historismus und Standpunktforschung – ein Beitrag zur Geschichte der Literaturgeschichtsschreibung und ihrer Methodenprobleme. In: Jahrbuch für Aesthetik und allgemeine Kunstwissenschaft 2 (1952–54), S. 103–177, hier 108–112.

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Referenzzeit Gelzers, mithin von der jüngeren Literaturgeschichte seit Klopstock und Lessing auszugehen hatte. Als indirekten Veranlasser der Weitung des Blicks vom 18. Jahrhundert bis in, ja vor die Anfänge der deutschen Literatur macht das Gelzer-Exzerpt den Romantiker Novalis namhaft: Der Autor des für das romantische Mittelalterbild so programmatischen Traktats Die Christenheit oder Europa wird, obwohl nominell Lutheraner, für Eichendorff zum Morgenroth der Rom[antik,] er gibt die Lineamente. in ihm Alles schon in nuce. =Wiederemporheben des vergeßenen Christenthums; [...] aber nicht als Lutherthum, sondern in seiner ursprünglichen Gestalt: als Katholizismus. Daher beständige Hindeutung auf das ächtkathol[ische] Mittelalter einerseits, u. Anwendung des Katholizismus auf die Gegenwart andererseits...5

Die von Gelzer angeregte Novalis-Referenz geht in diesen Sätzen bereits markant in eine eigenständige literarhistorische Programmbestimmung im Rekurs auf das ‚ächtkatholische‘ Mittelalter über, so daß, obschon Eichendorffs Plan nach wie vor nicht auf eine umfassende Literaturgeschichte zulief, diese gleichsam in der Logik des hier avisierten Zweischritts liegt. Zum ersten Ertrag der produktiven Auseinandersetzung Eichendorffs mit Gelzer wie mit Gervinus wird aber zunächst eine Folge dreier Artikel, die 1846 in den von Joseph Görres’ Sohn Guido mitherausgegebenen Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland erschienen. 1847 wird diese Trias in erweiterter Form als Buch publiziert, und zwar unter dem markanten Titel Über die ethische und religiöse Bedeutung der neueren romantischen Poesie in Deutschland.6 Die schroffe Positionierung gegen Gelzer, wie auch gegen Heines Romantische Schule (und nebenbei auch dessen komplementäre Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland), bestimmen Tonfall und Perspektive der Streitschrift, die eine nüchterne Darstellung und „ästhetische Würdigung“ der literarischen Entwicklung und ihrer historischen Hintergründe weder anstrebt (so bereits im Vorwort) noch beansprucht. Rezensenten vermerkten dies, ohne den Verfasser, von dem man offenkundig auch nichts anderes erwartete, dafür zu tadeln. Unter den Rezensenten kommt Wolfgang Menzel, einem Landsmann Eichendorffs und selbst Verfasser einer voluminösen Literaturgeschichte (EA 1827, vierbändig erweitert 1836), eine vielleicht richtungweisende Rolle zu. Zumindest scheint der spätere Konzeptionswandel, spezifischer: die Weitung der konfessionell ‚ultramontanen‘ zur diachron umfassenden 5 6

Unediertes Entwurfblatt, hsl. im Besitz des Freien Deutschen Hochstifts; zit. nach SCHULTZ (wie Anm. 3), S. 273. Ausgabe: JEW 6, S. 61–280.

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‚nationalkatholischen‘ Perspektive, in Menzels Kritik antizipiert. Der entsprechende Vorbehalt ist in eine rhetorische Frage gefaßt: War die romantische Poesie bloß Heimweh nach der alten Kirche, war sie nicht in noch höherm Grade Heimweh nach andern Gütern, welche der Zopfzeit abhanden gekommen waren, z. B. nach frischer und gesunder Volksthümlichkeit, nach nationalem Heroismus, nach dem alten Mährchenzauber etc.? und war dabei die katholische Erinnerung nicht bloß Nebensache? Und die noch wichtigere und bedenklichere Frage: liegt im Geiste des Katholicismus, wie er sich seit der Reformation ausgebildet hat, irgend eine Gewähr, daß er jemals die romantische Poesie wieder erwecken werde? [...] [Fast wäre man] versucht zu befürchten, den seit der Jesuitenzeit nach Beseitigung des gothischen Styls aufgekommenen katholischen Formen sey der eigentliche poetische Zauber ganz eben so entfremdet worden, wie den protestantischen.7

Unabhängig von Menzels eigenem, zunächst christlich-konservativem, in den postrevolutionären Jahren nach 1848 zunehmend nationalistisch verengtem kulturpolitischen Standpunkt, der sich mit Eichendorff vor allem in seinen antiklassizistischen Affekten berührt, legt diese Frage das markante Defizit des rezensierten Werks offen: Daß es seinen Gegenstand stricte pro domo, mithin katholisch und romantisch deutete, war nicht sein Problem, vielmehr ermangelte es gerade in seinen weitreichenden Ansprüchen pro domo der nötigen, ja zwingenden Verankerung dieser Ansprüche im Humus der gesamten nationalen Literaturgeschichte, die die vorreformatorischen Stadien einschloß. Weniger an der katholischen Tendenz als an der fehlenden methodischen Stringenz der Eichendorffschen Argumentation also nahm Menzel Anstoß, und dies (objektiv) vollkommen zu Recht. Abzuhelfen aber war diesem Defizit nur mit einer seriösen Fundierung der akklamatorischen Mittelalterreverenzen in der mittelalterlichen Überlieferung selbst. Eichendorffs durch Gelzers ‚Prätext‘ begrenzte Perspektive konnte diesen Blick aufs Ganze weder bieten noch ersetzen. Insofern kam der Impuls des Paderborner Verlegers Ferdinand Schöningh dem Autor sicher gelegen, er möge – erneut ein ‚Anti-Projekt‘ – auf Basis der zwischenzeitlich erarbeiteten Teilunternehmen (zu den genannten, aus der Gelzer-Gervinus-Rezeption herausgewachsenen kamen neben Episodischem noch je eine große roman- und dramenhistorische Schrift8) nunmehr eine umfassende Literaturgeschichte aus katholischer

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Besprechung der Schrift Ueber die ethische und religiöse Bedeutung der neueren romantischen Poesie in Deutschland im Stuttgart-Tübinger Literaturblatt vom 7.12.1847; in: HKA Bd. XVIII/2: Joseph von Eichendorff im Urteil seiner Zeit. Dokumente 1843–1860. Hrsg. von GÜNTER /IRMGARD NIGGL , Stuttgart u. a. 1976, S. 723f. (Kursivierungen: M.H.). Der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts in seinem Verhältnis zum Christentum; Zur Geschichte des Dramas; beide in: JEW 6, S. 393–629 bzw. 633–803.

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Sicht besorgen, die an „Vollständigkeit und Zweckmäßigkeit“ der des Protestanten Vilmar gewachsen, in ideeller und ästhetischer Hinsicht ihr zugleich überlegen sei.9 Es müsse das projektierte Werk durchaus nicht ein ähnlicher „Wust von sogenannter philosophischer Gelehrsamkeit“ werden, vielmehr dürfe es sich darauf verlegen, „die klaren, vom Protestantismus ungetrübten Züge im großen und nur die Hauptgrößen auch detaillierter“ darzustellen. Ein solcher Anti-Vilmar „wäre ein Unternehmen, das sich des Beifalls aller aufrichtigen Katholiken zu erfreuen hätte.“ Implizit hoffte der Verleger zugleich, Eichendorff werde sich (gemäß Friedrich Schlegels Diktum, daß ‚Poesie nur durch Poesie kritisiert‘ werden könne10) durch einen poesienäheren Stil von der Marktlage abheben – neben den genannten literarhistorischen Studien ist es ausdrücklich das rezente Versepos Julian, das den Autor in Schöninghs Augen für sein Anliegen empfahl. Vilmars Referenzwerk war zwischenzeitlich (1848) bereits in dritter Auflage erschienen (EA 1845 in Marburg; insgesamt erfuhr es 26 Neuauflagen!) – die Korrektur schien also geboten. Eichendorff stimmte zu und lieferte rasch: Binnen zweier Jahre, die vom Tod seiner Frau Louise überschattet wurden, lag das Manuskript vor. Als „Kompendium der literaturkritischen Schriften“ des Autors11 bietet es kurz vor seinem eigenen Tod gleichsam auch Eichendorffs poetologisches Vermächtnis.

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Dieses und die Folgezitate aus zwei Schreiben SCHÖNINGHs (Hervorhebungen ders.) an den Dichter vom 17.1. und 3.7.1854, in: HKA Bd. XIII: Briefe an Freiherrn Joseph von Eichendorff. Hrsg. von WILHELM KOSCH, Regensburg 1910, S. 195f. u. 198f. – VILMAR s Literaturgeschichte erntete nicht nur in katholischen Kreisen Kritik; gerade ihr Erfolg schürte Unbehagen auch in der frühen Germanistenzunft. Noch WILHELM SCHERER s epochale Literaturgeschichte (ersch. 1879–83 in Berlin) entstand als explizites Konkurrenzunternehmen, wie SCHERER s Korrespondenz mit K ARL MÜLLENHOFF zeigt: „Ich soll Ihnen von Seiten Hans Reimers den Vorschlag machen, eine deutsche Litteraturgeschichte zu schreiben von dem Umfang, wie der Vilmar, um dies schändliche Buch, von dem jährlich eine Auflage von 3–4000 Exemplaren verkauft wird, zu verdrängen…“ (MÜLLENHOFF, 3.7.1872; SCHERER erwiderte umgehend, sich an das „Concurrenzbuch“ wagen zu wollen): Briefwechsel zwischen Karl Müllenhoff und Wilhelm Scherer. Im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften hrsg. von A LBERT L EITZMANN. Berlin u. a. 1937, hier Nr. 222f. (S. 476–479). Für den Hinweis sei JENS H AUSTEIN, Jena, gedankt. Lyceums-Fragment 117, in: KFSA = Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 2, 1.Abt.: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801). Hrsg. und eingeleitet von H ANS EICHNER , München u. a. 1967, S. 162. CHRISTIAN K REPOLD : Das Walther-Bild der Romantiker zwischen ‚Universalpoesie’ und Konfessionalismus. Zu Tieck, Uhland und Eichendorffs ‚Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands’. In: Der mittelalterliche und der neuzeitliche Walther. Beiträge zu Motivik, Poetik, Überlieferungsgeschichte und Rezeption. Hrsg. von THOMAS BEIN, Frankfurt/M. u. a. 2007, S. 47–67, hier 59.

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2. Mittelalter als Anti-Antike: Die Alterität des ‚Gesunden‘ 2.1. Der verhinderte Mediävist Eichendorffs Affinität zum Mittelalter ist nicht nur durch sein Œuvre vielfältig belegt, sondern zeichnet sich bereits früh in seinem ‚Lebensplan‘ ab. Historiker des Mittelalters wollte der Dichter zuerst werden,12 und zeitlebens hegte er eine Vorliebe für die Stauferzeit. Noch das im Todesjahr 1857 im Anschluß an die literarhistorischen Arbeiten der Vorjahre in Angriff genommene, aber nurmehr bis zum fragmentarischen Entwurf gediehene opus emortuale ist eine Lebensbeschreibung der Heiligen Hedwig, einer schlesischen Herzogin der späten Stauferzeit (+1243, kanonisiert 1267).13 Die Einleitung des Vitenfragments, letzte Bilanz der Geschichtsphilosophie und Ästhetik des Autors,14 enthält auch noch einmal programmatisch sein Verständnis der (mit Novalis) zur Chiffre einer zeitlos erstrebenswerten Utopia, zum Ausweg aus der verderblich expandierenden Gewaltherrschaft von Materialismus und (letztlich, so der Vorwurf, irrational verabsolutiertem15) Rationalismus erhobenen ‚mittleren Epoche‘: Um [...] die wunderbare Erscheinung der heiligen Hedwig gehörig zu begreifen und zu würdigen, müssen wir uns vor allem ihren Standpunkt in der Weltgeschichte klarzumachen suchen. Dieser Standpunkt ist das Mittelalter (JEW 5, 837f.).

Eine solche Feststellung impliziert, daß schon der historische Ort in der idealisierten Zeit („das Mittelalter war, wie alle Jugend, ideal“, ebd.) einen Gutteil der außergewöhnlichen Person und der idealen Vita erklärt, die das ‚histo-poietische‘ Werk nachzugestalten bestimmt war. Und schon hier wird dieser Ort dezidiert wider jenen anderen, der europäischen Geistesgeschichte der Ära scheinbar viel näheren positioniert: Die nachreforma-

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Vgl. SCHIWY (wie Anm. 2), S. 649. Die Heilige Hedwig, in: JEW 5, S. 831–842; vgl. neben dem Kommentar (ebd., S. 1220– 1227) den Sammelband Eichendorffs Hedwig-Fragment. Heiligenverehrung und Mittelalterbild im 19. Jahrhundert. Beiträge zu einer Ausstellung aus Anlaß des 750. Todestages der heiligen Hedwig von Schlesien. Hrsg. von NIKOLAUS GUSSONE , Ratingen 1993. Vgl. SCHULTZ’ Kommentar in JEW 5, S. 1221. Zur Bedeutung des Textes im Dichterœuvre vgl. auch SCHIWY (wie Anm. 2), S. 645–652. Vgl. die harsche Schelte: „Ihr [sc. die rationalistischen Zeitgenossen] treibt Abgötterei mit dem goldenen Kalbe der Industrie etc. etc., und wollt in diesem Götzendienst nicht durch fatale Gedanken gestört sein, und es sollte uns nicht wundern, wenn Ihr, statt der Heiligenkapellen, den jüdischen Bankiers etc. pyramidalische Monumente errichtet[et]“ ( JEW 5, S. 834). Hierzu auch BEATE SOPHIE GROS : Joseph Freiherr von Eichendorffs Fragment ‚Die Heilige Hedwig’. Ein Beitrag zur Heiligenverehrung im 19. Jahrhundert. In: GUSSONE (Hrsg., wie Anm. 13), S. 14–38, hier 25f.

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torischen Poeten hätten, so des Autors Eindruck, an die Stelle der heiligen Bekenner, die ihnen aus der „katholischen Heidenzeit“ überkommen schienen, „einen ganzen Parnaß heidnischer Götter und Helden“ gesetzt, „als gelte es wieder Troja oder die Thermopylen, anstatt die Engpässe zum Himmelreich, zu stürmen.“16 In der nämlichen Einleitung zieht Eichendorff in seinem ‚Ceterum censeo‘ zum Verhältnis des mittelalterlichen ‚Geistes‘ zur kritisch-aufgeklärten Gegenwart auch eine Art Bilanz seines eigenen, erst poetischen, dann literaturgeschichtlichen Strebens: Die Aufgabe ist jetzt eine andere geworden, als sie im Mittelalter war. Damals war der Glaube noch stark und allgemein, und es galt nur, die überwiegende Sinnlichkeit zu brechen. Jetzt dagegen ist der Zweifel in die Welt geworfen, wir können ihn nicht ignorieren; da hilft das einsiedlerische Zurückziehen nichts, gleichwie etwa der Vogel Strauß dadurch, daß er den Kopf unter die Flügel steckt, darum dem Feinde nicht entgeht. Es ist daher jetzt mehr ein geistiges Ringen mit der geistigen Welt in uns und außer uns. [...] Die Welt hat nun einmal die Unschuld verloren. Den Beschaulichen verfolgen die neuen Gedanken und Zweifel in Kloster und Zelle; der Aktive muß gegen sie fechten. Zu diesem Gefechte, sowie zu jener bloßen persönlichen Abwehr, gehören aber dieselben Waffen, die der Feind führt, sonst ist man vorweg verloren: Philosophie gegen Philosophie etc. etc. (JEW 5, 841).

Den hier gewiesenen Weg vom ‚Beschaulichen‘ zum Aktiven, von der Dichtung zum Manifest, hat Eichendorff in dem von außen angestoßenen Wechsel von der poetisch-intuitiven Mittelalterrezeption in den Feenwäldern und Burgen seiner Erzählkunst zur literarhistorischen Ordnung der vorbildgebenden Anfangsgründe deutscher Poesie selbst beschritten. Geht man allein von der Makrostruktur seiner Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands aus, so kommt diesen Anfangsgründen, dem (hinsichtlich seiner ersten, vorchristlichen Phase weit gefaßten) Mittelalter also, eine außergewöhnlich hohe Bedeutung in dem Gesamtprojekt zu: Vier von sieben Hauptkapiteln gelten der Zeit vor der Reformation. Freilich verzerrt diese Feststellung das Bild insofern, als die Kapitelumfänge stark divergieren: Die ersten vier Kapitel machen rund ein Viertel des Gesamtumfangs aus, und mit Blick auf das ausführlichste siebte hat man mit gewissem Recht feststellen können: „Die gesamte Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands erscheint in Eichendorffs Darstellung, angesichts des Übergewichts des Romantikteiles, nur wie eine Vorgeschichte der Romantik.“17

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JEW 5, S. 833. So H ASS (wie Anm. 4), S. 114.

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Gleichwohl: Knapp 100 Druckseiten der einschlägigen Ausgabe gehören der ‚mittleren Zeit‘, gegliedert in die Phasen des ‚alten nationalen Heidentums‘ (Kap. 1), des ‚Kampfes und Übergangs‘ zum Christentum (2), des ‚christlichen‘ (3), schließlich des ‚weltlichen‘ (4) Stroms mittelalterlicher Poesie. Und noch die scharfe Absetzung der beginnenden Neuzeit markiert die über die rein quantitative hinausgehende qualitative Relevanz, die der Autor und Kritiker dem ersten Viertel seiner Gesamtschau zumaß. Sowenig nämlich auch sonst die antike Steinmetz- und neuzeitliche Druckkunst kulturhistorisch verbindet, so markieren doch beide für Eichendorff jene Pole, die die bessere Ära einer lebendig-beseelten, in steter Bewegung (Novalis’ vielbemühter ‚Hin und Herdirection‘) befindlichen Poesie begrenzen und abheben von einem ‚Davor‘ und einem ‚Danach‘ deutlich minderen Werts. Was die Antike angeht, ist dies im Fortgang zu zeigen; für die Frühe Neuzeit aber genüge in unserem Kontext ein bezeichnendes Zitat, das die Gutenberg-Wende als ästhetisches Menetekel und Kainsmal, als unweigerlichen Durchbruch zur (hier nicht formal, sondern dezidiert wertend verstandenen) ‚Prosa‘, zu Ökonomismus, Utilitarismus und nivellierendem Egalitarismus der Aufklärungsepoche abqualifiziert: Den letzten und nicht geringsten Stoß nach der Prosa hin gab endlich die Erfindung der Buchdruckerkunst, indem nun gar an die Stelle des lebendigen Worts der Buchstabe, in die Stelle des persönlichen mimischen Sprechers der einsame Leser trat. Das gedruckte Buch hat [...] für den Geist überhaupt etwas Mumienhaftes, Stationäres und Abgemachtes, worauf sich zu jeder Zeit bequem ausruhen läßt, während die lebendige Tradition, so lange sie wirklich lebendig, notwendig in einer beständigen Fortbildung begriffen ist. Durch den Druck ist aber in der Tat die ganze Literatur ein Buch geworden, in welchem jeder nach Belieben blättern mag, und daraus ein allgemeiner Dilettantismus der Produzenten wie der Konsumenten entstanden. Ehedem dichtete der Sänger für eine gewisse ideale Totalität seiner Nation, oder auch für einen bestimmten Kreis spruchfähiger Freunde und Gönner, und war in beiden Fällen des Verständnisses und geistigen Widerhalls gewiß; ganz abgesehen davon, daß bei der Kostbarkeit und zeitraubenden Mühe einer Vervielfältigung der Gedichte in der Regel nur das Beste sich erhalten und vererben konnte. Jetzt dagegen bringt jeder Phantast – das Volk sagt treffend: ‚er lügt wie gedruckt‘ – seine wohlfeile Weisheit auf den großen Plundermarkt, wo Perlen und Kraut und Rüben durcheinanderliegen, und ein Jeder nach seines Herzens Gelüsten auf ’s Geratewohl zugreifen kann. Eine erstaunliche Konfusion, die noch bis heut fortzuwachsen scheint; die Köchin liest beim Messerabwischen ihre Jungfrau von Orleans, die Dame ihre ‚Mimili‘. Eine maßlose Konkurrenz mag für alles Fabrikwesen ganz dienlich sein; hier führt sie selbst zur Fabrikation… (JEW 6, S. 892f.; Kursivierungen: M.H.).

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2.2. Wider die Antike(n) Das verbindende Moment der auch in Eichendorffs Sicht sonst durchaus heterogenen und vielgestaltigen vier strukturierenden Teilperioden zwischen Antike und Gutenbergära im Lichte des sie alle verbindenden Mittelalterbegriffs18 ist mithin ihre Differenz zur Antike und zu der mit dieser in einen merkwürdigen Kurzschluß gebrachten Frühen Neuzeit. Diese Differenz schafft auch die Verbindung von der mittelalterlichen zur programmatisch nach-reformatorischen Kunstauffassung des Romantikers. Durch die gesamte nationale Literatur und Literaturkritik verfolgt Eichendorff eine Art ‚Querelle des Antiquistes et des Médiévalistes‘, wobei die ‚Mediävalisten‘ zugleich (im romantischen Sinn) die Modernen sind. Das Schlachtfeld dieser querelle ist auch und gerade die zeitgenössische literarische Kultur, um die es dem insofern nur scheinbaren (Literar-)Historiker eigentlich geht. Der programmatisch auf die eigene Standortbestimmung fixierte Impetus erhellt schon aus der Einleitung der diachron fortschreitenden Literaturkritik: Schroff durch die Reformation zäsuriert, werden das ‚Mittelalterlich-Gotische‘ und das ‚Antikisch-Klassizistische‘, werden ‚altgläubig‘ und ‚protestantisch‘, ‚heimisch‘ und ‚fremd‘ polarisiert, wird eine naturwüchsig-unverbildete Poesie gegen verabsolutierte Philologie und gezierte Anakreontik positioniert. Die polaren Werturteile sind dabei auf je einer Seite gebündelt: Auf den protestantischen Schulen wurde nun namentlich auch die Poesie eine bloße Hülfswissenschaft der Philologie. Homer, Pindar, Sophokles und Virgil hatten nur gedichtet, um der Nachwelt die Regeln der alten Grammatik anschaulich zu machen, oder höchstens um den gelehrten Scharfsinn an neuen Konjekturen und Lesarten zu üben; die Schüler sollen lateinisch und griechisch dichten, ja antik denken und glauben lernen.19 Diese servile Nachahmung der Alten – welche, wie die damaligen Römer, Alles für barbarisch erklärt, was nicht römisch oder griechisch ist – hat aber die moderne Barbarei herbeigeführt: die stupide Verachtung unseres Mittelalters und seiner großen Dichterwerke. Eine solche totale Rückwendung zum klassischen Altertum wird überall schulmäßig als notwendig und überaus heilsam gepriesen. Wir können

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Nur en passant sei vermerkt, daß diese Teilperioden auch in Eichendorffs Wahrnehmung durchaus nicht streng aufeinander folgten, sondern zeitweise koexistierten und interagierten. Dazu schon etwas früher der Vorwurf: „Die Reformation hatte zum Behuf ihrer biblischen Kritik und Exegese die Philologie auf einmal aus der natürlichen bescheidenen Stellung verrückt, die sie im Mittelalter fortdauernd eingenommen. Die Philologie war das verzogene Kind der protestantischen Theologie, und hat sich daher sehr bald völlig emanzipiert und aus einem bloßen Mittel höherer Bildung zum Zweck dieser Bildung gemacht“ ( JEW 6, S. 814).

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Beides, auf die Gefahr hin verketzert zu werden, keineswegs so unbedingt zugeben. Notwendig allerdings war es nur für die Protestanten, weil sie mit dem Mittelalter gebrochen hatten und also gleichsam von vorn wieder anfangen und einen neuen Anknüpfungspunkt erst suchen mußten. Aber natürlicher und heilsamer wäre es gewesen, an den nationalen Bildungsgang anzuknüpfen, der durch den dreißigjährigen Krieg zwar gestört, aber durchaus nicht vernichtet war. Dies taten in Spanien Lope de Vega, in England Shakespeare, und als dort die neuern Poeten, hier Ben Johnson sich zu den Alten wandten, folgte hier und dort der Verfall der Poesie. Und was war denn faktisch die hochgepriesene Wirkung für Deutschland? Zunächst jene lächerliche gelehrte Hofpoesie, die an die Stelle der vertriebenen Heiligen die heidnischen Götter mit Haarbeutel und Stahldegen setzte, und ihren alleruntertänigsten Pegasus vor den Triumphwagen krähwinkliger Heroen und Mäzenaten spannte. Sodann das grobe Mißverständnis der Aristotelischen Poetik, das uns langehin zu ziemlich possierlichen Affen der französischen Bühnenregelmäßigkeit machte. Später dann wieder die sogenannte Poesie der Grazien, eine salondüftelnde Lebensweisheit und liederliche Leichtfertigkeit, welche wir füglich entbehren konnten. Und endlich durch die Gräkomanen eine Verrenkung und Verzerrung der Sprache, die mit Klopstocks Oden und Bardieten beginnt, und bei Voß eine schreckenerregende Virtuositat erreicht. [...] Neuerdings endlich scheint wieder eine ganz materielle Richtung vorzuwalten, eine allgemeine Realschule zur Erzielung einer industriellen Reichsritterschaft, wo der erfinderische Eigennutz die Heldenrolle übernommen hat, und die Geldaristokratie, anstatt des alten Adels, in den dampfenden und klappernden Fabriken über ihre Leibeigenen ziemlich barbarisch verfügt. Hiermit aber hat die Poesie, als eine brotlose Kunst, gar nichts zu schaffen, gegen welche sich daher auch eine auffallende Gleichgültigkeit und Verachtung überall bemerkbar macht (JEW 6, 814f., 817; Kursivierungen: M.H.).

Angesichts der Charakterisierung der Kultur, Religion und Dichtung der Antike in den Folgekapiteln mag die entschärfende Konzession des Verfassers, er wolle die „sonnenklare altklassische Schönheit“ und den „wohltätigen Einfluß“ der Alten weder verkennen noch insgesamt missen,20 nur als halbherziges Zugeständnis an eine selbst unter romantischen Theoretikern und Literarhistorikern weithin gültige Selbstverständlichkeit erscheinen.21 20 JEW 6, S. 815. 21 Vgl. zur romantischen Kunst- und Literaturtheorie im Überblick GERHARD SCHULZ : Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. Erster Teil: Das Zeitalter der Französischen Revolution 1789 bis 1806, München ²2000, S. 242–252, 263– 265; Zweiter Teil: Das Zeitalter der Napoleonischen Kriege und der Restauration 1806– 1830, München 1989, S. 236–259, hier bes. 249f.; A LBERT M EIER : Klassik – Romantik, Stuttgart 2008, S. 75–87 u. 100–108 (Stellungnahmen der Brüder SCHLEGEL). Auszüge aus der poetologischen Diskussion bietet anthologisch H ANSEGON H ASS (Hrsg.): Die Deutsche Literatur vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert, Texte und Zeugnisse. Band 5: Sturm und Drang, Klassik, Romantik, 1. Teilband, München 1966, S. 422ff. u. 482ff. Zum Mittelalterbild der Romantiker vgl. im Grundriß GERHARD KOSELLEK : Die Mittelalterrezeption der Romantiker. In: Ders.: Darstellung und Deutung. Aufsätze zur deutschen Literatur, Wroclaw 1988, S. 166–200.

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Doch zeigt sie zumindest, daß Eichendorff die Antike gar nicht primär meinte, wenn er sie schalt. Eher zielte er auf die (unterstellte) Exklusivierung und Verabsolutierung der, zumal griechischen, Klassik in allen nachreformatorischen Klassizismen, die ihm die zielstrebige Abtötung alles Neuen, Lebendigen, Originellen bedeutete: Aber eben so entschieden müssen wir die Abgötterei anklagen, die mit dem Griechentum, als dem einzig würdigen, getrieben wurde und uns ganz übersehen ließ, daß unsere eigene Sprache früher einen Wohllaut, eine Anmut und dichterische Kraft besaß, die der Entwickelung und Sorgfalt nicht weniger fähig und Wert waren, so wie daß das Mittelalter uns noch häufigere und größere Vorbilder von Heldenmut, Freiheit und Tugend darbietet, deren moralische Gewalt über die jugendlichen Gemüter um so wirksamer sein mußte, da sie uns innerlich verwandt und verständlicher sind, als die der alten Welt. Und so hat denn diese Altertümelei in der Tat großenteils den nationalen Quietismus verschuldet, der um Hekuba weint, und für Glück und Unglück des deutschen Vaterlandes kein rechtes Herz hat... (JEW 6, 816; Kursivierungen: M.H.).22

Erst im Fortgang konzediert auch Eichendorff, daß jene „innerlich verwandte“ eigene Frühzeit nur einen Teil der beschriebenen Epoche darstelle, die geistig und religiös viel reicher auftritt, als es jede plane Idealisierung (auch jene durch Eichendorff selbst) verträgt. Der Dichter skizziert nämlich zwei grundverschiedene Epochenbilder, die eigentlich nur in ihrer profilierten Differenz zur Antike tendenziell konvergieren: (1) Die erste, aufsteigende Linie führt von der Basis des antiken Heidentums, eines „todmüden“,23 verfeinert-unauthentischen und die Sklavenhalter- und Sklavenmentalität seiner Trägerschichten ausdrückenden Kulturzustands, zum germanischen Heidentum – für Eichendorff eine durchaus kraftvolle Macht: naturverbunden, einfach, gerade dadurch auch poetisch nachhaltig prägend.24

22 Ein in dieser Kritik wohl implizit (Mit-)Avisierter, der Weimaraner Goethe, hätte auf solche Vorhaltungen mit der grimmen Verachtung dessen reagiert, der sich, seiner eigenen Sturm und Drang-Zeit lange entwachsen, abgeklärt genug fühlt, das ‚Ewigschöne’ gegen die ‚Frechheiten’ jugendlicher Unreife und Geschmacklosigkeit in Schutz zu nehmen: „Das Romantische, wo es in der Großheit an das Antike grenzt, wie in den Nibelungen, hat wohl auch Stil, d. h. eine gewisse Großheit in der Behandlung, aber keinen Geschmack. Die sogenannte romantische Poesie zieht besonders unsere jungen Leute an, weil sie der Willkür, der Sinnlichkeit, dem Hange nach Ungebundenheit, kurz der Neigung der Jugend schmeichelt. Mit Gewalt setzt man alles durch. Seinem Gegner bietet man Trotz. Die Weiber werden angebetet: Alles wie es die Jugend macht“ (Gespräch über das Antike und das Romantische, zit. nach: H ANS-EGON H ASS [Hrsg., wie Anm. 21], S. 85). Beide Stellungnahmen, die Eichendorffs und jene Goethes, verbindet über die ‚weltanschaulichen’ Gräben hinweg ihre (intendierte) Selektivität und Subjektivität. 23 JEW 6, S. 842. 24 Ein ähnlich positives Konzept der Völkerwanderungszeit vertritt (vorbildgebend für Eichendorff) auch AUGUST WILHELM SCHLEGEL in seiner Geschichte der romantischen Li-

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Selbst dem paganen Götterhimmel vermag der schlesische Katholik viel abzugewinnen, wenn er ihn diametral dem erdenschweren Olymp (und später auch dem bigotten frühchristlichen Byzantinismus) kontrastiert: Die Römer, und noch mehr die Griechen, zogen ihre Götter zur Erde in den Kreis der menschlichen Leidenschaften herab. Ihr Olymp, wenn wir durch den überreichen Fabelschmuck auf den eigentlichen Kern sehen und diesen als die sittliche Grundlage des Volksglaubens nehmen müssen, erscheint doch nur als ein fast kindischer Religionsversuch; ein lustiges Herrenhaus genialer Dynasten, die, weil sie sich selbst durchaus nicht zu regieren wissen, ein gar wunderliches Weltregiment führen. Wie unendlich größer, tiefer und wahrer, als dieser Zeus oder Jupiter, der mit sultanischer Laune heut die Europa entführt und morgen wegen derselben Galanterie den Paris andonnert, ist die altgermanische Idee der ewigen Gerechtigkeit, des ‚Allvaters‘ Wodan, des höchsten Richters und Rächers des Unrechts. [...] Mit dieser Vorstellung hing wesentlich auch ihr fester Unsterblichkeitsglaube zusammen. Das Jenseits der Griechen war nur ein ungewisses nebelhaftes Schattenspiel des irdischen Daseins, die Walhalla der Germanen dagegen eine freudige Zuversicht, die in Schlacht oder Gefangenschaft heldenmütige Todesverachtung erzeugte (JEW 6, 830; Kursivierungen: M.H.).

Der Maßstab ist hier sichtlich kein religiöser, schon gar kein dogmatischer, weshalb die exklusiv religiöse Pointierung des Verfasserstandpunkts (nicht nur hier) rasch an die Grenzen des rechten Verständnisses stößt.25 Es geht – natürlich – um Poesie: Die altgermanische Religion hatte in Eichendorffs Augen durch ihre naturhaft-urwüchsige Kraft schlicht das höhere ästhetische Potential gegenüber den menschelnden Götzen der Alten, die der ‚Klassizist‘ Schiller in seinen Göttern Griechenlandes (1788) ganz gegenläufig beschworen, deren Verschwinden er beklagt hatte: Schöne Welt, wo bist du? – Kehre wieder, / Holdes Blütenalter der Natur! / Ach! nur in dem Feenland der Lieder / Lebt noch deine goldne [fabelhafte] Spur. / Ausgestorben trauert das Gefilde, / Keine Gottheit zeigt sich meinem Blick, / Ach! von jenem lebenwarmen Bilde / Blieb nur das Gerippe mir [der Schatten nur] zurück. // Alle jenen Blüten sind gefallen / Von des Nordes winterlichem [schauerlichem] Wehn. / Einen zu bereichern, unter allen, / Mußte diese Götterwelt vergehn…26

teratur, in: Kritische Schriften und Briefe IV. Hrsg. von EDGAR L OHNER , Stuttgart 1965, vgl. S. 81ff., 89ff., 109ff. u. ö. 25 Diese Pointierung prägt nicht nur die zeitgenössische Wirkung (vgl. die in JEW 6, S. 1400–1408, versammelten Rezensentenstimmen); auch K REPOLD (wie Anm. 11), der allgemein vor der „Fehlinterpretation“ warnte, die drohe, sofern man „Eichendorffs Werk auf eine allegorische Darstellung katholischer Heilswahrheiten“ reduziere (S. 59), nahm die Literaturgeschichte aufgrund ihres Auftragscharakters m. E. zu Unrecht von dieser Risikoeinschätzung aus. 26 Die Götter Griechenlandes (Erstfassung), in: Friedrich Schiller: Sämtliche Werke in 5 Bänden. Bd. I: Gedichte. Dramen 1. Hrsg. von A LBERT M EIER , München/Wien 2004, S. 167f. [Varianten der Zweitfassung 1793: ebd., S. 172].

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Zum Gegenbeweis der Überlegenheit des auch schon vorchristlichen ‚winter-‘ bzw. ‚schauerlichen Nordes‘ führt Eichendorff neben den Liedern der altnordischen Edda (die er, zeitüblich unbefangen, dem nationalen Literaturkanon einfügt) „zwei erst vor kurzem in Merseburg wieder aufgefundene Zaubersprüche“ an. 1841 hatte Georg Waitz die beiden bekannten Merseburger Gedichte, bis heute die prominentesten Zeugen paganer deutscher Überlieferung, entdeckt (Eiris sazun Idisi…; …ben zi bena, bluot zi bluoda, lid zi geliden, sose gelimida sin). Jacob Grimm hatte sie im Folgejahr publiziert, was über die entstehende germanistische Philologie hinaus zu einer veritablen Sensation geriet. Späterhin und bereits im Christianisierungsprozeß sieht Eichendorff auch die durch und durch noch von germanischer Tragik durchtränkten Heldenstoffe um Hildebrant und Hadubrant – Ik gihorta ðat seggen, ðat sih urhettun ænon muotin, Hiltibrant enti Haðubrant untar heriun tuem… – oder die Nibelungen als Beleg für seine These einer nicht weiter begründungsbedürftigen, da ‚natürlichen‘ Überlegenheit der germanisch-frühmittelalterlichen vor der antiken Poesie auf stofflicher wie ethischer Ebene. (2) Indes konnte die frühe Vielgötterei, so sehr Eichendorff und seine Gewährsleute27 sie auch ins Naturwüchsig-Humane weichzeichneten, nur Stadium auf dem Weg in ein gleichsam nordisch veredeltes Christentum sein – hier also kommt durchaus wieder die Religion ins Spiel. Doch ist die Taufe keine Einbahnstraße, und es ersetzt die religiöse schon gar nicht die poetische Qualität: Die pagane Kultur der ‚Frühdeutschen‘ erfuhr eine Sittigung und Vertiefung im Christentum, das Christentum aber rettete sich eben dadurch vor dem Degenerationspotential seiner antiken Wurzeln, die es bis dahin nährten. Das heimisch-‚Alte‘ mußte also durchaus überwunden werden: Wir können vom poetischen und historischen Standpunkte aus allerdings nur bedauern, daß diese alten Heldengesänge auf diese Weise verloren gegangen, aber wir dürfen auch nicht vergessen, daß das, was uns jetzt nur noch als ein schönes und harmloses Spiel der Phantasie erscheint, damals als wirklicher Volksglaube galt, und also überwunden werden mußte (JEW 6, 833).

Doch überwunden wurde das Alte eben hier wie dort – dies durch den angedeuteten Prozeß, der auch die christliche Religion zur ethisch-poetischen Erneuerung führte. In der germanischen Akkulturation und Akkomodation fand der Christenglauben erst zu sich selbst und qualifizierte sich dergestalt für den unerschöpflichen Quell der Poesie. Die überzüchtete 27 Als Quelle für das erste Kapitel, und d. h. für sein Bild der altheidnischen Germanen, diente vor allem FRIEDRICH SCHLEGEL s Vorlesung Über die neuere Geschichte, die 1811 erschien; vgl. SCHULTZ’ Stellenkommentar (wie Anm. 6), S. 1416f.

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Theologie der Spätantike ist dem Romantiker von Grund auf fremd und befremdlich, und wie die gesamte Epoche wird sie ihm zum Zerrbild: Der junge Glaube habe im späten Rom bereits riskiert, seine Seele in Synkretismus, Intellektualismus, theologischer Sophisterei und – Gipfel des Horriblen – servilem Byzantinismus zu verlieren (hier übrigens zeigt sich eine Linie, die Eichendorff von katholischen Ultramontanen wie Görres wegführt): In Rom [jenem der Spätantike; M.H.] hatte teils das ungeheure Gemisch der verschiedensten Nationalitäten und Religionen, teils die Anstrengung der Gelehrten, die alte Mythologie durch den Neuplatonismus philosophisch umzudeuten und wieder zu beleben, einen vielfach störenden und zersetzenden Einfluß ausgeübt. Man darf daher wohl behaupten, daß erst die jugendfrische und tiefere Auffassung der germanischen Völker das Christentum in Europa wirklich einheimisch gemacht hat (JEW 6, 832).

Ein weiteres Mal ist hier der Kontrast bewußt auf die Folgeepoche hin perspektiviert. Eine Sequenz idealisierter Werte, die geradewegs mittelalterlichen Tugendkatalogen entlehnt scheinen, verbinden für Eichendorff Germanen- und Christentum. In ihnen liegen die Quintessenz und der gemeinsame Nenner der (ihnen beiden als geistig-kulturellem Substrat entwachsenen) zwei Phasen des Mittelalters, der paganen und christlichen, so wie sie gegenbildlich die von Dekadenz und selbstzweckhaft gewordenem Raffinement geprägten beiden Phasen der Antike, die pagane und christliche, daraus exkludieren. Die Werte lauten: Freiheit, Treue und Ehre, wahre (da geistlich-geistig sublimierte) Liebe und tiefes Naturgefühl, wie es am vornehmsten im naturreligiösen Kultus der Frühzeit zutagegetreten sei: Was uns aber dabei zunächst auffallt, ist die Einfachheit ihres Gottesdienstes, der weder Götzenbilder, noch irgend weitläufige Zeremonien kannte; ihr Tempel war der Wald mit seinen grünen Bogen und schlanken Säulenhallen. Vor Allem aber ist es das Übersinnliche dieser Götterlehre, die sie von den andern Religionen des Altertums unterscheidet (JEW 6, 830).

Es muß nicht eigens betont werden, daß Eichendorff hier nicht nur das Mittelalter als kulturhistorische Epoche, sondern zugleich das Frühstadium seines Volks zu einem zeitlosen Ideal mythisiert, d. h. enthistorisiert. Den Konnex dieser beiden ‚großen Erzählungen‘, der für den Wert eben auch des vorchristlich-paganen Mittelalters unter nationalpatriotischen Vorzeichen steht, und ihre wechselseitige Verklärung hatte in seiner Geschichte der alten und neuen Literatur schon Friedrich Schlegel propagiert, wenn er betonte: Wichtig ist vor allen Dingen für die ganze fernere Entwicklung [...], daß ein Volk große alte National-Erinnerungen hat, welche sich meistens noch in die

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dunkeln Zeiten seines ersten Ursprungs verlieren, und welche zu erhalten und zu verherrlichen das vorzüglichste Geschäft der Dichtkunst ist. Solche NationalErinnerungen, das herrlichste Erbteil, das ein Volk haben kann, sind ein Vorzug, der durch nichts anders ersetzt werden kann; und wenn ein Volk dadurch, daß es eine große Vergangenheit, daß es solche Erinnerungen aus uralter Vorzeit, daß es mit einem Wort eine Poesie hat, sich selbst in seinem eigenen Gefühle erhoben und gleichsam geadelt findet, so wird es eben dadurch auch in unserem Auge und Urteil auf eine höhere Stufe gestellt…28

Doch Eichendorff geht hier insofern weiter als Schlegel, als er dieses ‚herrlichste Erbteil‘ radikal gegen das buchstäblich ‚unverwandte‘ Treibgut der Antike aufrechnet, während die frühromantische Poetik beide Kunstepochen und -haltungen29 noch durchaus differenziert ein- und zugleich hochzuschätzen wußte. Erst bei Eichendorff wird einer organischen Ständeordnung, getragen von Waffenbrüderschaft, Vertragsbindung und stets limitierter Fürstenmacht, rückhaltlos antike Despotie und Sklaverei kontrastiert; unbestechlicher Nibelungentreue (schon hier begegnet das folgenreiche Ideologem in nuce) antike Situations- und Machtethik, die das römische Imperium erst zum Gipfel seiner Macht habe aufsteigen lassen; einer poetisch produktiven Hochschätzung der Frau, die der Autor zutiefst im Marienkult verwurzelt sieht, ihre antike Herabwürdigung zum Zierrat und/ oder dumpfen Zeitvertreib. Zuletzt läuft auch noch die ernste und strenge, mehr geahnte als gesehene Schönheit heimischer Natur gegen die urbane und aufdringliche, dabei sinnlich verlogene Schönheit der Alten auf. In all diesen Voten paart sich eine bewußt subjektive, jeglichen Quellenrekurses entratende Perspektive mit kulturnationaler Emphase: Nur in Deutschland, als dem Erben der germanisch-christlichen Synthese, habe sich die umrissene, der Romantik so affine geistige Disposition herausgebildet und „alle Wandlungen der Jahrhunderte überlebt“, so daß sich „noch bis heut, wie ein erfrischender Waldeshauch, auch unsere Poesie, wenn wir etwa den wesentlich germanischen Shakespeare ausnehmen, von der Poesie aller anderen Nationen unterscheidet.“30 28 KFSA Bd. 6, 1.Abt.: Geschichte der alten und neuen Literatur. Hrsg. und eingeleitet von H ANS EICHNER , Paderborn u. a. 1961, S. 15f. Zum Bild und zur Rolle des Mittelalters in der poetisch-ästhetischen Standortbestimmung der Brüder SCHLEGEL vgl. umfassend EDITH HÖLTENSCHMIDT: Die Mittelalter-Rezeption der Brüder Schlegel, Paderborn 2000, hier bes. S. 104–106. 29 Nur nebenbei sei vermerkt, daß für FRIEDRICH SCHLEGEL dezidiert noch jene des Orients als eine dritte, in der Kreuzzugszeit fruchtbar ins europäisch-mediävale Erbe integrierte Referenzgröße hinzutritt: „Eine besondere Aufmerksamkeit wird sodann auch unsrer Vorzeit, der nordischen Götterlehre, und der daher abgeleiteten Poesie der Ritterzeit, und Kunst des Mittelalters gewidmet sein; wo während der Kreuzzüge Europa von neuem mit dem Orient in eine fruchtbare Berührung kam“ (KFSA 6/1, S. 19). 30 JEW 6, S. 828.

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Auch für die Literatur ist hier jener Sonderweg formuliert, dem sich das Volk in der Mitte Europas, implizit oder explizit gegen den in lateinischer Tradition stehenden Nachbarn im Westen, seither folgenreich verschrieb. Weder Duktus noch einzelne Topoi des von Eichendorff gezeichneten Bildes ‚deutscher‘ Frühgeschichte sind dabei originell oder gar singulär. Rekurriert ist zuvörderst auf die schon humanistische Gleichsetzung von Germanen und frühen Deutschen, sodann auf die neuen ‚Mytheme‘ des romantischen Mediävalismus, wie ihn fünf Jahrzehnte zuvor Novalis, die Brüder Schlegel, zeitgenössische Rechts- und Staatslehrer sowie Historiker prägten. Den ‚kulturhistorischen‘ Parametern war insofern längst der Boden bereitet, mitunter waren sie durch die historisch-quellenkundlichen Fortschritte sogar tendenziell bereits überholt, als Eichendorff sie rezipierte. Auf die Kulturhistorie aber mußte der Verfasser in den ersten beiden Kapiteln immer wieder, ja nahezu exklusiv rekurrieren, weil es an Schriftüberlieferung für diese Ära so eklatant fehlte. 2.3. Dynamik und Erstarrung: ‚Alte, fromme Lieder‘ gegen marmorne Erotik Origineller werden die Eindrücke und Bilder, wo Eichendorff vom Feld der allgemeinen Kulturkritik auf sein ureigenes Feld wechseln konnte, auf die Poesie nämlich. Dies setzt eine kontinuiertlich fließende deutschsprachige Literaturtradition voraus und ist folgerichtig an den Übergang zum Hochmittelalter gebunden. Die Haltung des Anti-Antiken bleibt gewahrt, sie setzt nun nur einige neue Pole. Ausgespielt werden nun vor allem künstlerische Dynamik versus Erstarrung, wird der feine Stil gotischer Tafelmalerei gegen die kühle Schönheit antiker Skulpturen, beide personifiziert im archetypischen Kontrastpaar von Venus und Maria. Was die Literaturgeschichte hier programmatisch formuliert, ist auch aus Eichendorffs Dichtung vertraut. Fast leitmotivisch begegnen hier Konstellationen, in denen das Bedrohlich-Schöne, Kalte und Starre, das Helle und Glatte antiker oder antikischer Marmorartefakte dem Religiös-Transzendenten und Profunden gegenübertritt und bei aller Berückungskraft zuletzt an dessen höherer Authentizität und tieferer Wahrheit zerbricht. In Eichendorffs Novellistik und Lyrik verdichten sich solche Momente zu plastischen Bildern; das 7. Kapitel des Taugenichts (1826) etwa führt den Leser in die römische Campagna, wo „eine uralte Stadt und die Frau Venus begraben liegt und die alten Heiden zuweilen noch aus ihren Gräbern heraufsteigen und bei stiller Nacht über die Heide gehen und die Wanderer verwirren“ (JEW 2, 522). Der Nacht gehört der Spuk, bei Tageslicht offenbart sich die Überlebtheit, das im Wortsinn Tote der alten

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Kultur und ihrer nun armselig erscheinenden Relikte. Mitunter, wenn die lebendig-geschöpfliche Natur Macht über die tote Kultur ergreift, gewinnt das Motiv auch humoristische Züge. So ‚entdämonisiert‘ die Natur in den Glücksrittern, einer im Umfeld des 30jährigen Kriegs spielenden späteren Erzählung (1841), leichthin das Standbild des meeraufwühlenden Gottes Poseidon, das einen Schloßgarten ziert; der Geist der Antike wird Opfer einer vital raumgreifenden Natur: Da lag Alles einsam und schattig kühl; Regen, Wind und Sonnenschein waren, wie es schien, schon lange die Gärtner gewesen, die hatten einen steinernen Neptun aufs Trockne gesetzt und ihm eine hohe grüne Mütze von Ginster bis über die Augen gezogen, wilder Wein, Efeu und Brombeer kletterten von allen Seiten an ihm herauf, eine Menge Sperlinge tummelte sich lärmend in seinem Bart, er konnte sich mit seinem Dreizack des Gesindels gar nicht mehr erwehren. Und wie er so sein Regiment verloren, reckten und dehnten sich auch die künstlich verschnittenen Laubwände und Baumfiguren aus ihrer langen Verzauberung phantastisch mit seltsamen Fühlhörnern, Kamelhälsen und Drachenflügeln in die neue Freiheit hinaus… (JEW 3, 534).

Wohl am signifikantesten thematisch wird aber die poetische Auseinandersetzung mit der heidnischen Antike (schon titelindiziert) in Eichendorffs 1818 entstandenem, 1819 publiziertem Marmorbild, das ich hier etwas näher erörtern will.31 Schon die symbolhaften Namen verraten den Widerstreit zweier Weltentwürfe und ihrer Referenzzeiten: Donati, der antikischblasse, religiös haltlose, zugleich verführte und verführende Dunkelmann, der sonntags auf Jagd ausreitet, vor Glockenklängen körperhaft zurückschreckt und als Frauenritter im Dienst der heidnischen Venus steht, kämpft mit dem heilszugewandten, in religiöser Selbstgewißheit und Unanfechtbarkeit in sich ruhenden ‚Glücksbringer‘ Fortunato um den aufblühenden, noch ungefestigten und durch Sinnenreiz und ungerichtete Erotik verführbaren Protagonisten Florio. Am Ende steht Florios Conversio zur Lebenshaltung Fortunatos, die auch die Hinwendung zur nun endlich er-

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Ausgabe: JEW 2, S. 383–428. – Zum ‚Marmorbild‘ im Spannungsfeld antik-mediaevaler Bezüge vgl. BARBARA BECKER-C ANTARINO : ‚Frau Welt‘ und ‚Femme fatale‘: Die Geburt eines Frauenbildes aus dem Geiste des Mittelalters. In: Das Weiterleben des Mittelalters in der deutschen Literatur. Hrsg. von JAMES F. POAG /GERHARD SCHOLZ-WILLIAMS. Königstein/Ts. 1983, S. 61–73, hier 65–68; WINFRIED FREUND : Venerischer Spuk – Joseph von Eichendorff, ‚Das Marmorbild‘. In: DERS., Literarische Phantastik: Die Phantastische Novelle von Tieck bis Storm. Stuttgart u. a. 1990, S. 99–110; VOLKER K LOTZ : Venus Maria. Auflebende Frauenstatuen in der Novellistik. Bielefeld 2000, S. 47–91 (zu Eichendorffs Marmorbild und Mérimées Venus d’Ille); zu intertextuellen Bezügen zu zeitgenössischen Texten vgl. ULRICH G AIER : „Wir alle sind, was wir gelesen…“: Eichendorffs ‚Marmorbild‘. In: Romanticism and Beyond. A Festschrift for John F. Fetzer. Hrsg. von CLIFFORD A. BERND u.a. New York u.a. 1996, S. 165–195.

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kannten ‚inneren‘ und ‚keuschen‘ (Indiz der Verkleidung) Schönheit der marianischen Bianca ermöglicht. Das Zentralmotiv aber, eine im Mondschein glänzende marmorne Venusstatue, markiert den Beginn von Florios Abweg, auf dessen Höhepunkt sich das Standbild und sein gesamtes Ambiente verlebendigen. Erst durch das in die, zum Schreckensort gewordene, Venuswelt herüberklingende Lied Fortunatos und durch ein inständiges Gebet überwindet Florio seine Verstrickung. Ein Gedicht des fortunabegabten Sängers kommentiert zuletzt Florios Erlebnisse und projiziert sie auf die große Zeitenwende, in der Maria über Venus, das Mittelalter über die heidnische Antike obsiegte. Die poetischen Erläuterungen Fortunatos lesen sich wie eine Narrativierung der später, in den ersten Kapiteln der Poetischen Literatur, faßbaren Programmatik: Auf den buchstäblichen Ruinen der Antike erhebt sich ein ‚neues Frauenbild‘, die leblos zurücksinkende Antike weicht der heilsgewissen neuen Ära, die in die erzählte Gegenwart hinüberreicht. Mit Jean Paul gesprochen: „Die einzige Maria adelt alle Weiber romantisch; daher eine Venus nur schön, aber eine Madonna romantisch sein kann.“32 Zwei Schlüsselstellen der eben umrissenen Handlung seien mit Blick auf den späteren Literarhistoriker im Fortgang zitiert. Es sind dies der Handlungsumbruch im Venuspalast und die ihm direkt vorausgehende Selbstdeutung der Göttin als einer Gestalt, die ‚jeder schon einmal gesehen haben‘ wolle. Im Subtext des Antikenskeptikers liest sich diese Selbstzuschreibung wie ein Kommentar zur Rolle der klassischen Antike im ästhetischen Diskurs seit der Renaissance, mithin als Stellungnahme des Romantikers Eichendorff zu der und in der uralten ‚Querelle des anciens et des modernes‘: Jeder meint, die antike Schönheit selbst schon einmal gesehen zu haben. Sie ist omnipräsent, weil sie gleichsam alle ästhetischen Eindrücke und Erinnerungen bündelt und betörend auf sich lenkt, so daß Schönheit nurmehr und ausschließlich im Vergleich zu ihr bestimmbar erscheint. Da flog es ihn [sc. Florio] plötzlich wie von den Klängen des Liedes draußen an, daß er zu Hause in früher Kindheit oftmals ein solches Bild gesehen, eine wunderschöne Dame in derselben Kleidung, einen Ritter zu ihren Füßen, hinten einen weiten Garten mit vielen Springbrunnen und künstlich geschnittenen Alleen, gerade wie vorhin der Garten draußen erschienen. Auch Abbildungen von Lucca und anderen berühmten Städten erinnerte er sich dort gesehen zu haben. Er erzählte es nicht ohne tiefe Bewegung der Dame. Damals, sagte er in Erinnerung verloren, wenn ich so an schwülen Nachmittagen in dem einsamen Lust-

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Vorschule der Ästhetik §22: Wesen der romantischen Dichtkunst, Verschiedenheiten der südlichen und der nordischen, in: Jean Paul, Werke. 5.Bd. Hrsg. von NORBERT MILLER , München 1963, S. 91.

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hause unseres Gartens vor den alten Bildern stand und die wunderlichen Türme der Städte, die Brücken und Alleen betrachtete, wie da prächtige Karossen fuhren und stattliche Kavaliers einherritten, die Damen in den Wagen begrüßend – da dachte ich nicht, daß das alles einmal lebendig werden würde um mich herum. Mein Vater trat dabei oft zu mir und erzählte mir manch lustiges Abenteuer, das ihm auf seinen jugendlichen Heeresfahrten in der und jener von den abgemalten Städten begegnet. Dann pflegte er gewöhnlich lange Zeit nachdenklich in dem stillen Garten auf und ab zu gehen. – Ich aber warf mich in das tiefste Gras und sah stundenlang zu, wie Wolken über die schwüle Gegend wegzogen. Die Gräser und Blumen schwankten leise hin und her über mir, als wollten sie seltsame Träume weben, die Bienen summten dazwischen so sommerhaft und in einem fort – ach! das ist alles wie ein Meer von Stille, in dem das Herz vor Wehmut untergehen möchte! – Laßt nur das! sagte hier die Dame wie in Zerstreuung, ein jeder glaubt mich schon einmal gesehen zu haben, denn mein Bild dämmert und blüht wohl in allen Jugendträumen mit herauf. Sie streichelte dabei beschwichtigend dem schönen Jüngling die braunen Locken aus der klaren Stirn. – Florio aber stand auf, sein Herz war zu voll und tief bewegt, er trat ans offne Fenster. Da rauschten die Bäume, hin und her schlug eine Nachtigall, in der Ferne blitzte es zuweilen. Über den stillen Garten weg zog immerfort der Gesang wie ein klarer, kühler Strom, aus dem die alten Jugendträume herauftauchten. Die Gewalt dieser Töne hatte seine ganze Seele in tiefe Gedanken versenkt, er kam sich auf einmal hier so fremd und wie aus sich selber verirrt vor. Selbst die letzten Worte der Dame, die er sich nicht recht zu deuten wußte, beängstigten ihn sonderbar – da sagte er leise aus tiefstem Grunde der Seele: Herr Gott, laß mich nicht verloren gehen in der Welt! Kaum hatte er die Worte innerlichst ausgesprochen, als sich draußen ein trüber Wind, wie von dem herannahenden Gewitter, erhob und ihn verwirrend anwehte. Zu gleicher Zeit bemerkte er an dem Fenstergesimse Gras und einzelne Büschel von Kräutern, wie auf altem Gemäuer. Eine Schlange fuhr zischend daraus hervor und stürzte mit dem grünlich-goldenen Schweife sich ringelnd in den Abgrund hinunter (JEW 2, 418f.).

Zuletzt erfährt Florio traumatisch, aber im Ausgang hochwirksam, wie sehr hinter der als Inbegriff von Anmut und Schönheit gesehenen Venuswelt erst Horror sich breitmacht, dann versteinerte Starre zurückbleibt. Doch eine Deutung des Geschehens erhält er erst am folgenden Tag, jenem seiner überstürzten Abreise, durch das letzte, selbstreflexiv die gesamte Erzählung resümierende Lied Fortunatos. Dieses erst vertreibt ihm die Schatten der Nacht und leitet in die (nicht mehr erzählte) Erfüllungsphase der Heldenvita über: Die Morgenröte erhob sich indes immer höher und kühler über der wunderschönen Landschaft vor ihnen. Da sagte der heitre Pietro zu Fortunato: Seht nur, wie seltsam das Zwielicht über dem Gestein der alten Ruine auf dem Berge dort spielt! Wie oft bin ich, schon als Knabe, mit Erstaunen, Neugier und heimlicher Scheu dort herumgeklettert! Ihr seid so vieler Sagen kundig, könnt Ihr uns nicht Auskunft geben von dem Ursprung und Verfall dieses Schlosses, von dem so wunderliche Gerüchte im Lande gehen? – Florio warf einen Blick nach dem Berge. In einer großen Einsamkeit lag da altes, verfallenes Gemäuer umher, schöne, halb in die Erde versunkene Säulen und künstlich gehauene Steine, alles von einer üppig

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blühenden Wildnis grünverschlungener Ranken, Hecken und hohen Unkrauts überdeckt. Ein Weiher befand sich daneben, über dem sich ein zum Teil zertrümmertes Marmorbild erhob, hell vom Morgen angeglüht. Es war offenbar dieselbe Gegend, dieselbe Stelle, wo er den schönen Garten und die Dame gesehen hatte. – Er schauerte innerlichst zusammen bei dem Anblicke. – Fortunato aber sagte: Ich weiß ein altes Lied darauf, wenn Ihr damit fürlieb nehmen wollt. – Und hiermit sang er, ohne sich lange zu besinnen, mit seiner klaren, fröhlichen Stimme in die heitere Morgenluft hinaus: ‚Von kühnen Wunderbildern / Ein großer Trümmerhauf. / In reizendem Verwildern / Ein blüh’nder Garten drauf. // Versunknes Reich zu Füßen, / Vom Himmel fern und nah / Aus andrem Reich ein Grüßen – / Das ist Italia! // Wenn Frühlingslüfte wehen / Hold über’n grünen Plan, / Ein leises Auferstehen / Hebt in den Tälern an. // Da will sichs unten rühren / Im stillen Göttergrab, / Der Mensch kann’s schauernd spüren / Tief in die Brust hinab. // Verwirrend in den Bäumen / Gehn Stimmen hin und her, / Ein sehnsuchtsvolles Träumen / Weht über’s blaue Meer. // Und unter’m duft’gen Schleier, / So oft der Lenz erwacht, / Webt in geheimer Feier / Die alte Zaubermacht. // Frau Venus hört das Locken, / Der Vögel heitern Chor, / Und richtet froh erschrocken / Aus Blumen sich empor. // Sie sucht die alten Stellen, / Das luft’ge Säulenhaus, / Schaut lächelnd in die Wellen / Der Frühlingsluft hinaus. // Doch öd’ sind nun die Stellen, / Stumm liegt ihr Säulenhaus, / Gras wächst da auf den Schwellen, / Der Wind zieht ein und aus. // Wo sind nun die Gespielen? / Diana schläft im Wald, / Neptunus ruht im kühlen / Meerschloß, das einsam hallt. // Zuweilen nur Sirenen / Noch tauchen aus dem Grund, / Und tun in irren Tönen / Die tiefe Wehmut kund. – // Sie selbst muß sinnend stehen / So bleich im Frühlingsschein, / Die Augen untergehen, / Der schöne Leib wird Stein. – // Denn über Land und Wogen / Erscheint, so still und mild, / Hoch auf dem Regenbogen / Ein ander Frauenbild. // Ein Kindlein in den Armen / Die Wunderbare hält, / Und himmlisches Erbarmen / Durchdringt die ganze Welt. // Da in den lichten Räumen / Erwacht das Menschenkind, / Und schüttelt böses Träumen / Von seinem Haupt geschwind. // Und, wie die Lerche singend, / Aus schwülen Zaubers Kluft / Erhebt die Seele ringend / Sich in die Morgenluft.‘ Alle waren still geworden über dem Liede. – Jene Ruine, sagte endlich Pietro, wäre also ein ehemaliger Tempel der Venus, wenn ich Euch sonst recht verstanden? – Allerdings, erwiderte Fortunato, soviel man an der Anordnung des Ganzen und den noch übriggebliebenen Verzierungen abnehmen kann. Auch sagt man, der Geist der schönen Heidengöttin habe keine Ruhe gefunden. Aus der erschrecklichen Stille des Grabes heißt sie das Andenken an die irdische Lust jeden Frühling immer wieder in die grüne Einsamkeit ihres verfallenen Hauses heraufsteigen und durch teuflisches Blendwerk die alte Verführung üben an jungen, sorglosen Gemütern, die dann, vom Leben abgeschieden und doch auch nicht aufgenommen in den Frieden der Toten, zwischen wilder Lust und schrecklicher Reue, an Leib und Seele verloren, umherirren und in der entsetzlichsten Täuschung sich selber verzehren. Gar häufig will man auf demselben Platze Anfechtungen von Gespenstern verspürt haben, wo sich bald eine wunderschöne Dame, bald mehrere ansehnliche Kavaliere sehen lassen und die Vorübergehenden in einem dem Auge vorgestellten erdichteten Garten und Palast führen. – Seid Ihr jemals droben gewesen? fragte hier Florio rasch, aus seinen Gedanken erwachend. – Erst vorgestern abends, entgegnete Fortunato. – Und habt ihr nichts Erschreckliches

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gesehen? – Nichts, sagte der Sänger, als den stillen Weiher und die weißen rätselhaften Steine im Mondlicht umher und den weiten unendlichen Sternenhimmel darüber. Ich sang ein altes, frommes Lied, eines von jenen ursprünglichen Liedern, die wie Erinnerungen und Nachklänge aus einer heimatlichen Welt durch das Paradiesgärtlein unsrer Kindheit ziehen und ein rechtes Wahrzeichen sind, an dem sich alle Poetischen später in dem älter gewordenen Leben immer wiedererkennen. Glaubt mir, ein redlicher Dichter kann viel wagen, denn die Kunst, die ohne Stolz und Frevel, bespricht und bändigt die wilden Erdengeister, die aus der Tiefe nach uns langen (JEW 2, 422–426).

‚Chrono-topographisch‘ (mit Blick nämlich auf die im Ort kodierte Jahreszeit) wird die Ablösung des antiken Venusreichs auf der umwaldeten Kuppe im frühlingsamoenen, ja geradezu (obgleich unausgesprochen) artus-seligen ‚Mailand‘ verbildlicht. Es überrascht angesichts einer derart konsequenten Mediävalisierung des romantischen Kunst- und Lebensideals kaum mehr, daß Eichendorff mit seiner Venusmythe und mit der Antitypik von Venus und Maria (wohl unbewußt)33 auf eine zuerst bei dem hochmittelalterlichen Chronisten William of Malmesbury (De gestis regum Anglorum, 1124/25) belegte Legendenabwandlung des Ovidischen Pygmalionstoffs34 zurückgriff. Bei William nimmt eine lange, schon in der frühmittelhochdeutschen Kaiserchronik (um 1147) ins Deutsche transferierte Motivgeschichte35 ihren Ausgang, die bis zu Prosper Merimée (La Vénus d’Ille, 1837) und Henry James (The Last oft the Valerii, 1874) in der volkssprachigen Erzählkunst produktiv bleiben sollte. Eichendorff selbst rekurriert auf einen Passus der Denkwürdigkeiten des Barockautors Eberhard Happel, der Schauplatz, Ambiente und Handlungsablauf vorgab, im Ganzen aber als krude Gespenstergeschichte daherkommt. Der antiken Venus, der romantischen

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Brieflich teilt der Dichter über seine Quelle nur mit, es sei „eine Anekdote aus einem alten Buche, ich glaube es waren Happelii Curiositates, [welche] entfernte Veranlassung, aber weiter auch nichts gegeben“ habe (an Fouqué, 2.12.1817; zit. nach JEW 2, 758); gemeint sind die Denkwürdigkeiten des Barockpoetologen Eberhard G. Happel, und dort speziell die Geschichten Die Teuffelsche Jungfrau und Die seltzahme Lucenser-Gespenst (Abdruck in: JEW 2, S. 760– 764). 34 Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. In dt. Hexameter übertragen und mit dem Text hrsg. von ERICH RÖSCH, München 1961, S. 370–373 (=Buch X, v. 243–297). Zur neuzeitlichen Wirkungsgeschichte vgl. im Überblick ELISABETH FRENZEL : Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 8., überarb. und erw. Aufl. Stuttgart 1992, S. 659–661. 35 In der Kaiserchronik heißt der der Statue verfallende Jüngling Astrolabius; motivverwandt inseriert ist im gleichen Werk unter Kaiser Julian die Legende, in der eine Marmorstatue des Gottes Merkur die Hand des Kaisers ergreift und so lange festhält, bis er dem Christengott abschwört. Vgl. zur Herkunft und Entwicklung der beiden ‚Sagenlegenden‘ ERNST FRIEDRICH OHLY: Sage und Legende in der Kaiserchronik. Untersuchungen über Quellen und Aufbau der Dichtung. 2. Aufl. Darmstadt 1968, S. 204–210 bzw. 172–174.

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Bildtopik auch sonst vertraut als Verkörperung der dämonischen Untiefen, der heillosen Liebesverstrickung und überhaupt der Nachtseite romantischer Existenz (man denke an den Topos vom Venusberg), tritt hier nun entschieden das heilszugewandte Kontrastbild entgegen, das kein Artefakt und kein Trugbild mehr ist und dem Geschehen unmittelbar die Dichotomie von Antike und Mittelalter unterlegt: Venus, Maria – und deren (gewiß nicht im streng typologischen Sinne) ‚Postfiguration‘ Bianca. Was im Marmorbild, ansatzweise auch bereits im Taugenichts und in den Glücksrittern, vielschichtiger zudem in Ahnung und Gegenwart,36 als poetische Fiktion erörtert wird, findet sich entpoetisiert und radikalisiert im literarhistorischen ‚Alterspamphlet‘ wieder. Die dort kritisierte, marmorhaft „überfeinerte Kunstdichtung“ der Alten37 hat mit dem „alten und frommen Lied“, das der „redliche Dichter“ zur Abwehr der „wilden Erdengeister“ empfiehlt, nichts zu schaffen, sowenig wie die Sänger der deutschen Frühe für den Literarhistoriker des marmornen Regelkorsetts und der überzüchteten Finesse der Antiken und ihrer Adepten bedurften. Denn „ihre Dichterschule“, d. h. die der mittelalterlichen ‚Romantiker‘ ante verbum, „war das Leben“.38 2.4. Das Mittelalter: Projektions- oder Verwirklichungsraum ‚progressiver Universalpoesie‘? Als progressive Universalpoesie bezeichnete Friedrich Schlegel eine Poesie, die ‚immer im Werden‘ ist, Gattungs- und künstlerische Disziplinengrenzen nicht respektiere und in der Theorie und Praxis zumindest der Frühromantik das Unfertige und Unbestimmte bevorzugt. Den Apologeten dieser Poesie ging es darum, die getrennten Zweige der Kunst wiederzuvereinigen und die Zeit der Entfremdung zwischen Kunst und Realität (‚Leben‘) zu beenden. Makrostrukturell favorisiert, ja provoziert diese Grundausrichtung bekanntlich Gattungshybride, die, oft fragmentarisch, lyrische, dramatische und epische Formen im Roman (als romantischem ‚Buch‘ schlechthin) zusammenführen; mikrostrukturell generiert sie ‚entgrenzende‘ poetische Texturen, Synästhesien, Arabesken. Das Universale aber rührt ans Transzendente, an das unsagbare Göttliche, das der Dichter ab-

36 So in der Konstellation der schönen Heidin, die eine Prinzessin im verfallenen Waldschloß besingt, und ihrer mariologischen Kontrastfigur Rosa; vgl. Erläuterungen und Dokumente: Joseph von Eichendorff, Das Marmorbild. Hrsg. von H ANNA H. M ARKS, Stuttgart 1984, S. 52. 37 JEW 6, S. 828. 38 JEW 6, S. 829.

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glanzhaft ins Auge faßt. Glauben und Dichten, Religion und Kunst konvergieren in jenem ‚Höchsten‘, das, mit Friedrich Schlegel, „eben weil es unaussprechlich ist, nur allegorisch“ gesagt werden kann. Für Eichendorff aber bedeutet das Schlagwort der ‚Universalpoesie‘ zugleich und im eigentlichen Wortsinn ‚allumfassend‘, will heißen: ganzheitlich und (sensu etymologico) katholisch.39 Diese doppelte Semantik und die aus ihr resultierende, mit den Stichworten progressiv, universal, transzendental umrissene Poetik sieht Eichendorff in der höfischen Kunst des Mittelalters vorgeprägt. Der weltlich-‚ritterlichen‘ Dichtung vornehmlich der Stauferzeit ist als Kern des Mittelalterteils seiner poetischen Literatur das 3. Kapitel gewidmet, und auch hier profiliert sich der normgebende Anspruch in eigener Sache aus dem epochalen Kontrast zur glatten, anbiedernden Sinnlichkeit antiker Statuenschönheit. Die Grunddifferenz markiert wie in der einschlägigen Erzählung die Rückbindung im Religiösen. Als aber das Christentum das irdische Dasein in geheimnisvollen Rapport mit dem Jenseits gesetzt und jene zerstreuten Ahnungen als vorzugsweise berechtigt in Einen leuchtenden Brennpunkt zusammengefaßt hatte, so entstand auch sofort eine entsprechende Poesie des Unendlichen, die das Irdische nur als Vorbereitung und Symbol des Ewigen darzustellen suchte. Diese christliche Poesie ist daher übersinnlich, wunderbar, mystisch, symbolisch; und das ist eben der unterscheidende Charakter des Romantischen. Die sogenannte klassische Poesie der Alten verhält sich zu der romantischen ungefähr wie die Plastik zur Malerei. Dort die Schönheit der menschlichen Gestalt versteinert, und das tote Auge; hier das rätselhafte Spiel des Lichts in wunderbaren Farben, und das lebendige Auge, durch das man in die geheimnisvollen Abgründe der Seele schaut. Wahrheit ist in der alten wie in der romantischen Poesie, aber dort die sinnliche, endliche; hier eine übersinnliche, überirdische Wahrheit. Daher macht die praktische Sicherheit, heitere Genüge und abgeschlossene Vollendung jener alten Poesie überall den befriedigenden Eindruck eines in ihrem beschränkten und klarumschriebenen Kreise fertigen Ganzen, wie denn auch wirklich seit den Griechen weder in der Plastik noch in der antiken Dichtung, trotz aller Vorliebe und Anstrengung, etwas Besseres oder auch nur Neues erfunden worden ist. Das eigentliche Wesen aller romantischen Kunst dagegen ist das tiefe Gefühl der Wehmut über die Unzulänglichkeit und Vergänglichkeit der irdischen Schönheit, und daher eine stets unbefriedigte ahnungsreiche Sehnsucht und unendliche Perfektibilitat. Ihr ernster Geist ist, wie schon oft bemerkt, am deutlichsten in der sogenannten gotischen Baukunst ausgeprägt, wo die Gedanken mit allem irdischen Blütenschmuck aus der Tiefe sehnsüchtig zum Kreuze emporpfeilern in kühnen Bogen und Münstern, die fast niemals fertig geworden. Derselbe Geist [aber] hat auch das Rittertum geschaffen, auf dem die christliche Poesie des Mittelalters ruht (JEW 6, 838f.; Kursivierung: M.H.).

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Vgl. K REPOLD (wie Anm. 11), S. 64.

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Nur en passant sei daran erinnert, daß die Epoche der Romantik auch den mediävistischen Literatur-, Geschichts- und Rechtswissenschaften das Feld bereitete. Ausgangs- und Fluchtpunkt dieser sich neu konstituierenden und bald universitär institutionalisierenden Disziplinen war das deutsche Mittelalter, das Reich von Karl dem Großen bis Barbarossa und Maximilian, das im (zeitgleich gehobenen) Sagen- und Mythenschatz des ‚Volkes‘ so nachhaltig resonant blieb. Auch die Germanistik löste sich in jener Epoche begrifflich aus dem ursprünglich rechtswissenschaftlichen Bestimmungskontext und etablierte sich neben der seit Humanistentagen verankerten klassischen Philologie – die damit zur ‚Alt-Philologie‘ wurde – als Wissenschaft von der germanisch-deutschen Sprache, Schriftkultur und Poesie. Am Beginn stehen – Tribut auch an die geforderte Universalpoesie – bemerkenswerte ‚Doppelbegabungen‘, Künstlerphilologen und Poeteneditoren wie Ludwig Tieck, Ludwig Uhland, die Brüder Grimm oder Heinrich Hoffmann von Fallersleben. Für Quellenforscher und Historiker wiederum wurde jenes lange verleugnete oder radikal diffamierte medium aevum zeitgleich zur Blüte- und Projektionszeit einer noch ungeteilten europäischen und nationalen Identität. Das Großunternehmen der Monumenta Germaniae Historica, hervorgegangen aus der schon 1819 vom Reichsfreiherrn vom Stein gegründeten ‚Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde‘, sollte die Epoche in ihren authentischen Dokumenten revitalisieren und zugleich, vier Jahre nach der von vielen der neuen ‚Mediävalisten‘ als unzureichend empfundenen Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongreß, der Gegenwart historische Wegweisungen vermitteln. Hier knüpfen Eichendorffs Einschätzungen an, nun freilich bereits aus der markanten Distanz vierer Jahrzehnte und durch den Katholizismus des Autors wie durch die Folgen der gescheiterten Revolutionen von 1848/49 vom literarischen Vormärzliberalismus eines Gervinus geschieden. Im Gefolge Friedrich Schlegels, der im Historiker den „rückwärtsgewandten Propheten“ pries,40 erschöpft sich Eichendorffs Blick nicht in der Retrospektive, sein Ziel nicht in bloßer Restauration. Schon hinter Novalis’ Konzeption des christlich-universalistischen Mittelalters als einer goldenen Zeit, der zuerst die Reformation, dann die ihr geistesverwandte Aufklärung den Garaus gemacht hätten, stand weniger reaktionäre Nostalgie als eine utopische Vision, die die Option gesteigerter Neuanverwandlung implizierte. Der Verlust der vormodern-vorreformatorischen Einheit, welcher 40 Vgl. ähnlich auch A DAM MÜLLER am Ende seiner achten Vorlesung über die deutsche Wissenschaft und Literatur (1806; Dr. 1807), der „wahre Geschichtsschreiber“ sei „Prophet und Historiker zugleich; gehorsames Kind der Vergangenheit, weil er die Zukunft väterlich beherrschen will“: Vorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur. Mit einem Vorwort hrsg. von A RTHUR SALZ , München 1920, S. 150.

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Spezialisierung, Differenzierung, Parzellierung in allen Bereichen nach sich zog, findet zur Aufhebung in einer höheren Einheit, die nicht Rückkehr, sondern Neubeginn im Rückgriff auf das lange verkannte Erbe ist oder sein soll. Rückgriff meint aber auch die forcierte Wiederentdeckung mittelalterlicher Stoffe, Genera, Stilformen und Poetologeme als lebendiges Erbe – Mittelalterrezeption also als Gegenwartsdeutung und Zukunftsbewältigung. Eichendorffs verspätete Programmschift und Apologie der romantischen Bewegung sieht dies nicht anders als früher Novalis oder die Brüder Schlegel, nur daß sie deren Ideale im Humus literarhistorischer ‚Realität‘ zu verwurzeln und aus ihr solider zu begründen versucht. Ihr nicht allein und nicht schlechthin religiöser, sondern national- und ‚volkspoetischer‘ Ansatz erklärt denn auch, daß der Verfasser dem ‚ungetauften‘ Mittelalter der Germanen und Nordmannen so unverhohlen Respekt zu zollen vermochte, während er im gleichen Atemzug für die spätantike ‚Taufe‘ der Antikenkultur so eklatant wenig Hochachtung, gar Sympathie hegen konnte – und dies beides, wohlverstanden, in einer dezisiv katholischen Streitschrift. 2.5. Der romantische Blick, oder … … die mediävalisierte Antike Es liegt durchaus in der Konsequenz solcher primär poetischen Rangabstufungen, die sich dem Religionskalkül zwar nicht entziehen, es aber auch nicht zum alleinigen Maßstab erheben, wenn Eichendorff der vorhumanistischen, mittelalterlich-entdifferenzierenden Antikenaneignung – anders als jener der eigenen Epoche – poetische Qualität und geradezu Vorbildcharakter für einen genuin romantischen Umgang auch mit dem antiken Erbe zuweist. Eichendorff referiert hier auf die bekannte Trias der Stoffe um Troja, Aeneas und Alexander, die das volkssprachige Mittelalter so vorurteilsfrei schätzte und sprachübergreifend unentwegt retextualisierte. Gerade daß sie nicht aus den großen „klassischen Originalen“, sondern aus allerlei Derivaten und mündlichen Sagen schöpfen, machte ihm diese ‚Wiedererzählungen‘ wertvoll; gerade daß sie die kulturgeschichtliche Kluft von anverwandelter und anverwandelnder Epoche so unverkrampft einebneten, verlieh ihnen höchste Dignität. …welch’ ein innrer Abstand dieser Gedichte von unserer modernen Auffassung des Altertums! Während in unseren heutigen Nachbildungen das Christentum, gleichsam verlegen, geblendet und beschämt, in der heidnischen Schönheit bis zur Abgötterei aufzugehen pflegt, schreitet dort der Glaube noch geharnischt und

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unangefochten mitten durch die schöne Fremde, die verlockenden Fernen als eine neue Provinz sich erobernd (JEW 6, 860).

Zum Kronzeugen dieser Würde erhob Eichendorff ausgerechnet den frühen, von gleichzeitigen Literarhistorikern eher einer ungeschlachten ‚Vorhöfik‘ zugewiesenen Alexanderroman des Pfaffen Lambrecht (hier in der Straßburger Fassung, die den Stoff ins Orientalisch-Abenteuerliche und Anekdotisch-Arabeske hin weitet). Während bis heute den mediävistischen ‚Klassizisten‘ viel eher Veldekes Eneas beeindruckt – wie übrigens auch schon den mediävalen ‚Klassizisten‘ Gottfried von Straßburg –, findet der Romantiker in diesem metrisch-formal noch wenig elaborierten, aber von exotischen Tableaus viel stärker durchsetzten Vorläufer- und Wegbereiterwerk41 all das vorgeprägt, was ihn selbst intrigierte. Es kommt nicht von ungefähr, daß sich das Lob explizit und mit exklusivem Zitat auf die in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen poetisch revitalisierte, wehmütiganmutige Begegnung des Makedonenherrschers mit den Blumenmädchen kapriziert: Am leuchtendsten tritt dieser Charakter grade in dem schönsten und bedeutendsten dieser Gedichte, in dem Alexander des Pfaffen Lamprecht, hervor. Hier haben wir, anstatt der antiken Ruhe und Selbstgenüge, das überall durchtönende Gefühl von der Vergänglichkeit aller irdischen Größe und Schönheit, und daher die Wehmut, das immer weiter und höher strebende Sehnen und zuletzt die Demut, die der Kraft so wohl ansteht. [...] Wie morgenkühl und taufrisch ist da in dem Briefe, in welchem Alexander seinem Lehrer Aristoteles die ihm zugestoßenen Abenteuer beschreibt, der Wunderwald geschildert, wo beim Rauschen der Wipfel zwischen rieselnden Quellen und Vogelsang hohe duftige Blumen stehen, deren halbaufgeschlossenen Knospen wunderschöne Mädchen entsteigen und ihren lieblichen Gesang mit dem der Waldvögel vermischen. Aber der Sommer gehet dahin: ‚die Blumen all verdarben, die schönen Mägdlein starben, ihr Laub die Baume ließen, die Brunnen all ihr Fließen, die Vögelein ihr Singen – die Freuden all zergingen‘ (JEW 6, 861).

Diese Antike, dieses Antikenbild ist romantisch, mithin poetisch, gerade weil nur die apokryph überformten Stoffe, nicht Stil- oder Konzeptionsmerkmale antiker Prägung sind. Umgekehrt machen entsprechende Stil- und Ideenmerkmale auch stofflich und zeitlich genuin Mediävales zu Kronzeugen des antik Depravierten, wie komplementär Eichendorffs Blick auf den Straßburger Meister Gottfried und seinen Tristan zeigt.

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Eine moderne zweisprachige Ausgabe liegt vor in: Pfaffe Lambrecht: Alexanderroman. Mhd./Nhd., hrsg., übers. und kommentiert von ELISABETH L IENERT, Stuttgart 2007.

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… Antikisch Deformiertes (auch) im Mittelalter: Gottfried versus Wolfram Des Literarhistorikers Reserve gegenüber der Kunst der Antike, die sich aus vielen Kritikpunkten speist – religiöse Indifferenz (vorchristlich) oder Überzüchtung (christlich-byzantinisch), Starre, Perfektion und Geschlossenheit statt Dynamik im Werden, frivole Erotik statt reiner Liebe (man ist fast versucht zu sagen: statt hoher Minne) –, präjudiziert nämlich durchaus auch Vorbehalte und Vorurteile innerhalb der mittelalterlichen Überlieferung selbst. So mißbilligt, ja verabscheut Eichendorff nicht von ungefähr gerade das, was der Antipode Heinrich Heine in seiner Romantischen Schule besonders hoch taxierte; so schätzt wiederum er hoch, was jener als obskur abtat. Gewissermaßen prototypisch läßt sich hier auf Gottfried von Straßburg und seinen Tristan verweisen, dem Eichendorff relativ breiten Raum gewährt.42 Es ist durchaus kein Zufall, wenn mit dem Torso des Straßburger meisters gerade der antiker und gegenwärtiger Kunstauffassung wohl affinste Roman der stauferzeitlichen ‚Klassik‘ wenig Gnade vor den streng richtenden Augen des Romantikers findet, die in ihm nur ein Menetekel der Verirrungen der eigenen Gegenwart sehen mochten. Eichendorff gelangt zu dem (aus seiner Sicht) vernichtenden Urteil, der um 1210 verfaßte Roman sei Ausdruck eines „mehr oder minder verhüllten Protestantismus“ und bringe – in schärfstem Kontrast zum alles Weltliche transzendierenden Gralsdichter Wolfram übrigens – voller Lust und destruktiver Laune eine „in moralischer Beziehung vollkommen verkehrte Welt zu Tage“: In seinem berühmten Gedichte Tristan und Isolde kehrt er gradezu den Parcival [Wolframs von Eschenbach] um, mit offenbar feindseliger Absichtlichkeit geschäftig, den hehren Bau, den Wolfram aufgeführt, zu untergraben und niederzureißen, um über dem Schutte zwischen prächtigen Giftblumen für die irdische Genußseligkeit der emanzipierten menschlichen Natur einen bequem gemütlichen Lustgarten anzulegen. Wir sind weit davon entfernt, die Poesie mit unzeitigem Rigorismus einzig nach der kurzen moralischen Elle messen zu wollen; allein hier handelt es sich nicht mehr um Moral, sondern um Vernichtung von Religion, Tugend, Ehre und Allem, was das Leben groß und edel macht. Hier wird zum erstenmal das, in allen späteren Romanen bis zum Ekel wiederholte, Dogma von der unbedingten Geschlechtsliebe verkündigt, welcher alles Andere untertänig weichen und die ganze Welt nur zu würdigem Aufputz und Zierat dienen soll. [...] Wie schade um so viel Schönheit, die hier an das absolut Häßliche verschwendet ist, um diese scharfe und tiefwahre Charakteristik des Lasters, um so viel bewundernswerte Gewandtheit und Anmut, die, wie ein lieblicher Strom, Alles in ihre melodischen Zauberwirbel hinabzieht! (JEW 6, 876f.; Kursivierungen: M.H.)

42 Vgl. JEW 6, S. 876–879.

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Schlimmer noch: Es zog Gottfried mit dieser ‚giftigen Anmut‘ ganze Schülergenerationen heran – wobei doch überraschend erscheint, unter den dergestalt Kontaminierten dann namentlich Rudolf von Ems und Konrad von Würzburg erwähnt zu finden, die wohl den Stil, doch kaum die angeblich „laxe weltmännische Lebensansicht“ Gottfrieds adaptierten, kaum auch Sage und Heroik links liegen ließen, um sich am „[G]ewöhnlichen, ja [G]emeinen“ zu weiden und „das Kleine groß“ zu machen.43 Der Vorwurf trifft hier Dichtergrößen, deren Hauptwerke Legenden, Antikenromane und Geschichtsdichtungen sind – das Gegenteil mithin des ‚Kleinen, Gemeinen, Gewöhnlichen‘, und dies in der Lesart des Mittelalters und Eichendorffs gleichermaßen! (Erst später weitet sich der Vorwurf auch auf Heinrichs von dem Türlîn „schamlose“ Krone und manch anderes, bei dem wiederum Gottfrieds Stileinflüsse nicht mehr recht triftig erscheinen.) Natürlich, so mag man, zu Gottfried zurückkehrend, konstatieren, konnte der am längsten verkannte44 Dichter der ‚Blütezeit‘ um 1200, gleichsam ein Wieland seiner Tage, dem Apologeten einer national-volkstümlichen und katholischen Poesie nicht behagen. Der Stoff ist (was indes, seltener registriert, auch für Wolframs Gralsepos gilt) zunächst, ganz basal, ‚welscher‘, d. h. romanischer Herkunft; doch auch die Bearbeitung galt ihrer gesamten Machart nach lange mit einer gewissen Topik als Ausgeburt ‚welscher‘ Kasuistik, während die Gralswelt als Ausfluß mystischer Tiefe und sittlichen Ernstes stets gegenläufig ‚germanische‘ Aneignungen provozierte – und dies durch Verklärer und Verächter gleichermaßen.45 Gottfried zelebrierte für Eichendorff, was die Religion stets mit Gründen verdammte. Jene Aura von Ambiguität, die schon den Stoff, dann namentlich Gottfrieds Gestaltung umgibt, entzieht sich in Eichendorffs Augen jeder rein ästhetischen Bewertung: Wer bzw. was in solch schöner Vollendung das Laster feiert, ist dem Romantiker nicht mehr mittelalterlich und deutsch, sondern (unabhängig vom Entstehungstermin) antikisch, heidnisch, fremd. Das Kalokagathie-Prinzip mittelalterlicher Epik leitet hier unbewußt auch den Kommentator: Innere Schönheit bedingt äußere vice versa; was folglich innerlich verderbt ist, kann auch äußerlich nicht zu preisen sein.

43 JEW 6, S. 879. 44 Vgl. hierzu JOHANNES DICKHUTs Beitrag in diesem Band. 45 Zu den signifi kant kontrastiven Verortungen Gottfrieds und Wolframs bei Heine und Eichendorff vgl. kursorisch A LFRED R IEMEN : Heines und Eichendorffs literarhistorische Schriften. Zum geistesgeschichtlichen Denken in der Restaurationszeit. In: ZfdPh 99 (1980), S. 532–559, hier 540f., mit der Quintessenz: „Beide [Heine und Eichendorff] stimmen in der Charakteristik überein und ziehen die gleichen Konsequenzen, jedoch mit entgegengesetzten Wertungen“ (541); dieser Befund wird sich im Schlußabschnitt in veränderter Perspektive bestätigen.

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3. Mittelalter und Romantik: Kontinuitätsversprechen oder ‚verbrauchtes Rüstzeug‘? 3.1 Der Romantiker und sein Mittelalter: Ein Zwerg auf den Schultern von Riesen Für die Selbstdefinition der Romantik insgesamt – und keineswegs nur für die, die Eichendorff (im Grunde schon retrospektiv) literarhistorisch ‚archivierte‘ –, spielen Topoi und Imaginationen aus dem Mythos und der Erzählwelt der ‚mittleren Zeit‘ eine bedeutende Rolle. In mitunter wörtlichen Zitaten aus seiner Lyrik beschreibt Eichendorff die romantische Epoche als eine „Feenzeit, da [...] das wunderbare Lied, das in allen Dingen gebunden schläft, zu singen anhob, wie die Waldeinsamkeit das uralte Märchen der Natur wieder erzählte, von verfallenen Burgen und Kirchen, die Glocken wie von selbst anschlugen, und die Wipfel sich rauschend neigten, als ginge der Herr durch die weite Stille, daß der Mensch in dem Glanze betend niedersank“; die ersten Romantiker werden, im Bildbereich bleibend, zu feurig begeisterten „Rittern des Christentums wider den herrschenden Rationalismus“ geschlagen, ganz in der Nachfolge der Kreuzritter, die für Eichendorff nicht Glaubenskrieg und religiöse Unbedingtheit, sondern Freiheit und Heldenmut verkörpern.46 In der Bewertung der hier avisierten Epoche liegt die aktuelle Wasserscheide, auf die es dem Dichter eigentlich ankommt: Die schon in grauer Vorzeit schlummernden Keime jenes romantischen Geistes aber sind vorzüglich durch die Kreuzzüge geweckt und lebendig geworden; ja diese zweite Völkerwanderung [...] ist schon an sich ein durchaus romantisches Weltereignis. [...] Heldengestalten, die nur dem König aller Könige dienen mögen, schreiten mit Schwert und Fahne voran, und eine neue Welt, von der die Abendländer schon längst sehnsüchtig geträumt, steigt mit ihren Palmen, Elfen, Sagen und Geschichten märchenhaft auf. Es ist das idealisierte Abenteuer, das kühn an den Himmel geknüpfte Heldentum, der belebende Frühlingssturm des jungen Christentums, kurz: eine Zeit, die wir heutzutage als unbegreifliche Dummheit und Phantasterei in die beliebte Rumpelkammer des dickfinsteren Mittelalters werfen, und deren Helden wir unbedenklich in’s Irren- oder Arbeitshaus zu heilsamer Kur und Besserung verweisen würden. Wir haben gewiß von unserem Standpunkt eben so Recht, als jene Zeit von dem ihrigen, es handelt sich dabei eben nur darum, welches der wahrere und höhere Standpunkt sei (JEW 6, 847).

46 Zur Geschichte der neuern romantischen Poesie in Deutschland, in: JEW 6, S. 13–60, hier 29f. (beide Zitate).

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Die Ambivalenz freilich, in der eigene Zeit (einschließlich, wohlgemerkt, ihrer romantischen Strömung) und ‚christliches‘ Mittelalter – mit hinsichtlich der Feen- und Zauberwelt auch pagan-pantheistischen Einschlägen! – hier kurzgeschlossen und gekoppelt erscheinen, offenbart auch die in Eichendorffs Erzählwelt rekurrente Verfallsphänotypik: Das Vergangene ist vergangen, es ist nicht schlechterdings wiederzubeleben, selbst wenn dies irgend möglich wäre. Burgen und alte Kirchen sind und bleiben Ruinen, und auch die ‚alten Lieder‘ bedürfen zwingend der romantischen Wünschelrute, die sie neu zum Erklingen bringt. Noch der letzte Absatz von Eichendorffs Literaturgeschichte evoziert denn auch die Haltung des ‚Zwergs auf den Schultern von Riesen‘, der sich auch dem verehrten Vorbild zuletzt doch überlegen weiß:47 „Das verbrauchte mittelalterliche Rüstzeug“ und die „mystische Überschwenglichkeit“ der Ära hinter sich überwunden sehend, dient sie ihm eher als Mittel der Positionsbestimmung und polemischen Abgrenzung (namentlich von den Antike-Apologeten inner- und außerhalb der ‚romantischen Schule‘) denn als Zweck und Interessenfeld an sich. Doch ändert dies nichts daran, daß die beiden Referenzepochen antiker Klassik und mittelalterlicher ‚Vor-Romantik‘ dem Poeten wie dem Literarhistoriker unvereinbar erscheinen. Es ist ein idealisiertes, selektives Mittelalter (das etwa die hellenistische Alexandertradition ein-, Gottfrieds Tristan und Vergleichbares gleichzeitig ausgrenzt) – doch wo immer Eichendorff in den Eingangskapiteln und in den Programmpartien seines Schlußwerks auf die beiden Pole zu sprechen kommt, sieht er sie so agonal wie ihre jeweiligen Apologeten unter den Nachlebenden. Den von anderen, vor allem den frühen Romantikern (wie den Brüdern Schlegel) durchaus programmatisch adaptierten Ansatz, beide Stränge der poetischkünstlerischen Vergangenheit konstruktiv zu verbinden, sieht Eichendorff daher a priori zum Scheitern verurteilt – was nicht zuletzt auch die klare Absage an Goethes Faust II in seiner Geschichte des Dramas offenbart: Es sei zwar noch hinzunehmen, wenn Gott, der aber hier eigentlich nur ein Symbol der Natur ist, diesen aristokratisch gebildeten Faust zu Gnaden aufnimmt, während seinen plebejischen Namensund Sagenvetter [im frühneuzeitlichen Volksbuch] ohne Weiteres der Teufel holt. Das einzige Anomale dabei ist nur der schlüßliche und völlig verunglückte Versuch, diese wesentlich antike Naturreligion romantisch-allegorisch christianisieren zu wollen (JEW 6, 744).

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Auch dies ist ein genuin mittelalterliches, wohl aus dem Umfeld der Chartreser Scholastik stammendes, mitunter konkret Bernhard von Chartres zugeschriebenes Bild.

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Konsequenterweise ist, wo Eichendorff – bemerkenswert genug – sich einmal selbst zumindest stofflich auf das dünne Eis der Antike begibt wie in den beiden späten Versepen Julian (1852) und Lucius (1857),48 das Antike das Unromantische und Unpoetische schlechthin: blutrünstige Gewalt und frivole Erotik, Machtgier und Opportunismus, Apostasie – dazu gegenbildlich das Martyrium derer, deren Kultus und Kultur die bessere Zukunft gehört. Selbst lichtere Gestalten wie (im Lucius) Nerva, der sich gegen seinen tyrannischen Vorgänger verschwört, unterliegen der Versuchung durch Macht und Gewalt, während das Heldentum Lucius’ einzig im letzten Entschluß besteht, den zukunftsweisenden Glauben selbstlosentschieden anzunehmen. Julian aber vermählt sich in Rekurrenz des Motivs aus dem Marmorbild einer antiken Venusstatue, indem er ihr seinen Ring an den kalten Finger steckt, was der dritte Gesang so wiedergibt: Denn zwischen dem verwitterten Gesteine, / Den schönen Leib umrankt von Blumen wild, / Stand geisterhaft im bleichen Mondenscheine / Fernab manch halbversunken Götterbild. Brünstig umschlungen hatt der Lenz das eine, / Man sah’s vor purpurroten Rosen kaum, / er hieb sich durch’s Geflecht von wildem Weine, / Und stand erschreckt – ‚Dich sah ich oft im Traum! Sei Roma, Venus – mahnend mir erschienen, / Ich grüß als Braut dich!‘ und vom Finger wand / Er eines Ringes funkelnden Rubinen, / Steckt ihn dem Liebchen an die kalte Hand. Da war’s, als ob ihr Auge sich bewegte, / Leis flüsterte der alten Ulmen Rund / Und wie aus Träumen Bild auf Bild sich regte – / Er floh entsetzt, ihn graut aus Herzensgrund (JEW 1, 609).

Die Motive Erotik, Weltlust, Macht- und Selbstvergottung konvergieren hinter diesem ‚Verlöbnis‘, wobei sich zur tradierten Semantik des Topos das Teufelsbündnermotiv gesellt.49 Der Exponent antik-klassischen Heidentums wird zum Bruder im Geiste des späteren Doktor Faustus, dessen weibliche Namensform Faust(in)a – nicht ohne vereindeutigende Penetranz – bezeichnenderweise die menschliche Emanation der Venus im Versepos trägt. Doch Julians anachronistisch gewordene, sich längst überlebte Antike endet rascher, als selbst die Realhistorie es verlangte: Ihr Garant wird ahistorisch in ritterlichem Zweikampf von seinem christlichen Gegenspieler Severus erschlagen. Schon vor ihm aber war das heidnische Sinnenreich der Venus-Faust(in)a untergegangen, wobei hier das Schicksal des Venuspalastes im Marmorbild eindrucksvoll nachhallt:

48 Ausgabe: JEW 1, S. 605–646 bzw. 677–711. 49 Hierzu auch M ARKS (wie Anm. 36), S. 57f.

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Verfallen aber, halbversunken / Lag Fausta’s luft’ges Säulenhaus, / Giftblumen wuchsen traumestrunken / Aus allen Trümmern wild heraus. Sie selbst schlief auf den Marmorschwellen, / Verlöscht der muntre Augenschein, / Erstarrt der schönen Glieder Wellen, / Ihr Angesicht streng wie von Stein. Dem Ritter [sc. Octavian, Severus’ Sohn] graut’ vor ihren Wangen, / Er sann, und wußt’ nicht, wo er ist, / Doch wie er aufsprang, schlüpften Schlangen / Grüngolden züngelnd in’s Genist. Entsetzt in dieser öden Schwüle / Durchirrt’ er nun den Trümmerhauf, / Und atmet’ in der Waldeskühle / Erst wieder tief und freier auf… (JEW 1, 629).

Berücksichtigt man, daß dieses ‚antikische‘ Epos in einer langen mittelalterlichen Stofftradition steht (in der gleichen, nebenbei, wie das motivparallele Marmorbild)50 und sich in seinen raffiniert wechselnden Versmaßen nachgerade leitmotivisch auch der Nibelungenstrophe bedient,51 so wirkt der ganze Text ungeachtet des antiken Erzählplots „wie ein altdeutsches Heldengedicht. So ähnlich haben mittelalterliche Dichter aus Alexander dem Großen einen germanischen Heerführer gemacht.“52 Vielleicht bietet die Mediävalisierung der Antike im 12./13. Jahrhundert, die Eichendorffs Abschnitt über die mediävale Antikenepik selbst reflektiert, tatsächlich den probaten Vergleichsmaßstab oder Referenzrahmen für die Romantisierung des Mittelalters im ‚langen‘ 19. Jahrhundert. In jedem Fall aber haben beide Verfahren in Intention wie Ergebnis viel miteinander gemein. 3.2. Neben- und Gegenstimmen: Interdependenzen von Antikenund Mittelalterbild im Epochenkontext Nur ein Seitenblick ist in diesem Rahmen noch möglich und nötig auf im Epochen- und Zeitumfeld Eichendorffs liegende Alternativansätze, die alte ‚Querelle‘ zwischen Antikisten und Modernisten neuzubeleben. Auf Novalis und seine Streitschrift Die Christenheit oder Europa (1799) muß hierbei am wenigsten eingegangen werden; ihr Konzept und ihr Duktus sind hinlänglich bekannt. Für die Brüder Schlegel, namentlich für den ‚Leittheore50 Zu nennen sind, als deutschsprachiger Erstbeleg, die frühmittelhochdeutsche Kaiserchronik (vgl. Anm. 35), sodann Hans Sachs und der Meistergesang, Happels Denkwürdigkeiten u. a.m. (vgl. schon oben zum Marmorbild). Einblicke in die Stoffgeschichte bietet R ICHARD FÖRSTER : Kaiser Julian in der Dichtung alter und neuer Zeit. In: Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte 5 (1905), S. 1–120; im Überblick auch FRENZEL (wie Anm. 34), S. 402–405. 51 Dies besonders exponiert in den Rahmenabschnitten (I, XVII), daneben in IV, VII, IXf. u. XIVf. Zur metrisch-strophischen Struktur im Ganzen vgl. JEW 1, S. 1183f. (Kommentar). 52 JAKOB BAXA : Eichendorff und die Antike. Ein Beitrag zur Geschichte der Romantisierung des Klassischen Altertums. In: Aurora 15 (1955), S. 20–24, hier 23.

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tiker wider Willen‘53 Friedrich Schlegel, stand die Vorbildlichkeit auch der Antike in allen Belangen der Kunst und Literatur hingegen nie in Frage. Indes galt letzterem auch in den Künsten das Postulat steter Veränderung, das die Formel der ‚progressiven Universalpoesie‘ impliziert, als Leitziel – und jedes Festhalten am (noch so gelungenen) Urbild demgegenüber als unproduktive Starre: „Thesis. Es soll Urbilder geben[.] Antithesis. Es soll keine geben; die Kunst soll ewig fortschreiten. Antinomie des Classischen und Progressiven.“54 Der Hochschätzung der griechischen Poesie (bei gleichzeitigem Abstiegsverdacht gegenüber der römischen) korrespondiert insofern eine solche des ‚romantischen Neubeginns‘, der für Friedrich Schlegel noch ganz vor-national mit dem volkssprachig-germanischen und romanischen Mittelalter einsetzt.55 Dieser gewissermaßen ersten Romantik schrieb Schlegel als nicht geringstes Verdienst auch die Vermittlung der Poesie des Morgenlandes zu (vgl. oben, Anm. 29) – mit gutem Recht, wie sich bis heute erwies. Zumindest hier klingt der spätere Eichendorff bereits an, freilich eben noch nicht in seiner anti-antiken Exklusivität: Mit den Germaniern strömte ein unverdorbener Felsenquell von neuem Heldengesang über Europa, und als die wilde Kraft der gotischen Dichtung durch Einwirkung der Araber mit einem Nachhall von den reizenden Wundermärchen des Orients zusammentraf, blühte an der südlichen Küste gegen das Mittelmeer ein fröhliches Gewerbe von Erfindern lieblicher Gesänge und seltsamer Geschichten, und bald in dieser bald in jener Gestalt verbreitete sich mit der heiligen lateinischen Legende auch die weltliche Romanze, von Liebe und von Waffen singend.56

Bei Friedrichs Bruder August Wilhelm Schlegel verschieben sich die Gewichte insofern etwas stärker zulasten der (gleichwohl klassisch-verbindlich gesehenen) Antike, als diese nun explizit als ‚sistiert‘, d. h. als abgeschlossen und in sich vollkommen, mithin dem romantischen Postulat nach als ‚nichtprogressiv‘ gewertet ist.57 Für die beiden Ausprägungen der „romantische[n], d. h. eigentümlich moderne[n], nicht nach den Mustern des Altertums gebildete[n], und dennoch nach den höchsten Grundsät-

53 Vgl. M EIER (wie Anm. 21), S. 75. 54 186. Fragment zur Litteratur und Poesie, in: KFSA Bd. 16, 2.Abt.: Fragmente zur Poesie und Literatur. 1.Teil. Mit Einleitung und Kommentar hrsg. von H ANS EICHNER , Paderborn, München u. a. 1981, S. 100. 55 Als Horizont der folgenden, zwangsläufig holzschnittartigen Skizze sei auf die umfassende Studie von HÖLTENSCHMIDT (wie Anm. 28) verwiesen. 56 Gespräch über die Poesie, in: KFSA 2/1, S. 296f. 57 Vgl. die polemisch wie programmatisch gegen die Antike und ihre exklusiven Verehrer in Kunst und Literatur gerichteten Partien zumal in der Einleitung zu AUGUST WILHELM SCHLEGEL s Geschichte der romantischen Literatur (wieAnm. 24), bes. S. 13–15; der dezisive Tonfall wird durch andere Äußerungen in A.W. SCHLEGEL s literarhistorischem Œuvre indes relativiert.

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zen für gültig zu achtende[n] [...] universelle[n] und unvergängliche[n] Poesie“58 gilt dieses Votum nicht: Es handelt sich dabei, unmittelbar aufeinander bezogen, um das „so unbillig verunglimpfte sogenannte Mittelalter“ hier, die noch im Werden befindliche Poesie der romantischen Gegenwart da, wobei letztere „wahrlich nicht dadurch romantisch“ sein oder heißen könne, daß sie etwa Ausdruck von Neuem ist, sondern dadurch, daß „sie sich an die Gesinnung der ritterlichen Zeit anschließt.“ Was die nähere Profilierung der letzteren angeht, so atmet vieles utopische Verklärung – bei Eichendorff, der in seinen kulturhistorischen Aperçus häufig auf A.W. Schlegels eher flächig aufgetragenes als feingezeichnetes Mittelalterbild rekurriert, klingt viel davon nach. Manches Detail des mediävalen Konstrukts e contrario (dies hinsichtlich der Antike wie der klassizistisch planierten Gegenwartslage) klingt vertraut, anderes kurios, anderes schlicht phantastisch, doch alles trägt bei zu einem Gesamtbild aus Sitte, Mut, Adel und Kraft. Den ritterlichen Vorräten der Zeughäuser meinte Schlegel entnehmen zu dürfen, daß das „damalige Menschengeschlecht“, wie die Heldensage es auch bezeugt, „riesenhafter“ gewesen sei als die nachfolgenden – doch gelte dies „nicht [für] die gesamten Nationen, sondern [nur für] die Häupter: der Vorrang in der Gesellschaft war schon körperlich bezeichnet.“ Auch der hypertrophe Erzählzug, daß „ein einziger im damaligen Kriege zuweilen tausend aufwog“, beruhe nicht auf „abenteuerliche[r] Fiktion“, sondern sei „strenge Wahrheit.“59 Überhaupt zeige sich gerade im Kampf eine unüberbrückbare ethische Distanz zwischen Vormoderne und Moderne: Ohne an Hinterlist auch nur zu denken (hier also ist die Literatur auch A.W. Schlegel keine seriöse Quelle mehr, ist doch letztere bekanntermaßen voll von Szenen der Untreue und des Verrats), kämpfte man in dieser glücklichen Ära „offen, mit gleichen Waffen und Mitteln. So reduzierte sich die Fehde allmählich auf den Zweikampf“, der fortan zunehmend verrechtlicht und außerdem zum Gottesurteil transzendiert worden sei: „Zwischen so geübten an Stärke sich fast immer gleichen Gegnern mußte das Bewußtsein der Wahrheit oder Lüge, das gute oder böse Gewissen den Ausschlag geben.“ Daß die altheimischen Wälder neben allerlei anderem Getier, das Poeten beschworen, auch Löwen beherbergte, mag Schlegel nicht bezweifeln. Die Autorität fiktionaler Poesie als realhistorische Quelle wird (nicht selbstverständlich bei einem vom höheren Wert und vom Eigenrecht der Poesie durchdrungenen Frühromantiker) nirgends explizit hinterfragt. 58 59

Geschichte der romantischen Literatur (wie Anm. 24), S. 14; das Folgezitat ebd., S. 18. Geschichte der romantischen Literatur (wie Anm. 24), S. 91; Folgezitate und Paraphrasen ebd., S. 92 u. 89–101 (der Abschnitt im Ganzen liest sich als Kondensat von A.W. SCHLEGEL s kulturhistorischem Bild der Epoche).

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Nicht in gleichermaßen expliziter Affinität zur ‚romantischen Schule‘ steht Jean Paul, in dessen Vorschule der Ästhetik (§22) zum Verhältnis von Antike und Mittelalter gleichwohl viel Ähnliches verlautet. Auch er deutet Rittergeist und Religion, vor allem kraft ihrer Synthese im Kreuzzug, als Inbegriff romantischer Kulturüberlegenheit der Epoche gegenüber der mythenschwangeren Antike, spielt sinnenhafte Äußerlichkeit gegen die „unendliche Sehnsucht oder die unaussprechliche Seligkeit“ der innern Welt aus: In das gelobte Land ziehen, das von zwei Religionen auf einmal und vom größten Wesen der Erde in ein dämmerndes Reich der heiligen Ahnung und in einen Isthmus zwischen erster und zweiter Welt für die Phantasie erhoben war, hieß sich romantisch verklären und sich die tiefe irdische [Welt] prosaisch und poetisch mit zwei Kräften unterwerfen, mit Tapferkeit und Religion. Was konnten aber Ähnliches die Heroenzeiten und Argonautenzüge gebären?60

Ein anti-antikes Mittelalter ganz anderer Art – um abschließend auch noch das komplementäre Kontrastmodell zeitgenössischer Mittelalterimagination zumindest in Umrissen zu sichten – lieferte bereits Jahrzehnte vor Eichendorffs Bilanzschrift Heinrich Heine, der den Antipoden als Dichter im übrigen durchaus schätzte.61 Nicht die Konstellation, doch die Bewertung verkehrt sich: Ein Zwerg auf den Schultern dieser ‚Afterantike‘ zu sein, wäre Heine nie in den Sinn gekommen. Da seine einschlägigen literaturkritischen Schriften (zu nennen sind insbesondere die Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, 1835, und die Romantische Schule, 1836) bekannter und besser erforscht sind als die Eichendorffs, sei hier statt eines detaillierteren Vergleichs62 mit einer Sequenz instruktiver Strophen aus dem Versgedicht Deutschland. Ein Wintermärchen geendet.63 Antikenwürdigung, Mittelalterkritik und Mittelalterrezeptionskritik (was nach Lage der Dinge zuvörderst ‚Gegenwartskritik‘ bedeutete) konvergieren in ihnen unmittelbar – Heines ‚preußisch-deutsches‘ Mittelalter ist die Inkubations- und Referenzepoche romano- und frankophober Repression und Reaktion, die sich

60 Jean Paul, Werke 5 (wie Anm. 32), S. 93 bzw. 91. 61 Vgl. HEINE s Romantische Schule, in: H EINRICH HEINE . Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. von M ANFRED WINDFUHR . Bd. 8/1: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Die romantische Schule. Text, bearb. von M.W., Hamburg 1979, hier S. 237. 62 Einschlägig hierzu R IEMEN (wie Anm. 45); auch er betonte, daß für beide Autoren „das christliche Mittelalter [...] Gegenpol zur Reformation“ wie „zur Antike“ sei, daß überdies beide in der Qualifizierung der mittelalterlichen als der „eigentlich romantische[n]“ Poesie übereinstimmten (S. 539f.); nur die mit diesen Feststellungen verbundenen Wertungen könnten unterschiedlicher nicht sein. 63 Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. von M ANFRED WINDFUHR . Bd. 4: Atta Troll. Ein Sommernachtstraum. Deutschland. Ein Wintermärchen, bearb. von WINFRIED WOESLER , Hamburg 1985; Folgezitate: S. 96; 98f.; 130; 114–116.

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anläßlich der Einreise des Erzählers in Rheinpreußen mit Zopf, Stock und einer abstrus ‚mediävalisierten‘ Pickelhaube ein bizarres Stelldichein gibt: [caput III] Nicht übel gefiel mir das neue Costum Der Reuter, das muß ich loben, Besonders die Pikkelhaube, den Helm, Mit der stählernen Spitze nach oben. Das ist so ritterthümlich und mahnt An der Vorzeit holde Romantik, An die Burgfrau Johanna von Montfaucon, An den Freyherrn Fouqué, Uhland, Tieck. Das mahnt an das Mittelalter so schön, An Edelknechte und Knappen, Die in dem Herzen getragen die Treu Und auf dem Hintern ein Wappen. Das mahnt an Kreuzzug und Turney, An Minne und frommes Dienen, An die ungedruckte Glaubenszeit, Wo noch keine Zeitung erschienen.

Bald darauf, nach wie vor auf (neu-)preußischem Boden, fungiert Köln, woselbst der Abschluß des Dombaus, vom vormärzlichen Dombauverein publizistisch und finanziell betrieben, ein halbes Jahrtausend nach Baubeginn in ebenjener Zeit zügig voranschritt, als Inbegriff einer geistig und physisch debilen, finsterdumpf-bösen Vorzivilisation, die – natürlich – mit dem Schlagwort ‚Mittelalter‘ sich unwiderruflich verortet findet: [caput IV] Ja hier [sc. zu Köln] hat einst die Clerisey Ihr frommes Wesen getrieben, Hier haben die Dunkelmänner geherrscht, Die Ulrich von Hutten beschrieben. Der Cancan des Mittelalters ward hier Getanzt von Nonnen und Mönchen; Hier schrieb Hochstraaten, der Menzel von Cölln, Die giftgen Denunziaziönchen. Die Flamme des Scheiterhaufens hat hier Bücher und Menschen verschlungen; Die Glocken wurden geläutet dabey Und Kyrie Eleison gesungen. Dummheit und Boßheit buhlten hier Gleich Hunden auf freyer Gasse;

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Die Enkelbrut erkennt man noch heut An ihrem Glaubenshasse. – Doch siehe! dort im Mondenschein Den kolossalen Gesellen! Er ragt verteufelt schwarz empor, Das ist der Dom von Cöllen. Er sollte des Geistes Bastille seyn, Und die listigen Römlinge dachten: In diesem Riesenkerker wird Die deutsche Vernunft verschmachten! Da kam der Luther, und er hat Sein großes ‚Halt!‘ gesprochen – Seit jenem Tage blieb der Bau Des Domes unterbrochen. Er ward nicht vollendet – und das ist gut. Denn eben die Nichtvollendung Macht ihn zum Denkmahl von Deutschlands Kraft Und protestantischer Sendung.

Die würdigsten Erinnerungsorte des romantisch-historistischen Mediävalismus werden hier wie im Fortgang verhöhnt: Karolus Magnus reizt zum Vergleich mit dem Gelegenheitspoeten Karl Mayer aus Schwaben, während sein sagenumwobener Nachfahr im Kaiseramt, Friedrich I. Barbarossa, im Kyffhäuser einem abgeschmackten Comeback entgegenschlummert, das der Referenzzeit nicht minder hohnspricht als der des Verfassers: [caput XVII, Erzähleranrede an Barbarossa im Kyffhäuser] ‚Das alte heilge römische Reich, Stell’s wieder her, das ganze, Gieb uns den modrigsten Plunder zurück Mit allem Firlifanze. Das Mittelalter, immerhin, Das wahre, wie es gewesen, Ich will es ertragen – erlöse uns nur Von jenem Zwitterwesen, Von jenem Kamaschenritterthum, Das ekelhaft ein Gemisch ist Von gothischem Wahn und modernem Lug, Das weder Fleisch noch Fisch ist. Jag’ fort das Comödiantenpack, Und schließe die Schauspielhäuser,

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Wo man die Vorzeit parodirt – Komme du bald, O Kaiser!‘

In seiner radikalen Absage an einen ahistorisch-romantischen Historismus, der sich (hier liegt Heine ja zweifelsfrei richtig) ‚sein‘ Mittelalter konstruierte, kollagierte und zurechtkostümierte, ohne Objektivität und Ganzheitlichkeit auch nur anzustreben, täuscht der Dichter freilich leichthin darüber hinweg, daß auch er, nur vom Gegenstandpunkt her und vielleicht lizensiert durch die höhere poetische Freiheit, solcher Verzerrung Vorschub leistet. Genuin postmediävale ‚Errungenschaften‘ wie Fürstenabsolutismus, Militarismus, Stock- und Zopfwesen, ja selbst die borussische Pickelhaube sind ihm die Erbstücke einer Zeit, die historice von alledem nachweislich weder wußte noch irgend belangt war; und mit der Reformation, der die blutigsten Exzesse fehlgeleiteter Religiosität auf Schlachtfeldern und Scheiterhaufen bekanntlich erst folgten, will er die Aufklärung, ja die Freiheit triumphieren sehen. So wird Heine schon das zum Fluch, worin der Romantiker Eichendorff das befruchtende Ur-Moment europäischer und nationaler Kultur erblickte: das vorchristliche ‚Deutschtum‘. Im Teutoburger Wald des Jahres 9 n.C. wird die Dichotomie antiker Weltläufigkeit und mediäval-germanischen Provinzialismus denn auch auf die Spitze getrieben, zugleich ein bis heute bemerkenswert vitaler Erinnerungsort dekonstruiert und umkodiert. Heines Sicht auf dieses Ereignis nämlich gipfelt in der kontrafaktischen Imagination eines latinisierten Deutschland, das mit Varus’ Legionen zu seinem Unglück schon ‚pränatal‘ unterging. Kaum ein schärferer Gegensatz ist denkbar zu Eichendorffs anti-antikem Epochenideal als die sarkastischen Verse, in denen Heine seine gegen Mittelalter und restaurative Gegenwart gleichermaßen profilierte Antike entwirft – kein schärferer Kontrast übrigens auch zur Instrumentalisierung der Varusschlacht als nationalem Erinnerungsort auf dem deutschen Buchmarkt des Jubiläumsjahrs 2009: [caput XI] Das ist der Teutoburger Wald, Den Tacitus beschrieben, Das ist der klassische Morast, Wo Varus stecken geblieben. Hier schlug ihn der Cheruskerfürst, Der Hermann, der edle Recke; Die deutsche Nazionalität, Sie siegte in diesem Drecke. Wenn Hermann nicht die Schlacht gewann, Mit seinen blonden Horden, So gäb’ es deutsche Freyheit nicht mehr, Wir wären römisch geworden!

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In unserem Vaterland herrschten jetzt Nur römische Sprache und Sitten, Vestalen gäb’ es in München sogar, Die Schwaben hießen Quiriten! […] Der Raumer wäre kein deutscher Lump, Er wäre ein röm’scher Lumpazius. Der Freiligrath dichtete ohne Reim, Wie weiland Flaccus Horazius. Der grobe Bettler, Vater Jahn, Der hieße jetzt Grobianus. Me hercule! Maßmann spräche Latein, Der Marcus Tullius Maßmanus! […] Wir hätten Einen Nero jetzt, Statt Landesväter drey Dutzend. Wir schnitten uns die Adern auf, Den Schergen der Knechtschaft trutzend. Der Schelling wär’ ganz ein Seneka, Und käme in solchem Conflikt um. Zu uns’rem Cornelius sagten wir: Cacatum non est pictum. Gottlob! Der Hermann gewann die Schlacht, Die Römer wurden vertrieben, Varus mit seinen Legionen erlag, Und wir sind Deutsche geblieben! Wir blieben deutsch, wir sprechen deutsch, Wie wir es gesprochen haben; Der Esel heißt Esel, nicht asinus, Die Schwaben blieben Schwaben. Der Raumer blieb ein deutscher Lump In unserm deutschen Norden. In Reimen dichtet Freiligrath, Ist kein Horaz geworden. Gottlob, der Maßmann spricht kein Latein, Birch-Pfeiffer schreibt nur Dramen Und säuft nicht schnöden Terebentin, Wie Roms galante Damen. O Hermann, dir verdanken wir das! Drum wird dir, wie sich gebühret, Zu Dettmoldt ein Monument gesetzt; Hab’ selber subskribiret.

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Von der „politische[n] Gewalt des Mittelalters“ Mittelalterrezeption in Eichendorffs politischen Schriften Verschiedenartig und oft verworren, wie die Erscheinungen und Zustände des Mittelalters selbst, sind auch die Ansichten von demselben. Diese Ansichten aber sind wichtig. Sie betreffen nicht blos einen der größten und reichsten Theile der Geschichte; sie machen sich auch, durch die Vorliebe oder die Abneigung, durch die Gewohnheit oder die überlegten Grundsätze der Menschen, in der Theorie wie in der Behandlung unserer heutigen Gesellschaftsverhältnisse praktisch geltend. Die Ansichten über Das, was recht und politisch heilsam ist, hängen bei sehr Vielen noch viel mehr, als es gut ist, ab von Dem, was war, von ihren richtigen und einseitigen Auffassungen unserer geschichtlichen Vergangenheit! Wie viele einseitige Mittelaltersfreunde und Mittelaltersfeinde aber giebt es nicht.1

Mit diesen Zeilen leitet der liberale Publizist und Staatstheoretiker Carl Welcker den Artikel Mittelalter in dem von ihm gemeinsam mit Karl von Rotteck zwischen 1845 und 1848 herausgegeben Staats-Lexikon ein. Aus ihnen geht hervor, dass das Mittelalter im Vormärz, der durch vielfältige Überlegungen zur Verfassung und zur staatlicher Konstitution geprägt war, zu einem Instrument geworden war, mit dessen Hilfe man sich über die ‚heutigen Gesellschaftsverhältnisse‘ trefflich streiten konnte. Sie zeigen, dass sich das Mittelalter zu einem Kampfplatz entwickelt hatte, auf dem die unterschiedlichsten politischen und gesellschaftlichen Gruppierungen ‚die Ansichten über Das, was recht und politisch heilsam ist‘, austragen konnten. Mit anderen Worten: Sie offenbaren, dass das Mittelalter im historisch denkenden 19. Jahrhundert zu einer weltanschaulichen Komponente im Verständnis der eigenen Gegenwart und ein ideologisches Argument in der Planung der politischen Zukunft geworden war. Von Mittelalterfreunden und Mittelalterfeinden wurden die unterschiedlichs-

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Carl Welcker: Mittelalter. In: Das Staats-Lexikon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände. Hrsg. von Carl von Rotteck/Carl Welcker, Altona 1847, Bd. 9, S. 124–147, hier S. 124f.

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ten Mittelalterbilder entworfen, die aber alle gemeinsam eines für sich in Anspruch nahmen: die praktische Geltung für Gegenwart und Zukunft. Einer dieser Mittelalterfreunde war bekanntermaßen Joseph von Eichendorff. Er ist in erster Linie als Verfasser von Gedichten und Novellen bekannt, in denen es von mittelalterlichen Burgen und Klöstern, von Rittern und Mönchen, von Kreuzfahrern und geheimnisvollen Schönheiten nur so wimmelt.2 Das volkstümliche Bild des romantischen Mittelalters, wie es sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts gestaltet hat und seitdem populär geblieben ist, ist nicht unwesentlich durch Eichendorff bestimmt. Es ist vor allem sein leicht eingängiger lyrischer Ton, der ihm im kulturellen Gedächtnis nicht nur den Platz des Dichters des „schönen grünen Waldes“ gesichert hat, sondern auch die Stellung eines Mittelalterbeschwörers, dem es alleine durch Verwendung bestimmter Schlüsselbegriffe gelingt, eine mittelalterliche Atmosphäre lebendig zu machen.3 Weniger bekannt ist indessen, dass sich Eichendorff zeit seines Lebens mit dem Mittelalter in einer Textgattung auseinandergesetzt hat, die auf den ersten Blick nicht unbedingt mit seinem Namen verbunden ist, nämlich in seinen politischen Schriften.4 Von der „politische[n] Gewalt des Mittelalters“5 spricht der Rechtsreferendar Joseph Freiherr von Eichendorff bereits an zentraler Stelle in seiner Examensarbeit, die er 1818/19 verfasste. Diese Anspielung auf das Mittelalter ist die erste einer ganzen Reihe, die sich in Eichendorffs politischen Schriften finden. Gleichzeitig ist sie bereits symptomatisch für sein 2

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Als Belege für diese These seien exemplarisch die Gedichte Auf einer Burg, Heimkehr, Blonder Ritter, Der Schreckenberger, Der Liedsprecher und v. a. Herrmanns Enkel genannt, ferner die Novellenfragmente Die Wanderschaft. Ein Mährchen und Ein Ritter […] der ein Raubritter wird. Vgl. hierzu ERNST R IBBAT: Waldromanze statt Geschichtsrhetorik. Eichendorffs ‚Kaiser Alberts I. Tod‘. Mit einem Ausblick auf Droste-Hülshoffs ‚Der Graf von Thal‘. In: Ballade und Historismus. Hrsg. von WINFRIED WOESLER , Heidelberg 2000, S. 234–245; STEFAN NIENHAUS : ‚Waldessprache‘. Anmerkungen zu zwei Gedichten Joseph von Eichendorffs. In: Critica poeticae. Lesarten zur deutschen Literatur. Hans Geulen zum 60. Geburtstag. Hrsg. von A NDREAS GÖSSLING /STEFAN NIENHAUS, Würzburg 1992, S. 205–217; K LAUS L INDEMANN : „Deutsch Panier, das rauschend wallt“. Der Wald in Eichendorffs patriotischen Gedichten im Kontext der Lyrik der Befreiungskriege. In: Eichendorff und die Spätromantik. Hrsg. von H ANSGEORG POTT, Paderborn u. a. 1985, S. 91–131. Vor allem in den letzten Jahren sind in der Eichendorff-Forschung die politischen Schriften verstärkt in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. An jüngeren Publikationen sind hier vor allem die Monographien von K LAUS LÜDERSSEN und R EINHARD SIEGERT zu nennen: K LAUS LÜDERSSEN : Eichendorff und das Recht, Frankfurt/M. 2007; R EINHARD SIEGERT: Die Staatsidee Joseph von Eichendorffs und ihre geistigen Grundlagen, Paderborn u. a. 2008. Joseph von Eichendorff: Ueber die Folgen von der Aufhebung der Landeshoheit der Bischöfe und der Klöster in Deutschland. In: Ders.: Historische und politische Schriften. Text. Hrsg. von A NTONIE M AGEN, Tübingen 2007, S. 1–87, hier S. 41.

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Mittelalterverständnis. Denn bereits hier wird das Mittelalter instrumentalisiert und erhält eine wesentliche Aufgabe, die ihm auch in den späteren politischen Schriften immer wieder zugewiesen wird. Durch den zitierten Hinweis versucht Eichendorff nämlich, sich aus einer prekären Situation zu retten, die sich für ihn aus der Aufgabenstellung der Prüfungsarbeit ergeben hatte. Am 7. Dezember 1818 hatte ihm die Ober-ExaminationsKommission zu Berlin als Thema für die schriftliche Hausarbeit die Beantwortung der folgenden Frage auferlegt: Was für Nachtheile und Vortheile hat der katholische Religions Theil in Deutschland von der Aufhebung der Landes Hoheit der Bischöfe und Aebte desgleichen von der Einziehung des Stifts- und Klosterguts mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten?6

Diese Fragestellung war brisant, denn sie bezog sich auf die im Reichsdeputationshauptschluss von 1803 beschlossenen Säkularisationsmaßnahmen, die 1818 noch nicht abgeschlossen, sondern immer noch Gegenstand der Tagespolitik waren. Zusätzliche Sprengkraft erhielt das Thema durch seine konfessionelle Dimension. Immerhin handelt es sich um eine Frage, die der protestantische preußische Staat dem Katholiken Eichendorff stellte. Es kann deshalb nicht verwundern, dass Eichendorff in dieser Aufgabenstellung „eine Art von heimlicher Fußangel“7 sah, wie er noch zehn Jahre später rückblickend an Joseph Görres schrieb. Um den politischen Schwierigkeiten zu entgehen, die mit diesem Thema verbunden waren, hatte Eichendorff ein einfaches Rezept, das er seiner Examensarbeit gleich zu Anfang als Methode zu Grunde legt. Er weist auf die Verwurzelung der Fragestellung in der Vergangenheit hin und macht den Leser mit seinem „Leitfaden der Betrachtung“8 bekannt, der darin liegen soll, die „historische Bedeutung“9 des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation mit allen seinen Institutionen nachzuzeichnen, sofern sie Bezug zur Säkularisation hat. Da es sich bei diesem Vorhaben um nichts Geringeres als um die Rekonstruktion derjenigen Staatsform handelt, die über mehrere Jahrhunderte hinweg bis ins Jahr 1806 Bestand hatte, nimmt es kaum wunder, dass gerade das Mittelalter eine zentrale

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A NTONIE M AGEN : Entstehung und Überlieferung [zu: Ueber die Folgen von der Aufhebung der Landeshoheit der Bischöfe und der Klöster in Deutschland]. In: Joseph von Eichendorff: Historische und politische Schriften. Kommentar. Hrsg. von A NTONIE M AGEN, Tübingen 2007, S. 3f., hier S. 4. Joseph von Eichendorff an Joseph Görres, 30.8.1828. In: Joseph von Eichendorff: Briefe 1794–1857. Text. Hrsg. von SIBYLLE VON STEINSDORFF, Stuttgart u. a. 1992, S. 106–109, hier S. 107. Eichendorff: Ueber die Folgen von der Aufhebung der Landeshoheit (wie Anm. 5), S. 4. Eichendorff: Ueber die Folgen von der Aufhebung der Landeshoheit (wie Anm. 5), S. 4.

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Funktion einnimmt, die es auch in den späteren politischen Schriften behält. Denn die bedeutendsten dieser politischen Schriften stehen unter historischer Perspektive und konzentrieren sich in großen Teilen auf das Mittelalter. Dadurch soll einerseits die tagespolitische Brisanz der im Vormärz besonders wichtigen Themen, wie die Frage nach einer Verfassung, nach Pressefreiheit und dem Verhältnis von Staat und Kirche, die Eichendorff zu bearbeiten hatte,10 abgemildert werden. Andererseits aber versuchen sie auf diese Art und Weise, dem Gegenwartsbezug der genannten Gegenstände in vollem Umfang gerecht zu werden. Damit aber hat das Mittelalter in Eichendorffs historisch-politischen Schriften genau diejenige Qualität angenommen, die Carl Welcker ihm in seinem Artikel im Staats-Lexikon zuweist: Es ist zu einer Größe geworden, die etwas über Eichendorffs Ansichten bezüglich der gegenwärtigen Gesellschaftsverhältnisse aussagt. – Ein guter Grund, um zu fragen, woher dieses politische Mittelalterverständnis in Eichendorffs Denken kommt. Wie sieht es im Einzelnen aus? Und schließlich: In welchem Verhältnis steht es zu der politischen Realität des 19. Jahrhunderts, das sich doch weitgehend vom Mittelalter entfernt hatte und wie kaum eine andere Zeit durch Revolution, Umbruch und politische Veränderungen aller Art geprägt war? – Was nicht nur eine einfache historische Wegentwicklung vom Mittelalter bedeutet, sondern gleich einen mehrfachen Bruch mit allen geschichtlichen Kontinuitäten. Eine erste Annäherung an Eichendorffs politisches Mittelalterbild ergibt sich aus der Identifikation der Vordenker, die sein historisch-politisches Verständnis geprägt haben. Über sie geben vor allem diejenigen autobiographischen Fragmente Auskunft, die Eichendorff 1856/57, kurz vor seinem Tod, verfasste und die eine Art Zusammenfassung derjenigen Gedanken, Ideen und geistigen Strömungen sind, die Eichendorff im Rückblick als wesentlich für sein Leben angesehen hat.11 Aus ihnen geht hervor, dass sein historisch-politisches Mittelalterverständnis zunächst einmal an eine juristische Sichtweise anknüpft, die er während seines Studiums in Halle und vor allem in Heidelberg kennen gelernt hatte: In Heidelberg hatte er bei den Professoren Thibaut und Savigny12 gehört, die sich beide grundsätzlich für eine historische Bedingtheit des Rechts aussprachen. Vor allem der letztere hatte Eichendorff mit seinen Vorlesungen, die die Grundlage zu seiner später erschienen Geschichte des römischen Rechts im

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Zum amtlichen Tätigkeitsbereich Eichendorffs vgl. H ANS PÖRNBACHER : Joseph Freiherr von Eichendorff als Beamter, Dortmund 1963, S. 61–79. Hier ist v. a. das Fragment Halle und Heidelberg zu nennen: Joseph von Eichendorff: Halle und Heidelberg. In: Ders.: Erzählungen. Dritter Teil. Autobiographische Fragmente. Text und Kommentar. Hrsg. von DIETMAR KUNISCH, Tübingen 1998, S. 139–181. Eichendorff: Halle und Heidelberg (wie Anm. 11), S. 142.

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Mittelalter13 waren, zu der Auffassung gebracht, dass dem Mittelalter in der Rechtsgeschichte eine Schlüsselstellung zukomme, weil – wie es bei Savigny im Vorwort heißt – „die Erkenntniß unsres eignen Zustandes nur aus diesem Boden erwachsen kann“.14 Diesem Grundsatz gemäß sichtete Savigny, unterstützt von Jacob Grimm,15 eine Unzahl von mittelalterlichen Rechtsquellen, die er juristischphilologisch auswertete und deren Inhalt er seinen Studenten vermittelte. Somit besaß Eichendorff aus der Heidelberger Studienzeit auf einer ganz pragmatisch-sachlichen Ebene Kenntnisse über mittelalterliche Rechtszustände, die ihm in seiner juristischen Laufbahn immer wieder zugute gekommen sind. Das beste Beispiel hierfür sind vielleicht seine Schriften zur Verfassungsfrage,16 in denen er versuchte, einige der preußischen Reformen auf einzelne mittelalterliche Rechtsprinzipien zurückzuführen, um sie somit auf diese Weise gleichsam zu adeln. Bis hierher ist Eichendorffs politisch-juristische Mittelalterrezeption ein Beispiel der romantischen Quellenkritik mittelalterlicher Texte. Aber auch in anderer Hinsicht fügt sich das Mittelalterbild, wie es in seinen politischen Schriften zum Ausdruck kommt, in größere Zusammenhänge der romantischen Mittelalterrezeption ein. Auch hier ist es wieder das Bestreben, Auskunft über den eigenen Zustand zu erhalten, was die Beschäftigung mit der längst vergangenen historischen Epoche motiviert. Gemeint ist damit die romantische Historiographie, die weniger faktographisch und positivistisch ausgerichtet ist als die bloß quellenkritischen Bemühungen, und die vor allem von Friedrich Schlegel vertreten wurde. Dessen Vorlesung Über die neuere Geschichte17 hatte Eichendorff bereits 1811 in Buchform erworben.18 Später legte er sie seiner Examensarbeit als chronologisches Gerüst zugrunde und ließ sich von dem dort entworfenen Mittelalterbild wesentlich bestimmen. Auch Schlegel fasst das Mittelalter als eine zwar vergangene Zeit auf, die jedoch Licht ins Dunkel der Gegenwart bringen kann. Dabei analysiert er das Mittelalter ganz konkret als eine zentrale historische Epoche,

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Friedrich Carl von Savigny: Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter, Heidelberg 1815–1831. Friedrich Carl von Savigny: Vorrede. In: Ders.: Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter, Heidelberg 1815, Bd. 1, S. III–XIV, hier S. XI–XII. Savigny: Vorrede (wie Anm. 14), S. XIV. Joseph von Eichendorff: Schriften zur Verfassungsfrage. In: Ders.: Historische und politische Schriften. Hrsg. von ANTONIE MAGEN, Tübingen 2007, S. 89–246. Friedrich Schlegel: Über die neuere Geschichte. In: Ders.: Studien zur Geschichte und Politik. Hrsg. von ERNST BEHLER , München u. a. 1966, S. 125–407. Joseph von Eichendorff: Tagebücher, Text. Hrsg. von URSULA R EGENER , Tübingen 2006, S. 415.

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die nach allen Regeln der Wissenschaft differenziert wird. Es erscheint nicht als ein monolithischer Block, sondern in verschiedene Perioden unterteilt, die alle ihre eignen historischen Merkmale haben. So setzt Schlegel beispielsweise die erste Periode des Mittelalters von Karl dem Großen bis Gregor VII. an und führt aus, dass ihre „Gesetze und die Sitten mild, der Charakter der Zeit groß und einfach, ernst aber sanft“19 war. Die zweite Periode ist die Zeit der Kreuzzüge und zeichnet sich dadurch aus, dass sie „wunderbar kühn, schwärmerisch begeistert”20 war. Ähnlich verfährt Schlegel mit allen weiteren mittelalterlichen Etappen, und ähnlich verfährt auch Eichendorff, wenn er in seiner Examensarbeit das Verhältnis von Kirche und Staat in seiner Entwicklung durch die Epochen darstellt, die er nach den Regierungszeiten der mittelalterlichen Kaiser einteilt, wie Schlegel mit Karl dem Großen beginnend.21 Aus heutiger Sicht, die sich schon lange an die Individualität jeder historischen Epoche gewöhnt hat, mag man über diese Charakterisierung der einzelnen Perioden lächeln. Was sich aber nicht von der Hand weisen lässt, ist der Umstand, dass diese Epochen hier erstmals historisch differenziert dargestellt und so gleichsam überhaupt erst entdeckt werden. Damit ist Eichendorff in seiner Examensarbeit auf der Höhe der wissenschaftlichen historischen Aufarbeitung der Zeit. Allerdings ist diese kritische wissenschaftliche Aufarbeitung nur ein Aspekt der romantischen Mittelalterauffassung; und sie ist – neben dem quellenkritischen – nur ein weiterer Gesichtspunkt von Eichendorffs politischem Mittelalterverständnis. Darüber hinaus hat das Mittelalter in Eichendorffs historisch-politischen Schriften eine geschichtsphilosophische Bedeutung. Auch hier sind es wieder Friedrich Schlegel, vor allem aber Novalis, die Eichendorff nachweislich beeinflusst haben. Beide betten das Mittelalter in ein kompliziertes theologisches Geschichtsbild ein, das eine Mischung aus teleologischen, apokalyptischen und eschatologischen Komponenten darstellt. Man geht nicht zu weit, wenn man behauptet, dass das Mittelalter in diesem Gefüge sogar eine heilsgeschichtliche Sonderstellung einnimmt. Es erscheint als eine gnadenreiche, friedvolle Zeit, die ein sündenfreies Leben garantierte, welches das ewige Seelenheil sicherte.22 Es 19 Schlegel: Über die neuere Geschichte (wie Anm. 17), S. 235. 20 Schlegel: Über die neuere Geschichte (wie Anm. 17), S. 236. 21 Eichendorff: Ueber die Folgen von der Aufhebung der Landeshoheit der Bischöfe und der Klöster in Deutschland (wie Anm. 5), S. 9. 22 Dieser Gedanke geht am deutlichsten aus Die Christenheit oder Europa hervor, wo Novalis den mittelalterlichen Idealstaat mit seinen moralischen Qualitäten beschreibt: Novalis: Die Christenheit oder Europa. Ein Fragment. In: Ders.: Schriften. Das philosophische Werk II. Hrsg. von R ICHARD SAMUEL in Zusammenarbeit mit H ANS -JOACHIM M ÄHL / GERHARD SCHULZ , 2. Aufl. Stuttgart 1960, Bd. 1, S. 507–524.

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kommt daher auch nicht von ungefähr, dass das Mittelalter bei Schlegel und Novalis immer wieder mit bestimmten sittlichen und moralischen Qualitäten verbunden wird.23 Es ist daher auch folgerichtig, dass nicht nur bei Novalis die Begriffe ‚Mittelalter‘ und ‚Christentum‘ nahezu zur Deckungsgleichheit gelangen. Heinrich von Ofterdingen illustriert diese Beschaffenheit des Mittelalters besonders gut. Nicht umsonst ist in diesem Text von den „Kolonien des Paradieses“24 auf Erden die Rede. Ähnliches bei Eichendorff: Schon in der Examensarbeit ist das Mittelalter mehr als nur eine fein strukturierte Epoche. Vielmehr bedeutet es auch hier überdies eine ideale Zeit. Es ist das Gegenbild der Gegenwart, die sich durch die verschiedensten Dekadenzerscheinungen auszeichnet und „zu matt geworden [ist], um die großen Formen des Mittelalters noch zu beseelen“,25 wie es später noch rückblickend in einer autobiographischen Notiz heißt. Es ist daher auch nicht überraschend, dass Eichendorff dem Mittelalter ganz ähnliche Tugendmerkmale wie Schlegel und Novalis zuweist. Er attestiert ihm „wunderbare[n] Glanz, Ruhmbegier, kecke Lust am Abenteuer, Tapferkeit, aufopfernde Treue u. manch […] andere Tugenden“.26 Vor diesem Hintergrund stellt das Mittelalter nicht einfach eine Epoche dar, die mit der Erfindung des Buchdrucks und der Reformation an ein Ende gekommen wäre. Vielmehr bringen diese beiden Ereignisse eine neue moralische Qualität mit sich. Denn durch sie beginnt das moderne Kritiker- und Zweiflertum, das alle Lebensbereiche, die sich im Mittelalter noch durch Ganzheit auszeichneten, zersetzte.27 Damit wirft

23 So bescheinigt Schlegel in Über die neuere Geschichte den ihre Zeit prägenden mittelalterlichen Herrschern beispielsweise Mut, Tapferkeit, Tugendhaftigkeit, Biedersinn, wahre Frömmigkeit, Milde, Weisheit, Klugheit und Wohltätigkeit. Schlegel: Über die neuere Geschichte (wie Anm. 17), S. 237 u. 241. Bei Novalis ist von dem „edlen Kaufmannsgeist“ die Rede, der nur im Mittelalter existiert habe. Novalis: Blüthenstaub. In: Ders.: Schriften. Das philosophische Werk I. Hrsg. von R ICHARD SAMUEL in Zusammenarbeit mit H ANS -JOACHIM M ÄHL /GERHARD SCHULZ , 2. Aufl. Stuttgart 1960, Bd. 2, S. 413–471, hier S. 438. Damit weist das Mittelalter Merkmale auf, die, wenn sie nicht selbst christliche Tugenden sind, so doch zumindest dem christlich geprägten bürgerlichen Wertekanon des 18. Jahrhunderts entstammen. 24 Novalis: Heinrich von Ofterdingen. In: Ders.: Schriften. Das dichterischer Werk. Hrsg. von PAUL K LUCKHOHN /R ICHARD SAMUEL , Darmstadt 1977, Bd. 1, S. 182–334, hier S. 236. 25 Joseph von Eichendorff: Erzählungen. Dritter Teil. Autobiographische Fragmente. Text und Kommentar. Hrsg. von DIETMAR KUNISCH, Tübingen 1998, S. 276. 26 Joseph von Eichendorff: Der Adel und die Revolution. In: Ders.: Erzählungen. Dritter Teil. Autobiographische Fragmente. Text und Kommentar. Hrsg. von DIETMAR KUNISCH, Tübingen 1998, S. 110–138, hier S. 111. 27 Diese Qualität des Liberalismus formuliert Eichendorff am deutlichsten in der Streitschrift gegen den Deutschkatholizismus: Joseph von Eichendorff: Streitschrift gegen den Deutschkatholizismus. Hrsg. von A NTONIE M AGEN, Tübingen 2007, S. 573–592, hier bes. S. 578–580.

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die Epoche ein Schlaglicht auf die als mangelhaft empfundenen Zustände der Gegenwart. Auch das übernimmt Eichendorff von Schlegel, der die eigene Zeit als „gegenwärtige Armseligkeit“28 bezeichnet, in der eine ursprünglich vorhandene Ganzheit verloren gegangen sei und die deshalb dringend einen Rückgriff auf die Vergangenheit notwendig mache. Somit avanciert das Mittelalter zu einem vergangenen Ideal, das sich deutlich von den als mangelhaft empfundenen Zuständen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts unterscheidet und, bei Lichte besehen, gar nicht von dieser Welt ist. Allerdings weisen sowohl Novalis und Schlegel in ihren historiographischen und geschichtsphilosophischen Texten als auch Eichendorff in seinen politischen Abhandlungen immer wieder darauf hin, dass die Möglichkeit bestehe, den idealen, mittelalterlichen Zustand wiederzugewinnen.29 Damit ist (um mit den gängigen Begriffen der zeitgenössischen Geschichtsphilosophie zu operieren) das Mittelalter in dieser Auslegung zweierlei: sowohl das verlorene Arkadien, das verspielte ‚Goldene Zeitalter‘, als auch das anzustrebende Elysien. Man würde allerdings diese Bemühungen um das Mittelalter sehr missverstehen, wenn man in dieser Auslegung lediglich eine transzendente Utopie sehen würde. Überraschenderweise bekommt das Mittelalter nämlich gerade an dieser Stelle einen ungeahnt realistischen Bezug. Denn hier kommt die andere Komponente der romantischen Mittelalterrezeption ins Spiel: die Vorstellung der konkreten Epoche, die durch gründliches Quellenstudium entstanden ist. Es ist von einer gewissen Folgerichtigkeit, wenn Novalis immer wieder behauptet, dass das „geistliche Reich“ des Mittelalters, „die Regierung Gottes auf Erden“30 auch in der praktischen Staatsführung funktioniert 28 Friedrich Schlegel: Reise nach Frankreich. In: Ders.: Studien zur Geschichte und Politik. Hrsg. von ERNST BEHLER , München u. a. 1966, S. 56–79, hier S. 61. 29 So heißt es programmatisch am Anfang des Aufsatzes Preußen und die Konstitutionen, der als Kernstück der Verfassungsschriften gelten kann: „Ueberblicken wir die neuere Geschichte, so erfaßt uns unwillkührlich ein ernstes Gefühl, wehmüthig u. erhebend zugleich. Zerfallene Burgen liegen einsam in der Abendstille, aus den Thälern schallt verworrenes Geräusch herauf, in dem noch keine Stimme zu unterscheiden, u. fernher Glockenklänge dazwischen, wie die Abschiedslaute einer untergegangenen Zeit. – Aber auf den Trümmern der Burgen spielen fröhlich rothwangige Knaben u. aus allen Mauerritzen, das morsche Gestein sprengend, treibt u. ranket frisches Grün, niemand weiß, wohin es sich breite; die Ströme u. Wälder rauschen noch immer fort wie damals, durch alle Wipfel fliegt ein scharfes Leuchten u. mit freudigem Schauer gewahren wir, daß es Morgenroth ist, was wir für versinkende Abendröthe gehalten.“ Joseph von Eichendorff: Preußen und die Konstitutionen. In: Ders.: Historische und politische Schriften. Hrsg. von A NTONIE M AGEN, Tübingen 2007, S. 121–196, hier S. 121–122 (Hervorhebung A. M). Aus diesem Zitat geht auch hervor, wie bildreich und metaphorisch Eichendorff das Mittelalter im Genre ‚Politischer Essay‘ in Szene setzt. 30 Novalis: Die Christenheit oder Europa (wie Anm. 22), S. 523.

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habe und noch in der Zukunft die „Mangelhaftigkeit und Bedürftigkeit der bisherigen Staatseinrichtungen”31 werde beheben können. Genau diese Gedanken sind es aber, die Eichendorff in seinen politischen Schriften aufgreift. Vor allem in den Verfassungsschriften, die Anfang der 1830er Jahre entstanden sind und eine Reaktion auf die Pariser Julirevolution und die mit ihr verbundenen liberalen Verfassungsforderungen darstellen. Eichendorff entwirft hier ein Mittelalterbild, das insofern in der Tradition der von Novalis und Friedrich Schlegel vertretenen Auffassung steht, als es sich um ein staatspolitisches Ideal handelt, das als tatsächlich realisierbar propagiert wird, auch wenn es sich de facto eher als ein „politomythische[s] Gedankengebäude“32 handeln mag als um eine verwendbare politische Maxime. Grund genug, um zu fragen: Wie sah Eichendorffs Vorstellung des idealen mittelalterlichen Staats, den es in der Gegenwart zu restituieren galt, im Einzelnen aus? Im Zentrum dieses mittelalterlichen Staatsideals steht die schon erläuterte Vorstellung, dass das Mittelalter eine Zeit war, die eine staatliche und gleichzeitig religiöse, noch nicht durch modernes Zweiflertum zersetzte Ganzheit repräsentierte. Konkret bedeutet das für Eichendorffs Idee des mittelalterlichen Staates, dass es sich bei ihm um einen patriarchalischen Herrscherstaat handelt, in dem die Person eines tugendhaften, christlichen Königs ganzheitsstiftend ist. Auch an diesem Punkt steht Novalis im Hintergrund, der in seinem Fragment Glaube und Liebe, oder der König und die Königin (das übrigens nicht zuletzt auch eine Weiterentwicklung des mittelalterlichen Fürstenspiegels ist) schreibt: „Der König ist das gediegene Lebensprinzip des Staats; ganz dasselbe, was die Sonne im Planetensystem ist. Zunächst um das Lebensprinzip her, erzeugt sich mithin das höchste Leben im Staate, die Lichtatmosphäre“.33 Diese Vorstellung übernimmt Eichendorff in seinen Verfassungsschriften. Hier heißt es: Das historische Ineinanderleben von König und Volk zu einem untrennbaren nationalen Gantzen, das seit Jahrhunderten in gemeinschaftlicher Lust und Noth bewährte Band wechselseitiger Liebe und Treue, mit einem Wort: nicht der todte Begriff des abstrakten Königs mit zu regierenden arithmetischen Zahlen, sondern

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Novalis: Die Christenheit oder Europa (wie Anm. 22), S. 522. H ANS R EISS : Politische Romantik. Eine Antwort auf Thomas Nipperdey. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1995), S. 301–318, hier S. 308. Novalis: Glaube und Liebe oder der König und die Königin. In: Ders.: Schriften. Das philosophische Werk I. Hrsg. von R ICHARD SAMUEL in Zusammenarbeit mit H ANS -JOACHIM M ÄHL /GERHARD SCHULZ , 2. Aufl. Stuttgart 1960, Bd. 2, S. 485–503, hier S. 488.

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der lebendige individuelle König, der nicht dieser oder jener seyn kann, sondern eben unser König ist in allem Sinne.34

Da das mittelalterliche Staatswesen nach Eichendorff also auf einem tugendhaften und christlichen Herrscher beruht, ist in ihm eines nicht notwendig: eine geschriebene Verfassung. Vielmehr soll an Stelle einer Konstitution ein organisch gewachsener Staat stehen, der „das innerste Mark in immergrünen Kronen dem Himmel zuwendet, sich selbst stützt und hält, und den mütterlichen Boden beschirmt, in welchem er wurzelt“35 – ebenfalls ein Merkmal, das Eichendorff dem mittelalterlichen Staat zuschreibt. Alles in allem stellt der mittelalterliche Staat für Eichendorff ein organisch gewachsenes, ganzheitliches Gebilde dar, das sowohl konfessionell als auch territorial geeint ist und in dessen Zentrum ein guter, christlich-tugendhafter, patriarchalischer Herrscher steht. Ein pater familias, der für das Wohl seiner Untertanen sorgt; dessen Untertanen ihm freilich auch mehr oder weniger blinden Gehorsam entgegenbringen müssen. Es kann daher nicht verwundern, dass Eichendorff immer wieder das mittelalterliche Lehnsverhältnis als optimale Beziehung zwischen Herrscher und Untertan beschwört.36 Ein Ende hat dieses Staatssystem in Eichendorffs Geschichtsverständnis mit der Reformation, mit der das moderne Zweiflertum geboren wird, das im 17. und vor allem im 18. Jahrhundert die staatliche und religiöse Einheit zersetzt habe. Dass das nicht nur auf deutschem Boden geschah, sondern auch in anderen europäischen Ländern, erläutert er beispielsweise anhand des Englischen Bürgerkriegs, der Glorious Revolution37 und der Französischen Revolution.38 Anders gesagt, und um noch einmal die Konturen von Eichendorffs politischem Mittelalterbild zu schärfen: Die vertrauensvolle Ganzheitlichkeit des Mittelalters ist der Gegenentwurf zum zersetzenden Zweifel der eigenen Zeit, der mit dem aufgeklärten Verstand im Bunde steht und sich politisch in den Prinzipien des Liberalismus und der Revolution niederschlägt. Oder, noch anders gesagt: Die ‚politische Gewalt des Mittelal-

34 Joseph von Eichendorff: Politische Abhandlung über preußische Verfassungsfragen. In: Ders.: Historische und politische Schriften. Text. Hrsg. von A NTONIE M AGEN, Tübingen 2007, S. 89–120, hier S. 119 (Hervorhebung im Original). 35 Eichendorff: Preußen und die Konstitutionen (wie Anm. 29), S. 187. 36 Dieser Gedanke findet sich am klarsten in der Einleitung zur heiligen Hedwig formuliert, die Eichendorff gegen Ende seines Lebens verfasst: Joseph von Eichendorff: Einleitung zur heiligen Hedwig. In: Ders.: Historische und politische Schriften. Text. Hrsg. von A NTONIE M AGEN, Tübingen 2007, S. 593–643, hier S. 609. Vgl. zu diesem Werk auch Kap. 2.1 des Beitrags von M ATHIAS HERWEG im vorliegenden Band. 37 Eichendorff: Politische Abhandlung über preußische Verfassungsfragen (wie Anm. 34), S. 107. 38 Eichendorff: Preußen und die Konstitutionen (wie Anm. 29), S. 124.

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ters‘ liegt ganz konkret in ihrer antiliberalen Tendenz, die Eichendorff (als Reaktion auf die Julirevolution von 1830 und die mit ihr verbundenen liberalen Verfassungsforderungen) in seine Verfassungsschriften einschlägt. Das Mittelalter wird mithin in Eichendorffs politischem Denken zu einer Art von Propagandakonzept, mit dessen Hilfe er sich gegen zeitgenössische politische Umbrüche zur Wehr zu setzen versucht. Dieses Konzept aber gehörte im Vormärz schon längst auf den Scherbenhaufen der Geschichte. Zumindest waren die theoretischen Überlegungen, die auf diese Weise argumentierten, um 1830 bereits weit ins Hintertreffen geraten. Das zeigen die Mittelaltervorstellungen von Eichendorffs weltanschaulichen Gegenspielern. Denn auch die liberalen Gelehrten und Publizisten Karl von Rotteck, Johann Jakob Siebenpfeiffer und Johann Georg August Wirth, die Eichendorff in der politischen Satire Auch ich war in Arkadien39 als Vorreiter des fehlgeleiteten Liberalismus verhöhnt, bemühen das Mittelalter, um ihren politischen Vorstellungen und Forderungen Nachdruck zu verleihen – allerdings mit ganz anderen Schwerpunkten, als das bei Eichendorff geschieht, und auch mit einem ganz anderen praktischen Erfolg. Besonderes aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang das Mittelalterbild Karl von Rottecks. Rotteck, 1798 zum ordentlichen öffentlichen Professor der Weltgeschichte an der Universität Freiburg ernannt,40 räumt in seinen zahlreichen historischen Publikationen dem Mittelalter zentralen Raum ein. So sind dieser Epoche allein in der 1830 in siebenter Auflage erschienenen neunbändigen Allgemeinen Geschichte vom Anfang der historischen Kenntniß bis auf unsere Zeiten41 vier Bände gewidmet, und in der 1839 in vierter Auflage publizierten Allgemeinen Weltgeschichte für alle Stände. Von den frühesten Zeiten bis zum Jahr 183142 liegt der Schwerpunkt ebenfalls auf dem Mittelalter. Der Unterschied in den Mittelalterbildern Eichendorffs und Rottecks, der sich zeit seines Lebens für die endgültige Abschaffung der Relikte mittelalterlichen Lehnsrechts ausgesprochen hat,43 ist zunächst einmal

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Joseph von Eichendorff: Auch ich war in Arkadien. In: Ders.: Erzählungen. 2. Teil. Fragmente und Nachgelassenes. Text und Kommentar. Hrsg. von HEINZ-PETER NIEWERTH, Tübingen 2006, S. 157–213. 40 M ANFRED FRIEDRICH : Karl Wenceslaus Rodeckher von Rotteck. In: Neue Deutsche Biographie, Berlin 2005, Bd. XXII, S. 138–140, hier S. 139. 41 Carl von Rotteck: Allgemeine Geschichte vom Anfang der historischen Kenntniß bis auf unsere Zeiten, 7. Aufl. Freiburg/Br. 1830. 42 Carl von Rotteck: Allgemeine Weltgeschichte für alle Stände. Von den frühesten Zeiten bis zum Jahre 1831, 4. Aufl. Stuttgart 1839. 43 Am deutlichsten wird dies an Rottecks Haltung in den Fragen der Abschaffung von Zehnt, Leibeigenschaftslasten und Frohnden. Im ersten Punkt setzte sich Rotteck be-

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der Umstand, dass Rotteck das Mittelalter nicht uneingeschränkt positiv sieht. Vielmehr interpretiert er es als eine durchaus mit Mängeln behaftete Periode, die nicht in allen Belangen der eigenen Zeit zum Vorbild dienen könne und die vor allem nicht alles das besessen habe, was der eigenen Gegenwart mangelt. Diese Differenz kommt hauptsächlich in der Verfassungsfrage zum Tragen: Im Gegensatz zu Eichendorff sieht Rotteck nämlich in der Tatsache, dass es im Mittelalter keine Verfassung gab, einen entscheidenden Nachteil. So ist in der Einleitung zum zweiten Band der Allgemeinen Weltgeschichte anlässlich des Begriffs ‚Barbarei‘ folgende Passage zu lesen, die sich ausdrücklich an die „entschiedensten Lobredner“ des Mittelalters richtet, mithin an Mittelalterfreunde wie Eichendorff, Schlegel oder Novalis: Daß aber dieser Ausdruck [Barbarei] zur Bezeichnung des Mittelalters passe, geht wohl schon aus der flüchtigsten Uebersicht derjenigen […] Mängel hervor, welche auch die entschiedensten Lobredner jener Zeit in derselben erkennen müssen, wiewohl sie […] selbst diese Mängel als Vorzüge oder Tugenden darzustellen gesucht haben. Als solche Gebrechen […] wollen wir nur vorläufig einige der hervorstechendsten nennen: eine schlecht geregelte politische Verfassung, zwischen Anarchie und Tyrannei hin und her schwankend, einerseits die Masse des Volkes bis zur Leibeigenschaft niederdrückend, und andererseits in den Befehdungen das natürliche Faustrecht sanktionierend.44

Diese Sicht auf das Mittelalter steht derjenigen, die Eichendorff nahezu zeitgleich, aber mit Rückgriff auf deutlich ältere Vordenker entwickelte, diametral entgegen. Auch hier gilt für Eichendorff das, was er in dem Novellenfragment Unstern selbstironisch als sein Lebensschicksal beschrieben hat: Er war zu spät gekommen.45 Die Möglichkeiten, die historische Perspektive auf das Mittelalter politisch zu instrumentalisieren, hatten

zeichnenderweise mit Eichendorffs Heidelberger Lehrer Thibaut auseinander und bezog gegen ihn Stellung. Karl von Rotteck: Sammlung kleinerer Schriften. Meist historischen oder politischen Inhalts, Stuttgart u. a. 1837, Bd. 5. 44 Rotteck: Allgemeine Weltgeschichte für alle Stände von den frühesten Zeiten bis zum Jahre 1831 (wie Anm. 42), Bd. 2, S. 209. 45 Joseph von Eichendorff: Unstern, Novelle. In: Ders.: Erzählungen. Dritter Teil. Autobiographische Fragmente. Text und Kommentar. Hrsg. von DIETMAR KUNISCH, Tübingen 1998, S. 24–45, hier S. 40. An dieser Stelle beschreibt Eichendorff die Umstände seiner Geburt folgendermaßen: „Nun donnerte draußen unaufhaltsam Böller auf Böller, die Trompeten schmetterten, die Schloßuhr schlug gantz verwirrt Zwölfe dazwischen – alles umsonst: die Riechfläschchen für meine Mutter waren nicht so schnell herbeigeschafft, die Constellation, trotz den vortrefflichen Aspecten, war verpaßt, ich wurde gerade um anderthalb Minuten zu spät geboren. Eine lumpige Spanne Zeit! u. doch holt sie Keiner wieder ein, das Glück ist einmal im Vorsprung, er im Nachtrab, u. es ist schlecht traben, wenn man vor lauter Eile mit der einen Hand in den falschen Aermel gefahren, u. mit der anderen, um keine Zeit zu verlieren, sich die Beinkleider halten muß.“

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sich innerhalb des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts schnell und sehr deutlich verändert. Zu Anfang dieses Jahrhunderts hatte die romantische Verherrlichung des Mittelalters noch Erfolg, auch politischen. Das zeigt beispielsweise die Rezeption derjenigen Texte, in denen Novalis eine mittelalterliche Staatsform verklärt, um eine Verfassung abzulehnen. In dem Fragment Glaube und Liebe, oder der König und die Königin, das erstmals 1798 in den Jahrbüchern der preußischen Monarchie veröffentlicht wurde, heißt es: Ein wahrhaftes Königspaar ist für den ganzen Menschen, was eine Constitution für den bloßen Verstand ist. Man kann sich für eine Constitution nur, wie für einen Buchstaben interessieren. […] Meinethalben mag jetzt der Buchstabe an der Zeit seyn. Es ist kein großes Lob für die Zeit.46

Auch an anderen Stellen macht Novalis immer wieder auf die Unmenschlichkeit eines Staates aufmerksam, der ausschließlich auf dem verstandesmäßig gesetzten Buchstaben einer Konstitution beruht: Ein Gedanke, der zu Anfang des 19. Jahrhunderts noch durchaus staatstragend war, was nicht zuletzt der Umstand zeigt, dass Friedrich Wilhelm III. ihn in mehrere Gesetzestexte aufnehmen ließ. So ist beispielsweise in der Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzial-, Polizei- und Finanz-Behörden vom 26. Dezember 1808 die Rede davon, den „todten Buchstaben des formalen Geschäftsganges“ zu vermindern und durch menschliche Güte zu ersetzen.47 Auch andere Aspekte der romantischen Mittelalterverherrlichung zeitigten zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch durchaus politische Wirkung.48 Man denke nur an die Rolle, welche der Mediävalismus während der französischen Besatzung und in den Befreiungskriegen spielte: Die Abwehr der napoleonischen Herrschaft fand nicht nur auf dem Schlachtfeld statt, sondern ebenso in Publizistik und Literatur. Diese sind nicht unwesentlich für antifranzösische Propaganda zuständig und geprägt durch den Rückgriff auf alles, das auch nur im Entferntesten der Stärkung eines deutschen Nationalbewusstseins dienen konnte. Das geschah nicht unerheblich durch einen Rückgriff auf das Mittelalter. Die Beispiele hier-

46 Novalis: Glaube und Liebe oder der König und die Königin (wie Anm. 33), S. 487–488. 47 Sammlung der für die Königlichen Preußischen Staaten erschienenen Gesetze und Verordnungen von 1806 bis zum 27. Oktober 1810, mit Ausschluß der in der ersten Abtheilung des 12. Bandes der Myliusschen Edikten-Sammlung schon enthaltenen Verordnungen aus dem Jahre 1806, als Anhang zu der seit dem Jahre 1810 edirten Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, Berlin 1822, S. 465. 48 Zu diesem Komplex vgl. neben dem Aufsatz von R EISS (wie Anm. 32) v. a. auch den Beitrag von GERARD KOZIEŁEK : Ideologische Aspekte der Mittelalter-Rezeption zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Mittelalter-Rezeption. Ein Symposium. Hrsg. von PETER WAPNEWSKI, Stuttgart 1986, S. 119–132.

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für sind bekannt: die Volksmärchen, welche die Brüder Grimm sammelten und in zwei Bänden 1815 und 1817 publizierten, das lyrische Pendant dieser Märchensammlung, die Gedichtsammlung Des Knaben Wunderhorn, die Clemens Brentano und Achim von Arnim bereits 1805 mit dem bezeichnenden Untertitel Alte deutsche Lieder versehen hatten, die Teutschen Volksbücher, die Joseph Görres in Heidelberg gesammelt hatte, die Deutschen Sagen, die 1816 und 1818 ebenfalls von den Brüdern Grimm herausgegeben worden waren, sowie die 1815 von Jakob Grimm publizierte Sammlung deutscher Rechtstexte. Letztere waren für den Juristen und politischen Denker Eichendorff von besonderer Bedeutung. Die politischen Zeiten hatten sich zu Beginn der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts allerdings gravierend geändert. Geändert hatte sich auch die Tauglichkeit des romantischen Mittelalters als staatstragenden Propagandakonzepts. Das zeigen jene Verfassungsschriften Eichendorffs, in denen er versucht, eben diese Brauchbarkeit, die er aus seinem Studium kannte und mit der er in seiner Examensarbeit noch erfolgreich war, zu restituieren. Gelungen ist ihm das nicht – im Gegenteil: Er hatte nicht bemerkt, dass man nicht länger mit einem mehr oder weniger holzschnittartigen mittelalterlichem Staatsideal argumentieren konnte. Deutlich wird das vor allem aus der Rezeptionsgeschichte der verfassungsrechtlichen Aufsätze: Diese waren ursprünglich, zumindest zum Teil, als Beiträge für die Historisch-politische Zeitschrift gedacht, die 1831 als im Grunde konservatives Organ gegründet wurde und 1832 erstmals erschien, herausgegeben von dem Historiker Leopold von Ranke.49 Allerdings wurden sie weder dort noch andernorts zu Eichendorffs Lebzeiten gedruckt. Der Grund hierfür ist aus einem Brief ersichtlich, in dem der Verleger der Zeitschrift, Carl Duncker, Eichendorff die Fähigkeit zur Mitarbeit abspricht. Wörtlich heißt es hier: Eichendorff scheint nicht der rechte Mann. Seinen Aufsatz für das erste Heft läßt der richtige Takt Rankes […] wegfallen. Dieser Aufsatz ‚Über Garantien‘ mag allzu sehr die Absicht verraten haben darzuthun, dass Preußen keiner Konstitution bedürfe und man muß daher – wie überzeugend das auch deducirt seyn möge – der öffentlichen Meinung wegen Diejenigen loben, die mit richtigem Gefühl erkannten, dass man gerade damit die Zeitschrift nicht eröffnen kann.50

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A NTONIE M AGEN : Entstehung und Überlieferung [zu: Schriften zur Verfassungsfrage]. In: Joseph von Eichendorff: Historische und politische Schriften. Kommentar. Hrsg. von A NTONIE M AGEN, Tübingen 2007, S. 41–44, hier S. 42f. 50 Karl Duncker: Brief an Friedrich Perthes vom 28. Januar 1832. In: Joseph von Eichendorff im Urteil seiner Zeit, Dokumente 1788–1843. Hrsg. von GÜNTER und IRMGARD NIGGL , Stuttgart u. a. 1975, S. 200.

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Daraus geht hervor, dass sich Eichendorffs offensichtliche Ablehnung einer Verfassung zu Beginn der 1830er Jahre selbst in konservativen Kreisen nicht mehr vertreten ließ. Das liegt nicht unerheblich daran, dass sich in seinen Verfassungsschriften Staatstheorien behaupteten, die nicht zuletzt auf einem romantischen Mittelalterbild basierten. Dieses setzte sich einerseits aus abstrakten geschichtsphilosophischen Komponenten und andererseits aus konkreten politischen Grundsätzen wie Lehnstreue und Feudalordnung zusammen, die im Vormärz endgültig zu einem Anachronismus geworden waren und jedweden politischen Pragmatismus entbehrten.

JULIA ILGNER

Renaissancismus im historischen Roman des 19. Jahrhunderts Wilhelm Grothes Borgia-Trilogie (1867) Sie sprachen von einem Stoff aus der Renaissance. Lassen Sie mich Ihnen darauf, verehrter Herr, offen antworten: Ich glaube, daß nicht nur ich, sondern jeder dichterisch schaffende Mensch unserer Zeit keine Epoche mit so präziser Unlust, ja mit sicherem Widerwillen aus seinem Schaffen ausschließen wird, wie diese Epoche. Die Stoffe aus der Renaissance scheinen dazu bestimmt, die Pinsel der unerfreulichsten Maler und die Federn der unglücklichsten Dichter in Bewegung zu setzten. Trotz umlaufender Phrasen – die übrigens seit ein paar Jahren schon mehr im Verstummen sind – glaube ich, daß uns keine Epoche in ihrem Lebensinhalt so völlig fern ist als diese –, und daß sogar keinem Kostüm auf der Bühne eine geringere Suggestionskraft innewohnt (nicht einmal der Allongeperückenzeit) als der bis zum Grausen abgebrauchten Lieblingsdrapierung der sechziger und achtziger Jahre: Renaissance!1

Die kategorische Absage, die Hugo von Hofmannsthal im Jahr 1906 der Renaissance als literarischem Sujet erteilt, markiert einen Wendepunkt innerhalb der kulturellen Strömung des sogenannten Renaissancismus und zählt zu den in diesem Kontext meistzitierten Passagen der Forschung. Vermittelt durch Jacob Burckhardt, Joseph Arthur Graf Gobineau, Walter Pater und Friedrich Nietzsche kulminierte die Bewegung in der Spielart der ‚hysterischen Renaissance‘ Heinrich Manns, bevor die Auseinandersetzung mit derselben bei Thomas Mann die endgültige Abkehr einleitete.2 Angesichts des Bekanntheitsgrades erstaunt es, dass das rigide Diktum eines tonangebenden Schriftstellers der Zeit, der durch eigene Arbeiten

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Hugo von Hofmannsthal an Richard Strauss, 27.4.1906. In: Richard Strauss/Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel. Hrsg. von FRANZ STRAUSS /A LICE STRAUSS, Zürich 1952, S. 15. Aussagekräftig für Thomas Manns Verhältnis zur Renaissance ist neben den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) die frühe Novelle Tonio Kröger (1903), in welcher der Held gegenüber der Malerin Lisaweta ein vernichtendes Urteil über die grassierende Italienverehrung fällt. Vgl. dazu die knappe Darstellung bei HANNO-WALTER KRUFT: Renaissance und

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geradezu normativ zur Bewegung beitrug,3 zumeist nur illustrativ oder als besonders eindrückliche Belegstelle angeführt wird. Lassen sich doch an eben diesem die wesentlichen Merkmale des Phänomens Renaissancismus aufzeigen.

1. Renaissancismus in der Literatur um 1900 Zunächst folgt aus der poetologischen Positionierung, die Hofmannsthal vornimmt, die Kontextgebundenheit der Bewegung. Die stoffliche Attraktivität der Renaissance als Gegenstand künstlerischer Rezeption ist abhängig von Dispositionen des zeitgenössischen Geschmacks. Dies setzt voraus, dass die Renaissance als Rezeptionsgegenstand für die wilhelminische Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts zuvor ausreichend Berührungspunkte geboten haben muss. Das Potential zur Adaption lag in einer vermeintlichen inneren Wesensgleichheit der Epochen begründet. Für die Künstler des Fin de siècle fungierte das italienische Quattro- und Cinquecento mit seiner Wiederentdeckung der klassischen Antike als Projektionsfläche geistiger, ästhetischer, aber auch sozialer wie politischer Werte, auf deren Einlösung in der eigenen Gegenwart sie vergeblich hofften. Der bei Hofmannsthal deutlich negativ konnotierte Renaissance-Begriff fokussiert zweitens die Interpreten, jene ‚unerfreulichsten Maler‘ und ‚unglücklichsten Dichter‘, die mit Pinsel respektive Feder die entrückte Zeit neu erstehen ließen. Gemeint sind vornehmlich inferiore Autoren des Historiendramas wie Martin Greif, Albert Lindner oder Robert Hamerling. Damit gerät drittens die Rezipientenseite in die Kritik. Die Inszenierung der Renaissance als Historienspektakel auf den europäischen Bühnen präsentierte eine abgelebte Welt und erschöpfte sich derart in Manierismen, dass nicht einmal die Extravaganz der Requisiten über die Leere der Phrasen hinwegtäuschen konnte.4

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Renaissancismus bei Thomas Mann. In: Renaissance und Renaissancismus von Jacob Burckhardt bis Thomas Mann. Hrsg. von AUGUST BUCK, Tübingen 1990, Bd. 4, S. 89–102. Neben dem lyrischen Werk stehen die frühen Dramen (Gestern, 1891; Die Frau im Fenster, 1898; Tod des Tizian, 1901) in der Tradition einer ästhetischen Aneignung der Renaissance. Dass Hofmannsthals Renaissancebild sich dabei gerade nicht in einer rein stofflichen Adaption als Folge der Rezeption PATERS erschöpft, haben Fallstudien zu den intertextuellen Bezügen im Werk ergeben. Vgl. ACHIM AURNHAMMER : „Zur Zeit der großen Maler“. Der Renaissancismus im Frühwerk Hugo von Hofmannsthals. In: Il Rinascimento nell´Ottocento in Italia e Germania/Die Renaissance im 19. Jahrhundert in Italien und Deutschland. Hrsg. von AUGUST BUCK /CESARE VASOLI, Bologna u. a. 1989, S. 231–260. Die Genannten stehen stellvertretend für das Gros der Historiendichter nach 1850. In der Nachfolge Georg Büchners, Christian Dietrich Grabbes oder Friedrich Hebbels manifestierte sich ihr Epigonentum in handlungs- und charakterarmen Bühnenstücken,

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Der Begriff des Renaissancismus wurde ursprünglich von Seiten der Kunstgeschichte geprägt5 und dann im Kontext der Realismusforschung auf das novellistische Werk Conrad Ferdinand Meyers übertragen.6 Erfasst ihn nun die Literaturwissenschaft als einen „um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vor allem in Deutschland blühenden modischen Kult der Renaissance“,7 eine „Erscheinungsform der Dekadenz“8 und „geistig-künstlerische[s] Phänomen, das sich in der deutschsprachigen Literatur vor allem im Drama manifestiert“,9 so fällt die weitgehende Übereinstimmung mit der zeitgenössischen Einschätzung Hofmannsthals auf. Analogien bestehen nicht nur hinsichtlich der Favorisierung des Dramas als Genre, sondern auch im Hinblick auf die Zeitgebundenheit der Bewegung. WALTER REHM glaubte ergänzend zum „Renaissancekult“ einen „Renaissanceästhetizismus“10 ausmachen zu können, eine genuin literarisch geprägte Ausformung innerhalb einer gesamtgesellschaftlichen „Renaissancegesinnung“,11 eines universalen „Renaissance-Revivals“.12 Allein diese Widerspiegelung in den Künsten als eine Spielart der Renaissan-

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deren Hauptaugenmerk weniger auf einer ästhetischen Aneignung oder sozialkritischen Umdeutung des gewählten historischen Moments ruhte, als auf der Erzielung von Effekt und Wirkung – oder, wie ENGELMANN in Bezug auf Albert Lindner konstatiert: „[D]ie gleichen alltäglichen Motive und Gestalten […]: kleinlicher, neidischer Haß; unglaubwürdige Zufälle, welche den Knoten zur rechten Zeit schürzen helfen; verworfene Personentypen, erfüllt vom Vernichtungswillen; der Katzenjammer der Bösen am Schluß der Handlung“. GÜNTHER ENGELMANN : Das historische Drama im ausgehenden 19. Jahrhundert unter dem Zeichen des Renaissancismus und der nationalen Einigung, München 1957, S. 69. Gemeinhin gilt die Verwendung des Begriffs bei FRIEDRICH H AACK als frühester Beleg. Vgl. FRIEDRICH H AACK : Die Kunst des XIX. Jahrhunderts, 3. Aufl. Esslingen 1909, S. 195. Vgl. FRANZ FERDINAND BAUMGARTEN : Das Werk Conrad Ferdinand Meyers. RenaissanceEmpfinden und Stilkunst, München 1917, S. 6. AUGUST BUCK : Einführung. In: Renaissance und Renaissancismus von Jacob Burckhardt bis Thomas Mann. Hrsg. von dems., Tübingen 1990, Bd. 4, S. 1–4, hier S. 2. AUGUST BUCK : Burckhardt und die italienische Renaissance. In: Renaissance und Renaissancismus von Jacob Burckhardt bis Thomas Mann. Hrsg. von dems., Tübingen 1990, Bd. 4, S. 5–12, hier S. 8 und 12. GERD UEKERMANN : Renaissancismus und Fin de siècle. Die italienische Renaissance in der deutschen Dramatik der letzten Jahrhundertwende, Berlin u. a. 1985, S. 40. WALTER R EHM : Der Renaissancekult um 1900 und seine Überwindung. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 54 (1929), S. 296–328, hier S. 304. BUCK (wie Anm. 8), S. 12. Vgl. DENIS FORASACCO : Girolamo Savonarola in der deutschen Dichtung um 1900. Zwischen fiktivem Archetypus und Projektionsfigur der Krise, Hamburg 2008, S. XIV, sowie L EA R ITTER-SANTINI : Maniera Grande. Über italienische Renaissance und deutsche Jahrhundertwende. In: Deutsche Literatur der Jahrhundertwende. Hrsg. von VIKTOR ŽMEGAČ, Königstein 1981, S. 242–272, hier S. 246. Die angeführten Belege stehen stellvertretend für die insgesamt heterogene Begrifflichkeit. So spricht ferner GÜNTHER ENGELMANN im Kontext des Historiendramas von einem allgemein vorherrschenden „renaissancistischen Lebensgefühl“. ENGELMANN (wie Anm. 4), S. 7.

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cerezeption ist im Folgenden von Belang, wenn es darum geht, die Resultate dieser Aneignung formal und inhaltlich zu bestimmen. So spielen die dem Renaissancismus zugerechneten Dramen und Novellen häufig in einer zumeist nicht näher bestimmten Zeit, die jedoch unschwer als Belle Epoque zu erkennen ist. Die Wiederbelebung des 15. und 16. Jahrhunderts in der Historiendichtung stellt hingegen eher die Ausnahme dar. Der namenlose Handlungsraum ist italianisiert und weist in seiner Landschaftsdarstellung, in Referenzen auf Architektur und Interieur, die Merkmale des Südens auf. Diesen arkadischen Sehnsuchtsort bevölkert ein Ensemble verhinderter ‚Übermenschen’, die sich im Umfeld der Kunst einem amoralischen Schönheits- und Liebeskult hingeben. Die literarisierte Renaissance um 1900 war somit hochgradig überformt. Motiviert durch das Leiden an der eigenen, als unzulänglich empfundenen Gegenwart, orientierte man sich an jenen Zeitepochen, die politisch, sozial und kulturell für Größe und Stabilität einstehen sollten oder mochten. Das Italien der Renaissance als Garant einer geistigen wie künstlerischen Blüte fungierte als Gegenwelt wie auch als Surrogat, jedenfalls als romantisch verklärtes Ideal, auf das die Wünsche und Illusionen der wilhelminischen Kunstelite projiziert werden konnten. Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Begreift man Renaissancismus als primär ästhetische Stilrichtung der literarischen Décadence zwischen 1890 und 1910,13 die konkurrierend zur Neuromantik und Neuklassik, zu Jugendstil, Symbolismus sowie Impressionismus existiert, die erstens im Kontext eines gesellschaftlich motivierten, allumfassenden Renaissancekultes zu sehen ist, zweitens durch kanonisierte Geistesgrößen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermittelt wurde14 und drittens

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Die dekadente Prägung des Renaissancismus akzentuieren etwa DENIS FORASACCO (wie Anm. 12), S. XIV, sowie FRANK-RUTGER H AUSMANN : Literatur und Kunst um die Jahrhundertwende – Gabriele D´Annunzio und die Bildende Kunst. In: Bilderwelten als Vergegenwärtigung und Verrätselung der Welt. Literatur und Kunst um die Jahrhundertwende. Hrsg. von VOLKER K NAPP /HELMUTH K IESEL /K LAUS LUBBERS, Berlin 1997, S. 91–107, hier S. 95. H AUSMANN fasst den „Dekadentismus“ als „die letzte Blüte des sog. Renaissancismus“. Üblicherweise werden Jacob Burckhardt (Der Cicerone, 1855; Die Kultur der Renaissance in Italien, 1860), Friedrich Nietzsche (Menschliches, Allzumenschliches, 1878; Der Antichrist, 1894) und Joseph Arthur Graf Gobineau (Die Renaissance, 1873/74) als Vermittlungsinstanzen angeführt. Für die Geschichtsschreibung wären zumindest Georg Voigt (Die Wiederbelebung des classischen Althertums oder das erste Jahrhundert des Humanismus, 1859), Ferdinand Gregorovius (Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, 1859–1872; Lucrezia Borgia, 1874) und John Addington Symonds (The Renaissance. An Essay, 1863) zu nennen. Auf die Bedeutung der Kunstgeschichte, etwa die Arbeiten Walter Paters (The Renaissance. Studies in Art and Poetry, 1873), wurde vereinzelt hingewiesen.

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gattungsgeschichtlich weitgehend auf das Drama begrenzt ist,15 so handelt es sich doch um ein relationales Konzept. Es bedarf einerseits der Abgrenzung, andererseits der Erweiterung.

2. Plädoyer für einen ‚anderen Renaissancismus‘ Bei dem Versuch einer Neubestimmung des Renaissancismus scheint mir eine Erweiterung der Analysekriterien in dreierlei Hinsicht angebracht: zeitlich, gattungs- und forschungsgeschichtlich. Der erste Eingriff sieht unter Bezugnahme auf GERD UEKERMANNS Phasenmodell des Renaissancismus in Deutschland16 eine Erweiterung des Untersuchungszeitraums vor. Zwar soll die Leitfunktion der Jahrhundertwende keinesfalls unterminiert werden. Eine Fokussierung auf die vorangegangene Literaturepoche des Realismus scheint jedoch insofern notwendig, als gerade jene Phase mit der Professionalisierung der Renaissanceforschung korrespondiert: Im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbessert sich die Zugänglichkeit historischen Wissens über das italienische Quattro- und Cinquecento kontinuierlich: Dabei wurde im Zuge seiner Wiederentdeckung Jacob Burckhardt zum alleingültigen Gründervater der deutschen Renaissanceforschung stilisiert. Zweifellos besitzen Burckhardts Werke, allen voran die Kultur der Renaissance in Italien (1860)17 initiatorische Funktion, gleichwohl verhinderte eine verspätete Rezeption die unmittelbare Ein-

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Vgl. MICHAEL T. O’PECKO : Renaissancism and the German Drama 1890–1910, Baltimore 1976; GERD UEKERMANN : (wie Anm. 9). Als Gattung par excellence gilt das sogenannte ‚Renaissancedrama‘, etwa die lyrischen Dramen Hugo von Hofmannsthals, die frühen Arbeiten Rainer Maria Rilkes (Die weiße Fürstin, 1899), Arthur Schnitzlers Der Schleier der Beatrice (1901) und Lebendige Stunden (1902) sowie Thomas Manns Fiorenza (1906). Unter den epischen Beiträgen sind neben Conrad Ferdinand Meyers Renaissancenovellen (Die Hochzeit des Mönchs, 1884; Die Versuchung des Pescara, 1887; Angela Borgia, 1891), auch Thomas Manns Gladius Dei (1902), Heinrich Manns Erzählungen (Pippo Spano, 1904) sowie die Trilogie Die Göttinnen oder Die drei Romane der Herzogin von Assy (1902) zu nennen. Seltener werden Autoren wie Ricarda Huch (Evoë!, 1892), Oskar Panizza (Das Liebeskonzil, 1894), Paul Heyse (Die Fornarina, 1896), Richard Voß (Savonarola, 1878; Rafael, 1883) oder Ernst von Wildenbruch (Der Fürst von Verona, 1886) hinzugerechnet. Vgl. UEKERMANN (wie Anm. 9), S. 14–29, der für den deutschsprachigen Raum insgesamt fünf Stationen des Renaissancismus unterscheidet: Nach einer initiatorischen Phase des Sammeleifers und der Editionstätigkeit um 1800, sowie der Wirksamkeit Karls Friedrich von Rumohr um 1830, markiert die Zeit um 1860 mit Burckhardt, Voigt, Grimm und anderen den wissenschaftlichen Höhepunkt. Auf die Burckhardt-Rezeption Friedrich Nietzsches und dessen Umdeutung des Renaissancebegriffs um 1880 folgt mit der Aneignung durch die Künste um 1900 die letzte Phase der Rezeption. Jacob Burckhardt: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, Basel 1860.

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flussnahme, bis „das Buch zu einer der kanonischen Lektüren des deutschen Bildungsbürgertums“ avancieren konnte.18 Stattdessen gewannen in den 1870er und 1880er Jahren zunehmend auch andere Autoren an Popularität. Der Renaissancediskurs der Künstler und Schriftsteller wurde maßgeblich durch Texte bestimmt, die in Form biografischer Porträts, essayistischer oder kulturwissenschaftlicher Schriften den engen Rahmen von Historiografie sprengen. Neben Charakterstudien zu Zentralgestalten der Epoche19 und Arbeiten über die verschiedenen Renaissancezentren20 gelangt 1872 mit dem Erscheinen des achten Bandes Ferdinand Gregorovius’ Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter21 zum Abschluss. Wenig später liegt auch Alfred von Reumonts Toskanische Geschichte vor, die an seine epochal angelegte Geschichte der Stadt Rom anschließt, in Abgrenzung zu Gregorovius jedoch verstärkt das ausgehende Mittelalter in den Blick nimmt.22 Mit der Jahrhundertwende bricht eine Zeit an, in der die Kunstgeschichte ungewöhnlich stark das öffentliche Bewusstsein formte und Eingang in die Literatur fand. So gewinnen die Studien Walter Paters23 an Bedeutung, deren literarische Rezeption in Einzelfällen bereits detailliert nachgewiesen wurde, ferner Bernard Berensons Die florentinischen Maler der Renaissance,24 Heinrich Wölfflins Renaissance und Barock25 sowie die großen Künstlerbiografien Hermann Grimms, Anton Springers, Wilhelm

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FORASACCO (wie Anm. 12), S. 148. Als Maßstab für den Verbreitungsgrad Burckhardts hat die Forschung die Auflagenzahlen und -höhen herangezogen, die erst zur Jahrhundertwende Spitzenwerte erzielten. Vgl. BUCK (wie Anm. 7), S. 2. Georg Voigt: Enea Silvio de‘ Piccolomini als Papst Pius der Zweite, und sein Zeitalter, Berlin 1856–1863; Alfred von Reumont: Lorenzo de Medici il Magnifico, Leipzig 1874; Karl Hillebrand: Profile, Berlin 1878. Karl Brandi: Die Renaissance in Florenz und Rom. Acht Vorträge, Leipzig 1900. Ferdinand Gregorovius: Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Stuttgart 1859–1872 (Erstausgabe). Im Folgenden zitiere ich aus: Ferdinand Gregorovius: Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, 3. Aufl. Stuttgart 1880. Alfred von Reumont: Geschichte der Stadt Rom, Berlin 1867–70; ders.: Geschichte Toscana‘s seit dem Ende des florentinischen Freistaats, Gotha 1876f. Unter den Schriften Walter Paters ist vor allem The Renaissance. Studies in Art and Poetry (1893/1900, dt. Die Renaissance. Studien in Kunst und Poesie, 1902) von Relevanz. Vgl. ULRIKE STAMM : „Ein Kritiker aus dem Willen der Natur“. Hugo von Hofmannsthal und das Werk Walter Paters, Würzburg 1997; ferner HEIDE EILERT: „… daß man über die Künste überhaupt fast gar nicht reden soll“. Zum Kunst-Essay um 1900 und zur PaterRezeption bei Hofmannsthal, Rilke und Borchardt. In: Jugendstil und Kulturkritik. Zur Literatur und Kunst um 1900. Hrsg. von A NDREAS BEYER /DIETER BURDORF, Heidelberg 1999, S. 51–72. Bernard Berenson: The Drawings of the Florentine Painters. Classified Criticised and Studied as Documents in the History and Appreciation of Tuscan Art. London 1903; dt. Die florentinischen Maler der Renaissance, Oppeln u. a. 1898. Heinrich Wölfflin: Renaissance und Barock. Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien, München 1888.

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Bodes und Henry Thodes.26 Die Darstellung der Einzelgestalten als uomini universali geht sodann einher mit der Umdeutung des Renaissanceindividuums zum Übermenschen nietzscheanischer Prägung. Schließlich ergänzen die vielfach inzwischen übersetzt vorliegenden Quellen wie Vasari und Machiavelli27 oder die Dichtungen Dantes, Ariosts und Lorenzos de’ Medici die Lektüre. Vor diesem Hintergrund vermeidet die Erweiterung des Untersuchungsrahmens einen nur selektiven und punktuellen Nachweis der Rezeptionsvorgänge und versucht statt dessen, den literarischen Aneignungsprozess innerhalb einer longue durée zu sehen. Zweitens sehe ich von einer gattungsbezogenen Begrenzung ab, wie sie die bislang in der Forschung dominierende Konzentration auf das Drama darstellt.28 In Anlehnung an Tendenzen jüngerer Untersuchungen, die auch Lyrik sowie Romane, Novellen und Essays dem Renaissancismus zurechnen,29 empfiehlt sich eine gattungsübergreifende Betrachtung, vornehmlich auch des historischen Romans. Die rein quantitative Erweiterung des bislang vergleichsweise engen Korpus wird die Aufmerksamkeit auf noch weitgehend unbekannte Werke und Autoren richten, die zumeist als Repräsentanten der sogenannten Schema-, Tendenz- oder Trivialliteratur diffamiert wurden, insofern sich ihre Texte angeblich nicht durch künstlerische Innovation, sondern durch die Variation stereotyper Handlungsund Erzählschemata auszeichnen. Dieselben in einem veränderten Kontext zu betrachten, kann als Chance einer literaturhistorischen Korrektur begriffen werden. Gemeinsam ist den Romanen dieser Entstehungszeit (zwischen 1860 und 1880) ihr annähernd kongruentes Sujet, ihre Gattungszuschreibung (historischer Roman) und ihre ansehnliche zeitgenössische Leserschaft. Darüber hinaus aber zeichnet sich das Quellenkorpus durch eine große gestalterische Vielfalt aus. So spiegelt sich der Formenpluralis-

26 Während Leben und Werk Henry Thodes (Michelangelo und das Ende der Renaissance, Berlin 1902–1913) und Hermann Grimms (Leben Michelangelo´s, Hannover 1860–1863) bereits Aufmerksamkeit gewidmet wurde, fanden Springer (Raffael und Michelangelo, Leipzig 1883) und Bode als Vermittler der italienischen Kunst in der Nachfolge Burckhardts nur wenig Beachtung. Insbesondere eine eingehende Betrachtung von Bodes Renaissanceauffassung im Vergleich mit Konzepten der zeitgenössischen Dichtung könnte zu aufschlussreichen Ergebnissen führen. Vgl. Wilhelm Bode: Die italienische Plastik, Berlin 1891; ders.: Florentiner Bildhauer der Renaissance, Berlin 1902; ders.: Sandro Botticelli, Berlin 1921. 27 Vgl. Giorgio Vasari: Leben der ausgezeichneten Maler, Bildhauer und Baumeister, von Cimabue bis zum Jahre 1567. Hrsg. von LUDWIG SCHORN /ERNST FÖRSTER , Stuttgart u. a. 1832–1849, sowie Niccolò Macchiavelli: Sämmtliche Werke. Übers. von Johann Ziegler, Karlsruhe 1832ff. 28 Dazu trugen vor allem die zentralen Studien von ENGELMANN (wie Anm. 4) und UEKERMANN (wie Anm. 9) bei. 29 Vgl. FORASACCO (wie Anm. 12), S. XIV; H AUSMANN (wie Anm. 13), S. 95.

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mus auch terminologisch in der Ausdifferenzierung zwischen ‚Professorenroman‘, ‚kulturhistorischem Sittenbild‘‚ ‚vaterländischem Roman‘ und ‚geschichtlichem Genrebild‘ wider. Dieser Pluralismus resultiert zum einen aus der Anknüpfung an Erzählkonventionen anderer Romantypen wie Bildungs- bzw. Entwicklungs-, Künstler-, Abenteuer- und Reiseroman. Zum anderen erfolgt die Realisierung unterschiedlicher poetologischer Konzepte einer literarischen Geschichtsnarration in bewusster Abgrenzung zur Historiografie und den heuristischen Verfahren bzw. Schreibkonventionen der akademischen Disziplin.30 Die Literatur akzentuiert den Gegenwartsbezug und fungiert als Projektionsfläche politischer bzw. nationalstaatlicher Vorstellungen. Das Changieren zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen bringt dabei jeweils eigene Muster zu Tage, die es für den Einzelfall zu bestimmen gilt. Die Trivialisierung als Gegenmodell zur professionellen Historiografie sucht mit illusionserzeugenden Erzählverfahren (Verdichtung des dargestellten Geschehens, Verzicht auf Nebenhandlungen und Fiktionsindikatoren wie Erzählerkommentare) sowie mit ausgesuchten Handlungsmustern und Figurenkonzepten den Erwartungshorizont einer bestimmten Leserschaft zu befriedigen. Die Poetisierung qua intertextueller und intermedialer Referenzen stellt eine weitere Option der Abgrenzung dar. Hier wird die Fiktionalität des Werks durch autoreferentielle und metapoetische Passagen gezielt thematisiert, der jeweilige Text in Beziehungen gesetzt und seine Literarizität indiziert. Bestehende, durch Geschichtsschreibung wie Geschichtsdichtung erzeugte Erwartungshaltungen werden bestätigt bzw. konterkariert, jedenfalls als konstitutive Faktoren literarischer Produktion reflektiert. Freilich ließe sich einwenden, dass ein supplementäres Verfahren wie die Erweiterung des Textkorpus nicht zwangsläufig einen Erkenntnisgewinn hinsichtlich der Poetologie und des ästhetischen Profils eines renaissancistischen Stils generieren müsse. Dass hingegen eine monadologische Erfassung der Schlüsseltexte des literarischen Höhenkamms nicht ausreicht, legt schon die despektierliche Stellungnahme Hofmannsthals dar, der ja gerade nicht die Leitwerke der Neuklassik im Blick hatte. Die Werke der Kanonliteratur entstanden innerhalb eines historischen Feldes, auf das sie in Form kontextueller, paratextueller sowie intertextueller Bezüge referieren. Zweifelsohne lägen Thomas Manns Gladius Dei (1902) und Fiorenza (1906) nicht in der überlieferten Form vor ohne die Savonarola-Oper

30 Dass auch die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts keineswegs eine formal geschlossene Gattung bildet und sich unterschiedlicher Darstellungsverfahren bedient, wurde von Seiten der Geschichtswissenschaft hinreichend gezeigt. Vgl. dazu einführend Formen der Geschichtsschreibung. Hrsg. von R EINHARDT KOSELLECK, München 1982.

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Charles Villiers Stanfords (1884)31 oder die Theateradaptionen Wilhelm Uhdes, Ludwig Kelbers, Carl Hepps und Wilhelm Weigands,32 und fraglos wären auch Paul Heyses Raffael-Drama Die Fornarina (1896)33 und Klabunds Groteske Borgia. Roman einer Familie (1928)34 ohne jene von anderer Gestalt. Die Auswertung auch trivialliterarischer Beiträge vermag den Renaissancismus hinsichtlich formaler und inhaltlicher Aneignung präziser und differenzierter zu bestimmen. Ein dramatischer Text stellt andere Anforderungen an Stoff, Handlung und Figurenensemble als ein geschichtliches Epos oder eine historische Ballade. Der Renaissancismus dürfte als Gegenstand der Moderne-Forschung somit gewinnen, wenn er als Teilphänomen des Renaissancekultes im Rahmen einer weiter gefassten Mittelalter- bzw. Renaissancerezeption verortet werden könnte. Dies erfordert eine Explikation des ‚Renaissance‘-Begriffes, der den Rezeptionsgegenstand zeitlich und räumlich fixiert und eine Begrenzung der Quellen und historiografischen Zeugnisse ermöglicht. In Übereinstimmung mit der historischen wie auch der literaturgeschichtlichen Forschung soll hierfür die Ereignis-, Personen- und Kulturgeschichte Italiens vom ausgehenden 13. bis zum beginnenden 17. Jahrhundert festgesetzt werden.35 Dies verlangt eine gezielte Bestimmung der rezipierten Inhalte, Formen und Dokumente, was allein die rezeptionsgeschichtlichtextkritische Einzelanalyse leisten kann. Sie soll im Folgenden anhand des Romans Der Herzog von Valentinois (1867)36 des Berliner Schriftstellers Wilhelm Grothe (1830–1892)37 exemplifiziert werden.

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Charles Villiers Stanford: Savonarola. Oper in 3 Akten. Text von Gilbert Beckett. Uraufführung (in deutscher Übersetzung) am 18. April 1884 (Hamburg). 32 Wilhelm Uhde: Savonarola. Ein Schauspiel in 5 Akten. Dresden u. a. 1901; Ludwig Kelber: Savonarola. Dramatisches Gedicht, Leipzig 1900; Carl Hepp: Der Prior von San Marco. Ein Drama in 5 Aufzügen, Leipzig u. a. 1898; Wilhelm Weigand: Die Renaissance. Ein Dramenzyklus. Bd. 1: Tessa – Savonarola. Bd. 2: Cäsar Borgia – Lorenzino, München 1899. Zur Savonarola- Rezeption vgl. grundsätzlich M ARIA BRIE : Savonarola in der deutschen Literatur, Breslau 1903, A LFRED TEICHMANN : Savonarola in der deutschen Dichtung, Berlin 1924, sowie FORASACCO (wie Anm. 12). 33 Paul Heyse: Die Fornarina. Trauerspiel in 5 Akten, Leipzig 1896. 34 Klabund: Borgia. Roman einer Familie, Wien 1928. 35 Ich schließe mich diesbezüglich GERD UEKERMANN (wie Anm. 9), S. 33, an. 36 Wilhelm Grothe: Der Herzog von Valentinois. Historischer Roman, Berlin 1867. 37 R EINHARD MÜLLER : Grothe, Wilhelm. In: Deutsches Literatur-Lexikon. Begr. von Wilhelm Kosch, 3. Aufl. Bern u. a. 1978, Bd. 6, Sp. 900–901. Neben der Borgia-Trilogie sind unter anderem nachgewiesen: Schwert und Kapuze oder König Wenzeslav und die Seinen. Historischer Roman aus den ersten Zeiten der Hussiten (1861), Das Schwert des Rebellen oder Die Rose von Geyersberg oder Ritterstolz und Bauernknechtschaft (1878f.). Grothes generelles Interesse an herausragenden Einzelgestalten setzt sich im dramatischen Werk fort: Richelieu (1874), Zambo (1875), Strafford (1875).

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3. Der ‚Renaissanceroman‘ als Subgattung des historischen Romans In Anlehnung an das forschungsbegrifflich akkreditierte ‚Renaissancedrama‘ schlage ich vor, die der epischen Geschichtsdichtung zugehörigen Texte als ‚Renaissanceromane‘ zu bezeichnen.38 Sie bilden eine thematisch bedingte Subgattung des historischen Romans. Grothe eignet sich dafür aus mehreren Gründen als Fallbeispiel. Zum einen steht er in formaler Hinsicht stellvertretend für eine ganze Gruppe weiterer Autoren seiner Zeit.39 Deren Romane sind gegenwärtig allesamt weder Bestandteil des Kanons noch Gegenstand der germanistischen Forschung. Legt man die forschungsüblichen Kriterien dafür an, so lassen sie sich leicht als Unterhaltungs- bzw. Trivialliteratur kategorisieren, insofern sie mit den üblichen narrativen Strategien operieren: Bindung an präfigurierte Handlungsschemata, meist einem Dreischritt folgend; Verwendung eines festen Ensembles prototypischer Figuren mit bipolarer Ausrichtung zwischen Protagonist und Antipode; reduktionistisches Weltbild. Diese sind einem großen Lesepublikum vertraut, das durch ihre Reproduktion erreicht wird. Zum anderen eignet sich Der Herzog von Valentinois in stofflicher Hinsicht, da Grothe mit Cesare Borgia einen Prototyp der italienischen Hochrenaissance und damit eine „Schlüsselfigur des Renaissancismus“40 zum Protagonisten wählt, der bereits in den zeitgenössischen Historiendramen inflationär behandelt wurde und mit dem sich auch die Anspruchsliteratur auseinandersetzt. Mithin weist der Text eine intertextuelle Ebene auf, die ihn als Komposition im Diskurs zwischen Historiografie und Literatur verortet. Dem Postulat einer zeitlichen, gattungs- und forschungsgeschichtlichen Erweiterung gemäß, ergibt sich sodann folgendes Vorgehen: Anhand von Grothes Der Herzog von Valentinois soll das literaturwissenschaftlich bisher für die Literatur der Jahrhundertwende reservierte Stil- und Ästhetikkonzept des Renaissancismus auf eine Gattung übertragen werden, die nicht der Anspruchsliteratur zuzurechnen ist, dieser jedoch als populäre Spielart und Gegenentwurf zur Verfügung stand (gattungsgeschichtliche

38 Vgl. UEKERMANN (wie Anm. 9), S. 32. 39 Zu nennen wären Otto Müller (Aus Petrarcas alten Tagen, 1861/62) und Fridolin Hoffmann (Die Verschwörung der Pazzi, 1860) für die 1860er Jahre sowie Conrad von Bolanden (Savonarola. Eine alte Geschichte neu erzählt, 1882), Adolf Glaser (Savonarola. Erzählung aus der Blütezeit der Renaissance zu Florenz und in der ewigen Stadt, 1882) und Hermann Hirschfeld (Vom Ahn zum Enkel. Ein Roman aus den Tagen der Medici, 1881) für die 1880er Jahre. 40 BUCK (wie Anm. 8), S. 10.

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Erweiterung). Indem dabei ein Text aus einem vorgelagerten Zeitraum gewählt wird (zeitliche Erweiterung), können mittels der Aufdeckung von intertextuellen Bezügen die Rezeptions- und Traditionslinien sicherer bestimmt werden. Dies relativiert, indem es die exklusive Rolle einzelner, akkreditierter Autoren in Frage stellt, bislang gültige Annahmen (forschungsgeschichtliche Erweiterung). Zwei Aspekte, die gemeinhin als konstitutiv für den Renaissancismus gelten, werden dabei eingehender betrachtet: die Schilderung von Ornat, Requisiten und Interieur im Dienste einer atmosphärisch-suggestiven Evokation der Epoche sowie das Figurenkonzept des Renaissanceindividuums.

4. Cesare Borgia zwischen uomo universale und Übermensch Der Herzog von Valentinois nimmt, zwischen historiografischem und literarischem Erzählduktus changierend,41 im umfangreichen Œuvre Wilhelm Grothes eine Sonderstellung ein. Als zweiter Teil eines dreiteiligen Borgia-Zyklus ist er der titelstiftenden Figur des Cesare Borgia gewidmet, die bis in jüngste Zeit als „Inbegriff des Bösen schlechthin“42 gehandelt wurde. In 32, auf zwei Bände verteilten Kapiteln schildert der studierte Historiker Grothe Cesares Aufstieg zur Macht: beginnend mit dem Jahr 1497, in das die Ermordung des Bruders Giovanni Borgia fällt, über die Eroberung der Romagna bis zur Ernennung zum Herzog und Vasallen Ludwigs XII. sowie zur Heirat mit Charlotte d’Albrett, Prinzessin von Navarra, im Frühjahr 1499. Aufschluss über das typologische Menschenbild, das Cesare Borgia eingeschrieben ist, liefert die Einführung der Figur aus der Perspektive seiner Geliebten, der Jüdin Esther: Der Fremde gehörte nicht zu dem Geschlechte der Hebräer, das bemerkte das schöne Mädchen auf den ersten Blick; dazu war seine Haltung allzu aufgerichtet und selbstbewusst, man hätte stolz sagen können. Auch widersprach dem die Tracht, welche, so einfach und unscheinbar die Farben waren, in ihrem Schnitte den Cavalier zeigte: ein schwarzes Wams von Sammt mit weitgebauschten Ärmeln, Beinkleider von gleichem Stoff, die bis zur Hälfte der Lenden gingen und an denen sich seidene hohe Strümpfe anschlossen, ein ziemlich starkes Schwert

41

Zu den Verfahren historiografischen Erzählens zählen neben Belegstellen in Fußnoten auch sachkundig erläuternde Passagen im Haupttext, die den Leser über den historischen Kontext aufklären. Einer solchen Verifizierung des Erzählens stehen sodann Fiktionssignale (z. B. Binnenerzählungen, Erzählerkommentare) sowie Antikenreminiszenzen als Indikatoren von Literarizität gegenüber. 42 UWE NEUMAHR : Cesare Borgia. Der Fürst und die italienische Renaissance, München u. a. 2007, S. 11.

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mit kunstreich ciselirtem Korbe, das augenscheinlich nicht nur zur Zierde dienen sollte. Statt der gebräuchlicheren Schaube fiel ein unscheinbarer Radmantel von seinen Schultern, wie er damals des Nachts getragen wurde, wohl meistentheils um die Gestalt des Abenteurers, des zum süßen Stelldichein schleichenden Liebhabers zu verbergen. Das halblange Haar bedeckte ein kleiner spitzer Sammthut mit einer dunklen Feder. Die Gestalt des Fremden überstieg nicht die Mittelgröße, verrieth aber, so schlank und elegant sie war, eine ungewöhnliche Kraft. Ein schwarzer, kurzgehaltener Vollbart umrahmte ein bräunliches Antlitz, dessen bewegliche Züge auf Intelligenz und Geistesgewandtheit schließen ließen, wie sie sich im Einzelnen wohlgebildet und einnehmend zeigten. Dazu ein Auge voll von strahlendem Feuer, welches jetzt bewundernd auf Esther blickte.43

Die akribische Beschreibung der historisch exakt recherchierten Kleidung, einschließlich der Requisiten wie Schmuck und Waffen,44 suggerieren den Prototyp des jungen, sich seines gesellschaftlichen Ranges bewussten Adligen. Die Schilderung, die der vertikalen Blickrichtung der Betrachterin folgt, zuerst die Tracht, daraufhin die Insignien des Kondottiere und Kavaliers und anschließend Haupt und Antlitz wiedergibt, gemahnt an eine literarische Ekphrasis. Das wohl bekannteste und im 19. Jahrhundert durch die Publizistik verbreitete Porträt des jungen Herzogs dürfte Pate gestanden haben: Altobello Melones Cesare Borgia (1520).45 Ein vollendetes äußeres Erscheinungsbild gepaart mit körperlicher Kraft und geistiger Überlegenheit zeichnet ein Charakterbild des Papstsohnes, der mit dem Anspruch des Übermenschen avant la lettre nach der Tyrannei absoluter Macht strebt. Die Figur, ausgestattet mit einem untrüglichen Instinkt für menschliche Schwächen, bietet ein vollständiges Spektrum charakterlicher Niedertracht. Damit kombiniert sind außergewöhnliche Verstandesschärfe und eine vollkommene Ausbildung gemäß dem Kodex der Zeit. So inkarniert Grothes Borgia eine radikale Spielart des positiv konnotierten, ganzheitlich gebildeten uomo universale, den Renaissancemenschen als Produkt und Repräsentanten seiner Epoche:

43 Grothe (wie Anm. 37), Bd. 1, S. 32f. 44 Die Renaissancemode war um 1860, anders als zur Zeit der Décadence, historiografisch nur unzureichend erschlossen. Das besondere Interesse für die narrative Explikation der Requisiten scheint mir im Fall Grothes in seinen Berufserfahrungen zu liegen: Seit 1851 war er als Schauspieler tätig, 1855 wird er als Direktor einer Schauspielertruppe genannt. 45 Altobello Melone: Rittrato di gentiluomo, detto Cesare Borgia (1520), Bergamo, Galleria dell’ Accademia Carrara.

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Für ein goldenes Zeitalter mag Milde, mag Sanftmut passen, wo der Mensch nichts weiter als die Liebe kennt; das unsrige ist von Stahl. – Es ist gut, wie Alles gekommen, ich wurde emporgerüttelt, gekräftigt, um das zu erfüllen, weshalb mich die Schickung in die Welt gesetzt hat, um meine Aufgabe zu lösen. Keine Schwäche ferner! Vorwärts, Cesare! Valentinois, vorwärts!46

Erbarmungslos gegen andere wie gegen sich selbst, folgt Cesare den Erfordernissen der eigenen Gegenwart, einer Epoche des politischen, sozialen und moralischen Verfalls, der sich in der herodianischen Verschwendungssucht am Hofe Alexanders VI. spiegelt.47 In diesem Italien der Spätrenaissance obsiegt allein, wer die eigenen Absichten verbergen und die Mitspieler zu täuschen vermag. Mit seiner Lesart des Renaissancemenschen als janusköpfigem Wesen, dessen ganze Anstrengung darauf zielt, im immerwährenden gesellschaftlichen Rollenspiel niemals die eigene Maske fallen zu lassen, weicht Grothe von den Entwürfen ab, die die zeitgenössische Historiografie, namentlich in der kulturgeschichtlichen Deutung Burckhardts offeriert. Hier erfährt der Borgia eine deutlich mildere Behandlung: Zwar wird Cesare als Urheber von Raub, Mord und Vergiftung für das allgemeine Frevelwesen mitverantwortlich gemacht, allerdings verzichtet Burckhardt darauf, ihn zu den „absoluten Bösewichtern“, den „Menschen von absoluter Ruchlosigkeit“ zu rechnen, „bei welchen das Verbrechen auftritt um seiner selber willen, nicht mehr als Mittel zu einem Zweck“.48 Auch fehlt die Anlage Borgias als Meister der Täuschung und Verstellung. Seiner Schilderung als einem autoritären Gewaltmenschen, der im Dienste des Papsttums Alexanders VI. und der Eroberung Italiens selbst vor der Ermordung der eigenen Verwandten nicht zurückschreckte, steht immer auch die Faszination angesichts seiner geistigen Fähigkeiten gegenüber. Seine Darstellung bei Burckhardt unterscheidet sich nicht wesentlich von der anderer Tyrannen und Kondottieri der Epoche, etwa Sigismondo Malatestas, Aragonese Ferrantes und Ezzelinos da Romano, welcher letztere in seiner „Kolossalität des Verbrechens“ den Borgia noch übertroffen haben soll.49 Eher nimmt Grothe Anleihen bei Ferdinand Gregorovius, dessen Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter (1859–1872) zum Zeitpunkt der Niederschrift des Romans bis zum 7. bzw. 8. Band vorlag:50 Obschon die Borgia im Urteil des protestantischen Theologen Gregorovius den Kul-

46 47 48 49

Grothe (wie Anm. 37), Bd. 2, S. 210. Grothe (wie Anm. 37), Bd. 2, S. 22f. Burckhardt (wie Anm. 17), S. 309. Burckhardt (wie Anm. 17), S. 3; zu Cesare Borgias Italienpolitik vgl. S. 77, zu Ezzelino da Romano S. 3f. und zu Malatesta bzw. Ferrante S. 22–24. 50 Vgl. Gregorovius (wie Anm. 21).

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minationspunkt eines allgemeinen Sitten- und Werteverfalls markierten,51 übertreffe Cesare in seiner exzeptionellen Disposition die übrigen Mitglieder der Familie. Er erscheint im Rahmen einer universell angelegten Stadt-, Territorial-, Reichs- und Kirchengeschichte als idealtypisches Individuum der Renaissance. Die Melange von uomo universale und Antichrist erzeugt die radikalisierte Version eines cortegiano, die Burckhardt so nicht kennt. Gregorovius hingegen zeichnet anlässlich der Eroberung der Romagna ein Charakterbild des Usurpators, das wegen der Übereinstimmung mit dem Figurenentwurf bei Grothe in einem längeren Auszug zitiert wird: Cesare Borgia war von der Natur glänzend ausgestattet: wie einst Tiberius der schönste Mann seiner Zeit, zugleich von athletischer Körperkraft. Seine unersättliche Sinnlichkeit stand doch im Dienst eines kalten, durchdringenden Verstandes. Auch er besaß eine magnetische Anziehungskraft für Frauen, aber eine noch viel furchtbarere des Willens, welche Männer entwaffnete. Den Jesuitismus in der Staatskunst, ein Erzeugniß romanischer Nationen, hat Cesar Borgia so vollkommen durchgeführt, daß er das Muster eines Herrschers in diesem Sinne werden konnte. Alle Eigenschaften dieser Natur zeigte er in vollem Maße: tiefe Schweigsamkeit, List und Heuchelei, planvolle Berechnung, schnelles Handeln zur rechten Zeit, erbarmungslose Grausamkeit, Kenntniß der Menschen, Verwertung von Tugend und Laster zu einem und demselben Zweck. Er konnte gerecht sein, und war freigebig bis zur Verschwendung, aber nie aus Natur. Er führte den Grundsatz durch, daß ein überlegener Geist jedes Mittel zu seinem Zweck verwenden dürfe. Ein Mensch von solcher Anlage, erzogen in der Schule der dynastischen Ränke Italiens, konnte nur die Menschen verachten, und die Welt um sich her nur als Stoff seiner Selbstsucht verbrauchen.52

Grothes Zeichnung des Borgia als triumphator verweist darüber hinaus noch auf ältere Deutungsmuster, vor allem auf Niccolò Machiavellis Il Principe (1532). Fungiert Cesare Borgia bei Machiavelli als Ideal des weltlichen Tyrannen, der „jedes Mittel gebrauchte und all das tat, was ein kluger und tüchtiger Mann tun mußte“,53 so spart dieser doch auch die moralisch bedenklichen Züge und Verhaltensweisen nicht aus. Machiavelli zufolge gelingt einem Regenten nur dann die Etablierung, wenn er rigoros im Vorgehen gegen alle Kontrahenten seine Suprematie behaupten kann. In der Konsequenz bedarf es dann eines „solche[n] Ungestüm[s] und solcher Tüchtigkeit“,54 wie sie sich beim jungen Borgia finden soll.

51

Vgl. Gregorovius (wie Anm. 21), S. 402. So stellt das spanische Geschlecht in der Geschichte der Stadt Rom „die Renaissance des Verbrechens dar“, das ein ähnliches Ausmaß wie in der nachaugustäischen Ära unter Tiberius erreicht habe. 52 Gregorovius (wie Anm. 21), S. 422f. 53 Niccolò Machiavelli: Il Principe/Der Fürst. Italienisch/Deutsch. Übers. und hrsg. von PHILIPP R IPPEL , Stuttgart 1986, S. 51. 54 Machiavelli (wie Anm. 53), S. 61.

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So habe dieser genau gewusst, „wie man es anfangen muß, um die Menschen zu gewinnen“ und die Fundamente einer Herrschaft zu gründen, und habe weder vor Täuschung noch vor Betrug zurückgeschreckt.55 Die Vermutung, dass Grothe über Gregorovius’ Geschichte der Stadt Rom hinaus auch Machiavellis Principe kannte, wird durch intertextuelle Referenzen gestützt.56 Der berühmte Ausspruch über die notwendige Einheit der Nation, den der Borgia gegenüber dem französischen Gesandten George d’Amboise geäußert haben soll (vgl. im Fortgang), ist dem Traktat wörtlich entnommen.

5. Historiografische Kontrafaktur – Das Renaissance- und Italienbild im Roman Der antizipierte Übermensch Borgia fungiert bei Grothe nicht nur als Statthalter eines anthropologischen Prinzips, sondern zugleich als Promulgator einer nationalen Einheitsbewegung. Die Panitalia-Idee, die Grothes Borgia als Eroberer der Romagna und Toskana vertritt, ist anspielungsreich hinsichtlich der deutschen Verhältnisse der 1860er Jahre. Wenn Borgia in einer Unterhandlung mit dem französischen Gesandten auch das Spezifische seiner nationalen Umstände betont, so scheint die Aussage über Glück und Größe des italienischen Volkes doch übertragbar: „Weil ich eben Italiener bin, habe ich gesehen, daß ein Volk nie wahrhaft glücklich und groß sein kann, wenn es nicht Eins ist.“57 Dass Cesare mit Recht den Zustand seines Vaterlandes moniert, bezeugt eine zuvor ausgesprochene Analyse Alexanders: „Im Süden Neapel, im Norden Ludovico Moro Sforza, dazu in Florenz das Auftreten des harten Dominicaners, der frech genug ist, uns unsere Freuden nicht zu gönnen und in mir den heiligen Vater anzufeinden. In solcher Lage – “.58 Die Aposiopese spricht für sich. Das Italien des beginnenden 16. Jahrhunderts befindet sich durch konkurrierende Republiken und Parteiungen in einem andauernden Zustand

55

Vgl. dazu Machiavelli (wie Anm. 53), S. 55: „Da er nun sein Ansehen wiedergewonnen hatte und weder Frankreich noch anderen ausländischen Mächten traute […], verlegte er sich auf die Anwendung von List; und er wußte seine Gesinnung so gut zu verbergen, daß die Orsini durch die Vermittlung von Paolo sich mit ihm aussöhnten; diesem gegenüber ließ es der Herzog nicht an Aufmerksamkeit fehlen, um ihn in Sicherheit zu wiegen, indem er ihn mit Geld, Gewändern und Pferden beschenkte, was dazu führte, daß die Orsini in ihrer Einfalt sich in Senigallia in seine Gewalt begaben.“ 56 Vgl. Grothe (wie Anm. 37), Bd. 2, S. 150. 57 Grothe (wie Anm. 37), Bd. 2, S. 196f. 58 Grothe (wie Anm. 37), Bd. 1, S. 90.

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politischer Uneinigkeit, den Grothe in einer Mehrzahl von Handlungssträngen – der Rivalität Borgia/Orsini, den Eheallianzen Lukrezias, Cesares Vasalität gegenüber Ludwig XII. – erzählerisch abbildet. Die Übereinstimmung mit der politischen Lage nördlich der Alpen ist augenfällig. Das literarisierte Italien Cesare Borgias scheint alle notwendigen Bedingungen zu erfüllen, um zur Projektionsfläche für die deutschen nationalstaatlichen Wunschvorstellungen zu werden.59 Dabei weist das hier vermittelte Italienbild von Anbeginn Dissonanzen auf: Italien ist das Land der Schönheit und die weibliche Jugend zeigt Gestalten und Züge, wie sie den Mann zu bezaubern vermögen; aber wenn die Jugend entwichen, wenn Alter und Armuth und Schmutz das Weib erfassen, da verwandelt sich die Venus in eine Gorgo, deren Anblick entsetzt. Nur zu leicht geht das Göttliche in das Hexenhafte über, und vom Capitol bis zum tarpejischen Felsen ist nur ein Schritt.60

Auf die Stilisierung Italiens als paradiesischem Sehnsuchtsort, als Land der Schönheit, der Jugend und des Eros, folgt unmittelbar die Demaskierung. Die Metamorphose bedarf der Metapher: Die Göttin verwandelt sich zum Monstrum. Italien gerät zum Vexierbild, dem – wie Cesare – zwei Gesichter eingelagert sind. Darüber, wie nach Cesares Vorstellungen die Zukunft dieses Landes aussehen soll, gibt ein Gedankenzitat Auskunft: Italien soll wieder das Haupt Europa´s sein, wie es im Alterthum gewesen, die Barbaren sollen sich unter seinem, meinem Scepter beugen… Neuer Cäsar, bebst Du nicht vor der Größe, die Dein Gedanke umspannt? Über Ströme Blut mußt Du hinweg, um Dein Ziel zu erreichen. Fließet, ihr Ströme Blut! ich will mich in euch berauschen. Leichen sind die Staffeln, auf denen ich emporsteige, Gebeine der Grund, auf dem der Tempel erbaut werden muß. Vorwärts! vorwärts! Jacta est alea!61

Die Einigung Italiens stellt nicht das alleinige Ziel des Borgia dar. Cesares erneut in Antikenreminiszenzen gehüllte Vision einer uneingeschränkten italischen Suprematie in Europa trägt imperiale Züge. Das imaginierte neue Römische Reich soll durch Gewalt und Despotismus erstehen. Der zuvor als kühler Stratege dargestellte Borgia zeigt hier eine neue Seite. Im Rausche seines egozentrischen Machtstrebens leuchten dionysische Phantasien auf, die das Christentum hintergehen. Sowohl das Bild vom

59

Vgl. TITUS HEYDENREICH : Politische Dimensionen im literarischen Italienbild. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Immagi a confronto. Italia e Germania / Deutsche Italienbilder und italienische Deutschlandbilder in der Zeit der nationalen Bewegungen (1830–1870). Hrsg. von A NGELO A RA , Berlin u. a. 1991, S. 283–303. 60 Grothe (wie Anm. 37), Bd. 1, S. 11. 61 Grothe (wie Anm. 37), Bd. 2, S. 205.

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Tempelbau auf einem Fundament von Knochen wie auch der implizierte Umgang mit den Barbaren sehen für Moral, Toleranz und Alterität keinen Raum vor. Die bei Sueton angesichts der Rubikon-Überquerung überlieferten Siegesworte Cäsars, die sich der jüngere Namensvetter hier aneignet, appellieren an die historische Beschlagenheit des bildungsbürgerlichen Lesers, der, Cäsars Sieg eingedenk, den tödlichen Fortgang erinnert. Unverkennbar wird die Renaissance in diesem Roman gerade nicht als Goldenes Zeitalter und Ausgangspunkt der jüngeren europäischen Kultur glorifiziert. Michelangelo, Raffael, Leonardo da Vinci, deren Wirken in die Handlungszeit fällt, finden als Zeugen kultureller Blüte keine Erwähnung. Indem Grothe ein Zeitalter der politischen Instabilität und kulturellen Degeneration imaginiert, entwirft er ein Renaissancebild, das nicht mehr als Projektionsfläche für die Wunschvorstellungen einer breiten Leserschaft dienen kann. Dass die Renaissance für eine Krisenperiode einsteht, transponiert vermutlich Vorbehalte gegenüber dem Risorgimento und den Ausmaßen des Panitalianismus im 19. Jahrhundert. Eine kontrafaktische Behandlung der Epoche bzw. ihrer Repräsentanten und Insignien, wie sie in der letzten Phase des Renaissancismus nach 1900 erfolgt, liegt jedenfalls nur so weit vor, als die Abwandlungen der politischen Instrumentalisierung des Stoffes geschuldet ist. Auch wäre es unzulässig, hier schon von einer Dekonstruktion des ‚Mythos Renaissance‘ zu sprechen, insofern dieser 1868 noch ganz im Entstehen begriffen war.62

6. Renaissancismus avant la lettre? Ergebnisse und Ausblick Ausgehend von dem eingangs formulierten Anspruch, das primär für das moderne Drama reservierte Ästhetikkonzept des literarischen Renaissancismus auf eine andere literaturgeschichtliche Epoche und auf eine andere Gattung zu übertragen, soll nun eine kurze Bestandsaufnahme der Ergebnisse erfolgen. Anhand eines der Unterhaltungs-und Schemaliteratur zuzurechnenden Romans, dessen Entstehung deutlich vor die Zeit des ‚klassischen Renaissancismus‘ fällt, wurde gezeigt, dass spezifische Erscheinungsformen, anthropologische Phänotypen, Funktionalisierungsstrategien und projektive Überformungen des Renaissancismus bereits in der Literatur der 1860er Jahre aufscheinen. Das absolute Renaissanceindividuum Borgia präsentiert allerdings einen Entwurf, der noch nicht von Burckhardt instruiert ist. Statt dessen rekurriert die Figurengestaltung mit Ma-

62

Zu den Etappen und Katalysatoren einer Mythisierung der Renaissance vgl. J. B. BULThe Myth of the Renaissance in Nineteenth-Century Writing, Oxford 1994.

LEN :

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chiavelli auf Quellen der Renaissance selbst. Obwohl es Grothe, wie dem Gros der Autoren historischer Renaissanceromane, nicht um eine ästhetische Aneignung der italienischen Renaissance geht, bedient er sich für die stoffliche Wiedergabe gezielt literarischer Strategien. Um das Zeitkolorit atmosphärisch wiederzubeleben, werden detailkundige Figurendarstellungen, die Beschreibung von Interieur, Architektur und Landschaft bemüht – narrative Techniken, wie sie auch im Renaissancismus Anwendung finden. Eine artifizielle Künstlerwelt jedoch, wie sie etwa in den Dramoletten Hofmannsthals begegnet, formiert sich dadurch nicht. Hingegen scheint dem ästhetischen Renaissancismus der 1890er Jahre sowie dem hysterischen Renaissancismus nach 1900 ein politischer Renaissancismus um 1870 vorangegangen zu sein. Im Gegensatz zu jenen Phasen späterer Rezeption stand in der Gründerzeit, auch bedingt durch die Wahl der Gattung und die Lesererwartung, allerdings das stoffliche Interesse im Vordergrund. Obschon es sich beim Renaissanceroman nicht um ein Genre der Hochliteratur handelt, hat er seinen festen Platz im populärkulturellen Feld, Seite an Seite mit Lorenzo- und Savonarola-Opern, Dante-, Ariost- und Tasso-Dramen. Mit Blick auf eine neue forschungsgeschichtliche Konturierung des Renaissancismus könnte der vorliegende Versuch ein Anstoß in zweierlei Richtungen sein: Zum einen vermögen weitere Einzeluntersuchungen zur Intertextualität im 19. Jahrhundert die Rezeptionslinien der ästhetischen Aneignung um 1900 präziser zu bestimmen. Die bessere Kenntnis eines für den Renaissancismus fakultativen literarischen Referenzsystems könnte sodann darauf hinarbeiten, diese Spielart der Rezeption der italienischen Renaissance in ihrer Kontinuität zu begreifen und den Brückenschlag zwischen Romantik und Fin de siècle zu wagen – denjenigen Epochen, deren hochliterarische Beiträge am nachhaltigsten das stilistische Profil geformt haben. Dass sich für ein solches Vorhaben mit Wilhelm Grothes Herzog von Valentinois gerade die Literarisierung eines Cesare Borgia eignet, den noch Thomas Mann zum Kulminationspunkt des Renaissance-Kultes deklariert,63 scheint bereits in dem eingangs zitierten Briefwechsel zwischen Hofmannsthal und Strauß auf. So reagiert Ersterer, wie der Leser inzwischen weiß, mit „Grausen“ auf den recht konkreten Vorschlag des Maestro, einen bestimmten Typus zum Gegenstand seiner nächsten Ver-

63

Zur besonderen Rolle Cesare Borgias vgl. auch Manns Tonio Kröger, der diesen stellvertretend für den Renaissance-Kult als Ganzen aburteilt: „Er ist mir nichts, dieser Cesare Borgia, ich halte nicht das geringste auf ihn, und ich werde nie und nimmer begreifen, wie man das Außerordentliche und Dämonische als Ideal verehren mag.“ Thomas Mann (wie Anm. 2), S. 302. Vgl. dazu auch Anm. 3.

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tonung zu machen: „Haben Sie einen schönen Renaissancestoff für mich? So ein ganz wilder Cesare Borgia […] wäre das Ziel meiner Sehnsucht!“64

64 Richard Strauß an Hugo von Hofmannstahl, 11.4.1906. In: Richard Strauß/Hugo von Hofmannsthal (wie Anm. 1), S. 15.

STEFAN KEPPLER-TASAKI

Britische Bilder aus der deutschen Vergangenheit Gustav Freytags Die Ahnen und der Maßstab Walter Scotts

1. „der Vater des modernen Romans“: Späte Scottomanie Seit der deutschen Wiedervereinigung von 1990 steht Gustav Freytag (1816–1895) wieder hoch im Kurs der Literaturwissenschaft, insbesondere auch bei einer internationalen Germanistik, die an ihm die deutsche Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts einschließlich aller Voraussetzungen und Folgen der Reichsgründung von 1871 abliest.1 Dieses Interesse steht in einer Forschungstradition, in der man an Freytag vor allem die Mentalität des liberalen Nationalismus studieren wollte. Der Kaufmannsroman Soll und Haben (1855) war dafür in erster Linie geeignet. Das letzte Romanwerk des Autors, Die Ahnen (1872–1880), wurde vor allem zur Bestätigung der reichen Forschungsergebnisse am Debütroman herangezogen. Immer lautete so der Schluss, dass Die Ahnen die bürgerliche Ideologie der Gründerzeit exemplifizieren, die geschichtsteleologische Meistererzählung vom historischen Auftrag des Bürgertums und der urwüchsigen Einheit des deutschen Volkes. Die antisemitischen und franzosenfeindlichen Äu-

1

Vgl. die Aufsätze von DANIEL FULDA : Telling German History. Forms and Functions of the Historical Narrative Against the Background of the National Unifications. In: 1870/71 – 1989/90. German Unifications and the Change of Literary Discourse. Hrsg. von WALTER PAPE , Berlin u. a. 1993, S. 195–230; PETER SPRENGEL : Der Liberalismus auf dem Weg ins ‚neue Reich‘. Gustav Freytag und die Seinen 1866–1871. In: Literatur und Nation. Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 in der deutschsprachigen Literatur. Hrsg. von K LAUS A MANN /K ARL WAGNER , Wien u. a. 1996, S. 153–181; GESA VON E SSEN : Die Rückgewinnung der Geschichte in Gustav Freytags ‚Ahnen‘-Galerie. In: Unerledigte Geschichten. Der literarische Umgang mit Nationalität und Internationalität. Hrsg. von GESA VON E SSEN / HORST TURK, Göttingen 2000, S. 162–186; sowie die Monographien von A LYSSA L ONNER : Mediating the Past. Gustav Freytag, Progress and German Historical Identity. 1848– 1871, Frankfurt/M. u. a. 2005, und L ARRY L. PING : Gustav Freytag and the Prussian Gospel. Novels, Liberals, and History, Frankfurt/M. u. a. 2005.

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ßerungen Freytags passten in dieses Bild.2 Demgegenüber soll nachfolgend zum einen gezeigt werden, dass der späte Freytag deutsche Geschichte nicht ausschließlich optimistisch, sondern in wesentlichen Teilen als Pathogenese sieht. Zum anderen ist darzulegen, wie sehr das nationale Literaturprojekt der Ahnen in internationalen Verflechtungen steht und auf das Vorbild Walter Scotts erklärtermaßen eingeschworen ist.3 In beiden Positionen relativiert sich der Eindruck des Nationalismus, der in Freytags übrigem Werk dominiert. Das Mittelalter erweist sich hierbei als ein Imaginationsraum, der die Fähigkeit besitzt, die schwärzere und subversivere Phantasie des Autors zu mobilisieren – und dies mit Folgen für sein Gesamtbild von Geschichte. Freytags politische Zweifel der 1870er Jahre sind aktenkundig. Zu Beginn des Reichsgründungsjahrzehnts legt er, gedrängt von seiner Partei und enttäuscht von Bismarck (dem „leidige[n] Genius der Gegenwart“4), sein Reichstagsmandat nieder. Private Gründe kommen hinzu, dass er befürchtet, man werde den Ahnen ansehen, sie seien „mit schwerem Gemüth“ geschrieben.5 Die deutsche Einigung als machtstaatliche Revolution von oben hat das Volk als treibende Kraft des Einigungsprozesses umgangen und ausgeschaltet. Sie gründet auf der Willkür der politischen Akteure statt auf einer gesetzmäßigen organischen Entwicklung, die Freytag für

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3

4 5

Vgl. M ARTIN GUBSER : Literarischer Antisemitismus. Untersuchungen zu Gustav Freytag und anderen bürgerlichen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1998; STEFANIE STOCKHORST: Nationales Theater. Deutsch-französische Verwerfungen bei Gustav Freytag. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 57 (2007), S. 423–437. Es bleibt soweit beim Forschungsresümee von SPRENGEL (wie Anm. 1), S. 155: „Freytag kommt somit am ehesten als Multiplikator fragwürdiger Ideologeme in den Blick“. Dafür lässt sich an Ergebnisse der frühen Freytag-Forschung anknüpfen, die wegen ihrer positivistischen Natur bisher weitgehend ungenutzt blieben: PAUL ULRICH : Gustav Freytags Romantechnik, Marburg 1907, S. 35–40, 59f. u. 65–68, sowie L AWRENCE M ARSDEN P RICE : The Attitude of Gustav Freytag and Julian Schmidt Toward English Literature (1848–1862), Göttingen 1915, hier S. 7–23. Scotts Bedeutung für Die Ahnen wurde meist nur pauschal erfasst, wie von HORST OPPEL : Englisch-deutsche Literaturbeziehungen, Berlin 1971, Bd. 2, S. 47: „Ohne Scott wären weder die Ahnen noch auch Soll und Haben in der vorliegenden Form entstanden.“ Detailliertere Hinweise finden sich in der ausführlichen Besprechung von JEAN BOURDEAU : Le roman d’ éducation nationale en Allemagne. M. Gustave Freytag. In: Revue des Deux Mondes 51 (1881), Nr. 48, S. 128–153, hier vor allem S. 131–135 mit Blick auf Ähnlichkeiten zwischen Ivo und Ivanhoe (der Namensgleichklang, die Rückkehr aus dem Kreuzzug als Enterbter). Freytag an Albrecht von Stosch, 6.7.1869. Gustav Freytag: Briefe an Albrecht von Stosch. Hrsg. von H ANS F. HELMOLT, Stuttgart u. a. 1913, S. 82. Freytag an Herzog Ernst von Coburg, 4.12.1876. Gustav Freytag und Herzog Ernst von Coburg im Briefwechsel 1853 bis 1893. Hrsg. von EDUARD TEMPELTEY, Leipzig 1904, S. 276; vgl. auch das selbstkritische Resümee vom 4.12.1880, S. 291.

Britische Bilder aus der deutschen Vergangenheit

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den richtigen Geschichtsverlauf erwartet hatte.6 Einheitsversuche aus einem nicht ausreichend legitimierten, machtstaatlichen Zentrum und der Widerstand legitimierter Helden dagegen sind (s. u.) ein insistentes Thema vor allem der Mittelalterbände der Ahnen. Erst in den Erinnerungen an mein Leben (1886) hat Freytag seinen Frieden mit Bismarck gemacht und deutet Die Ahnen rückwirkend als ungebrochen patriotisches Werk. Die Idee, „das Leben desselben Geschlechtes von der Heidenzeit bis in unser Jahrhundert“ zu beschreiben, will er nun als Augenzeuge des deutsch-französischen Krieges erhalten haben: Schon während ich auf den Landstraßen Frankreichs im Gedränge der Männer, Rosse und Fuhrwerke einherzog, waren mir immer wieder die Einbrüche unserer germanischen Vorfahren in das römische Gallien eingefallen, ich sah sie auf Flößen und Holzschilden über die Ströme schwimmen, hörte hinter dem Hurrah meiner Landsleute vom fünften und elften Korps das Harageschrei der alten Franken und Alemannen.7

Gerade Franken und Alemannen spielen allerdings, wie zu zeigen sein wird, keine rühmliche Rolle in den von Thüringen bestimmten Ahnen. Auch poetologische Unsicherheiten gestalten Die Ahnen als ein schwieriges Unternehmen, das quer in der literarischen Landschaft zwischen der historischen Erzählkunst Stifters, dem Professorenroman Felix Dahns und dem abenteuerlichen Jugendbuch Karl Mays steht. Es entzieht sich den strengen Gesetzen von Freytags realistischer Nach-März-Poetik und deren Verklärungspostulat, ohne zu neuen Regeln zu finden. Orientierung stiftet eine Linie, die sich schon durch den programmatischen Realismus der 1850er Jahre zog: der Maßstab Walter Scotts (1771–1832), von dem ein französischer Kritiker der Ahnen freilich zu Recht sagt, dass er 30 Jahre hinter der Zeit liege.8 Um die deutsche Romantik verdrängt zu sehen, begrüßt Freytag die „behagliche gesunde Kraft des größten englischen Romandichters“, den er – hierin ganz unpatriotisch – gegen „die schrullenhafte Genialität Arnims“ und dessen Hohenstaufen-Roman Die Kronen-

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Vgl. SPRENGEL (wie Anm. 1), S. 161–163; sowie WALTER BUßMANN : Gustav Freytag. Maßstäbe seiner Zeitkritik. In: Archiv für Kulturgeschichte 34 (1952), S. 261–287, hier S. 273: „Bismarck war der Zerstörer seiner geheimsten Wünsche und Vorstellungen. Von dem organischen und vernünftigen Wege einer deutschen Staatsbildung besaß Freytag eine feste Vorstellung. Er hat Bismarck niemals verzeihen können, daß das Reich nicht auf dem von ihm vorausgesagten und gutgeheißenen Wege gegründet wurde.“ Gustav Freytag: Erinnerungen aus meinem Leben. In: Ders.: Gesammelte Werke. Leipzig 1887f., Bd. 1, hier S. 237. Aus Freytags Werken wird im Folgenden nach dieser Ausgabe als GW mit Band- und Seitenzahl zitiert. Zur Nachträglichkeit dieser Entstehungsfiktion der Ahnen vgl. SPRENGEL (wie Anm. 1), S. 169–173. BOURDEAU (wie Anm. 3), S. 153.

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wächter (1817) ausspielt.9 Noch 1872, während der Abfassung des ersten Ahnen-Bandes, bezeichnet Freytag im Aufsatz Für junge Novellendichter den schottischen Schriftsteller als den „Vater des modernen Romanes“. Dahinter steht eine über Scott hinausgehende Anglophilie, die sich an den „volksthümlichen Talenten“ der britischen Inseln, „Shakespeare, Walter Scott, Byron“, entzündet.10 Einen eigenen Essay verfasst Freytag zum freimütigen Dank an Charles Dickens (1870), aus dessen David Copperfield er Zug um Zug das Figurenarsenal von Soll und Haben herübergenommen hat.11 Freytags Englisch-Kenntnisse sind freilich begrenzt; er benutzt die für Scott reichlich vorhandenen Übersetzungen. Umso schwelgerischer entfaltet sich die Lektüre, über die Freytags Intimus Julian Schmidt aus gemeinsamen Tagen berichtet: Man sei in Scotts Romanuniversum wie in der Bibel zu Hause gewesen. Die „Wirkung Walter Scott’s“, so Schmidt weiter, „ist ungeheuer. Ja, ich nehme keinen Anstand es auszusprechen: sie ist die größte, die irgend ein Schriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts ausgeübt.“12 Entsprechend zahlreiche Bezüge lassen sich finden, wenn man Die Ahnen parallel zum Erzählwerk Scotts liest. Dafür gilt, was schon Scott über sein Verhältnis zum deutschen Ritterdrama bekennt: „What we admire we usually attempt to imitate“.13 Freytags historiographische und politische Ansichten offenbaren ebenfalls einen europäischen Horizont. Wenn er sein kulturgeschichtliches Hauptwerk als Bilder aus der deutschen Vergangenheit (1859–1867) ausführt, erinnert er doch eingangs an die immer mitzudenkende internatio9 10 11

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GW 16, 199. GW 16, 220. GW 16, 239–244. Dazu SUSANNE STARK : Dickens in German Guise? Anglo-German Cross-Currents in the Nineteenth-Century Reception of Gustav Freytag’s ‚Soll und Haben‘. In: Cultural Cross-Currents and Affinities. Hrsg. von ders., Amsterdam 2000, S. 157–172. Ferner ROLAND FREYMOND : Der Einfluss von Charles Dickens auf Gustav Freytag. Mit besonderer Berücksichtigung der Romane ‚David Copperfield‘ und ‚Soll und Haben‘, Prag 1912, S. 23–82; sowie M ARK HOWARD GELBER : Aspects of Literary Anti-Semitism. Charles Dickens’ ‚Oliver Twist‘ and Gustav Freytag’s ‚Soll und Haben‘, Yale 1980, S. 93–158. JULIAN SCHMIDT: Walter Scott. In: Bilder aus dem geistigen Leben unserer Zeit, Leipzig 1870, Bd. 1, S. 147–242, hier S. 147 u. 149. Zu Freytags Englischkenntnissen vgl. FREYMOND (wie Anm. 11), S. 14f. u. 19f. Eine erste deutsche Ausgabe von Scotts Sämmtlichen Werken erschien 1826 bei Gebrüder Franckh in Stuttgart, eine zweite 1851 bei Hoffmann in Stuttgart. Walter Scott: The House of Aspen, London 1829, S. I. Bei diesem Drama handelt es sich um eine Bearbeitung von Veit Webers Die Heilige Vehme (1795). Scott hatte 1799 auch Götz von Berlichingen ins Englische übersetzt. SCHMIDT: Walter Scott (wie Anm. 12), S. 158, hebt Scotts Interesse an der deutschen Literatur besonders hervor: „Walter Scott lernte Deutsch und übersetzte Lenore, den Wilden Jäger, den Erlkönig und den Götz von Berlichingen.“ Vgl. auch FRAUKE R EITEMEIER : Deutsch-englische Literaturbeziehungen. Der historische Roman Sir Walter Scotts und seine deutschen Vorläufer, Paderborn u. a. 2001, S. 240ff.

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nale Umwelt: „kein Volk entwickelt sein Seelenleben ohne Zusammenhang mit anderen Nationen. […] Eng ist die Verbindung der Völkerseelen in Europa“.14 Die Ahnen sind auf dem Vorderblatt des ersten Bandes der britischen Kronprinzessin Victoria gewidmet, Gattin des preußischen Thronfolgers Friedrich (III.), Tochter von Queen Victoria und deren deutschem Prinzgemahl Albert aus dem Haus Sachsen-Coburg und Gotha. Freytag unterhielt private Kontakte zu Albert und schrieb ihm 1861 eine Eloge in den Grenzboten. Mit dem „Vater und Ahnherr[n] der künftigen Könige von Preußen und England“ verbindet er die Perspektive einer deutschbritischen Annäherung.15 Die Widmung an Victoria stellt das gesamte Romanunternehmen der Ahnen unter das Zeichen der deutsch-britischen Beziehungen, die sich konkret im Dialog mit Scott realisieren. Bei solch anglophiler Gesinnung erfreut sich Freytag im Gegenzug einer lebhaften Rezeption auf den Inseln, die angesichts der weitgehenden europäischen Wirkungslosigkeit des deutschen Realismus ungewöhnlich ist. In Georgiana Malcolm hat er eine treue Übersetzerin, die seit Soll und Haben (1857 als Debit and Credit) alle größeren Arbeiten Freytags ins Englische überträgt, einschließlich der ersten beiden Ahnen-Bände (1873 als Our Forefathers). Auch auf Deutsch wird der ambitionierte Zyklus in Großbritannien bekannt. Freytag schreibt über den gewaltigen Absatzerfolg: „Käufer sind unter den Andern junge englische Ladies“.16 Die Übersetzerin Helen Zimmern gibt eine Zusammenfassung der abgeschlossenen Generationengeschichte in einem Kapitel ihres literaturkritischen Buches Half-Hours With Foreign Novelists (1880).17 Der National Review druckt 1887 aus Anlass von Freytags 70. Geburtstag die Übersetzung eines Essays von Conrad Alberti, der den enormen Erfolg der Ahnen („especially the first volumes“) mit dem früheren Scott-Fieber vergleicht.18 The Scottish Review ehrt Freytag in einem Nachruf von 1896 als den britischsten unter den deutschen Dichtern.19 14 15

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GW 17, 25. GW 15, 235f. Zu Freytags persönlichem und brieflichem Verkehr mit Prinz Albert und Kronprinzessin Victoria vgl. I ZABELA SURYNT: Zum politischen Standort eines liberalen Schriftstellers. Gustav Freytags politische Stellungnahmen. In: Engagement, Debatten, Skandale. Deutschsprachige Autoren als Zeitgenossen. Hrsg. von JOANNA JABŁKOWSKA / M AŁGORZATA PÓŁROLA , Łódź 2002, S. 123–140, bes. S. 128–131. Gustav Freytag an Herzog Ernst von Coburg, 14.12.1873. Gustav Freytag und Herzog Ernst von Coburg im Briefwechsel 1853 bis 1893 (wie Anm. 5), S. 258. HELEN ZIMMERN : Freytag. In: Dies.: Half-Hours With Foreign Novelists, London 1880, Bd. 2, S. 37–64. CONRAD A LBERTI : Gustav Freytag. In: The National Review 10 (1887), September, S. 80– 105, hier S. 102. JOHN G. ROBERTSON : Gustav Freytag. In: The Scottish Review 27 (1896), Nr. 53, S. 71– 82.

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Mittelalterromane erfreuen sich im ganzen 19. Jahrhundert weit größerer Publikumsbeliebtheit als die historischen Romane, die sich wie Scotts Waverley (1814) und The Heart of Midlothian (1818) in den Abstand von „sixty years since“ oder „eighty years before“ zur Gegenwart setzen.20 Die Scottomanie in Deutschland beginnt erst 1820 mit Ivanhoe (1819) und setzt sich mit den Romanen des Ivanhoe-Typus fort: den weiteren Teilen der Richard the Lion-Heart-Trilogie, The Talisman (1825) und The Betrothed (1825), sowie Quentin Durward (1823), der im Frankreich des 15. Jahrhunderts im Umkreis Ludwigs XI. und dessen schottischer Leibwache spielt. Vom Mittelalter handeln ferner The Monastery und The Abbot (1820), The Fair Maid of Perth (1828), Anne of Geierstein (1829) sowie Count Robert of Paris (1832). Goethes anerkennendste Worte über Scott fallen in die Zeit seiner Ivanhoe-Lektüre. Noch in der Gründerzeit stehen Ivanhoe, The Talisman und Quentin Durward in der Reputation und Auflagenhöhe oben an.21 Julian Schmidt urteilt 1870: „Ivanhoe ist unter allen Romanen Walter Scott’s das Lieblingsstück der jungen Welt, mit ihm beginnt die europäische Berühmtheit des Dichters; und in der That kann man sich nicht leicht etwas vorstellen, was lebendiger erzählt und anmuthiger componirt wäre.“22 Auf Freytags Seite übertrifft der Erfolg der Ahnen noch den von Soll und Haben und der der Mittelalterromane wiederum den der Neuzeitromane innerhalb der Ahnen. Von den bis 1920 etwa eine Million verkauften Exemplaren des achtteiligen Zyklus in sechs Bänden entfällt fast die Hälfte auf die ersten beiden Bände.23 Erfolgssteuernd kommt das Qualitätsgefälle innerhalb der Ahnen hinzu. Die ersten drei Bände gehen ihrem Dichter leicht von der Hand und erscheinen seit 1872 im Jahresabstand, die letzten drei folgen von 1874 bis

20 Walter Scott: Waverley. Or ’Tis Sixty Years Since. In: Ders.: Waverley Novels, Berlin 1879, Bd. 1; ders.: The Heart of Mid-Lothian. In: Ders.: Waverley Novels, Berlin 1879, Bd. 5, S. 13. Aus Scotts Romanen wird im Folgenden nach dieser Ausgabe als WN mit Bandund Seitenzahl zitiert. 21 Vgl. H ARTMUT STEINECKE : Romantheorie und Romankritik in Deutschland. Die Entwicklung des Gattungsverständnisses von der Scott-Rezeption bis zum programmatischen Realismus, Stuttgart 1975, Bd. 1, S. 32 u. 35; R AINER SCHÜREN : Die Romane Walter Scotts in Deutschland, Berlin 1969, S. 44f.; FRAUKE R EITEMEIER : The Reception of Sir Walter Scott in German Literary Histories, 1820–1945. In: The Reception of Sir Walter Scott in Europe. Hrsg. von MURRAY PITTOCK, London 2006, S. 95–116, hier S. 99. Ferner H ANS VILMAR GEPPERT: Ein Feld von Differenzierungen. Zur kritisch-produktiven Scott-Rezeption von Arnim bis Fontane. In: Beiträge zur Rezeption der britischen und irischen Literatur des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Hrsg. von NORBERT BACHLEITNER , Amsterdam 1999, S. 479–500. 22 SCHMIDT: Walter Scott (wie Anm. 12), S. 227. 23 Vgl. H ARTMUT EGGERT: Studien zur Wirkungsgeschichte des deutschen historischen Romans 1850–1875, Frankfurt/M. 1971, S. 77–83 u. 176–187.

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1880 nur noch zweijährlich, begleitet von zunehmend skeptischen Selbstkommentaren. Nach Abschluss der Mittelalter-Reihe ist Freytag noch sehr zufrieden mit sich: „unter den lebenden Künstlern unsres Volkes erkenne ich keinen über mir“.24 Seit dem Reformationsroman jedoch verfolgt ihn das Gefühl, mit jedem Band schlechter zu werden. „Je neuer die Zeit, umso geringer wurde die Lust zur Arbeit“, gesteht er im Briefwechsel.25 Die Mittelalter-Bände der Ahnen gelten Publikum und Kritik als die stärkeren Teile des Zyklus. Schon der Reformationsband Marcus König fällt nach dem Urteil der Rezensenten deutlich ab. Paul Lindau, der die Anfänge des Zyklus 1873 noch bejubelt hat, benennt in einer Gesamtbesprechung von 1881 das grundsätzliche Missverhältnis des Erzählgebäudes: Die Ahnen begännen auf Urgestein und verliefen im Sande. Auf dem monumentalen Fundament stehe eine gemütliche Bürgerwohnung. Der Arzt und der Journalist der letzten Romane erschienen als Nachfolger von Ingo und Ingraban „nicht ausreichend qualifiziert“.26 Theodor Fontane sieht die Darstellungskraft des über 2000seitigen Romanwerks ebenfalls in den NeuzeitBänden verebben: „alles ist herausgeklügelt und dient einem doktrinären Zweck“.27 Auch ein britischer Rezensent findet Gutes nur in „the earlier volumes of the series, where the poetic inspiration is most apparent“.28 Freytag selbst zeichnet dem Zyklus eine Bruchlinie ein. Die ersten vier Helden – Ingo, Ingraban, Immo und Ivo – sind durch stabreimende Namen miteinander verknüpft. Der Namenswechsel zu Marcus, dem ersten Stadtbewohner und Bürger der Familie, markiert eine Zäsur. Außer im Anlaut sind die mittelalterlichen Ahnen einander auch charakterlich ähnlicher als die neuzeitlichen. Freytags Geschichtsmodell nimmt zum einen die Determination der Ahnen durch einen ursprünglichen Charakter an,

24 Freytag an Herzog Ernst, 11.4.1874. Gustav Freytag und Herzog Ernst von Coburg im Briefwechsel 1853 bis 1893 (wie Anm. 5), S. 263. 25 Freytag an Albrecht von Stosch, 14. u. 17.12.1873. Freytag: Briefe an Albrecht von Stosch (wie Anm. 4), S. 95. Vgl. Freytag an Herzog Ernst, 4.12.1880. Gustav Freytag und Herzog Ernst von Coburg im Briefwechsel 1853 bis 1893 (wie Anm. 5), S. 401. 26 PAUL L INDAU : ‚Die Ahnen‘. Ein Roman von Gustav Freytag. In: Nord und Süd 16 (1881), S. 218–284, hier S. 218f. Vgl. ders.: Gustav Freytags neuester Roman ‚Die Ahnen‘. ‚Ingo und Ingraban‘ und ‚Das Nest der Zaunkönige‘. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze. Beiträge zur Literaturgeschichte der Gegenwart, 2. Aufl. Berlin 1880, S. 29–81. Zum gleichbleibenden Tenor der Kritiken vgl. auch FRIEDRICH SEILER : Gustav Freytag, Leipzig 1898, S. 171–173. 27 THEODOR FONTANE : Gustav Freytag. ‚Die Ahnen‘. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von KURT SCHREINERT, München 1963, Bd. XXI/1, S. 231–248, hier S. 247; ders.: Gustav Freytag. ‚Aus einer kleinen Stadt‘. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von KURT SCHREINERT, München 1963, Bd. XXI/1, S. 249. Zur Einschätzung der Ahnen als ‚heternonomer Literatur‘ vgl. VON E SSEN (wie Anm. 1), S. 183f. 28 ROBERTSON (wie Anm. 19), S. 80.

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zum anderen jedoch, dass diese Determination historisch abnimmt, und zwar nicht gleichmäßig, sondern zunehmend. Julian Schmidt in seiner Ahnen-Rezension hat diesen Unterschied empfunden: Die Macht der geheimen Fäden „wird geringer, wie das Volk in’s Mannesalter eintritt“.29 Im Schlussband der Bilder aus der deutschen Vergangenheit überblickt Freytag die deutsche Geschichte und findet das Mittelalter episch, die Frühe Neuzeit lyrisch und die Moderne dramatisch.30 Im epischen Zeitalter fasst Freytags Erzählen folgerichtig den sichersten Grund. Der Imaginationsraum des Mittelalters befreit den Autor vom Sujet des Bürgertums, dem er sich nicht immer zu seinem künstlerischen Vorteil verschrieben hatte. Es enthebt ihn der „unüberwindlich trostlosen Prosa der liberal-verklärten Berufstüchtigkeit“, die Georg Lukács an Soll und Haben vermerkt hat.31 Die Mittelalterromane geben keine bürgerliche Familienbiographie und reduzieren deutsche Geschichte nicht auf bürgerliche Geschichte: Dafür ist Freytag zu sehr Historiker und vor allem zu sehr Scottianer. In Ivanhoe, The Talisman und Quentin Durward kommen Bürgerfiguren nicht zum Zug; erst in Anne of Geierstein (um 1480 spielend) mit dem Schweizer Arnold Biedermann, der seinen alten Adel ablegt, wie er von einer Höhenburg in die Stadt umsiedelt. Freytag erkennt „das Fremdartige des Mittelalters“ an und damit auch dessen Unbürgerliches: „in der ganzen Methode zu leben, in allem Denken und Empfinden ist etwas Grundverschiedenes“.32 Er will ausdrücklich, wie er für Ingo erklärt, „die verschiedenen Stände“33 darstellen und eine totale soziale Bandbreite des Personals vom Bauern bis zum König erreichen. Scott hatte einen Ruf dafür, dass bei ihm – wie es Julian Schmidt formuliert – jeder Stand seine Stelle im Reich der Poesie erhält,34 dass er – wie Freytag schreibt – „das Ganze der menschlichen Gesellschaft mit innerer Freiheit und liebevoller Zuneigung zu verstehen“ weiß,35 auffällig genug im Ivanhoe, der die Skala vom leibeigenen Schweinehirten bis zum englischen König durchläuft. Auch in Betracht der Wirkungsabsicht hat Freytag nicht mehr per se das Bürgertum im Blick. Seinem Freund Herzog Ernst von Coburg schreibt er

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JULIAN SCHMIDT: Gustav Freytag’s Ahnen. In: Preußische Jahrbücher 47 (1881), S. 65–98, hier S. 96. 30 GW 21, 1–8. 31 GEORG LUKÁCS : Der alte Fontane. In: Ders.: Werke, Neuwied 1964, Bd. 7, S. 452–498, hier S. 472. 32 GW 17, 13. 33 GW 1, 241f. 34 Vgl. STEINECKE (wie Anm. 21), S. 206; sowie A LICE CHANDLER : A Dream of Order. The Medieval Ideal in 19th-Century English Literature, Nebraska 1970, S. 35. 35 Gustav Freytag: ‚Namenlose Geschichten‘ von F. W. Hackländer. In: Die Grenzboten 10 (1851), S. 264–266, hier S. 264.

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zu Beginn der Ahnen-Entstehung über die Publikumserwartungen: „Man forderte einen Roman ‚Der Kaufmann‘ […]. So schmeichelhaft dies gute Zutrauen war, ich vermochte ihm diesmal nicht zu entsprechen.“36 Wenige Tage zuvor erklärte er seinem Vertrauten Admiral von Stosch, dass sich „das junge Geschlecht“ für den Zyklus erwärmen soll.37 Es ist zwar auffällig, dass Scott die Margen seines Zeitraums vom Hoch- und Spätmittelalter hernimmt, während Freytag sein Gebäude auf dem Frühmittelalter gründet. Strukturell erfüllt aber beides dieselbe Funktion. Scott geht von der normannischen Invasion des angelsächsischen Gebiets aus und entwickelt alles Weitere aus der Verschiedenheit zwischen den Angelsachsen und ihren Besiegern („the great national distinctions betwixt them and their conquerors“).38 Freytag denkt von der römischen Eroberung des germanischen Gebiets her und knüpft daran den fortdauernden Gegensatz von römisch assimilierten Franken und Alemannen einerseits, germanisch gesinnten Thüringen andererseits. Scotts Mittelalterphantasie konzentriert sich auf die Zeiten um 1200 und 1500. Freytag verteilt das Interesse gleichmäßiger und mit dem Datumssignal, das die Überschrift von jedem ersten Kapitel aller acht Romane bildet: Ingo 357, Ingraban 724, Das Nest der Zaunkönige 1003, Die Brüder vom deutschen Hause 1226, Marcus König 1519, Der Rittmeister von Alt-Rosen 1647, Der Freicorporal bei Markgraf Albrecht 1721, Aus einer kleinen Stadt 1805. Die punktuelle Anlage bei Scott impliziert, dass es den Generationenroman hier nur im Kleinen gibt: The Monastery und The Abbot von 1820, Scotts einzige Fortsetzungsromane, umfassen die Geschichte zweier aufeinanderfolgender Generationen der Barone von Avenel bis zum Aussterben des Geschlechts. Dagegen veranschlagt Freytag circa 60 Generationen derselben Familie. Der Scott-Verehrer verschweigt, dass dieses ausgereifte Modell des panoramatischen Generationenromans von dem Franzosen Eugène Sue stammt, dessen sechzehnbändige Les Mystères du peuple (1849–57) die Geschichte einer bretonischen Arbeiterfamilie von der römischen Versklavung über den mittelalterlichen Frondienst bis zur bürgerlichen Niederschlagung des sozialrevolutionären Juniaufstandes erzählen.39 Die französischen Geschichtsverarbeitungen sind Freytag, wie er

36 Gustav Freytag an Herzog Ernst von Coburg, 2.12.1872. Gustav Freytag und Herzog Ernst von Coburg im Briefwechsel 1853 bis 1893 (wie Anm. 5), S. 255. 37 Freytag an Albrecht von Stosch, 28.11.1872. Freytag: Briefe an Albrecht von Stosch (wie Anm. 4), S. 90. 38 WN 2, 19. 39 BOURDEAU (wie Anm. 3), S. 130, weist entlarvend darauf hin, dass „M. Freytag s’est inspiré non-seulement de Walter Scott, mais d’Eugène Sue“, und belegt dies mit einigen übereinstimmenden Zügen.

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anlässlich von Victor Hugos Hernani (1830) erklärt, wegen unidealer Auffassungen und degoutanter Details „völlig zuwider“.40

2. „der Urwald deutscher Geschichte“: Exotismus des Mittelalters Die relative literarische Spannkraft der frühen Ahnen-Bände rührt nicht etwa daher, dass Freytag ein Bewunderer des christlichen Mittelalters gewesen wäre. Im Unterschied zu dem konservativen Grundbesitzer und in der Wolle gefärbten Tory Walter Scott, der dem Mittelalter in einer Zeit der europaweiten Restauration einiges Positive abgewann,41 konnte Freytag als Fortschrittler und „deutscher Whig“ bezeichnet werden.42 In der politischen Diskussion von 1871 spricht er sich gegen jede Reminiszenz an das mittelalterliche Kaisertum aus, um das „so viel Ungesundes, so viel Fluch und Verhängnis“43 schwebe. Das in den Ahnen Vorgeführte meint er nicht als das für die deutsche Zukunft Vorbildliche. Freytag will keineswegs, wie Alfred Döblin ihm später vorgeworfen hat, „nur billigen und verherrlichen“.44 Für die Vorarbeiten an den Ahnen lässt er sich von seinem Verleger Salomon Hirzel die Kleineren historischen Schriften Heinrich von Sybels beschaffen. Hierin richtet sich die Abhandlung über Die christ40 GW 1, 134. Zur expliziten und grundsätzlichen Ablehnung Sues in den Grenzboten vgl. K ENNETH BRUCE BEATON : Gustav Freytag, Julian Schmidt und die Romantheorie nach der Revolution von 1848. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 17 (1976), S. 7–32, hier S. 27. 41 Deshalb kann SCHMIDT: Walter Scott (wie Anm. 12), S. 153, über Scotts Mittelalter sagen: „Im Mittelalter dachte und empfand man noch nicht nach der Schnur, Vieles war unzweckmäßig eingerichtet; aber die Macht des Gemüths entfaltete sich in der Lehnstreue, in der Hingebung an ideale Begriffe, und ebenso hatte die Leidenschaft Gelegenheit, sich in Kraft und Freiheit zu entfalten.“ Vgl. C HANDLER (wie Anm. 34), S. 25–51. Chandler zufolge sieht Scott im Mittelalter das Modell einer paternalistischen und holistischen Sozialphilosophie, die dem sozialen Atomismus und bürgerlichen Geschäftsgeist seiner Gegenwart entgegenwirken könnte. SABINE PRITZKULEIT: Die Wiederentdeckung des Ritters durch den Bürger. Chivalry in englischen Geschichtswerken und Romanen. 1770– 1830, Trier 1991, S. 160–238, unterscheidet zwischen Scotts negativer Beurteilung des Mittelalters und seiner positiven Bewertung des Rittertums, also zwischen dem bedauerlichen Versagen des Feudalismus und seiner begrüßenswerten Idee. 42 Vgl. H ERMANN ONKEN : Aus dem Lager der deutschen Whigs. In: Ders.: Historisch-politische Aufsätze und Reden, München 1914, Bd. 2, S. 265–302, hier S. 265. 43 GW 15, 525. 44 A LFRED DÖBLIN : Der historische Roman und wir. In: Ders.: Aufsätze zur Literatur, Olten 1963, S. 163–186, hier S. 184. Vgl. die wichtige Richtigstellung von ELYSTAN GRIFFITH : A Nation of Provincials? German Identity in Gustav Freytag’s Novel Cycle ‚Die Ahnen‘. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 96 (2004), S. 220–233, hier S. 277: „In fact, what is especially interesting about Die Ahnen is that Freytag uses historical fiction to argue against the use of historical models as a guide to the future“.

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lich-germanische Staatslehre strikt gegen die „bewundernde Nacheiferung“ des Mittelalters durch die „heutigen Feudalen“. Das Mittelalter sei, was es sei, aus politischer und ökonomischer Unfähigkeit: „ein in den wichtigsten Beziehungen unvollkommener Zustand“ mit Zerwürfnissen zwischen König, Adel und Kirche, mit unentwickelten Rechtsbegriffen und einem falschen Verständnis von Staatsgewalt als Privateigentum. Sybel bewertet das Heilige Römische Reich – und darin folgt ihm Freytag von seiner Beschreibung der Karolinger ab – als eine im Namen liegende doppelte, kirchlich und südeuropäisch gelenkte Fehlentwicklung: „Das Kaiserthum […] war burgundisch, spanisch, italienisch, amerikanisch, es war alles Andere, nur nicht deutsch.“45 Die internationale Gesellschaft um Friedrich II., die den Hintergrund der Brüder vom deutschen Hause abgibt, finden Sybel und Freytag gleichermaßen unsympathisch: verbildet, gefühlskalt und treulos. Die Geschichte des Privatlebens bereitet ihnen ebenfalls nur bedingt Vergnügen: „Es waren unsere Vorfahren, aber an den Einzelnen hat man doch wenig Freude.“46 Das Mittelalter ist für Freytag „der Urwald deutscher Geschichte“,47 in dem genau das gedeiht, was doch der realistischen Poetik zufolge nicht mehr vorzugsweiser Gegenstand künstlerischer Behandlung sein sollte: „das Abenteuerliche, Seltsame, in feindlichem Gegensatz zu der gewöhnlichen Lebensordnung Ringende“.48 In der Grenzboten-Rubrik Deutsche Romane von 1853 fragte Freytag rhetorisch: „Ist denn in der Tat das Leben um uns herum so arm an interessanten Gestalten, an erschütternden Begebenheiten, ja auch an großartigen Leidenschaften?“49 Zur Entstehungszeit der Ahnen ist Freytags Verhältnis zur Gegenwart, zum Leben um ihn herum, so weit gestört, dass die Frage einen offenen Horizont erhält. Bei Erscheinen des ersten Bandes schreibt er dem Mediävisten Moriz Haupt: Mich lockten Situationen und Farbe und vieles Originelle in der poetischen Empfindung der alten Knaben. Die Gefahr fremdartig zu bleiben und die größere, die

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HEINRICH VON SYBEL : Die christlich-germanische Staatslehre. In: Ders.: Kleinere historische Schriften, München 1863, S. 361–410, hier S. 383–385, 380 u. 390. Zum Bezug dieser Ausgabe vgl. Freytags Liste von Bücherbestellungen bei ULRICH (wie Anm. 3), S. 129. 46 Freytag an Heinrich von Treitschke, 14.9.1865. Gustav Freytag und Heinrich von Treitschke im Briefwechsel. Hrsg. von A LFRED DOVE , Leipzig 1900, S. 64. 47 GW 15, 521. 48 GW 16, 218. 49 GUSTAV FREYTAG : Deutsche Romane I. In: Die Grenzboten 12 (1853), Nr. 1, S. 77–80, hier S. 77.

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festen Schranken für das Wahrscheinliche zu entbehren, habe ich während der Arbeit oft empfunden.50

Die Mittelalterbände gelingen ihm als exotische, mit edlen Wilden bevölkerte Urwaldromane. Die Ahnen-Familie unterliegt zur Neuzeit hin einer Rationalisierungsgeschichte, die das Romanhafte an Freytags Romanen vertilgt, und einem Privatisierungsprozess, in dem die Figuren immer weniger Anteil an den großen Begebenheiten ihrer Zeit haben. Die historisch wachsende Informationsdichte verengt den Spielraum dafür, die Ahnen bedeutende öffentliche Rollen spielen zu lassen. Dagegen, je weniger Quellen Freytag zur Verfügung hat, desto unbefangener entfaltet sich sein Roman als Roman. „Das Bedenkliche der Arbeit“, so erkennt Freytag selbst, „lag nicht vorzugsweise in dem Zurückgehen auf frühe Vergangenheit, wie wohl der freundliche Leser annimmt, sondern in dem Fortführen bis zur Gegenwart“. Denn: Für die alten Zeiten ist durch die Vergangenheit selbst der Stoff episch zugerichtet. Es ist leicht, das Schicksal eines Helden in Weltbegebenheiten einzuflechten und ihn zum Theilnehmer an großen Ereignissen zu machen. Je näher die Erzählungen der Gegenwart kommen, desto mehr engt das Privatleben den Horizont und die Thätigkeit der handelnden Personen ein.51

Exotismus und Abenteuerlichkeit machen auch den Reiz von Scotts Mittelalter aus. Es ist, wie man noch in jüngerer Zeit treffend bemerkt hat, „crammed full of adventures out of the top drawer“.52 Hierbei nimmt sich der Zeitgenosse Byrons phantastische und romantische Lizenzen, die Freytag ausschlägt. Scott lässt Unwahrscheinliches zu wie die Auferstehung von Toterklärten (Athelstane) und den Herzinfarkt von Unliebsamen (Bois-Guilbert) in Ivanhoe, Übernatürliches wie die Geistererscheinung der White Lady in The Monastery und die Elfen-Ahnen von Anne of Geierstein. Wunderbare Elemente stammen bei Scott schon aus seinen folkloristischen Bezügen auf keltische Märchen und die Border Ballads.53 Nichts dergleichen bei Freytag, der nur Hoch-Literarisches wie Waltharilied (in Ingo und Ingraban), Ecbasis captivi (in Das Nest der Zaunkönige), Neidhardt, Ulrich von Lichtenstein und Werner den Gärtner (in 50 Freytag an Moriz Haupt, 30.11.1872. Abgedruckt in C HRISTAN BELGER : Moriz Haupt als academischer Lehrer, Berlin 1879, S. 38. 51 GW 1, 252. 52 EDWARD WAGENKNECHT: Sir Walter Scott, New York 1991, S. 86. 53 Vgl. PAUL HENDERSON SCOTT: Walter Scott and Scotland, Edinburgh 1981, S. 29–31; sowie die Konklusion bei PAUL J. DE G ATEGNO : ‚Ivanhoe‘. The Mask of Chivalry, New York 1994, S. 20: „What makes Ivanhoe difficult, […] is also what makes it great: its skillful arrangement of improbabilities, impossibilities, and coincidences. […] the key in Ivanhoe is his bent for the fantastic.“

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Die Brüder vom deutschen Hause) gelten lässt. Der Talisman der Ahnen – ein vorchristliches Drachenamulett, das sich von Ingo bis Ingraban vererbt – verfügt eben nicht über die heilende Kraft des Titelmotives von Scotts The Talisman. Mit diesem vorislamischen, aus dem kurdischen Dämonenglauben stammenden Amulett befreit Sultan Saladin Richard the Lion-Heart von einem tödlichen Fieber. Scott findet Anachronismen zum Vorteil einer selbstbewussten Illusion unproblematisch.54 Freytag dagegen müht sich um die historische Korrektheit noch der letzten Details (wie der Frage, ob mittelalterliche Beinkleider Seitentaschen hatten55). Scott inseriert vollständige Lieder und Balladen in seine Prosa; Freytag vermeidet diese romantische Gattungsmischung. Trotzdem ist Scott für Freytag kein Romantiker, sondern schon als Brite ein geborener Realist. „Die Engländer“, heißt es in den Grenzboten über die Englisch schreibenden (also auch schottischen) Romanautoren des 18. und 19. Jahrhunderts, „haben zu allen Zeiten einen größeren Sinn für die Realität gehabt.“56 Ihre Figuren urteilten nicht bloß, sondern lebten auch und seien aus der Erfahrung geschöpft. Scott im Besonderen wird als Mann bewundert, der im Leben stehe und sich erst im Alter von 43 Jahren (Freytag war beim Erscheinen von Soll und Haben bereits 40) als Dichter zu betätigen beginnt: „Als W. Scott anfing, seine Romane zu schreiben, war er selbst schon lange Gutsbesitzer, […] gelehrter Altertumsforscher und Literaturhistoriker. Daher ist auch Männerarbeit geworden, was er geschrieben hat“.57 Julian Schmidt plädiert 1870 dafür: „Walter Scott ist der Erfinder dieser Gattung, die man jetzt Realismus nennt.“ Er habe zwar ein entschiedenes Interesse für romantische Gegenstände, werde aber „niemals von ihnen angesteckt“.58 Scotts Bauformen empfiehlt Freytag schon zur Zeit des GrenzbotenRealismus. Sie könnten „als Muster dienen, wie der Romanschreiber das Interesse des Lesers zu spannen und zu befriedigen hat. Noch ist der große Mann, der doch so schnell schrieb, in vielen Einzelheiten seiner Composition nicht übertroffen worden“.59 In den Erinnerungen an mein Leben erneuert Freytag sein Scott-Bekenntnis:

54 Vgl. JAMES A NDERSON : Sir Walter Scott and History, Edinburgh 1981, S. 83f. 55 Freytag an Herzog Ernst, 4.12.1880. Gustav Freytag und Herzog Ernst von Coburg im Briefwechsel 1853 bis 1893 (wie Anm. 5), S. 401. 56 JULIAN SCHMIDT: Ästhetische Streifzüge. In: Die Grenzboten 19 (1860), Nr. 1, S. 468–474, hier S. 469. Dazu PRICE (wie Anm. 3), S. 7–23. 57 FREYTAG : Deutsche Romane (wie Anm. 49), S. 78. Zur Mischung von Romantischem und Realistischem bei Scott vgl. ausführlich H ENDERSON SCOTT (Anm. 53), S. 10–25. 58 SCHMIDT: Walter Scott (wie Anm. 12), S. 163 u. 214. 59 FREYTAG : ‚Namenlose Geschichten‘ von F. W. Hackländer (wie Anm. 35), S. 266.

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Es hat Jahrhunderte gedauert, bevor die Handlung der Romane zu künstlerischer Durchbildung gelangt ist, und es ist das hohe Verdienst Walter Scotts, daß er mit der Sicherheit eines Genies gelehrt hat, die Handlung in einem Höhepunkt und in großer Schlußwirkung zusammen zu schließen.60

Scott schließt seine Romane in der Tat mit „a striking catastrophe“61 wie dem Gotteskampf zwischen Ivanhoe und Bois-Gilbert in Ivanhoe bzw. zwischen Kenneth und Conrad of Montserrat in The Talisman oder der finalen Auslöschungsschlacht zwischen den Clans Quhele und Chattan in The Fair Maid of Perth. Zum selben kompositorischen Zweck gehen Freytags Helden Ingo und Ingraban in großformatigen Schlachtszenen unter. Immo (in Das Nest der Zaunkönige) macht sein jähes Glück vor dem unsicheren, auf Leben und Tod gehenden Gericht des launischen Königs Heinrich II. Ivo (in Die Brüder vom deutschen Hause) rettet seine Geliebte vom Scheiterhaufen der Inquisition und seine Burg vor der Eroberung. Die geringere öffentliche Sicherheit des Mittelalters fördert diese Art des wuchtigen Abschlusses; die neuere Zeit – bei vermeintlich ansteigender „Achtung für das einzelne Menschenleben, Sicherheit der bürgerlichen Ordnung, Milderung des Kriegszustandes“62 – ist ihm weniger günstig. Den Schluss des Reformationsromans Marcus König bildet eine lange Verhandlung Luthers darüber, ob die im Feld geschlossene Ehe von Georg König gottgefällig und rechtsgültig sei. Die älteren Ahnen hätten sich um derlei wenig bekümmert. Im Schlussband Aus einer kleinen Stadt steht nur mehr ein Hochzeits- und Friedensfest am Ende.

3. „was der Dichtkunst die Charaktere bedeuten“: Pathologien des mittleren Helden Mehr als aus der Komposition leben Scotts wie Freytags Romane aus den Charakteren. In den Memoiren gedenkt Freytag der Leihbibliothek seiner Gymnasialzeit: Dort […] fiel mir zum ersten Male Walter Scott in die Hände. Die Fülle und heitere Sicherheit dieses großen Dichters nahmen mich ganz gefangen, durch ihn lernte ich ahnen, was der Dichtkunst die Charaktere bedeuten; ich las alle seine Romane mit immer neuem Entzücken durch.63

60 GW 1, 180. 61 WN 14, 18. 62 VON SYBEL (wie Anm. 45), S. 405. 63 GW 1, 73. Vgl. SCHMIDT: Walter Scott (wie Anm. 12), S. 207: „Wie ein guter Portraitmaler auf uns den Eindruck macht, daß sein Bild getroffen ist, ohne daß wir die Person

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Die Scott-Rezeption bis zur Gegenwart bestätigt diese Einschätzung: „The protagonist serves as the substantial center: he is central both in embodying the novel’s meaning and in providing the center of its structure“.64 Dies leistet der Protagonist gerade dadurch, dass er nur ein mittlerer Held ist, ein Perspektiventräger, durch den die historische Situation illuminiert werden kann. Der historische Roman des 19. Jahrhunderts entwickelt sich – wie in Adalbert Stifters Witiko (1867) und Conrad Ferdinand Meyers Jürg Jenatsch (1876) – weg von Scotts mittlerem Helden hin zum aktiven Mitstreiter im geschichtlichen Prozess.65 Freytag verweigert sich dieser Entwicklung und hält daran fest, dass die Hauptfiguren der (fiktiven) Erzählung die Nebenfiguren der (realen) Geschichte sind, dass sie also „nur untergeordnete Teilnehmer an großen Begebenheiten sein dürfen“.66 Wie Scott platziert er seine Titelhelden als Privatmenschen in der Umgebung politischer Persönlichkeiten. Er verteidigt diese Position im Jahr 1872: Scott, der „Meister im Charakterisieren“, sei auch hier durch eine richtige Empfindung geleitet worden. Denn die mittleren Helden bildeten Figuren, in deren „Leiden und Freuden jeder Leser sich mit der größten Leichtigkeit heimisch finden“ könne.67 Der mittlere Held verdient seinen Namen für eine romantechnische Funktionalität und nicht, weil er eine soziale Mittelschicht im Sinne des Quasi-Bürgerlichen repräsentieren würde. Ivanhoe ist vom besten angelsächsischen Adel und muss es sein, um seine Mission erfüllen zu können. Kenneth in The Talisman zeigt bei aller ritterlichen Bescheidenheit nicht die geringsten bürgerlichen Neigungen, sondern erweist sich zuletzt gar als Prinz David of Scotland. Auch Freytags Helden von Ingo bis Ivo halten dezidiert auf ihren fürstlichen Adel, den sie auf das Königshaus der Wandalen zurückführen. Noch der löwenmutige Ivo gibt in der Konkurrenz mit dem Landgrafen von Thüringen kund: „Der Gewaltigste vermag ich nicht zu sein zwischen Saale und Werra, sie sollen von mir sagen, daß ich der Adligste bin.“68 Die vorgeführte Tätigkeit der Ahnen fällt niemals – wie nach Freytags Realismus-Theorie der 1850er Jahre – in die alltägliche

kennen, die es darstellt, so überzeugt uns Walter Scott bei dem ersten Auftreten seiner Figuren von ihrer Wirklichkeit.“ 64 H ARRY E. SHAW: The Forms of Historical Fiction. Sir Walter Scott and His Successors, Ithaca u. a. 1983, S. 154. Für die Mittelalter-Romane entwickelt SHAW dies anhand von Quentin Durward (S. 159–166) und Ivanhoe (S. 208f.). 65 So HUGO AUST: Der historische Roman, Stuttgart 1994, S. 90. Zur regen Diskussion im 19. Jahrhundert über Scotts mittleren Helden vgl. SCHÜREN (wie Anm. 21), S. 106–109, 177–182 u. 229–231. 66 GW 1, 252. 67 GW 16, 220. Dazu ULRICH (wie Anm. 3), S. 59f. 68 GW 10, 19.

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Arbeitswelt, sondern ganz ins Kriegswesen. Sie sind Grundbesitzer, die ihren Grund jedoch weniger bestellen als verteidigen. Auch ihre damit verbundene Geisteshaltung kann nicht als bürgerlich bezeichnet werden. Mit den Tugenden vom Wertehimmel des 19. Jahrhunderts wie Bildung, Arbeitsethos und Ordnungsliebe ist es weder bei Ingo und Ingraban noch bei Immo und Ivo weit her. Ingo und Ingraban halten Schreiben und Lesen für einen unredlichen Zauber. Immo flieht auf dem Pferdesattel vorzeitig von der Klosterschulbank („Denn meine Ahnen dachten hoch und ich stamme aus einem Geschlecht von Kriegern“69). Ivo hält sich für Schreibdienste einen Scholaren. Erst Georg im Roman Marcus König beugt die Liebe zur Lehrertochter unter den Stab ihres Vaters. Die mittelalterlichen Ahnen erwerben und vermehren Besitz nicht, sondern verwalten und verschwenden das einmal – durch Ingos Landnahme – Erworbene. Einst war der ganze Talgrund und alle Berghöhen Eigentum desselben edlen Geschlechts gewesen, welches für eines der ältesten in Thüringen galt. Aber was ihm von je Ehre gegeben hatte, daß es frei auf eigenem Grunde saß, das hatte ihm die Dauer des zusammenhängenden Besitzes vermindert.70

Dieser unerbauliche Hinweis steht am Anfang des letzten Mittelalterromans, Die Brüder vom deutschen Hause, an dessen Ende Ahn Ivo auch den letzten Rest des 700jährigen Grundeigentums („hier stehe ich unter der letzten Mauer, die mir von dem Erbe meines Geschlechts geblieben ist“71) verliert. Er bricht ins ostpreußische Deutschordensland auf und wird zum Mitbegründer der Stadt Thorn. Dort muss sich der nächste Held, Georg, den historischen Vorgang eingestehen: „Meine Ahnen haben als die Vornehmsten dem Adel geboten, jetzt drängen wir uns mit den Junkern vom Lande“.72 Die Ahnen-Vertreter seit Georg haben unter den zivilen Umständen der Neuzeit kaum noch Gelegenheit zur Übung und Pflege heroischer Tugenden. Marcus König lebt in Thorn noch unter Bedingungen des Grenzlandes, die die Kräfte der Ahnen seit jeher spannten. Sein Sohn Georg setzt sich noch einmal – wie Ingo, Ingraban, Immo und Ivo – mit dem alten, aber nicht ewigen Gegenspieler des slawischen Volkstums auseinander, bevor er in ein Thüringen zurückwandert, das seit Ivos Zeiten ein „Herzland“ („Denn wie ein Herzland liegt es in der Mitte“), nicht mehr ein „Grenzland“ genannt wird.73 Die schwierigsten Herausforderungen

69 70 71 72 73

GW GW GW GW GW

9, 17. 10, 4. 10, 321. 11, 28. 10, 137.

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entstehen den Ahnen noch aus Liebeshändeln und selbst hier erweist sich der Arzt Ernst König (Aus einer kleinen Stadt) als zu zaghaft. Sein Sohn Viktor König schlägt sich nur noch in einer Vandalen genannten Burschenschaft und führt ansonsten die Feder des Journalisten. Freytags Die Ahnen erzählt letztlich die Geschichte einer Degeneration: von Stammeskönigen zu „Zaunkönigen“ und zur Bürgerfamilie mit Namen König, den diese zu ihrem Spott trägt. Die Entstehung des deutschen Bürgers stellt sich als ein Banalisierungsprozess dar. Es gibt eine Teleologie in den Ahnen, aber das Telos liegt unterhalb eines idealen Horizonts. Walter Scotts Helden tragen ihr Bürgertum mit sehr viel mehr Anstand und Würde. Die im 15. Jahrhundert spielenden Romane The Abbot und Anne of Geierstein führen Verbürgerlichungsprozesse vor, bei denen im ersten Fall die Barone von Avenel in der männlichen Linie aussterben und die Nichte Mary des verbliebenen Julian Avenel einen Bürgerlichen (noch dazu einen Protestanten) heiratet, im zweiten Fall Arnold Biedermann aus eigener Überzeugung vom Adligen zum Bürger konvertiert. Die Verlustgeschichte der Ahnen ergibt sich aus deren problematischem Charakter, an dem Freytag eine deutsche Pathologie freilegt. Scott umflort seine Helden mit dem Reiz der Ritterlichkeit. ‚Chivalry‘ ist die zentrale Kategorie seines vom 11. bis zum 15. Jahrhundert beschriebenen Mittelalters, auf der glänzenden Seite mit Wilfred of Ivanhoe, auf der finsteren mit dem großartigen, aber selbstzerstörerischen Brian de Bois-Guilbert. Daneben existiert ein älteres, sächsisches Kriegertum wie in Ivanhoes Vater Cedric the Saxon, das seine gutmütige Ungeschlachtheit aus den deutschen Wildnissen („from the wilds of Germany“) mitgebracht haben soll.74 Daran knüpfen Freytags Helden nun viel mehr an als an das Rittertum – mit allen Problemen, die Scott in der Halsstarrigkeit und Unverbesserlichkeit Cedrics sieht. Gewiss besitzen die Mittelalterahnen einige anti-materialistische Tugenden wie Heroismus und Opferbereitschaft, Freiheitsinn und Großzügigkeit, die Freytag der materialistischen deutschen Gründerzeit ins Stammbuch schreibt.75 Aber sie übertreiben ihren Geradsinn bis zum Starrsinn, ihren Mut bis zur Rauflust. Mit Vorliebe setzen sie Alles für Wenig aufs Spiel. Durch Wagemut verspielen sie alle Vorteile, die Wagemut ihnen eingebracht hat. Sie halten sich „ehrlich gegen Freund und Feind“,76 verzichten so großmütig wie kurzsichtig auf ihre Vorteile („Ich sorge nicht um eines Mannes Rache, der unter meinem

74 75 76

WN 2, 106. Vgl. CLAUS HOLZ : Flucht aus der Wirklichkeit. ‚Die Ahnen‘ von Gustav Freytag, Frankfurt/M. u. a. 1983, S. 54–75. GW 8, 9.

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Schwert lag“77) und genießen Bruderschaft vornehmlich im Unglück, in der Treue bis zum Tod. Sie reiten lieber geradewegs in die Falle als krumme Wege zu gehen, ob nun Ingo als unbequemer Gast bei König Bisino ausharrt oder Ivo sich auf ein Himmelfahrtskommando in die samaritischen Berge begibt (Ivo: „die gewundenen Gedanken und die kalte List des Kaisers Friedrich kann ich nicht loben und ich will keinen Teil daran haben“78). Der persönlichen Tapferkeit mangelt aller politische Weitblick. Man denke an Cedrics ebenso stolze wie ruinöse Erklärung: „I will die a Saxon – true in word, open in deed.“79 Die „packende Gewalt deutscher Natur“, von der Freytag in einem Brief an Heinrich von Treitschke spricht,80 prägt sich als Unfähigkeit und Unwilligkeit zum politischen Denken aus. Die Ahnen exponieren ein Volk, mit dem sich kein Staat machen lässt: „Denn hochfahrend ist der Männer Sinn, jeder will nur tun, was ihm beliebt, jeder trotzt auf sein Recht und sucht sich Rache und keiner fügt sich fremdem Willen.“81 Ingraban und Immo stehen der kirchlich-staatlichen Autorität so sehr entgegen wie je der altgermanische Freiheitswille Ingos dem römischen Befehl. „Vom ersten Tage, wo ich ihn sah, hat er mich richten und schicken wollen wie einen Knecht“, so beklagt sich Ingraban über Bonifazius.82 Fürstengewalt und Priestermacht erscheinen als ultramontane Ideen, mit denen die germanische Volkssitte über die christlichen Jahrhunderte hinweg ringt. Von Ingo bis Ivo hat keiner der Ahnenhelden viel Respekt vor den Fürsten. Bisino, Pippin, Heinrich II., Friedrich II. und wie sie sonst heißen, erscheinen ihnen und der Erzählung sämtlich im Zwielicht. Kurz sind die Momente der Sympathie, wenn Bisino dem jungen Recken Ingo das Gastrecht gewährt oder der vom Staatsstreich bedrohte Heinrich II. als unbekannter Ritter mit Immo das Schwert kreuzt und danach das Brot mit ihm teilt (ganz der berühmten Begegnung von Richard the Lion-Heart mit der Bande Robin Hoods in Ivanhoe folgend). Die treusten Diener der Ahnensprösslinge sind die wahrscheinlichsten Königsmörder. Gurth

77 78 79 80 81 82

GW 8, 102. GW 10, 307. WN 2, 229. Freytag an Heinrich von Treitschke, 14.9.1865. Gustav Freytag und Heinrich von Treitschke im Briefwechsel (wie Anm. 46), S. 64. GW 8, 65. GW 8, 354. Ingraban hat den Auftrag, Bonifazius im Missionsland zu beschützen, obwohl er die kulturelle Kolonisierung, die mit der römisch-katholischen Mission einhergeht, ablehnt. Der letzte Baron Avenel in Scotts Doppelroman The Monastery und The Abbot muss einem protestantischen Missionar Begleitschutz geben, der das katholische Schottland bekehren will. Auch Avenel hadert mit diesem Auftrag, da er davon Eingriffe in die schottische Lebensweise fürchtet.

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in Ivanhoe und Eberhard in Das Nest der Zaunkönige gleichen einander wie ein Wilder Mann dem anderen; der eine die Inkarnation des Sachsen aus den ‚deutschen Wildnissen‘, der andere die des im Thüringer Wald verschanzten Germanen. Beide sind Sauhirten, Gurth in Fell gekleidet, ein langes, breites Messer im Gürtel, die Haare verworren und verfilzt,83 Eberhard eine „riesige Gestalt in einem Rock von Wolffellen, das buschige Haar des Mannes starrte wild um das Haupt, in dem Gurt steckte eine Axt“.84 Gurth wie Eberhard verfolgen das Geschick ihrer jungen Herren Ivanhoe und Immo und halten die Mordwaffe in der Hand, um sie nötigenfalls an der Obrigkeit zu rächen. Konfliktfreude und Diplomatiemangel sind nicht nur in der vertikalen Dimension der Gesellschaft problematisch, sondern ebenso in der horizontalen Dimension der Stammesbeziehungen. In den Bildern aus der deutschen Vergangenheit pflegte Freytag noch das Wunschbild eines germanischen Altertums als Anfang und Grund einer deutschen Nation: Die Germanen „erkannten einander sämtlich als Stammesgenossen, welche in vielen Dialekten dieselbe Sprache redeten, auf demselben Götterglauben und denselben Rechtsanschauungen ihre Familie, Gemeinde und Poesie entfaltet hatten“.85 In den Ahnen herrschen dagegen allenthalben Zerwürfnisse, zuerst zwischen dem Wandalen Ingo und den Thüringen, danach vor allem zwischen den Thüringen und den Franken („Der Thüring haßt den Franken“86). Letztere, „die erbelosen Franken […], welche von der Dienerbank in das Land kamen“,87 spielen in der Lebenswelt von Ingo bis Ivo die unrühmliche Rolle desjenigen Germanenstammes, der in jeder Generation für ungermanische Ideen anfällig ist. Sie kämpfen, neben den Alemannen, in den Reihen des römischen Heeres, betreiben danach die Christianisierung, später die Feudalisierung und stehen noch in den Brüdern vom deutschen Hause unter dem Verdacht, im Auftrag des Papstes oder des Templerordens zu operieren. Der fränkische Römersöldner Harietto verfolgt den Kriegshelden Ingo und fordert von den Thüringen dessen Auslieferung. Die Frankenfürsten Karl Martell und Pippin unterstützen die römische Mission des Bonifazius, die Thüringen so sehr verändert, wie es Ingraban befürchtet. Heinrich II. gilt „Immo, dem Thüring“88 und seinen Leuten als (Ost-)Frankenherrscher, dessen Zentralisierungsabsichten ihre Unabhängigkeit gefährden. Folgendermaßen wird Ivo vor einem

83 84 85 86 87 88

WN 2, 20. GW 9, 291. GW 17, 38. GW 8, 222. GW 9, 55. GW 9, 9.

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Mann gewarnt, der sich ihm in Accon als deutscher Landsmann empfiehlt: „Da Ihr ein Thüring seid, so traut diesem Ritter nicht, denn er ist aus Franken.“89

4. „die Kunde von Thaten und Schicksalen“: Ansätze zur Metahistorie Es ist richtig, wie DANIEL FULDA sagt, dass Freytags illusionistischer und objektiver Stil die Fiktionalität des historischen Erzählens niemals betont.90 Im Gegensatz zu Scott verzichtet er auf Vor- und Nachworte, in denen er die benutzten Quellen anführen würde, desgleich auf Fußnoten, in denen Sachbemerkungen vom Gegenwartsstandpunkt aus wiederum oft mit Quellenangaben verbunden sind; in Ivanhoe etwa Erläuterungen zum Getränk des Pigment und zur Institution des Judenmeisters. Wenn Scott im Anmerkungsapparat von The Talisman zum Auftritt des Thomas Multon bemerkt, dieser sei eine historische Figur, räumt er implizit ein, dass dies für andere Figuren nicht gilt. Herausgeberfiktionen, in denen wie in Ivanhoe ein Antiquar namens Laurence Templeton die Gemachtheit des Textes entschuldigt und somit unterstreicht („History, you know, is half fiction“91), entfallen bei Freytag ebenso wie die Kapiteleröffnung mit anachronistischen Mottoversen, die in Ivanhoe unter anderem aus Homer, aus Chaucer und Shakespeare, aber auch aus Schiller (Jungfrau von Orleans) stammen. „Will future ages believe that such stupid bigotry ever existed?“:92 Derartige Äußerungen von Romanfiguren adressieren bei Scott indirekt den Leser, wohingegen Freytag seine erzählte Welt streng geschlossen hält. Wie Scott aber trägt Freytag die Funktion der Dichter in das historische Geschehen ein und mit ihnen ein metahistorisches Moment. Auch die Männer, welche die Kunde von Thaten und Schicksalen im Volke verbreiten und späteren Geschlechtern überliefern, forderten ihr Recht. Im Ingo vertritt sie der Sänger Volkmar. In den späteren Geschichten nach der Reihe der Spielmann, der lateinische Schüler, der Buchhändler, der Pasquillenschreiber, zuletzt der Journalist.93

89 GW 10, 170. 90 FULDA (wie Anm. 1), S. 200. 91 WN 2, 11. Zur „historical romance as metafiction“ vgl. JAMES K ERR : Fiction Against History. Scott as Storyteller, Cambridge 1989, S. 102–123. 92 WN 2, 328. 93 GW 1, 242.

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Zu den Minstrel-Figuren Scotts gehört für die Mittelalterromane zuvörderst Blondel de Nesle, der am Schluss des Talisman (26. bis 28. Kapitel) auftritt und von Richard the Lion-Heart als Lehrer und Freund empfangen wird. Richards „appetite for warlike fame“94 hat damit unmittelbar zu tun, denn Blondel besingt den Ruhm ritterlicher Taten. Blondel ist als diplomatischer Begleiter und als Bote des Königs der Zeuge von dessen Taten. Auch Allan a Dale, „the northern minstrel“95 in Ivanhoe, bildet gewissermaßen das Propaganda-Corps Robin Hoods im Dienste von König Richard. René of Anjou, Troubadour und Kleinkönig der Provence, bildet gegenüber den Königen von Frankreich und Burgund die moralische Instanz in Anne of Geierstein. Diese Sänger stellen Maßstäbe bereit, an denen die Handlungen und Motive der anderen Charaktere beurteilt werden. Sie stehen darüber hinaus für den Beginn der historischen Überlieferung, die Voraussetzung der Romane selber ist. Sie stellen ein verbindendes Element zwischen Mittelalter und Neuzeit dar; nicht nur wegen der Konstanz ihres Auftretens, sondern weil sie in ihrer jeweiligen Gegenwart vom Geschehenen künden und Überlieferung stiften.96 Ihre Zuhörer im Roman sind wie die Leser des Romans die Rezipienten historischer Repräsentationen. Eine Durchbrechung der Erzählfiktion geschieht dadurch nicht zwangsläufig, wohl aber eine Reflexion auf Tradierungswege und -formen. Diese Reflexion schließt Momente der Subjektivität, der Interessengebundenheit und Unzuverlässigkeit ein, vor allem in The Betrothed, wo die walisischen Barden Cadwollon und Caradoc sehr problematische Ratgeber eines Tyrannen sind und ihre Zuhörer manipulieren.97 Freytags Sänger und Schreiber sind wie diejenigen Scotts unmittelbare Parteigänger sowie Vertreter des aktiven Lebens. Sie organisieren mit ihren begrenzten Mitteln die Informationsvermittlung und Meinungsbildung in einer zerklüfteten Gesellschaft. Volkmar berichtet unter den Thüringen von Ingos Kampf gegen die römische, fränkisch verstärkte Streitmacht am Rhein. Im Stil des Hildebrands- und Walthariliedes kündet er von Schlachten und Schicksalen. Freytag exemplifiziert die Sänger als das politische Stimmungsbarometer und als die Demoskopen des Mittelalters: „denn rühmliche Tat lebt durch meinen Mund“.98 Schon Volkmar als die erste Sängerfigur deutet darüber hinaus an, Meinungsmacher zu sein und

94 WN 10, 326. 95 WN 2, 156. 96 Vgl. M ARYHELEN M AYORKAS : Minstrels and Minstrelsy. Their Function in the Works of Sir Walter Scott, Ann Arbor 1975, S. 123: „Scott’s minstrels are […] links in the chain of cultural continuity.“ 97 Vgl. M AYORKAS (wie Anm. 96), S. 151ff. 98 GW 8, 59.

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Wirkungsabsichten im Dienst eines heroischen Ideals zu verfolgen, an dessen Maß er Ingos politisch denkenden Gastgeber Bisino für zu klein befindet. Es geht diesen Figuren darum, „daß sie das Beste, was sie wußten, mit regelmäßigem Fluß in die Seelen anderer hinüberleiten konnten“.99 Auch in den Folgebänden steht Freytag dazu, dass Überlieferung weder ein interesseloser noch ein störungsfreier Prozess ist. Der Klosterschreiber Gozbert erklärt, theologisch Unliebsames bei seiner Kopiertätigkeit auszumerzen.100 Hofschreiber Nikolaus gilt dem Erzähler als unzuverlässige Überlieferungsinstanz für den (mündlichen) Minnesang Ivos.101 Wenn Freytag die Reihe derer, die an der historischen Überlieferung mitwirken, von Volkmar bis zu dem Journalisten Viktor König benennt, betont er nicht eigens den Bruch darin: Der letzte der Ahnen ist der erste Mann der Worte unter ihnen. Victor König steht als Journalist in der Funktionsreihe der Sänger und nicht mehr in der der Helden.

5. „örtliche Erinnerung“: Das schottische Thüringen Ein letzter Zug, den Freytag an Scott bewundert, betrifft die epische Umsetzung des Prinzips: „Tradition depends on locality.“102 „Die besten Kunstleistungen Walter Scotts“, so Freytag in seinen Erinnerungen, „ruhen auf Schilderungen einer Vergangenheit, die ihm und seinen Zeitgenossen durch teure örtliche Erinnerungen nahe gerückt war.“103 Scotts Landschaften strukturieren geschichtliche Vorgänge und stellen zugleich Überlieferungsträger dar. Die ersten Seiten von The Talisman beschreiben die Gegend um das Tote Meer als „awful testimony to the truth of Mosaic history“.104 Diese Wildnis wird zum Zeugnis auch der Kreuzzugsgeschichte, die Scott zu erzählen hat. Den Waverley Novels geben einerseits das schottische Hochland das Gepräge, andererseits die Border Lands, in denen schottische und englische Kultur aufeinanderprallen. In Ivanhoe sind es die Wälder des sächsisch besiedelten Nordenglands, aus denen heraus Robert Locksley alias Robin Hood gegen den normannischen Adel ope-

99 GW 13, 306. 100 Vgl. GW 9, 11. 101 Dazu aufschlussreich JAN-A RNE SOHNS : An der Kette der Ahnen. Geschichtsreflexion im deutschsprachigen historischen Roman 1870–1880, Berlin u. a. 2004, S. 102–105 („Freytags Ahnen als Geschichte der Schrift“). 102 Dazu JAMES R EED : Sir Walter Scott. Landscape and Locality, London 1980, S. 10f. 103 GW 1, 256. 104 WN 10, 18.

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riert. Hier kann der Sachse Locksley dem Normanen Richard the LionHeart erklären: „In these glades I am monarch: they are my kingdom“.105 Freytag beschränkt die Örtlichkeit der Erinnerungen weitgehend auf Thüringen. Ingo ist ein deterritorialisierter Wandalenprinz, der während der Völkerwanderung im Land der Thüringe angeschwemmt wird und dort seine Siedlung nimmt. Die spätantike Massenmigration bildet das urdeutsche Trauma, auf das 60 Ahnen-Generationen mit der Anklammerung an die Gefilde zwischen Erfurt und Coburg reagieren; episodisch bleiben ihre Ausflüge in die Weltgeschichte an der Seite von Bonifaz, Heinrich II. und Friedrich II. Der ‚nomadisierende Slawe‘, der in der Ahnengeschichte des Mittelalters als beständiger Gegner auftritt, sowie der ‚ewige Jude‘, der sich in den Ahnen nur gelegentlich blicken lässt, sind die Angstgespenster der eigenen Frühgeschichte. Man kann die Ahnen – wie es NIELS WERBER für Soll und Haben getan hat – als „Literatur der Reterritorialisierung“ bezeichnen.106 Der nationale Diskurs erhält aber dadurch eine internationale Dimension, dass Freytags Thüringen deutliche Züge von Scotts schottischenglischen Geographien trägt. Das ist insofern nicht ganz überraschend, als der britische Dichter selbst ‚krypto-schottische‘ Romane geschrieben hat, so mit einem seiner letzten Werke, Anne of Geierstein, in dem sich die wackere Schweiz ausgesprochen schottisch und das hochmütige Burgund durchaus englisch präsentiert.107 Freytag gewinnt dem Schauplatz Thüringen ausreichende epische Entfaltungsmöglichkeiten ab, indem er in ihm – übereinstimmend mit dem in Low- und Highlands gespaltenen schottischen Bewusstsein108 – die Differenz von „Talleuten“ und „Waldmännern“ einschreibt; angefangen mit König Bisino vom Tal und Clanführer Answald von den Waldlauben, die sich gegenseitig nicht über den Weg trauen. Die Talleute sind anfällig für die Ansprüche der jeweiligen (römischen, fränkischen, ottonischen und staufischen) Zentralmacht. Allzu gelehrig nehmen sie westliche Hofzucht und Zivilisierung an. Dagegen setzt sich Freytags Bild vom „Bergwald der Thüringe“109 aus Elementen des schottischen Hochlands und der anglosächsischen Wälder zusammen, wie sie Scott modelliert. Der „freie Wald“, finden die frühen Ahnen, bildet das sicherste Refugium „freier Männer“.110

105 WN 2, 283. Zu Scotts Erfahrung und Gestaltung der „border traditions“ und der „frontier society“ vgl. H ENDERSON SCOTT (Anm. 53), S. 26–38. 106 NIELS WERBER : Die Geopolitik der Literatur. Eine Vermessung der medialen Weltraumordnung, München 2007, S. 138. 107 Vgl. A NDERSON (wie Anm. 54), S. 78. 108 H ENDERSON SCOTT (Anm. 53), S. 91. 109 GW 8, 219. 110 GW 8, 53f. u. ö.

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Das titelgebende „Nest der Zaunkönige“ ist Immos Höhentrutzburg im Thüringer Wald. Der letzte mittelalterliche Vertreter der Familie, Ivo, lebt charakteristischerweise schon im unteren Teil des Familienbesitzes, während sein betagter Onkel auf der Höhe lagert. Die Ahnen-Generationen steigen also auch im geographischen Sinn buchstäblich ab. Neben dieser Binnengrenze zwischen thüringischen ‚Highlands‘ und ‚Lowlands‘ hat der Spielort Thüringen den epischen Vorteil einer Außengrenze zu slawischen Siedlungsgebieten. Die Ahnen wie die meisten Romane Scotts spielen in einem Grenzland und beziehen von ihm ihre Dramaturgie. Freytags mittelalterliches Thüringen befindet sich in der Situation einer Mark. Hier leben sogenannte Germanen im meist feindlichen Kontakt mit Sorben und Wenden. Die Grenzbewohner beider Seiten sind durch Rituale des Transfers miteinander verbunden (der ‚Brauch der Grenze‘ ist eine feststehende Wendung vor allem in Ingraban), verbunden auch durch ihr ursprüngliches und nachwirkendes Heidentum. Die Grenze bildet eine schicksalhafte Gemeinsamkeit und entfaltet das, was bei Scott „the heroism of the border“111 bedeutet: eine Zivilisationsskepsis und Schollengebundenheit, die beide Seiten teilen. Die Grenze trennt nicht nur zwei Räume, sondern bildet einen dritten Raum, in dem sich germanisch-slawische Gegensätze relativieren. So ist Freytags Thüringen vorerst vom Exotismus der mittelalterlichen Fremde erhöht, verflacht aber zur plumpen Vertraulichkeit des Provinzialismus, je tiefer es in die Neuzeit eintritt.112 Die von Ingo erbaute Idisburg stellt sich schließlich als Gründungsbau der Veste Coburg heraus. Dass keiner von Freytags Romanen in einer Großstadt spielt, trennt die Mittelalterbände noch nicht vom Puls ihrer Zeit, wohl aber die Neuzeitbände, deren letzter mit dem Titel Aus einer kleinen Stadt seinen Standort mehr resignativ als bescheiden bezeichnet. Wie es eine dialektische Einheit mit der anderen Seite der Grenze gibt, so leben die Ahnen mit dem Kernland des Reichs in ständigen Konflikten. Sie widerstreben der wechselnd fränkischen, ottonischen und staufischen Zentralmacht, die sich von Mal zu Mal dekadent, unheroisch und durch politische Klugheit verseucht präsentiert. König Heinrich resümiert ein halbes Jahrtausend deutscher Geschichte, wenn er die Klage führt: „unbändig und eigenwillig gebärdet sich jeder in dieser Waldecke“.113 Die erste

111 CHANDLER (wie Anm. 34), S. 28. 112 Erst dann entsteht das, was LYNNE TATLOCK : „In the heart of the heart of the country“. Regional Histories as National History in Gustav Freytag’s ‚Die Ahnen‘ (1872–80). In: A Companion to German Realism. Hrsg. von TODD KONTJE , Rochester 2002, S. 85–108, hier S. 102, als „initimate and cozy view of the nation“ beschrieben hat. 113 GW 9, 281.

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der drei Lehren, die Immo von seinem Lehrer Bertram erhält, lautet: „Birg niemals in die Hand eines Herrn, was du allein behaupten kannst.“114 Auch Ivo wird von seinem Erzieher aufgestachelt, sich nicht unter die Herrschaft des Landgrafen zu beugen und dessen Hof zu verschmähen. Mit fast denselben Worten beklagt sich Cedric the Saxon über seinen Sohn Ivanhoe, der sich herabgelassen habe, diejenigen Güter als Lehen zu nehmen, die seine Vorfahren frei und unabhängig besessen hätten.115 Der Unterschied ist: Die deutschen Ahnen bleiben Enterbte und werden niemals ihren Frieden mit den politischen Verhältnissen machen. Ivanhoe dagegen repräsentiert die Aufhebung der Gegensätze: die Verbindung des Sächsischen und Normannischen zum Englischen. Der enterbte Sachse tritt sozusagen als der erste Engländer wieder in sein Erbe ein. Wenn das Englische in den Waverley Novels wiederum in Gegensatz zum Schottischen gerät, führt Scott die Geschichte doch auch hier bis zur Vereinigung von Schottland und England zum Königreich Großbritannien nach 1707. Dagegen enden Die Ahnen in der Zeit vor der gescheiterten März-Revolution und schweigen betreten zur kleindeutschen Einigung von 1871.

114 GW 9, 27. BOURDEAU (wie Anm. 3), S. 128, schrieb seine Ahnen-Rezension daher auch unter dem Eindruck, dass Frankreich die erste Monarchie, Deutschland die erste Anarchie gewesen sei. 115 WN 2, 137.

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Von Frauen begraben Zur Generierung des Frauenlob-Bildes in Mittelalter und Neuzeit Nur wenigen mittelalterlichen Dichtern wurde eine solch langwährende Popularität zuteil wie dem fahrenden Sangspruchdichter Heinrich von Meißen, der unter dem Künstlernamen Frauenlob an den großen Fürstenhöfen Europas verweilte – ein einigermaßen verblüffender Befund angesichts einer Dichtkunst, die ausschließlich höchsten Ansprüchen genügt. Die „dunkle Exklusivität“1 seiner Wortschöpfungen konnte nur einen kleinen und durchaus elitären Kreis erreichen, worauf nicht zuletzt die Übertragung einzelner Dichtungen in das Lateinische hinweist. Im Bild eines Schöpfungsprozesses, der auf den Grund des Kessels hinabreicht,2 während die berühmten Vorgänger nur den Schaum abgetragen hätten, manifestiert sich ein Selbstverständnis, das polemische Seitenhiebe von zeitgenössischen Dichtern3 ebenso nach sich zog wie das nachhaltige Entsetzen der neuzeitlichen Philologen-Zunft, dessen Spuren bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückzuverfolgen sind. Dennoch blieb Frauenlob im kollektiven Bewusstsein breitester Publikumsschichten stets präsent, wie ein Blick in Sagen- und Märchenbücher, Gedichtsammlungen, Journale * 1 2

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Für wichtige Hinweise danken wir unserer Kollegin Yen-Chun Chen. H ELMUT DE BOOR : Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Erster Teil. 1250–1350, 5. Aufl., neubearbeitet von JOHANNES JANOTA , München 1997, S. 408. Uz kezzels grunde gat min kunst (V, 115,7). Frauenlobs Werke werden hier und in der Folge als GA zitiert nach Frauenlob (Heinrich von Meissen): Leichs, Sangsprüche, Lieder. Auf Grund der Vorarbeiten von HELMUTH THOMAS hrsg. von K ARL STACKMANN /K ARL BERTAU, Göttingen 1981. Vgl. hierzu K ARL BERTAU : Genialität und Resignation im Werk Heinrich Frauenlobs. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 40 (1966), S. 189–192; BURGHART WACHINGER : Sängerkrieg. Untersuchungen zur Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts, München 1973, S. 204–214, und zuletzt ausführlich A NNETTE GEROK-R EITER : Der Mainzer Dichter Frauenlob: Narr oder Dichterfürst? In: Mainz im Mittelalter. Hrsg. von M ECHTHILD DREYER /JÖRG ROGGE , Mainz 2009, S. 131–143, hier S. 136–138.

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und historische Romane offenbart. Allein die Aura des Namens ‚Frauenlob‘4 evozierte ein nachgerade archetypisch zu nennendes Bild, das dem farbenfrohen und intensiven „Traum vom Mittelalter“5 vorzüglich entsprach. Heinrich Heine etwa ließ sich vom klangvollen Namen zu der Vermutung hinreißen, dass „der Dichter Frauenlob […] gewiss nie grob gegen irgendein Weib [war]“.6 Der maßgebliche Anteil am populären FrauenlobBild kommt den aufsehenerregenden zeitgenössischen Nachrichten über das Scheiden Frauenlobs aus dieser Welt zu, Nachrichten, die den Tod des mittelalterlichen Poeten anschaulich und nachdrücklich dem Bewusstsein der Nachwelt einprägten. Der eucharistische Sangspruch Ich sihe dich, schepfer aller schepfenunge, got (GA V,1) wurde in zwei Handschriften mit der Bemerkung versehen, es handle sich hierbei um ein Gebet, das Frauenlob auf dem Sterbebett in Anwesenheit des Mainzer Erzbischofs gesprochen hätte. Das Gebet sei dann von diesem sowie von 26 weiteren Bischöfen mit einem Ablass versehen worden.7 Mehr noch als dieses Zeugnis eines ‚schönen Todes‘ beförderte und befeuerte ein spektakulärer Bericht über Frauenlobs Grablegung die Imagination der Nachwelt. Es handelt sich hierbei um einen Zusatz zu der Chronik des Matthias von Neuenburg, der vielleicht auf den späteren Freisinger Bischof Albrecht von Straßburg zurückgeht.8 Item annoa Domini MCCCXVII, in vigilia sancti Andree sepultus est Heinricusb Frowenlob in Maguncia in ambitu maioris ecclesie iuxta scolasc honorifice valde. Qui deportatus fuit a mulieribus ab hospitio usque ind locum sepulture, et lamentationes et querele maxime audite fuerunt ab eis propter laudes infinitas, quas imposuit omni ge-

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Es ist unklar, ob der Beiname allgemein auf das Lob der Frauen oder konkret auf das Lob ‚unserer lieben Frau‘ im Marienleich zu beziehen ist; vgl. H ELMUT BIRKHAN : Geschichte der altdeutschen Literatur im Licht ausgewählter Texte. Teil VII: Minnesang, Sangspruchdichtung und Verserzählung der letzten Staufer- und ersten Habsburgerzeit, Wien 2005, S. 109. So der programmatische Titel eines Aufsatzes von RUDOLF K ASSNER : Der Traum vom Mittelalter. Eine Ouvertüre. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von ERNST ZINN. Erster Band, Pfüllingen 1969, Bd. 1, S. 132–148. Heinrich Heine: Reisebilder III/IV. Bearb. von A LFRED OPITZ , Hamburg 1986 (= Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von M ANFRED WINDFUHR , Bd. 7/1), S. 149. Die Notiz ist abgedruckt in GA II, S. 720f. Zum ‚Sterbegebet‘ vgl. zuletzt C HRISTOPH FASBENDER : „Frauenlobs Sterbegebet“ in Johanns von Neumarkt Privatgebetssammlung. In: Studien zu Frauenlob und Heinrich von Mügeln. Festschrift für Karl Stackmann zum 80. Geburtstag. Hrsg. von JENS H AUSTEIN /R ALF -HENNING STEINMETZ , Freiburg/Schweiz 2002, S. 125–144; Deutsche Lyrik des späten Mittelalters. Höhepunkte deutscher Lieddichtung aus mehr als zwei Jahrhunderten. Hrsg. von BURGHART WACHINGER , Frankfurt/M. 2006, S. 873; GEROK-R EITER (wie Anm. 3), S. 133. Vgl. zuletzt UWE RUBERG : Das Begräbnis des Dichters im Mainzer Domkreuzgang: Frauenlob-Gedenken. In: Domblätter. Forum des Dombauvereins Mainz 3 (2001), S. 77–83, hier S. 82.

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neree femineo in dictaminibus suis. Tanta etiam ibi fuit copiaf vini fusa in sepulcrum suum, quod circumfluebat per totum ambitum ecclesie. Cantica canticorum dictavit Teutonice vulgariterg unser frowen laichh multaque aliai.9

Es soll nicht darüber gerechtet werden, ob sich die Grablegung Frauenlobs tatsächlich in dieser Form zugetragen hat, oder ob – wie gemeinhin und wohl auch mit mehr Wahrscheinlichkeit angenommen10 – die legendarische Erhöhung des Dichters zur Sicherung seines Nachruhms im Vordergrund steht. Der in dem „lieblichen Trauergedicht“11 versammelte Motivkomplex erwies sich jedenfalls als durchaus geeignet, die mystische Erhöhung des Dichters nachhaltig zu gewährleisten und seinen Ruhm als Apologeten des weiblichen Geschlechts zu befestigen: Die exzessive Klagegestik der Frauen12 verbindet sich mit dem nicht minder exzessiv dargebrachten rituellen Weinopfer,13 das den Kreuzgang flutet. Dessen

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Die Chronik des Mathias von Neuenburg. I. Fassung B und VC. II. Fassung WAU. Hrsg. von A DOLF HOFMEISTER , 2. Aufl. Berlin 1955, S. 312. „Im Jahre 1317, zur Vigil des heiligen Andreas [29. November], wurde Heinrich Frauenlob zu Mainz im Kreuzgang des Domes neben der Treppe ehrenvoll begraben. Er wurde von seiner Wohnung bis an die Grabstätte von Frauen getragen, die man laut klagen und weinen hörte wegen des grenzenlosen Lobes, das er dem gesamten weiblichen Geschlecht gespendet hatte. Es wurde an seinem Grab eine solche Menge Wein ausgegossen, dass dieser den gesamten Kreuzgang überschwemmte. Das Lied der Lieder – Unser Frauen laich – dichtete er in deutscher Sprache, dazu noch viele andere Lieder.“ Lesarten: In CU ist die Überschrift vorangestellt De morte et sepultura Henrici dicti Frawenlob magni dictatoris. a Anno CU, b Henricus dictus Frawenlob CU, c scalas CU d ad CU, e generi CU, f copia fuit CU, g que vulgariter dicuntur CU, h Frouwen Laid C; Frouwenlied U, i et multa alia bona CU. Vgl. beispielsweise Minnesinger (HMS). Deutsche Liederdichter des zwölften, dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts. Hrsg. von FRIEDRICH HEINRICH VON DER H AGEN, Leipzig 1838–1861 (ND Aalen 1963), Bd. 4, S. 738f.; LUDWIG PFANNMÜLLER : Frauenlobs Begräbnis. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 38 (1913), S. 548– 559, bes. 555f.; RUBERG (wie Anm. 8), S. 82f.; GEROK-R EITER (wie Anm. 3), S. 133. GEROK-R EITER spricht von „legendarisch stilisierte[n] Zeugnisse[n], in denen Realität, Möglichkeit und Wunsch kaum voneinander zu trennen sind“. Minnesinger (wie Anm. 10), Bd. 4, S. 738. Zur überschwänglichen Trauer als literarischem Motiv vgl. etwa Parzival 155,12ff. und 159,21ff. (die Frauen klagen um Ither). Vgl. auch Walthers Reinmar Nachruf (55 II 82,32ff..): Dem Toten, der zu Lebzeiten zum Preise der Damen gesungen hat, gebührt der Dank der nachlebenden Frauen: dun spraechest ie den vrowen wol / des süln si iemer danken dîner zungen. / und hetest anders niht wan ein rede gesungen – / sô wol dir, wîp, wie reine ein nam! – du hetest alse gestriten / an ir lop, daz elliu wîp dir iemer gnâden solten biten. („Du sprachst zu jeder Zeit preisend von den Frauen. Dafür werden sie deinem Gesang für immer danken. Und hättest du auch nur das eine Lied gesungen – ,Gepriesen seist du, Frau, wie rein ist schon der Name!‘ –, du hättest so sehr um ihr Lob gestritten, das alle Frauen Gottes Gnade für dich erbitten müssten“). Zitiert nach Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. Hrsg. von CHRISTOPH CORMEAU, Berlin 1996, S. 182. Vgl. hierzu RUBERG (wie Anm. 8), S. 82f.; K ARL STACKMANN : Quaedam Poetica. Die meisterliche Dichtung Deutschlands im zeitgenössischen Verständnis. In: Ders.: Frauenlob,

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Erwähnung resultiert, einer plausiblen Vermutung UWE RUBERGs zufolge, „kaum aus dem Vergnügen am Anekdotischen“, sondern vielmehr aus dem Bestreben, „das Grabmal im Kreuzgang zur besonderen Kultstätte des Frauenlob-Gedenkens zu prädestinieren“.14 Die Hohelied-Anklänge der Titulierung des Marienleichs als Cantica canticorum,15 die auch im Hausbuch des Michael de Leone zu finden sind,16 erheben zusätzlich die Dichtung Frauenlobs in mystische Dimensionen. Die suggerierte Exklusivität einer ausschließlich weiblichen Trauergemeinschaft – Männer werden nicht erwähnt – unterstreicht vollends die Stilisierung des Berichts hin auf ein gewünschtes Bild, das der Nachwelt vom Dichter vermittelt werden sollte.17 An der Grablegung im Mainzer Dom selbst kann hingegen kaum ein Zweifel bestehen,18 auch wenn der ursprüngliche Grabstein nicht erhalten ist: Dieser wurde 1774 beim Durchbruch eines neuen Eingangs zur angrenzenden Domschule zerstört.19 An seine Stelle wurde, angeblich auf der Basis einer (heute nicht erhaltenen) Zeichnung des alten Grabsteins, im Jahr 1783 eine Nachbildung gesetzt. Wie authentisch dieses zweiteilige Duplikat das Original wiedergibt, kann nicht mit letzter Sicherheit gesagt werden.20 Die großflächige obere Platte zeigt in Form eines Flachreliefs das durch Witterungseinflüsse schon

Heinrich von Mügeln und ihre Nachfolger. Hrsg. von JENS H AUSTEIN, Göttingen 2002, S. 201–233, hier S. 217. 14 RUBERG (wie Anm. 8), S. 83. RUBERG, S. 82f., erinnert darüber hinaus an den Brauch des Minnetrinkens, bei dem dem Sterbenden gesegneter Wein in der Hoffnung auf ein Wiedersehen gereicht wird. 15 Vgl. RUBERG (wie Anm. 8), S. 83; WACHINGER : Deutsche Lyrik (wie Anm. 7), S. 825f. 16 Die Würzburger Liederhandschrift (München, Universitätsbibliothek, 2° Cod. ms. 731) überschreibt auf Blatt 206rb den Marienleich Frauenlobs mit den Worten: Hie hebt sich an cantica canticorum / Meist` H`richs vō missen des frauwē / lobs d` ze Mencze ist begraben („Hier beginnt das Lied der Lieder/Meister Heinrichs von Meißen, dem Frauenlob, der zu Mainz begraben liegt.“); die Handschrift ist online zugänglich unter http://epub. ub.uni-muenchen.de/10638/1/cim._4 (12.3.2010). 17 WOLFGANG STAMMLER : Die Wurzeln des Meistergesangs. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1 (1923), S. 529–556, hier S. 551, Anm. 1, dachte im Anschluss an Ludwig Uhland hingegen an „weibliche Mitglieder der Singerbruderschaft am Dom zu Mainz“. 18 Vgl. K ARL STACKMANN : Probleme der Frauenlob-Überlieferung. In: Mittelalterliche Texte als Aufgabe. Kleine Schriften I. Hrsg. von JENS H AUSTEIN, Göttingen 1997, S. 196–220, hier S. 198. Vgl. aber zuletzt WACHINGER : Deutsche Lyrik (wie Anm. 7), S. 819, der die Möglichkeit erwägt, dass der Grabstein „gar nicht das authentische Grab markierte, sondern sekundäres Zeugnis einer Verehrung für den großen Dichter war“. 19 Vgl. K ARL STACKMANN : Frauenlob. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearbeitete Auflage hrsg. von KURT RUH /BURGHART WACHINGER , Berlin u. a. 1978ff., Bd. 2, Sp. 865–877, hier S. 868 (mit der älteren Literatur). 20 Vgl. den kurzen Forschungsüberblick bei STACKMANN : Probleme (wie Anm. 18), S. 198 mit Anm. 9. Der Grabstein ist abgebildet bei GEROK-R EITER (wie Anm. 3), S. 132.

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stark beschädigte Porträt eines Mannes, dessen schulterlanges Haar mit einer Drei-Lilien-Krone geschmückt ist. Die Umschrift des Grabsteins lässt noch das Todesdatum erkennen – im Unterschied zu Albrechts Chronikeintrag wird das Jahr 1318 genannt. Der kleinere untere Teil, der vermutlich erst im Zuge der Erneuerung entworfen wurde,21 bildet entsprechend der Chronik den Trauerzug ab. Dargestellt sind acht Frauen in langen Gewändern, die einen mit drei Kronen verzierten Sarg seiner Bestimmung zuführen. Zweifellos stellte die Grablegung im Mainzer Dom eine hohe Respektbezeugung gegenüber dem Dichter dar, wobei kaum zu entscheiden ist, ob Frauenlob diese Ehre allein seinem Dichterruhm oder auch einem Amt im Umkreis der erzbischöflichen Kurie verdankt. Vieles spricht dafür, daß Peter von Aspelt, seit 1306 Erzbischof von Mainz und selbst durch ein noch heute besonders prominentes Grabmal im Dom geehrt, Frauenlob aus gemeinsamen Zeiten am Prager Königshof kannte und ihn, dessen Aufenthalt als Berufsliterat u. a. in Kärnten, Niederbayern, Innsbruck, Rostock und verschiedenen norddeutschen Fürstenhöfen bezeugt ist, schließlich an seinen Mainzer Hof gezogen hat.22

Doch unabhängig von möglichen hofpolitischen Begünstigungen steht fest, dass Frauenlob unter den Dichtern seiner Zeit und insbesondere bei den Meistersingern der Folgegenerationen hohes Ansehen genoss.23 Für die Meistersinger gehörte er den Zwölf Alten Meistern an, sie berufen sich wohl auch auf ihn als den Urheber ihrer Kunst und legen ihm zuweilen auch den Titel eines Doktors der Theologie zu. Sein Ruhm überstrahlt bei ihnen den aller anderen älteren Dichter. In seinen Tönen oder Tönen, für deren Autor er galt, ist bis ans Ende der Schulen gedichtet worden.24

Allein das Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder zählt insgesamt 65 Nennungen Frauenlobs,25 eine Zahl, an die kaum ein anderer Dichter heranreicht. Als einflussreich für die Tradierung des Mainzer Begräbnisses erwies sich die meistersingerliche ‚Literaturgeschichtsschreibung‘, in der Daten über die Alten Meister zusammengetragen sind; diese Textcorpora wurden von den Künstlern gerne als Inspirationsquelle genutzt. Eine Kurzbiographie Frauenlobs aus dem Heldenbuch deutscher Nation (Basel, 1567–1570) des Historikers Heinrich Pantaleon wurde von dem Nürnber-

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Vgl. STACKMANN : Frauenlob (wie Anm. 19), Sp. 868. RUBERG (wie Anm. 8), S. 79. Vgl. STACKMANN : Quaedam Poetica (wie Anm. 13), S. 217. STACKMANN : Frauenlob (wie Anm. 19), Sp. 875. Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts. Band 16: Register zum Katalog der Texte. Namen, Quellen, Bibelstellen, Datumsangaben. Hrsg. von HORST BRUNNER /BURGHART WACHINGER , Tübingen 1996, S.108.

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ger Meistersinger Georg Hager seiner voluminösen Sammlung von Meisterliedern einverleibt.26 Die Vita erstreckt sich von Frauenlobs Geburt jn dem nidern Teitschland über dessen (vermutete) Lehrjahre in Mainz27 und eine differenzierte Namendeutung28 bis hin zur Schilderung des Begräbnisses im Mainzer Dom, die mit Albrechts Eintrag übereinstimmt. Eine biographische Notiz des gelehrten Theologen Cyriacus Spangenberg (1528–1604) im Traktat Von der Edlen vnnd Hochberüembten Kunst der Musica (1598, Straßburg)29 versammelt verschiedene Nachrichten über Frauenlob und setzt sie zu einem kleinen Porträt des Dichters zusammen, in dem die dem Ruhm deß Weiblichen Geschlechts geschuldete Deutung des Beinamens ebenso wenig fehlt wie das Gerücht, er sei Doktor der Theologie gewesen und daher Doctor Frawenlob genennet worden. Abgerundet wird das Porträt mit einer wortgetreuen deutschen Übersetzung des Chronik-Eintrags. Höchst profan erscheint seine Deutung des Weinopfers: Die Frauen hätten bereits zu seinen Lebzeiten gerne auf den Dichter angestoßen.30 Künstlerisch fruchtbar gemacht wurde Spangenbergs Frauenlob-Porträt in zwei Liedern aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, die unikal in einer späten Meisterlieder-Sammlung aus dem 18. Jahrhundert erhalten sind.31 In

26 Abgedruckt in Georg Hager. A Meistersinger of Nürnberg. 1552–1634. Hrsg. von CLAIR H AYDEN BELL , Berkeley u. a. 1947, S. 1418 mit Anm. S. 1501; vgl. hierzu HORST BRUNNER : Die alten Meister. Studien zur Überlieferung und Rezeption der mittelhochdeutschen Sangspruchdichter im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, München 1975, S. 36 mit Anm. 122. 27 Nach disem [seiner Jugend in Niederdeutschland] Hat er sich aus lieb der gutten künsten gen mencz gethan vnd Hat bey den gelerten ge wanet. auch sich auf die dugent vnd freyen künsten gelegt. Zitiert nach BELL (wie Anm. 26), S. 1418. 28 Er Hat aber für nemlich der dugend reichen frawen lob be schreiben. vnd ein ge sang vber alle andre ge sang ge macht. welches er selbst vnser frawen lied ge nennet Hat. von Disem Hat der frawen lob seinen namen be kumen vnd ist von allen weibern auf das Höchste ge breiset worden. Zitiert nach BELL (wie Anm. 26), S. 1418. 29 Von der Edlen vnnd Hochberüembten Kunst der Musica, vnnd deren Ankunfft, Lob, Nutz, vnnd Wirckung, auch wie die Meistersenger auffkhommenn vollkhommener Bericht: zu Dienst vnnd Ehren der löblichen freyen Reichsstatt Straszburg, gestellet durch M. Cyriacum Spangenberg. Im Jahr Christi M.D. XCVIII. Zitierte Ausgabe: Cyriacus Spangenberg: Von der Musica und den Meistersängern. Hrsg. von A DELBERT VON K ELLER , Stuttgart 1861. Vgl. hierzu BRUNNER (wie Anm. 26), S. 32–38. 30 Wie sie Ihme dann Auch offtmal noch bey seinem Leben den Weyn verehret: Spangenberg (wie Anm. 29), S. 132. 31 Stadtbibliothek Nürnberg Mel. Nor. 856. Die Abschrift wurde von dem Nürnberger Rektor Jobst Wilhelm Munker (1709–1787) angefertigt, vgl. die detaillierten Angaben und den Abdruck bei JOHANNES R ETTELBACH : Eine bisher unbekannte Meisterliederhandschrift: Stadtbibliothek Nürnberg Mel.Nor.856. In: Litterae Ignotae. Beiträge zur Textgeschichte des Mittelalters. Hrsg. von ULRICH MÜLLER /FRANZ HUNDSNURSCHER /CORNELIUS SOMMER , Göppingen 1977, S. 143–151, Abdruck S. 146ff.

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beiden Texten, die sich explizit auf Spangenberg berufen,32 findet sich eine charakteristische Abweichung: Der Boden sei von den Tränen der Frauen ganz nass geworden, während die herkömmliche Überlieferung – und Spangenberg – den verschütteten Wein für den nassen Boden verantwortlich macht. RETTELBACH vermutet einen „Übermittlungsfehler (Wein – weinen)“,33 doch ist natürlich auch ein etwas freierer Umgang mit der Quelle in Betracht zu ziehen. Während im einen Lied (wan der frauenlob gestorben ist) zwei allgemein gehaltene Klagestrophen der eigentlichen Schilderung des Begräbnisses vorangestellt sind, wird Wer den frauenlob zu grabe getragen durch einen idyllischen Natureingang mit Vogel- und Bienenkonzert eröffnet, das das Sänger-Ich alsbald auf einer Wiese entschlummern lässt. Der Schlaf ermöglicht nun die Begegnung mit Frauenlob, der ihm im Traum erscheint und selbst über die Umstände seiner Bestattung berichtet. Frauenlob wird als Herr in eim langen gewand (v. 22) vorgestellt, wodurch die historische Distanz zwischen den Gesprächspartnern markiert wird. Bald darauf gibt sich der Fremde als Poet zu erkennen, der er vor Jahren gewesen (v. 25) sei. Frauenlob berichtet, er sei Doktor zu Mainz gewesen, und nennt daraufhin seinen Namen. Im Folgenden fließt das wenige Wissen des Dichters über Frauenlob in die Erzählung des Traum-Frauenlob mit ein. Er sei einer der Begründer des Meistersanges und habe etliche Gedichte in dreißig Tönen34 verfasst, in denen er immerdar die Weiber (v. 38) lobte. Sehr detailliert und in weitgehender Übereinstimmung mit Spangenberg weiß der Dichter auch über sein eigenes Begräbnis zu berichten, dessen Schilderung wiederum der dritten Strophe vorbehalten bleibt. Die übermäßige Trauer der Frauen wird mit der Treu (v. 50) begründet, die ihnen der Dichter habe zukommen lassen. Die beiden Meisterlieder sind allerdings die einzigen, die Frauenlobs Grablegung thematisieren. Sie entstammen zudem der Spätphase des Meistersangs und können keinesfalls als mittelalterliche Zeugnisse beansprucht werden. Das mittelalterliche Interesse – wie auch die vereinzelte Kritik – galt dem scheinbar früh gereiften Sangspruchdichter, der schon bald den Zwölf Alten Meistern zugerechnet wurde und dessen Töne sich für eigene Lieder weiterverwenden ließen.35 Bewundert, kritisiert und angeeignet 32

BRUNNER (wie Anm. 26), S. 38f., Anm. 127 (mit Abdruck), verweist zudem auf den von einer Hand des 17. Jahrhunderts rührenden Eintrag in der aus Nürnberg stammenden Liederhandschrift Berlin Ms. germ. Quart 410, in dem unter ausdrücklicher Berufung auf Spangenberg dessen Version des Mainzer Begräbnisses wiedergegeben wird. 33 R ETTELBACH (wie Anm. 31), S. 150. 34 R ETTELBACH (wie Anm. 31), S. 150, weist darauf hin, dass in Nürnberg 30 FrauenlobTöne erst nach 1590 bekannt waren. 35 Auf ein sprechendes Beispiel weist STACKMANN : Probleme (wie Anm. 18), S. 119, hin: Der Meistersänger Hans Folz „beklagt sich, dass ein neu erfundener don, und wäre er

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wurde in erster Linie Frauenlobs Kunst. Die Kunde von der prunkvollen Bestattung des Dichters war der Wertschätzung seiner Persönlichkeit und seiner Kunst sicherlich zuträglich. Zum dominierenden Element des Frauenlob-Bildes entfaltete sie sich jedoch erst in der Neuzeit. Am Anfang der neuzeitlichen Frauenlob-Rezeption stand ein Ende: „Wenn man satirisch aufgelegt wäre, würde man als das geburtsjahr des Mainzer Frauenlobcults das jahr 1774 ansetzen, in dem sein alter grabstein zertrümmert wurde, worüber sich sicher mit einem schlag männiglich entrüstet hat.“36 Und tatsächlich hat es den Anschein, als ob sich das neuzeitliche Interesse für den mittelalterlichen Dichter an der Zerstörung und der daraufhin vom Domdechanten Georg Karl von Fechenbach 1783 veranlassten Erneuerung des Steines entzündet hätte, wobei sich zunächst eine regional begrenzte Rezeption bemerkbar macht. So veröffentlichte etwa Nikelas Vogt, Professor für Universalgeschichte der Universität Mainz, im Jahr 1792 sein historisches Drama Heinrich Frauenlob oder der Sänger und der Arzt,37 das von einem unbarmherzigen Zeitgenossen als „durchaus geistloses […] Stück“38 abgeurteilt wurde. Der Ossian-Übersetzer Franz Wilhelm Jung ließ 1819 den ebenfalls in Mainz gedruckten lyrischen Text Heinrich Frauenlob39 folgen. Einen Höhepunkt des Mainzer „Frauenlobcults“ bildete der 1842 von Ludwig Michael Schwanthaler errichtete, heute im Dommuseum ausgestellte Gedenkstein, der eine trauernde Dame zeigt, die am Sarg des Dichters einen Kranz niederlegt. Doch auch die ersten philologischen Bemühungen um Frauenlob sind eng mit dieser Stadt verbunden, namentlich in der Person des dortigen Gymnasiallehrers und Schriftstellers GEORG CHRISTIAN BRAUN, der in den Quartalblättern des Mainzer Vereines für Literatur und Kunst 1831 den Marienleich nach dem Text des Manesse-Codex abdruckte.40 Einen noch gewichtigeren Beitrag für die philologische Erschließung Frauenlobs leistete BRAUN, indem er den jungen Jenaer und späteren Züricher Germanisten LUDWIG ETTMÜLnoch so kunstvoll gebaut, beim Publikum seiner Zeit, des späten 15. Jahrhunderts, nichts gilt, während man ihn sogleich als einen hort akzeptieren würde, stammte er nur von Frauenlob.“ 36 PFANNMÜLLER : Frauenlobs Begräbnis (wie Anm. 10), S. 558. 37 Nikelas Vogt: Heinrich Frauenlob oder der Sänger und der Arzt, Mainz 1792. Zum Stück vgl. PETER STERKI : Mit Narrenkappe und Lorbeerkranz. Die Musikerfigur in der deutschen Literatur von Reichardt bis Grillparzer, Norderstedt 2009, S. 84–91; zu Vogts wissenschaftlichen Arbeiten vgl. URSULA BERG : Niklas Vogt (1756–1836). Weltsicht und politische Ordnungsvorstellungen zwischen Aufklärung und Romantik, Stuttgart 1992. 38 Lexikon deutscher Dichter und Prosaisten. Hrsg. von K ARL HEINRICH JOERDENS, Leipzig 1806, Bd. 1, S. 565. 39 Franz Wilhelm Jung: Heinrich Frauenlob. Ein Gedicht. Für Freunde, Mainz 1819. 40 Im folgenden Jahr verfasste BRAUN noch einen Abriss von Heinrich Frauenlob’s Leben. Quartalblätter des Mainzer Vereines für Literatur und Kunst 3 (1832), S. 8–33.

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zur Beschäftigung mit dem Dichter anregte. Nachdem ETTMÜLLER ausgewählte Lieder in den Mainzer Quartalblättern veröffentlicht hatte, legte er schließlich 1843 die erste kritische Gesamtausgabe vor, die FRIEDRICH HEINRICH VON DER HAGENs erst kurz zuvor erschienenen Abdruck in den Minnesingern verdrängte und die für eineinhalb Jahrhunderte als Grundlage der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Frauenlob diente.41 Im Vorwort zu seiner Edition setzte sich ETTMÜLLER kritisch mit tatsächlich Überliefertem und Vermutetem auseinander. Es gelang ihm, den philologischen Kenntnisstand seiner Zeit in konzentrierter Form darzustellen und um einige wesentliche Details zu erweitern. Im Bemühen um ein möglichst umfassendes Bild des Dichters sparte ETTMÜLLER auch kritische Aspekte nicht aus. Insbesondere greift er eine zeitgenössische Schelte des jungen Wunderkindes durch Hermann Damen auf und versieht den Befund mit einer folgenreichen Interpretation: „Ein dagegen nicht anmuthiges erzeugniss der gelehrten bildung ist bei [...] unserem dichter jenes übergrosse selbstgefühl, welches [...] sich nur allzu oft in überschätzung der eigenen leistungen und überhebung über andere dichter umwandelt.“42 Mit dem Stichwort der „überhebung“ wurde eine Saat gestreut, die in einer äußerst unglücklichen philologischen Tradition über einen langen Zeitraum hinweg aufging. Sukzessive machte sich im wissenschaftlichen Diskurs eine Überbietungsrhetorik breit, die ihresgleichen sucht. Ausgehend von der berühmt-berüchtigten Zeile uz kezzels grunde gat min kunst (GA V,115,7) begann man, Frauenlobs vermeintliche „Überheblichkeit in allen nur denkbaren Schattierungen [nachzuzeichnen]. Ohne sich mit dem Gesamtwerk beschäftigt und im einzelnen auseinandergesetzt zu haben, besitzen einige der angeführten Forscher den Mut, Frauenlob allein von dieser Stelle her souverän charakterisieren zu können.“43 ALEXANDER HILDEBRAND entfaltete in seiner Studie aus dem Jahr 1967 ein anschauliches Panorama der gelehrten Frauenlob-Verunglimpfung: Von „Gehässigkeit“ und „neidisch ruhmrediger Selbstüberschätzung“ (WILHELM WACKERNAGEL) ist da die Rede, von „Ausbrüchen des Größenwahns“ (KARL BORINSKI), „massloser Eitelkeit“ (KONRAD BURDACH) und „purem Gelehrtenhochmut“ (MARTIN BEHRENDT), von dem „fragwürdigen Selbstlob“ eines Dichters, in dessen Werk „das esoterisch Geschraubte und das Banale sich seltsam stoßend mischen, krass materielle Bilder Abstraktes mehr verLER

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Heinrichs von Meissen des Frauenlobes Leiche, Sprüche, Streitgedichte und Lieder. Hrsg. von LUDWIG ETTMÜLLER , Quedlingburg 1843 (ND Amsterdam 1966). 42 ETTMÜLLER (wie Anm. 41), S. XXI. 43 A LEXANDER HILDEBRAND : Ûz kezzels grunde gât mîn kunst. In: Euphorion 61 (1967), S. 400–406, hier S. 400.

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unklären als veranschaulichen“ (MAX WEHRLI), und von vielem mehr.44 Es mutet heute etwas kurios an, dass die Scheltreden gerade in einem Gelehrten ihren Höhepunkt erreichten, dessen Schaffen dezidiert der wissenschaftlichen Erschließung des Frauenlobschen Œuvres gewidmet war: Der Germanist LUDWIG PFANNMÜLLER, der kurz nach der Drucklegung des von ihm kritisch edierten Marienleichs (1913) im Ersten Weltkrieg ums Leben kam, entdeckte in ebendiesem Text „Ideen und Gedankenassoziationen eines nicht völlig normalen Gehirns“.45 Erst mit der von KARL STACKMANN (Text) und KARL BERTAU (Melodien) betreuten Göttinger Frauenlob-Ausgabe (GA) aus dem Jahr 1981 wurde das Fundament für eine grundlegende philologische Erschließung und Neubewertung der Frauenlobschen Dichtung abseits der zuvor üblich gewordenen Polemik geschaffen. Mit dieser Edition und der damit einhergehenden Versachlichung der Diskussion schließt sich der Kreis zu den Anfängen der philologischen Beschäftigung mit Frauenlob unter den Bedingungen der Romantik. In den Schriften der GRIMMs46 und LUDWIG UHLANDs47 ist überall das Bemühen um ein möglichst objektives Bild der Frauenlobschen Dichtung zu bemerken. AUGUST WILHELM SCHLEGEL widmete dem Dichter in seinen Bonner Vorlesungen einen Abschnitt, wobei er die Schwerpunkte auf die Deutung des Beinamens, das Autorenbild im Codex Manesse sowie auf die Umstände der Beisetzung legte und zugleich eine LUDWIG TIECK zugeschriebene Identifizierung Frauenlobs mit Heinrich von Ofterdingen verwarf.48 FRIEDRICH HEINRICH VON DER HAGEN versah seine Frauenlob-Edition in den Minnesingern mit einer umfassenden Dokumentation, in der eine Unzahl von Materialien zu Dichter und Werk zusammengetragen ist.49

44 HILDEBRAND (wie Anm. 43). Sämtliche Zitate wurden von HILDEBRAND übernommen. 45 Frauenlob: Marienleich. Hrsg. von LUDWIG PFANNMÜLLER , Straßburg 1913, S. VIII. Zu PFANNMÜLLERS Beschäftigung mit Frauenlob vgl. RUDOLF K RAYER : Frauenlob und die Natur-Allegorese. Motivgeschichtliche Untersuchungen. Ein Beitrag zur Geschichte des antiken Traditionsgutes, Heidelberg 1960, S. 13 u. 20f.; K ARL STACKMANN : Bild und Bedeutung bei Frauenlob. In: Frühmittelalterliche Studien 6 (1972), S. 441–460, hier S. 442f. (mit weiteren forschungsgeschichtlichen Belegen zur vermeintlichen ‚Geisteskrankheit‘ Frauenlobs). 46 JACOB GRIMM : Über den altdeutschen Meistersang, Göttingen 1811, S. 81f.; WILHELM GRIMM : Kleinere Schriften. Hrsg. von GUSTAV HINRICHS, Gütersloh 1887, Bd. 4, S. 23f. 47 Ludwig Uhland: Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage, Stuttgart 1866, Bd. 2, S. 292–295. 48 Vgl. AUGUST WILHELM SCHLEGEL : Geschichte der Deutschen Sprache und Poesie. Vorlesungen, gehalten an der Universität Bonn seit dem Wintersemester 1818/19. Hrsg. von JOSEF KÖRNER , Berlin 1913, S. XXIII u. 140; vgl. hierzu ACHIM HÖLTER : Ludwig Tieck. Literaturgeschichte als Poesie, Heidelberg 1989, S. 302. 49 Minnesinger (wie Anm. 10), Bd. 4, S. 730–742.

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Ein breiteres Publikum wurde schließlich mit den beliebten Anthologien und Sagensammlungen erreicht, in denen Frauenlob als Verkörperung des romantisch verklärten Sängers einen überaus prominenten Platz einnimmt. JOSEPH GÖRRES setzte seiner Sammlung Altteutscher Volks- und Meisterlieder50 ein Titelkupfer voran, das Frauenlobs Grabmal im Mainzer Dom abbildet. LUDWIG BECHSTEIN weiß in seinem Deutschen Sagenbuch zu berichten, wie Frauenlob mit seinem Gesang mordlüsterne Feinde so zu betören wusste, dass sie von ihm abließen. Das Begräbnis schildert er getreu der mittelalterlichen Quelle. Frauenlobs Gesänge seien „noch unvergessen“.51 KARL SIMROCK, der mit seinen Übersetzungen mittelhochdeutscher Literatur und mit seinen Sagenbüchern höchste Auflagen erzielte, widmete Frauenlob in den Rheinsagen aus dem Munde des Volks und deutscher Dichter ein einschlägiges Gedicht.52 Die Damen, so wird in unverhohlener Schlüsselloch-Erotik mitgeteilt, wussten sehr wohl, was der Dichter in „verschwiegner Laube“ erwartete. Der Wein, den sie „auf die Dichtergruft träuften“, habe einen „goldnen See“ gebildet. Und auch ADELHEID VON STOLTERFOTH erzählt in ihrem Rheinischen Sagen-Kreis nicht ohne Ergriffenheit von Frauenlobs Begräbnis: „Sie weinen und sie singen / Ein Trauerlied zumal, / Und giessen Wein hernieder / Aus goldenem Pokal.“53 Nähern sich die in den Sagenbüchern gebotenen Versionen über das Hinscheiden des Dichters bisweilen bedenklich der Grenze zur Goldschnittliteratur an, so wird diese in diversen Familien- und Unterhaltungsjournalen des 19. Jahrhunderts nicht selten überschritten: ein dick aufgetragenes Pathos überwiegt, ironische Anzitierungen wie etwa jene Jean Pauls („ohne die Absicht zu haben, daß ihn [den Berghauptmann] acht vornehme Weiber in Mainz, wie den Weiber- und Meistersänger Heinrich Frauenlob, zu Grabe tragen“)54 kommen in diesen auf Breitenwirkung bedachten literarischen Erzeugnissen nicht vor. Wie auch in STOLTERFOTHs Rheinischem Sagen-Kreis, dessen Frauenlob-Gedicht eine lithographierte 50 Altteutsche Volks- und Meisterlieder aus den Handschriften der Heidelberger Bibliothek. Hrsg. von JOSEPH GÖRRES, Frankfurt 1817. 51 LUDWIG BECHSTEIN : Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853, S. 58. 52 Frauenlob. In: K ARL SIMROCK : Rheinsagen aus dem Munde des Volks und deutscher Dichter. Für Schule, Haus und Wanderschaft, 6. Aufl. Bonn 1869 (zuerst 1837), S. 268. Vgl. hierzu den Kommentar von A LEXANDER K AUFMANN : Quellenangaben und Bemerkungen zu Karl Simrocks Rheinsagen und Alexander Kaufmanns Mainsagen, Köln 1862 (zu Frauenlob S. 115f.). 53 Rheinischer Sagenkreis. Ein Ciclus von Romanzen, Balladen und Legenden des Rheins, nach historischen Quellen bearbeitet von A DELHEID VON STOLTERFOTH, Frankfurt/M. 1835 (ND 2003). 54 Jean Paul: Hesperus oder 45 Hundsposttage. Eine Biographie. Hrsg. von BARBARA HUNFELD, Tübingen 2009, 31. Hundsposttag, S. 50.

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Zeichnung Alfred Rethels beigegeben ist,55 werden in den Journalen historisch fragwürdige Texte nun gerne zusätzlich durch üppige Illustrationen ergänzt. In der führenden Familienzeitschrift Die Gartenlaube wird im Jahrgang 1882 ausführlich über die „Todtenfeier“ des „großen Dichter-Rafael, des gottbegnadeten Sangespriesters Heinrich Frauenlob“ berichtet, „wie eine ähnliche selbst im alten Griechenland nie einem Homeriden zu Theil wurde“.56 Die nun folgende ausführliche ‚Biographie‘ des Dichters, die auf einer Quellenfälschung durch den Mainzer Geschichtsprofessor NIKOLAUS MÜLLER beruht,57 wird begleitet von der Reproduktion eines Ölgemäldes Rudolf Bendemanns, der den Trauerzug detailreich im Stil des späten Historismus ins Bild setzt. Bemerkenswerterweise begegnet die graphische Darstellung der Szene auch außerhalb des deutschsprachigen Raums bereits früh, nämlich in der in London gedruckten Wochenzeitschrift Once a Week aus dem Jahr 1863.58 Die nach Worms verlegte Grablegung von „Henry Praise-the-Ladies“, der dem Heinrich Frauenlob betitelten Gedicht zufolge von „Love and War and Wine“ sang, ist ein ganzseitiger Holzschnitt des Präraffaeliten Matthew J. Lawless vorangestellt (Abb.).59 Die Graphik wurde nur wenige Jahre später in der Sagensammlung Historical and Legendary Ballads and Songs erneut zur Ausschmückung der Ballade The Dead Bride verwendet, die inhaltlich nichts mit Frauenlob zu tun hat.60 Vielleicht war es diese Zeichnung, die den amerikanischen Übersetzer des Marienleichs, A. E. KROEGER, nur ein Jahr später (1877) dazu veranlasste, einen weiteren Präraffaeliten als Maßstab heranzuziehen und Frauenlob als „the Algernon Swinburne of his time“ zu würdigen.61 Dass der Begräbnis-Legende eines deutschen Dichters des Spätmittelalters im 19. Jahrhundert international eine gewisse Aufmerksamkeit zuteil wurde, verdankt sich neben der Reichweite der auflagenstarken bebilderten Journale auch den ausgedehnten Reisen, die die Schriftsteller der Zeit mit Vorliebe in die romantischen und geschichtsträchtigen

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Die Illustration des Rheinischen Sagen-Kreises ist online einzusehen unter www.goethezeitportal.de. Rethel beschäftigte sich noch in weiteren Arbeiten mit dem Thema; vgl. Alfred Rethel. 16 Zeichnungen und Entwürfe mit einer Einleitung von Walther Friedrich. Hrsg. von der Freien Lehrervereinigung für Kunstpflege, Mainz 1907, S. 19. 56 Die Gartenlaube 24 (1882), S. 656–658. 57 Vgl. hierzu PFANNMÜLLER : Frauenlobs Begräbnis (wie Anm. 10), S. 558f. 58 Once a Week 9 (1863), S. 863. 59 Zu Lawless vgl. GREGORY R. SURIANO : The Pre-Raphaelite Illustrators. The Published Graphic Art of the English Pre-Raphaelites and Their Associates. With critical biographical essays and illustrated catalogues of the artist’s engraved works, London 2000, S. 110–118. 60 Walter Thornbury: Historical and Legendary Ballads and Songs, London 1876, S. 39–41. 61 Zitiert nach BARBARA NEWMAN : Frauenlob’s Song of Songs. A Medieval German Poet and his Masterpiece, Pennsylvania 2006, S. 172.

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Abb. Matthew J. Lawless: Heinrich Frauenlob (Holzstich von 1863). In: GREGORY R. SURIANO: The Pre-Raphaelite Illustrators. The Published Graphic Art of the English Pre-Raphaelites and Their Associates. With Critical Biographical Essays and Illustrated Catalogues of the Artist’s Engraved Works, London 2000, S. 118.

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Uferlandschaften des Rheins und bisweilen nach Mainz führten.62 Auf dem Heimweg einer Reise durch Frankreich, England und Belgien macht der österreichische Dramatiker Franz Grillparzer auch in Mainz Station. Am 24. Juni 1836 hält er in seinem Reisetagebuch den Besuch des Doms und des Frauenlob’schen Grabmals fest.63 Henry Wadsworth Longfellow, Professor für moderne Sprachen am Bowdoin College und in Harvard, verarbeitet Eindrücke mehrerer Europareisen in seinem 1839 erschienenen Hyperion: a Romance. In diesem Roman, der noch Jahrzehnte nach seinem Erscheinen von amerikanischen Touristen wie ein Reiseführer benutzt wurde,64 besucht der melancholische Protagonist Paul Flemming, der auf einer Europareise über den Tod seiner Frau hinwegzukommen sucht, auch das Grab Frauenlobs. Ein dem Text beigegebener Holzschnitt zeigt den unteren Teil des Grabmals, der sachkundig erklärt wird: „There stands the tomb of Frauenlob, the Minnesinger. His face is sculptured on an entablature in the wall; a fine, stronglymarked, and serious countenance. Below it is a bas-relief, representing the poet’s funeral. He is carried to his grave by ladies, whose praise he sang, and thereby won the name of Frauenlob“. Flemmings Frage nach dem Verbleib der sterblichen Überreste seines Konkurrenten Regenbogen („But where sleeps the dust of his rival and foe, sweet Master Bartholomew Rainbow?“) vermag sein deutscher Gesprächspartner naturgemäß nicht zu beantworten.65 In enger zeitlicher Nähe zu Longfellow besuchte auch Frankreichs Nationaldichter Victor Hugo das Grab Frauenlobs. In dem auf September 1838 datierten 23. Brief 66 (Mayence) seines vielbeachteten Reiseberichts Le Rhin schildert Hugo ausführlich seine Eindrücke: Comme j’allais sortir des galeries, j’ai distingué dans l’ombre une tête de pierre sortant à demi du mur et ceinte d’une couronne à trois fleurons d’ache, comme les rois du onzième siècle. J’ai regardé. C’était une figure douce et sévère en même

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Zu der ausgeprägten Rheinbegeisterung im Zeitalter der Romantik, die neben den deutschen auch insbesondere von englischen und französischen Schriftstellern geteilt wurde, vgl. unter anderem WALTRAUD L INDER-BEROUD : „Immer hör’ vom Rhein ich singen …“. Der Rhein – ein Strom deutschen Gefühls. In: Symbole. Zur Bedeutung der Zeichen in der Kultur. 30. Deutscher Volkskundekongreß in Karlsruhe vom 25. bis 29. September 1995. Hrsg. von ROLF WILHELM BREDNICH /HEINZ SCHMITT, Münster 1997, S. 267–284. 63 Franz Grillparzer: Tagebücher und Reiseberichte. Hrsg. von Klaus Geißler, Berlin 1980, S. 358. 64 Vgl. EDWARD WAGENKNECHT: Henry Wadsworth Longfellow. Portrait of an American Humanist, New York 1966, S. 7. 65 Henry Wadsworth Longfellow: Hyperion: a Romance, Boston 1839, S. 32. 66 Der Brief wurde von Hugo, der Deutschland mehrmals bereiste, vordatiert; vgl. JOSEF BURG : Victor Hugo und Mainz. Nachtrag zum Victor Hugo-Jahr. In: Mainzer Zeitschrift 82 (1987), S. 163–174, hier S. 163. Zu Hugos Rheinschriften vgl. auch Horst Jürgen Wiegand: Victor Hugo und der Rhein. Le Rhin (1842/45), Les Burgraves (1843), Bonn 1982.

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temps, une de ces faces empreintes de la beauté auguste que donne au visage de l’homme l’habitude d’une grande pensée. Au-dessous, la main d’un passant avait charbonné ce nom: FRAUENLOB. Je me suis souvenu de ce Tasse de Mayence, si calomnié pendant sa vie, si vénéré après sa mort. Quand Henri Frauenlob fut mort, en 1318, je crois, les femmes de Mayence, qui l’avaient raillé et insulté, voulurent porter son cercueil. Ces femmes et ce cercueil chargé de fleurs et de couronnes sont ciselés dans la lame un peu plus bas que la tête. J’ai regardé encore cette noble tête. Le sculpteur lui a laissé les yeux ouverts. Dans cette église pleine de sépulcres, dans cette foule de princes et d’évêques gisantes, dans ce cloître endormi et mort, il n’y a plus que le poëte qui soit resté debout et qui veille.67

Hugos Charakterisierung des Verblichenen als ‚Tasso von Mainz‘, dem die Frauen erst nach dessen Tod huldigten, nachdem sie für ihn zu Lebzeiten nur Spott und Hohn übrig gehabt hätten, weicht gänzlich von der konventionellen Überlieferung ab. Doch hat diese eigenwillige Version allem Anschein nach einen aufmerksamen Leser in Deutschland gefunden, dem wir die künstlerisch wohl prominenteste Ausgestaltung der Legende verdanken: Stefan George. Mit den anklagenden und in der Ausrichtung an Hugo erinnernden Versen „Welche träne und welche milde busse / Gab antwort je auf meiner leier tränen?“ konfrontiert Georges Frauenlob im gleichnamigen Gedicht68 die versammelte Damenwelt.69 „Das Gedicht […] ist aufgebaut auf einem Gegensatz: der Sänger lebt ein Leben voll zäher Bürden, um den Ruhm derer zu singen, die ihn nicht würdigen.“70 Dem dichterischen „leben dunklen duldertums“, das aus der Perspektive des Sängers dargestellt wird, ist der Hauptteil des Gedichts gewidmet. Mit dem letzten Vers der dritten Strophe („Ich fühle friedlich schon des todes fuss“) wird ein Übergang, ein Hinübergleiten in den Tod und in den Nachruhm angezeigt, der im Zentrum des Gedichtschlusses steht. Das Begräbnis wird nun aus der Perspektive des nachlebenden Chronisten geschildert: Bei der glocke klage folgen jungfraun und bräute sacht Einem sarg in düstrer tracht. Nur zarte hände reine und hehre

67 Victor Hugo: Le Rhin II, Paris 1842, S. 133. 68 Zitiert nach Stefan George: Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten. Hrsg. von UTE OELMANN, Stuttgart 1991, S. 46f. 69 UTE OELMANN : Das Mittelalter in der Dichtung Georges. Ein Versuch. In: Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft. Hrsg. von BARBARA SCHLIEBEN /OLAF SCHNEIDER /K ERSTIN SCHULMEYER , Göttingen 2004, S. 133– 145, hier S. 138, verweist zusätzlich auf Georges Kenntnis des Mainzer Doms sowie auf die Lektüre der August-Nummer von Velhagen und Klasings Monatsheften aus dem Jahr 1892, in der über Frauenlob berichtet wurde. 70 H. STEFAN SCHULTZ : Studien zur Dichtung Stefan Georges, Heidelberg 1967, S. 37.

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Dürfen ihn zum münster tragen zum gewölb und grab Mit königlicher ehre Den toten priester ihrer schönheit zu verklären. Mädchen und mütter unter den zähren Gemeinsamer witwenschaft giessen edle weine Blumen und edelsteine Fromm in die gruft hinab.

Georges Darstellung des erst nach seinem Tod geehrten und verklärten Sängers bildet den wohl nur vorläufigen Abschluss eines langen Transformationsprozesses, dem das Frauenlob-Bild in der hoch- und populärkünstlerischen Aneignung unterworfen war: eines Transformationsprozesses, an dessen Anfang ein Dichter steht, der sich künstlerische Verdienste um die Frauen im Allgemeinen und um die Gottesmutter im Besonderen erworben hat, und dessen Abschluss ein Mann bildet, den die Frauen (posthum) liebten. Um einen solchen geht es im Übrigen auch in François Truffauts L’Homme qui aimait les femmes (Der Mann, der die Frauen liebte) aus dem Jahr 1977, in dem sich der bürgerliche Protagonist Bertrand Morane ganz seiner Obsession für die Damenwelt widmet, die er in seinen Memoiren literarisch fixiert. Den Prolog bildet eine Beerdigungsszene, deren Prägnanz darin besteht, dass ausschließlich Frauen dem Sarg des Verstorbenen folgen. Nicht zuletzt dieser Sequenz verdankt das Werk seinen festen Platz in der Filmgeschichte.71 Es hat den Anschein, als ob hier ganz unabhängig von Frauenlob ein zeitloses Erzählmuster vorliegt, das stets aufs Neue konfiguriert werden kann, wodurch dessen Produktivität wohl auch künftig gewährleistet bleibt.

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Nur wenige Jahre nach Truffaut drehte Blake Edwards ein amerikanisches Remake u. d. T. The Man Who Loved Women (1983).

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Zur Logik des Altdeutschen Altdeutsche Schrift, Altdeutsche Malerei, Altdeutsche Meister, Altdeutsche Eiche, Altdeutsche Bierstube, Wohnzimmer im Altdeutschen Stil, Altdeutsche Staaten (in der Philatelie jene Staaten, die vor der Reichspost die Posthoheit in ihren Ländern ausübten), Altdeutsche Schieferdeckung eines Daches, Altdeutscher Schäferhund, Altdeutscher Hütehund, Altdeutscher Mohrenkopf und Altdeutsches Möwchen (jeweils Haustaubenrassen) … Die Liste ließe sich rasch und geradezu beliebig verlängern. Mit Altdeutschem sind wir in zahlreichen möglichen und unmöglichen Zusammenhängen unseres Alltags vertraut. Gleichwohl ist es schwierig, hinter diesen Dingen eine einheitliche Verwendungsweise des Wortes zu bemerken. Was macht den Schäferhund alt? Was an ihm ist deutsch? Es trägt zur Verwirrung bei, wenn die altdeutschen Gedichte vornehmlich aus dem 13. Jahrhundert stammen, die Altdeutschen Meister dagegen zweihundert Jahre später, an der Schwelle zur Neuzeit, zu malen begannen. Die phänomenale Reichenauer Buchmalerei des 10. Jahrhunderts dagegen ist keine altdeutsche Malerei. Das Altdeutsche gleitet einem aus den Fingern, bevor man es zu packen hofft. Selbst die Online-Enzyklopädie Wikipedia kennt das Lemma Altdeutsch. Es erstaunt nicht, wenn das dort versammelte Populärwissen nicht Klärung bringt, sondern in der zugehörigen Diskussionsseite die Hilflosigkeit der alltagssprachlichen Reflexion über diesen Begriff widerspiegelt.1 Der sprachhistorische Befund ist einfach. Das Wort kommt in der Frühen Neuzeit auf, erste vereinzelte Belege finden sich seit dem 16. Jahrhundert. Sie beziehen sich auf ältere Sprachstufen; zum Beispiel wird im 1

Während ein Benutzer dafür plädiert, den Begriff ganz zu streichen („Altdeutsch ist kein Überbegriff für Althochdeutsch und Mittelhochdeutsch. Es ist überhaupt kein wissenschaftlicher Begriff.“), haben andere nach ausführlichen Recherchen im Internet eine Typologie aufgestellt: 1. Altdeutsche Schrift, 2. Altdeutsche Kunstwerke, 3. Altdeutsch umgangssprachlich als unbestimmte Beschreibung von Eigenschaften („altdeutsche Möbel“), 4. Sammelbegriff für mehrere deutsche Sprachvarianten des Mittelalters. http:// de.wikipedia.org/wiki/Diskussion:Altdeutsch (11.3.2010).

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Jahre 1668 mit einem „fein kurtz- und altTeutsch-verfassten / Compromiss-Brief“ auf einen Vertrag, der von Rudolf von Habsburg aufgesetzt wurde, verwiesen.2 Diese frühe Phase der Wortverwendung ist vergleichbar mit der heutigen Rede von ‚altenglischer Dichtung‘ oder ‚altfranzösischer Sprache‘, wie sie für das Deutsche in akademischen Zusammenhängen unüblich geworden ist. Interessant in unserem Rahmen ist eine allmähliche Ausweitung des Begriffs in den folgenden Jahrhunderten. Das Altdeutsche wurde einem großen Bereich von Phänomenen zugeordnet, die man als irgendwie deutsch und alt auffasste. Die Entwicklung der Wortverwendung wie auch die Reflexion darüber lässt sich gut an den beiden Auflagen des Deutschen Wörterbuches ablesen. Die erste Auflage ist wenig hilfreich, Jacob Grimm sah 1854 offenbar kaum Erläuterungsbedarf. Er gibt die Bedeutung „priscus, ex more veterum Germanorum“3 und einige Belege an; interessanter ist, dass er und sein Bruder in den von ihnen verfassten Artikeln das Wort häufig zur Erläuterung verwenden, besonders im juristischen Zusammenhang als „altdeutsches Recht“.4 Eine aufschlussreiche Typologie der sprachlichen Verwendung bietet indes das Deutsche Wörterbuch gut 140 Jahre später in seiner Neubearbeitung.5 Die darin gebotenen Belege zeugen von einer verstärkten Verwendung ab 1750, besonders aber zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die jedoch spätestens im 20. Jahrhundert wieder ausklingt. Es lohnt sich, die Worterläuterungen vollständig zur Kenntnis zu nehmen: bezeichnung für die deutsche frühzeit; der zeitl. inhalt ist nicht genau definiert. 1 ‚der deutschen frühzeit angehörend oder entstammend‘, von kunst (vorreformator. zeit, 15. u. frühes 16. jh.), architektur (gotik), literatur (ahd. u. mhd. dichtung), sprache u. kultur. zuerst von d. sprache belegt [...] 2 ‚deutscher frühzeit entsprechend‘, von art, verhalten, vorstellung u. gesinnung; je nach deren bewertung auch i.s.v. ‚ehrbar, tüchtig‘ oder ‚grob, plump (von benehmen)‘ bzw. ‚der gegenwart entrückt, nicht aktuell‘; bei krit. bewertung polit. vorstellungen in der nähe von reaktionär stehend [...] 3 ‚die deutsche frühzeit betreffend‘

2

3 4 5

Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Begründet von ROBERT R. A NDERSON /ULRICH GOEBEL /OSKAR R EICHMANN. Hrsg. von ULRICH G OEBEL /A NJA L OBENSTEIN -R EICHMANN / OSKAR R EICHMANN, Berlin u. a. 1986ff., Bd. 1, Sp. 875. Einen früheren Beleg von 1533/34 bietet das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung, Stuttgart 1983ff., Bd. 2, Sp. 582. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Leipzig 1854ff., Bd. 1, Sp. 266. Zum Beispiel Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (wie Anm. 3), Bd. 3, Sp. 77. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung (wie Anm. 2), Bd. 2, Sp. 582f.

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Diese Erläuterungen klingen zunächst einleuchtend, sind aber gerade an der Stelle, an der sie unverständlich werden, aufschlussreich: Zum einen ist unklar, was im Zusammenhang der ‚frühzeit‘ das Attribut ‚deutsch‘ meint, da es sich bei den angeführten Belegen auf mehr als die deutsche Sprache bezieht; mithin wird ein fester (homogener?) Kulturraum angenommen. Zum anderen impliziert das Wort ‚frühzeit‘ ein Entwicklungsmodell, dessen Verlauf wenig Zustimmung erfahren dürfte: Befinden wir uns heute in der deutschen Mittelzeit oder gar in der deutschen Spätzeit? Zudem erlaubt sich eine ähnliche Negation beim Wort ‚Altdeutsch‘ nicht: Das Gegenteil von ‚Altdeutsch‘ ist keineswegs ‚Neudeutsch‘! Bemerkenswert ist es auch, wenn zwar zunächst eine Unbestimmtheit der zeitlichen Erstreckung konstatiert wird, dann aber im ersten Unterpunkt doch sehr genau Phänomene aus Kunst, Architektur und Literatur angegeben werden können. Es scheint sich bei ihnen um (un)bestimmte Aspekte vergangener Kultur zu handeln, die als herausragend und/oder deutsch aufgefasst werden. Ich möchte nachfolgend der Logik dieser Benennung als ‚altdeutsch‘ auf den Grund gehen. Dazu werde ich anhand zweier Beispiele zunächst auf zwei verschiedene Bewertungen des Altdeutschen hinweisen und dann in einem dritten Kapitel die Begriffsgeschichte des Wortes im 19. Jahrhundert anhand der Verwendung in der Kunstgeschichte skizzieren.

1. Gute alte Zeit Mein erstes Beispiel soll die ‚Altdeutsche Tracht‘ bzw. die ‚Deutsche Nationaltracht der Befreiungskriege‘ sein.6 Bereits im 18. Jahrhundert gab es Bestrebungen, eine ‚Deutsche Nationaltracht‘ zu entwerfen. Die Rufe nach ihr waren indes zunächst nicht rein politisch motiviert. Erstaunlicherweise ging die erste Forderung nach einer eigenständigen deutschen Mode und der Loslösung vom französischen Vorbild zum Teil auf merkantilistische Erwägungen zurück: Es ging um die Stärkung der inländischen Textilmanufakturen. Erst im Zusammenhang mit den sogenannten Befreiungskriegen gegen Napoleon wurden die Forderungen im größeren Stile umgesetzt und wurden Teil einer ernstzunehmenden politischen Diskussion.7 In der Geschichtswissenschaft werden die Bestrebungen zur Schaffung eines deutschen Nationalstaates gerne in einen liberal-progressiven 6 7

Grundlegend dazu: EVA M ARIA SCHNEIDER : Herkunft und Verbreitungsformen der „Deutschen Nationaltracht der Befreiungskriege“ als Ausdruck politischer Gesinnung, Diss. Bonn 2002. Zum antinapoleonischen Nationalismus vgl. OTTO DANN : Nation und Nationalismus in Deutschland. 1770–1990, 3. Aufl., München 1996, S. 57–84.

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Patriotismus und einen antidemokratisch-chauvinistischen Nationalismus differenziert; noch vor radikal ausgrenzenden Positionen, so die Meinung, müsse eine demokratische, antiaristokratische Bürgerbewegung gesehen werden, die die Nationsfindung des frühen 19. Jahrhundert bestimmt habe. Diese Unterscheidung ist nicht unumstritten, Ziele und Mittel beider Bewegungen gehen oftmals allzu stark ineinander über.8 Für unseren Zusammenhang sind zwei Köpfe des ultranationalen Flügels, die sich in pointierten Beiträgen zu Wort meldeten, maßgeblich. Zunächst war es Friedrich Ludwig (‚Turnvater‘) Jahn, der 1810 in seinem Buch Deutsches Volksthum bis ins Detail die Gestalt eines künftigen deutschen Staates und Volkes entwarf. Er propagierte auch eine „allgemeine Volkstracht“, die „kein Fremder tragen“ dürfe und die „nach dem Urbilde des Volkes in seiner Vollendung, mit echtem Volkssinn und hohem Volksthumsgeist erfunden werden“ müsse.9 Auch wenn Jahn über die Gestalt der Tracht ungenau blieb, ist bekannt, dass er und sein Umfeld schon zu dieser Zeit eine bestimmte Kleidung trugen, die Ernst Moritz Arndt 1814 in seiner Schrift Ueber Sitte, Mode und Kleidertracht just als Umsetzung einer ‚Deutschen Herren-Nationaltracht‘ verstand,10 wie sie dann in der Zeit der Befreiungskriege geradezu Mode wurde. Arndt konstatiert: Die für die Tugend des teutschen Geschlechts zunächst wichtigsten Dinge wären für das Innerliche und Aeußerliche eine teutsche Sprache und eine teutsche Kleidertracht. [...] wir hatten einmal eine eigene Tracht, seit zwei Jahrhunderten sind wir die Affen fremder Völker gewesen. Eine stehende Kleidertracht, deren Hauptgestalt fest wäre, würde für die Sitten das Ersprießlichste seyn.11

Er beschreibt im Gegensatz zu Jahn seine Vorstellungen dieser Tracht sehr genau: „Sein gewöhnliches Kleid ist der alte deutsche Leibrock, welcher, nirgends ausgeschnitten, schlicht herabfällt, so daß er die Hälfte der Schenkel über dem Knie bedeckt. [...] Den Hals befreit er von dem knechtischen Tuche und lässet den Hemdkragen über den kurzen Rockkragen auf die Schultern fallen.“ Dazu gehörte, je nach Anlass, ein Hut und ein Schwert.12 Die Forderung zeigte Wirkung. In den zeitgenössischen Modejournalen wurden zwei Nationaltrachten diskutiert, die jeweils den Vorstellungen 8 9 10 11 12

CHRISTIAN JANSEN /HENNING BORGGRÄFE : Nation – Nationalität – Nationalismus, Frankfurt/New York 2007, S. 33f. Friedrich Ludwig Jahn: Deutsches Volksthum, Lübeck 1810, S. 327–336, Zitat S. 332, Hervorhebung N.B. Ernst Moritz Arndt: Ueber Sitte, Mode und Kleidertracht. Ein Wort aus der Zeit, Frankfurt/M. 1814. Arndt (wie Anm. 10), S. 49f. Arndt (wie Anm. 10), S. 51f.

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Abb. 1 Altteutsche Trachten, Modekupfer von 1815. In: Leipziger Allgemeine Modenzeitung, 16.6.1815, S. 383, Kupfer No. 23. In: EVA MARIA SCHNEIDER: Herkunft und Verbreitungsformen der „Deutschen Nationaltracht der Befreiungskriege“ als Ausdruck politischer Gesinnung, Diss. Bonn 2002, Bd. 2, S. 5.

Arndts entsprachen und sich lediglich darin unterschieden, dass die eine einen Stehkragen aufwies, bei der anderen dagegen der Kragen auf die Schulter fiel (vgl. Abb. 1).13 Inwiefern ist diese Tracht nun historisch, was an ihr ist alt? Weshalb will man überhaupt Vergangenes aufnehmen? Arndt äußerte sich dezidiert zum Zweck des Rückgriffs auf das (vermeintlich) Alte:

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SCHNEIDER (wie Anm. 6), S. 74.

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Abb. 2 Christian Gottfried Heinrich Geißler: Der neue Altteutsche, Tuschfederzeichnung von 1820.

Und ich sehe, die da naserümpfen und hohnlächeln, und sprechen: Was ist dies für eine wunderliche Lehre? Alles Alte, und wieder das Alte, und immer das Alte? Da sollten wir auch wieder in unserer Großmütter Kleider kriechen, und unsers Urältervaters Rock anziehen, und uns gebärden wie die, welche längst gestorben sind. So spöttelt dieses Geschlecht, das so grün und jung aussieht, daß es nicht fest noch alt werden kann. Ja, ihr Elendigen! wenn ihr mit eurer Großmutter Kleidern wieder der Großmutter Zucht, und mit des Urältervaters Rock auch seine Tüchtigkeit anziehen könntet, so werfet sie nur flugs von euch. [...] Denn was sie Gutes haben, das haben sie von ihren Vätern empfangen [...]. Darum, so sie etwas Neues machen wollen, muß es an das Alte gehängt werden, und so sie etwas Bleibendes stiften wollen, müssen sie kennen, was vor ihnen war.14

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Arndt (wie Anm. 10), S. 56–58.

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Abb. 3 Die Burschenfahrt auf die Wartburg am 18ten October 1817, 1817. In: ETIENNE FRANÇOIS: Die Wartburg. In: Deutsche Erinnerungsorte. Eine Auswahl. Hrsg. von ETIENNE FRANÇOIS/HAGEN SCHULZE, Bonn 2005, S. 141–157, hier S. 144.

Die moderne Kostümgeschichte kommt allerdings zu anderen Ergebnissen.15 Zwar konnten hinsichtlich spezieller modischer Details, wie dem Barett oder einer aufgebauschten Ärmelsonderform, auch Anlehnungen an die Moden des 16. Jahrhunderts nachgewiesen werden. Die historischen Elemente waren in dieser Zeit aber gesamteuropäische Mode und wurden nicht allein in Deutschland getragen. Der Grundschnitt der Röcke dagegen findet sich vor allem im Zeitkostüm des Herrn wie auch im Tuchrock des 18. Jahrhunderts wieder. Zudem bediente man sich auch einzelner Elemente der Uniformen der Befreiungskriege. Dieser etwas krude Anspruch einer deutschen Tracht, die mit fremden Elementen auskommt, ist den Zeitgenossen keineswegs verborgen geblieben. In der Radierung Der neue Altdeutsche parodierte C. G. H. Geißler 1820 diese Vermischung (Abb. 2). Es ist nun eben diese ‚Nationaltracht der Befreiungskriege‘, die in gewissen Kreisen deutsch-nationaler Patrioten, insbesondere der für die Einheit aller 15

SCHNEIDER (wie Anm. 6), S. 48–76.

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Abb. 4 W. Pobuda: Bücherverbrennung auf der Wartburg, um 1818. In: EVA MARIA SCHNEIDER: Herkunft und Verbreitungsformen der „Deutschen Nationaltracht der Befreiungskriege“ als Ausdruck politischer Gesinnung, Diss. Bonn 2002, Bd. 2, S. 55.

Studenten und die Einheit Deutschlands kämpfenden Burschenschaften, als ‚Altdeutsche Tracht‘ nach dem Wiener Kongress fortlebte.16 So ist es nicht verwunderlich, dass die Kleidung besonders in Universitätsstädten in Erscheinung trat. Insbesondere das Wartburgfest 1817 sorgte für eine politische Aufladung; die Feier begann mit einem Zug von 500 Studenten zur Wartburg, die einheitlich in der besagten Tracht gekleidet waren (Abb. 3). Nach der Hauptrede kam es zu der durch den Germanisten Hans Ferdinand Maßmann organisierten Verbrennung von Büchern, deren Autoren als reaktionär galten; sie war im offiziellen Programm zwar nicht vorgesehen, besaß aber besondere politische Brisanz und schlug im Nachhinein die größten Wellen. Ein Stich aus dem Jahre 1818 von W. Poduba zeigt die Studenten bei der Bücherverbrennung in Altdeutscher Tracht (Abb. 4).

16

SCHNEIDER (wie Anm. 6), S. 111–133.

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Das war der erste Höhepunkt. Ein Träger der Tracht stellte sich fortan unmissverständlich gegen die Restaurationspolitik. Bis 1820 war die Aufmachung noch maßgeblich in Burschenschaftskreisen anzutreffen. Insbesondere im Anschluss an die Karlsbader Beschlüsse, die nach der Ermordung Kotzebues die nationale Bewegung durch Zensur und Überwachung in Schach halten wollte, mutet ihr häufiger Gebrauch wie ein Protest gegen die Repressionsmaßnahmen an. Mit Fortschreiten der ‚Ersten Demagogenverfolgung‘, also der Verfolgung politischer Führer der Einheitsbewegung durch den Deutschen Bund, lässt sich jedoch ein deutlicher Rückgang feststellen, wie sich insgesamt eine Enttäuschung über die politische Situation in der jungen Generation breit machte.17 Mit dem Hambacher Fest, jener Massenveranstaltung des radikalen Liberalismus in Süddeutschland im Jahre 1832, erreichte das Auftreten der politisch besetzten Altdeutschen Tracht noch einen letzten Höhepunkt.18 Abschließend lässt sich feststellen, dass die Bestrebungen nach einer allgemeinen Nationaltracht wie das Tragen der Altdeutschen Tracht nicht auf bewusster Übernahme alter deutscher Kleider basierten, sondern im historistischen Sinne lediglich einzelne Elemente genannt werden können, deren spezifisch deutscher Charakter zudem mehr als fragwürdig erscheint.19 Im Vordergrund stand statt dessen die Neugestaltung einer (Mode-)Kultur, wie es sie zuvor nicht gegeben hat, die sich aber dennoch auf historische Wurzeln berufen wollte. Dieser Vorgang ist in seinem historischen Kontext nicht singulär – man denke an die Ideen des vereinten Nationalstaats und der deutschen Nation.20 Bemerkenswert an diesen Nationsgründungstendenzen aus dem Nichts ist, dass sie ihre Legitimation in der Geschichte suchten und dabei eine gemeinsame Vergangenheit postulierten, die sich kulturell definiert und sich zugleich als Bewegung durch diese Defintion von anderen Kulturen abgrenzt. Die Nation bestimmt sich nicht über einen gemeinsamen Staat, sondern über eine gemeinsame Sprache, über eine gemeinsame Kultur und über die Vorstellung eines einheitlichen Volkes.21 Es wird die alte Gleichung der deutschen Renaissance-Humanisten aufgegriffen, die die Deutschen mit den von Tacitus

17

THOMAS NIPPERDEY: Deutsche Geschichte. 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, 6. Aufl. München 1993, S. 305. 18 Zusammenfassend zur Tracht nach 1820 siehe SCHNEIDER (wie Anm. 6), S. 173. 19 SCHNEIDER (wie Anm. 6), S. 76. Sie vermerkt allerdings auch, dass das kostümhistorische Wissen wie auch das Interesse an dieser Forschungsrichtung überhaupt alles andere als ausgeprägt sind (S. 55f.). 20 Vgl. DANN (wie Anm. 7), S. 50–123. JANSEN /BORGGRÄFE (wie Anm. 8), S. 37–50. 21 Zur Unterscheidung Staats- gegenüber einer Kultur- und Volksnation vgl. NIPPERDEY (wie Anm. 17), S. 302f.

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beschriebenen Germanen identifizierten.22 Spätestens seit Herder wurde das Interesse vom Germanentum auf das Mittelalter ausgedehnt. So stellt z. B. GERHARD KOZIEŁEK fest: „Das überlieferte Kulturgut wird eben dieser Geschichte nutzbar gemacht. Sagen und Märchen, Lieder und Erzählungen sind für den Philosophen und Geschichtsschreiber Quellen, aus denen er Kenntnisse schöpft für den Charakter seines Volkes.“23 Der Begriff des Altdeutschen hilft dabei, diese Vermischung von Zeiten und Kulturen zu benennen. Er macht begreifbar, wie Karl Wilhelm Ferdinand Solger in einem kurzen Satz über das Nibelungenlied zugleich auf die TacitusGermanen und auf das Mittelalter ausgreifen kann: „Es ist der altdeutsche derbe Charakter, der sich in diesen kurz abgesetzten Zeilen ausspricht.“24

2. Behäbige alte Zeit Wenn im ersten Beispiel von einer historischen Tracht die Rede war, so liegt es nahe, an Tradition oder Traditionsbildung zu denken. Im politischen Kontext lässt sich leicht nachvollziehen, inwiefern es zu Bestrebungen kommen konnte, eine Kleidung ihrem Wesen nach als deutsch aufzufassen. Das ist im folgenden Beispiel, dem Altdeutschen Rückenschwimmen, nicht der Fall; ein etwas dem Wesen nach Deutsches drängt sich in Bezug auf verschiedene Arten des Schwimmens nicht unmittelbar auf. Das Besondere und heute etwas Ungewohnte dieser Technik liegt darin, dass sich beide Hände synchron – im Gegensatz zum Rückenkraulen – bewegen, wie ein seitenverdrehtes Brustschwimmen. Die Bewegungen dieser Schwimmer, die der stoßweisen Vorwärtsbewegung des Tintenfischs nicht unähnlich ist, besteht aus einem kräftigen Schub mit den Händen (und ggf. auch Beinen), die daraufhin hoch aus dem Wasser erhoben werden, um sie mit lautem Klatschen zeitgleich seitwärts wieder einzutauchen

22 Vgl. DIETER M ERTENS : Die Instrumentalisierung der ‚Germania‘ des Tacitus durch die deutschen Humanisten. In: Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“. Hrsg. von H EINRICH BECK /DIETER GEUENICH /HEIKO STEUER , Berlin u. a. 2004, S. 37–101. M ANFRED FUHRMANN : Die Germania des Tacitus und das deutsche Nationalbewusstsein. In: DERS., Brechungen. Wirkungsgeschichtliche Studien zur antik-europäischen Bildungstradition, Stuttgart 1982, S. 113–128. 23 GERHARD KOZIEŁEK : Einleitung. In: Mittelalterrezeption. Texte zur Aufnahme altdeutscher Literatur in der Romantik. Hrsg. von dems., Tübingen 1977, S. 1–43, hier S. 7. 24 Solger‘s nachgelassene Schriften und Briefwechsel. Hrsg. von Ludwig Tieck/Friedrich von Raumer, Bd. 1, Leipzig 1826, S. 97.

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Abb. 5 Altdeutsch in Bildern. Auf: www.aok.de/bundesweit/21978.php (Stand: 6.3.2010).

(Abb. 5). Diese Technik wird heute gemeinhin ‚Altdeutsch Rücken‘ genannt.25 Die Geschichte der Leibesertüchtigung ist vergleichsweise jung. Einflussreich für die Entwicklung des Schwimmsports sind im 18. Jahrhundert zum einen von philanthropisch-pädagogischer Seite Johann Christoph Friedrich GutsMuths, Lehrer in der Erziehungsanstalt zu Schnepfenthal, und zum anderen im militärischen Bereich der preußische Kriegsminister Ernst von Pfuel. GutsMuths kennt durchaus eine Trennung der Schwimmarten in eine „Neue Italienische Schwimmschule“ und eine „Aeltere deutsche Schwimmschule“.26 Damit trennt er eine neue Kunst, die er vom Kano-

25

Ich danke SVENJA BETHGE und W. GÜNTER L INGENAU für Hinweise zum Altdeutschen Rückenschwimmen. 26 Johann Christoph Friedrich GutsMuths: Kleines Lehrbuch der Schwimmkunst zum Selbstunterrichte, Weimar 1798, hier die Titel im Inhaltsverzeichnis S. XV–XX.

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nikus Oronzio de’ Bernardi lernte, von der bisher maßgeblichen Technik ab. Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass die neuen Techniken im Gegensatz zu den alten von der spezifischen Leichtigkeit des menschlichen Körpers ausgehen, dass der Mensch also leichter als Wasser sei und der Schwimmer nicht immerzu dafür sorgen müsse, an der Oberfläche zu bleiben. Für unseren Zusammenhang ist entscheidend, dass die von ihm italienisch genannte wie auch die deutsche Technik sich in der Armbewegung nicht unterscheiden. Beide werden im Gleichschlag miteinander bewegt. Unsere Benennung ist jüngeren Datums, denn die Gleichschlagtechnik blieb noch im ganzen 19. Jahrhundert die Regel.27 Die moderne Rückenkraulbewegung, bei der beide Arme gegenläufig bewegt werden, kam deutlich später auf, setzte sich dann aber rasch durch. Erst im Zusammenhang mit Wettkämpfen, besonders mit den Olympischen Spielen, wurden die Schwimmarten in Bezug auf ihre Leistung systematisch optimiert. Bei den Spielen in St. Louis 1904 bewiesen amerikanische Schwimmer die Möglichkeit, auf dem Rücken zu kraulen. 1912 in Stockholm holte Harry Hebner für die USA olympisches Gold mit der neuen Art des Rückenschwimmens. Ihm war damit der Sieg über die deutschen Schwimmer gelungen, die bis dahin Weltspitze gewesen waren und die es versäumt hatten, die neue Technik für ihre Mannschaft auszuwerten:28 „Es galt als gesinnungslos, ausländische Neuerungen zu übernehmen. In ihrer nationalistischen Verblendung verkannten einige der maßgeblichen Sportführer bald völlig, daß durch die Ablehnung einer fortschrittlichen Technik die eigenen Schwimmer im internationalen Maßstab rettungslos ins Hintertreffen geraten mußten.“29 Doch auch dieses Beharren der deutschen Mannschaft auf ihrer Spezialität sorgte nicht für die Benennung des Altdeutsch Rücken. Das Rückenkraulen ist speziell entwickelt worden, um bessere Leistungen zu erzielen. Es dauerte nur wenige Jahre, bis sich diese Art weltweit durchgesetzt hatte. In den deutschen Lehrbüchern der folgenden Jahre findet man möglicherweise noch beide Techniken beschrieben. Aber stets wird betont, dass das Kraulen zu besseren Leistungen führe. Und nirgendwo habe ich dort den Hinweis gefunden, es gebe eine deutsche oder gar eine altdeutsche Technik. Der Rückengleichschlag hingegen wird zwar nicht mehr in Wett-

27 WOLFGANG PAHNCKE : Schwimmen in Vergangenheit und Gegenwart, Berlin 1979, Bd. 1, S. 45. 28 PAHNCKE (wie Anm. 27), S. 75. 29 PAHNCKE (wie Anm. 27), S. 45, hier allerdings in Bezug auf eine andere Schwimmtechnik.

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kämpfen geschwommen, aber durchaus von Ärzten empfohlen – und das nicht nur in Deutschland. Wie nun aber die Benennung zustande kam, habe ich nicht mit abschließender Sicherheit in Erfahrung bringen können. Die Texte, die diesen Begriff verwenden, gebrauchen ihn unreflektiert; es wird sogar von einer „urdeutsche[n] Spezialität“ gesprochen, die der Rückengleichschlag angeblich sei.30 In einem Lehrbuch heißt es, das „altdeutsche Rückenschwimmen [...] ist eine historisch belegte Schwimmvariante, die noch heute von lebensälteren Schwimmern angewandt wird, wenn sie das Rückenkraulschwimmen nicht beherrschen.“31 Es ist erstaunlich unsinnig, wie in diesem Zitat Personen und Eigenschaften miteinander verbunden werden: Weil die Schwimmer älter sind, verwenden sie eine alte Technik. Sollten diese ‚lebensälteren Schwimmer‘ tatsächlich seit der Durchsetzung des Rückenkraulens im Jahre 1912 auf ihrer Technik beharren, wäre ihr Lebensalter in der Tat bemerkenswert. Die Texte sind sich einer Begriffsgeschichte offenbar nicht bewusst, schreiben der Schwimmart aber Eigenschaften zu, die etwa in der Begriffsopposition ‚altbacken‘/‚modern‘ denken. Mir scheint es, dass sie vor dem Hintergrund jener nationalistischen Kräfte, die um 1900 nicht ausschließlich auf sportliche Leistung achteten, kurzerhand die langsamere Technik als deutsche identifizieren, sich im kollektiven Gedächtnis hingegen das Kraulen als amerikanische Innovation festgesetzt hat. Deutlich ist der Unterschied zur Altdeutschen Tracht. Bei dieser Verwendung des Epithetons ‚altdeutsch‘ geht es nicht mehr um etwas Vorbildliches in der Vergangenheit. Es ist der Eindruck des Plumpen, Behäbigen, nicht mehr Zeitgemäßen, des Altbackenen. Auch der oben genannte Artikel des Deutschen Wörterbuches verweist auf diese gegensätzliche (d. h. positive bzw. negative) Verwendbarkeit des Wortes ‚altdeutsch‘. Diese negative Verwendungsweise, wie sie sich beim Altdeutsch Rücken zeigt, hat ihre eigene Tradition, die man beispielsweise in einem Gedicht Heinrich Heines von 1824 finden kann:32

30 M ARTIN K RAUSS : Schwimmen. Geschichte, Kultur, Praxis, Göttingen 2002, S. 45, vgl. auch S. 106. Auch liefert eine gängige Internet-Suchmaschine mehr als tausend Belege für die Suchkombination ‚Altdeutsch Rücken‘. Exemplarisch sei genannt: www.aok.de/ bundesweit/21976.php (11.3.2010). 31 KURT WILKE /K LAUS DANIEL : Brustschwimmen. Erlernen – Verbessern – Trainieren. Für Freizeit- und Wettkampfsportler, Aachen 2010, S. 129. 32 Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. von Manfred Windfuhr, Hamburg 1975ff., Bd. 2, S. 90f.

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Klagelied eines altdeutschen Jünglings Wohl dem, dem noch die Tugend lacht, Weh dem, der sie verlieret! Es haben mich armen Jüngling Die bösen Gesellen verführet. Sie haben mich um mein Geld gebracht, Mit Karten und mit Knöcheln; Es trösteten mich die Mädchen, Mit ihrem holden Lächeln. Und als sie mich ganz besoffen gemacht Und meine Kleider zerrissen, Da ward ich armer Jüngling Zur Thür hinausgeschmissen. Und als ich des Morgens früh erwacht, Wie wundr’ ich mich über die Sache! Da saß ich armer Jüngling Zu Cassel auf der Wache. –

Das Gedicht orientiert sich an zeitgenössischen Liedern, in denen die durchzechte Nacht junger Männer beschrieben wird, die sich am nächsten Morgen als angeworbene Soldaten auf der Wache wiederfinden. Heine parodiert jene Figur des selbstgewissen Studenten, der sich seinem Anspruch nach zwar souverän und emanzipiert gibt, in Wirklichkeit aber seinen Lebenswandel nicht unter Kontrolle hat und in klischeehaften Szenen hinters Licht geführt wird. Die Pointe des Gedichts – so äußerte sich Heine selbst – liegt in seiner Form. Sie parodiert die empfindsame Klage des Möchtegern-Dichters. Der Jüngling wird nicht nur seines Missgeschicks halber der Lächerlichkeit preisgegeben, sondern weil er sein Missgeschick literarisch zu überhöhen versucht (Heine spricht von „Schneiderreflexionen“.33). Das Gedicht camoufliert die Meinung, ein jeder müsse seinen Weltschmerz in Versform mitteilen, gleich ob er etwas mitzuteilen habe und gleich ob er es auch in die rechte Form zu bringen vermag. Die Verse spotten denn auch jeder Metrik. Man geht kaum fehl, sich den Klagenden aus dem Jahre 1824 in Altdeutscher Tracht vorzustellen. Wenn Heine von einem ‚altdeutschen Jüngling‘ spricht, geht es allerdings nicht mehr um die Begeisterung über ein vergangenes deutsches Volkstum, wie auch kein sportlich denkender Mensch auf dem Rücken altdeutsch schwimmen will. Den altdeutschen Jüngling, wie ihn Heine zeichnet, gilt es zu überwinden. Diese Haltung zieht sich auch später noch durch das Œuvre Heines, erinnert sei nur an den wiederholten Schlacht33

Kommentar von ELISABETH GENTON in der Heine-Ausgabe (wie Anm. 32), S. 598.

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ruf in dem zwanzig Jahre jüngeren Gedicht Die schlesischen Weber: „Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch“.34

3. Abgrenzungen Neben der positiven Referenz auf vermeintlich altes Deutsches, wie es im Beispiel der Tracht zu Wort kam, findet sich im Beispiel des Rückenschwimmens eine Abgrenzung gegen das Altdeutsche. Die Belege im Deutschen Wörterbuch zeigen, dass diese kritische Verwendungsweise bereits im 18. Jahrhundert aufkam und parallel zu der positiven Bedeutung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verwendet wurde. Unterschiedliche politische Strömungen beziehen sich auf Vergangenes, ob in Abgrenzung oder Wiedererweckung. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts versandete die Verwendung des Wortes zunehmends. Von Wechselwirkungen zwischen den bekannten politischen Ereignissen des 19. Jahrhunderts und dem Begriff des Altdeutschen ist auszugehen. Es bedürfte einer genaueren Kartierung der Wortbelege, um die Zusammenhänge zu verstehen. Im Moment lässt sich nur vermuten, dass die Ereignisse und der Begriff einmütig ineinander gehen. Eine Korrelation des genannten Rückgangs mit den politischen Ereignissen von 1848 ist wahrscheinlich. Es wird gut ein Jahrzehnt dauern, bis die nationalpolitische Diskussion wieder die Stärke vor Achtundvierzig erreichte,35 und das Interesse an Altdeutschem wird dann ein anderes sein. Die universitäre Germanistik, die in ihrer Frühzeit sich gerne des Wortes bediente, erfuhr eine enorme Umwälzung. Hatte sie sich anfangs noch mit juristischen und politischen Gegenständen aus der alten ‚deutschen‘ Zeit beschäftigt, klammerte sie diese mehr und mehr aus ihrem Tätigkeitsbereich aus und konzentrierte sich auf die Philologie. JOST HERMAND spricht von der „Zunahme zeitlos-ästhetischer Wertungen, welche zu einer Verklärung der Weimarer Hofklassik zur Deutschen Klassik schlechthin beitrugen“.36 Die Deutschen hatten nun ihre klassische Zeit. Man könnte meinen, das Altdeutsche hätte nun seine Aufgabe verloren. Das Gegenteil ist der Fall: Es erfuhr einen Wandlungsprozess, der die Wortverwendung bis heute bestimmen sollte. Um diesen Wandlungsprozess zu verstehen, sollen im Folgenden einige Aspekte der Bedeutungs-

34 Heine (wie Anm. 32), S. 150. 35 DANN (wie Anm. 7), S. 150. 36 JOST HERMAND : Geschichte der Germanistik, Reinbek/Hbg. 1994, S. 48f.

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geschichte des Wortes ‚altdeutsch‘ in der Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts grob nachvollzogen werden.37 Der Begriff partizipiert an einer zweifachen Abgrenzungsbewegung, die in Teilen des Kunstgeschmacks einmal zu Beginn des Jahrhunderts, zum zweiten Mal in der Jahrhundertmitte vollzogen wurde. Auf unterschiedliche Weise wurde bei beiden Bewegungen den Kunstrichtungen des lateinischen Europas, besonders Frankreich und Italien, etwas gegenübergestellt, das man unter anderem ‚altdeutsch‘ nannte. Ausgang ist die Entfaltung des Wortes ‚altdeutsch‘ in der Goethezeit als Alternative zum Begriff des ‚Gotischen‘.38 Eingebunden in eine gesamteuropäische Aneignung der Gotik, nahm Goethe schon früh deren Baukunst als spezifisch deutsche Kunst in Anspruch. In der Nachfolge Goethes waren es die Romantiker, die in der produktiven Rezeption der gotischen Kunst den kommenden Nationalstil apostrophieren wollten. Damit hoben sie sich von Goethe, der das Alte für sammelns-, nicht aber nachahmenswert hielt, ab.39 Bemerkenswert war diese Wertschätzung vor allem deshalb, weil seit der Renaissance mit dem Gotischen der negative Beigeschmack des Barbarischen verbunden war. Um dem anrüchtigen Wort ‚gotisch‘ zu entgehen, fungierte das Ersatzwort ‚altdeutsch‘ unter anderen Vorschlägen als Stellvertreter.40 Dieser Begriff bringt die typische Mischung aus Patriotismus und Rückwendung auf Altes, wie sie bereits oben in Bezug auf die Altdeutsche Tracht beschrieben wurde, besonders gut zum Ausdruck. Wenn sich um 1800 die Gotik zum vaterländischen Stil erhob, dann bezog sich dieser Stil am Anfang primär auf die Malerei,41 später auf die Architektur.42 In der Malerei meinte das: die deutsche Malerei bis zu Hans Holbein d. J. mit Dürer als Höhepunkt. Die Architektur konzentrierte sich auf den gotischen Kirchenbau; ein Kristallisationspunkt der bürgerlichen Neugotik des 19. Jahrhunderts sollte die Fertigstellung des Kölner Doms werden.

37

Vgl. z. B. SIGRUN BRUNSIEK : Auf dem Weg der alten Kunst. Der „altdeutsche Stil“ in der Buchillustration des 19. Jahrhunderts, Marburg 1994; Art. altdeutsch. In: Lexikon der Kunst. Neubearbeitung. Begr. von GERHARD STRAUSS, hrsg. von H ARALD OLBRICH, Leipzig 1987–1994, Bd. 1, S. 127f.; Art. Altdeutsch, altdeutscher Stil. In: Lexikon der Kunst, Gesamtleitung WOLF STADLER , Freiburg/Br. u. a. 1987–1990, Bd. 1, S. 162. 38 Grundlegend zur Begriffsgeschichte der Goethe-Zeit: STEFAN K EPPLER-TASAKI : Die Schule des 16. Jahrhunderts. Goethe vor Götz, Dürer und Sachs. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2009, S. 93–135. 39 K EPLER-TASAKI (wie Anm. 38), S. 99. 40 K LAUS NIEHR : Gotisch. In: Ästhetische Grundbegriffe. Hrsg. von K ARLHEINZ BARCK / M ARTIN FONTIUS /DIETER SCHLENSTEDT, Stuttgart 2001, Bd. 2, S. 862–876, hier S. 874. 41 K LAUS DÖHMER : ‚In welchem Style sollen wir bauen?’. Architekturtheorie zwischen Klassizismus und Jugendstil, München 1976, S. 11, vgl. dazu auch Art. Altdeutsch, altdeutscher Stil (wie Anm. 37). 42 VOLKER GEBHARDT: Das Deutsche in der deutschen Kunst, Köln 2004, S. 112.

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Der entscheidende Einschnitt in der deutschen Neugotik geschah in den 1840er Jahren, nicht nur unter dem Eindruck der politischen Ereignisse, sondern vor allem auf wissenschaftlichem Gebiet. Der Ursprung der Gotik wurde in Frankreich lokalisiert, nicht in Deutschland. Diese Feststellung verlangte nach einer Reaktion des deutschnationalen Kunstdenkens. Ein Ausweg wurde darin gefunden, zwar den französischen Ursprung zuzugeben, aber die eigentliche Vollendung in Deutschland zu sehen. Oder aber man sprach von einem deutschen Sonderweg der Kunstgeschichte, von einer „Sondergotik“.43 Abermals lag es nahe, sich des Wortes ‚altdeutsch‘ anstelle von ‚gotisch‘ zu bedienen; zudem wurde der zeitliche Umfang des Begriffes reduziert, er bezog sich dann nicht mehr nur in der Malerei, sondern auch in der Architektur auf die Zeit des 15. bzw. frühen 16. Jahrhunderts.44 Diese Änderung war ausschlaggebend für die Neuausrichtung des Begriffs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und vor allem für seine letzte große Karriere nach 1871. Unter dem Eindruck einer veränderten politischen Lage änderte sich auch das Interesse an nationalen Symbolen. Seit 1866 war der Nationalismus nicht mehr Oppositionsbewegung. Im neuen Kaiserreich war das Ziel eines deutschen Nationalstaates erreicht, besonders im liberalen Bürgertum machte sich ein „affirmativer Reichspatriotismus“ breit.45 Denkmäler schossen wie Pilze aus dem Boden, um an die glorreiche Geschichte zu erinnern. Auf der Suche nach einem Baustil für repräsentative Staatsbauten orientierte man sich an historischen Objekten: „Die Geschichte der Deutschen wird national gedeutet und so auch öffentlich präsentiert.“46 Die frühere Mischung einer Neugotik verschiedener Zeiten machte nun Platz für eine Neurenaissance, die sich – im Gegensatz zu Schinkels Bauten der 1830er Jahre – nicht mehr auf italienische, sondern auf deutsche Vorbilder stützte. Die junge kunsthistorische Wissenschaft lieferte das benötigte Wissen über diese Zeit,47 auch wenn sie dazu neigte, unhistorische Abgrenzungen vorzunehmen: Im sogenannten ‚altdeutschen‘ Stil der Renaissance sollte das neu in einem Reich geeinte deutsche Volk auch für die Gegenwart seinen nationalen Stil gefunden haben, mit dem man nicht mehr von den militärisch besiegten Franzosen abhängig

43 GEBHARDT (wie Anm. 42), S. 210. 44 Art. altdeutsch (wie Anm. 37). Grundlegend zur Neurenaissance im 19. Jahrhundert: R ALF M ENNEKES : Die Renaissance der deutschen Renaissance, Petersberg 2005. 45 DANN (wie Anm. 7), S. 186. Vgl. auch THOMAS NIPPERDEY: Deutsche Geschichte 1866– 1918, 2. Aufl., München 1993, Bd. 2, S. 251. 46 NIPPERDEY (wie Anm. 45), S. 262. 47 Art. Neurenaissance. In: Lexikon der Kunst. Neubearbeitung (wie Anm. 37), Bd. 5, S. 163– 166, hier S. 165.

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war, und in dem deutsche Wesenszüge zum Ausdruck kämen. Man übersah, daß die französische wie die niederländische Kunst des 16. Jahrhunderts, die ähnliche Verarbeitungen der italienischen Renaissance vorgenommen hatte wie die deutsche, nicht viel anders beschaffen war.48

Wie bei der Neugotik steht neuerlich das deutsch-französische Verhältnis im Vordergrund der Überlegungen. Es mag seltsam anmuten, wenn nach dem Debakel der Urheberschaft des Gotischen nun abermals auf historische Genauigkeit wenig Acht gegeben wurde. Es gilt den zeitgenössischen Kontext zu beachten, war doch die Rolle der französischen Kunst bei den deutschen Kunstkritikern spätestens nach 1871 in aller Munde.49 Bei allen Divergenzen waren die Kritiker sich darin einig, die kulturelle Vorreiterrolle Frankreichs anzuerkennen. Sie forderten, angesichts der militärischen und ökonomischen Vorteile auch den kulturellen Rückstand aufzuholen. Allein in welcher Weise das geschehen sollte, darin war man sich uneinig. Während die einen von den Nachbarn möglichst viel zu lernen sahen, sagten die anderen „bei jeder Gelegenheit den Niedergang der französischen Kunst voraus“.50 Die künstlerische Technik galt als oberflächlich und ständig davon bedroht, an der eigenen Dekadenz zugrunde zu gehen. Es finden sich die bekannten Stereotype: Französische Kunst galt als technisch perfekt, oberflächlich, äußerlich, sinnlich, virtuos, schnelllebig, effektvoll, süßlich, trügerisch, überzivilisiert, weiblich. Deutsche Kunst galt als technisch eher unbeholfen, dafür aber als tief, innerlich, gemütsvoll, humorvoll, treu, erdverbunden, männlich. Themen wie die Großstadt, die Demimonde, Krankheit und Zerfall, Vergnügungen und Frivolität galten als für die französische Kunst besonders angemessen, während beispielsweise die Landschaft, die Genreszenen des bäuerlichen Lebens oder Tierdarstellungen als Terrain der deutschen Kunst betrachtet wurden.51

Die Beschäftigung mit dem Altdeutschen bedeutete, diese Stereotype zu bedienen, und sie hieß zugleich eine Abgrenzung von Frankreich. Man sah sich mit den Altdeutschen Meistern im Rücken im klaren Vorteil, denn auf Dürers Strenge und Tiefe war Verlass: Sie drohte nicht, in der Dekadenz zu versinken.

48 PETER H. FEIST: Geschichte der deutschen Kunst: 1848–1890, Leipzig 1987, S. 253. 49 Zu den Stereotypen französischer Kunst in der deutschen Kritik vgl. P HILIP URSPRUNG : „Widerwärtige Aufeinanderschichtung nackter Frauenleiber“. Die Sensationsbilder von Georges Rochegrosse in deutschen Augen. In: Distanz und Aneignung. Relations artistique entre la France et l’Allemagne 1870–1945. Kunstbeziehungen zwischen Deutschland und Frankreich 1870–1945. Hrsg. von A LEXANDRE KOSTKA /FRANÇOISE LUCBERT, Berlin 2004, S. 333–347, hier S. 336f. 50 URSPRUNG (wie Anm. 49), S. 336. 51 URSPRUNG (wie Anm. 49), S. 337.

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Abb. 6 Gabriel Seidl: Zimmer mit eingesetztem Erkerstübchen. In: GEORG HIRTH: Das deutsche Zimmer der Gothik und Renaissance des Barock-, und Rococo- und Zopfstils. Anregungen zu häuslicher Kunstpflege, 3. Aufl. München u. a. 1886, S. 315.

Nicht mehr nur Malerei und Architektur waren nun alleine ‚altdeutsch‘, sondern auch Kunsthandwerk und Innenarchitektur sollte sich in diesem Sinne an der deutschen Renaissance orientieren.52 Es darf nicht unterschlagen werden, dass diese Bestrebungen nach einer nationalen Kunst durchsetzt waren mit handelspolitischen Erwägungen. Besonders ergiebig zum Verständnis der weiteren Entwicklung ist das Beispiel des ‚altdeutschen Zimmers‘.53 Das altdeutsche Zimmer besteht aus dunklen Plafonds, Vertäfelungen, vermeintlichen Renaissancemöbeln in altdeutscher Eiche und altertümelndem Zierrat (Abb. 6). Der Idee nach sollte jeder deutsche Bür-

52 53

Art. Altdeutsch, altdeutscher Stil (wie Anm. 37). STEFAN MUTHESIUS : The ‚altdeutsche‘ Zimmer, or Cosiness in Plain Pine. An 1870s Munich Contribution to the Definition of Interior Design. In: Journal of Design History 16 (2003), S. 269–290. Vgl. auch GEORG HIMMELHEBER : Klassizismus/Historismus/Jugendstil, München 1973 (= Die Kunst des deutschen Möbels. Hrsg. von HEINRICH K REISEL , Bd. 3), S. 186–201.

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ger in der Lage sein, sich altdeutsch einzurichten. Bei der Münchner Nationalen Gewerbeausstellung 1876 wurde vorgeführt, wie die kommende Wohnstube aussehen sollte. Die Ausstellung zeigte nicht einzelne, unverbundene Objekte, sondern bot dem Besucher die Verbindung von Gewerbe und bildender Kunst im Ensemble, z. B. in der Form fertig gestalteter Wohnräume. Es ging ihr nicht um äußerliche Dekoration, sondern um die Imitation alter Einrichtungen in einem zeitgemäßen Zugang, der freilich Elemente verschiedener Zeiten eklektizistisch zu einem eigenen, ‚altdeutschen‘ Stil vereinte und sich nicht scheute, sie mit Segnungen moderner Technik auszustatten. Die in der Ausstellung vertretene Bewegung gab sich nicht mehr exklusiv, sondern wollte dem Bürger einen ganzen Lebensstil verkaufen. Die Popularisierung des altdeutschen Zimmers nutzte dazu patent die Möglichkeiten neuer Medien wie die Chromolithographie. An die Stelle von beschreibenden Texten rückten bebilderte Kataloge. Sie zeigten komplette Einrichtungen, die einen Stil vorgeben, der Gemütlichkeit mit vorgegebener Volkstümlichkeit und dezidierter Nichtmodernität gleichzusetzen versuchte. Geschickt wurde die Lichtführung im Foto inszeniert, wie auch schon beim Bau neugotischer Kirchen auf den gleichen Effekt des Kontrasts von hell und dunkel wert gelegt wurde. Zentrum dieser Bewegung war München, das in den 1870er Jahren seinen Höhepunkt als Kulturhauptstadt insbesondere gegenüber Preußen erreichte.54 Die Zentrierung Südostdeutschlands führte zu einer weiteren Unschärfe, denn ‚national‘ meinte hier im Wesentlichen ‚bayerisch‘ bzw. eingegliedert auch ‚fränkisch‘. Darin lag zunächst ein Grund für die Kontinuität in der Verehrung Dürers als Altdeutscher Meister. Für die Innenarchitektur bedeutet das vor allem bis heute eine Verbindung von ‚altdeutscher Volkstümlichkeit‘ mit einer vermeintlichen bayerischen Volkskultur. Als locus classicus sieht STEFAN MUTHESIUS den „altdeutschen Bierkeller“, dessen volkstümlicher Charakter Ergebnis der Arbeit der künstlerischen Elite Münchens gewesen sei.55 Das Interesse hielt sich nicht sonderlich lange; in der Münchner Kunstszene kam man schon in den 1880ern vom Altdeutschen im Sinne einer Neurenaissance ab und interessierte sich mehr für das Rokoko. Die Verwendung des Begriffes ‚altdeutsch‘ hatte inzwischen ihr Eigenleben entwickelt: Man suchte nach Volkstümlichkeit, Wärme und Geborgenheit und meinte, sie in der deutschen Renaissance zu finden. Mit dieser Hinwendung wurde das, was wir bis heute unter altdeutschen Möbeln kennen, festgelegt: Industriell gefertigte Möbel, je nach Geschmack jenseits

54 FEIST (wie Anm. 48), S. 253. 55 MUTHESIUS (wie Anm. 53), S. 274.

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der Grenzen des Kitsches. Der Begriff des ‚Altdeutschen‘ ist damit endgültig in der deutschen Wohnstube angekommen, er – wie auch sein Wissen um die gute alte Zeit – wurden popularisiert, das heißt, dem Mittel- und Kleinbürgertum nahegebracht, aus der Wissenschaft wurde er zugleich verbannt; heute ist er dort ungebräuchlich geworden. Die Karriere, die der Begriff in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts machte, ist erstaunlich. Mit den beiden Merkmalen, die im Altdeutschen zum Ausdruck gebracht werden, – der Popularisierung einer vermeintlich alten Kultur bei gleichzeitiger Abgrenzung dieser Kultur gegen Frankreich – zeigen sich wesentliche Aspekte des Welt- und Selbstverhältnisses des deutschen Bürgertums im Kaiserreich.

4. Ideologie Die Behandlung von Kleidern des 19. und Schwimmtechniken des 20. Jahrhunderts in einem Band über Mittelalter-Rezeption mag befremden. Sie rechtfertigt sich zunächst dadurch, dass es eben auch ‚altdeutsche‘ Dinge gibt, die sich tatsächlich oder intentional auf das Mittelalter beziehen; sie rechtfertigt sich aber vor allem dadurch, dass die Mechanismen der Mittelalter-Rezeption in weiten Teilen genauso funktionieren wie die Zuschreibung des Altdeutschen. HANS-JÜRGEN BACHORSKI wies auf die unklaren Grenzen des Vorgangs hin. ‚Mittelalter‘ sei weniger etwas eindeutig Fixiertes, an dem man sich abarbeiten könne, als vielmehr eine Hohlformel für schier beliebige ideologische Projekte der Gegenwart, die sich absolut setzen wolle.56 Anders gesagt: Die Altdeutsche Tracht ist gerade so altdeutsch, wie das Nibelungenlied eine ‚deutsche Ilias‘ darstellt. Zentrale Institutionen unserer Mittelalterbeschäftigung gehen von solchen Untiefen einer sich selbst erfindenden Nationalkultur aus. Es ist kaum verwunderlich, dass gerade bei den frühen Philologen der deutschen Sprache das hier untersuchte Wort seine erste Blüte fand und dass in den Titeln der Zeitschriften die Altdeutschen Blätter nur so von den Altdeutschen Wäldern fallen. Wir verwenden heute noch ohne Bedenken die Altdeutsche Textbibliothek oder lesen die Zeitschrift für deutsches Altertum. Das Altdeutsche muss als Mythos einer zeitlich vagen, kulturell definierten Urzeit verstanden werden. Ein national gerichtetes Denken popu56 H ANS -JÜRGEN BACHORSKI : Vergangenheit in bewegten Bildern. Narrative Strategien und ideologische Konzeptionen des Mittelalter-Films. In: Mittelalter-Rezeption IV. Medien, Politik, Ideologie, Ökonomie. Gesammelte Vorträge des 4. Internationalen Symposions zur Mittelalter-Rezeption an der Universität Lausanne 1989. Hrsg. von IRENE VON BURG /JÜRGEN KÜHNEL /ULRICH MÜLLER , Göppingen 1991, S. 179–200, hier S. 193.

Zur Logik des Altdeutschen

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larisierte ausgesuchte Teile von angenommener Vergangenheit und schuf damit eben nicht Neues um des Neuen willen, was es hätte tun können, sondern bezog sich in diesem Neuen auf Altes. Bis heute geht es beim Altdeutschen darum, sich eine ganze Reihe von Dingen nicht nur als typisch deutsch, sondern als urdeutsch, als immerschon-deutsch vorzustellen. Dabei wird nicht eine gewünschte Wirklichkeit konstruiert, sondern man gibt der gewünschten gesellschaftlichen Veränderung der Gegenwart den passenden Vorbau. Keine gemeinsame Eigenschaft verbindet die als altdeutsch benannten Dinge, sondern eine Ideologie fasst diese Dinge als altdeutsch, um einen Bruch oder eine Kontinuität in der Geschichte herausstellen zu können. Der Begriff des Altdeutschen erlaubt es, in der Analyse bestimmte Verhältnisse zu greifen, die andernfalls in ihrer Widersprüchlichkeit und Zusammenhangslosigkeit nicht fassbar wären.

JOHANNES DICKHUT

Gottfrieds Tristan in der Forschungsund Ideologiegeschichte des 19. Jahrhunderts Tiure und wert ist mir der man, der guot und übel betrahten kann, der mich und iegelichen man nâch sînem werde erkennen kann.1

Diese Verse aus dem Prolog von Gottfrieds Tristan könnten den Eindruck vermitteln, dass der Verfasser eine üble Vorahnung davon hatte, wie sein Roman vor allem im 19. Jahrhundert in der Deutschen Philologie rezipiert werden würde. Mit der Musterung seiner Forschungsgeschichte aus ideologiehistorischer Perspektive sollen vor allem zwei Ziele verfolgt werden. Zum ersten geht es darum, die wissenschaftliche Dimension von Mittelalterrezeption hervortreten zu lassen, zum zweiten darum, Formen der Interaktion zwischen wissenschaftlichen und ideologischen Prozessen zu beleuchten. Damit nehmen die folgenden Überlegungen eine Vermittlungsposition zwischen Wissenschafts-, Rezeptions- und Ideologiegeschichte ein.2 Die Anfänge der Tristan-Forschung liegen im 18. Jahrhundert und sind recht genau auf das Jahr 1780 datierbar. In diesem Jahr erschien ein Aufsatz Johann Jacob Bodmers unter dem Titel Von den Gedichten ‚Twein‘

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Gottfried von Straßburg: Tristan, vv. 17–20. Zitiert nach Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von FRIEDRICH R ANKE neu hrsg., übers. u. komm. von RÜDIGER K ROHN, Stuttgart 1998–2001. „Lieb und teuer ist mir derjenige, der Gut und Schlecht abzuwägen versteht, der mich und jeden anderen nach seinem Wert richtig beurteilen kann.“ Grundsätzlich zur Forschungsgeschichte des Tristan vgl. ROSEMARY PICOZZI : A History of Tristan Scholarship, Bern u. a. 1971; BEATRICE -M ARGARETHA L ANGMEIER : Forschungsbericht zu Gottfrieds von Strassburg ‚Tristan‘ mit besonderer Berücksichtigung der Stoff- und Motivgeschichte für die Zeit von 1795–1925, Zürich 1978; WALTRAUD FRITSCH-RÖßLER : Der ‚Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung (1768– 1985), Frankfurt/M. 1989.

Gottfrieds Tristan in der Forschungs- und Ideologiegeschichte des 19. Jhs.

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und ‚Tristran‘.3 Interessanterweise sieht man bereits in diesem ersten Aufsatz zu Gottfrieds Tristan viele derjenigen Aspekte angedeutet, die in der Folgezeit aufgegriffen werden sollten. Bodmer verweist auf Gottfrieds Tod als Grund für die Unvollständigkeit des Romans; er bedient die empfindsame Stimmung seiner Zeit, indem er die Szene des Liebes-Doppelgrabes bei Heinrich von Freiberg hervorhebt, er betont die Unschuld der Liebenden durch den Hinweis auf den Minnetrank4 und postuliert die nordische Herkunft des Stoffes, was im Verlauf des 19. Jahrhunderts insofern einige Bedeutung bekommen sollte, als dort nordische und deutsche Kultur zu einem diffusen Pangermanentum verschmolzen wurde. Ziel dieser Verschmelzung war es, ein Gegengewicht zum romanischen Kulturkreis, und hierbei insbesondere zum französischen, zu bilden. Diese Vorstellung sollte bis weit ins 20. Jahrhundert zu einem fragwürdigen und undifferenzierten Welt- und Menschenbild führen.5 Bodmer nimmt diese Gleichsetzung noch nicht vor, sondern differenziert im Gegenteil zwischen nordischer und deutscher Kultur: „Ich zweifle nicht, daß die Gedichte, die von deutschen Helden und Begebenheiten handeln, auch von deutscher Erfindung sei, wiewol diese ihren Grund und die Anlage in ältern nordlichen Sagen haben mögen.“6 Außerdem fehlen in seinem Aufsatz noch jegliche antifranzösische Tendenzen. Neben diesen auf Gottfrieds Tristan konzentrierten Beobachtungen liefert Bodmer eine Rechtfertigung für die Beschäftigung mit der altdeutschen Literatur überhaupt, die später auch

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JOHANN JACOB BODMER : Von den Gedichten ‚Twein‘ und ‚Tristran‘. In: Deutsches Museum 4 (April 1780), S. 340–346. Der Name Gottfrieds begegnet bereits in JOHANN JAKOB BODMER /JOHANN JAKOB BREITINGER (Hrsg): Sammlung von Minnesingern aus dem schwaebischen Zeitpuncte CXL Dichter enthaltend; durch Ruedger Manessen, weiland des Rathes der Uralten Zyrich. Aus der Handschrift der Königlich Französischen Bibliotheck herausgegeben, 2 Theile, Zürich 1758–1759, hier Zweiter Theil, Zürich 1759, S. Vf. Die Betonung liegt hier jedoch auf den unter Gottfrieds Namen überlieferten Strophen in der Großen Heidelberger Liederhandschrift. In diesem Falle kann BODMER natürlich nur als Vorgänger einer bestimmten Gruppe von Germanisten bezeichnet werden, wohingegen eine andere Gruppe diese Unschuld bezweifelt und damit den moralischen Verdammungen des Werks Vorschub leistet. Leider ist es im Rahmen dieser Untersuchung nicht möglich, sich intensiver mit dieser Frage auseinander zu setzen. Hierfür wäre die Behandlung der Rezeption und Erforschung anderer Werke der mittelalterlichen Literatur ein geeigneterer Anlass (z. B. die Nibelungenforschung vor dem Hintergrund des Germanenbildes). Hinzuweisen ist zum einen auf die noch immer lesenswerte Darstellung von K LAUS VON SEE : Deutsche Germanen-Ideologie. Vom Humanismus bis zur Gegenwart, Frankfurt/M. 1970, bes. S. 34–42 u. 53–62, zum anderen auf die Dissertation von INGO WIWJORRA : Der Germanenmythos. Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts, Darmstadt 2006, bes. S. 33–37 u. 54–74. BODMER : Von den Gedichten ‚Twein‘ und ‚Tristran‘ (wie Anm. 3), S. 344.

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als Begründung für die universitäre Etablierung der Deutschen Philologie verwendet wurde: Was uns diese Gedichte vornehmlich empfiehlt, ist das Vergnügen, das wir haben, in denselben die Zeitkürzungen unsrer Väter, die vor 600 Jahren gelebt haben, zu geniessen, und mit ihnen in ihrer Sinnes- und Geistesart zu denken. Wir versezen uns in ihre Zeiten und zu ihren Personen; wir sprechen mit ihnen in ihrer Sprache. Ihre wirthschaftlichen und häuslichen Unterhaltungen machen keinen geringen Theil in diesen Gedichten, und diese bekommen einen grossen Werth bei Männern, welche den Menschen und seine natürliche Gestalt in jedem äusserlichen Kleide aufzuspüren wissen.7

Frühzeitig kam es zu einem ersten Versuch, den Tristan herauszugeben. Dieser Aufgabe widmete sich Christoph Heinrich Myller, indem er im zweiten Band seiner Samlung deutscher Gedichte aus dem XII. XIII. und XIV. Jahrhundert im Jahre 1785 (der erste Band war 1784 erschienen) einen Abdruck des Romans nach der Handschrift F lieferte.8 Der Verzicht auf jede Form von Erläuterungen stellte von Anfang an ein Hemmnis für die breitere Rezeption dar. Auch deshalb musste Johann Christoph Adelung bei seiner Rezension des Bandes resigniert feststellen: Man darf [...] nicht hoffen, die Verständlichkeit [der Texte] im geringsten erleichtert zu sehen. Selbst von den Verfassern, dem Alter und dem Zustande der Abschriften und anderen nöthigen Umständen wird kein Wort gesagt, daher der Leser in Ansehung alles dessen, was ihm einiges Licht geben könnte, völlig im Dunkeln bleibt. Was die Verständlichkeit noch mehr hindert, ist dieses, daß der Herausgeber sich zur Pflicht gemacht hat, seine Abschriften mit sclavischer Treue und Beybehaltung aller offenbaren Schreibe- und Lesefehler, und der ganzen alten mangelhaften Interpunction abdrucken zu lassen. Kurz, man kann für einen alten Schriftsteller, welchen man heraus giebt, unmöglich weniger thun, als hier geschehen ist.9

Man könnte sich in die Diskussion um Editionsprinzipien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts versetzt fühlen. Aber bei aller (berechtigten oder unberechtigten) Kritik an Myllers Ausgabe ist zu konstatieren, dass er sein Hauptziel erreicht hat: nämlich die Literatur des Mittelalters vor

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BODMER : Von den Gedichten ‚Twein‘ und ‚Tristran‘ (wie Anm. 3), S. 345. Tristan. Ein Rittergedicht aus dem XIII. Jahrhundert von Gotfrit von Strazburc zum ersten Mal aus der Handschrift abgedruckt. In: Samlung deutscher Gedichte aus dem XII. XIII. und XIV. Jahrhundert. Hrsg. von CHRISTOPH HEINRICH MYLLER , Berlin 1785, Bd. 2, S. 1–141. JOHANN CHRISTOPH A DELUNG : Hrn. Prof. Müllers in Berlin Ausgabe einiger Schwäbischen Dichter. In: Magazin für die Deutsche Sprache 2 (1784), H. 2, S. 137–159, hier S. 138.

Gottfrieds Tristan in der Forschungs- und Ideologiegeschichte des 19. Jhs.

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dem Vergessen zu retten, wenn auch dieses Verdienst mit Sicherheit nicht ihm allein zukommt. Als Katalysator für weitere Forschungen und Untersuchungen an Gottfrieds Tristan stellt sich die frühe literarische Rezeption dieses Werkes dar. 1798 kündigte August Wilhelm Schlegel eine Bearbeitung des Tristan an. Sie wurde fragmentarisch 1811 publiziert.10 Auch Ludwig Tieck muss sich mit Gottfrieds Tristan beschäftigt haben, wie aus einem Brief an A. W. Schlegel hervorgeht.11 Dass Friedrich Heinrich von der Hagen und Johann Gustav Büsching in ihrem Literarischen Grundriss zur Deutschen Poesie auf die Schlegelsche Bearbeitung verweisen, bezeugt den Einfluss literarischer Rezeption auf die wissenschaftliche Beschäftigung: „Eine treffliche poetische Bearbeitung dieses Tristan, in Oktaven, hat A. W. Schlegel angefangen und den ersten Gesang davon schon vorlängst in seinen Vorlesungen mitgetheilt.“12 An der Tristan-Rezeption bis zum Zeitpunkt der akademischen Institutionalisierung der ‚Deutschen Alterthumskunde‘ fällt auf, dass von den sich im Übrigen ausbreitenden nationalistischen Tendenzen noch kaum etwas zu spüren ist. Die nationale Ungezwungenheit zeigt sich beispielsweise in Myllers Textsammlung, in der explizit ein qualitatives Gefälle zwischen den altdeutschen Texten und denen der Antike und der europäischen Neuzeit konstatiert wird: „Die dichterischen Arbeiten unserer Vorfahren im Mittelalter sind keine Werke, die mit den Meisterstücken der alten Griechen und Römer, und der Neuern, der Franzosen, Italiener, Engeländer und Deutschen könnten verglichen werden.“13 Mit der Gründung der ‚Deutschen Alterthumskunde‘ scheint diese Unvoreingenommenheit vorüber zu sein. Die fachliche Institutionalisierung ist, wie bekannt, mit der nationalen Bewegung im Zuge der Befreiungskriege eng verknüpft. Um eine deutsche Einigung erzielen zu können, war es wichtig, die Homogenität der wie auch immer zu definierenden Nation zu betonen. Dieses Bemühen äußert sich zum einen in der Abgren-

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AUGUST WILHELM SCHLEGEL : Tristan. Erster Gesang. In: AUGUST WILHELM SCHLEGEL : Poetische Werke. Erster Theil, Heidelberg 1811, S. 98–134. Wieder abgedruckt in: AUGUST WILHELM SCHLEGEL : Sämtliche Werke. Hrsg. von EDUARD BÖCKING, 3. Aufl. Leipzig 1846, Bd. 1/1, S. 100–126. Vgl. FRITSCH-RÖßLER (wie Anm. 2), S. 54f. FRIEDRICH HEINRICH VON DER H AGEN /JOHANN GUSTAV BÜSCHING : Literarischer Grundriss zur Geschichte der Deutschen Poesie von der ältesten Zeit bis in das sechzehnte Jahrhundert, Berlin 1812, S. 125. Vgl. zur literarischen Rezeption STEFAN K EPPLER-TASAKI : Internationalisierung und Hybridität. Komparatistische Perspektiven auf die TristanRezeption des 19. bis 21. Jahrhunderts. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.F. 59 (2009), S. 459–482, hier S. 460f. MYLLER (wie Anm. 8), Vorwort (unpaginiert).

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zung gegenüber dem Fremden, an erster Stelle dem Französischen, zum anderen in den Integrationsbemühungen vermittels des Blicks in eine (vermeintlich) gemeinsame Vergangenheit. Das Deutsche Reich des Mittelalters wird zu einer Nation im modernen Sinne verklärt, die deutschsprachige Dichtungen als Ausdruck dieses nationalen Bewusstseins verstanden. Dabei geht, so Ulrich Schulte-Wüler, mit „der ökonomischen und politischen Revolutions- und Erneuerungsbewegung eine kulturnationale Bewegung einher, die mit der Rückbesinnung auf die nationale Kunst und Kultur als einigendem Band die politische Zersplitterung Deutschlands zu überwinden hofft.“14 Die bürgerliche Ausrichtung dieser Bewegung und der feudale Charakter des Mittelalters scheinen sich nicht widersprochen zu haben.15 Im Zusammenhang mit dieser nationalen Ausrichtung wird deutlich, welchen Beitrag gerade die Germanistik dazu leisten konnte. Besonders anschaulich wird das Zusammenspiel von Wissenschaft und Nationalidee vor dem Hintergrund der Mittelalterbegeisterung, wenn Karl Friedrich Köppens die Übungen des Landsturms an der Berliner Universität im Jahre 1813 persifliert: Die Professoren der Universität Berlin bildeten einen eigenen Trupp und übten sich häufig in den Waffen, der kleine bucklige Schleiermacher, der kaum die Pike tragen konnte, auf der äußersten Linken, der baumlange Savigny auf dem rechten Flügel; der lebhaft knirpsige Niebuhr exerzierte, daß die nur federgewandten Hände dicke Schwielen bekamen; der ideologisch tapfere Fichte erschien bis an die Zähne bewaffnet, zwei Pistolen im breiten Gürtel, einen Pallasch hinter sich herschleppend, in der Vorhalle seiner Wohnung lehnten Ritterlanze und Schild für sich und seinen Sohn. Der alte Schadow führte die Schar der Künstler, Iffland die Helden der Bühne; diese wie jene meist abenteuerlich-mittelalterlich und phantastisch-theatralisch kostümiert und bewehrt: Sturm- und Pickelhaube, Flamberge und sogar Morgensterne kamen zum Vorschein; man sah auf dem Übungsplatze den Waffenschmuck Talbots und Burgunds, Wallensteins und Richards des Löwenherzen. Iffland selbst erschien einst mit dem Brustharnisch und dem Schilde der Jungfrau von Orleans, was große Heiterkeit erregte.16

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ULRICH SCHULTE -WÜLER : Die bildenden Künste im Dienste der nationalen Einigung. Zur restaurativen Verkehrung bürgerlich-emanzipatorischer Ansätze in der Frühzeit der Universitätsgermanistik. In: Germanistik und deutsche Nation 1806–1848. Zur Konstituierung des bürgerlichen Bewusstseins. Hrsg. von JÖRG JOCHEN MÜLLER , Stuttgart 1974, S. 273–296, hier S. 273. Thematisiert und kritisiert wurde der feudale Charakter des Mittelalters meist nur in Fällen, in denen dem Adel ein sich etablierendes Bürgertum entgegentrat, wie es auch im Falle Gottfrieds zu sein schien. Zitiert nach FRANZ M EHRING : Gesammelte Schriften. Hrsg. von THOMAS HÖHLE /H ANS KOCH /JOSEF SCHLEIFSTEIN, Berlin 1965, Bd. 6, S. 324.

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Angesichts dessen versteht es sich von selbst, dass gerade solche literarische Werke eine wissenschaftliche Würdigung erfahren, die den politisch-ideologischen Zielen dienlich sind. Das prominenteste Beispiel ist zweifelsohne das Nibelungenlied. Es „war das Zentrum der deutschen Literaturgeschichte, war Kristallisationspunkt des nationalen poetischen ‚Vermögens‘, war Ausgangspunkt und Ziel allen sprachhistorischen und mythologischen Bemühens: es war schlechthin das Identifikationsobjekt der Deutschen Philologie.“17 Dem Tristan Gottfrieds hingegen mit seinen frankophilen Elementen blieb eine auch nur in Ansätzen vergleichbare Aufmerksamkeit versagt. Dass dies nicht zwingend hätte so sein müssen, belegt ein Brief von der Hagens aus dem Jahr 1816 an Eberhard von Groote, in dem es heißt: Ihre Handschr. des Tristan v. 1323 ist sehr trefflich, und zu einer Ausg. dieses nächst den Nibelungen, vollendetsten Gedichts, höchst wichtig. Diese Ausg. ist offenbar jetzo das nächste Bedürfnis in der altd. Literatur für Schulen und Universitäten, zur Abwechslung mit den Nibelungen.18

Dieses Zitat vermag jedoch eher das Außenseitertum von der Hagens zu belegen, als eine allgemeine Tendenz innerhalb der Universitätsgermanistik dieser Zeit widerzuspiegeln. Selbst von der Hagen hielt im Zeitraum zwischen 1812 bis 1826 nur vier Vorlesungen zum Tristan, zum Nibelungenlied jedoch 15.19 Darin wird deutlich, welches Nischendasein Gottfrieds Roman in den ersten Jahren der Universitätsgermanistik fristete. Zu der Schwierigkeit, den Tristan für nationalistische Zwecke einzusetzen, trat noch ein weiterer Aspekt hinzu, der diesen Text zu disqualifizieren schien, nämlich der moralisch fragwürdige Inhalt. Als prominentestes Diktum kann wohl Lachmanns Aussage gelten, dass „[nichts] anderes, als Üppigkeit oder Lästerung, [...] die Haupttheile seiner weichlichen, unsittlichen Erzählung [...] dar[bieten].“20 Widersprochen wurde dieser Auffassung nur vereinzelt. Franz-Joseph Mone reagierte mit einem Gegenangriff auf gleichermaßen be-

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JÖRG JOCHEN MÜLLER : Germanistik – eine Form bürgerlicher Opposition. In: Germanistik und deutsche Nation 1806–1848. Zur Konstituierung des bürgerlichen Bewusstseins. Hrsg. von dems., Stuttgart 1974 (ND Stuttgart 2000), S. 5–112, hier S. 90. 18 A LEXANDER R EIFFERSCHEIDT: Erinnerung an E. v. Groote. In: Monatsschrift für rheinisch-westfälische Geschichtsforschung und Alterthumskunde 1 (1875), S. 30–44, 138–166 u. 539–560, hier S. 146. 19 Vgl. hierzu K LAUS WEIMAR : Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, Paderborn 2003, S. 224–226. 20 K ARL L ACHMANN : Auswahl aus den hochdeutschen Dichtern des dreizehnten Jahrhunderts. Für Vorlesungen und zum Schulgebrauch, Berlin 1820. Zitiert nach dem Wiederabdruck in K ARL L ACHMANN : Kleinere Schriften. Hrsg. von K ARL MÜLLENHOF, Berlin 1876, Bd. 1, S. 157–205, hier S. 159.

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denkliche Aspekte in dem von Lachmann hochgelobten Nibelungenlied und dem Parzival: Warum vergass denn Lachmann in den auch ihm so ehrwürdigen Nibelungen die Doppelehe Sigfrids und die Brautnacht Gunthers, warum ist ihm Otnids Abkunft nicht anstössig, oder von allem übrigen zu geschweigen, wie mochte er bei seinen übertriebenen Lobsprüchen des allerdings vortrefflichen Parcivals die Doppelehe Gahmurtes und seine treulose Verlassung der Belakane, oder auch den Hochmuth und die Eitelkeit Wolframs von Eschenbach übersehen?21

Jedoch ist es dem Einfluss Lachmanns und seiner Schülerschaft zuzurechnen, dass mit dem moralischen Kriterium der wirkmächtigste Einwand gegen Gottfried formuliert wurde. Damit sind die beiden entscheidenden Achsen genannt, um die sich die Tristan-Forschung im 19. Jahrhundert bewegte: Erstens die Frage nach der Integration des Tristan in die nationale Ausrichtung der Germanistik, zweitens die Frage nach dem Umgang mit dem moralisch fragwürdigen Inhalt. Dass der Tristan überhaupt rezipiert wurde, liegt an seiner von kaum jemandem bestrittenen sprachlichen Meisterschaft. Gottfried sollte es bis zur Mitte des Jahrhunderts gelingen, an die Seite von Hartmann, Wolfram und Walther gestellt zu werden.22 Exemplarisch sei hinsichtlich dieser ästhetischen Wertschätzung August Wilhelm Schlegel zitiert: Gottfrieds Tristan sei eine der schönsten, vollendetsten Dichtungen. [...] Der Hauptinhalt ist die Liebe des Tristan und der Königin Ysalde. [...] Die Ungesetzlichkeit des Verhältnisses [hat der Dichter] durch anderweitige Tugenden und Zartheit der Gefühle auf alle Weise zu adeln gesucht [...]. Man kann wohl sagen, daß bei allem, was der Moralist anstößig finden würde, doch eine große Unschuld der Gesinnungen sich offenbart.23

Hier kommt ein Problem zum Ausdruck, das als paradigmatisch für die Germanistik im 19. Jahrhundert bezeichnet werden kann und an der Tristan-Forschung besonders offen zu Tage tritt: das Verhältnis von moralischen und ästhetischen Wertmaßstäben. Bevor sich die Forschung jedoch intensiver auf solche Fragen einließ, bedurfte es einer neuen Edition, welche die längst den Ansprüchen nicht mehr genügende Ausgabe von Myller zu ersetzen hatte. Dieses Unterneh-

21

FRANZ-JOSEPH MONE : Ueber die Bedeutung der Sage von Tristan. In: Tristan von Meister Gotfrit von Straßburg mit der Fortsetzung des Meisters Ulrich von Turheim in zwey Abtheilungen. Hrsg. von EBERHARD VON GROOTE , Berlin 1821, S. III–XXXVI, hier S. VI. 22 Vgl. FRITSCH-RÖßLER (wie Anm. 2), S. 49. 23 AUGUST WILHELM SCHLEGEL : Kritische Schriften und Briefe. Hrsg. von EDGAR L OHNER , Stuttgart 1965, Bd. 4, S. 126.

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men wagte Eberhard von Groote, der völlig abgeschnitten von der Fachöffentlichkeit und beeinträchtigt durch seine Anstellung als Präsident der Armenverwaltung der Stadt Köln in beeindruckender Weise seine TristanAusgabe verfolgte.24 Seine Furcht, den Ansprüchen der Fachwelt nicht genügen zu können, veranlasste ihn fortwährend, seine Ergebnisse durch die Korrespondenz mit etablierten Autoritäten abzusichern. Sein Briefkontakt mit Jacob Grimm diente diesem Ziel, nahm aber ein schlechtes Ende. Zwar unterstützte Grimm lange Zeit von Grootes Arbeit, jedoch schien seine Geduld von einem bestimmten Zeitpunkt an erschöpft gewesen zu sein. An Benecke schrieb er: „Den Groote habe ich mir gestern durch eine Antwort vom Halse geschafft. [...] Das Störendste sind Correspondenzen, wodurch man sich nicht belehrt und anregt“.25 Gleichwohl erschien von Grootes Ausgabe 1821 und konnte sich aus philologischer Sicht durchaus sehen lassen.26 In einer (anonymen) Besprechung wird sie als „Bereicherung unserer mittelhochdeutschen Literatur, die jedem Freunde derselben wilkommen seyn wird“, bezeichnet.27 Auch A. W. Schlegel begrüßt die Ausgabe in seiner Rezension für die Kölner Zeitung: In ihr sei „der Text sorgfältig berichtigt und nichts versäumt, um die schwierigen Stellen aufzuklären: es wird also zugleich für den erfahrnen Sprachkenner und für den noch der Nachhilfe bedürftigen Liebhaber gesorgt.“28 von Groote enthält sich jeglicher nationaler Tendenzen. Dies ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass er als Freiwilliger am Feldzug nach Frankreich teilgenommen hatte. Nur zwei Jahre später erschien die Ausgabe Friedrich Heinrich von der Hagens.29 Planmäßig sollte sie bereits ein Jahr früher erscheinen, doch

24 Zu EBERHARD VON GROOTE vgl. grundsätzlich R EIFFERSCHEIDT (wie Anm. 18); A DOLF GIESEN : Eberhard von Groote. Ein Beitrag zur Geschichte der Romantik am Rhein, Gladbach-Rheydt 1929, sowie JAN H ALLMANN : Groote, Eberhard (Ebbo) Rudolf von. In: Internationales Germanistenlexikon. 1800–1950. Hrsg. von CHRISTOPH KÖNIG, CD -ROM, Berlin 2003 [nicht in der Druckausg.]. 25 Briefe der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm an Georg Friedrich Benecke aus den Jahren 1808–1829. Hrsg. von WILHELM MÜLLER , Göttingen 1889, S. 140. 26 Tristan von Meister Gotfrit von Straßburg mit der Fortsetzung des Meisters Ulrich von Turheim in zwey Abtheilungen. Hrsg. von EBERHART VON GROOTE , Berlin 1821. 27 A NONYMUS : o. T. [Rezension zur Ausgabe VON GROOTES ]. In: Göttingische gelehrte Anzeigen 97 (Juni 1822), S. 961–968. GIESEN (wie Anm. 24), S. 123, nennt BENECKE als Verfasser der Rezension, ebenso bei H ANS -HUGO STEINHOFF : Bibliographie zu Gottfried von Straßburg, Berlin 1971, S. 23. 28 Abgedruckt in R EIFFERSCHEIDT (wie Anm. 18), S. 554. 29 Gottfrieds von Strassburg Werke aus den beßten Handschriften mit Einleitung und Wörterbuch. Hrsg. von FRIEDRICH HEINRICH VON DER H AGEN, Breslau 1823. Ursprünglich war eine gemeinsame Ausgabe mit VON GROOTE geplant. Diese scheiterte jedoch an unterschiedlichen Vorstellungen und an der Agitation JACOB GRIMMs gegen VON DER H AGEN im Briefwechsel mit VON GROOTE . Vgl. hierzu ECKARD GRUNWALD : Friedrich

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hatte ein Brand in der Druckerei alle bis dahin fertiggestellten Teile der Edition zerstört – eine „etwas zu starke Rezension“,30 wie von der Hagen in einem Brief an Tieck so selbstironisch wie resigniert schrieb. Eine allerdings ähnlich ‚starke Rezension‘ lieferte Lachmann in einem Brief an Jacob Grimm: „Sie sollen sehen, daß er weiter Eine Handschrift ‚in sich folgerecht‘ macht: es wird unter dem Schein der Treue, wieder nichts werden als Faulheit und vages Rathen, Dilettantenwerk für Dilettanten. Er hat sich so lange verdorben, daß er nichts Gutes mehr machen wird.“31 Die Ausgabe ist zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht erschienen. Aber tatsächlich disqualifiziert sie sich in editionsphilologischer Perspektive selbst. Man kann feststellen, dass von der Hagen nichts lieferte, was die Germanistik für die Beschäftigung mit diesem Werk nicht schon gehabt hätte. Was als Verdienst dieser Ausgabe bezeichnet werden muss, ist der Umstand, dass sie an einem Ort verschiedene Tristandichtungen zusammenführt. So liefert sie erstmals beide Fortsetzungen; daneben steht der Sir Tristrem, zwei französische Tristangedichte, eine walisische Version und Bruchstücke aus Eilharts von Oberg Roman. Diese Konzeption ist deswegen von zentraler Bedeutung, weil von der Hagen mit ihr einer komparatistischen TristanForschung im Kontext einer europäischen Literaturgeschichtsschreibung das entscheidende Material zur Verfügung stellte. Hinsichtlich der ideologischen Fragestellung lässt sich feststellen, dass von der Hagen auf Distanz zu national(istisch)en Bewertungen des Tristan geht, was sich allein an der unbefangenen stoffgeschichtlichen Ausrichtung seiner Ausgabe ablesen lässt. Jedoch betont er die Bürgerlichkeit Gottfrieds: [Er] war offenbar kein adelich-ritterlicher Dichter, wie Wolfram von Eschenbach, Ulrich von Lichtenstein u. a., welche ihre Gedichte von andern Schreibern aufzeichnen ließen; sondern ein buergerlicher gelehrter Dichter, wie schon seine Bezeichnung als ‚Meister‘ in der Manessischen Sammlung [...] anzeigt.32

Hier wird ein Gegensatz aufgezeigt zwischen dem Adel, der andere für sich arbeiten lässt, und dem Bürgertum, das selbständig und gelehrt diesem Adel gegenübersteht. In diesem Sinne bot Gottfried ein Idealbild des aufstrebenden Bürgertums, das – auf sich und seine Fähigkeiten – gestellt dem Adel ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen ist. Heinrich von der Hagen 1780– 1856. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Germanistik, Berlin u. a. 1988, sowie CORD M EYER : Hagen, Friedrich Heinrich von der. In: Internationales Germanistenlexikon. Hrsg. von CHRISTOPH KÖNIG, Berlin 2003, Bd. 2, S. 647–650. 30 Zitiert nach Briefe an Ludwig Tieck. Hrsg. von K ARL VON HOLTEI, Breslau 1864, Bd. 1, S. 279. 31 Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit Karl Lachmann. Hrsg. von A LBERT L EITZMANN, Jena 1927, Bd. 1, S. 397. 32 VON DER H AGEN : Gottfrieds von Strassburg Werke (wie Anm. 29), S. IV.

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Die weitere Forschung sollte sich vor allem an den moralischen Problemen abarbeiten. Hierbei spielte die bereits zitierte Einschätzung Lachmanns die entscheidende Rolle. Mit ihr ebnete er den Weg für die sittliche Verdammung in den folgenden Jahrzehnten. Die Tragweite seines Verdikts ist nicht zu unterschätzen, weil Lachmann durch seine textkritischen Arbeiten und Editionen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung der Deutschen Philologie gewonnen hatte. Diese Vormachtstellung aber wurde von seinen Mitstreitern und Schülern auch auf solche Gebiete ausgeweitet, die sich nicht auf textphilologische Aspekte bezogen, so unter anderem auf das moralische Urteil über Gottfrieds Tristan. Jedoch ist Lachmanns Urteil auch insofern richtungsweisend, als es die Differenz zwischen moralischem Gehalt und ästhetischem Wert aufrecht erhält. Diese Trennung ermöglichte es, das Werk dem Inhalt nach abzulehnen und der Form nach zu würdigen. Kaum jemand zog Gottfrieds Sprachkunst in Zweifel. Dennoch ist festzuhalten, dass das moralische Urteil gegenüber dem ästhetischen das größere Gewicht erhielt, was sich allein daran ablesen lässt, dass im gesamten 19. Jahrhundert keine Ausgabe des Tristan aus der LachmannSchule erschienen ist. So stark der Einfluss Lachmanns gewesen ist, gab es doch auch Stimmen, die sich entweder dagegen wandten, dem moralischen Urteil den Primat gegenüber dem ästhetischen zuzugestehen, oder die die Immoralität des Stoffes überhaupt bestritten. Karl Rosenkranz beispielsweise stellte in seiner Literaturgeschichte die These auf, der Gehalt des Tristan dürfe nicht in seiner Sinnlichkeit aufgefasst werden, sondern müsse auf das Anliegen Gottfrieds hin befragt werden, das auf die Enthüllung des Wesens der Liebe gerichtet sei: Der nurmoralische Standpunkt wird sich nimmermehr in dies Gedicht finden können und muss nichts als Unzucht und Gottlosigkeit darin sehen, wogegen es Gottfrieds und seiner Fortsetzer offenbare Absicht war, das Wesen der Liebe, die Macht dieser Leidenschaft, ihr Glück und Unglück, Hoffen und Bangen, Vertrauen und Zweifeln, genug alle ihre Zustände zu enthüllen.33

Zwar wird hierbei ebenfalls betont, dass der Inhalt moralisch bedenklich sei, jedoch wird er an die übergeordneten Absichten des Autors zurückgebunden und verliert damit seine Brisanz. Aufgrund ihres Einflusses und ihrer weiten Verbreitung lohnt sich ein Blick auf die Literaturgeschichte von Georg Gottfried Gervinus. Hierbei sticht vor allem die apodiktisch formulierte Wertung in die Augen: „Soll ich zum Schlusse ein Urtheil über Gottfrieds Tristan beifügen, so weiss

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K ARL ROSENKRANZ : Geschichte der deutschen Poesie im Mittelalter, Halle 1830, S. 334.

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ich kein anderes über dieses Gedicht, als Dante über solche Gefühle: man muss verdammen, aber bewundern und bedauern.“34 In diesem Urteil tritt deutlich zutage, dass Gervinus den ästhetischen Wert des Romans schätzt (‚bewundern‘), indes das moralische Kriterium als Maßstab der Gesamtbewertung verwendet (‚verdammen‘).35 Dass der Gelehrte zu einem solchen Ergebnis kommt, ist vor allem seinen historiographischen Prinzipien geschuldet. Ihm geht es darum, die Literaturgeschichte einer Nation zu schreiben, um sich dem Eigentümlichen dieser Nation zu nähern. Dies führt dazu, dass „nationale und ethische Forderungen [...] sich an die Stelle der ästhetischen Wertung“36 setzen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Abneigung von Gervinus gegenüber dem Gehalt des Tristan. Für ihn bildet der Minnetrank den Wendepunkt innerhalb des Geschehens: Was von nun an folgt, ist nicht geeignet, etwas anderes als unseren Abscheu zu wecken. [...] So ist die reine liebe gute kindliche Isold denn gleich, nachdem sie den Trank der Schuld gekostet, dazu bereit, dem neuen Eheherrn zum trauten Empfang den schmählichsten Betrug zu bereiten.37

Jedoch kommt auch Gervinus nicht umhin, Gottfrieds Sprachkunst zu erwähnen, wenngleich er in ihr keine Rechtfertigung dafür sieht, den Roman in ein günstigeres Licht zu stellen: Wir begnügen uns mit der Bemerkung, dass der Dichter die höchste Bewunderung verdient, wenn man sieht, welch ein bedeutungsvolles Gedicht er aus einem Stoffe bereitete, der noch in dem Tristan des Eilhart von Oberg so wüst und ekel daliegt und in sich von aller Grösse und Würde vollkommen entblösst ist. [...] Aus einer so niederen Sphäre, in der die Fabel des Tristan zu einem unterhaltenden leichtsinnigen Geschichtchen gemacht ist, rückt sie Gottfried in eine wunderbare Höhe, mit einer wahrhaft genialen Kunst.38

Mit Ausführungen im vierten Band seiner Minnesänger war es wiederum Friedrich Heinrich von der Hagen, der der Tristan-Forschung einen neuen Weg wies. Es geht dabei um einen neuen Umgang mit den beiden forschungsprägenden Fragen: der nach der nationalen Dienstbarmachung und der nach dem moralischen Gehalt. Von der Hagen setzte nun gerade hier an, verband diese beiden Aspekte und machte aus der Not eine Tu-

34 GEORG GOTTFRIED GERVINUS : Geschichte der poetischen National-Litteratur der Deutschen, Leipzig 1835, Bd. 1, S. 390. 35 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Literaturgeschichte von GERVINUS bietet FRITSCH-RÖßLER (wie Anm. 2), S. 93–113. 36 JOSEF DÜNNINGER : Geschichte der deutschen Philologie. In: Deutsche Philologie im Aufriss. Hrsg. von WOLFGANG STAMMLER , Berlin 1957, Bd. 1, Sp. 173f. 37 GERVINUS (wie Anm. 34), S. 420. 38 GERVINUS (wie Anm. 34), S. 416.

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gend. Die sittlich fragwürdigen Elemente seien der französischen Vorlage geschuldet. Damit bedient von der Hagen antifranzösische Ressentiments. Die französischen Bearbeiter gefielen sich „in harten, ja rohen und nackten Ausdrücken und eben nicht züchtigen Ausmalungen“,39 wohingegen Gottfrieds Version „der echte Kodex der Minne, das eigentliche Buch der Liebe“40 darstelle. Vor diesem Hintergrund versteht sich auch, wenn von der Hagen bemerkt: „In allem was auch ich seitdem von Altfranzösischen Gedichten gesehen und gehört habe, ist keine Spur und Ahnung von dieser Zartheit und Bildung, Seele und Sprache.“41 Mit dieser Argumentation kann von der Hagen als richtungsweisend gelten; sie wurde in der Folgezeit breit rezipiert.42 Auch wenn diesem Fachvertreter nicht das gleiche Maß nationalistischer Tendenz zugesprochen werden kann wie einem Gutteil seiner Kollegen, so ist dennoch zu konstatieren, dass er nationalen Kräften innerhalb der Germanistik eine Deutungsmöglichkeit an die Hand gab, die moralischen Bedenken in antifranzösische Ressentiments zu kanalisieren. Im Jahre 1843 kam es zu einer neuen Tristan-Ausgabe. Ausgerechnet Hans Ferdinand Maßmann, ein nationaler Burschenturner alten Schlages, widmete sich dieser Aufgabe.43 Der Grund für seine Arbeit an diesem ‚welschen‘ Werk kann nur in der nationalen Ausrichtung der Reihe gesehen werden, in der diese Edition veröffentlicht wurde: den Dichtungen des deutschen Mittelalters.44 In seinem Vorwort ist der Herausgeber besonders bemüht, den Unterschied zwischen dem deutschen und dem französischen Anteil zu betonen. So kann er zwar nicht bestreiten, dass der deutsche Dichter nach einer französischen Vorlage gearbeitet hat, jedoch fühlt er sich zu dem Ausruf berechtigt: „Aber was hat unser Gottfried aus dem

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FRIEDRICH HEINRICH VON DER H AGEN : Minnesinger. Deutsche Liederdichter des zwölften, dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts aus allen bekannten Handschriften und früheren Drucken gesammelt und berichtigt, Leipzig 1838, Bd. 4, S. 610. VON DER H AGEN : Minnesinger (wie Anm. 39), S. 562. VON DE R H AGEN : Minnesinger (wie Anm. 39), S. 509. Hierbei ist zu bemerken, dass VON DER H AGEN nicht der erste war, der diese Verschränkung von moralischem Urteil und antifranzösischer Tendenz formulierte. PICOZZI (wie Anm. 2), S. 89f., weist darauf hin, dass bereits SIMROCK (K ARL SIMROCK : Die Quellen des Shakespeare in Novellen, Märchen und Sagen, Bonn 1831), wenngleich weniger wirkmächtig, einen ähnlichen Gedanken verfolgte. Tristan und Isolt von Gottfried von Strassburg. Hrsg. von H ANS FERDINAND M AßMANN, Leipzig 1843. Zu M AßMANN vgl. grundsätzlich JOACHIM BURKHARD R ICHTER : Hans Ferdinand Maßmann. Altdeutscher Patriotismus im 19. Jahrhundert, Berlin u. a. 1992, sowie HEIDRUN M ARKERT: Maßmann, Hans Ferdinand. In: Internationales Germanistenlexikon. 1800– 1950. Hrsg. von CHRISTOPH KÖNIG. Berlin 2003, Bd. 2, S. 1167–1170. Vgl. hierzu die Einleitung zum ersten Band dieser Reihe: Der Nibelunge nôt und diu Klage. Hrsg. von A LOIS JOSEPH VOLLMER , Leipzig 1843.

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ihm dargebotenen Stoffe zu machen gewust!“45 Durch die Betonung von Gottfrieds Souveränität hinsichtlich seiner Vorlage sah Maßmann die Beschäftigung mit diesem Werk gerechtfertigt. Gerade im Fragmentcharakter des Tristan erblickte er eine Entschuldigung für die moralisch bedenklichen Elemente. Im zitierten Vorwort beschränkte er sich noch auf moderate Töne zur französischen Kultur. Sein wahres Frankreichbild bringt ein veröffentlichter Vortrag aus demselben Jahr klar zur Anschauung. Der Titel ist Programm: Deutsch und Welsch oder der Weltkampf der Germanen und der Romanen.46 Der Germanist macht keinen Hehl aus seiner Überzeugung, dass die germanischdeutsche Kultur der romanischen (und damit vor allem der französischen) überlegen sei: Die beiden Eigenschaftswörter Deutsch und Welsch [...] haben durch alle Jahrhunderte einen bedeutsamen, fast sittlichen Gegensatz bezeichnet und namentlich läßt der erhebende Gebrauch des Wortes Deutsch für alles Edelmenschliche und wahrhaftig Friedenskräftige in einen trostreichen Spiegel volksthümlichen Selbstbewußtseyns wie menschheitlicher Ausgleichung blicken.47

In einer weiteren Rede aus dem Jahr 1848 relativierte Maßmann überdies die sprachliche Leistung Gottfrieds. Zwar zieht er sie an sich nicht in Zweifel, kritisiert jedoch die frankophonen Elemente. Wörtlich beklagt er die „bewußte Sprachmengerei, namentlich bei jenem göthischgeschmeidigen, tiefdeutschen Gottfried, der dennoch mit französischen Wörtern, ja ganzen Zeilen um sich wirft“.48 Man ersieht daraus Maßmanns ambivalente Haltung gegenüber Gottfried. Aus der langen Reihe moralischer Verdikte seien zwei weitere Gottfried-Kritiker genannt, der eine wegen seines maßgeblichen Einflusses, der andere wegen der Radikalität seiner Aversionen. Im Erscheinungsjahr von Maßmanns Ausgabe kritisiert Wilhelm Grimm in einer Vorlesung den moralischen Gehalt des Werkes und spricht davon, dass Gottfried „das sittliche Gefühl [verletzt], was der Dichter niemals darf“.49 Er relativiert dieses Urteil jedoch, indem er darauf hinweist, dass der Dichter zwar „das Un45 M AßMANN : Tristan und Isolt (wie Anm. 43), S. IX. 46 H ANS FERDINAND M AßMANN : Deutsch und Welsch oder der Weltkampf der Germanen und Romanen. Ein Rückblick auf unsere Urgeschichte zur tausendjährigen Erinnerung an den Vertrag zu Verdun, München 1843. Dieser Vortrag macht darüber hinaus deutlich, dass M AßMANN die bereits erwähnte Gleichsetzung von Deutschtum und Germanentum vollzieht. 47 M AßMANN : Deutsch und Welsch (wie Anm. 46), S. 15. 48 H ANS FERDINAND M AßMANN : Über Sprachreinheit. In: Germania 8 (1848), S. 138–174, hier S. 167. 49 WILHELM GRIMM : Einleitung zur Vorlesung über Hartmanns ‚Erek‘. In: WILHELM GRIMM : Kleinere Schriften. Hrsg. von GUSTAV HINRICHS, Gütersloh 1887, Bd. 4, S. 577–617, hier S. 582.

Gottfrieds Tristan in der Forschungs- und Ideologiegeschichte des 19. Jhs.

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sittliche darstellen [darf ], wenn es der Zweck des Ganzen verlangt“; doch dürfe er „daraus nicht Ruhm und Preis des Helden erwachsen lassen“.50 Grimm bedauert das ‚unwürdige Ziel‘, hält den Tristan aber ansonsten für ‚vollendet‘.51 August Vilmar hingegen vollzieht eine grundlegende Verdammung des Romans. Gottfried erscheint ihm als Vorreiter der immer dem bloss weltlichen Streben, dem physischen Wohlsein, dem materiellen Gewinn und Besitz zugeneigten, zuletzt in tiefe Roheit und fast thierischen Genuss versinkende, aus Mundbekennern und Thatleugnern der christlichen Wahrheit bestehenden europäischen Menschheit des 14. und 15. Jahrhunderts.52

Vilmars Ausführungen lassen keinen Vorwurf aus. Und das einzig Positive, was er über Gottfried sagen kann, ist, dass er die Geschichte von Tristan und Isolde mit einem Geist ausgestattet habe, „welchen das dumpfe britische Ingenium nicht oder nicht mehr zu erzeugen vermochte“.53 Mit der neuhochdeutschen Übersetzung von Herrmann Kurtz aus dem Jahr 1844 wurde der Tristan erstmals auch einem breiteren Publikum zugänglich gemacht.54 Diese Leistung ist auch deswegen bedeutend, weil unter anderem Richard Wagner so auf den Stoff stieß. Hervorzuheben ist ein Gedanke in der Einleitung zur Übersetzung. Kurtz sieht die moralisch umstrittenen Elemente in dem Umstand begründet, dass in den Figuren Tristans und Isoldes Überreste eines alten Mythos verborgen seien. Im Rahmen seiner Auffassung dieses Mythos entwickelt er eine Parallele zwischen Tristan und Siegfried. Damit rückt der Tristan in die Nähe des Nibelungenliedes. Mit dieser mythologischen Hypothese versucht Kurtz den Roman der ‚germanischen Kulturgeschichte‘ einzuverleiben. Ganz anders, dabei zukunftsweisend und stichhaltig, geht Heinrich Kurz in seiner Literaturgeschichte die moralische Frage an. Er sieht in der Liebe zwischen den beiden Protagonisten nicht dieselbe Brisanz wie viele seiner Fachkollegen. Vielmehr sei sie „die Äusserung eines in der Menschenbrust gelegten Gefühls [...], welches älter und ursprünglicher ist, als alle von den Menschen gegebenen Gesetze und von der bürgerlichen Gesellschaft eingeführten Einrichtungen“.55 Indem Kurz also die natürliche, dem Menschen eigentümliche Liebe den gesellschaftlich gesetzten Maßstä-

50 WILHELM GRIMM (wie Anm. 49), S. 583. 51 FRITSCH-RÖßLER (wie Anm. 2), S. 78f. 52 AUGUST FRIEDRICH CHRISTIAN VILMAR : Vorlesungen über die Geschichte der deutschen National-Litteratur, Marburg 1845, S. 182 (gehalten 1843). 53 VILMAR (wie Anm. 52), S. 177. 54 HERRMANN KURTZ : Tristan und Isolde. Gedicht von Gottfried von Straßburg, Stuttgart 1844. 55 HEINRICH KURZ : Geschichte der deutschen Literatur, Leipzig 1853, Bd. 1, S. 386.

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ben gegenüberstellte, benennt er als erster die bürgerliche Beschränktheit der Verdammungsurteile über den Roman. Damit ist nicht ganz dem Impetus Rechnung getragen, der Joseph von Eichendorff zu einem grundsätzlich vernichtenden Urteil über den Gottfriedschen Tristan führt.56 Wie viele vor ihm meint auch er zugleich mit Gottfrieds Version den zugrundeliegenden Stoff. Der Stoff des Gedichts ist durchaus gemein: die Verführungsgeschichte einer verheirateten Frau, die gern Lob und Ehre und Seele ihrer ehebrecherischen Liebesbrunst opfert; ein artiger, sich vor den Damen niedlich machender Fant [...], der sich in seiner liebenswürdigen Flatterhaftigkeit zuletzt noch gar in eine zweite Isolde verliebt; und endlich ein schwacher Ehemann, der nicht bloss gefoppt, sondern auf das schändlichste verraten und betrogen wird und welcher am Ende noch alle Schuld allein tragen soll, weil er sich unterstanden hat, sein tolles Weib zu hüten und in ihren sauberen Kunststücken zu stören.57

Nach dieser Einschätzung des Stoffs wendet sich Eichendorff Gottfried selbst zu, durch welchen das „Dogma von der unbedingten Geschlechtsliebe“58 in die deutsche Literatur eingeführt worden sei. Auch für den Stil Gottfrieds hat der katholische Dichter nichts übrig, wenn er dessen schlechten Einfluss auf die spätere deutsche Dichtung konstatiert: Sein Geist verbreitete sich wie ein heimlich zehrendes Fieber in den verschiedensten Krankheitssymptomen über mehrere Dichtergenerationen, aus denen Rudolf von Ems und Konrad von Würzburg als die bedeutendsten hervorragen. Das Charakteristische der Gottfriedschen Schule aber ist eben die laxe weltmännische Lebensansicht des Meisters, die mit Sage und Heldentum nichts mehr anzufangen weiss, daher am liebsten nach gewöhnlichen, ja gemeinen Stoffen greift und, um das Kleine gross zu machen, allen Nachdruck fast ausschliesslich auf eine geleckte Form der Darstellung legt.59

Die Person hinter diesem ‚weltmännischen Meister‘ versucht Johann Matthias Watterich in seiner Biographiekonstruktion von 1858 aufzufinden.60 Seine Ergebnisse sind abenteuerlich: Gottfried sei ein gelehrter Stadtbürger gewesen, der in Paris studiert habe. Bei seinen Aufenthalten an verschie-

56 JOSEPH FREIHERR VON EICHENDORFF : Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands, Paderborn 1857. Wieder abgedruckt in ders.: Neue Gesamtausgabe der Werke und Schriften in vier Bänden. Hrsg. von GERHART BAUMANN, Stuttgart 1958, Bd. 4, S. 11–424. – Eingehend zum Mittelalterbild in Eichendorffs Literaturgeschichte vgl. den Beitrag von M ATHIAS HERWEG in diesem Band. 57 EICHENDORFF : Gesamtausgabe (wie Anm. 56), S. 76. 58 EICHENDORFF : Gesamtausgabe (wie Anm. 56), S. 76. 59 EICHENDORFF : Gesamtausgabe (wie Anm. 56), S. 78. 60 JOHANN M ATTHIAS WATTERICH : Gottfried von Strassburg. Ein Sänger der Gottesminne, Leipzig 1858.

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denen Höfen könnte er Wolfram kennengelernt haben; Walther habe er bei Markgraf Dietrich IV. von Meißen getroffen, der der Auftraggeber des Tristan gewesen sei. Gottfried sei nicht über dem Tristan gestorben, sondern habe an einem Kreuzzug ins Heilige Land teilgenommen. In Palästina müsse er dem Franziskanerorden beigetreten sein. Selbst eine persönliche Begegnung mit Franz von Assisi schließt Watterich nicht aus. Aus Palästina sei er dann als Geläuterter zurückgekehrt. Bedenklich ist vor allem der methodologische Zirkelschluss, den Watterich in seiner Monographie vollführt. So konzediert er selbst, dass sich seine biographischen Annahmen nur aus den Werken selbst herleiten können. Aus der Unsittlichkeit des Tristan schließt er so auf einen Studienaufenthalt Gottfrieds in Paris. Diese Erfahrung muss jedoch auf der anderen Seite als Begründung für die Unsittlichkeit ebendieses Werkes herhalten. Wen verwundert dann Watterichs antifranzösische Invektive: „O Paris, du Netz der Laster, du Pfeil der Hölle, wie durchbohrst du das Herz der Unbesonnenen!“61 Eine neue Qualität in der moralischen Frage erreichte die TristanForschung durch einen Aufsatz Richard Heinzels 1868. Es heißt bei ihm: Wir stehen an einem Puncte, von welchem eine Gedankenreihe beginnt, die man Gottfrieds Unsittlichkeit zu nennen pflegt. – Wenn die Liebe ein so hohes Gut ist, dass – wie Gottfried sagt – Ehre und Tugend ausschliesslich durch sie erreicht werden können, so ist es natürlich, dass andere Interessen und Rechte sich ihr unterzuordnen haben. Alles was zur Liebe führt, wird des hohen Zwecks wegen gebilligt oder ohne Bemerkung berichtet; was sich ihr widersetzt, gehasst oder verspottet. Die Liebe Tristans und Isoldens ist berechtigt.62

Damit hat Heinzel neuen Interpretationen auf den Weg geholfen, denn er macht deutlich, worauf es im philologischen Umgang mit dem Moralpunkt ankommen sollte: Nicht die sittliche Rechtfertigung der Liebe ist die Aufgabe des Literaturwissenschaftlers, sondern die Frage nach ihrer historischen und narrativen Funktion. Hier ist nun eindeutig dem ästhetischen Wertmaßstab der Vorrang vor dem ethischen zugesprochen. Daran knüpfte Theodor von Hagen an, der im Jahr 1868 die erste Dissertation zu Gottfrieds Tristan veröffentlichte.63 Bedeutsam ist diese Untersuchung deshalb, weil sie sich erstmals ausschließlich mit den philologischen Fragen des Werkes befasst. Diese Auseinandersetzung war in Fol61 62 63

WATTERICH (wie Anm. 60), S. 139. WATTERICH blieb nicht der einzige, der sich mit waghalsigen Konstruktionen an die Klärung von Gottfrieds Biographie heranwagte. Die einzelnen Versuche sind aufgeführt bei L ANGMEIER (wie Anm. 2), S. 2–5, 7–9 u. 11–13. R ICHARD HEINZEL : Über Gottfried von Straßburg. In: Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 19 (1868), S. 533–563, hier S. 551. THEODOR VON H AGEN : Kritische Beiträge zu Gottfrieds von Strassburg Tristan, Mühlhausen 1868.

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ge von Lachmanns Moratorium und des vorherrschenden Einflusses seiner Schülerschaft auf diesem Gebiet viel zu kurz gekommen. Wohl deshalb fühlte sich von Hagen zu einer Rechtfertigung seiner Arbeit veranlasst: Gewiss verdient aber gerade der Tristan nicht weniger Beachtung als die Werke eines Hartmann oder Wolfram, denn er bietet, selbst wenn man vom Standpunkte des Sittenrichters aus das Gemälde, welches er vor uns aufrollt, verdammen würde, als reiner vollkommener Ausdruck der ritterlichen Epik unserer ersten Literaturperiode ein sehr grosses poetisches, literarhistorisches und sprachliches Interesse.64

Mit diesen wenigen Worten bringt von Hagen auf den Punkt, welcher Maßstab für den Philologen entscheidet: Der Philologe ist kein ‚Sittenrichter‘, sondern hat ein Interesse an ‚poetischen, literarhistorischen und sprachlichen‘ Dimensionen. Mit von Hagen hat der Gottfriedsche Tristan es endgültig geschafft, von der Fachwelt als Gegenstand literaturwissenschaftlicher Auseinandersetzung akzeptiert zu werden. In der Nachfolge von Hagens erschienen zahlreiche Untersuchungen, die die erheblichen Forschungslücken zu füllen versuchten.65 Inzwischen fügte 1869 Reinhold Bechstein der Serie der Tristanausgaben eine weitere hinzu.66 Sie erschien in der Reihe Deutsche Classiker des Mittelalters von Franz Pfeiffer. Deren Programm verfolgte das Ziel, ihre Texte mit Hilfe von populären Ausgaben in breiten Kreisen bekannt zu machen. Dabei wendet sich Pfeiffer bewusst gegen die dominierende Lachmann-Schule, die den Rezipientenkreis mittelalterlicher Literatur systematisch verkleinert statt vergrößert habe: „Man darf sagen, daß gegenwärtig kaum Jemand mehr ein altdeutsches Buch kauft und liest, als wer muß, d. h. wer durch seinen Beruf dazu veranlasst oder genöthigt ist: ein winziges Häuflein von Lehrern und Schülern.“67 Als Gegenkonzept strebte Pfeiffer an, „zu billigen Preisen und in ansprechender Ausstattung der deutschen Lesewelt eine Auswahl der schönsten mittelhochdeutschen Dichtungen in commentierten, mit allen zum Verständnis dienenden 64 VON H AGEN (wie Anm. 63), S. 2. 65 Vgl. unter anderem EMIL L OBEDANZ : Das französische Element in Gottfried´s von Straßburg ‚Tristan‘, Schwerin 1878; JOHANNES KOTTENKAMP : Zur Kritik und Erklärung des ‚Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg, Göttingen 1879; R. F. K AINDL : Einige Bemerkungen über den Gebrauch der Fremdwörter bei Gottfried von Straßburg. In: Germania 37 (1892), S. 272–282; ders.: Die französischen Wörter bei Gottfried von Straßburg. In: Zeitschrift für romanische Philologie 17 (1893), S. 355–367; K ARL M AROLD : Zur handschriftlichen Überlieferung des ‚Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg. In: Festschrift zum 70. Geburtstage Oskar Schade von seinen Schülern und Verehrern, Königsberg 1896, S. 177–186. 66 Gottfried´s von Strassburg ‚Tristan‘. Hrsg. von R EINHOLD BECHSTEIN, Leipzig 1869f. 67 FRANZ PFEIFFER : Vorwort. In: Walther von der Vogelweide, Leipzig 1864, S. VI–XIV, hier S. IX.

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Mitteln versehenen Ausgaben darzubieten.“68 Diesem Konzept untersteht auch Bechsteins Tristan, und die wiederholten Auflagen bezeugen den Erfolg.69 Aus ideologiehistorischer Perspektive ist in erster Linie das Vorwort bedeutsam. Hinsichtlich der Gewichtung von ästhetischen und moralischen Maßstäben lässt sich konstatieren, dass Bechstein eindeutig dem ästhetischen Kriterium den Vorzug bei der Gesamtbewertung gibt. Dabei spielt er jedoch nicht die ästhetische Seite des Werkes gegen die moralische aus; vielmehr thematisiert er letztere in seiner (sehr umfangreichen) Einleitung erst gar nicht. Lediglich ein Hinweis auf die Verdikte der Forschung ist zu finden. „Auch in unseren Tagen ist er [i.e. der Dichter des Tristan] nicht ohne Anfechtung geblieben. Seine Lebensanschauung fand Tadel, der sittlich bedenkliche Stoff seines Liebesromans gab vor allem Anlaß zu verwerfendem Urtheil.“70 Zwar könnte man aus dieser Aussage schließen, dass Bechstein ebenfalls von der Unsittlichkeit des Stoffs überzeugt gewesen sei, da er vom „bedenkliche[n] Stoff seines Liebesromans“ im Indikativ spricht, jedoch stellt er sogleich klar: Solchen immer nur vereinzelten Ausstellungen gegenüber, die noch dazu meist einem grämlichen Gemüthe entstammten, hat die Literaturgeschichte doch ihr Urtheil dahin festgestellt, daß Gottfried von Straßburg als einer der hervorragendsten Dichter, den Deutschland je geboren, in Ehren zu halten ist, als ein wirklicher Classiker unseres Alterthums.71

Bechstein sieht also den Grund für die Aburteilungen im ‚grämlichen Gemüt‘ der Kritiker; mit diesem Charakterurteil disqualifiziert er ihre Argumente. Von einer gewissen Bagatellisierung der moralischen Kritik zeugt seine Feststellung, es handele sich dabei lediglich um ‚vereinzelte Ausstellungen‘. Bechstein konstatiert weiter, ‚die Literaturgeschichte‘ sei zu dem Ergebnis gekommen, Gottfried als einen der hervorragendsten deutschen Dichter zu würdigen. Ohne dies zu belegen, sieht er damit den Beweis erbracht, dass ideologische Bedenken gegenüber Gottfried und seinem Werk unangebracht seien.72 Bereits die ersten Sätze der Einleitung bringen klar die rein ästhetische Beurteilung zum Ausdruck:

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PFEIFFER (wie Anm. 67), S. X. Weitere Auflagen 1873, 1890f., 1923 und 1930. BECHSTEIN (wie Anm. 66), S. Vf. BECHSTEIN (wie Anm. 66), S. VI. Die Stichhaltigkeit dieses Arguments relativiert BECHSTEIN nur eine Seite später selbst. Im Zusammenhang mit der Frage, inwieweit der Gottfriedsche Tristan dem Geschmack des 19. Jahrhunderts noch entspräche, stellt er fest, dass der Geschmack nicht Kriterium für die Bewertung eines Werkes sein dürfe. Dann fährt er fort: „Aber es will mich bedünken, als habe auch in der Behandlung der Literaturgeschichte das historische Urtheil öf-

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Anmuthig und von künstlerischer Schönheit wie keine zweite Romandichtung des deutschen Mittelalters ist der Tristan Gottfried‘s von Straßburg; in keiner waltet ein solch wunderbarer und seelenvoller Einklang zwischen Inhalt und Form [...] er [ist] einzig und unübertroffen im leichten Flusse der Rede, im geistreichen und zierlichen Spiel der Worte, Gedanken und Bilder, in der einschmeichelnden und zauberisch ergreifenden Kunst der Seelenmalerei.73

So ‚modern‘ Bechstein hinsichtlich seiner moralischen Liberalität erscheint, so souverän geht er auch mit der Nationalfrage um. Betrachtet man seine Ansichten vor dem Hintergrund der national(istisch)en Polemiken seiner Fachkollegen, so könnte man den Eindruck gewinnen, dass er gegen diese Tendenzen ankämpft, indem er den Gottfriedschen Tristan vehement in die französische Tradition stellt: Wenn der Tristan auch auf heutige Leser noch einen wirklichen ästhetischen Eindruck zu machen vermag, so verdanken wir dies gewiss vorzugsweise der unnachahmlichen Kunst des Dichters. Allerdings wird auch [...] das unbekannte französische Original solches Verdienst beanspruchen können.74

Einige Absätze weiter heißt es dann noch deutlicher: „allein im Wesentlichen ist die Sage eine französische Schöpfung“75 und „jedenfalls bleibt die Thatsache bestehen, daß in Frankreich die Tristansage ihre künstlerische Weihe empfing“.76 Wurde in der Vergangenheit oft Gottfried als derjenige gefeiert, der die Tristansage in eine künstlerisch anspruchsvolle Form gekleidet hatte, so gesteht Bechstein diese Leistung auch der französischen Vorlage zu. Allerdings ist ihm wichtig, dass Gottfried als ein deutscher „freier Künstler“77 und nicht als frankophiler Epigone erscheint. Daher verleiht Bechstein dem Tristan-Stoff ein vaterländisches Gewand. Er verweist dafür auf die deutsche Literaturgeschichte, die das Sujet ihrem eigenen Kulturkreis einverleibt und somit zu dessen Eigentum gemacht habe: Wenn fremde Stoffe ebendeshalb, weil sie nicht vaterländische waren, zunächst auch keine Volksthümlichkeit besaßen, so wurden sie doch volksthümlich durch das allgemeine Bedürfnis nach poetischer Anregung und Unterhaltung, sowie durch die Kunst hervorragender Meister. [...] So wurden auch antike, romanische, keltische, selbst einzelne orientalische Sagenstoffe zu einem Gemeingute der abendländischen Welt und fanden namentlich in unserem Vaterlande, wo schon früh das Aneignungsvermögen dem fremden Geiste willig entgegenkam, eine

ters unter dem Drucke von Vorliebe und Abneigung gelitten“. BECHSTEIN (wie Anm. 66), S. VII. 73 BECHSTEIN (wie Anm. 66), S. V. 74 BECHSTEIN (wie Anm. 66), S. VI. 75 BECHSTEIN (wie Anm. 66), S. VIII. 76 BECHSTEIN (wie Anm. 66), S. VIII. 77 BECHSTEIN (wie Anm. 66), S. XLI.

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neue Heimat und ihre dichterische Verklärung [...]. Sagengestalten wie König Alexander, König Artus, Parzival und Tristan sind in der Blütezeit mittelalterlicher Poesie und noch lange darüber hinaus so volksthümlich und in gewissem Sinne so national wie Siegfried und Dietrich von Bern.78

Es ist erstaunlich, wie bereitwillig Bechstein von der Einwirkung fremder Literaturen auf die deutsche Kultur, ja gar von deren ‚Aneignungsvermögen‘, das ‚dem fremden Geist willig entgegenkam‘, spricht. So ungewöhnlich und für die Zeit untypisch eine solche Auffassung ist, so konform ist doch seine Schlussfolgerung, dass der Tristan-Stoff als deutsches Kulturgut zu verstehen sei. Im Gegensatz zu vielen anderen verzichtet er bei der Betonung der deutschen Identität darauf, diese in Abgrenzung zu anderen Kulturen und Nationen zu formulieren. Gerade diese Ambivalenz macht Bechsteins Einleitung zu seiner Tristan-Ausgabe so lesenswert, und gerade sie wirft ein bezeichnendes Licht auf eine Disziplin, die sich bezüglich ihres Selbstverständnisses (noch) nicht entscheiden kann, ob ihre Existenz einem in ihrem ureigenen Gegenstand liegenden Zweck dient oder ob sie als nationale Wissenschaft auch politischen Interessen zu dienen hat. Mit dem nun zu betrachtenden Literarhistoriker möchte ich meine Untersuchung beenden und dabei den Kreis zu grundsätzlichen Fragen der Mittelalterrezeption schließen. Wolfgang Golther, könnte man sagen, war seiner Zeit und vor allem seinem Fach um Jahrzehnte voraus. Zum ersten entdeckt man in dem Rostocker Germanisten jemanden, der sich um eine konsequente stoffgeschichtliche Ausrichtung der Tristan-Forschung verdient gemacht hat. Hierin steht er in der Tradition Friedrich Heinrich von der Hagens. So beschäftigte sich Golther mit dem Tristanstoff in unterschiedlichen europäischen Literaturen und Epochen. Sein Vorgehen hierbei ist rezeptionsgeschichtlich orientiert. Auch neuzeitliche und zeitgenössische Rezeptionsprozesse bezieht er in seine Überlegungen mit ein. So stellen Richard Wagners Operntextbücher im Allgemeinen und sein Tristan im Besonderen einen Forschungsschwerpunkt Golthers dar. Neben dieser rezeptionsgeschichtlichen Dimension ist zum zweiten auf seine interdisziplinäre und komparatistische Ausrichtung zu verweisen. In seiner Tristan-Ausgabe von 1888 heißt es: Die Werke mhd. Dichter können nicht richtig verstanden werden, solange man sie abgesondert für sich allein betrachtet. Notwendig haben wir auf die Quellen zurückzugehen, und hier stoßen wir fast stets auf französische Dichtungen. Die Verbindung der Litteratur Deutschlands und Frankreichs im Mittelalter ist eine

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BECHSTEIN (wie Anm. 66), S. VII.

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sehr enge. [...] Die Litteraturgeschichte des Mittelalters muß vergleichend dargestellt werden.79

An anderer Stelle heißt es: „Aus den zu enge gezogenen Schranken der Nationalität wird ein mittelalterlicher Dichter, zumal ein deutscher, niemals völlig zu verstehen sein.“80 Nach all den hier angestellten Betrachtungen könnte man meinen, die heutigen Vertreter der Germanistik dürften sich nun zurücklehnen, auf ihre Väter lächelnd herabschauen und deren Borniertheit und/oder Naivität amüsiert zur Kenntnis nehmen. Dies würde jedoch zweierlei bedeuten. Zum einen würde man mit einer solchen Haltung der historischen Bedingtheit der dargestellten Prozesse nicht gerecht. Zum anderen aber würde man sich die Sicht auf die Möglichkeit verstellen, dass es auch heute außerwissenschaftliche oder disziplinfremde Denkvoraussetzungen gibt, die das fachliche Urteil prägen. Der Konkretisierung halber wage ich die Frage zu stellen, ob nicht ein utilitaristisch gedachtes, an der Nützlichkeit, der Effizienz und der Ökonomie orientiertes Paradigma ebenfalls als fachfremde Ideologie bezeichnet werden muss, die gleichwohl den Umgang mit Untersuchungsgegenständen prägt? Verdiente nicht auch die gegenwärtige Literaturwissenschaft mit ihrer Abhängigkeit gegenüber außerwissenschaftlichen Denkschemata von ihren Vätern des 19. Jahrhunderts belächelt zu werden?

79

Tristan und Isolde und Flore und Blanscheflur. Hrsg. von WOLFGANG GOLTHER , Stuttgart 1888f., S. III. 80 GOLTHER (wie Anm. 79), S. XIX.

KLASSISCHE MODERNE

UND

POSTMODERNE

BASTIAN SCHLÜTER

„In dem Augenblick der Zeitenfülle...“ Mittelalterbilder und Geschichtsdenken in der Klassischen Moderne Hält man sich an REINHART KOSELLECKs begriffsgeschichtliche Studien und an die Ergebnisse der neueren Historismus-Forschung, dann ist ‚Geschichte‘, wie wir sie heute verstehen, eines der konstitutiven Phänomene der Moderne seit der „Sattelzeit“ ab der Mitte des 18. Jahrhunderts. In dieser Zeit hat sich aus der Pluralität der Geschichten die Geschichte als „Kollektivsingular“ herausgebildet und ist zu einem umfassenden Modus der Weltdeutung geworden. Zu dieser modernen Vorstellung von Geschichte gehört nach KOSELLECK unter anderem, dass die Konzepte von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht nur gegeneinander konturiert wurden, sondern auch zueinander in ein spannungsreiches Verhältnis traten. Das Bewusstsein, dass die Gegenwart ohne die Vergangenheit nicht vorstellbar ist, rückte in den Vordergrund. Alles, was ist, ist historisch geworden. Gleichwohl unterliegt die Gegenwart keiner Gesetzmäßigkeit der Geschichte, sie ist nicht mehr eingefasst in eine providenzielle Ordnung, sondern muss gestaltet werden. So wie alle Geschichte immer „vergangene Zukunft“ ist, so ist die Zukunft der Gegenwart eine offene – aber ihrerseits nicht zu trennen von dem, was vorher war. Ausgelöst und im Verbund mit anderen Modernisierungserfahrungen trat zu diesen Veränderungen im geschichtlichen Denken eine Dynamisierung der Zeitwahrnehmung hinzu, die als Beschleunigung der Zeit empfunden wurde. Dies schuf ein Bewusstsein für eine spezifisch historische Zeit, für eine Temporalität der Geschichte. Im Paradigma des Historismus, als welcher sich das alle Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft durchdringende moderne Geschichtsdenken beschreiben lässt, wurde diese historische Zeit als eine lineare, kontinuierliche gedacht, Entwicklung und Fortschritt wurden zu den dominanten Verlaufsmustern dieses Denkens.1 1

Vgl. REINHART KOSELLECK: Geschichte V. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Hrsg. von OTTO BRUNNER/WERNER CONZE/REINHART KOSELLECK, Stuttgart 1975, Bd. 2, S. 647–691;

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Zum materialen Repertoire des Historismus gehört aber auch untrennbar die Vorstellung von den aufeinander folgenden historischen Epochen. Erst im 18. Jahrhundert faltete die schon sehr viel früher, im Humanismus, begründete Epochentrias aus Antike, Mittelalter und neuer Zeit für die westlich-europäische Geschichte ihre spezifischen Ordnungs-, Strukturierungs- und Sinnstiftungspotentiale aus. Aus der Perspektive der eigenen Zeit, der ‚Neuzeit‘, war es das Mittelalter, das hierbei eine ganz besondere Funktion einnahm. Während die Antike als ferne Maßgestalt für die Gegenwart figuriert, etablierte sich das Jahrtausend zwischen Altertum und dem Anbruch der eigenen Epoche als bilderreiche Projektionsfläche eines Anderen oder Fremden der Moderne, das dennoch zugleich ein Teil der eigenen Kultur ist. Im Unterschied zum diesbezüglich vergleichsweise beschränkten Bildervorrat für die Antike wurde (und wird) das Mittelalter als doppelt codierte Epoche imaginiert. Es wurde zum „entzweiten Mittelalter“: Neben die „temps ténébreux“, die die Aufklärungshistorie als Kontrast zum eigenen, vom Licht der Vernunft erstrahlten Saeculum aufrief, trat wenige Jahrzehnte später das romantische Mittelalter, welches die nunmehr manifesten Verlust- und Entfremdungserfahrungen des modernen Menschen kompensieren sollte und als „goldenes Zeitalter“ der Einheit und Ganzheit dargeboten wurde. Als prototypische Ausformulierung des romantischen Mittelalters lässt sich der als Polemik gegen den Fortschrittsoptimismus der Aufklärung geschriebene Essay Die Christenheit oder Europa des Novalis von 1799 namhaft machen.2 Die triadische Epochenordnung wirkte aber auch auf die Vorstellungen von der temporalen Struktur des Geschichtsverlaufs zurück. Das „Schluchtbild“ (Rudolf Stadelmann) von der Geschichte mit zwei Gipfeln und einem Tal dazwischen ermöglichte erst die Verlaufsmuster des moder-

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weitere diesbezüglich wichtige Studien KOSELLECK s in ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1979, sowie ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt/M. 2003; zum Historismus A NNETTE WITTKAU : Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems, Göttingen 1992; O TTO GERHARD OEXLE : „Historismus“. Überlegungen zur Geschichte des Phänomens und des Begriffs. In: Ders.: Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne, Göttingen 1996, S. 41–72. Vgl. OTTO GERHARD OEXLE : Das entzweite Mittelalter. In: Die Deutschen und ihr Mittelalter. Themen und Funktionen moderner Geschichtsbilder vom Mittelalter. Hrsg. von GERD A LTHOFF, Darmstadt 1992, S. 7–28; zum weiteren Zusammenhang ders.: Die Moderne und ihr Mittelalter. Eine folgenreiche Problemgeschichte. In: Mittelalter und Moderne. Entdeckung und Rekonstruktion der mittelalterlichen Welt. Hrsg. von PETER SEGL , Sigmaringen 1997, S. 307–364, bes. S. 326ff.; zu Novalis H ANS -JOACHIM M ÄHL : Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen, 2. Aufl. Tübingen 1994, bes. S. 372ff.

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nen Geschichtsdenkens zwischen Dynamisierung und Entdynamisierung und gab damit der Beschleunigungserfahrung einen epistemischen Rahmen. Die „Erfindung des Mittelalters“, so lässt sich dies zusammenfassen, fiel zusammen mit der „Erfindung“ der Geschichte im modernen Sinne.3 Ohne Geschichte kein Mittelalter, ohne Mittelalter keine Geschichte. Will man folglich etwas über die Verfasstheit des modernen Geschichtsdenkens erfahren – diese These soll die folgenden Ausführungen leiten –, dann lohnt sich der Blick auf die vielgestaltigen Imaginationen und Evokationen des Mittelalters. Nicht der Bilderreichtum des modernen Mittelalters in seiner materialen Gestalt soll indes im Zentrum der hier angestellten Überlegungen stehen, sondern die formalen und temporalen Aspekte, die sich mit der Mittelalterimago verbinden – und dies in einem historischen Abschnitt, der Klassischen Moderne des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, zu dessen leitenden Diskursen unter dem Schlagwort der „Krise des Historismus“ ein weitreichender Vertrauensverlust in das eben skizzierte historische Denken ab der Sattelzeit gehört.4 Dabei soll es hier um Mittelalterimaginationen ästhetischer, vornehmlich literarischer Provenienz gehen, denn Geschichte und Literatur gingen um 1900 eine in mehrerlei Hinsicht sehr folgen- und ertragreiche Verbindung ein. Dazu im Folgenden einige Erläuterungen. Nahezu zeitgleich mit der Diskursivierung der ‚Krise des Historismus‘, als deren Gründungsdokument gemeinhin Nietzsches polemische Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben von 1874 ausgewiesen wird, ergaben sich auch auf dem ästhetischen Feld vielfältige Neuerungen, die später als jene schon angeführte Klassische Moderne kunst-, literatur- und kulturgeschichtlich rubriziert werden sollten.5 Diese Neuerungen lassen sich als eine Ausdehnung des ästhetischen Feldes auf kulturelle und gesellschaftliche Bereiche beschreiben, die zuvor nicht oder in nur sehr viel geringerem Ausmaß der ästhetischen Inanspruchnahme zur Verfügung gestanden hatten. Es sind dies Bereiche, aber auch Ordnungsmuster und Wissensbestände, die im Verlauf fortgesetzter Modernisierung problematisch geworden waren und die eine Entwertung oder Fragmentarisierung erfahren hatten. Dies betraf so grundlegende Ordnungskategorien wie die

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R EINHART KOSELLECK : Moderne Sozialgeschichte und historische Zeiten. In: Ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt/M. 2003, S. 317–335, hier S. 322. Vgl. WITTKAU (wie Anm. 1), bes. S. 45ff.; O TTO GERHARD OEXLE : Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Eine Problemgeschichte der Moderne. In: Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932. Hrsg. von dems., Göttingen 2007, S. 11–116. Vgl. zum Begriff der Klassischen Moderne zusammenfassend DETLEV J. K. PEUKERT: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt/M. 1987, S. 9ff.

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der (visuellen) Wahrnehmung, wie sie die europäische Malerei des Impressionismus seit den 1860er Jahren thematisierte, führte aber auch zur künstlerischen Auseinandersetzung mit der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts immer drängender werdenden ‚sozialen Frage‘ in den Kunstauffassungen des Realismus oder des Naturalismus. Hinzu kam eine fortschreitende Disprivilegierung des Religiösen, die in der Ausbildung kunstreligiöser Strömungen um 1900 ihren Höhepunkt fand.6 Auch die nunmehr als krisenbehaftet diagnostizierten Bestände des historischen Wissens wurden in diese Ausdehnung des ästhetischen Feldes einbezogen. Der fragmentarisierte Historismus wurde gleichsam zum Materiallager für die Kunst, wurde zum künstlerisch „produktiven Historismus“, welcher neue Formen von Vertextungsstrategien hervorbrachte, in der die alten Wissensbestände in ästhetischer Einbindung neu präsentiert wurden.7 Interessanterweise hatte sich nur kurze Zeit zuvor eine bedeutende Verschiebung innerhalb der triadischen Epochenordnung ergeben – oder genauer: Die für die historische Sinnstiftung der Moderne so wichtige Grenze zwischen Mittelalter und eigener Zeit, zwischen Vormoderne und Moderne, hatte eine markante Profilierung erfahren. Von dem französischen Historiker Jules Michelet 1855 als Begriff kreiert, betrat die Renaissance mit Jacob Burckhardts einflussreichem Buch Die Cultur der Renaissance in Italien von 1860 die Bühne historischer Sinnproduktion – und dies durchaus buchstäblich, denn die Konjunktur der Renaissance entwickelte sich fortan vornehmlich im Zugriff des ästhetischen Feldes auf die neue Epoche. Um 1900 erschien sie in literarischem Gewand im Drama und in Prosatexten, wobei diesem ‚Renaissancismus‘ Dichter aus der zweiten und dritten Reihe zu großer Prominenz verhalfen, die bis beute bekanntesten Auseinandersetzungen mit der Epoche aber aus der Feder von Hugo von Hofmannsthal, Frank Wedekind und Heinrich und Thomas Mann stammen.8 Die Renaissan-

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Vgl. HELMUTH K IESEL : Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München 2004, bes. S. 99ff. Vgl. DIRK NIEFANGER : Produktiver Historismus. Raum und Landschaft in der Wiener Moderne, Tübingen 1993; JOHANNES HEINSSEN : Historisierende Ästhetik – ästhetisierte Historie. Beobachtungen zu den Ursprüngen des ästhetischen Konservatismus. In: „Nichts als die Schönheit“. Ästhetischer Konservatismus um 1900. Hrsg. von JAN A NDRES /WOLFGANG BRAUNGART/K AI K AUFFMANN, Frankfurt/M. 2007, S. 77–95. Vgl. K ARLHEINZ STIERLE : Renaissance. Die Entstehung eines Epochenbegriffs aus dem Geist des 19. Jahrhunderts. In: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. Hrsg. von R EINHART HERZOG /R EINHART KOSELLECK, München 1987, S. 453– 492; zum großen Einfluss der Renaissanceimago auf die Literatur vgl. PETER PHILIPP R IEDL : Epochenbilder – Künstlertypologien. Beiträge zu Traditionsentwürfen in Literatur und Wissenschaft 1860 bis 1930, Frankfurt/M. 2005, bes. S. 83ff.; außerdem die Beiträge in Renaissance und Renaissancismus von Jacob Burckhardt bis Thomas Mann. Hrsg. von AUGUST BUCK, Tübingen 1990. Siehe auch den Beitrag von JULIA ILGNER in diesem Band.

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cebegeisterung, zumal in ihrer nietzscheanischen Durchwirkung, gewann dabei einen großen Einfluss auf das Geschichtsdenken der Klassischen Moderne. Von Bedeutung war hierbei nicht nur die materiale Aneignung der Renaissanceimago, der Florentiner Ausstattung und des Personals aus dem 16. Jahrhundert; mit dem Interesse am ‚ruchlosen‘ Tatmenschen der Renaissance zeichnete sich auch eine neue Sicht auf den Verlauf der Geschichte ab. Im Zeichen der ästhetischen Anverwandlung der Epoche im vitalistischen Zuschnitt Nietzsches rückten die Entscheidungsgewalt und die Tatkraft des überragenden Individuums in den Vordergrund. Die ästhetisierte Geschichte entwickelte eine Vorliebe für die Imagination des Diskontinuierlichen, der Verdichtung des historischen Verlaufs in der Tat, der rücksichtslosen, gewaltsamen Veränderung. Vornehmlich die Renaissancedramen um 1900 nutzten die theatralen Möglichkeiten einer solchen Sicht auf die Geschichte, indem sie brutale, sprunghafte Machtmenschen in düsterer Szenerie auf die Bühne stellten.9 Die Tendenz zum Plötzlichen und Verdichteten, die dem Renaissancismus abzulesen ist, fand sich gleichwohl auch in anderen und sehr viel subtileren Zusammenhängen, und dies nicht nur in Deutschland. Eine Ästhetisierung von Geschichte vollzog, ebenfalls unter dem Patronat der Renaissanceimago, auch Walter Pater in England. In seinem Sammelband The Renaissance von 1873/77 wurde die ästhetische Erfahrung der Renaissancekunst als ein Modus der Wahrnehmung dargestellt, der gleichsam die lineare Temporalität der Geschichte aufzuheben im Stande ist, in dem die historische Distanz zusammengeschmolzen wird. Vergangenheit und Gegenwart schießen in einem Augenblick absoluter Präsenz zu einer Einheit zusammen. „Alles was daran wirklich, ist nur ein Blitz, ein Bruchteil der Zeit, vorüber, ehe wir ihn zu fassen vermögen, und von dem man immer eher sagen kann, daß er war, als daß er ist.“10 Eine solche Augenblickskonzeption gab der Geschichte nicht nur ein radikal ästhetisches Gepräge, sie hob zudem das historistische Zeitmuster ebenso radikal auf. Augenblicksdenken und ästhetisierte Geschichte wurden zwar an der Epochenimago Renaissance entlang entworfen, sie beeinflussten aber die Geschichtsevokationen auf dem ästhetischen Feld der Klassischen Moderne auch nach dem vergleichsweise jähen Abebben des Renaissancismus um 1910. Auch der Rückgriff auf das

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Etwa Julius Bab: Der Andere (1906); Emil Ludwig: Ein Untergang (1904), Borgia (1907), Der Papst und die Abenteurer (1909); Leo Greiner: Herzog Boccaneras Ende (1907); vgl. dazu WALTHER R EHM : Der Renaissancekult um 1900 und seine Überwindung. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 54 (1929), S. 296–328, bes. S. 308ff. WALTER PATER : Die Renaissance. Studien in Kunst und Poesie, 3. Aufl. Jena 1910, S. 292; vgl. dazu WOLFGANG ISER : Walter Pater. Die Autonomie des Ästhetischen, Tübingen 1960, bes. S. 95ff.

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Mittelalter, die Vergegenwärtigungen mittelalterlicher Geschichte, standen fortan immer wieder unter dem Zeichen eines mitunter radikal ausformulierten Antihistorismus.11 Sucht man in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende einen Dichter, der die Augenblicksinszenierungen geradezu auf die Spitze getrieben hat, stößt man auf Stefan George. In seinen Gedichten wurden sie als glückhafte Momente der Naturwahrnehmung evoziert, aber auch konsequent zum ästhetizistischen kairos ausgebaut, zu literarischen Epiphanien.12 Im Gedichtband Maximin von 1906 gipfelte dies in der Begründung einer eigenen Kunstreligion mit selbst erwähltem Gott und privater Liturgie. Auch mit dem Mittelalter hatte George schon experimentiert, allerdings vor der Konturierung seiner kairos-Entwürfe. Interessant ist in diesem Zusammenhang sein früher Gedichtband Das Buch der Sagen und Sänge von 1895, der ein gutes Beispiel für die dichterische Aneinung des fragmentarisierten historistischen Bestandes liefert. In den hier versammelten Gedichten wird ein Mittelalter imaginiert als Verbindung aus philologisch durchaus kundiger Rezeption hochmittelalterlicher Lyrik, einer großen Portion französischen Symbolismus und einer gehörigen Prise des George faszinierenden Verhältnisses von Herrschaft und Dienst. Im Zentrum der Gedichte stehen intime Schilderungen, Innensichten der Figuren und des lyrischen Ich; die symbolistische Poetik des jungen George galt der Literarisierung von Seelenzuständen. Das literarische Spiel mit dem Mittelalterbezug wird zum dezenten Hintergrund einer Evokation des état d´âme der dargestellten Figuren, die vergangene Epoche zur geeigneten historischen Bühne für die Innenschau.13 Georges Gedichte bezeugen dennoch eine gute Kenntnis der mittelalterlichen Literatur, es gibt die freie Anlehnung

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Vgl. allgemein zum Geschichtsdiskurs ab 1900 WOLFGANG H ARDTWIG : Die Krise des Geschichtsbewußtseins in Kaiserreich und Weimarer Republik und der Aufstieg des Nationalsozialismus. In: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2001, S. 47–75; KURT NOWAK : Die „antihistoristische Revolution“. Symptome und Folgen der Krise historischer Weltorientierung nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland. In: Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs. Hrsg. von FRIEDRICH WILHELM GRAF /HORST R ENZ , Gütersloh 1987, S. 133–171; zu den Mittelalterinanspruchnahmen O TTO GERHARD OEXLE : Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne. Mittelalterbeschwörungen in der Weimarer Republik und danach. In: Ders.: Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne, Göttingen 1996, S. 137–162. Vgl. SUSANNE K AUL : Kairos bei George. In: George-Jahrbuch 7 (2008/09), S. 1–19. Vgl. JOACHIM W. STORCK : Das Bild des Mittelalters in Stefan Georges ‚Buch der Sagen und Sänge‘. In: Mittelalter-Rezeption II. Hrsg. von JÜRGEN KÜHNEL , Göppingen 1982, S. 419–437, bes. S. 426; zu den Voraussetzungen von Georges Mittelalterinanspruchnahmen UTE OELMANN : Das Mittelalter in der Dichtung Georges. Ein Versuch. In: Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft. Hrsg. von BARBARA SCHLIEBEN / OLAF SCHNEIDER /K ERSTIN SCHULMEYER , Göttingen 2004, S. 133–145.

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an verschiedene Gedichttypen des romanischen und deutschen Mittelalters wie im Tagelied, den thematische Bezug auf die Topoi der mittelalterlichen höfischen Kultur wie in Vom Ritter der sich verliegt, die Verwendung von Dichternamen und spezifischen literarischen Vorlagen wie in Frauenlob.14 George hatte schon ein Jahr vor der Publikation eine programmatische Vorrede zu seinen Gedichten geschrieben und sie in den Blättern für die Kunst veröffentlicht. Darin legte er dar, dass in ihnen „nirgends das bild eines geschichtlichen oder entwickelungsabschnittes entworfen werden soll: sie enthalten die spiegelungen einer seele die vorübergehend in andere zeiten und örtlichkeiten geflohen ist und sich dort gewiegt hat“. Der Dichter, der sein Material sehr wohl den historisch-philologischen Hervorbringungen des Historismus zu verdanken hatte, distanzierte sich von dessen Zugang zur Geschichte und seinem Denken in „entwickelungsabschnitte[n]“. Geschichte erklärte er zum Erfahrungsraum des Individuums, welcher die „spiegelungen einer seele“ ermöglichen kann. Das Historische hatte so dem Verfügungsrecht des Künstlers zu unterliegen, die Geschichte wurde ästhetisiert. Ein solches Bestehen auf einem souverän-subjektiven und damit vom objektiv-wissenschaftlichen Geschichtsverständnis sich diametral unterscheidenden künstlerischen Zugriff auf die Vergangenheit bekräftigt George am Ende der Vorrede: „Jede zeit und jeder geist rücken indem sie fremde und vergangenheit nach eigner art gestalten ins reich des persönlichen und heutigen und von unsren drei grossen bildungswelten ist hier nicht mehr enthalten als in einigen von uns noch eben lebt.“15 Trotz dieser Absage an den Historismus wird der materiale Bestand, den die wissenschaftliche Geschichtsbetrachtung des 19. Jahrhunderts zusammengetragen hat, im Buch der Sagen und Sänge dennoch genutzt; nicht im Sinne einer philologisch möglichst getreuen Aneignung, wohl aber im punktuellen Rückgriff auf einen Bildungsbestand, der um Namen, Topoi oder Gattungen der mittelalterlicher Literatur weiß. Dieses Vorgehen ist durchaus als eine historistische Bezugnahme auf die Vergangenheit zu verstehen. In Georges Gedichtband von 1895 und in dessen Vorrede wird der Antihistorismus zwar schon prononciert formuliert, zunächst aber kommen die Möglichkeiten des produktiv gewordenen Historismus zum Einsatz. Historismus und Antihistorismus stehen hier gleichsam dicht beieinander, sie verbinden sich im genuin ästhetischen Zugriff der literarischen Moder-

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Stefan George: Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten. Hrsg. von der STEFAN-GEORGE -STIFTUNG, Stuttgart 1991, S. 48, 54 u. 46. Zu George und Frauenlob siehe auch den Beitrag von JUDITH L ANGE und ROBERT SCHÖLLER in diesem Band. George (wie Anm. 14), S. 41.

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ne zu neuen, im Vergleich zum trivialen Historismus der zeitgenössischen Populärkunst innovativen Ausdrucksformen. Es ist bezeichnend, dass George in den 1890er Jahren, der Hochzeit des Renaissancismus, einen Gedichtband der Imagination des Mittelalters widmete. Dies weist darauf hin, wie wichtig das Mittelalter auch später als historischer Echoraum in Georges Gedankenwelt und auch der seines Kreises werden sollte. Eine fulminante Zusammenführung von Georges Augenblicksemphase und der Imagination, der Vergegenwärtigung mittelalterlicher Geschichte allerdings sollte noch eine Weile auf sich warten lassen und erst wenige Jahre vor dem Tod des Dichters der Öffentlichkeit präsentiert werden, dafür aber mit besonders durchschlagendem Erfolg. Im Jahr 1927 erschien die bis heute einflussreiche Biographie des ‚Georgeaners‘ Ernst Kantorowicz über den Stauferkaiser Friedrich II., die neben Friedrich Gundolfs Dichtermonographien zu einer der erfolgreichsten Publikationen des Kreises wurde und hohe Auflagen erzielte. Vor dem Blick auf Kantorowicz und sein berühmtes Buch ist allerdings ein anderer in den Vordergrund zu rücken, Stefan Georges erklärter Antipode und einer der interessantesten Mittelalterbeschwörer des frühen 20. Jahrhunderts, Rudolf Borchardt.16 Der Dichter und studierte Klassische Philologe, der der akademischen Beschäftigung mit der Historie mit aller Deutlichkeit den Rücken gekehrt hatte, sah im wirkungsmächtigen Epochenkonstrukt Renaissance eine „Sehtäuschung der deutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts“.17 Von diesem historiographischen Missverständnis und seinen Folgen wurde nach Borchardts Dafürhalten das Mittelalter geradezu verdeckt und in seiner für die europäische Kulturgeschichte überragenden Bedeutung entwertet. Es war sein Ziel, diesem Mittelalter wieder zu seinem Recht zu verhelfen. Borchardts Verhältnis zur Geschichte – man könnte es pointiert als Historiomanie bezeichnen – war nicht zu trennen von seinem Selbstverständnis als Dichter. Der Dichter wirkte nach diesem Verständnis als ein Anwalt des Vergangenen gegen die Gegenwart. Die Rolle als Verteidiger der Geschichte verband sich bei Borchardt mit einer gehörigen Portion Antimodernismus, denn seine eigene Zeit war in den Augen des Dichters krank von den falschen Errungenschaften der Moder-

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Vgl. zu Borchardts Leben und Werk besonders die umfassende Studie von K AI K AUFFMANN : Rudolf Borchardt und der „Untergang der deutschen Nation“. Selbstinszenierung und Geschichtskonstruktion im essayistischen Werk, Tübingen 2003; zu Borchardts Mittelalter vgl. SUSANNE HOFMANN : Bildung und Sehnsucht. Untersuchungen zum Mittelalterbild Rudolf Borchardts, Paderborn u. a. 1995, sowie ferner FRED WAGNER : Rudolf Borchardt and the Middle Ages, Frankfurt/M. u. a. 1981. Rudolf Borchardt: Prosa III. Hrsg. von M ARIE LUISE BORCHARDT/ERNST ZINN, Stuttgart 1960, S. 81.

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ne. Die wieder zu erringende Vergangenheit wollte er der eigenen Zeit als Heilmittel verabreichen. Von Interesse ist es in diesem Zusammenhang, wie Borchardt seinen Zugriff auf die Geschichte darstellte. In der Rede Erbrechte der Dichtung, die er 1910 in München hielt, erklärte er dem Auditorium, er nehme „das alte musische Recht“ für sich in Anspruch, meiner Zeit zu gehören, und allen Zeiten; so jung zu sein wie Sie und älter als Sie alle; hier unter Ihnen zu stehen, und an jedem Ort zu sein, wo meine Urahnen und Ihre, unsere Eltern und Erzväter gewandert, gesiedelt, gegründet, geschaffen, uns geschaffen haben, das Recht dieser immensen Präexistenz, deren Anfänge bei Unaussprechlichem liegen, deren Ende kein sterblicher Mund je aussprechen wird.18

Das ist die Inszenierung eines Ausbruchs aus der linearen Geschichte, alles Vergangene steht dem Dichterhistoriker wie gleichzeitig zur Verfügung, ist für ihn präsent. Als eine passende Darbietungsform für die Geschichte, die Borchardt seinen Zeitgenossen zu verabreichen gedachte, wählte er die Übertragung mittelalterlicher Texte, von denen er eine große Zahl erarbeitete, besonders aus hochmittelalterlicher Lyrik, Dantes Commedia und Hartmanns von Aue Armem Heinrich. Was übersetzungsphilologisch von diesen Versuchen zu halten ist, sei hier nicht thematisiert; im Vordergrund soll weiterhin stehen, wie Borchardt den Weg zu seinem Zielidiom beschreibt und wie er damit seinen Weg in die Geschichte nachzeichnet.19 Denn es war ihm für seine Übertragungen um eine Sprache zu tun, die die historische Authentizität und Würde der Texte angemessen repräsentieren sollte, die frei war von allen modernen Verunreinigungen. Borchardt wollte sich dabei keinesfalls an der Sprache seiner Gegenwart orientieren – doch genauso zuwider war ihm „die große Fiktion der Philologie des 19. Jahrhunderts, ‚Mittelhochdeutsch‘“, nach seinem Befinden ein untaugliches begradigtes Wissenschaftskonstrukt einer falsch angelegten Bemühung um die mittelalterliche deutsche Sprache.20 Der Dichter reiste deshalb zurück in die Geschichte, er fuhr in den oberdeutschen Sprachraum, nach Arlesheim bei Basel, und dort wurde ihm ein historisches Erweckungs- und Umformungserlebnis zuteil:

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Rudolf Borchardt: Reden. Hrsg. von M ARIE LUISE BORCHARDT/RUDOLF A LEXANDER SCHRÖDER /SILVIO R IZZI, Stuttgart 1955, S. 179. 19 Vgl. zur übersetzungsphilologischen Einordnung Borchardts VOLKER M ERTENS : „…als ein Heiligtum bewahrt“. Zur ‚romantischen‘ Übersetzung als Zugang zum Mittelalter bei Rudolf Borchardt. In: Translatio litterarum ad penates. Das Mittelalter übersetzen – Traduire le Moyen Âge. Hrsg. von A LAIN CORBELLARI /A NDRÉ SCHNYDER , Lausanne 2005, S. 221–241. 20 Rudolf Borchardt: Prosa II. Hrsg. von M ARIE LUISE BORCHARDT/ERNST ZINN, Stuttgart 1959, S. 493.

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Denn inzwischen war von der unerwartetsten Seite ein Lichtstrahl in mein geschichtliches Gefängnis gefallen: ich hatte eben doch noch einmal deutsch gelernt, von Grund auf. Für ein halb Jahr in ein Dorf des Baselgebiets vergraben, mit der einheimischen Art und Zunge lebend, hatte ich meiner gesamten Sprachgewöhnung ein Wildbad zugemutet, aus dem sie mit einem verzauberten Ohre herausstieg, wie die Menschen der Sage, die plötzlich die Sprache der Vögel verstehen. […] Aber ich besaß nun […] das schwebende Medium der Continuität zwischen dem Dugento und meiner Zeit, von jenem aus gesehen eine organische Weiterentwicklung der Sprache des klassischen deutschen Mittelalters, von dieser aus gesehen eine zugleich archaische und lebendige Tiefenschicht hinter dem flachen Gemeinidiom, das sich Deutsch nannte. Ich besaß ein Deutsch, das nicht von der Willkür und der Buchtradition festgelegt war, sondern sich aus unabsehbarer Anlage fort und fort entfaltete, und von der auf das vorlutherische Deutsch, fünfzehntes, vierzehntes, dreizehntes Jahrhundert rückwärts, eine rosige Lebensfarbe fiel, keine literarische, sondern die unverwüstete Frische unsterblicher Volkskraft.21

Was Borchardt hier beschreibt, ist Antihistorismus pur. Es ist zum einen die Konterkarierung eines philologisch-distanzierten Zugangs zur Rekonstruktion der Sprachgeschichte, wie sie die historistische Wissenschaft des 19. Jahrhunderts gebracht hatte, durch eine naturhaft-romantische Verzauberung. Zum andern aber wird von einem Ausbruch erzählt aus dem ‚geschichtlichen Gefängnis‘ der historischen Distanz. In einem ‚Wildbad‘ erlangt der Dichterhistoriker das Vergangene zurück, er kann sich durch den Arlesheimer ‚Tunnel der Geschichte‘ geradezu hineinstürzen in die Vergangenheit. So gibt es also auch hier wieder die Imagination der Geschichte als Vergegenwärtigung in einem punktuellen Erlebnis, einer quasi magischen historischen Umformung. Das Produkt dieser Verzauberung durch die wieder gewonnene Präsenz des Vergangenen ist eine als authentisch und rein verstandene mittelalterliche Sprachstufe, ein mittelalterlicheres Mittelalter, wenn man so will, als es die nach Borchardts Ansicht mediokren Bemühungen der wissenschaftlichen Mediävistik bisher zustande gebracht hatten. Wer es, wie Borchardt, schafft, die Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit in einem quasi überhistorischen Präsenzerlebnis zu überwinden, der erhält die wirkliche, die authentische Geschichte, das potenzierte Mittelalter. Ein solches Mittelalter erschrieb sich der Dichtergelehrte auch in seiner essayistischen Studie Pisa – ein Versuch von 1932. Die toskanische Stadt im Mittelalter und ganz besonders das Bauensemble aus Dom, Baptisterium, Campanile und Camposanto im Norden Pisas, das in dem Text in expressiver, bewegter Sprache be-

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Borchardt: Prosa II (wie Anm. 20), S. 507f.

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schrieben wird, sind ihm materielle Zeugnisse einer bedeutenden Zeit.22 Im Pisa des 13. und 14. Jahrhunderts verdichtete sich nach Borchardts Interpretation die ganze europäische Geschichte, historisch wie geographisch, an einem Ort. Das Erbe der südlichen Antike, das Mittelalter und die Gotik aus dem Norden – all dies war in Pisa versammelt. Die Stadt wurde für Borchardt zur imaginären Hauptstadt des universalen römischeuropäischen Reiches, weil in ihr augenblickshaft kondensiert die Idee dieses Reiches Wirklichkeit geworden war und ihre Spuren hinterlassen hat: „Durchbruch“, „Geschichtszeugung“, „seelisches Drama des Augenblicks“, das sind Fügungen, die Borchardt für die Beschreibung Pisas und seiner Kunstdenkmäler gebraucht.23 Er imaginiert so in der Sprache der literarischen Moderne einen Durchbruch einer transzendenten Idee, der Idee des Reiches, in die Wirklichkeit – und diese momenthafte Verwirklichung ist so geschichtsmächtig gewesen, dass sie sich noch immer in den Architektur- und Kunstdenkmälern ablesen lässt. Für den Gegenwärtigen, der diese Hinterlassenschaften entziffern kann, stellt sich wiederum ein Erlebnis der Präsenz, eine Aufhebung der historischen Distanz ein. Dieses Erlebnis einer emphatischen Präsenzerfahrung versucht Borchardt seinerseits mithilfe einer expressiven Rhetorik im Medium der Sprache zu reinszenieren. Auch in diesem Text über die toskanische Stadt finden sich also ein geradezu multipliziertes, potenziertes Mittelalter und die völlige Aufhebung eines linearen temporalen Verlaufs historischer Zeit. Die konsequente Verabschiedung eines solchen Zeitmusters teilt Borchardts Pisa – ein Versuch, bei aller erklärten Feindschaft den Georgeanern gegenüber, mit der fünf Jahre zuvor erschienenen Biographie Kaiser Friedrich der Zweite von Kantorowicz.24 Auch in diesem Buch, das in den späten Weimarer Jahren einen veritablen Historikerstreit auslöste, wird das Mittelalter zum historischen Imaginarium für eine Art transzendenter Übergeschichte, die im kairos, in einem glückhaften Augenblick verdichteter Zeit, Wirklichkeit wird. Das ist die Anwendung von Stefan Georges

22 Vgl. M EIKE STEIGER : Textpolitik. Zur Vergegenwärtigung von Geschichte bei Rudolf Borchardt, Würzburg 2003, bes. S. 123ff.; ferner A NTJE MIDDELDORF KOSEGARTEN : Pisa und die Pisani in der Sicht Rudolf Borchardts. Sein Text ‚Pisa. Ein Versuch‘ von 1932. In: Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen. Hrsg. von ERNST OSTERKAMP, Berlin u. a. 1997, S. 210–231. 23 Borchardt: Prosa III (wie Anm. 17), S. 169, 180 u. 231. 24 Vgl. Eckhart Grünewald: Ernst Kantorowicz und Stefan George. Beiträge zur Biographie des Historikers bis zum Jahre 1938 und zu seinem Jugendwerk ‚Kaiser Friedrich der Zweite‘, Wiesbaden 1982; neuere Forschungen zum Werk des Historikers in Ernst Kantorowicz. Hrsg. von ROBERT L. BENSON /JOHANNES FRIED, Stuttgart 1997 sowie Geschichtskörper. Zur Aktualität von Ernst H. Kantorowicz. Hrsg. von WOLFGANG ERNST/CORNELIA VISMANN, München 1998.

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kunstreligiösen Epiphanien auf die Geschichtsschreibung. Schilderungen und Begriffsfügungen wie „Überfülle“ der Zeit und „Zeitenfülle“ finden sich zuhauf in Kantorowicz’ Buch.25 Dem Stauferkaiser wird, dies führt der Historiker gleichsam in einer Augmentation seines Quellenmaterials aus dem 13. Jahrhundert vor, eine messianische Qualität zugeschrieben: „Diese Zeitenfülle aber würde nunmehr unter dem Zepter des JustitiaKaisers stehen, Friedrichs II., des erwarteten messianischen Herrschers, den die Sibyllen verhießen.“26 In einer auch sprachlich noch einmal gesteigerten Präsentation dieses Geschichtsdenkens wird der Tod des erlösergleichen Herrschers dargestellt: In diesem Augenblick fast unverhoffter glänzender Fülle, da der Welt des Reiches Macht ungebrochen, der Imperator selbst tatfroh und kampfbereit in seiner Vollkraft erschien und mit dem kaiserlichen Europa auch das Morgenland wieder erwartungsvoll und gespannt auf den Weltenkönig die Blicke richtete: in diesem plötzlich gesteigerten Glanze sollte der Kaiser den Seinen entschwinden.27

Hier versammeln sich die Bestandteile des Geschichtskonzepts, das die Biographie repräsentiert, in eindruckvoller sprachlicher Gestaltung. ‚Augenblick‘, ‚Fülle‘, ‚Vollkraft‘, ‚erschien‘ – diese Formulierungen speisen sich aus einer Ideenwelt, auf die sich George und die Seinen beriefen, es ist die ästhetisch überhöhte Imago der kraftvollen, gestaltenden Existenz, ihre momenthafte Ankunft in der Welt, in der realen Zeit. Hier gehen die religiösen, messianischen Vorstellungen mit einem im George-Kreis gepflegten (Neu-) Platonismus eine Verbindung ein, welche im Zeitkonzept vom kairos gipfelt, der ein ewiger Augenblick der Erfüllung ist. ULRICH RAULFF hat dieses Denken prägnant zusammengefasst und es als eine „historische Phänomenologie“ bezeichnet, zu deren Charakteristika nicht nur die auf den Ruhm und die Größe der Dargestellten zielende Historiographie gehört, sondern auch das beschriebene Erscheinen des erlösergleichen Helden in der Welt, das das Verbleiben in einer Schwebe darstellt außerhalb der wirklichen Zeit, eine „Zeitigung“ von ganz eigener Dimension, die nichts mit einer historischen Realzeit zu tun hat. Über George selbst schreibt RAULFF: „Seine Welt pulsierte im Wellenschlag des Erscheinens und Verschwindens; sein junger Gott Maximin existierte praktisch nur als Erscheinender […] – und danach in Georges Erinnerung. Wäre er Philosoph gewesen, George hätte eine Lehre von der sich zeigenden Wahrheit

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Ernst H. Kantorowicz: Kaiser Friedrich der Zweite, Berlin 1927, hier zitiert nach der Neuausgabe, Stuttgart 1998, S. 64, 71 u. ö. 26 Kantorowicz (wie Anm. 25), S. 200. 27 Kantorowicz (wie Anm. 25), S. 524.

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entwickelt.“28 Diese Vorstellung, die zu den Spezifika des kunstreligiösplatonisierenden Gepräges von Georges ‚Lehre‘ gehört, lässt sich mutatis mutandis auch in Kantorowicz’ Biographie wieder finden. Der Kaiser, dessen ganzes Leben einen ewigen Augenblick umfasst hat, der ebenfalls im buchstäblichen Sinne eine Erscheinung war, dieser Kaiser verschwindet nach seinem Tod und bleibt zurück in der Erinnerung. In der Biographie heißt es: Für einen Augenblick sah man in Friedrich II. noch die ganze Herrlichkeit des alten deutschen Römerimperiums erstrahlen, sah kurz vor dem Ende noch einmal in den Pfalzen am Neckar und Rhein den hellen Glanz der Kaiserpracht in einem südlichen Lichte aufglühen und dann rasch für immer verlöschen. Nur bei den Deutschen blieb von dem allen ein Sehnen zurück. Das Reich zu erfüllen aber schien der Sinn dieser Jahre des Friedens.29

Das Mittelalter, das 13. Jahrhundert, wird in dieser Geschichtsschreibung immer wieder kaleidoskopartig neu zusammengesetzt, es figuriert als Vollendung und Neubeginn, als Wiederkunft der antiken Kaiserzeit, als Präfiguration der Renaissance Dantes und als Spiegel der Zeiten napoleonischer Machtanmaßung. Das Mittelalter in Kantorowicz’ Biographie ist die Zeit, in der die überhistorische Idee vom Staatsschöpfer und politischen Künstler der Macht Wirklichkeit wird, die auch in anderen Geschichtsbüchern des George-Kreises beschworen wird. Und all das, was in der Geschichte davor oder danach kommt, ist schon da, es wird in dem Buch immer wieder mitgedacht: Kein 13. Jahrhundert Friedrichs II. ohne Justinian, Augustus und Caesar, ohne Dante und Napoleon. So heißt es denn auch über des Kaisers Staatsschöpfung Sizilien: „Wenig fruchtet darum die Erwägung, ob Friedrichs sizilischer Staat noch dem Mittelalter oder schon der Renaissance angehört: in dem Augenblick der Zeitenfülle gegründet gehört er beiden Altern und keinem von beiden.“30 Auch hier wird Geschichte, die reale Geschichte des 13. Jahrhunderts, zur Übergeschichte, die immer präsent ist – zumindest für die, die sich ihr zugehörig fühlen, die das ‚Sehnen‘, das der Kaiser zurück gelassen hat, nachempfinden können. Wie viel politische Vision für die Gegenwart in diesem Überkaiser aus dem Jahr 1927 steckt, diese Frage ist immer wieder erörtert worden und lässt sich kaum einfach beantworten. Dagegen spricht, dass Kantorowicz die mittelalterliche Welt des Staufers als Verwirklichung einer humanistisch

28 ULRICH R AULFF : Ernst Kantorowicz – Die zwei Werke des Historikers. In: Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften II. Hrsg. von H ARTMUT L EHMANN /O TTO GERHARD OEXLE , Göttingen 2004, S. 451–469, hier S. 464. 29 Kantorowicz (wie Anm. 25), S. 286f. 30 Kantorowicz (wie Anm. 25), S. 196.

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durchdrungenen europäischen Geschichtssynthese imaginiert. Er zeichnet das Bild eines apollinisch-friedvollen Imperiums unter dem Staufer, der „jenes erträumte europäisch-deutsche Menschenbild verkörpert“ und eine Zeit der „schönen Form des römischen Deutschen“ bringt, der zudem die umfassende Einheit einer „Weltfriedensstimmung“ wahr werden lässt.31 Hier ist die Nähe zu Borchardts ‚Reichshauptstadt‘ Pisa am größten; beide Geschichtsevokationen spiegeln die Vision eines ‚Römischen Deutschland‘, das jenseits realpolitischer nationaler Umbruchshoffnungen in der späten Weimarer Zeit einen europäischen Traditionsbestand, eine Bilder- und Wertewelt aufruft.32 Für eine politische Deutung des Buches hingegen sprechen – neben anderem – die Anspielungen, die Kantorowicz an entscheidender Stelle mit der messianischen Qualität des Kaisers verwebt. „‚Er lebt und lebt nicht‘... nicht mehr den Kaiser: des Kaisers Volk meint der Spruch der Sibylle.“33 Mit diesem Satz endet die Biographie. Sie beginnt in gleichem Tonfall mit einer Vorbemerkung, in der der Verfasser seiner Vermutung Ausdruck verleiht, „daß auch in andern als gelehrten Kreisen eine Teilnahme für die großen deutschen Herrschergestalten sich zu regen beginne – gerade in unkaiserlicher Zeit.“34 Der Gewaltherrscher Friedrich II., der ohne Rücksicht seine Welt aus sich selbst erschafft – im Lichte dieser Äußerungen Kantorowicz’ konnte (und kann) die Biographie auch als ein subtiler Kommentar zur politischen Situation der Zeit gelesen werden. Es sind diese Doppeldeutigkeiten in politicis, die bis heute die Problematik nicht nur des Kaiser-Buches, sondern des Phänomens George-Kreis im Allgemeinen ausmachen.35 Eine solche Feststellung führt zu der Frage, welche Reaktionen derlei Geschichtskonstruktionen gezeitigt haben, die auf dem Höhepunkt der ‚Krise des Historismus‘ in den 1920er und frühen 1930er Jahren in Szene gesetzt wurden. Welche Konsequenzen ästhetischer und politischer Natur bringen diese Inanspruchnahmen der Geschichte mit sich, in denen die historische Zeit machtvoll aufgehoben und in eine Übergeschichte oder einen Augenblick reiner Präsenz transzendiert wurde, in denen die Epochengrenzen zugunsten einer verdichteten Gleichzeitigkeit überwunden

31 32

Kantorowicz (wie Anm. 25), S. 298, 315 u. 324. Vgl. GUSTAV SEIBT: Römisches Deutschland. Ein politisches Motiv bei Rudolf Borchardt und Ernst Kantorowicz. In: Sinn und Form (1994), H. 1, S. 61–71. 33 Kantorowicz (wie Anm. 25), S. 528. 34 Ernst H. Kantorowicz: Kaiser Friedrich der Zweite, Berlin 1927, Vorbemerkung (unpaginiert). 35 Vgl. dazu die Deutung von ROBERT E. NORTON : Secret Germany. Stefan George and his Circle, Ithaca/NY u. a. 2002, der besonders den problematischen Charakter des Kreises betont, sowie dagegen THOMAS K ARLAUF : Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007.

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wurden? Hat sich, so ist zu fragen, ein Zeitgenosse kritisch geäußert gegen diese Geschichtsbilder, in denen das Mittelalter eine nicht ganz unbedeutende Rolle spielte? Es hat, und dieser Zeitgenosse war Thomas Mann.36 Schon im Zauberberg von 1924 hatte er mit der Figur des kommunistischen Mittelalterbeschwörers Leo Naptha die gefährliche und implosive Kraft einer Zusammenführung mittelalterlicher Denkbestände mit den politischen Forderungen der Gegenwart vorgeführt. Der lungenkranke Gelehrte träumt von einer Wiederbelebung des mittelalterlichen Gedankens vom Gottesstaat, und als neuzeitliche Sachwalter dieser Idee hat er die Kommunisten ausgemacht: Die Übereinstimmung ist vollkommen bis hinein in den Sinn des Herrschaftsanspruchs, den die internationale Arbeit gegen das internationale Händler- und Spekulantentum erhebt, das Weltproletariat, das heute die Humanität und die Kriterien des Gottesstaates der bürgerlich-kapitalistischen Verrottung entgegenstellt. […] Das Proletariat hat das Werk Gregors aufgenommen, sein Gotteseifer ist in ihm, und so wenig wie er wird es seine Hand zurückhalten dürfen vom Blute. Seine Aufgabe ist der Schrecken zum Heile der Welt und zur Gewinnung des Erlösungsziels, der staats- und klassenlosen Gotteskindschaft.37

Welche Politik diese Kreuzung des alten Ideengutes mit dem neuen hervorbringen soll, führt Naptha in einem weiteren Rededuell mit dem Aufklärer Settembrini mit allem Nachdruck aus: „Nicht Befreiung und Entfaltung des Ich sind das Geheimnis und das Gebot der Zeit. Was sie braucht, wonach sie verlangt, was sie sich schaffen wird, das ist – der Terror.“38 Thomas Mann modellierte hier eine idealtypische intellektuelle Biographie der Zwischenkriegsjahre in extremis – wichtige Teile von Naphtas Redebeiträgen verfasste er im Sommer 1922 unter dem Eindruck des Mordes an Reichsaußenminister Rathenau am 24. Juni des Jahres.39 Noch deutlicher wurde Thomas Mann jedoch in seiner großen literarischen Interpretation der deutschen Geschichte aus der amerikanischen Exilzeit, im Doktor Faustus aus dem Jahr 1947. Er schildert in seinem ‚Deutschlandroman‘ die intellektuellen Debatten der Weimarer Zeit und die in ihnen aufgerufenen Geschichtsbilder: 36 Vgl. zum weiteren Kontext BASTIAN SCHLÜTER : Thomas Manns Mittelalter. In: Thomas Manns kulturelle Zeitgenossenschaft. Hrsg. von TIM L ÖRKE /CHRISTIAN MÜLLER , Würzburg 2009, S. 77–88. 37 Thomas Mann: Der Zauberberg. Hrsg. von MICHAEL NEUMANN, Frankfurt/M. 2002, S. 608f.; vgl. zu Thomas Manns Quellen für die Naphta-Figur H ANS WISSKIRCHEN : Zeitgeschichte im Roman. Zu Thomas Manns ‚Zauberberg‘ und ‚Doktor Faustus‘, Bern 1986, bes. S. 65ff. 38 Thomas Mann: Der Zauberberg (wie Anm. 37), S. 604. 39 Vgl. zur Bedeutung des Rathenau-Mordes für Thomas Manns politisches Denken TERENCE JAMES R EED : Thomas Mann. The Uses of Tradition, London 1974, S. 279ff.

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Es war eine alt-neue, eine revolutionär rückschlägige Welt, in welcher die an die Idee des Individuums gebundenen Werte, sagen wir also: Wahrheit, Freiheit, Recht, Vernunft, völlig entkräftet und verworfen waren oder doch einen von dem der letzten Jahrhunderte ganz verschiedenen Sinn angenommen hatten, indem sie nämlich der bleichen Theorie entrissen und blutvoll relativiert, auf die weit höhere Instanz der Gewalt, der Autorität, der Glaubensdiktatur bezogen waren, – nicht etwa auf eine reaktionäre, gestrige oder vorgestrige Weise, sondern so, daß es der neuigkeitsvollen Rückversetzung der Menschheit in theokratisch mittelalterliche Zustände und Bedingungen gleichkam.40

In dieser Passage nahm Thomas Mann seine eigenen Diagnosen des Geschichtsdenkens der Weimarer Zeit, wie er sie schon im Zauberberg literarisch umgesetzt hatte, wieder auf. Mit der angeführten Schilderung ist die Physiognomie eines Denkens nachgezeichnet, welches schon Naphta geprägt hatte, welches Thomas Mann nun als ein Zurückschauender noch differenzierter analysieren konnte – die ‚theokratisch mittelalterlichen Zustände‘ werden zur Zukunftsvision.41 Weiter heißt es: Das war so wenig reaktionär, wie man den Weg um eine Kugel, der natürlich herum-, d. h. zurückführt, als rückschrittlich bezeichnen kann. Da hatte man es: Rückschritt und Fortschritt, das Alte und Neue, Vergangenheit und Zukunft wurden eins, und das politische Rechts fiel mehr und mehr mit dem Links zusammen.42

Die Überwindung der Moderne durch die Vormoderne ist das – oder mehr noch: Die Synthese von beiden zu einer Übermoderne, die extremste Zurichtung des Mittelalters als Zukunft, die in einem Akt des politischen, des umfassenden Umsturzes errungen werden soll.43 Hier geht es, so kann man aus Thomas Manns prägnantem Bild von der Kugel folgern, nicht um die Anbetung der Vergangenheit. Es geht um die völlige Aufhebung des überkommenen historistischen Epochen- und Entwicklungsdenkens zugunsten eines Zusammenfalls, eines Zusammenpralls der Geschichte im Sinne eines gewaltsamen Umbruchs. Die Beschreibung dieser radikalen Konstruktion des geschichtlichen Verlaufs bietet in ihrer literarischen Verdichtung eine eindringliche Charakteristik kulturkritischen Denkens, das 40 Thomas Mann: Doktor Faustus. Hrsg. von RUPRECHT WIMMER , Frankfurt/M. 2007, S. 534f. 41 Thomas Mann hat besonders für die Beschreibung dieser Zeit im Doktor Faustus seine Tagebücher aus den Jahren 1918 bis 1921 aufbewahrt und sie auch, bis hin zu wörtlichen Übernahmen, genutzt. 42 Thomas Mann: Doktor Faustus (wie Anm. 40), S. 535. 43 Vgl. zum Begriff der Übermoderne R ICHARD HERZINGER : Die Überbietung als ästhetische und politische Grundfigur der ‚rechten Moderne‘. Der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik und seine Herkunft aus der politischen Romantik. In: Kunst Macht Gewalt. Hrsg. von ROLF GRIMMINGER , München 2000, S. 105–125.

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zu politischen Umbruchshoffnungen kondensiert wurde. Thomas Mann zeichnet so die gefährliche Seite eines derart prononcierten und ins Politische gewendeten Antihistorismus nach. Im Doktor Faustus wird die Deutung allerdings noch weiter geführt, wird der Kulmination eines solchen Geschichtsdenkens auf anderem Feld nachgespürt. Bezeichnenderweise ist es ein ästhetisches Artefakt, in dem Thomas Mann diesen Aufeinanderprall von Vormoderne und Moderne metaphorisch darstellt, die Apocalipsis cum figuris seines Komponisten Adrian Leverkühn. In diesem von Dürer inspirierten Chorwerk kombiniert Leverkühn „ein neuigkeitsvolles Zurückgehen über Bachs und Händels bereits harmonische Kunst hinaus in die tiefere Vergangenheit echter Mehrstimmigkeit“ mit ganz und gar Neuem, mit „zu rein infernalischen Zwecken benutzten Jazz-Klänge[n]“. Der Effekt dieses Zusammenpralls wird von der Erzählerfigur des Romans in einer prägnanten Formulierung umschrieben: als „explodierende Altertümlichkeit“. Daran schließt sich in der Lesart des Romans die These vom „Ästhetizismus als Wegbereiter der Barbarei“ an.44 Das ist, folgt man Thomas Mann, der Höhepunkt der Selbstermächtigung moderner Ästhetik, die in souveränem Zugriff eine gefährliche Kombinatorik historischer Versatzstücke ausbildet; gefährlich dann, wenn man sie als Korrelat politischer Inanspruchnahmen der Geschichte versteht, als ihre dialektische Entsprechung.45 Dies ist bis heute eine gewichtige These, ob sie in dieser Zuspitzung zutrifft, soll hier nicht diskutiert werden. Am Beispiel von Ernst Kantorowicz’ Biographie ist jedoch auf die (politische) Ambiguität der Geschichtsbilder, der Mittelalterimaginationen, hingewiesen worden. Ein radikalisiertes Geschichtsdenken mag als intellektuelle und ästhetische Analogie zu einer radikalisierten Politik zu verstehen sein, die Mittelalterbilder figurieren aber auch als konservative Träger einer europäischen Bildungswelt, deren Präsenz in ästhetischer Einfassung evoziert wurde. Beides, nicht nur das Problematische, findet sich. Dennoch ist nicht zu vergessen, dass Thomas Manns literarische Interpretation der deutschen Geschichte zu einer Zeit entstand, in den frühen 1940er Jahren, als Krieg und nationalsozialistische Herrschaft in Deutschland noch Gegenwart waren. Dieser Gegenwart und 44 Thomas Mann: Doktor Faustus (wie Anm. 40), S. 540, 547 u. 541. 45 Vgl. dazu H ANS RUDOLF VAGET: Seelenzauber. Thomas Mann und die Musik, Frankfurt/M. 2006, bes. S. 379ff.; zu Thomas Manns Deutung der deutschen Geschichte im Doktor Faustus ders.: Kaisersaschern als geistige Lebensform. Zur Konzeption der deutschen Geschichte in Thomas Manns ‚Doktor Faustus‘. In: Der deutsche Roman und seine historischen und politischen Bedingungen. Hrsg. von WOLFGANG PAULSEN, Bern u. a. 1977, S. 200–235; HERFRIED MÜNKLER : Wo der Teufel seine Hand im Spiel hat. Thomas Manns Deutung der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. In: Thomas Mann. Doktor Faustus 1947–1997. Hrsg. von WERNER RÖCKE , Bern u. a. 2001, S. 89–107.

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dem historischen Weg, der zu ihr geführt hatte, galten Thomas Manns historiographische Anstrengungen im Roman. Es ist bezeichnend, dass diese literarische Deutung des deutschen Weges in die Katastrophe auch eine Geschichte des Geschichtsdenkens und seiner ästhetischen Verfügbarkeit mit einbezieht. Früh wie kaum ein Historiograph entwickelte Thomas Mann eine beeindruckende Sensibilität für diesen wichtigen Teil deutscher Geistes- und Kulturgeschichte. Das Vorhaben einer Geschichte des Geschichtsdenkens wird, dies sollten die vorangegangenen Ausführungen zeigen, besonders auf einem sich ausdehnenden ästhetischen Feld der Klassischen Moderne fündig, in welchem die in der ‚Krise des Historismus‘ freigesetzten historischen Wissensbestände und Epochenordnungen aufgegriffen und in souveränem Zugriff präsentiert wurden. Hierbei wurde nicht selten die Vergangenheit in einem radikalen Augenblicks- oder Präsenserlebnis imaginiert. Gegenwart und Vergangenheit konnten in einer solchen ästhetischen Inanspruchnahme zusammenfallen, die Vergangenheit wurde der Gegenwart in einem überhistorischen Ideenreich zugänglich gemacht, das augenblickshaft Wirklichkeit werden kann – oder aber, so beschreibt dies Thomas Mann in kritischer Absicht, Vormodernes und Modernes wurden in harter Fügung aneinander gestellt, sie wurden schließlich zur ‚explodierenden Altertümlichkeit‘. In diesem Sinne ist der Blick auf die Mittelalterbilder der Moderne nicht nur dann ertragreich, wenn er auf ihre materiale Füllung schaut, sondern auch in der Perspektive auf ihre formale Seite. Denn diese verweist darauf, wie überhaupt Geschichte in der Moderne denkbar ist und wie sie jenseits des seit der Sattelzeit dominierenden Paradigmas des Historismus verfügbar gemacht wird.

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„Des weiten Innenreiches mitte“ Mittelalter-Imaginationen in der Dichtung Stefan Georges Stefan George, geboren 1868 in Büdesheim bei Bingen am Rhein, gestorben 1933 im Schweizerischen Minusio, wurde in einer Zeit groß, in der Mittelalter-Deutungen nicht nur im schulischen, sondern auch im gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben allgegenwärtig waren. Für George muss diese ferne Vergangenheit umso präsenter gewesen sein, als er in einer Gegend aufwuchs, die wie kaum eine andere in Deutschland mit dem Mittelalter verbunden wurde: im Rheinland. Dort bildeten die Ruinen mittelalterlicher Burgen und Schlösser entlang des Flussufers eine pittoreske Silhouette – Baudenkmäler wie Mythen und lokale Sagen waren ein wesentlicher Bestandteil der Rheinromantik. Unter anderen schufen Friedrich Schlegel, Achim von Arnim, Clemens Brentano, der junge Ludwig Uhland, Fouqué, Joseph von Eichendorff und Heinrich Heine bedeutende Rheindichtungen, die vor allem das Mittelrheintal zur prototypischen deutschen Seelenlandschaft stilisierten und zusätzlich Touristen ins Rheinland lockten.1 Allerdings spielte der Rhein aufgrund seiner geographischen Lage an der Grenze zwischen Deutschland und Frankreich seit der Napoleonischen Zeit und den Befreiungskriegen verstärkt auch eine politische Rolle im Verhältnis der beiden rivalisierenden Nachbarn. So wurde die literarische Rheinromantik von einer politischen Rheinromantik abgelöst.2 Zahlreiche patriotische Rheinlieder wie etwa Nikolaus Beckers Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein und Max von Schenkendorfs Die Wacht am Rhein begleiteten die Rheinkrise von 1840.

1 2

Vgl. GERTRUDE CEPL -K AUFMANN /A NTJE JOHANNING : Mythos Rhein. Zur Kulturgeschichte eines Stromes, Darmstadt 2003, S. 99–132. HORST JOHANNES TÜMMERS : Der Rhein. Ein europäischer Fluß und seine Geschichte, 2. Aufl. München 1999, S. 212.

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Ende des 19. Jahrhunderts umgab den Rhein ein dichtes Netz von mittelalterlichen Erinnerungsorten, touristischen Pilgerwegen und nationalen Gedenkstätten wie etwa das Niederwalddenkmal in Rüdesheim (1883) und das Deutsche Eck in Koblenz (1897) (vgl. Abb. 1).3 Wer wie George im Rheinland lebte und schrieb, konnte folglich die Präsenz des Mittelalters kaum ignorieren, sondern musste sich in irgendeiner Weise dazu verhalten, sei es affirmativ oder ablehnend. George hat große Teile seines Lebens in Bingen verbracht, unterbrochen durch kürzere oder längere Aufenthalte bei seinen Jüngern in Berlin, München oder Heidelberg. Neben den Burgen und Schlössern, die längs des Rheins das Bild der Landschaft prägten, konnte George von Bingen aus auf der gegenüberliegenden Rhein-Seite auch das Niederwalddenkmal mit der Germania sehen. Rheinromantik und wilhelminisch-antifranzösische Repräsentation lagen hier also dicht beieinander (vgl. Abb. 2 u. 3). Beide finden ihren Niederschlag in Georges Vorstellungswelt, sowohl in den Mittelalter-Imaginationen in seiner Dichtung als auch in Selbstaussagen wie der folgenden: Unsere Bildung besteht aus sehr vielen Elementen: das griechisch-römische ist eins davon, dann das Mittelalter. In einer idyllischen Natur fühlt man sich aufgeregt zu idyllischen Bildern, am Rhein bei den verwitterten Ritterburgen sucht man grosse ritterliche.4

Was leisten die Mittelalter-Imaginationen in Georges Werk? In welchem Rahmen treten sie auf und mit welcher Funktion? In welchem kulturellen Kontext stehen Georges Mittelalter-Imaginationen? Um diese Fragen zu beantworten, wird in einem ersten Schritt zunächst ein Überblick über Genese, Gestalt und Entwicklung eines ‚Mediävalismus‘ in Georges Dichtung geboten. In einem zweiten Schritt wird Georges Mediävalismus in einer exemplarischen Fallstudie vorgeführt.

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4

Vgl. Wallfahrtsstätten der Nation. Vom Völkerschlachtdenkmal zur Bavaria. Hrsg. von H ANS JÜRGEN KOCH, Frankfurt/M. 1971; JENS EIKE SCHNALL : Zementiertes Deutschtum – Wagner, Siegfried und andere Götter in der Nibelungenhalle zu Königswinter. In: Runica – Germanica – Mediaevalia. Hrsg. von WILHELM HEIZMANN /A STRID VAN NAHL , Berlin u. a. 2003, S. 727–758. So, laut A LBERT VERWEY, George im Jahre 1896. A LBERT VERWEY: Mein Verhältnis zu Stefan George. Erinnerungen aus den Jahren 1895–1928, Straßburg 1936, S. 15.

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1. Drei Phasen des ‚Mediävalismus‘ in der Dichtung Stefan Georges Anders als der Begriff ‚Renaissancismus‘5 ist der Begriff ‚Mediävalismus‘ in der germanistischen Forschung bisher noch nicht fest etabliert.6 Daher sei der Begriff, wie er im Folgenden verwendet wird, kurz definiert. ‚Mediävalismus‘ ist als ein doppelseitiges Phänomen zu verstehen, das zum einen aus rezeptiven, zum anderen aus imaginativen Prozessen resultiert. In Anlehnung an ANDREA POLASCHEGGs Arbeiten zum Orientalismus fallen unter ‚Mediävalismus‘ somit zum einen alle Arten von Bezugnahmen auf das Mittelalter, das heißt seine Thematisierung und Darstellung, seine motivische und metaphorische Aktualisierung sowie die Übernahme mittelalterlicher Elemente wie etwa Stile, Gattungen oder Vokabular.7 Zum anderen zählen dazu die „Sinneffekte dieser Bezugnahmen“, mithin die performative Entstehung von „Mittelalter“.8 Der ‚Mediävalismus‘ entsteht also aus dem Zusammenspiel von Mittelalter-Rezeption und MittelalterImagination. In der Dichtung Stefan Georges lassen sich drei Phasen des Mediävalismus schematisch klassifizieren: Eine Phase des ‚ästhetischen Mediävalismus‘ (1890–1900), eine Phase des ‚zeitkritischen Mediävalismus‘ (1900–1914) und eine Phase des ‚monumentalischen Mediävalismus‘ (1914–1933). Die Phasen lassen sich folgendermaßen charakterisieren: In der ersten Phase des ‚ästhetischen Mediävalismus‘ entstehen, unter anderem angeregt durch Schul- und Studienlektüren,9 Gedichte in mittelalterlichem Stil. Das erste Gedicht mittelalterlichen Kolorits hat George 5

6

7

8 9

GERD UEKERMANN : Renaissancismus und Fin de siècle. Die italienische Renaissance in der deutschen Dramatik der letzten Jahrhundertwende, Berlin 1985; Renaissance und Renaissancismus von Jacob Burckhardt bis Thomas Mann. Hrsg. von AUGUST BUCK, Tübingen 1990. Im Gegensatz zur (kulturwissenschaftlich orientierten) Geschichtswissenschaft, die den in der angloamerikanischen Forschung geläufigen Begriff ‚medievalism‘ schon früher übernommen hat. Vgl. dazu auch LUDOLF KUCHENBUCH : Mediävalismus und Okzidentalistik. Die erinnerungskulturellen Funktionen des Mittelalters und das Epochenprofil des christlichfeudalen Okzidents. In: Handbuch der Kulturwissenschaften. Hrsg. von FRIEDRICH JAEGER /BURKHARD L IEBSCH, Stuttgart 2004, Bd. 1, S. 490–505. A NDREA POLASCHEGG : Die Regeln der Imagination. Faszinationsgeschichte des deutschen Orientalismus zwischen 1770 und 1850. In: Der Deutschen Morgenland. Bilder des Orients in der deutschen Literatur und Kultur von 1770 bis 1850. Hrsg. von CHARIS GOER / MICHAEL HOFMANN, München 2008, S. 13–36, hier S. 15. Vgl. auch A NDREA POLASCHEGG : Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin 2005. POLASCHEGG : Die Regeln der Imagination (wie Anm. 7), S. 15. Eine Aufstellung der möglichen Quellen findet sich bei UTE OELMANN : Das Mittelalter in der Dichtung Georges. Ein Versuch. In: Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur

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auf französisch verfasst. George gab ihm den Titel Variations sur thèmes germaniques10 und schickte es seinem Pariser Freund Albert Saint-Paul im Januar 1893 zur Beurteilung: „Qu’est-ce qu’il vous semble franchement de ces vers? L’Allemagne commence à me dégouter“.11 George trug sich zu dieser Zeit mit dem Plan, fortan nicht mehr auf deutsch, sondern auf französisch zu dichten. Saint-Pauls Reaktion war verhalten, und so gab George den Plan wenig später auf. Sein mediävalisierendes Gedicht übersetzte er zurück ins Deutsche. Festzuhalten aber bleibt, dass Georges Dichtung in diesen Jahren unter dem Eindruck des französischen Symbolismus stand. Bereits 1889 hatte er bei einer seiner Paris-Reisen Mallarmé, Verlaine und andere führende Vertreter des Symbolismus persönlich kennengelernt und betätigte sich als Vermittler der französischen literarischen Avantgarde in Deutschland. Auch seine mediävalisierenden Gedichte präsentierte George ganz im Sinne der symbolistischen Poetik als „spiegelungen einer seele, die vorübergehend in andere zeiten und orte geflohen ist und sich dort gewiegt hat“.12 George stellte diese Gedichte unter den Überschriften Sagen und Sänge eines fahrenden Spielmanns zu einem Zyklus zusammen, der den Mittelteil der 1895 veröffentlichten Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten bildet. Antike, Mittelalter und Orient stehen hier gleichberechtigt nebeneinander, als „unsere drei grossen bildungswelten“, wie George in der Vorrede schrieb.13 Im Buch der Sagen und Sänge finden sich Gedichte, die mittelalterliche Motive, Gestalten und Genres aufgreifen und – im Stil des „simulierenden Historismus“14 – den Ton mittelalterlicher Minnelieder anklingen lassen. In moderner Brechung kreisen die Gedichte um die Themenwelt des höfischen Mittelalters, Rittertum, Minnedienst und Marienverehrung. Das Mittelalter wird zum Projektionsraum einer fingierten kindlichen Naivität und dient als Staffage, Dekorum und Maskierung.

10 11 12 13 14

Wissenschaft. Hrsg. von BARBARA SCHLIEBEN /OLAF SCHNEIDER /K ERSTIN SCHULMEYER , Göttingen 2004, S. 133–145. STEFAN GEORGE : Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten. In: Ders.: Sämtliche Werke, Stuttgart 1991, Bd. 3, S. 128 f. „Ganz ehrlich, was halten Sie von diesen Versen? Deutschland beginnt mich anzuwidern.“ Stefan George an Albert Saint-Paul, 5.1.1893, Stefan George-Archiv (abgedruckt in: STEFAN GEORGE : Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte, S. 128). Zur Entstehungsgeschichte der Vorrede vgl. JOACHIM W. STORCK : Das Bild des Mittelalters in Stefan Georges ‚Buch der Sagen und Sänge‘. In: Mittelalter-Rezeption II. Hrsg. von JÜRGEN KÜHNEL , Göppingen 1982, S. 419–437. STEFAN GEORGE : Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte (wie Anm. 10), S. 7. MORITZ BAßLER /CHRISTOPH BRECHT/DIRK NIEFANGER u. a.: Historismus und literarische Moderne, Tübingen 1996, S. 29–31.

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Die zweite Phase des Mediävalismus in Georges Werk, zeitlich etwa von 1900 bis 1914 anzusetzen, ist weniger offensichtlich. Denn nach dem Buch der Sagen und Sänge wendet sich kein Zyklus mehr exklusiv dem Mittelalter zu. Jedoch finden sich in den darauffolgenden Gedichtbänden Der Teppich des Lebens von 1900, Der Siebente Ring von 1907 und Der Stern des Bundes von 1914 mehrere einzelne Gedichte und Gedichtfolgen mit mittelalterlichen Bezügen, die in der Zusammenschau die Konturen eines ‚zeitkritischen Mediävalismus‘ zeigen. In dieser zweiten Phase des Mediävalismus in Georges Werk fungiert das Mittelalter vor allem als Gegenbild zur Moderne. Anspielungen auf mittelalterliche Kaiser, Kunstwerke und Erinnerungsorte wie etwa den Bamberger Reiter oder die Tausendjährige Rose am Dom zu Hildesheim werden zur expliziten Zeitkritik eingesetzt. Zudem erlangen mittelalterliche Gemeinschaftsformen und mystische Modelle konstitutive Bedeutung für das Selbstverständnis des George-Kreises, der sich seit etwa 1900 formiert. Im Stern des Bundes, dem Brevier des Männerbunds, spielt George mit Reminiszenzen an den Templerorden. Für sein eigenes, gegenwartskritisches Projekt instrumentalisiert George Mittelalter-Reminiszenzen im ‚kulturellen Gedächtnis‘, das Artefakte verschiedener Kunstsparten und historische Gesellschaftsformen archiviert. Die dritte Phase des Mediävalismus in Georges Werk ist etwa auf die Jahre 1914 bis Georges Tod 1933 zu datieren. Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs markieren für George und seine Jünger einen tiefen Einschnitt. Die Mittelalter-Imaginationen des George-Kreises weisen von nun an einen Zug auf, der mit Friedrich Nietzsches Adjektiv für eine bestimmte Art der Geschichtsbetrachtung „monumentalisch“15 genannt werden kann. Diese dritte Phase des ‚monumentalischen Mediävalismus‘ ist bei George selbst nur schwach ausgeprägt, einhergehend mit seiner nachlassenden dichterischen Produktivität nach dem Ersten Weltkrieg. Georges letzter Gedichtband Das Neue Reich erscheint 1928 und versammelt alle Gedichte, die seit 1909 entstanden sind. Eines der zentralen Gedichte darin trägt den Titel Burg Falkenstein. Dieses Ruinengedicht greift mediävalisierende Motive der früheren Dichtung wieder auf und feiert die Epiphanie des Heroischen aus deutscher Landschaft und Geschichte. Georges poetische Kaiserträume lösen sich hier im Mythischen auf und bleiben letztlich unbestimmt. Nicht mehr George selbst, sondern seine Schüler schreiben nun die Idee von einem ‚neuen Reich‘ und einem ‚neuen Mittelalter‘ fort, eine Idee, die nach dem Ersten Weltkrieg als Gegenentwurf zur parlamentarisch-

15

Siehe Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Stuttgart 1970. S. 19.

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demokratischen Republik westlicher Prägung auch in anderen Kreisen an Einfluss gewinnt.16 Der George-Kreis propagiert eine diffuse, konservative Reichsmystik, die über die an deutschen Universitäten lehrenden ‚Jünger‘ bis in die Wissenschaft ausstrahlt. Wolfram von den Steinen und Ernst Kantorowicz machen sich daran, „wesenhafte deutsche heroische Erscheinungen aus der deutschen Geschichte herauszutreiben“,17 wie es Berthold Vallentin 1920 in einem Gespräch mit Stefan George gefordert hatte. So entstehen die großen, an Nietzsches Leitsätzen geschulten ‚monumentalischen‘ Historiographien, Kantorowicz’ Monographie über Kaiser Friedrich II. (1927) und von den Steinens fünfbändige Reihe Helden und Heilige des Mittelalters (1926–28). Die Problematik, aber auch die lohnende Perspektive des Mediävalismus bei George soll nun anhand eines besonders vielschichtigen Gedichts aus Georges mittlerer Werkphase genauer vorgeführt werden: Rhein: I – Rhein: VI aus dem Siebenten Ring (1907).

2. Subversiver Mediävalismus: Rhein: I – Rhein: VI Nach den Erinnerungen des mit George befreundeten holländischen Dichters Albert Verwey entwarf George bereits im August 189918 in einem Gespräch mit Verwey „ein Bild von dem grossen Gedicht, das er schreiben möchte: der Rhein, von seinem Ursprung bis zu seinem Ende, und worin er all sein deutsches Fühlen und Trachten vereinigen möchte. Ein Vermächtnis für Jüngere sollte es sein, und sowohl dichterisch wie staatsmännisch für sie ein Wegweiser.“19 Teile dieses geplanten großen RheinGedichts erschienen 1907 im Siebenten Ring und eröffnen dort die zweite Abteilung des siebten Kapitels Tafeln, epigrammartigen Gedichten auf Städte und Kunstwerke.20

16

M ARCUS THOMSEN : „Ein feuriger Herr des Anfangs…“. Kaiser Friedrich II. in der Auffassung der Nachwelt, Ostfildern 2005, S. 213f. 17 Gespräch vom 11. Januar 1920 in Berlin. BERTHOLD VALLENTIN : Gespräche mit Stefan George. 1902–1931, Amsterdam 1967, S. 50f. 18 H ANS -JÜRGEN SEEKAMP /R AYMOND C. OCKENDEN /M ARITA K EILSON : Stefan George – Leben und Werk. Eine Zeittafel, Amsterdam 1972, S. 90. 19 VERWEY (wie Anm. 4), S. 25–26. 20 Unklar ist, ob es sich bei den sechs Rhein-Tafeln bereits um das fertige ‚große Gedicht‘ handelt oder ob die Tafeln nur als Teil eines größeren Zyklus geplant waren. Vgl. VERWEY (wie Anm. 4), S. 25; E DGAR SALIN : Um Stefan George. Erinnerung und Zeugnis, 2. Aufl. München 1954, S. 257 u. 348; ERNST MORWITZ : Kommentar zu dem Werk Stefan Georges, 2. Aufl. Düsseldorf u. a. 1969, S. 324; STEFAN GEORGE : Der siebente Ring. In: Ders.: Sämtliche Werke, Stuttgart 1986, Bd. VI/VII, S. 230.

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RHEIN: I Ein fürstlich paar geschwister hielt in frone Bisher des weiten Innenreiches mitte. Bald wacht aus dem jahrhundertschlaf das dritte Auch echte kind und hebt im Rhein die krone. RHEIN: II Einer steht auf und schlägt mit mächtiger gabel Und spritzt die wasser güldenrot vom horte .. Aus ödem tag erwachen fels und borte Und pracht die lebt wird aus der toten fabel. RHEIN: III Dann fährt der wirbel aus den tiefsten höllen Worin du donnerst bis zur Ersten Stadt · Drängt von der Silberstadt zur Goldnen Stadt Soweit die türme schaun vom heiligen Köllen. RHEIN: IV Nun fragt nur bei dem furchtbaren gereut Ob sich das land vor solchem dung nicht scheut! Den eklen schutt von rötel kalk und teer Spei ich hinaus ins reinigende meer. RHEIN: V Dies ist das land: solang die fluren strotzen Von korn und obst · am hügel trauben schwellen Und solche türme in die wolken trotzen – Rosen und flieder aus gemäuern quellen. RHEIN: VI Sprecht von des Festes von des Reiches nähe – Sprecht erst vom neuen wein im neuen schlauch: Wenn ganz durch eure seelen dumpf und zähe Mein feurig blut sich regt · mein römischer hauch!21

Die sechs Rhein-Tafeln bestehen formal aus vorwiegend umarmend reimenden, jambischen Fünfhebern und gliedern sich inhaltlich in drei Abschnitte: Rhein: I und II beschwören den Mythos; Rhein: III und IV beschreiben die Topographie; Rhein: V und VI werden zur Prophetie. Betrachtet man die Personalpronomina, ist alternativ auch eine Gliederung in zwei Teile möglich: Rhein: I – III lassen sich als Ansprache an den Rhein, Rhein: IV – VI als Antwort des Rheins verstehen. Rhein: I und II entwickeln den ‚Mythos Rhein‘ aus Anspielungen auf verschiedene mythische Topoi, die an kulturelles Vorwissen appellie-

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George: Der siebente Ring (wie Anm. 20), S. 174f.

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ren und Assoziationen freisetzen: So erinnert der ‚jahrhundertschlaf‘ zum einen an die Kyffhäusersage vom schlafenden Kaiser im Berg, zum anderen aber auch an Schlafvorstellungen aus dem Märchen, etwa wie bei Dornröschen, oder auch an die mit dem Schlafdorn gestochene Walküre im Altnordischen. Die ‚mächtige gabel‘ lässt an Poseidon denken oder auch an Vater Rhein, der auf manchen Darstellungen mit einem Dreizack abgebildet ist. Das ‚wasser güldenrot vom horte‘ erinnert schließlich an das Nibelungenlied und Richard Wagners Rheingold.22 Rhein: III und IV verfolgen den Flusslauf von Quellen und Rheinfall (‚aus den tiefsten höllen‘) über Basel (die ‚Erste Stadt‘), Straßburg (‚Silberstadt‘ vom römischen Namen Argentoratum), Mainz (die ‚Goldene Stadt‘ vom mittelalterlichen Ehrentitel Aurea Moguntia) und Köln (das ‚heilige Köllen‘ / sancta Colonia) bis hin zur Mündung in die Nordsee (das ‚reinigende meer‘). Der Fluss transportiert dabei Sediment und Schlamm (‚eklen schutt‘). Rhein: V entwirft mit biblischem Gestus das Bild einer paradiesischen Landschaft mit üppiger Vegetation. Selbst aus dem Leblosen wächst Lebendiges, aus den Mauern wachsen ‚rosen und flieder‘, beides Gewächse mit lieblichen, stark duftenden Blüten, die als Liebessymbole gelten.23 Die Vision dieses ‚Garten Eden‘ wird in Rhein: VI zur Prophetie eines erneuerten ‚Festes‘ und ‚Reiches‘ erweitert. Der Rhein tritt hier noch einmal als elementarer Lebensstrom auf,24 indem der Strom mit Wein und Blut parallelisiert wird.25 Er ist Träger der Erneuerung, die im biblischen Bild des neuen Weins in (alten/neuen) Schläuchen als Bluterneuerung gefasst ist. Wie ist dieses Gedicht nun zu deuten? Verwey schreibt, Georges Intention sei es gewesen, mit dem Rhein-Gedicht „ein Vermächtnis für Jüngere“ zu schaffen, „sowohl dichterisch wie staatsmännisch für sie ein Wegweiser“.26 Tatsächlich erlauben die Rhein-Tafeln zwei verschiedene

22 Im Nibelungenlied (92,3) wird der Schatz als voll des rôten goldes bezeichnet. Das Nibelungenlied. Hrsg. von K ARL BARTSCH, 2. Aufl. Leipzig 1869, S. 20. Auch in Richard Wagners Rheingold ist von „rote[m] Gold“ die Rede. Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen. In: Ders.: Dichtungen und Schriften. Hrsg. von DIETER BORCHMEYER , Frankfurt/M. 1983, Bd. 3, S. 34. 23 Vgl. die blühende Rose am Dom zu Hildesheim als Symbol der Hoffnung und der Wiedererweckung: GEORGE : Der siebente Ring (wie Anm. 20), S. 178. Vgl. auch Burg Falkenstein in STEFAN GEORGE : Das Neue Reich. In: Ders.: Sämtliche Werke, Stuttgart 2001, Bd. IX, S. 41–44. Zum Flieder vgl. auch das Gedicht Der Einsiedel aus den Sagen und Sängen in GEORGE : Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte (wie Anm. 10), S. 55. 24 Vgl. das fünfte Gedicht des Vorspiels in STEFAN GEORGE : Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel. In: Ders.: Sämtliche Werke, Stuttgart 1984, Bd. V, S. 14. 25 Vgl. die Gleichsetzung von Blut und Wein in der Eucharistie. 26 VERWEY (wie Anm. 4), S. 25–26.

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Lesarten: eine ‚dichterische‘ und eine ‚staatsmännische‘. Diese beiden Lesarten sollen nun nacheinander vorgeführt werden. Eine ästhetische Deutung der Rhein-Tafeln hat George selbst ausweislich seines Schülers und späteren Kommentators Ernst Morwitz vorgegeben, indem er das ‚fürstlich paar geschwister‘ als Antonomie für Musik und Philosophie erklärte. Des ‚weiten Innenreiches mitte‘ sei Deutschland als Kernland Europas. Musik und Philosophie hätten Deutschlands kulturelles Leben bisher beherrscht. Das ‚dritte, auch echte kind‘ sei ‚die Plastik‘.27 Diese von Morwitz überlieferte Autordeutung leuchtet nicht unmittelbar ein. Plausibler erscheint die Deutung schon, wenn man das dritte Kind nicht als die Plastik, sondern als die Dichtung versteht: Die Dichtung ist immerhin die dritte große traditionelle, den Deutschen nach eigenem Verständnis zuzuschreibende Kulturdisziplin neben Musik und Philosophie.28 Der ‚hort‘ ist dann das Symbol eines kulturellen Schatzes der Deutschen, der von einem nicht näher identifizierten Erwählten bzw. Erlöser wieder gehoben wird.29 Dieser Erlöser wäre demzufolge der Dichter, der den Schatz ausgräbt und die ‚tote fabel‘ wieder zum Leben erweckt. Das in Rhein: VI prophezeite ‚Reich‘ bekommt so die Konnotation eines geistigen Reichs. In dieser Lesart erscheint das Schema von Ansprache und Antwort des Rheins im Spiel mit den Personalpronomina letztlich durchbrochen: Die Stimme des Rheins und die Stimme des Dichters vermischen sich.30 Der ‚römische hauch‘ kann somit als dichterisches Pneuma und Inspiration verstanden werden. Die deutsche Kultur erscheint von der römischen inspiriert.31 Diese Parallelisierung des Rhein-Stroms mit dem dichterischen Genie steht nicht zuletzt auch in der Tradition der Rhein-Lyrik – eine bedeutende Realisation schuf beispielsweise Friedrich Hölderlin mit seiner Hymne Der Rhein (1808),32 die dem bekennenden Hölderlin-Verehrer George sicherlich bekannt war.

27 MORWITZ (wie Anm. 20), S. 323f. 28 Vgl. JOACHIM MUNDT: Politisch-historische Dichtung. Die Landschafts- und Städte-Tafeln und die Jahrhundert-Sprüche in Stefan Georges ‚Siebentem Ring‘, Amsterdam 1990, S. 9. Vgl. auch PAUL GERHARD K LUSSMANN : Stefan George. Zum Selbstverständnis der Kunst und des Dichters in der Moderne, Bonn 1961, S. 68. 29 In diesem Sinne greift FRIEDRICH WOLTER s den Hort als Dichtungsmetapher mit Bezug auf George wieder auf. Stimmen des Rheines. Ein Lesebuch für die Deutschen. Hrsg. von FRIEDRICH WOLTERS /WALTER ELZE , Breslau 1923, S. 73. 30 MUNDT (wie Anm. 28), S. 17f. 31 Vgl. dazu, mit Blick auf die Brüder Stauffenberg, WOLFGANG GRAF VITZTHUM : ‚Römischer hauch‘ – Stefan Georges staatspoetisches Europabild. In: Festschrift für Erik Jayme. Hrsg. von HEINZ-PETER M ANSEL /THOMAS PFEIFFER /HERBERT K RONKE u. a., München 2004, S. 1763–1778. 32 FRIEDRICH HÖLDERLIN : Sämtliche Gedichte. Hrsg. von JOCHEN SCHMIDT, Frankfurt/M. 2005, S. 328–334.

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Der Anspielungshorizont der sechs Rhein-Tafeln reicht aber über das ästhetische Spektrum hinaus: Die Rhein-Tafeln haben einen politischen Subtext, der hier erstmals innerhalb einer systematischen Gesamtinterpretation vorgeführt wird.33 Die Strophe Rhein: I spielt nämlich auf ein bedeutendes Kapitel der frühmittelalterlichen Geschichte an: die fränkische Reichsteilung im 9. Jahrhundert. Nach dem Tod Ludwigs des Frommen 840 entbrannte unter seinen drei Söhnen ein Bruderkampf um das Erbe. Im Vertrag von Verdun wurde das karolingische Reich schließlich 843 unter den drei Söhnen aufgeteilt: Als ältestem Sohn stand Lothar I. der erste Zugriff zu. Er entschied sich für das Mittelreich, das von der Nordsee über Burgund bis zum Golf von Gaeta reichte, mit den Kaiserstädten Aachen und Rom. Ludwig der Deutsche erhielt das Ostfrankenreich, Karl II. (der Kahle) das Westfrankenreich. George erinnert in den Rhein-Tafeln an die drei Enkel Karls des Großen und die Teilung des Frankenreichs: ‚Des weiten Innenreiches mitte‘ ist nach dieser Lesart das fränkische Mittelreich Lotharingien; das ‚fürstlich paar geschwister‘, das dieses Reich ‚in frone hielt‘, meint Ludwig den Deutschen und Karl II., die nach dem Tod des Vaters einen Bruderkrieg gegen Lothar anzettelten, um seine Macht einzuschränken. Das ‚dritte / Auch echte kind‘ ist Lothar, der ein rechtgeborenes Kind Ludwigs des Frommen ist – im Gegensatz zu Karl II., von dem die Legende ging, er sei einer ehebrecherischen Affäre von Ludwigs zweiter Frau Judith entsprungen. Die Anspielungen auf die historischen Herrscher und deren Reiche meinen zugleich die modernen Nachfolgestaaten/-gebiete mit: Lotharingien verweist auf Lothringen, das von Deutschland (ehemals Ostfrankenreich) und Frankreich (ehemals Westfrankenreich) umkämpfte Gebiet. Da Wissen über die Abschnitte mittelalterlicher Geschichte zum obligatorischen Lehrstoff des kaiserzeitlichen Gymnasiums gehörte und eine Karte zur Fränkischen Reichsteilung damals in keinem Schulatlas fehlte (vgl. Abb. 4),34 war Stefan George vermutlich

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Meines Wissens als einziger hat vor rund 60 Jahren ERNST ROBERT CURTIUS in ganz anderem Zusammenhang eine solche Lesart knapp skizziert, was in der GEORGE -Forschung entweder ignoriert oder schlichtweg übersehen worden ist. Im Kommentar der Werkausgabe ist diese Lesart jedenfalls nicht erwähnt. Vgl. STEFAN GEORGE : Der siebente Ring (wie Anm. 20), S. 230 f.). Vgl. ERNST ROBERT CURTIUS : Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 2. Aufl. Bern u. a. 1954, S. 19, sowie ERNST ROBERT CURTIUS : Stefan George im Gespräch. In: Ders.: Kritische Essays zur europäischen Literatur, 2. Aufl. Bern 1954, S. 100–116, hier S. 105. 34 Siehe beispielsweise C. E. R HODE : Historischer Schul-Atlas zur alten, mittleren und neueren Geschichte, 8. Aufl. Glogau 1870, Bl. 10, Karte Nr. 30; FRIEDRICH WILHELM P UTZGER : F. W. Putzger’s historischer Schul-Atlas zur alten, mittleren und neuen Geschichte. In 27 Haupt- und 48 Nebenkarten, Bielefeld u. a. 1877, Karte Nr. 12; C ARL WOLFF : Carl

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schon während seiner Schulzeit in Darmstadt mit diesen Zusammenhängen vertraut.35 In die politische Deutung fügen sich auch die Bilder vom ‚jahrhundertschlaf‘ und der ‚krone im Rhein‘: Beides sind Mythologeme, welche die Idee eines wiedererstehenden Kaisertums zum Ausdruck bringen. Die Krone im Rhein ist seit der Mitte des 19. Jahrhunderts imagologisch auch mit dem Hort der Nibelungen verbunden: Angeblich befänden sich die Reichskleinodien im Hort. Daher erhielt die Krone im Rhein politische Bedeutung: Sie symbolisierte als imperiale Machtinsignie die (mittelalterliche) Reichsidee. Richard Wagner stellte in seiner Schrift Die Wibelungen. Weltgeschichte aus der Sage (1848) sogar bereits die Verbindung von Franken und Nibelungen her, indem er eine „mythische Identität des fränkischen Königsgeschlechts mit jenen Nibelungen der Sage“36 behauptete.37 George kannte diese Schrift und empfahl sie Kurt Hildebrandt zur Lektüre.38 Den Rhein-Tafeln zufolge würde also ein wiederkehrender Lothar die Reichsmacht an sich nehmen. Die lotharingische Reichsoption wäre ein Innenreich in der Mitte Europas, das von Rom bis an die friesische Küste reicht. Im Gedicht selbst finden sich versteckte Anspielungen auf die beiden Kaiserstädte Aachen und Rom: Rhein: I spielt mit der Idee

Wolff ’s historischer Atlas. 19 Karten zur mittleren und neueren Geschichte, Berlin 1877, Karte Nr. 2. 35 Siehe dazu OELMANN (wie Anm. 9), S. 134. MORWITZ kommentiert: „Die ‚Mitte des weiten Innenreiches‘ ist Deutschland als Mitte Europas, als Herz Europas, wie es im Wirrengedicht heisst, gesehen, und zwar wiederum auf Grund eines Eindrucks, den der Dichter als Kind beim Betrachten des Schulatlas empfangen hatte.“ (Kursivierung: J. S.) MORWITZ (wie Anm. 20), S. 323. Wie MORWITZ zu dieser Aussage kommt, kann heute nicht mehr nachvollzogen werden. Selbstverständlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass George sein Wissen auch aus Enzyklopädien oder Nachschlagewerken bezog. Georges Interesse für diesen Abschnitt der mittelalterlichen Geschichte war sicherlich auch persönlich motiviert, da seine Vorfahren väterlicherseits aus dem deutschsprachigen Dorf Rupeldingen in Lothringen stammten. Vgl. dazu C URTIUS : Stefan George im Gespräch (wie Anm. 32), S. 102–105. 36 Richard Wagner: Die Wibelungen. Weltgeschichte aus der Sage. In: Ders.: Gesammelte Schriften und Dichtungen, 4. Aufl. Leipzig 1907, Bd. 2, S. 115–155, hier S. 120. 37 Wagner versuchte in dieser Schrift, die Vorbildung historischer Ereignisse im Mythos nachzuweisen. Der Hort verbürgt Wagner zufolge gar das Recht auf Weltherrschaft. Wagner: Die Wibelungen, S. 146. Zu Wagners Wibelungen-Aufsatz siehe PETRA-HILDEGARD WILBERG : Richard Wagners mythische Welt. Versuche wider den Historismus, Freiburg/Br. 1996, S. 77–180; VOLKER M ERTENS : Das Nibelungenlied, Richard Wagner und kein Ende. In: Die Nibelungen. Sage – Epos – Mythos. Hrsg. von JOACHIM HEINZLE / K LAUS K LEIN /UTE OBHOF, Wiesbaden 2003, S. 459–496, hier S. 462–464. 38 KURT HILDEBRANDT: Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis, Bonn 1965, S. 176. Georges Affinität zu den Franken kommt auch in den Gedichten Franken und Bamberg zum Ausdruck. STEFAN GEORGE : Der siebente Ring (wie Anm. 20), S. 18 f. u. 180.

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des Krone-Hebens aus dem Rhein implizit auf die Krönungsstadt Aachen an, Rhein: VI verweist durch den ‚römischen Hauch‘ auf die Kaiserstadt Rom.39 Der Rhein stellt so die Verbindung zwischen römischem Imperium und deutschem Reich her. Der Rhein ist die Herzschlagader dieses Reichs. Das ‚dritte Kind‘ würde zum Herrscher eines prophezeiten ‚dritten Reichs‘ spezifisch rheinischer Prägung.40 Die Mahnung in der letzten Rhein-Tafel (Rhein: VI), auf die Tonbeugung und Parallelismus zusätzliche Aufmerksamkeit lenken: ‚Sprecht von des Festes von des Reiches nähe – / Sprecht erst […] / Wenn‘ (Kursivierung: J. S.), ist daher auch politisch zu verstehen.41 Das Wilhelminische Reich ist eben nicht das ersehnte, wiedererstandene Heilige Römische Reich. Deshalb auch die kaum versteckte Polemik gegen das preußische Reich in der Strophe Rhein: IV, die durch den nur hier eingesetzten Paarreim mit männlichen Kadenzen noch unterstrichen wird: ‚Den eklen schutt von rötel kalk und teer / Spei ich hinaus ins reinigende meer.‘ Die Gesteinsfarben lassen sich als die Farben der Reichsflagge in umgekehrter Reihenfolge decodieren.42 So ist auch die Rede von Frankreich und Deutschland als ‚fürstlichem Geschwisterpaar‘ (s. o.) als Invektive gegen die Erbfeind-Rhetorik des Wilhelminischen Kaiserreichs zu verstehen. Indem George auf das fränkische Mittelreich anspielt, aktualisiert er die romanisch-deutsche Reichsidee, die neben der Idee einer germanischdeutschen Reichserneuerung eine der beiden Reichsoptionen darstellt, die im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland virulent waren.43 Insofern sind Georges Rhein-Tafeln nicht nur in „dichterischer“, sondern auch in ‚staatsmännischer‘ Hinsicht ein „Vermächtnis für die Jüngeren“.44 Diese träumten tatsächlich noch zu Beginn des Ersten Weltkrieges, so be39 Für diesen Hinweis danke ich M ATHIAS HERWEG. 40 Die Vorstellung von einem ‚dritten Reich‘ gehört in den Bereich chiliastischen Geschichtsdenkens. Joachim von Fiore prägte den Begriff in seiner Vorstellung von einer aufsteigenden Abfolge dreier Reiche bzw. Zeitalter. Auf das Reich des Vaters folge das Reich des Sohnes und als drittes Reich das Reich des Heiligen Geistes. In abgewandelter Form und unterschiedlichen Nuancierungen nahmen G. E. Lessing, G. W. F. Hegel, F. Schelling, H. Ibsen und A. Moeller van den Bruck die Vorstellung einer Abfolge von drei Reichen in der Geschichte auf. Später eignete sich vorübergehend der Nationalsozialismus den Namen an. Vgl. dazu die grundlegende, immer noch lesenswerte Studie von JEAN F. NEUROHR : Der Mythos vom Dritten Reich. Zur Geistesgeschichte des Nationalsozialismus, Stuttgart 1957; vgl. auch BURCHARD BRENTJES : Der Mythos vom Dritten Reich. Drei Jahrtausende Sehnsucht nach Erlösung, Hannover 1997. 41 Im Schlussgedicht der Rhein-Sequenz fällt auch zum zweiten Mal überhaupt der Begriff „Reich“ in Großschreibung. Die erste Erwähnung findet sich in Die Gräber in Speier. GEORGE : Der siebente Ring (wie Anm. 20), S. 22f. 42 MORWITZ (siehe Anm. 20), S. 324. 43 Vgl. H ERFRIED MÜNKLER : Die Deutschen und ihre Mythen, 2. Aufl. Berlin 2009, S. 399. 44 VERWEY (wie Anm. 4), S. 25–26.

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richtet Edgar Salin, von „einer Vernichtung des verhassten Preussen-Reichs und einem neuen Rheinbund, an dessen Spitze der Dichter-Herrscher treten sollte“.45 Georges Abneigung gegen die Preußen ist auch in einer Sentenz in der 5. Folge der Blätter für die Kunst (1900/01) dokumentiert: PREUSSENTUM Wenn wir von den schädlichen einflüssen des Preussentums reden so weiss jeder verständige dass wir uns gegen keine person – nicht einmal gegen einen volksstamm richten sondern gegen ein allerdings sehr wirksames aber aller kunst und kultur feindliches system.46

In Georges antipreußischem Zeitgedicht kommt ein zyklisches Geschichtsdenken zum Ausdruck, wie es typisch für konservative Denker im 19. Jahrhundert war.47 George bezieht mit seinem Mediävalismus „ästhetische Opposition“48 gegen das Wilhelminische Reich, das sich als Erbe des mittelalterlichen Reichs inszenierte. Wilhelm I. wurde als „Barbablanca“ zum Nachfolger Barbarossas (Friedrich I.) erklärt, dem schlafenden Kaiser im Berg, wie es das Bildprogramm des Kyffhäuser-Denkmals insinuiert.49 George hält diesen Deutungen seine nostalgisch-utopische Vision eines lotharingischen Mittelreichs entgegen und erklärt Friedrich II. zum „Grösste[n] Friedrich · wahren volkes sehnen“, wie es im Gedicht Die Gräber in Speier gegen Friedrich den Großen heißt.50 Gegen die Usurpation des Rhein-Mythos und des Mittelalters durch das Wilhelminische Reich setzt George eigene Bilder.

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SALIN (wie Anm. 20), S. 260. Vgl. auch MORWITZ (siehe Anm. 19), S. 324f.; ULRICH R AULFF : Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009, S. 113. 46 Blätter für die Kunst 5 (1900/01), S. 2. 47 Vgl. in diesem Zusammenhang auch ACHIM AURNHAMMER : ‚Der Preusse‘. Zum Zeitbezug der ‚Zeitgedichte‘ Stefan Georges im Spiegel der Bismarck-Lyrik: In: Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ‚Siebenten Ring‘. Hrsg. von WOLFGANG BRAUNGART/UTE OELMANN /BERNHARD BÖSCHENSTEIN, Tübingen 2001, S. 173–196. 48 So der prägnante Untertitel von M ATTENKLOTTs Studie Bilderdienst: GERT M ATTENKLOTT: Bilderdienst. Ästhetische Opposition bei Beardsley und George, 2. Aufl. Frankfurt/M. 1985. 49 Vgl. dazu ULRICH R AULFF : In unterirdischer Verborgenheit. Das geheime Deutschland; Mythogenese und Myzel; Skizzen zu einer Ideen- und Bildergeschichte. In: Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft. Hrsg. von BARBARA SCHLIEBEN /OLAF SCHNEIDER / K ERSTIN SCHULMEYER , Göttingen 2004, S. 93–115. 50 GEORGE : Der siebente Ring (wie Anm. 20), S. 22f.

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3. Zusammenführung Letztlich sind die beiden Deutungen nicht voneinander zu trennen. Georges Rhein-Gedichte stehen in der Tradition sowohl einschlägiger topografischer Dichtung, wie etwa Ausonius’ Mosella und Hölderlins RheinHymne, als auch politisch-subversiver Rhein-Dichtung wie etwa Heinrich Heines Deutschland, ein Wintermärchen (vgl. Caput III – VI).51 Ästhetik und Politik sind in Georges Rhein-Tafeln aufs engste verschwistert. Während die Strophe Rhein: I in ihren historisch-mythischen Referenzen die politische Dimension betont, wechselt Rhein: II in das genuin literarische Feld. Verbunden werden beide Strophen und beide Themenstränge durch die Metapher des Horts, der in der ‚krone im rhein‘ bereits antizipiert wurde. Die gehobene Krone symbolisiert die Wiederauferstehung des politischen Reiches, der gehobene Hort die ästhetische Wiedererweckung der deutschen Dichtung und Kultur. Die Schlussstrophe, Rhein: VI, bindet beide Vorstellungsbereiche wieder zusammen: Die synkretistische Amalgamierung von dionysischem Lebensfest und römischem Reich erscheint als eine Utopie, die erst nach Vollzug der geistigen Erweckung der ‚seelen dumpf und zähe‘ durch die Dichtung – den ‚römischen hauch‘ – überhaupt denkbar ist. Nicht zuletzt ist die Vermischung von politischen und literarischen Begriffen auch Strategie – auf die Ambivalenz der Semantik von Begriffen weist das Gedicht selbst hin: ‚Sprecht erst / wenn…‘. Dies ist, wie ULRICH RAULFF schreibt, „metaphorische Politik“.52 Die Anspielung auf das fränkische Mittelreich Lothars I. und der Bezug auf den Hort der Nibelungen werden mit Blick auf das gegenwärtige Wilhelminische Reich und die gegenwärtige kulturelle Situation in Deutschland zur versteckten Kritik an den Verhältnissen eingesetzt. Was hier an einem Gedicht vorgeführt worden ist, ist charakteristisch für eine ganze Reihe mediävalistisch zu lesender Gedichte Georges, welche zum einen durch wiederkehrende Bilder verbunden sind, zum anderen durch die Art, wie Bezugnahmen auf und Indienstnahmen von Mittelalter in ihnen funktionieren. Georges Mittelalter-Imaginationen sind oft spezifisch rheinisch. Sie sind es in Hinblick auf Motive, Themen und Stoffe. Typisch rheinisch ist aber auch Georges Positionsbestimmung: Er nutzt

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MOMME MOMMSEN vermutet Nostradamus’ Centuries als Vorbild für Georges RheinTafeln, kann diese Rezeption allerdings nicht schlüssig nachweisen und bleibt deshalb bei der Feststellung von Analogien stehen. MOMME MOMMSEN : Der Rhein und das Rheinland in der Dichtung Stefan Georges. In: Castrum peregrini 81 (1968), S. 30–43, hier S. 38; MOMME MOMMSEN : Nostradamus-Anklänge in Stefan Georges ‚Tafeln‘. In: Castrum peregrini 81 (1968), S. 44–57. R AULFF : Kreis ohne Meister (wie Anm. 49), S. 114.

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die von ihm entworfenen Mittelalter-Bilder, um eine gemeinsame deutschfranzösische Kultur zu formulieren beziehungsweise ein geistiges Zwischenreich zwischen beiden national definierten Kulturen zu entwerfen. Mittelalter-Imaginationen fungieren bei George als ein Element einer südwestdeutsch-katholischen Oppositionskultur, die gegen national vereinnahmende Mittelalter-Diskurse anschreibt. Pointiert könnte man sagen: George favorisiert erstens die romanische Kulturtradition gegenüber germanenzentrierten Definitionsversuchen53 einer Nationalkultur; er favorisiert zweitens das Katholische gegenüber dem preußischen Protestantismus und er versteht drittens das Mittelalter nicht als absolut gesetzte, rückwärtsgewandte Utopie, sondern als eine von drei in uns fortlebenden Bildungswelten neben Antike und Orient.

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Vgl. dazu R AINER K IPPER : Der Germanenmythos im Deutschen Kaiserreich. Formen und Funktionen historischer Selbstthematisierung, Göttingen 2002.

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Abb. 1 Neues Panorama des Rheins von Cöln bis Mannheim, Stahlstich von Friedrich Herchenhein, Verlag Joseph Halenza, Mainz, ca. 1886, Blatt 5 (Ausschnitt). Quelle: dilibri Rheinland-Pfalz (www.dilibri.de).

Abb. 2 Clarkson Stanfield (1793–1867): Bingen, 1832, Stahlstich. Quelle: Historisches Museum am Strom, Bingen.

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Abb. 3 Das Nationaldenkmal auf dem Niederwald. Postkarte aus dem Verlag Edm. v. König, Heidelberg 1904.

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Abb. 4 Historische Karte zur Reichsteilung im Vertrag von Verdun. Aus: Carl Wolff ’s historischer Atlas. 19 Karten zur mittleren u. neueren Geschichte, Berlin 1877, Karte Nr. 2.

CHRISTINE KNUST

Historische Realität und Fiktion in Ken Folletts Romanen Die Säulen der Erde und Die Tore der Welt Der vorliegende Beitrag widmet sich zwei populären Romanen, die im Mittelalter spielen und von einem der erfolgreichsten Unterhaltungsschriftsteller der Gegenwart stammen: Dem britischen Autor Ken Follett, Jahrgang 1949.1 Berühmt wurde er ab den späten 1970er Jahren mit Thrillern wie Eye of the Needle (Die Nadel), Lie Down with Lions (Die Löwen) oder The Man from St. Petersburg (Der Mann aus St. Petersburg) – Spionageromanen, die im Ersten und Zweiten Weltkrieg, aber auch in der Gegenwart spielen und zu Bestsellern wurden.2 1989 veröffentlichte Follett einen historischen Roman, dessen Plot im Hochmittelalter angesetzt ist, was für sein thrillerbegeistertes Publikum unerwartet war. 3 The Pillars of the Earth, in deutscher Übersetzung 1990 unter dem Titel Die Säulen der Erde veröffentlicht,4 spielt in den Jahren 1123 bis 1173. Der Roman war 18 Wochen lang auf der New York Times-Bestsellerliste. In Deutschland behauptete er sich gar sechs Jahre lang auf den Bestsellerlisten. Und achtzehn Jahre nach Erscheinen der Erstausgabe wurde Pillars of the Earth erneut zum Bestseller, nachdem die US-amerikanische Fernsehmoderatorin Oprah Winfrey das Buch 2007 in ihrer Sendung empfohlen hatte. 250.000 Zuschauer haben Die Säulen der Erde 2004 in einer ZDF-Umfrage auf Platz 3 der beliebtesten ‚Bücher der

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Vgl. www.ken-follett.com/biography/index.html (Stand 30.3.2010). Vgl. www.ken-follett.com/bibliography/eye_of_the_needle.html; www.ken-follett.com/bibliography/ lie_down_with_lions.html; www.ken-follett.com/bibliography/the_man_from_st_petersburg.html (Stand 30.3.2010). Vgl. www.ken-follett.com/biography/index.html (Stand 30.03.2010). Ken Follett: The Pillars of the Earth, London 1989. Zitate aus beiden Romane folgen den deutschen Ausgaben: Ken Follett: Die Säulen der Erde. Übers. von Gabriele Conrad/Till R. Lohmeyer/Christel Rost, 20. Aufl. Bergisch Gladbach 1995; Ken Follett: Die Tore der Welt. Übers. von Rainer Schumacher/Dietmar Schmidt, Bergisch Gladbach 2008.

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Deutschen‘ gewählt.5 In einer aufwändigen internationalen TV-Produktion hat man den Roman ab Sommer 2009 als achtstündigen Mehrteiler verfilmt.6 Die erste Folge war im Juli 2010 in den USA und Kanada zu sehen.7 World without End, die Fortsetzung von Folletts erfolgreichem Mittelalterroman, erschien 2007, die deutsche Ausgabe im Februar 2008 unter dem Titel Die Tore der Welt.8 Nicht dieselben Protagonisten wie in Die Säulen der Erde tauchen wieder auf (sondern deren Nachfahren, die gut zweihundert Jahre später in den Jahren 1327 bis 1361 leben), sehr wohl aber der bekannte Handlungsort: Wie im Vorgängerroman spielt die Geschichte in der südenglischen Stadt Kingsbridge, für das es keine reale Entsprechung gibt.9 Auch die Fortsetzung war in mehreren Ländern Nummer Eins der Bestsellerlisten; in Deutschland stand die englische Ausgabe im Oktober 2008 auf Platz 3. Die deutschsprachige Taschenbuchausgabe war im Januar 2010 auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste.10 Es gibt mehrere Gründe, warum ich mich als Mediävistin mit diesen Romanen beschäftige. Zum einen kommt man, wenn man sich mit der Rezeption des Mittelalters und dem Mittelalterbild in der Populärkultur auseinandersetzt, nicht an zwei derart erfolgreichen und prägenden historischen Romanen vorbei, die im Mittelalter spielen. Diese Epoche bildet

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Vgl. www.ken-follett.com/biography/index.html, www.ken-follett.com/bibliography/the_pillars_of_ the_earth.html, www.kenfollett.com/news/archive.html (alle Stand 30.3.2010); dazu CHRISTINE KNUST: Neues aus dem Mittelalter. In: Der Tagesspiegel am Sonntag, 2.3.2008, S. S5 (Auch online ohne Seitenzählung unter www.tagesspiegel.de/zeitung/Die-Stadt;art7755,2486371 (Stand 31.3.2010). Die vollständige Liste der 50 ‚Lieblingsbücher der Deutschen‘ mit Erläuterungen zur Durchführung der Umfrage bei PETER ARENS: „Unsere Besten – das große Lesen“. Die größte Lesekampagne, die es jemals gab online unter www.zdf-jahrbuch. de/2004/programmarbeit/arens.htm (Stand 30.3.2010); der Text ohne Liste auch in einem Sammelband, der sich mit den ersten 15 Plätzen dieser Umfrage auseinandersetzt, in Die Lieblingsbücher der Deutschen. Hrsg. von CHRISTOPH JÜRGENSEN, Kiel 2006, S. 377– 380. Eine ungewöhnliche und aufschlussreiche Analyse der Säulen der Erde unternimmt URSULA KUNDERT, in dem sie den Roman aus der Perspektive einer spätmittelalterlichen Leserin betrachtet: URSULA KUNDERT: Platz 3. Ken Follett: Die Säulen der Erde. In: Die Lieblingsbücher der Deutschen. Hrsg. von CHRISTOPH JÜRGENSEN, Kiel 2006, S. 317–341. www.ken-follett.com/news/index.html (30.03.2010). Zudem gibt es Die Säulen der Erde als Brettspiel-Adaption, die bereits mehrere Spielepreise gewonnen hat. Vgl. www.ken-follett. com/news/archive.html (Stand 31.3.2010). Wurde nach Redaktionsschluss ausgestrahlt, vgl. www.ken-follett.com/news/index.html (Stand 13.09.2010). Ken Follett: World without End, London u. a. 2007; ders.: Tore der Welt (wie Anm. 4). Vgl. K NUST: Neues aus dem Mittelalter (wie Anm. 5), sowie www.ken-follett.com/wwe/ kingsbridge.html (Stand 30.3.2010). www.ken-follett.com/bibliography/world_without_end.html (30.03.2010).

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in den Säulen der Erde und den Toren der Welt die Handlungsgrundlage.11 Eine Analyse dieser Bücher scheint also gerade unter mediävistischen Gesichtspunkten lohnenswert. Zum anderen hatte ich 2008 die Gelegenheit, für den Tagesspiegel anlässlich des Erscheinens von Die Tore der Welt ein Gespräch mit Follett zu führen und dabei etwas über die Entstehungsweise des Romans zu erfahren.12 Auf seiner Internetseite erklärt der Autor in Ansätzen, wie er arbeitet. So gibt er an, dass er uns vor allem unterhalten wolle: „Personally, I want to entertain you. I want you to be thrilled or moved to tears or scared and I definitely want you to be on the edge of your seat all the time, wondering what is going to happen next.“13 Zu seinem Stilideal erklärt er „a transparent prose“,14 worunter er insbesondere leicht verständliche Sätze versteht. Er findet aber nicht, dass alle Schriftsteller dieses Ziel verfolgen sollten.15 Besonders weist Follett darauf hin, wie sorgfältig er recherchiert bzw. auch recherchieren lässt und wie inspirierend diese Nachforschungen auf ihn wirken: During the elaboration process, I get a lot of my ideas from research [...]. I gain inspiration from the research, but I am always working my imagination to elaborate the story. I often use the services of professional researchers, mainly Dan Starer of Research for Writers in New York. Dan produces reading lists on, say, earthquakes, clones or eighteenth-century criminal courts. He finds learned articles, out-of-print books and old maps, people for me to interview, experts and historians, detectives and FBI agents. Most of my books are checked for factual errors before publication by at least one technical consultant.16

Für The Pillars of the Earth hat Follett zehn Jahre lang recherchiert, nachdem er Mitte der 1970er Jahre die Idee für den Roman hatte.17 Wichtig ist 11

12 13 14 15 16

17

Ein weiterer Bestseller, der mittelalterliche Themen und Motive behandelt, ist Dan Browns The Da Vinci Code (Sakrileg). Browns Roman spielt im Gegensatz zu Folletts Mittelalterromanen in der Gegenwart und hat die Suche nach dem Heiligen Gral und dessen Geheimnis zum Gegenstand. Vgl. hierzu den Beitrag von A NNABELLE HORNUNG in diesem Band. Vgl. K NUST: Neues aus dem Mittelalter (wie Anm. 5). www.ken-follett.com/masterclass/index.html (30.3.2010). www.ken-follett.com/masterclass/index.html (30.3.2010). www.ken-follett.com/masterclass/index.html (30.3.2010). www.ken-follett.com/masterclass/research.html (30.3.2010). Dazu auch R ICHARD C. TURNER : Ken Follett: A Critical Companion, Westport/CT 1996, S. 5: „He describes his research methods as a combination of general ‚fishing expeditions‘, an approach that takes a broad look at the gathered information with a confidence that details that catch his eye will be useful at some point in the writing, and the specific searches for the exact detail that will carry the authenticity of the story and for which researchers are especially helpful.“ Vgl. C ARLOS R AMET: Ken Follett: The Transformation of a Writer, Bowling Green 1999, S. 100. „Over the next ten years, Follett immersed himself in medieval history, spent weekends visiting cathedrals throughout England, and in 1986 was again ready to un-

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Follett, wie er betont, dass der (historische) Hintergrund seiner Romane stimmt: I do my best to make sure that the background to my stories is accurate. Most of my books are read before printing by some twenty people, usually including one or two experts – scientists, historians, or just people who have direct experience of what I’m writing about.18

Auf seiner Internetseite sind gewissenhaft „Errors, omissions and loose ends“19 der Romane aufgeführt. Bei meiner Untersuchung dieser Texte soll außer Frage stehen, dass es sich um fiktionale Werke handelt, insofern in der Gattung des historischen Romans „eine (partiell) fiktive Handlung als Teil eines als Geschichte bekannten Geschehens erzählt wird.“20 In diesem Beitrag geht es vielmehr um die Frage nach der Darstellung und Vermittlung des Mittelalters, verglichen mit Folletts Vorstellung von historischer Akkuratheit. Angesichts der Fülle des Materials (jedes der Bücher hat über 1.000 Seiten) werde ich Die Säulen der Erde und Die Tore der Welt paradigmatisch auf folgende Aspekte hin untersuchen: 1. Wie werden, angesichts des Geschlechterrollenwandels zwischen dem Mittelalter und der Gegenwart, die weiblichen Hauptfiguren gestaltet? 2. Welches Bild wird uns hinsichtlich der mittelalterlichen Medizin und der damit zusammenhängenden Reliquienverehrung präsentiert? 3. Wie wird vor diesem Hintergrund die zentrale Pestkatastrophe der Zeit um 1350 geschildert?

1. Weibliche Hauptfiguren in Folletts Mittelalterromanen In beiden Mittelalterromanen fallen zunächst die starken Frauenfiguren ins Auge: In den Säulen der Erde und in den Toren der Welt stehen – neben den männlichen Protagonisten – Frauen im Mittelpunkt, die sich gegen gesellschaftliche Zwänge auflehnen, selbstbestimmt leben wollen und damit vor allem die Leserinnen ansprechen (sollen).21 In den Säulen der Erde treffen wir auf zwei weibliche Hauptfiguren. Da ist zum einen die mysteriöse Ellen, die zu Beginn des Romans einen

dertake the all-important outline.“ Vgl. S. 108 zur Vermarktungsfähigkeit des Romans in den 1970er im Unterschied zu den 1980er Jahren. 18 www.ken-follett.com/errata/index.html (30.3.2010). 19 www.ken-follett.com/errata/index.html (30.3.2010). 20 DANIEL FULDA : Historischer Roman. In: Metzler Literatur-Lexikon. Hrsg. von DIETER BURDORF /CHRISTOPH FASBENDER /BURKHARD MOENNIGHOFF, 3. Aufl. Stuttgart u. a. 2007, S. 318–319, hier S. 318. 21 Vgl. K NUST: Neues aus dem Mittelalter (wie Anm. 5).

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Mönch, einen Ritter und einen Priester verflucht, als der Vater ihres ungeborenen Kindes gehängt wird.22 Ellen wird als unabhängig, leidenschaftlich und stolz geschildert. Ihre Kindheit hat die Tochter eines Ritters, wie Follett sie in indirekter Rede erzählen lässt, als Wildfang „in einem reinen Männerhaushalt“ verbracht, bis sie als Jugendliche in ein Kloster kam, wo sie „es binnen kurzem zur Stallmeisterin [brachte]“ und ab und zu „– allein schon, um der Äbtissin zu trotzen – die eine oder andere Novizin“ verführte.23 Nachdem sie bei einem Ausritt einen französischen Spielmann kennen- und lieben gelernt hatte, zog sie in den Wald und brachte dort ihren Sohn Jack zur Welt. Die Fähigkeiten, die sie im Elternhaus erlernt hat, werden als „männliche Fertigkeiten“ geschildert: „Sie wusste, wie man Rehe erlegte, konnte Kaninchenfallen bauen und Schwäne mit Pfeil und Bogen zur Strecke bringen.“24 Im Wald lebt sie in einer Höhle, gefürchtet als Hexe, bis sie sich in den jüngst verwitweten Steinmetz Tom Builder verliebt und mit ihm, seinen Kindern und ihrem Sohn auf Arbeitssuche geht. In der Priorei Kingsbridge beginnt Tom mit dem Bau einer Kathedrale. Ellens Erscheinungsbild wird wie folgt beschrieben: Ihr kurzes ledernes Überkleid enthüllte geschmeidige, gebräunte Glieder. Ihr Gesicht war hübsch, und ihr dunkelbraunes Haar bildete über der Stirn eine Teufelsmütze [...]. Sie hatte tiefliegende Augen von seltsam honiggoldener Farbe, die ihrem Antlitz einen magischen Zug verliehen, und ihr Blick war von ungewöhnlicher Intensität.25

An anderer Stelle heißt es: „Ihre Figur war schlank und geschmeidig, die sonnengebräunte Haut seidig-weich.“, und: „Ellen sah genauso aus wie damals, als sie ihn verlassen hatte: schlank und rank, mit dunklem Haar, das sich bewegte wie Wellen auf einem Strand, die Haut bronzebraun, die tiefliegenden Augen von schimmerndem Gold…“26 In der Figur der Ellen

22 Follett: Säulen der Erde (wie Anm. 4), S. 10f. Der Gehängte war, wie später (S. 1097ff. u. 1146ff.) aufgelöst wird, Spielmann und wurde aufgrund eines Meineides der drei Verfluchten als Dieb hingerichtet: Er hat als Passagier den von verschwörerischen Baronen verursachten Untergang des ‚Weißen Schiffs‘ überlebt, bei dem der Königssohn William, wie von den Baronen beabsichtigt, ertrank. Die drei Meineidigen erlangten durch die Lüge persönliche Vorteile. Zu den tatsächlichen historischen Hintergründen dieses Schiffuntergangs vgl. ROBERT L ACEY: Great Tales from English History: Cheddar Man to the Peasants‘ Revolt, London 2003, S. 115–120 („Henry I and the White Ship“). 23 Follett: Säulen der Erde (wie Anm. 4), S. 33 und 35. 24 Follett: Säulen der Erde (wie Anm. 4), S. 36. 25 Follett: Säulen der Erde (wie Anm. 4), S. 31. 26 Follett: Säulen der Erde (wie Anm. 4), S. 212 u. 513. An anderer Stelle (S. 82) des Romans wird Ellens Haut merkwürdigerweise als blass beschrieben – als sie den erschöpften Tom verführt und er sie zunächst für einen Engel hält.

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präsentiert der Autor ein Schönheitsideal, das dem Ideal der hellhäutigen höfischen Dame entgegensteht und Ellen von der Welt der Adligen abgrenzt. Im Mittelalter wurde überwiegend weiße Haut als schön empfunden und von Dichtern gepriesen:27 „Obwohl Lit[eratur] und Kunst des M[ittelalters] beweisen, daß Schönheitsideale durchaus variierten (Bocaccio, Sacchetti, Giotto, Simone Martini), galten blondes Haar und helle Haut über Jahrhunderte als Inbegriff weibl[icher] Vollkommenheit.“28 Gleichzeitig stellen Ellens sonnengebräunte Haut und ihr sportlicher Körper ein Ideal der Gegenwart dar. Mithin bestehen intertextuelle Bezüge zum Parzival Wolframs von Eschenbach und zur Sage von Robin Hood: Ellen als Waldbewohnerin erinnert zum einen an Herzeloyde, die Mutter Parzivals, die mit ihrem Sohn abgewandt von der Welt im Wald lebt.29 Zum anderen finden sich Analogien zur Figur des Robin Hood, der sich als Geächteter im Sherwood Forest versteckt.30 Im Verlauf des Romans behält Ellen trotz aller Irrungen und Wirrungen stets ihren Stolz und lebt völlig unbehelligt, dazu kerngesund in solcher Wildnis. Tatsächlich konnte der Wald im Mittelalter „Lebensraum für den aus der Gesellschaft Ausgestoßenen“31 sein. Die sich daraus ergebende Existenz ist aber trotzdem höchst gefährlich. Wer unbehaust lebt – ob im Wald oder als Vagant durchs Land ziehend – setzt sich Wind und Wetter aus.32 Tagtäglich muss er mit Überfällen, Mord

27 Dunkle bzw. schwarze Haut kann Hässlichkeit bedeuten wie bei der Sibylle in Heinrichs von Veldeke Eneasroman, aber auch für exotische Schönheit stehen, so z. B. bei der Mohrenkönigin Belacâne im Parzival Wolframs von Eschenbach. Vgl. INGRID K ASTEN : Häßliche Frauenfiguren in der Literatur des Mittelalters. In: Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. Fragen, Quellen, Antworten. Hrsg. von BEA LUNDT, München 1991, S. 255–276. Auch andere Frauen in Folletts Mittelalterromanen werden als gebräunt bzw. dunkelhäutig und schön geschildert, so z. B. Follett: Säulen der Erde (wie Anm. 4), S. 807, und ders.: Tore der Welt (wie Anm. 4), S. 768. 28 K LAUS BERGDOLT: Schönheitspflege. In: Lexikon des Mittelalters, München 2003, Bd. 7, Sp. 1537. Vgl. auch JOACHIM BUMKE : Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, 6. Aufl. München 1992, Bd. 2, S. 451f., und die Beiträge in Schöne Frauen – schöne Männer: Literarische Schönheitsbeschreibungen. 2. Kolloquium der Forschungsstelle für Europäische Lyrik des Mittelalters an der Universität Mannheim. Hrsg. von THEO STEMMLER , Mannheim 1988. 29 Hierzu KUNDERT (wie Anm. 5), S. 327 u. 331f. 30 Hierzu R AMET (wie Anm. 17), S. 104f. RAMET weist auch weitere Bezüge der Pillars of the Earth nach, zu mittelalterlichen Werken wie Chaucers Canterbury Tales und klassischen historischen Romanen wie Walter Scotts Ivanhoe. Vgl. zu solchen Bezügen außerdem KUNDERT (wie Anm. 5), S. 322ff. 31 ELISABETH VAVRA : Der Wald im Mittelalter. Funktion – Nutzung – Deutung. Einführung. In: Das Mittelalter 13 (2008), H. 2, S. 3–7, hier S. 5. 32 So beklagt sich der fahrende Scholar Johann von Nürnberg um 1320, dass sein Haus der wilde Wald sei, im Sommer warm, im Winter kalt: Daz hus, daz ist der wite walt,/

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und Raub rechnen.33 Doch lässt Follett seiner Ellen kein Unglück widerfahren, selbst wenn sie sich in größte Gefahr begibt. Sie ist eine patente Kämpferin, vor der sich die Männer fürchten und die bis ins hohe Alter allein lebt.34 Betrachten wir die zweite weibliche Hauptperson in den Säulen der Erde. Aliena ist die Tochter des Grafen Bartholomäus von Shiring, der 1135 gemeinsam mit einigen Mitstreitern eine Verschwörung gegen Stephan, den machtgierigen Neffen des verstorbenen Königs Heinrich I., plant. Als die Gegenseite davon erfährt, wird Bartholomäus durch William von Hamleigh, dessen Heiratsantrag Aliena nicht annahm und der ihre Familie deshalb hasst, festgenommen.35 Aliena versteckt sich nun ein Jahr mit ihrem drei Jahre jüngeren Bruder Richard und dem treuen Haushofmeister auf dem Familiensitz. Dann dringen William von Hamleigh und sein Knecht in die Burg ein, töten den Haushofmeister und vergewaltigen Aliena vor Richards Augen. Die Geschwister flüchten und wollen König Stephan um Gnade für ihren Vater anflehen, doch hält sich Stephan nicht am Königssitz zu Winchester auf. Bartholomäus fühlt im Verlies der Königsburg sein Ende nahen und nimmt seinen Kindern den Schwur ab, dafür zu sorgen, dass Richard Graf von Shiring wird. Die verarmte Aliena fängt an, mit Wollvliesen zu handeln, und wird innerhalb weniger Jahre von einer mittellosen Frau zu einer erfolgreichen Wollhändlerin: Sie trug ein scharlachrotes, reich besticktes Gewand, und an ihren ausdrucksvollen Händen funkelten mehrere Ringe. Ihr zur Seite stand eine ältere Frau, wahrscheinlich eine Dienstmagd. Geld wie Heu, hatte Mutter gesagt; [...] Der Teufel sollte sie holen! Wie hatte es dieses bettelarme, einflußlose Mädchen nur so weit bringen können?36

Mittelalterliche Quellen belegen die Existenz solcher Händlerinnen.37 Aliena betreibt freilich gleich den erfolgreichsten Wollhandel in der ganzen Grafschaft – sie verliert zwar einmal alles durch den Bösewicht William,

Im sumer warm, im winter kalt, zitiert nach ERNST SCHUBERT: Fahrendes Volk im Mittelalter, Bielefeld 1995, S. 69. 33 SCHUBERT (wie Anm. 32), S. 80ff. 34 Vgl. TURNER (wie Anm. 16), S. 124: „Througout the novel Ellen is associated with the wild and mysterious aspects of life, and her strong will and unyielding sense of right and wrong make her a constant critic of a society that regards its theological learning as the source of order and explanation for everything under the sun.“ 35 Zur Ablehnung des Heiratsantrags schreibt TURNER (wie Anm. 16), S. 124: „Such independence may have been unusual in the Middle Ages, but it is not unusual in fiction about the medieval period.“ 36 Follett: Säulen der Erde (wie Anm. 4), S. 547, vgl. auch S. 531 und 566. 37 Vgl. M ARGRET WENSKY: Frau, III. Die Frau in der städtischen Gesellschaft. In: Lexikon des Mittelalters, München 2003, Bd. 4, Sp. 864–865, hier Sp. 864.

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gelangt aber immer wieder zu Erfolg. Follett-Kenner RICHARD C. TURNER meint dazu: Given the constraints on women in the Middle Ages, Aliena could not have achieved what she did on her own, but in the novel she is clearly the prime mover in her ventures and she is directly or indirectly at the center of all major events of the novel. Shut out from the world of power and inherited wealth and property, she makes her mark in the new area of trade and commerce, an area that was somewhat suspect to the medieval church, but is very familiar to modern readers.38

Aliena geht gerne allein in den Wald, wo sie auf einer malerischen Lichtung an einem kleinen Wasserfall ausruht. Zu ihr gesellt sich eines Tages Ellens Sohn, der junge Zimmermann und spätere Kathedralenbaumeister Jack. Beide kennen sich noch aus Kindertagen. Jack, der schon lange Gefühle für Aliena hegt, ist fasziniert davon, dass sie ein Buch liest: Jack war verblüfft. Eine Frau, die ein Buch las? Im Freien? Nur Mönche lasen Bücher, und auch die selten etwas anderes als Gebete. Alienas Buch war dazu noch ungewöhnlich, viel kleiner als die Bände in der Klosterbibliothek; es sah aus, als wäre es speziell für eine Frau gemacht worden oder für jemanden, der es mit sich herumtragen wollte.39

Aliena liest das Alexanderlied und kommt mit Jack ins Gespräch, der für sie das Rolandslied rezitiert.40 Die sehr an Literatur interessierte Aliena hatte die Heirat mit dem grobschlächtigen und oberflächlichen William von Hamleigh ausgeschlagen, weil er kein Verständnis für die Künste besitzt.41 Sie verliebt sich in Jack, der von seiner Mutter her über ein großes Repertoire an Geschichten verfügt, zudem literarisches Talent besitzt und Aliena damit begeistert. Tatsächlich war ein Großteil der Frauen im Hochmittelalter von Bildung ausgeschlossen, denn die „große Mehrheit der F[rauen] lebte im M[ittelalter] im agrar[ischen] Bereich, da selbst im Spätm[ittelalter] noch mehr als drei Viertel der Bevölkerung auf dem Lande wohnten und sich von der eigenen Landwirtschaft ernährten.“42 Für Frauen der unteren Schichten war der Zugang zu Bildung eine Ausnahme.

38 TURNER (wie Anm. 16), S. 125. 39 Follett : Säulen der Erde (wie Anm. 4), S. 624. 40 Vgl. Follett : Säulen der Erde (wie Anm. 4), S. 624–628; dazu KUNDERT (wie Anm. 5), S. 325f. 41 Aliena teilt William unmissverständlich mit: „Du willst also wissen, warum ich dich nicht mag. Gut, ich sag’s dir. Ich mag dich nicht, weil du nicht die geringste Spur von Kultur und Bildung besitzt. Ich mag dich nicht, weil du kaum lesen kannst. Ich mag dich nicht, weil du nichts anderes im Kopf hast als deine Hunde, deine Pferde und dich selbst!“ Follett: Säulen der Erde (wie Anm. 4), S. 200. 42 WERNER RÖSENER : Frau, C. IV. Die Frau in der bäuerlichen Gesellschaft. In: Lexikon des Mittelalters, München 2003, Bd. 4, Sp. 865–866, hier Sp. 865.

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Dass Aliena als weltliche Frau ein Buch liest – noch dazu ein profanes – kann nur mit ihrer adligen Herkunft zusammenhängen, die ihr derlei ermöglicht hat.43 Erwiesen ist, dass es weltliche Literatur im Besitz von Frauen gab,44 wenngleich einige mittelalterliche Autoren wie etwa Philippe de Novare es für gefährlich hielten, Frauen das Lesen zu erlauben, da sie so auch unziemliche Schriftstücke entziffern könnten. Nur Nonnen sollte das Lesen gestattet sein. Dagegen empfahlen andere Autoren wie Petrus Abaelardus, dass auch weltliche Frauen lesen lernen und ausgebildet werden sollten. Für die meisten Befürworter weiblicher Bildung stand allerdings fest, dass die Lektüre geistlicher Natur sein sollte.45 Follett stellt Aliena als literaturbegeisterte Leserin dar, die sich gegen die Heirat mit einem standesgemäßen, aber ungebildeten Ehemann wehrt und später den musischen Zimmermann Jack als Partner wählt. Als Aliena einstweilen ihr Vermögen verliert und aus finanziellen Gründen Jacks verhassten Stiefbruder heiratet, um ihren eigenen Bruder zu unterstützen, geht Jack nach Spanien. Sie folgt ihm und begibt sich alleine mit dem gemeinsamen Sohn auf die Suche nach dem Geliebten. So treffen wir auch hier wieder auf den Typus der starken Frau, die stolz und emanzipiert ist und ihrem Herzen folgt. Follett betont noch, wie ähnlich sich Ellen und Aliena sind: „Aliena hatte sich mit Ellen unterhalten und war dabei auf eine Seelenverwandte gestoßen, eine unabhängige und eigenständige Frau, die mit der Art, wie das Leben mit ihr umgesprungen war, ein wenig haderte.“46 In den Toren der Welt steht neben der energischen, leidenschaftlichen Tagelöhnertochter Gwenda, die um die Liebe des gutaussehenden Bauernsohns Wulfric und gegen die Schikanen des Grafen Ralph kämpft, wiederum eine zweite starke Frau im Mittelpunkt der Handlung: Caris, die Tochter eines Wollhändlers. Bereits als Kind möchte Caris später „Arzt“ werden, was ihre Umgebung belustigt.47 Sie wird Tuchhändlerin und geht eine Liebesbeziehung mit Merthin ein, Zimmermann und Sohn eines ver-

43 Vgl. L AETITIA BOEHM : Erziehungs- und Bildungswesen, A. Westliches Europa. In: Lexikon des Mittelalters, München 2003, Bd. 3, Sp. 2196–2203, hier Sp. 2200. 44 DENNIS H. GREEN : Women Readers in the Middle Ages, Cambridge 2007, S. 124: „… it is noticeable how frequently romances occur amongst the books known to have been possessed by women.“ 45 GREEN (wie Anm. 44), S. 85f. 46 Follett: Säulen der Erde (wie Anm. 4), S. 642. Dazu RAMET (wie Anm. 17), S. 102: „…the plucky, indomitable woman of the woods, Ellen, is paralleled by the plucky, indomitable noblewoman, Aliena.“ Vgl. hier S. 101f. zu weiteren parallelen Figuren und Szenen. 47 Follett: Tore der Welt (wie Anm. 4), S. 51.

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armten Ritters, zögert aber lange Zeit, ihn zu heiraten, weil sie ihr Leben nicht durch einen Mann bestimmen lassen will: Caris hatte immer noch Vorbehalte gegen die Ehe. Die Vorstellung, ihre Unabhängigkeit aufzugeben und jemandes Eigentum zu werden, ängstigte sie nach wie vor, obwohl sie wusste, dass Merthin nicht zu den Männern gehörte, die ihre Frau misshandelten. Bei den wenigen Gelegenheiten, da sie ihre Gefühle gestanden hatte – Gwenda oder Mattie Wise gegenüber –, hatte man ihr gesagt, sie denke wie ein Mann. Nun, dann war das eben so; daran konnte sie auch nichts ändern.48

Im Laufe des Romans lässt sich Caris zur Wahl des Ratsältesten aufstellen, tritt aber vor der Wahl und der Hochzeit mit Merthin ins Kloster ein, da sie als Hexe angeklagt wird und so der Verurteilung entgehen will. Caris wird Leiterin des Klosterhospitals, später auch Priorin des Klosters, heiratet zuletzt gleichwohl Merthin und wird Leiterin des städtischen Hospitals, das Merthin baut. Während ihrer Zeit im Kloster kümmert sich Caris intensiv um Pestkranke und verfasst ein Arzneibuch: nicht auf Latein, sondern in der Volkssprache Englisch, und nicht „nach den Körpersäften oder den Klassen der Krankheiten“ rubriziert, sondern anhand von Krankheitssymptomen bzw. Schmerzen.49 Als ein Apotheker eine Kopie des Buches kaufen will und sie beeindruckt fragt, woher sie ihr Wissen habe, da doch in den alten Texten berühmter Gelehrter kaum etwas davon zu finden sei, antwortet Caris: Die alten Texte waren mir nie sehr nützlich. […] Ich habe […] über Jahre hinweg ein Tagebuch über die Wirkungen eines jeden Mittels geführt, das ich je ausprobiert habe. In mein Buch habe ich dann nur die Arzneien aufgenommen, deren Wirksamkeit ich mit eigenen Augen mehrmals beobachten konnte.50

In Caris als heilkundiger, emanzipierter Frau treffen wir wie schon in den Säulen der Erde auf den Typus der starken Frau. Inwieweit nun ist ihre Darstellung historiographisch rückversichert? Tatsächlich gab es im Mittelalter ausgebildete Ärztinnen: die ‚mulieres Salernitanae’, die Frauen von Salerno. An der dortigen Universität zählte nicht das Geschlecht, sondern nur das fachliche Können.51 Nicht so in England, wo ein Universitätsstudium ausgeschlossen war.52 Auch Caris kann nicht an einer Universität studieren. Sie eignet sich ihr Wissen von der heil- und kräuterkundigen 48 49 50 51 52

Follett: Tore der Welt (wie Anm. 4), S. 605. Follett: Tore der Welt (wie Anm. 4), S. 1115f., vgl. auch 651. Follett: Tore der Welt (wie Anm. 4), S. 1116. Vgl. K NUST: Neues aus dem Mittelalter (wie Anm. 5). Vgl. GERHARD BAADER : Arzt, I.–V. In: Lexikon des Mittelalters, München 2003, Bd. 1, Sp. 1098–1101, hier Sp. 1099, sowie BERNHARD D. H AAGE : Frauen, heilkundige. In: En-

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„weisen Frau“ Mattie Wise und von weiteren Heilkundigen an wie der Nonne Mutter Cecilia, dem Bader Matthew Barber und dem französischen Feldscher Martin Chirurgien53 sowie durch Beobachtung und Erfahrung, um es in ihrem auf Englisch verfassten Arzneibuch festzuhalten. Auch wenn volkssprachliche Arzneibücher aus dem Mittelalter überliefert sind, so gehören nicht eben viele Frauen zu den Verfassern.54 Dass Caris ein solches Buch schreibt, charakterisiert sie mithin als außergewöhnliche Frau. Auffallend ist also, dass mit Gwenda und Caris in den Toren der Welt wieder die Idee der starken Frau des Mittelalters aufgegriffen wird, die uns mit Ellen und Aliena schon aus den Säulen der Erde bekannt ist. Follett wendet sich mit diesem Figurentypus an eine bestimmte Zielgruppe. Frauen, die gegen die Zwänge der Gesellschaft kämpfen, findet er am interessantesten. Und er weiß, dass sich starke Frauenfiguren auswirken – schließlich, so gibt er unumwunden zu, gefällt das seinen Leserinnen, die beträchtlichen Anteil am Verkaufserfolg der Säulen hatten.55 Die Darstellung dieser mittelalterlichen Frauenfiguren ist demnach deutlich publikumsorientiert. Follett befolgt zudem die bewährte Regel, dass sich Romanhelden, wie er selber sagt, „außergewöhnlich verhalten“56 müssen. Wie bereits erwähnt, wurde Die Säulen der Erde bei einer ZDF-Umfrage auf den 3. Platz der beliebtesten Bücher gewählt. Und angesichts der Tatsache, dass zwei Drittel der Wähler nach ZDF-Angaben Frauen waren,57 verwundert es letztlich nicht, dass ein Roman, der die beschriebenen Frau-

zyklopädie der Medizingeschichte. Hrsg. von WERNER GERABEK /BERNHARD D. H AAGE / GUNDOLF K EIL , Berlin 2005, S. 421–422. 53 Caris und die Nonne Mair helfen, als Jungen verkleidet, dem Feldscher bei der Versorgung der Verletzten in der Schlacht von Crécy. Vgl. Follett: Tore der Welt (wie Anm. 4), S. 739f.: „Martin Chirurgien hatte erkannt, dass Caris als Feldscher so tüchtig war wie er selbst. Er ließ ihr freien Zugang zu seinen Instrumenten, und so konnten sie und Mair unabhängig von ihm arbeiten… In einer Stunde auf dem Schlachtfeld lernte sie mehr als in einem Jahr im Hospital der Priorei.“ 54 Im deutschen Sprachraum herausragend war Regina Hurleweg, vgl. GUNDOLF K EIL : Regina Hurleweg. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hrsg. von KURT RUH /BURGHART WACHINGER , Berlin u. a. 1983, Bd. 4, Sp. 316–317. 55 Vgl. K NUST: Neues aus dem Mittelalter (wie Anm. 5). Auch in Folletts Thrillern kommen starke Frauen vor: „He takes great pride in the fact that his thrillers feature strong women in important roles with the result that his work reaches many more women than ordinary thrillers do“. TURNER (wie Anm. 16), S. 4f. 56 Zitiert nach K NUST: Neues aus dem Mittelalter (wie Anm. 5). 57 MONIKA G ANSTER : „Herr der Ringe“ ist das beliebteste Buch der Deutschen, 2.10.2004. www.faz.net/s/Rub1DA1FB848C1E44858CB87A0FE6AD1B68/Doc~E0ADC95D5F1CB4 3C2AB377112588470D0 ~ATpl~Ecommon~Scontent.html (Stand 30.3.2010). Dazu auch ARENS (wie Anm. 5), S. 378, der anmerkt, dass „überwiegend von Frauen und von der jungen Leserschaft“ Nominierungen abgegeben wurden.

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enfiguren vor dem Hintergrund des Mittelalters agieren lässt und – dem Verkaufserfolg zufolge – zugleich Frauen anspricht, eine solch hohe Wahlposition erreicht. Über die Figur der Caris als heilkundiger Frau kommen wir zum zweiten Punkt meiner Analyse.

2. Zur Präsentation von mittelalterlicher Medizin und Reliquienverehrung Hier ist zunächst auf die mittelalterliche Medizin einzugehen.58 Caris trifft in den Toren der Welt wiederholt auf Vertreter jener beiden medizinischen ‚Schulen‘, die die mittelalterliche Medizin prägten. Tonangebend sind Mönche, die Medizin an der Universität studiert haben und den antiken Autoritäten folgen. Ihnen gegenüber stehen Feldscher, Barbiere, heilkundige Nonnen und die bereits erwähnte Mattie Wise, eine weise, später als Hexe verschriene Frau, deren empirische Erfahrung in der Heilkunde von den Buchärzten nicht akzeptiert wird. Die Behandlungsmethoden dieser Praktiker werden von den studierten Medizinern rigoros abgelehnt. So rät etwa der oberste Arzt des Klosters, Bruder Joseph, den aufgeschlitzten Unterarm eines verletzten Ritters offen zu lassen und mithilfe einer Salbe zum Eitern zu bringen, damit üble Säfte entweichen können und die Wunde heilt. Der erfahrene Barbier Matthew Barber hingegen will die Wunde „mit warmem Wein auswaschen, dann nähen und schließlich verbinden“.59 Der Barbier wird von den Mönchen ausgelacht und weggeschickt. In Folge der Behandlung durch Bruder Joseph verliert der verwundete Ritter seinen Arm. Auch weisen die Mönchsärzte Caris’ Hygieneanweisungen zur Bekämpfung der Pest zurück, obwohl die Frau die Beobachtung gemacht hat, dass sich durch Maßnahmen wie Isolation der Pestkranken, Mundschutz und Essigwaschungen die Zahl der Neuinfektionen eindämmen lässt. Die Unterschiede zwischen der Universitätsmedizin und der praktischen Heilkunde werden von Follett quellennah dargestellt. Bei universitär gebildeten Medizinern des Hoch- und Spätmittelalters handelt es sich um einen „wissenschaftstheoret[isch] orientierte[n] Ärztetyp“.60 Diese Ärzte 58

Ein Bestseller-Roman der Gegenwart, in dessen Zentrum ein Bader und späterer Arzt sowie die Medizin des 11. Jahrhunderts im Mittelpunkt stehen, ist Noah Gordons Der Medicus (The Physician). Zu diesem Roman vgl. GERHARD FOUQUET: Platz 7, Noah Gordon: Der Medicus. In: Die Lieblingsbücher der Deutschen. Hrsg. von CHRISTOPH JÜRGENSEN, Kiel 2006, S. 216–239. 59 Follett: Tore der Welt (wie Anm. 4), S. 62. 60 BAADER (wie Anm. 52), Sp. 1099.

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sind von weitaus praktischer arbeitenden Chirurgen und Barbieren zu unterscheiden. Chirurgen wurden „zu den niederen Berufen gezählt“, auch wenn in Salerno „Ende des 12. und im 13. Jh. und in Bologna vom 13. Jh. an […] die Ausbildung der Chirurgen universitär“ verläuft und die Pariser Chirurgen sich „bald in einer fakultätsähnl[ichen] Institution [formieren], die auch Prüfungen abnimmt und deren Angehörige ein der Schulmedizin vergleichbares Ausbildungssystem und Selbstverständnis besitzen“.61 Auf dem 4. Laterankonzil von 1215 war es Klerikern zudem verboten worden, die Chirurgie auszuüben. Noch unter solchen „quasiuniversitären Chirurgen“ standen jene „wenig gebildeten, des Lat[einischen] nicht mächtigen Wundärzte, Barbiere, Bartscherer und Bader“, die das Bild des Chirurgen nördlich der Alpen bestimmen.62 Unter diesen heilkundigen Praktikern, deren praktische Fertigkeiten die der Buchärzte übertroffen haben mögen, gab es auch Frauen. Unter den Wanderärzten ließen sich weibliche Vertreter finden.63 Auf dem Land waren die Menschen auf solche handwerklichen Heiler angewiesen, da gelehrte Mediziner dort (bis ins 19. Jahrhundert) ohnehin nicht zu finden waren. Studierte Ärzte lebten häufig an Fürstenhöfen und wurden „oft mit einer fetten kirchlichen Pfründe ausgestattet“.64 Doch auch in den Städten kümmerten sich Frauen um Kranke: „Zwischen 1389 und 1497 sind in Frankfurt 15 Ärztinnen, darunter Chirurginnen nachgewiesen.“65 Die Figur der Caris als empirisch medizinisch gebildeter Frau ist insofern realistisch geschildert, auch wenn es keinen historischen Beleg für ein von einer Frau verfasstes englischsprachiges Arzneibuch aus dem 14. Jahrhundert gibt. Dass Caris dabei (trotz aller Unterschiede in Werk und Person) an Hildegard von Bingen erinnern mag, deren medizinische Abhandlungen noch heute Bedeutung haben,66 ist vor allem der Bekanntheit und Beliebtheit Hildegards zuzuschreiben, dazu der Tatsache, dass Hildegard auch volksmedizinische Aspekte aufnahm. Spricht man von der Medizin des Mittelalters, so ist der Sprung zur Reliquien- und Heiligenverehrung der Epoche nicht groß. Heiligenreliquien galten als ungemein wirkmächtig, denn Heilige „boten Hilfe, materiell

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BAADER (wie Anm. 52), Sp. 1099. BAADER (wie Anm. 52), Sp. 1099f. SCHUBERT (wie Anm. 32), S. 345f. SCHUBERT (wie Anm. 32), S. 339. SCHUBERT (wie Anm. 32), S. 346. Auch Hildegard von Bingen, die im 12. Jahrhundert, rund 200 Jahre früher, lebte, schrieb ihre medizinischen Werke auf Latein, vgl. K NUST: Neues aus dem Mittelalter (wie Anm. 5). Zu Hildegard vgl. H EINRICH SCHIPPERGES : Hildegard von Bingen. In: Enzyklopädie der Medizingeschichte. Hrsg. von WERNER GERABEK /BERNHARD D. H AAGE / GUNDOLF K EIL , Berlin 2005, S. 594–595, und HAAGE (wie Anm. 52), S. 421.

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wie geistig, in Krankheit und Sünde, auf dem ganzen beschwerlichen Weg des Lebens und noch auf dem Weg zum Himmel“.67 An den Gräbern von Heiligen sowie in ihren Reliquien sollte die Kraft des Heiligen, ja sogar der Heilige selbst präsent sein. Sogar die Erde vom Grab eines Heiligen galt als heilsam und wurde von Gläubigen oral eingenommen.68 Der Prior Philip fragt sich im Roman, wie er den heiligen Adolphus dazu bewegen könne, durch seine Reliquien ein neues Wunder zu wirken: Wenn die Gebeine des heiligen Adolphus auch nur eine einzige Prinzessin von der Pest heilen, nur ein einziges Mal brackiges Brunnenwasser in frisches Süßwasser verwandeln würden, kämen die Menschen sogleich in Scharen nach Kingsbridge gepilgert. Aber der Heilige hatte schon seit Jahren keine Wunder mehr gewirkt.69

Bei den Überlegungen, die Follett seine Figur hier anstellen lässt, unterläuft dem Autor ein Fehler, der vielleicht nur dem gewünschten dramatischen Effekt geschuldet ist: Denn die Pest stellt kein Problem des 12. Jahrhunderts dar, sondern wird erst zweihundert Jahre später in Europa wüten.70 Dagegen wird der Reliquienkult des Mittelalters in den Säulen der Erde authentisch dargestellt.71 Als die alte Kathedrale von Kingsbridge abbrennt, retten die Mönche unter Lebensgefahr den Sarg mit den Überresten des heiligen Adolphus. Das hat nicht nur fromme Gründe, wie Follett treffend beschreibt: Das Skelett des Heiligen ruhte in einem Holzsarg innerhalb des Grabmals. In regelmäßigen Abständen wurde die schwere Steinplatte des Grabmals gehoben

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A RNOLD A NGENENDT: Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, 2. Aufl. Hamburg 2007, S. 353. 68 Vgl. CHRISTINE K NUST: Wallfahrtsorte, Wanderschausteller und das World Wide Web. Ökonomisierung und Verehrung von Heiligenreliquien in Mittelalter und Gegenwart. In: Objekt Leiche. Technisierung, Ökonomisierung und Inszenierung toter Körper. Hrsg. von DOMINIK GROß /JASMIN GRANDE , Frankfurt/M. u. a. 2010, S. 337–360, hier S. 346; vgl. auch A NGENENDT (wie Anm. 67), S. 132, sowie L OTHAR KOLMER : Heilige als magische Heiler. In: Mediaevistik 6 (1993), S. 153–175, hier 160f. 69 Follett: Säulen der Erde (wie Anm. 4), S. 772. 70 Zur Absenz der Seuche zwischen der Justinianischen Pest (6. bis 7. Jahrhundert) und dem Schwarzen Tod des 14. Jahrhunderts siehe FOUQUET (wie Anm. 58), S. 235f., der darauf hinweist, dass in Noah Gordons Medicus eine „Persische Pest“ vom Autor erfunden wird, obwohl sich die Seuche zwischen beiden Pandemien „so gar nicht zeigen mochte, sondern träge in den endemischen Weiten Innenasiens verharrte“ (S. 236). Zur Pest im Frühmittelalter siehe K LAUS BERGDOLT: Der Schwarze Tod in Europa. Die große Pest und das Ende des Mittelalters, 2. Aufl. München 1994, S. 15: „Die verlustreichste Epidemiewelle überzog um 750 Italien. Kurz darauf erlosch die Pest endgültig. Erst 1347, nach rund 600 Jahren, sollte die Krankheit Europa wieder in Angst und Schrecken versetzen.“ Wie bei Gordon finden wir bei Follett aber eine hochmittelalterliche Pest. 71 Auch in den Toren der Welt werden die Reliquien des heiligen Adolphus wieder erwähnt; vgl. Follett: Tore der Welt (wie Anm. 4), S. 213ff., S. 300ff. u. ö.

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und der Sarg öffentlich zur Schau gestellt. Obwohl aus früheren Zeiten überliefert war, daß Kranke, die sein Grabmal berührt hatten, auf wundersame Weise geheilt wurden, war Adolphus in den vergangenen Jahren ein wenig in Vergessenheit geraten. Die sterblichen Überreste eines Heiligen konnten eine große Attraktion für eine Kirche sein. Sie lockten nicht nur viele Pilger an, sondern stärkten auch den Glauben allgemein. Da sie sehr viel Geld einbrachten, kam es sogar vor – welch eine Schande! –, daß Mönche Heiligenreliquien aus anderen Kirchen stahlen. Philip hatte vor, das Interesse an Adolphus wiederzubeleben. Er mußte das Skelett retten.72

De facto reisten Gläubige vielfach an Orte, an denen sich Heilwunder ereignet haben sollen. Häufig handelte es sich um Reiseziele, an denen sich Reliquien befanden. Heilungserfolge waren natürlich bestens geeignet, den Ruf einer Wallfahrtsstätte zu festigen und zu heben.73 Aber nicht nur von Reliquien, sondern auch von Heiligenbildnissen und christlichen Symbolen wurde Wundersames berichtet.74 Ein solches Bildnis steht im Roman, neben den Reliquien des heiligen Adolphus, ebenfalls exemplarisch für die mittelalterliche Heiligenverehrung: Jack bringt aus Spanien eine hölzerne Madonnenstatue mit, aus deren Kristallaugen bei schneller Temperaturänderung Wasser tropft. Er gibt dies als Wunder Gottes aus, geht mit ihr auf Werbetour für den Dombau zu Kingsbridge, wo das Wunderwerk fortan aufbewahrt werden soll, und nimmt dabei hohe Spendengelder ein. Um in Kingsbridge eine prachtvolle Kathedrale bauen zu können, erzählt Jack, die Madonna selbst habe nach einer „neue[n], schönere[n] Kirche“75 verlangt. Zur wirkungsvollen Inszenierung der weinenden Madonna tragen außerdem als Sarazenen verkleidete Fischer sowie ein angeblich Lahmer bei, der beim Anblick der Madonna ‚geheilt‘ wird. Für diesen Umgang mit der Heiligenstatue gibt es reale Vorbilder. Aus dem Mittelalter ist eindrucksvoll überliefert, wie beliebt solche Artefakte bei den Gläubigen waren und wie sehr sie verehrt wurden. Der mittelal-

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Follett: Säulen der Erde (wie Anm. 4), S. 287. Vgl. K NUST Heiligenreliquien (wie Anm. 68), S. 346. Vgl. CHRISTINE K NUST: Mainestu nit, das sy got hab getroestet? Vier Predigten Heinrich Kalteisens OP – eine literaturwissenschaftliche Analyse, Baden-Baden 2007, S. 187, sowie K LAUS SCHREINER : Soziale, visuelle und körperliche Dimensionen mittelalterlicher Frömmigkeit. In: Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen. Hrsg. von dems., München 2002, S. 9–38, hier S. 25. Hierzu auch A NGENENDT (wie Anm. 67), S. 188f.: „Mochte auch offiziell den Bildern alle Heilsmacht abgesprochen werden, so konnten sie in Wirklichkeit dennoch eine solche besitzen, nicht nur in Verbindung mit Reliquien […]. Im Kult erfuhren die Bilder die gleiche Ehrung wie die Reliquien.“ Und es gebe, so Angenendt, „in der westlichen Christenheit, wie schon im Osten, genügend Beispiele dafür, daß Bilder ‚verletzt‘ werden können, dass sie erbleichen, weinen oder gar bluten“. Follett: Säulen der Erde (wie Anm. 4), S. 843.

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terliche Christ ging von einer physischen Präsenz Jesu Christi in der Hostie aus, so dass er daraus schlussfolgern durfte, ein deutlich dargestellter Heiliger auf einem richtigen Bild müsse noch viel präsenter sein.76 Mithin kommt es in den Säulen der Erde zur Heilung einer durch ein Trauma verstummten Frau, die beim Anblick der Madonnenstatue wieder sprechen kann. Eine derartige Heilung könnte sich tatsächlich ereignet haben – LOTHAR KOLMER zufolge ist „in der modernen medizinischen Literatur unbestritten, daß besonders psychische Krankheiten eher durch Heilige zu kurieren waren“ als durch Ärzte.77 Behauptungen wie jene von Jack, die Madonna habe den Kathedralenbau befohlen, weshalb Spenden im Tausch mit dem Segen der Muttergottes geleistet werden könnten, sind ebenso aus mittelalterlichen Quellen überliefert. Häufig wurde mit Heiligenreliquien Betrug getrieben. Dies war schon zu Zeiten von Augustinus verbreitet, denn dass Wallfahrtsorte mit ihren Reliquien große Menschenmassen anzogen und Gläubigen Trost boten, nutzten auch wandernde Reliquienschausteller für ihre Zwecke.78 Diese „Kirchenbitter“ bzw. „Stationierer“ zogen von Ort zu Ort und baten „vor allem im Namen des Heiligen, dessen Reliquie sie mit sich tragen, um Beisteuern zum Bau neuer, diesem Heiligen geweihter Kirchen“.79 Auch mit Heiligenbildnissen versuchte man, die Menschen zu einer Spende zu bewegen: „Der Spitalmeister Johann Schweblin lamentiert um 1500: Dann kümen die ausgeloffen Münch, landromig Pfaffen, finden einen alten Bildstock, ein alt Bild darin, eines ist gut für Pestilenz, das ander für St. Kürins Plag, das dritt entledigt besessen Menschen […] und was jeder kann erdenken.“80 Follett beschreibt also sowohl die Dichotomie zwischen der universitären Schulmedizin und der empirischen Heilkunde im Mittelalter als auch den Heiligen- und Reliquienkult des Mittelalters durchaus treffend und plastisch. Stellt sich nun die Frage, wie neben dem Alltagsleben auch

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Vgl. K NUST: Vier Predigten Heinrich Kalteisens OP (wie Anm. 74), S. 188, sowie PETER DINZELBACHER : Religiöses Erleben vor bildender Kunst in autobiographischen und biographischen Zeugnissen des Hoch- und Spätmittelalters. In: Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen. Hrsg. von K LAUS SCHREINER , München 2002, S. 299–330, hier S. 305. 77 KOLMER (wie Anm. 68), S. 161. 78 Vgl. K NUST: Heiligenreliquien (wie Anm. 68), S. 349, sowie SCHUBERT (wie Anm. 32), S. 288; ferner A NTON L EGNER : Reliquien in Kunst und Kult zwischen Antike und Aufklärung, Darmstadt 1995, S. 53. 79 SCHUBERT (wie Anm. 32), S. 288. 80 SCHUBERT (wie Anm. 32), S. 289, unter Bezug auf Johannes Schweblin: Deutsche Schriften. Hrsg. von BERNHARD H. BONKHOFF, Speyer 2009, S. 87f.

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herausragende historische Ereignisse in Folletts Mittelalterromanen dargestellt werden.

3. Die Pest in Folletts Toren der Welt Herausgreifen möchte ich hier die Pestkatastrophe um 1350, die in den Tore der Welt tragend ist: Auf einem guten Drittel der über 1000 Seiten wütet die Pest.81 Sie ist damit eines der zentralen Themen des Romans, gleichzeitig auch Movens der Handlung, da durch Pesttode Machtgefüge und Beziehungskonstellationen im Roman laufend verändert werden. Die Katastrophe ist für diese Zeit verbürgt, um 1350 raffte der Schwarze Tod, wie die große europäische Pandemie aufgrund der schwarzen Beulen und des blutigen Auswurfs der Infizierten hieß, in ganz Europa innerhalb weniger Jahre schätzungsweise etwa 20 bis 25 Millionen Menschen hin, rund 30 Prozent der Bevölkerung.82 Wie sehr die mittelalterliche Gesellschaft durch die Pest erschüttert wurde, stellt Follett anschaulich dar. Auch die rasche Ausbreitung der Seuche in Europa schildert er realistisch. Auffallend ist seine Darstellung der Übertragung des Pesterregers – doch werfen wir zuerst einen Blick auf die Infektionswege der Pest: Wie KLAUS BERGDOLT erklärt, sind Nagetiere die Hauptwirte des Pestbazillus, besonders aber „Ratten, die homolog, d. h. über bereits infizierte Artgenossen durch den Biß (‚Stich‘) des Ratten- oder Pestflohs […] infiziert werden“. Infizierte Hausratten bringen den Erreger (im Gegensatz zu Wanderratten) „massenhaft in menschliche Siedlungsräume, in Häuser, Speicher, Keller, aber auch Laderäume von Schiffen. Da der Rattenfloh gleichzeitig menschenpathogen ist, besteht damit Lebensgefahr für die Bevölkerung.“83 Auch Menschenflöhe sind Überträger des Erregers, „so daß bei zunehmender Infizierung der Bevölkerung zwangsläufig auch ein homologer Infektionsmechanismus von Mensch zu Mensch einsetzt und die Mortalitätsziffer steigert“. Von Mensch zu Mensch übertragen wird die Krankheit außerdem „über den Nasen-Rachen-Raum“.84

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Vgl. K NUST: Neues aus dem Mittelalter (wie Anm. 5). Ein weiteres historisches Ereignis im Roman bildet die Schlacht von Crécy zu Beginn des Hundertjährigen Krieges, die Follett wirklichkeitsnah schildert; vgl. K NUST: Neues aus dem Mittelalter (wie Anm. 5). Bei dieser Schlacht arbeitet Caris als Feldscher (s. o.). 82 Vgl. K NUST: Neues aus dem Mittelalter (wie Anm. 5), sowie BERGDOLT: Der Schwarze Tod (wie Anm. 70), S. 10. 83 BERGDOLT: Der Schwarze Tod (wie Anm. 70), S. 17 84 BERGDOLT: Der Schwarze Tod (wie Anm. 70), S. 17f.

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In den Toren der Welt haben Ratten oder Rattenflöhe hingegen keine Funktion als Überträger des Pesterregers. Denn der Experte, der Follett zur Pest im Spätmittelalter beraten hat, war Sam Cohn von der University of Glasgow. Cohn vertritt die umstrittene Ansicht, dass es sich beim Schwarzen Tod des 14. Jahrhunderts gar nicht um die Beulenpest gehandelt habe, die durch Ratten übertragen wird, sondern um eine andere Krankheit mit einer völlig anderen Symptomatik und Übertragungsgeschwindigkeit als die Beulenpest des 20. Jahrhunderts.85 So habe es in England gar nicht genügend Ratten für eine Epidemie der Beulenpest geben können.86 In den Toren der Welt gibt es daher keine Ratten oder Rattenflöhe – dafür aber den ‚Gestank von verschwitzten Leibern, Erbrochenem und Blut in Caris’ Hospital. Die Pest überträgt sich bei Follett allein durch Kontakte zwischen Menschen.87 Abgesehen davon, dass es im England des 14. Jahrhunderts „bereits jede Menge Hausratten“ gegeben haben dürfte, wie ein Schädlingsexperte mitzuteilen weiß,88 erklärt BERGDOLT: Beulen- und Lungenpest stellten […] nur verschiedene Verlaufsformen derselben Krankheit dar. Jederzeit konnte die Bubonenpest in die gefährlichere Form übergehen! […] Natürlich lassen sich die während der letzten hundert Jahre gewonnenen Detailkenntnisse über Pathomechanismus und klinische Verlaufsformen der Pest nur mit Vorbehalten auf den Schwarzen Tod des 14. Jahrhunderts übertragen, da Bazilleneigenschaften sich ohne weiteres ändern können.89

Die Darstellung der Pest als ausschließlich humanpathogener Krankheit in den Toren der Welt beruht also auf einer gewagten Hypothese. Letztlich aber hat Follett die Pest als Motiv seines Romans deshalb ausgesucht, weil er sie so „dramatisch“ findet.90 Auch hier entscheidet wieder die Orientierung am Lesepublikum.

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Vgl. SAMUEL K. COHN JR .: The Black Death: End of a Paradigm. In: American Historical Review 107 (2002), S. 703–738, hier S. 703 u. 717, sowie ders.: The Black Death Transformed: Disease and Culture in Early Renaissance Europe, London 2003. COHN : The Black Death: End of a Paradigm (wie Anm. 85), S. 713f.; vgl. K NUST: Neues aus dem Mittelalter (wie Anm. 5). Vgl. K NUST: Neues aus dem Mittelalter (wie Anm. 5). Merthin, der die Pest in Florenz überlebt hat, erzählt Caris: „Meist wird die ganze Familie krank, wenn jemand sich die Pest zuzieht. Die Nähe ist der Schlüssel zur Ansteckung“. Follett: Tore der Welt (wie Anm. 4), S. 834. Befragt wurde der Zoologe und Schädlingsexperte des Umweltbundesamtes Erik Schmolz; zitiert nach K NUST: Neues aus dem Mittelalter (wie Anm. 5). BERGDOLT (wie Anm. 70), S. 19. Vgl. jetzt auch K IRSTEN I. BOS u.a.: A Draft Genome of Yersinia Pestis from Victims of the Black Death. In: Nature 478 (2011), S. 506–510. Vgl. K NUST: Neues aus dem Mittelalter (wie Anm. 5), zitiert nach ebd. Außerdem sieht Follett im Kampf gegen die Seuche eine Art Zeitenwende dämmern: Für ihn stellen die Pesttraktate des Mittelalters den Beginn der modernen Medizin dar. Historiker sehen das anders: Sie setzen den Beginn der modernen Medizin in der Frühen Neuzeit an, etwa

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4. Fazit: Welches Mittelalterbild wird in den Säulen der Erde und den Toren der Welt entworfen? Das Mittelalter in Folletts Säulen der Erde und den Toren der Welt ist ein historisches Setting, das die Grundlage für die Abenteuer, Irrungen und Wirrungen der Protagonisten bildet. In beiden Romanen gibt es ein Happy End, in beiden tauchen stereotype Figuren auf: machthungrige Mönche, die um jeden Preis die Klosterführung übernehmen wollen oder gar nach der Bischofswürde trachten; erbarmungslose Bösewichte, die morden, intrigieren und dazwischen Frauen vergewaltigen; emanzipierte, begabte Frauen, die sich in einer Männerdomäne behaupten, aufrecht bleiben und die große Liebe finden. Den Erfolg von mittelalterbezogenen historischen Romanen führt Follett darauf zurück, dass trotz der Alterität des mittelalterlichen Lebens die damaligen Menschen „von denselben Leidenschaften wie wir getrieben“ worden seien. Es sei faszinierend, sich selbst unter diesen Umständen vorzustellen.91 Follett erschafft damit Projektions- und Identifikationsmöglichkeiten innerhalb einer mittelalterlichen Atmosphäre: Das Mittelalter als Epoche steht zwar konträr zur Gegenwart und damit zur Erfahrungswelt der Leserin und des Lesers, doch die Gestaltung der Figuren mit ihren Sehnsüchten, Hoffnungen und Eigenschaften gestattet es, sich mit ihnen zu vergleichen und Gemeinsamkeiten zu entdecken. Gleichzeitig besitzen seine Mittelalterromane – ebenso wie seine Spionageromane – ein hohes Spannungsniveau und sind in jenem Stil verfasst, den Follett selbst (s. o.) ‚transparent prose‘ nennt. In vielen, doch nicht in allen Punkten historiographisch rückversichert, orientiert sich Follett an Geschmack und Erwartungen seines Publikums:92 Es ist eher der moderne Blick, mit dem Follett das 14. Jahrhundert betrachtet. Ken Follett ist nach fast 20 Jahren nach Kingsbridge zurückgekehrt, weil seine Leserinnen und Leser das wünschten. Auch Die Tore der Welt sind ein ‚typischer Follett‘ geworden. Sie erzählen eine Geschichte, die aus dem gegenwärtigen Alltag mit William Harvey, der 1628 den Blutkreislauf entdeckte; Vgl. K NUST: Neues aus dem Mittelalter (wie Anm. 5). Vgl. hierzu BARBARA I. THISUAKA : William Harvey. In: Enzyklopädie der Medizingeschichte. Hrsg. von WERNER GERABEK /BERNHARD D. H AAGE / GUNDOLF K EIL , Berlin 2005, S. 528, und dies.: Blutkreislauf. In: Enzyklopädie der Medizingeschichte. Hrsg. von WERNER GERABEK /BERNHARD D. H AAGE /GUNDOLF K EIL , Berlin 2005, S. 194–195, hier S. 195. 91 Zitiert nach K NUST: Neues aus dem Mittelalter (wie Anm. 5). Vgl. auch TURNER (wie Anm. 16), S. 6, und R AMET (wie Anm. 17), S.108. 92 „Follett watches his field carefully and reads widely; his determination to write stories as he chooses does not exclude adjusting his sense of what a reader will find exciting and interesting“. TURNER (wie Anm. 16), S. 7.

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führt. Dass die Reise in eine schöne Kulisse geht, in der reichlich geliebt und gelitten wird, ohne dass einen der ‚allgegenwärtige Gestank‘ der realen mittelalterlichen Welt allzu sehr einhüllt, werden die meisten verschmerzen können.93 GERHARD FOUQUET schreibt in seiner Untersuchung von Noah Gordons Medicus: „Müßig ist es, dem Medicus Noah Gordons Anachronismen vorzuwerfen, wir haben sie nur festzustellen.“94 Um Vorwürfe ging es auch nicht in diesem Beitrag zu Ken Folletts Mittelalterromanen, sondern um eben solche notwendigen Feststellungen von Anachronismen innerhalb eines bestimmten Mittelalterbildes. Folletts Romane sind zweifellos aufwändig recherchiert. Wenn er aber beispielsweise die Pest als Problem des 12. Jahrhunderts erwähnt, stoßen wir auf einen Anachronismus, der beabsichtigt sein kann – oder auch nicht. FOUQUET schreibt weiter: „In der Mischung der Zeiten besteht seit je der Trick des Historischen Romans; er projiziert ‚die Bewusstseinslagen späterer Epochen auf die Bühnen der Vorwelt‘“.95 Aber handelt es sich dabei stets um einen ‚Trick‘ im Sinne einer Absicht des Verfassers, oder geschehen solche Projektionen nicht auch ungewollt?

93 Vgl. K NUST: Neues aus dem Mittelalter (wie Anm. 5). 94 FOUQUET (wie Anm. 58), S. 232. 95 FOUQUET (wie Anm. 58), S. 232.

ANNABELLE HORNUNG

Der Gral decodiert? Produktive Rezeption eines mittelalterlichen Motivs im Da Vinci Code von Dan Brown Der Da Vinci Code von Dan Brown ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Bestseller.1 Spätestens als seine Verfilmung mit großer Medienpräsenz ins Kino gekommen ist – und den zweiterfolgreichsten Filmstart direkt nach Star Wars erzielte –, hat der Roman höchste Popularität erlangt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb zu Recht: „Es ‚danbrownt‘ überall.“2 Was jedoch ist es, das den Da Vinci Code beliebter gemacht hat als andere Thriller? Ist es der brisante Mix aus Geheimgesellschaften, Verschwörungstheorien und Verstrickungen der Kirche, die die Faszination für eine breite Leserschaft ausmacht? Falls diese Frage positiv beantwortet werden sollte, lässt sich einwenden, dass Dan Browns vorhergehender Roman Illuminati, der mit demselben Protagonisten und einer ähnlichen Mischung aus verschlüsselten Geheimbotschaften sowie der ominösen Rolle der katholischen Kirche aufwartet, nicht annähernd so erfolgreich gewesen ist.3 Die Erklärung für über 40 Millionen verkaufte Exemplare muss somit woanders liegen. Die Popularität des Da Vinci Codes gründet wohl darin, dass das Buch eines der ältesten Rätsel der Menschheit zu lösen versucht,

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Die zitierten Stellen des Romans sind der deutschen Ausgabe entnommen: Dan Brown: Das Sakrileg, Bergisch Gladbach 2004. Dem deutschen Titel Sakrileg wird im Folgenden jedoch der englische Titel Da Vinci Code vorgezogen. Der deutsche Titel führt auf eine falsche Fährte, wohingegen derjenige der Originalausgabe den Kern des Romans ausdrückt: Es geht um Codierungen und verschlüsselte Botschaften, die auf der Gralssuche eine Rolle spielen. H ANNES HINTERMEIER : Dan Browns Verlag. Sakrilogo. In: faz.net, 17.5.2006. Neben den Verkaufszahlen bestätigt auch die Reihenfolge der Verfilmung beider Romane diese Rangfolge: Obwohl der Plot von Illuminati chronologisch vor demjenigen des Da Vinci Code liegt, wurde letzterer zuerst verfilmt.

Der Gral decodiert?

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nämlich dasjenige des Grals:4 Browns Roman ist eine moderne Version der Gralsgeschichte. Der Gral, das faszinierende ‚Ding‘, ist bereits seit dem Mittelalter das Ziel unzähliger Suchen und Motiv verschiedener Geschichten. Die Uneindeutigkeit und Unterschiedlichkeit sowohl in der Beschreibung seiner Gestalt als auch in der Nennung seiner Fähigkeiten bringt seit jeher Versuche hervor, herauszufinden, was oder wie der Gral (in Wahrheit) ist. Die ständigen Rezeptionen und Interpretationen der Gralsgeschichte(n) – sowohl literarischer als auch wissenschaftlicher Art – schreiben fortwährend dessen Mythos weiter und ermöglichen dadurch immer wieder neue Lesarten des Grals bis in die heutige Zeit: Highly influential contributions to the Grail discussion serve indicators of intellectual and cultural paradigms informing the continuing evolution of the legend. Both scholarship and cultural trends inspire modern texts that make the legend a focus on cultural conflict, transform the Grail into metaphor and appropriate it for new kinds of spirituality.5

Obwohl die Geschichten rund um den Gral so disparat sind, seien im Folgenden dennoch die wichtigsten Merkmale des Bereichs genannt, der in diesem Aufsatz als ‚Sphäre des Grals‘ oder ‚Gralssphäre‘ bezeichnet wird:6 Der Gral ist in manchen Versionen ein Gefäß, möglicherweise sogar der Kelch des Abendmahls, in anderen Texten ist er eine Schale oder eine Platte. Sein Erscheinen, das in ein Ritual eingebunden ist, wird oft von anderen Gegenständen begleitet, wie beispielsweise von einem Speer oder Schwert. Bei dieser feierlichen Prozession lässt sich der Gral nur von Jungfrauen, Kindern oder Engeln tragen, und manchmal sind verwundete Könige und Tempelritter mit ihm verbunden. Er kann Wunden heilen, Nahrung spenden, er hält die Betrachter am Leben, macht sie sogar unsterblich, aber er

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Zum Erfolg der produktiven Rezeption von mittelalterlichen Themen, Motiven und Mythen in der Populärkultur siehe die Beiträge von CHRISTINE K NUST und A NDREA SIEBER im vorliegenden Band. JOHN B. M ARINO : The Grail Legend in Modern Literature, Cambridge 2004, S. 12f. M ARINOS Untersuchung geht nur mit einem Satz auf Dan Brown ein und spricht eher abfällig über den literarischen Gehalt des Da Vinci Codes: „Even though Eco [gemeint ist dessen Buch Das Foucaultsche Pendel, Anmerkung A. H.] makes books like Holy Blood, Holy Grail seem ridiculous, this does not stop Dan Brown, The Da Vinci Code (2003) from using that very book for a novel“ (ebd., S. 137). Zum Bereich der Gralssphäre gehören, wie aus den mittelalterlichen Versionen seiner Geschichte bekannt: die Gralssuche; deren direkte und indirekte Teilnehmer sowie seltener Teilnehmerinnen, Gralssucher genannt; die Gralsgesellschaft, die sich um den wie auch immer gearteten Gegenstand bildet; schließlich der Gral sowie das Ritual, in das er zumeist eingebunden ist.

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kann auch für Zerstörung und Verwüstung verantwortlich sein.7 Trotz der benannten vielfältigen Erscheinungsweisen und Eigenschaften haben alle Geschichten rund um den Gral eines gemeinsam: Der Gral ist immer mit der Suche nach seiner wahren Gestalt verbunden. Das Finden des ominösen Grals, indem man dessen Geheimnis hinter diversen Verschlüsslungen, Rätseln und ‚Codes‘ aufdeckt, ist auch das Erfolgsrezept des Buchs von Dan Brown. Wie der Da Vinci Code diese Suche und die Rezeption des mittelalterlichen Motivs inszeniert, ist der Fokus des vorliegenden Aufsatzes. Zu der Frage der Rezeptionsleistung gesellt sich jedoch noch ein weiterer Analysegegenstand, der zum einen die Faszination für den Mythos Gral bestärkt und zum anderen schon seit dem Mittelalter mit dem rätselhaften Gegenstand verschränkt ist: Der Gral ist mit der Verhandlung von Geschlecht und Begehren verbunden. Dies zeigt im Da Vinci Code beispielsweise die Antwort auf die Frage, was der Gral in Wahrheit ist. In Dan Browns Version der Gralsgeschichte ist er das Sinnbild für einen weiblichen Körper: Das Kelchzeichen hat Ähnlichkeit mit einem Trinkgefäß oder einer Schale, aber vor allem ähnelt es dem weiblichen Schoß. Es symbolisiert Weiblichkeit und Fruchtbarkeit. […] In der Legende wird berichtet, dass der Gral ein Kelch sei oder eine Schale. Aber das ist in Wirklichkeit eine Allegorie, mit der die wahre Natur des Heiligen Grals verschleiert worden ist. […] Der Gral ist das alte Symbol für das Weibliche, und als Heiliger Gral repräsentiert er das göttlich Weibliche und die Heiligkeit der göttlichen Urmutter.8

Der Da Vinci Code geht sogar noch weiter. Er definiert den Gral nicht nur als Symbol des weiblichen Körpers, sondern zeigt auch auf, wem dieser Körper gehört: Der Gral ist Maria Magdalena.9 Somit rückt auch bei Dan Brown gleichberechtigt neben den Gral – und der Suche danach – ein wie auch immer gearteter Bezug zum Geschlechterdiskurs. In den Gralstexten des Mittelalters wie Parzival, Prosa-Lancelot oder Diu Crône ist in der Sphäre des Grals Geschlecht und Begehren permanent Thema.10 Ge-

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Zu den vielfältigen Darstellungsweisen des Grals, vgl. DHIRA B. M AHONEY: Introduction and Comparative Table of Medieval Texts. In: The Grail. A Casebook. Hrsg. v. ders., New York u. a. 2000, S. 1–102, hier S. 1; ferner VOLKER M ERTENS : Der Gral. Mythos und Literatur, Stuttgart 2003. 8 Brown (wie Anm. 1), S. 342. 9 Vgl. Brown (wie Anm. 1), S. 342: „Die Legende vom Heiligen Gral ist eine Legende vom königlichen Geblüt. Wenn in der Legende die Rede ist vom ‚Kelch, der das Blut Christi aufgefangen hat‘ […] ja, dann ist in Wahrheit von Maria Magdalena die Rede, von dem weiblichen Schoß, der das Geblüt Christi getragen hat.“ 10 Die mittelhochdeutschen Gralstexte, die im Zentrum der Analyse stehen, sind: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übers. von Peter Knecht. Mit Einführungen zum Text

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schlechtergrenzen und -oppositionen werden verwischt sowie (hetero-)normative Begehrensstrukturen aufgebrochen. Man denke beispielsweise an die zumeist homosoziale Gruppe der Gralssucher, deren oberste Pflicht es ist, keusch zu sein und nicht zu begehren, an die widerspenstigen Inszenierungen von Geschlecht bei den ‚irgendwo am Oberschenkel oder zwischen den Beinen‘ verwundeten Gralskönigen sowie an die Rolle der Frauenfiguren in den unterschiedlichen Gralsgeschichten. Unter diesem Blickwinkel ist festzustellen, dass der Gral in jedem Roman, ob mittelalterlich oder zeitgenössisch, Geschlecht und Begehren in irgendeiner Form beeinflusst oder zu organisieren versucht. Der Art und Weise, wie der Gral in den jeweiligen Geschichten decodiert wird und wie sich diese Dechiffrierung auf die Eindeutigkeit von Geschlecht und Normativität von Begehren auswirkt, soll mithilfe eines Queer Readings nachgegangen werden.11 Dieses Lektüreverfahren ist das literarturwissenschaftliche Werkzeug der Queer Studies und geht auf die Forschungen der amerikanischen Literaturwissenschaftlerin EVE KOSOFSKY SEDGWICK zurück.12 Das Queer Reading ist ein

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der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der Parzival-Interpretation von BERND SCHIROK, 2. Aufl. Berlin u. a. 2003; Heinrich von dem Türlin: Diu Crône. Hrsg. von GOTTLOB HEINRICH SCHOLL , Stuttgart 1982; Lancelot und der Gral I. Prosalancelot III. Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ 147. Hrsg. von R EINHOLD K LUGE . Ergänzt durch die Handschrift MS. allem. 8017–8020 der Bibliothèque de l’Arsenal Paris. Übers. und hrsg. von H ANS -HUGO STEINHOFF, Frankfurt/M. 2003; Lancelot und der Gral II. Prosalancelot IV. Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ 147. Hrsg. von R EINHOLD K LUGE . Ergänzt durch die Handschrift MS. allem. 8017–8020 der Bibliothèque de l’Arsenal Paris. Übers. und hrsg. von H ANS -HUGO STEINHOFF, Frankfurt/M. 2003; Die Suche nach dem Gral. Der Tod des König Artus. Prosa-Lancelot V. Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ 147. Hrsg. von R EINHOLD K LUGE . Übers. und hrsg. von H ANS -HUGO STEINHOFF, Frankfurt/M. 2004. Queer Reading ist ein Lektüreverfahren der Queer Studies, siehe zur Einführung Queer Denken. Queer Studies. Hrsg. von A NDREAS K RAß, Frankfurt/M. 2003; Queer Studies in Deutschland. Interdisziplinäre Beiträge zur kritischen Heteronormativitätsforschung. Hrsg. von A NDREAS K RAß, Berlin 2009. Vgl. EVE KOSOFSKY SEDGWICK : Epistemology of the Closet, New York 1991; EVE KOSOWSKY SEDGWICK : Between Men. English Literature and Male Homosocial Desire, New York 1985. Das Queer Reading als Analyseverfahren wurde zunächst in der mediävistischen Forschung im amerikanischen Raum angewendet. Vgl. hierzu die Beiträge in Queering the Middle Ages. Hrsg. von GLENN BURGER /STEVEN F. K RUGER , Minneapolis u. a. 2001; A NNA K LOSOWSKA : Queer Love in the Middle Ages, New York 2005; TISON P UGH : Queering Medieval Genres, New York 2004. Im deutschsprachigen Bereich nimmt die kritische Heteronormativitätsforschung, wie die Queer Studies auch genannt werden, bezüglich vormoderner Analysegegenstände immer mehr zu. Vgl. unter anderem A NDREAS K RAß : Das erotische Dreieck. Homosoziales Begehren in einer mittelalterlichen Novelle. In: Queer Denken. Queer Studies. Hrsg. von A NDREAS K RAß, Frankfurt/M. 2003, S. 277–297; BEATRICE M ICHAELIS : Von tarnkappe, nagele und gêr – ‚Das Nibelungenlied‘ oder Was hat Sex mit Nation und Kanon zu tun? In: Queer Reading in den Philologien. Modelle und Anwendungen. Hrsg. von A NNA BABKA /SUSANNE HOCHREITER , Wien 2008, S. 129–149.

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Verfahren, in dem es in erster Linie um die Dekonstruktion der traditionellen Geschlechts- und Begehrensinszenierungen geht, „um eine Lektüre gegen den heteronormativen Strich“.13 Die Gralsromane als Analysegegenstand können mithilfe des Queer Readings sogar in doppelter Hinsicht entschlüsselt werden: Durch die Decodierung des Grals gelangt man zu einer Decodierung der Heteronormativität. Im vorliegenden Aufsatz wird, ausgehend von der produktiven Rezeption des mittelalterlichen Motivs, wie sie der Da Vinci Code vorführt, die Inszenierung von Geschlecht und Begehren in der Gralssphäre mit derjenigen der mittelhochdeutschen Versionen verglichen. Zudem wird sich zeigen, dass in den mittelalterlichen Gralsromanen subversives Potential liegt, das eine andere Lesart von Geschlechterinszenierungen und Begehrensstrukturen eröffnet.14

1. Die Gralssucher Die Handlung des Da Vinci Code setzt unvermittelt mit dem Mord am Direktor des Louvre ein.15 Die anschließende Aufklärung dieses Mordes führt schließlich die beiden Protagonisten des Romans, den Harvardprofessor für religiöse Symbolologie, Robert Langdon, und die französische Kryptographin, Sophie Neveu, zusammen. Es geht jedoch nicht nur um die Lösung des geheimnisvollen Todesfalls, denn die beiden Protagonisten befinden sich eigentlich auf der Suche nach dem Gral, dem „meistgesuchte[n] Schatz in der Geschichte der Menschheit. Er hat Legenden hervorgebracht, Kriege ausgelöst und zu lebenslangen Forschungen angespornt“.16 Zu Beginn wissen jedoch weder Robert Langdon noch So-

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A NDREAS K RAß : Queer Studies in Deutschland. In: Queer Studies in Deutschland. Interdisziplinäre Beiträge zur kritischen Heteronormativitätsforschung. Hrsg. von A NDREAS K RAß, Berlin 2009, S. 7–19, hier S. 17. Außerdem räumt K RAß mit einem der notorischsten Missverständnisse auf, die es im Zusammenhang mit den Queer Studies gibt: „Die Opposition queer/heteronormativ fällt nicht mit der Opposition homosexuell/heterosexuell zusammen. Wer Kritik an der heteronormativen Ordnung übt, kann selbstverständlich heterosexuell sein, und wer homosexuell ist, muss deswegen noch lange nicht eine heteronormativitätskritische Position vertreten“ (S. 8). Nach JUDITH BUTLER sind die Pole im Dreieck sex, gender und Begehren nicht festgelegt. Damit muss das Begehren den jeweiligen Geschlechtsidentitäten nicht in einem heteronormativen Sinne entsprechen. Vgl. JUDITH BUTLER : Das Unbehagen der Geschlechter. Übers. von Katharina Menke, Frankfurt/M. 1991. Vgl. Brown (wie Anm. 1), S. 11: Der Tote, Jacques Saunière, ist, so erfährt man auch gleich zu Anfang, Teil einer ominösen „Bruderschaft“ und wahrt ein „uraltes Geheimnis“, das ihm auch das Leben kostet. Brown (wie Anm. 1), S. 226.

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phie Neveu, was ihr Ziel ist.17 Dass sich die Protagonisten anfänglich unwissentlich auf Gralssuche begeben, ist ein aus der mittelalterlichen Gralsliteratur bekanntes Phänomen, ebenso wie die Tatsache, dass sich das wahre Ziel erst nach und nach herauskristallisiert. Auch Parzival in Wolframs von Eschenbach Gralsversion befindet sich schon auf der Suche, noch bevor er sich dieser Tatsache bewusst wird. Diese Unwissenheit führt schließlich zu Parzivals Versagen: Er versäumt es, nachdem er sich bereits auf der Gralsburg befindet und Zeuge des Erscheinen eines rätselhaften dinc (Parzival 235,23; „Ding“) geworden ist, nach den ominösen Vorgängen um sich herum zu fragen und damit den Gralskönig von seiner Krankheit zu erlösen.18 Auch der Protagonist eines anderen Gralsromans, Gawein in der Crône von Heinrich von dem Türlin, weiß bei seinem ersten Besuch auf der Gralsburg nicht,19 wo er sich befindet und welche Reaktion von ihm in dieser Situation verlangt wird. Er nimmt sich zwar vor, nach den Hintergründen der mysteriösen Prozession, deren Zeuge er geworden ist, zu fragen, zögert jedoch zu lange, so dass sich ihm am Ende keine Gelegenheit mehr dazu bietet.20 Im Da Vinci Code mutmaßt schließlich Robert Langdon, von Berufs wegen Experte für religiöse Symbolologie, dass er mit seiner Mitstreiterin auf der Suche nach dem Heiligen Gral ist.21 Er

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Von Beginn der Handlung an finden sich versteckte Anspielungen, dass es sich bei dem zu lüftenden Geheimnis um dasjenige des Grals handelt. Beispielsweise wird der Protagonist Robert Langdon als „Harrison Ford in Harris Tweed“ bezeichnet. Brown (wie Anm. 1), S. 17. Dies ist eine Anspielung auf den amerikanischen Schauspieler Harrison Ford, der in seiner Paraderolle als Indiana Jones wie Robert Langdon Universitätsprofessor und zugleich Freizeitabenteurer ist. Der Schatz, den Indiana Jones im dritten Teil der Trilogie, in Indiana Jones und der letzte Kreuzzug (USA 1988) sucht, ist der Gral. Diese versteckte Anspielung muss in einem Buch, in dem es um die Aufdeckung versteckter Zeichen geht, ernst genommen werden und als einer der ersten Hinweise, dass es um den Gral gehen könnte, gedeutet werden. 18 Vgl. hierzu Parzival 225–245,16. Auch der Erzähler kommentiert das Versäumnis der fehlenden Frage: ôwê daz er niht vrâgte dô! (240,3; „Ach, dass er jetzt nicht fragte!“). 19 Vgl. zu der Ansicht, dass es bei Gawein wie bei Parzival zu zwei Besuchen auf der Gralsburg kam, z. B.: M ATTHIAS M EYER : Die Verfügbarkeit der Fiktion. Interpretationen und poetologische Untersuchungen zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts, Heidelberg 1994, S. 120; DANIELLE BUSCHINGER : Burg Salîe und Gral. Zwei Erlösungstaten Gaweins in der ‚Crône‘ Heinrichs von dem Türlin. In: Mittelalterliche Literatur in Kärnten. Hrsg. von PETER K RÄMER , Wien 1981, S. 1–32, v. a. S. 12; ULRICH WYSS : Die Wunderketten in der Crône. In: Mittelalterliche Literatur in Kärnten. Hrsg. von PETER K RÄMER , Wien 1981, S. 269–292, v. a. S. 283f. Im Prosa-Lancelot wird die Gralsburg von vielen der Gralssucher sogar mehrere Male besucht, und teilweise können sie dabei den Gral erblicken. Was jedoch das wahre Gralsgeheimnis ist, das offenbart sich ausschließlich dem Gralserlöser Galaad. 20 Vgl. Crône, vv. 14715–14870, v. a. so enwolte er niht vrâgen (v. 14796; „in diesem Moment wollte er nicht fragen“). 21 Brown (wie Anm. 1), S. 223.

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klärt die erstaunte Sophie Neveu schließlich auch über die „eigentliche Natur des Grals“ auf:22 Dieser sei eben nicht, wie gemeinhin vermutet wird, der Kelch des Abendmahls, in dem Joseph von Arimathäa das Blut des gekreuzigten Christus aufgefangen habe, sondern Sinnbild für „etwas weitaus Machtvolleres“.23 Was dieses mächtige Geheimnis jedoch genau ist, wird erst später aufgedeckt. Neben das Nicht-Wissen um die Gralssuche tritt mit der Fixierung auf den Gral eine weitere Gemeinsamkeit zwischen dem Da Vinci Code und den mittelalterlichen Gralsromanen auf. Ist die Spur das erste Mal auf den Gral gelenkt, wird jedes Wort, jedes Symbol und jede Szene mit dem mysteriösen Gefäß in Verbindung gebracht. Auch die beiden ‚Suchenden‘, Sophie Neveu und Robert Langdon, bleiben, seit der Gral als mögliches Ziel genannt worden ist, diesem auf der Spur.24 Wie aus den mittelhochdeutschen Texten bekannt, zeigt sich auch im modernen Gralsroman, dass sich, sobald den Gralssuchern bewusst wird, was sie zu erringen suchen, ihr ganzes Handeln auf ein Ziel konzentriert: Robert Langdons ganzes „Streben“ ist darauf gerichtet, „ob sie sich auf dem richtigen Weg zum Gral“ befinden.25 Dasselbe geschieht auch mit Parzival. Nachdem dieser für sein Versagen beim ersten Gralsbesuch von Cundrie vor dem Artushof verflucht worden ist, hat er sich selbst das Ziel auferlegt, den Gral wiederzufinden. Nur so kann er glücklich werden und seine Fehler wieder gutmachen. Parzival ist in Wolframs von Eschenbach Gralsversion regelrecht auf den Gral fixiert: mîn hohstiu nôt ist umben grâl (Parzival 467,26; „Die größte Not macht mir der Gral“). Er hat alle Freude am Leben verloren: dâ hân ich freude vil verlorn. / der grâl mir sorgen gît genuoc (Parzival 441,4f.; „Da habe ich viel Glück verloren, der Gral macht mir großen Kummer“). Anders scheint der Fall auf den ersten Blick beim Gralssucher Gawein in der Crône zu liegen. Der Grund, warum dieser das Geheimnis des Grals enthüllen möchte, ist der Beweis seiner Unschuld am Tod eines Ritters.26 22 Brown (wie Anm. 1), S. 224. 23 Brown (wie Anm. 1), S. 225. Die Version, dass es sich beim Gral um den Kelch von Joseph von Arimathäa handle, findet man in vielen mittelalterlichen Quellen, seit Robert de Boron diese Lesart mit seinem Gralstext populär gemacht hat. Vgl. Robert de Boron: Le Roman du Saint-Graal. Übers. u. eingel. von MONICA SCHÖLER-BEINHAUER . München 1981. 24 Die Verschwörungstheorien beziehen sich in erster Linie auf die Rolle, die die katholische Kirche, die Tempelritter und andere Geheimbünde in der Überlieferung und Bewahrung des Gralsgeheimnisses spielen. 25 Brown (wie Anm. 1), S. 390. 26 Vgl. Crône, vv. 22765–22779, v. a. vv. 22772ff.: Ouch begert er [Angaras], daz ich swüere / manegen eit, daz ich ervüere / mit alle gar besunder / daz manicvalt wunder / von dem wunderlîchen grâl („Zudem wollte er, dass ich beschwor, im Besonderen zu erfahren, was es mit dem wundersamen Gral auf sich habe“).

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Was zuerst jedoch wie eine ‚Auftragsarbeit‘ aussieht, entpuppt sich auch in diesem Gralstext als das unbedingte Ziel des Protagonisten: Er will herausfinden, was es mit dem Gral auf sich hat (vgl. Crône, v. 25935) und außerdem aufdecken, welches tougen (Crône, v. 29463, „Geheimnis“) sich dahinter verbirgt. Zudem dient Gawein die Aufdeckung des Gralsrätsels auch zur Profilierung als Held, denn im Verständnis des höfischen Romans löst der Beste aller Ritter auch das Höchste aller Abenteuer. Lancelot, der sich im Prosa-Lancelot als mutigster Held der Tafelrunde präsentiert und aus diesem Grund besonders geeignet für die Rolle des Gralserlösers scheint, schwört sogar seiner Liebe zur Königin Ginover und allem anderen Begehren ab, um den Gral erringen zu können. In einem härenen Hemd, der Kleidung eines Büßers, nimmt er einen Läuterungsweg auf sich, mit dem Ziel vor Augen, sich dadurch dem heiligen Gefäß anzunähern.27 Bei der Inszenierung der Gralssuche im Da Vinci Code steht die Geschlechter-Frage schon von Beginn an im Mittelpunkt.28 Deren Wichtigkeit lässt der Roman vor allem in seiner Deutung des Grals, als unmittelbar auf das göttliche Weibliche bezogen und als Sinnbild für den weiblichen Körper, erkennen. Hinzu kommt, dass sich unter den Gralssuchern – ungewöhnlicherweise und undenkbar für die meisten mittelalterlichen Gralsromane – mit Sophie Neveu eine Frau befindet.29 Dass ein Mann und eine Frau gemeinsam nach dem Gral suchen, mag auf den ersten Blick als positive und moderne Neuerung erscheinen, bei genauerem Hinsehen löst sich das progressive Potential auf. Die Zusammenarbeit von Sophie 27 Leider ist es, wie sich zeigen wird, für Lancelot zu spät. Er wird aufgrund seiner vergangenen Verfehlungen den Gral zwar suchen, aber nie erringen können. Dies wird ihm auf seiner Bußfahrt auch bestätigt: súchen mogent ir wol, aber zu finden habt ir gefelet, dann ob der heilig gral keme vor uch, ich gleub nit das ir yne mochtent gesehe (Prosa-Lancelot V, 244,12ff.; „[S]uchen könnt Ihr gewiss, aber ihn zu finden habt Ihr schon verfehlt, denn ich glaube nicht, dass Ihr ihn sehen würdet, wenn der Heilige Gral Euch begegnen würde“). Die Gralserlösung muss Lancelot somit seinem Sohn, dem jungfräulichen Galaad, überlassen. 28 Vgl. hierzu auch JOACHIM VALENTIN : Scharlatanerie oder neue Religion? Die Romane von Dan Brown als Herausforderung von Kirche und Theologie. In: Sakrileg – Eine Blasphemie? Das Werk Dan Browns kritisch gelesen. Hrsg. von JOACHIM VALENTIN, Münster 2007, S. 9–20, hier S. 19. 29 Die Gralssucher, ob sie erfolgreich sind oder nicht, setzten sich in den mittelalterlichen Gralsromanen ausschließlich aus Rittern zusammen. In anderen Versionen der Geschichte spielen neben Parzival und Gawein beispielsweise noch Galaad, Bohort und Lancelot eine tragende Rolle. Frauen, denen sie auf der Suche begegnen, haben die Aufgabe, den männlichen Gralssuchern auf ihrem Weg zu helfen, indem sie ihnen wichtige Informationen geben oder ihnen das Leben retten (wie Sigune im Parzival, Parzifals Schwester im Prosa-Lancelot oder Manbur in Diu Crône). Selbst wenn weibliche Figuren, wie beispielsweise Parzifals Schwester, die Gralssucher über eine lange Strecke begleiten, gelangen diese nicht zum Gral bzw. bleibt ihnen die Lösung des Geheimnisses verschlossen. Die Sphäre des Grals ist somit männlich dominiert.

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Neveu und Robert Langdon ist eine logische Konsequenz in einer Geschichte, die auf der Grundidee einer weltumspannenden „Harmonie des Männlichen und Weiblichen“ basiert.30 Obwohl jeder der beiden Gralssucher des Da Vinci Code andere Aufgaben bei der Suche übernimmt, wirken sie zunächst gleichberechtigt. Robert Langdon erkennt aufgrund seiner Tätigkeit als Symbolologe, der auf die „Erforschung verborgener Verbindungen“31 im Allgemeinen und auf das göttlich Weibliche im Einzelnen spezialisiert ist, manche Zusammenhänge schneller. Sophie Neveu dagegen glänzt wiederholt durch ihr beherztes Eingreifen. Sie verhilft Robert zur Flucht vor der Polizei, legt hierbei falsche Fährten, und durch ihr ständiges Beharren auf das Finden der Wahrheit fungiert sie als Katalysator der Suche.32 Somit tragen beide ihren eigenen, aber jeweils einen wichtigen Teil zum Finden des Grals bei. Doch leider stellt sich die Idee, das Buch käme emanzipiert oder sogar feministisch daher als Irrtum heraus.33 Bei einer genauen Analyse zeigt sich schon bald, dass das vermeintlich partnerschaftliche Verhältnis der Gralssucher ein Ungleichgewicht in sich birgt. Auffällig ist beispielsweise, dass Robert Langdon im größten Teil des Buchs vom Erzähler bei seinem Nachnamen genannt wird, Sophie Neveu hingegen nur bei ihrem Vornamen. Mit dieser Kennzeichnung wird eine erste Hierarchisierung der Gralssucher vorgenommen. Entlang klassischer Geschlechterzuschreibung wird der männliche, etablierte Wissenschaftler (Robert) „Langdon“ nur mit seinem Nachnamen angeredet. Dadurch auf eine Ebene mit anderen, berühmten männlichen Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kunst wie Pope oder da Vinci gestellt, auf die das Buch rekurriert und die ebenfalls in das Geheimnis des Grals eingeweiht gewesen sind.34 Sophie Neveu dagegen befindet sich nicht auf Augenhöhe 30 Brown (wie Anm. 1), S. 67. Die Ausgeglichenheit der Geschlechter, die im Da Vinci Code propagiert wird, durchzieht das gesamte Buch. Die Harmonie von ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ versucht der Roman beispielsweise an diversen Werken von Leonardo da Vinci zu zeigen (vgl. S. 165ff. oder S. 324ff.; S. 333) sowie in den Ritualen und der Mitgliedschaft der Geheimgesellschaft Prieuré de Sion (vgl. S. 437) und in der Interpretation von Symbolen wie dem Davidstern (vgl. S. 596). 31 Brown (wie Anm. 1), S. 26. 32 Zu Sophie Neveus tatkräftigem Einsatz bei der Suche, vgl. Brown (wie Anm. 1), S. 174, 184f., 122, 202f., 210ff. 33 Vgl. hierzu KORNELIA SIEDLACZEK : Männerphantasien. Frauen in ‚The Da Vinci Code‘. In: Sakrileg – Eine Blasphemie? Das Werk Dan Browns kritisch gelesen. Hrsg. von JOACHIM VALENTIN, Münster 2007, S. 111–115, hier S. 111. 34 Es ist auffallend, dass ausschließlich die männlichen Figuren des Da Vinci Code mit ihren Nachnamen gekennzeichnet werden, beispielsweise auch der ermittelnde französische Polizeibeamte Fache, der Louvredirektor Saunière, der Bischof Aringarosa und der Gralssucher Teabing. Dasselbe geschieht bei der Nennung berühmter männlicher Künstler und Wissenschaftler, wie z. B. da Vinci, Newton, Pope. Alle Frauen dagegen – neben Sophie Neveu auch ihre Großmutter Marie Chauvel – und weitere Verkörperungen des

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mit diesen männlichen Eingeweihten. Wird sie zu Beginn noch als gleichberechtigter Part des Gralssucher-Duos und aktive Figur inszeniert, wie beispielsweise ihr ausgeklügelter Fluchtplan zeigt,35 wird sie im Verlauf der Handlung mehr und mehr zu einer bloßen Stichwortgeberin.36 Immerzu muss ihr der vermeintliche Partner auf der Suche sein (Mehr-)Wissen in Bezug auf den Gral und das göttliche Weibliche nahe bringen. Als Typ des männlichen Wissenschaftlers zeichnet sich Robert Langdon in erster Linie durch Ratio aus. Sophie Neveu dagegen, obwohl sie in ihrem Felde der Kryptologie nicht minder gut ausgebildet ist, trifft spontane Entscheidungen, verlässt sich auf ihre weibliche Intuition und ihr ‚Bauchgefühl‘.37 Die Gralssuche im Da Vinci Code, die als scheinbar gleichberechtigtes Unterfangen begonnen hat, kristallisiert sich als ein von Männern beherrschter Bereich heraus und unterstreicht dadurch deren Dominanz in der Sphäre des Grals. Schon beim ersten Kennenlernen ist Robert Langdon von Sophie Neveus „starker Ausstrahlung“ sowie ihren Augen verzaubert, die „verschleiert, dennoch scharf, kühn“ blicken und eine „Aura des Geheimnisvollen“ aufweisen.38 Auf der Jagd nach Codes und versteckten Zeichen nähern sich die beiden Gralssucher dann weiter an: Robert beugt sich über Sophie und bekommt den „betörenden Hauch ihres Parfüms in die Nase“, das macht „ihm bewusst, wie nahe sie einander waren.“39 Kurz danach wird zudem betont, wie dankbar er um eine „so gute […] und hübsche Gefährtin“ sei.40 Die Anziehung ist, obwohl hier die Gefühle von Robert Langdon vorgeführt wurden, eine beidseitige. Dieser Zuneigung verleihen die beiden Gralssucher bei ihrem Abschied, nachdem sie das Geheimnis des Grals tatsächlich lösen konnten, Ausdruck: Es kommt zu zwei Küssen und der Verabredung eines (intimen) Treffens in naher Zukunft. Hierbei

Anderen wie der Albino Silas werden nur beim Vornamen genannt. Vgl. zur Frau als das Andere auch: SIMONE DE BEAUVOIR : Das andere Geschlecht – Sitte und Sexus der Frau. Übers. von Uli Aumüller/Grete Osterwald. Reinbek/H. 2005. 35 Vgl. Brown (wie Anm. 1), S. 202: Sophie Neveu weist Robert Langdon darauf hin, dass er sie, was die Flucht betrifft, nur ‚machen lassen‘ solle. 36 Vgl. zu Sophie Neveus immer eingeschränkteren Rolle SIEDLACZEK (wie Anm. 33), S. 112: „Gleichwohl kommt ihr zunächst scheinbar eine wesentliche Rolle zu […]. Aber in der eigentlichen ‚Story‘ um den heiligen Gral wird sie zum dümmlich-retardierenden Element, das es den Haupthelden Robert Langdon und Leigh Teabing erlaubt klarzustellen, wer hier die wirklich relevanten Erkenntnisse besitzt.“ 37 Ein Beispiel hierfür wäre Sophie Neveus spontanes Verhalten auf der Flucht vor der Polizei und dem Inspektor Bezu Fache oder die betont körperlichen Reaktionen auf die Grals- und somit ihre Familiengeschichte. Vgl. Brown (wie Anm. 1), S. 353. 38 Brown (wie Anm. 1), S. 95. 39 Brown (wie Anm. 1), S. 304. 40 Brown (wie Anm. 1), S. 391.

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ist es zunächst Sophie Neveu, die die Initiative ergreift, sie beugt sich zwei Mal zu Robert Langdon hin und küsst ihn.41 Zum Schluss bleibt es jedoch dem Mann überlassen, den konkreten Vorschlag eines Treffens in Florenz auszusprechen. Sophie Neveu stimmt diesem mit einem „verheißungsvollen Leuchten in den Augen“ zu.42 Obwohl an dieser Stelle die Aussicht auf ein intimes Treffen eröffnet wird, ist das Verhältnis der beiden bis zu diesem Abschied ‚unschuldig‘. Dies ist auffällig, da im restlichen Da Vinci Code (geschlechtliches) Begehren keineswegs programmatisch ausgespart wird. Je mehr die beiden Gralssucher über den Gral erfahren, umso mehr rücken die beiden Diskursfelder Begehren und Geschlecht in den Fokus.43

2. Die Gralssuche Da die Lösung des Rätsels noch nicht in greifbarer Nähe liegt, wenden sich die beiden Gralssucher an einen Experten auf dem Gebiet des Grals. Zur Entschlüsselung der vom ermordeten Louvredirektor zurückgelassenen Hinweise, suchen sie Hilfe bei Sir Leigh Teabing, einem englischen „Ritter“ und bedeutenden Gralsforscher.44 Dieser vertritt eine eigene Version der Gralsgeschichte und bringt der unwissenden Sophie Neveu die ‚wahre Natur‘ des Grals durch seine Ausführungen nahe. Der Gral ist laut Leigh Teabing weder Gegenstand noch Objekt. Dies erinnert unweigerlich an die materiellen Erscheinungsformen, die der Gral in den mittelhochdeutschen Gralsromanen annimmt: Im Parzival wird er zunächst als dinc (235,23; „Ding“) bezeichnet, dann als stein (unter anderem 469,3; „Stein“) definiert. In der Crône ist er ein tougen (v. 29465; v. 29544; „Geheimnis“) und im Prosa-Lancelot ein heilige vaß (Prosa-Lancelot III, S. 522; „heiliges Gefäß“). Der Gral im Da Vinci Code ist jedoch kein Objekt, sondern „eine Frau“.45

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Brown (wie Anm. 1), S. 600. Brown (wie Anm. 1), S. 600. Vgl. hierzu VALENTIN (wie Anm. 28), S. 18. Brown (wie Anm. 1), S. 302. Brown (wie Anm. 1), S. 332. Die Lesart des Grals als Symbol für das ‚Weibliche‘ und ‚Mütterliche‘ ist nicht neu; vgl. hierzu THERESIA HEIMERL : Zur esoterischen Vorgeschichte von ‚The Da Vinci Code‘. In: Sakrileg – Eine Blasphemie? Das Werk Dan Browns kritisch gelesen. Hrsg. von JOACHIM VALENTIN, Münster 2007, S. 117–133, v. a. S. 128–130. Diese Deutung geht unter anderem auf die Arbeiten von C. G. Jung und dessen psychologische Deutung der Gralsgeschichte zurück. E MMA JUNG /M ARIE -L OUISE FRANZ : Die Graalslegende in psychologischer Sicht, Zürich u. a. 1997, S. 121: „Es scheint zunächst nur natürlich, dass Perceval in dem mütterlichen Bereich des Unbewussten, als den wir den Gralsbezirk auffassen können, nicht die persönliche Mutter findet, sondern die Mutter sub specie aeternitatis, das wunderbare Gefäß.“

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Er ist das Sinnbild für den weiblichen Körper46 und zwar für denjenigen von Maria Magdalena. Somit ist die Suche nicht eine nach einem Gegenstand, sondern eine verborgene Suche nach der göttlichen Urmutter. Die christlichen Ritter, die sich angeblich auf die Suche nach dem Kelch begeben haben, benutzten diese Kodierung als Schutzmaßnahme vor einer Kirche, die die Urmutter verbannt, die Frauen unterdrückt, Ungläubige auf den Scheiterhaufen geschleppt und heidnische Verehrung der göttlichen Urmutter zum Verbrechen erklärt hat.47

Diese Theorie über den Gral beweist der ‚besessene‘ Gralssucher Leigh Teabing anhand von Leonardo da Vincis Kunstwerk das Letzte Abendmahl. Darauf habe der Maler, der um des Rätsels Lösung wusste, das Geheimnis des Grals chiffriert.48 Zur Rechten von Jesus sei nicht Johannes, der Lieblingsjünger, abgebildet, vielmehr handele es sich bei dieser Figur um eine Frau: Maria Magdalena. Sophie Neveu „betrachtet die Gestalt eingehend. Sie hatte weich fließendes, langes rotes Haar; die zarten Hände waren gefaltet, und sogar die Andeutung eines Busens war zu sehen“.49 An diesen Attributen, dem langen Haar, den zarten Händen und der Wölbung der Brust wird die Zuschreibung der Figur als weiblich festgemacht. Auf den ersten Blick scheint die Lesart, die Leigh Teabing vorschlägt, äußerst progressiv und gegen den kanonischen Glauben der konservativen katholischen Kirche gerichtet: Neben Jesus ist die Frau abgebildet, die zu Lebzeiten seine Geliebte gewesen ist.50 Wahr ist, dass Leonardo da Vinci aus kunsthistorischer Perspektive mit dem Letzten Abendmahl eine ungewöhnliche Ausführung des Sujets hinterlassen hat. Er verzichtete beispielsweise auf die Heiligenscheine bei den Jüngern; Johannes, der Lieblingsjünger, ruht nicht wie üblich an der Brust von Jesus, es ist kein Abendmahlskelch auf dem Tisch zu finden und in ganz moderner Manier sind die Gesichter und Gesten der Jün-

46 Vgl. hierzu Brown (wie Anm. 1), S. 327: „Das Kelchzeichen hat Ähnlichkeit mit einem Trinkgefäß oder einer Schale, aber vor allem ähnelt es dem weiblichen Schoß. Es symbolisiert Weiblichkeit und Fruchtbarkeit. [...] In der Legende wird berichtet, dass der Gral ein Kelch sei oder eine Schale. Aber das ist in Wirklichkeit eine Allegorie, mit der die wahre Natur des Heiligen Grals verschleiert worden ist. Ich will damit sagen, dass der Kelch in der Legende für etwas viel Wichtigeres benutzt wird.“ 47 Brown (wie Anm. 1), S. 328. 48 Brown (wie Anm. 1), S. 399. 49 Brown (wie Anm. 1), S. 333. 50 Die Idee, dass Jesus und Maria Magdalena ein (Liebes-)Paar waren, ist nicht neu. Es gibt zahlreiche Romane und Filme zu diesem Thema. Vgl. R EINHOLD ZWICK : ‚Der Erlöser liebte Maria Magdalena mehr als alle Jünger‘ (EvPhil 55b). Anmerkungen zu Dan Browns Rezeption gnostischer Traditionen. In: Sakrileg – Eine Blasphemie? Das Werk Dan Browns kritisch gelesen. Hrsg. von JOACHIM VALENTIN, Münster 2007, S. 49–78.

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ger individualisiert.51 Der für seine Zeit fortschrittliche Umgang Leonardo da Vincis mit dem Sujet kann durchaus andere als die traditionellen Deutungen des Dargestellten hervorrufen. Doch auch bei der Interpretation des Kunstwerks durch den Da Vinci Code verhält es sich ebenso wie bei der scheinbaren Gleichberechtigung der Gralssucher im Roman. Die vermeintlich progressive Lesart des Bildes – eine Frau statt eines Mannes sei abgebildet – wirkt nur auf den ersten Blick subversiv. Möglicherweise bietet die traditionelle Deutung – ein Mann ist neben Jesus platziert – mehr Raum für Widerspenstigkeiten?52 Der Diskurs über das Freundespaar Jesus und Johannes ist seit dem Mittelalter zugleich auch einer über deren homosozialen Bund und das gleichgeschlechtliche Begehren von Männern entgegen normativer Praxen.53 Wenn man der decodierten Interpretation des modernen Gralsromans von Dan Brown folgt, bleibt dabei die Möglichkeit, dass Jesus und Johannes als sich liebendes (Freundes-)Paar dargestellt wurden, auf der Strecke. Der Da Vinci Code propagiert durch die Lesart, bei dem abgebildeten Paar handele es sich mit Maria Magdalena und Jesus um ein heterosexuelles Liebespaar, die heteronormative Logik, dass Liebe und Begehren nur zwischen verschieden geschlechtlichen Partnern möglich sei.54 Die Idee, dass der Gral eine Frau ist bzw. die Konnotation des Gegenstandes mit Weiblichkeit, geht, wie die Bildinterpretation des Letzten Abendmahls im Da Vinci Code gezeigt hat, in dieselbe Richtung:55 Es ist eine weitere Strategie, dichotome Geschlechterzuschreibungen und heteronormatives Begehren festzuschreiben. Wie schon die vermeintliche Neuerung, dass sich neben Männern auch Frauen auf Gralssuche begeben dürfen, weit hinter den Erwartungen einer

51

Vgl. CHARLES NICOLL : Leonardo Da Vinci. Die Biografie. Übers. von Michael Bischoff, Frankfurt/M. 2006, S. 375 u. 378. 52 A NDREAS K RAß betont in seinem Aufsatz Der Lieblingsjünger und die Folgen, dass das Verhältnis von Jesus und Johannes ein Musterbeispiel für die historische Veränderbarkeit der Diskurse über den homosozialen Bund und somit über das gleichgeschlechtliche Begehren von Männern ist. Vgl. A NDREAS K RAß : Der Lieblingsjünger und die Folgen. Vom Johannesevangelium bis zu Dan Browns ‚Sakrileg‘. In: Unbeschreiblich männlich. Heteronormativitätskritische Perspektiven. Hrsg. von ROBIN BAUER /JOSCH HOENES /VOLKER WOLTERSDORFF, Hamburg 2007, S. 43–62. 53 Vgl. K RAß : Der Lieblingsjünger und die Folgen (wie Anm. 52), S. 46. Auch Niklas Luhmann führt in seiner Studie Liebe als Passion das Beispiel der homosozialen Verbindung von Johannes und Jesus an: „Man lese die Fülle der exstatischen, Körperliches einbeziehenden Formulierungen im religiösen und weltlichen Kult der Freundesliebe. Dass Freunde einander mit tausend Küssen überschütten; einander in die Arme fallen […] und dass sie einander (wie Johannes Christo) an der Brust liegen.“ In: NIKLAS LUHMANN : Liebe als Passion, Frankfurt/M. 1982, S. 145f. 54 Vgl. K RAß : Der Lieblingsjünger und die Folgen (wie Anm. 52), S. 45. 55 Der Gral im Parzival beispielsweise könnte aufgrund seiner speisenden (470,10ff) und lebenserhaltenden (469,4ff.) Funktionen auch weiblich konnotiert sein.

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Gleichberechtigung oder produktiven Störung der normativen Geschlechterrollen zurückbleibt, geschieht das auch in der Deutung des Grals als Frau. Eine Harmonie der Geschlechter soll das Geheimnis hinter dem Gral sein. Durch dieses klare Bekennen zu einer – obwohl harmonischen und scheinbar gleichberechtigten, doch immer noch – heteronormativen Geschlechtereinteilung nimmt sich der Da Vinci Code das Potential, andere (queere) Lesarten, die unter der Oberfläche zirkulieren, zu nutzen. Neue und alternative Interpretationen von Geschlechterverhältnissen oder auch Begehrensstrukturen aufzuzeigen, ist dagegen in der mittelalterlichen Gralsliteratur möglich. Dies soll an nur wenigen Beispielen gezeigt werden. Im Parzival kulminiert die uneindeutige Geschlechtszuschreibung in der Figur des Gralskönigs. Der durch eine Verletzung in den Hoden entmannte Anfortas ist kein potenter (männlicher) Herrscher mehr, denn Kastration ist unweigerlich mit Impotenz verbunden:56 „Potency came to be not only the way in which a male defined himself, but how he was defined by society.“57 Somit repräsentiert die Wunde zweierlei: Zum einen hat Anfortas, was ihn als männlich definiert, verloren. Dies führt zum anderen zu einer uneindeutigen Geschlechtszugehörigkeit,58 die in eine instabile Geschlechtsidentität mündet.59 Die aus der Entmannung resultierende, gezwungene Abwendung von (männlicher) Geschlechtsidentität

56 Vgl. PEGGY MCCRACKEN : Chaste Subjects – Gender, Heroism, and Desire in the Grail Quest. In: Queering the Middle Ages. Hrsg. von GLENN BURGER /STEVEN F. K RUGER , Minneapolis u. a. 2001, S. 123–142, hier S. 137. 57 VERN L. BOULLOUG : On Being a Male in the Middle Ages. In: Medieval Masculinities. Hrsg. von CLARE A. L EES, Minneapolis 1994, S. 31–46, hier S. 41; vgl. auch S. 4: „masculinity is equated with potency“. 58 Vgl. hierzu MCCRACKEN (wie Anm. 56), S. 137. MCCRACKEN bezieht sich zwar nicht auf den kastrierten Gralskönig, sondern analysiert eine nicht ganz eindeutige Selbstkastration Percevals im altfranzösischen Gralstext. Perceval rammt sich, nachdem ihn der Teufel in Mädchengestalt verführen wollte und er dies beinahe geschehen ließ, das eigene Schwert in seinen ‚Oberschenkel‘ (= cuisse), wie es im Text heißt. Dies deutet MCCRACKEN als symbolische Selbstkastration. Diese Analyse kann man jedoch auch auf die Folgen von Anfortas Entmannung übertragen. Somit trifft auf diesen – wie auch auf Perceval – zu, dass er nach der Entmannung weder ganz Mann („fully male“) noch ganz Frau („fully female“) ist (S. 138). 59 Vgl. dazu K LOSOWSKA (wie Anm. 12), S. 21–67 („Grail Narratives: Castration as a Thematic Site“). Da Kastration und Effeminisierung miteinander einhergehen, geraten dadurch klassische Definitionen von Geschlecht, v. a. des männlichen, ins Wanken. Darauf verweist auch DAVID H ALPERIN : „Effeminacy […] is also one of the main ‚prehomosexual‘ categories.“ DAVID H ALPERIN : How to Do the History of Homosexuality, Chicago 2002, S. 93. Zur Effeminisierung und zu gleichgeschlechtlichem Begehren in der Figur des Anfortas, siehe auch BEATRICE MICHAELIS : Das Schweigen des Parzivals – oder: alles eine Frage der Erlösung. In: Erlöser. Figurationen männlicher Hegemonie. Hrsg. von SVEN GLAWION /E LAHE H ASCHEMI YEKANI /JANA HUSMANN -K ASTEIN, Bielefeld 2007, S. 29–40.

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führt zu einer Abkehr von heteronormativem Begehren.60 Im Symbol des verwundeten Intimbereichs durchkreuzen sich somit (gleichgeschlechtliche) Begehrensstrukturen, die mit dem lindernden Einsatz der Lanze (vgl. Parzival 489,30–491,18) zusätzliche Brisanz erlangen. Noch während der Gralsprozession ist der Speer Auslöser von Kummer und Jammer unter den Anwesenden (vgl. Parzival 493,11f.), bei Anfortas ist er jedoch begehrtes Heilmittel und Erinnerung an die Waffe, die die Wunde verursacht hat. So eröffnet sich eine Verbindung zwischen der Wunde des Gralskönigs, der Lanze, die diesen verletzt hat, und dem Speer, der ihm Linderung verschafft:61 Die blutige Lanze ist die verletzende Waffe und verletzter Körperteil, verletzendes Glied und kastriertes Glied zugleich; und die immer aufs neue blutende Wunde verweist auf die weibliche Wunde: Ein Mann kastriert mit der Lanze bohrend den Rivalen und macht ihn zur Frau. Bohrt man die Waffe in die Wunde, bringt sie Erleichterung der Schmerzen. Ich denke, dass damit auf die homoerotische-homosexuelle Komponente der ritterlichen Zweikämpfe verwiesen wird: die durchbohrende Lanze, die Unterwerfung unter den Gegner.62

Die Lanze ist Symbol für den verletzenden Geschlechtsakt,63 der sowohl beim Zufügen der Wunde als auch wiederholt beim lindernden Hineinbohren vollzogen wird. Die Wunde selbst wird eindeutig inszeniert: Sie ist nach innen gestülpt und weiblich konnotiert (vgl. Parzival 489,24– 490,2).64 Die wiederholte Penetration der Wunde zuerst mit diversen Kräutern, Pülverchen, Zweigen und später mit dem Speer selbst, betont

60 Vgl. A NNABELLE HORNUNG : ‚tougen schouwen.‘ Repräsentation von Geschlecht in der Gralsliteratur. In: Im Zeichen des Geschlechts. Repräsentationen, Konstruktionen, Interventionen. Hrsg. von CELINE C AMUS /A NNABELLE HORNUNG /FABIENNE IMLINGER u. a., Königstein/T. 2008, S. 46–61, v. a. S. 52ff. 61 Vgl. R ENÉE M EYER ZUR C APELLEN : Die Frau im Hohen Minnesang und im ‚Parzival‘. Ihre verborgene Funktion in Zeiten des sozialen Wandels. In: Die Erhöhung der Frau – Psychoanalytische Untersuchungen zum Einfluss der Frau in einer sich transformierenden Gesellschaft. Hrsg. von R ENÉE M EYER ZUR C APELLEN /A NNELORE WERTHMANN /M AY WIDMERPERRENOUD, Frankfurt/M. 1993, S. 23–144, hier S. 117. 62 M EYER ZUR C APELLEN (wie Anm. 61), S. 117; Zur homoerotischen Komponente des ritterlichen Zweikampfs siehe auch DAVID L. BOYD : Sodomy, Misogyny, and Displacement. In: Arthuriana 8 (1998), H. 2, S. 77–113. 63 M EYER ZUR C APELLEN (wie Anm. 61), S. 118. 64 Die Wunde ist nicht nur aufgrund ihrer nach innen gestülpten Form, die an eine Vagina erinnert, weiblich konnotiert. Sie wird zudem als feucht und kalt beschrieben: vgl. 491,8: durch sîner sûren wunden gruft („denn faulig geht es von der Höhle seiner Wunde“). Kälte und Feuchtigkeit sind im medizinischen Diskurs des Mittelalters Eigenschaften, die Frauen zugeschrieben wurden, während männliche Körper trocken und heiß waren. Siehe dazu v. a. JOAN C ADDEN : Meanings of Sex Differences in the Middle Ages. Medicine, Science, and Culture, Cambridge 1993.

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auch ANNA KLOSOWSKA in ihrer Analyse der Kastration, wie sie verschiedene Gralsromane inszenieren: Given the nature of treatment of Anfortas’s wound – repeated penetration, intense and prolonged attention from the male entourage – this figure bridges seemingly opposed characteristics: uxoriousness, philandering, and homoeroticism. While the reason for the wound is an excess of heterosexual activity, the treatment requires male – to male genital manipulation.65

Diese Aussage trifft alle Ungereimtheiten, die sich in der Interpretation des entmannten Gralskönigs durchkreuzen und somit eine queere Lesart eröffnen: „The Fisher King is cast as queer, genitally transgendered.“66 Ein weiteres Beispiel, wie die mittelhochdeutschen Gralsromane mit Geschlechterinszenierungen und Begehrensstrukturen umgehen, ist der erfolgreiche Gralserlöser des Prosa-Lancelot. Der engelsgleiche Galaad ist schon von Geburt an für diese Aufgabe ausersehen. Im Gegensatz zu seinem Vater Lancelot kennt er kein körperliches Begehren und ist dadurch prädestiniert für die Rolle, die er in der Gralssphäre spielt: Er ist der keusche Gralssucher, der eine feststehende Institution in den meisten Gralsromanen darstellt. Galaad ist nicht nur jegliches Begehren, durch seine Keuschheit und Jungfräulichkeit ist ihm auch jegliches Geschlechtliche fremd. Er weist somit wenig Ähnlichkeit mit den Rittern im Prosa-Lancelot oder in anderen höfischen Romanen auf, die nach der Erfüllung ihres weltlichen oder leiblichen Begehrens streben.67 Die vom Gralsrittertum abverlangte Keuschheit weist auf eine Veränderung im Kontext des höfischen Romans hin, die vom Gral als zentralem Bezugspunkt ausgeht: Im Gegensatz zu den klassischen Artusrittern muss der Gralssucher ein enthaltsames Heldentum führen, nur dann winkt ihm am Ende der Zugang zum Gral.68 Der Prosa-Lancelot zeigt diese unterschiedlichen Entwürfe rit-

65 K LOSOWSKA (wie Anm. 12), S. 30. 66 K LOSOWSKA (wie Anm. 12), S. 44. 67 PEGGY MCCRACKEN (wie Anm. 56) stellt in ihrer Analyse den enthaltsamen Gralshelden den Schwerenöter Gauvain gegenüber. Für sie lebt der Artusritter das aus, was einen männlichen Ritter in den mittelalterlichenRomanen ausmacht, nämlich eine Verbindung von sexueller und heldenhafter Ökonomie („heroic and sexual economies“, S. 125). Im Gegensatz dazu steht der enthaltsamen Gralssucher, der in erster Linie begehrt, nicht zu begehren („desire not to desire“, S. 139). Diese Unterscheidung kann man durchaus auch auf Galaad im Prosa-Lancelot übertragen, wenn man ihn tatsächlich mit Gawein und dessen Geschlechtsinszenierung vergleicht, die zur Folge hat, dass dieser das Geheimnis des Grals nicht lösen darf. 68 Das Begehren des Gralssuchers ist mit anderen Worten nicht mehr auf Lohn im Sinne von minne und/oder Macht, sondern in erster Linie auf den Gral gerichtet, statt sexueller gibt es spirituelle Entlohnung: „a privileged access to God“, vgl. MCCRACKEN (wie Anm. 56), S. 123.

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terlicher wie männlicher Identität ganz im Besonderen, vor allem im Vergleich zwischen Galaad und den anderen Rittern der Tafelrunde, die sich zum Teil ebenfalls auf Gralssuche befinden. Während der Gralserlöser bis zum tiefsten Geheimnis des Grals vordringen darf, dürfen die anderen, die weniger keusch gewesen sind, den Gral zwar teilweise sehen, jedoch von dessen wahrem Mysterium nichts erfahren. Der Gralsroman wertet somit Jungfräulichkeit und Enthaltsamkeit auf und setzt einen eigenen Schwerpunkt im Verhältnis von Begehren, Männlichkeit und Ritterlichkeit. The chaste grail knights enact an anomalous withdrawal from the sexual economy of chivalric romance, and their unique position defines their privileged status as grail knights. But at the same time, the chaste knight is also outside the normative sexual economy that – at last in part – defines gender identities in medieval romances.69

Galaads Körper und sein Geist sind ‚ohne Begehren‘. Somit weist der Gralssucher keine eindeutige Geschlechtszugehörigkeit auf, da sich Männlichkeit in der höfischen Welt zum einen an Erlangung von weltlicher Macht und zum anderen an Eroberung des anderen Geschlechts festmacht. Der engelsgleiche Galaad dagegen zeigt das auf, was PEGGY MCCRACKEN in ihrer Analyse der enthaltsamen Gralshelden mit ‚keuschen Subjekten‘ und ‚queeren Helden‘ meint. Diese uneindeutigen Inszenierungen von Geschlecht kommen ihrer Meinung nach vornehmlich in Gralsromanen vor.70 Tatsächlich verorten sich die Gralssucher der mittelhochdeutschen Texte im Vergleich zu anderen höfischen Romanen außerhalb der heteronormativen Begehrensstrukturen und entziehen sich dadurch normativen Formen von Begehren: „(T)hey desire not to desire“.71 Der jungfräuliche Galaad ist das ‚enthaltsame Subjekt‘ der Gralssphäre, das kein (hetero-) normatives Begehren kennt.72 Er ist den heteronormativen Begehrensökonomien entzogen und inszeniert sich dadurch in keinster Weise als männliches, sondern als ‚queeres Subjekt‘.73 Diese beiden Beispiele, denen noch einige hinzuzufügen wären, zeigen, dass in der Sphäre des Grals, wie sie in den mittelalterlichen Texten vorgeführt wird, Geschlechtergrenzen verwischt und normative Begehrensstrukturen aufgebrochen werden. Dadurch bieten sich Möglichkeiten,

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MCCRACKEN (wie Anm. 56), S. 132. Vgl. MCCRACKEN (wie Anm. 56), S. 135, zum „queer hero“ und „chaste subject“. MCCRACKEN (wie Anm. 56), S. 139. Der Gralsritter gehört ebenfalls zu den „chaste subjects“. Siehe MCCRACKEN (wie Anm. 56), S. 135. Vgl. hierzu MCCRACKEN (wie Anm. 56), S. 139.

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andere, nicht-normative Lesarten des Zusammenhangs von Geschlecht, Sexualität und Begehren zu eröffnen.74

3. Die Gralsgesellschaft Die Gralsgesellschaft wird in den mittelalterlichen Romanen sehr unterschiedlich gestaltet, ist jedoch als Gegenentwurf zur höfischen (Artus-) Gesellschaft als eine andere Gesellschaft, die sich außerhalb befindet, zu verstehen. Auch im Da Vinci Code wird sie als exponierter Kreis beschrieben. Hierin setzt sich die Gesellschaft rund um den Gral zum einen aus der Gralsdynastie, die das königliche Geblüt mit den Stammeltern Jesus und Maria Magdalena ist, und zum anderen aus den Eingeweihten, die das Geheimnis des Grals kennen, zusammen. Diese Geheimnisträger nennen sich selbst Prieuré de Sion.75 Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, den Gral und die Nachkommen aus der Verbindung zwischen Jesus und Maria Magdalena, die bis in die moderne Zeit existieren, zu beschützen.76 Neben der Bewahrung des Gralsgeheimnisses und dem Schutz der Gralsfamilie vollziehen sie die Verehrung des göttlich Weiblichen in gleichem Maße wie die des Männlichen, zum Beispiel im Ritual des so genannten hieros gamos:77 Dieser spirituelle Akt gipfelt in der Vereinigung von Mann und Frau beim Geschlechtsverkehr.78 Sophie Neveu merkt, je mehr sie mit Robert Langdon zum Kern des Gralsgeheimnisses vordringt, dass sie in einer wie auch immer gearteten Verbindung mit der Prieuré de Sion steht. Parallel zu ihrem Annähern an diese geheime Bruderschaft sowie deren Riten wird sie immer passiver. Die Protagonistin verwandelt sich, wie bereits erwähnt, von der aktiven

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Nach JUDITH BUTLER sind die Pole im Dreieck sex, gender, Begehren nicht fix, und auch das Begehren muss nicht den jeweiligen Geschlechtsidentitäten folgen. Vgl. BUTLER (wie Anm. 14); ferner JUDITH BUTLER: Imitation und die Aufsässigkeit der Geschlechtsidentität. In: Queer Denken. Queer Studies. Hrsg. von ANDREAS KRAß, Frankfurt/M. 2003, S. 144–168. 75 Brown erklärt schon im Vorwort mit dem Titel „Fakten und Tatsachen“, dass es sich bei den Prieuré de Sion um einen Geheimbund handelt. Brown (wie Anm. 1), S. 9. 76 Vgl. dazu die Geschichte der Gralsdynastie bei Brown (wie Anm. 1), S. 353. 77 Vgl. dazu Sophies genaue Schilderung der Ereignisse bei Brown (wie Anm. 1), S. 192– 196. 78 Vgl. Brown (wie Anm. 1), S. 173: „Der einst geheiligte Akt des hieros gamos – die natürliche sexuelle Vereinigung von Mann und Frau, wodurch beide der spirituellen Ganzheit teilhaftig wurden – wurde als schändliches, sündhaftes Tun verworfen. Während heilige Männer einst die Vereinigung mit Gott in der sexuellen Vereinigung mit den dafür ausersehenen Frauen vollzogen hatten, bekämpfte die heutige Geistlichkeit ihre sexuellen Bedürfnisse als Werk des Teufels, der heimtückisch mit seiner natürlichen Komplizin zusammenarbeitet.“

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Gralssucherin zur reinen Stichwortgeberin, bis sich herausstellt, dass sie selbst ein Mitglied der Gralsgesellschaft ist. Sophie Neveu ist nicht nur ein Teil der Geheimnisträger um den Gral, sondern noch mehr (darauf verweist ihr Kosenamen aus Kindertagen): Sie ist „Prinzessin Sophie“.79 Diese Bezeichnung klärt Sophie Neveus Rolle in der Gralsgesellschaft und ist eine Vorandeutung ihrer Abstammung als Nachfahrin des königlichen Geblüts. Robert Langdon wird schließlich Lügen gestraft, weil er zunächst an ihrer Zugehörigkeit zum königlichen Geblüt gezweifelt hat. Leigh Teabing dagegen hat intuitiv einen Teil der Wahrheit erkannt, als er Sophie Neveu schon bei der ersten Begegnung als „Gralsjungfer“ bezeichnet hat.80 Die Gralsgesellschaft im Da Vinci Code, der auch Sophie Neveu angehört, erweckt auf den ersten Blick denselben Eindruck, der ohne nähere Betrachtung auch für die gesamte Gralssphäre des Romans gegolten hat. Sie tritt für die Verehrung des göttlich Weiblichen ein, proklamiert die sich ausgleichende Harmonie der Geschlechter und erscheint somit gerecht: Alles paarweise. […] Der Doppelsinn als Prinzip. Männlich-weiblich. Das Weiße umfängt das Schwarze. Weiß gebiert Schwarz. Jeder Mensch ist dem Weibe entsprungen. Weiß – weiblich. Schwarz – männlich.81

Wie sich aber schon in der ungleichen Rollenverteilung aufgrund der Geschlechtsidentität von Sophie Neveu und Robert Langdon bestätigt hat, haben auch in der Gralsgesellschaft die Männer die Vorherrschaft. Die Gralsdynastie gründet sich zwar auf eine Frau, Maria Magdalena.82 Zudem sind Frauen innerhalb der Geheimgesellschaft der Prieuré hoch geachtet und können Ämter bekleiden, aber die entscheidenden Positionen sind

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Brown (wie Anm. 1), S. 102, 155, 355 usw. Brown (wie Anm. 1), S. 135. Brown (wie Anm. 1), S. 437. Dan Brown möchte mit seinem Buch anscheinend die Ehre der Frauen und vor allem diejenige von Maria Magdalena retten. Aber die Verehrung geht zugleich mit Herabsetzung ihrer Person einher: Maria Magdalena wird in ihrer Rolle als Frau und Mutter zum verehrungs- und anbetungswürdigen Objekt und passt somit in ein patriarchalisches Bild. Von nun an ist sie durch ihre Erhebung als Heilige nicht mehr aktiv und durch ihre Entrückung handlungsunfähig gemacht. Vergleicht man jedoch das Bild, das Brown von Maria Magdalena zeichnet, mit ihrem Stellenwert in der frühen Christengemeinde oder der Bibel, wird die Herabsetzung im Da Vinci Code mehr als deutlich. In der Bibel ist Maria Magdalena eine der wenigen Frauen, die nicht über einen Mann definiert, sondern eigenständig benannt wird; sie ist die erstrangige Osterzeugin und eine geistliche Autorität in der frühen Kirche. Vgl. ZWICK (wie Anm. 50), S. 76; SIEDLACZEK (wie Anm. 33), S. 114f.

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von Männern besetzt.83 Die Frauen, die in der Sphäre des Grals eine besondere Rolle spielen, Sophie Neveu und Maria Magdalena, werden ihres Potentials beraubt, wirklich gleichberechtigt zu sein und dadurch klassische Geschlechterdichotomien zu stören. Sophie Neveu wird von einer aktiven Gralssucherin, weil sie Teil des königlichen Geblüts und somit des Gralsgeheimnisses ist, zum passiven Objekt der Suche. Maria Magdalena wird von einer wichtigen Autorität der frühen Kirche auf die ‚natürlichen‘ Aufgaben als Geliebte und Mutter reduziert.84 Dan Brown, der die Kirche kritisieren möchte, weil sie das Weibliche unterdrücke und der wahren Nachfolgerin Jesu, Maria Magdalena, nicht die gebührende Stellung eingeräumt habe, [entwirft] als geheime ‚Gegenkirche‘ und Träger der ‚wahren‘ Tradition aber einen reinen Männerclub […], der sich dubiosen heiligen Hochzeiten hingibt […]. Sexuell konnotierte Rituale in dunklen Gewölben, vollzogen von in Kutten verhüllten Gestalten, die die Heldin traumatisieren, wenn sie auch nur einen Blick davon erhascht? Frauen spielen in der Prieuré de Sion, die die Größen aus Kunst, Literatur und Wissenschaft vereint, keinerlei tragende Rolle.85

Somit trifft für die Gralsgesellschaft im Da Vinci Code zu, was durchaus auch auf die Gralssphäre in den mittelalterlichen Gralsromanen zutrifft: Das Ziel des Begehrens der Gralssucher, der Gral, ist in irgendeiner Form weiblich konnotiert oder steht mit Weiblichkeit in Verbindung. In den mittelalterlichen Gralsromanen wird das beispielsweise dadurch inszeniert, dass sich der Gral oft nur von Frauen tragen lässt und ihm eine speisende sowie lebensspendende Funktion zugeschrieben wird. Trotz dieser Verbindung zum weiblichen Geschlecht ist die Gesellschaft, die sich um den Gral formt, ein exklusiver Männerbund: I want to focus […] the essential feature of Christian symbolic genealogy: its exclusive masculinity. It is, I believe, the key to the versatility of Perceval. The story can be read as a spiritual quest, or a knight’s apprenticeship, or male homoerotic fantasy, precisely because all three – Christianity, chivalry, and male homoeroticism – are principally for and about men.86

83 Vgl. die Liste der Großmeister bei Brown (wie Anm. 1), S. 441. 84 Maria Magdalena hatte zudem ihre eigene Tradition in der Kunst und muss nicht auf anderen Gemälden ‚versteckt‘ werden, wie es Dan Brown unterstellt. Vgl. I RIS GNIOSDORSCH : Maria Magdalena – Heilige und Hure. Theologische und kunsthistorische Bemerkungen. In: Sakrileg – Eine Blasphemie? Das Werk Dan Browns kritisch gelesen. Hrsg. von JOACHIM VALENTIN, Münster 2007, S. 77–110. 85 PETER H ASENBERG : Verborgene Texte, geheime Verschwörungen: ‚The Da Vinci Code – Sakrileg‘ und das Filmgenre des religiösen Thrillers. In: Sakrileg – Eine Blasphemie? Das Werk Dan Browns kritisch gelesen. Hrsg. von JOACHIM VALENTIN, Münster 2007, S. 143–168, hier S. 167f. 86 K LOSOWSKA (wie Anm. 12), S. 32f.

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Die Männer dominieren in der Gralssphäre: Die Gralssucher und die Gralskönige sind in den mittelalterlichen Gralsromanen ausschließlich männlich. Auch wenn die Geschlechtszuschreibungen wie im Fall von Anfortas oder Galaad nicht mehr eindeutig männlich in einem höfischen Verständnis sind, ist Männlichkeit trotz alledem wiederholt Thema. Frauen haben in den Gralsgesellschaften des Parzival, Prosa-Lancelot sowie in Diu Crône entweder plakative oder dekorative Aufgaben. Am deutlichsten zeigt dies Heinrichs Gralsroman. Der erfolgreiche Gralssucher der Crône, Gawein, erfährt von dem Herrn der Gralsburg, dass die Mitglieder seiner Gesellschaft tot und ausschließlich Männer seien. Die Frauen, die auf der Burg leben, seien dagegen bis zur Befreiung des Grals gezwungen, diesen zu dienen, obwohl sie noch am Leben sind: ich bin tôt, swie ich niht tôt schîn, / unde daz gesinde mîn / […] / wan dise vrouwen sint niht tôt ( v. 29532; „Ich bin tot und mein Gefolge ist es ebenso […] Die Frauen jedoch sind nicht tot“). Somit wird hier eine klare Trennungslinie zwischen dem männlichen und dem weiblichen Geschlecht in der Gralssphäre gezogen: Die Frauen sind nicht Teil der Gralsgesellschaft. Neben die Ausgrenzung tritt in den mittelhochdeutschen Gralsromanen oft auch die Dämonisierung des weiblichen Geschlechts. Im Prosa-Lancelot sind es die Frauen und das Begehren, das sie auslösen, die als Gründe für ein Versagen vor dem Gral verdammt werden. Lancelots Scheitern beispielsweise ist in seiner Beziehung zu Ginover begründet. Die Gralsgesellschaft im Da Vinci Code geht in die gleiche Richtung wie die Inszenierung der Gralssucher und ihrer Suche selbst. Obwohl in Dan Browns Roman eine scheinbare Öffnung für das weibliche Geschlecht stattfindet, indem er sowohl Sophie Neveu als auch Maria Magdalena scheinbar tragende Rollen zuspricht, verschließt sich bei genauerem Hinsehen dieses Potential subversiver Geschlechts- und Begehrensinszenierungen. Eine dichotome Einteilung der Welt sowie der Gralsgesellschaft wird propagiert, deren höchstes Ziel „die natürliche Vereinigung von Mann und Frau“ ist.87 Frauen werden im Da Vinci Code zwar verehrt, werden und dürfen Teil des Geheimnisses rund um den Gral sein, doch die Männer dominieren. Obwohl die Inszenierung der Gralsgesellschaft auch in den mittelhochdeutschen Gralsromanen von Männern beherrscht und bis auf wenige Ausnahmen Frauen darin ausgegrenzt werden, birgt der homosoziale Kreis einige Widerspenstigkeiten hinsichtlich der inszenierten Begehrensstrukturen. Das subversive Potential der „eigentümlich queeren Ordnung“,88 als die sich die Gralsgesellschaft oftmals präsentiert,

87 Brown (wie Anm. 1), S. 173. Hervorhebung A. H. 88 MICHAELIS (wie Anm. 59), S. 38.

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findet sich somit nicht in der modernen Gralsversion des Da Vinci Codes, wo man es sicher zuerst vermutet hätte, sondern in den mittelhochdeutschen Texten.

4. Was vom Grale übrig bleibt … Der Da Vinci Code formt mit der Einteilung der Welt in Paare sowie in ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ deren Heteronormativität mit. Immerzu wird in dem Buch, um die Harmonie der Geschlechter zu stützen, die Kunst Leonardo da Vincis als Referenz hinzugezogen. Da der Künstler zu Lebzeiten selbst Großmeister der Prieuré gewesen sein und deswegen vom Geheimnis des Grals gewusst haben soll, habe er die ‚Wahrheit‘ versteckt in seinen Bildern dokumentiert.89 Neben dem Letzten Abendmahl enthalte auch ein weiteres Gemälde des Künstlers verschlüsselte Botschaften: die Mona Lisa. Schon der Titel des Kunstwerks sei, so Robert Langdon, eine Deklarierung der Harmonie von ‚männlich‘ und ‚weiblich‘, da er ein Anagramm aus dem Namen einer männlichen und einer weiblichen Gottheit sei, nämlich aus Amon und Isis bzw. „L‘ Isa“: „AMON L’ ISA = MONA LISA“.90 Aber nicht nur der Name deute auf die Verbindung von ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ hin, sondern die Androgynität der abgebildeten Person zeige die harmonische Verbindung der Geschlechter.91 Dass jedoch zur Disposition steht, welche Geschlechtsidentität die auf Leonardo da Vincis Gemälde dargestellte Figur besitzt, liegt jedoch weniger an der Ausführung des Gemäldes als an dessen Rezeptionsgeschichte. Die diversen Interpretationen und Rezeptionen des Sujets Mona Lisa sorgen für immer neue Nahrung bezüglich der Geschlechterverwirrung. Neben dem Original von Leonardo da Vinci ist die bekannteste künstlerische Interpretation und Verfremdung das Readymade Michel Duchamps mit dem Titel L.H.O.O.Q., auf dem die Figur einen Bart trägt.92 Durch diesen Marker von Männlichkeit ironisiert die Kunst die Behauptung, statt einer Frau sei auf dem Gemälde ein junger Mann dargestellt, möglicherweise Leonardo da Vinci selbst.93 Die Lesart, der Maler habe mit der Mona Lisa ein „Selbstporträt in Weiberklamotten“

89

Brown (wie Anm. 1), S. 157; vgl. zur Proportionsstudie von Vitruv S. 53f. u. 67; zur Mona Lisa S. 166; zu Das letzte Abendmahl S. 333ff. 90 Brown (wie Anm. 1), S. 166. 91 Vgl. Brown (wie Anm. 1), S. 166f. 92 Das Augenzwinkern im Fall von L.H.O.O.Q. liegt neben dem hinzugefügten Bart auch am Titel, der für den Wortwitz „Elle a chaud au cul“ steht: „Sie ist heiß im Hintern“. 93 Vgl. hierzu beispielsweise SERGE BRAMLY: Mona Lisa, London 1996, S. 11.

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Annabelle Hornung

gefertigt, wie es auch der Da Vinci Code vorführt, ist nicht neu.94 In der Forschung hat dieser Diskussion auch Freuds Analyse von Leonardo da Vincis Homosexualität Auftrieb gegeben.95 Auf die Mona Lisa bezogen bedeutet dies, dass der (scheinbar) homosexuelle Maler, als Invertierter oder Frau im Männerkörper,96 seine problematische Geschlechtsidentität und sein widerstreitendes, weil gleichgeschlechtliches, Begehren zum Ausdruck gebracht hat, indem er beides in sein Kunstschaffen miteinbezogen habe. Jedoch legt das Original diese Lesart zunächst nicht nahe, sondern sie stammt aus der Summe der vielen unterschiedlichen Deutungen der letzten Jahrhunderte. Mit diesen Interpretationen tritt neben das originäre Kunstwerk ein imaginäres (Ab-)Bild, das vom Kulturobjekt bzw. der Pop-Ikone Mona Lisa mit seinen unzähligen Kopien, Reproduktionen und Rezeptionen hergestellt wird.97 Das Gemälde ist zu einer Projektionsfläche für unterschiedlichste Interpretationen, ein „identitätsloses Ideal“,98 geworden und entfacht dadurch die Diskussionen, wer oder was abgebildet ist, immer wieder aufs Neue.99 Genauso wie die Frage, wer oder was auf den Gemälden von Leonardo Da Vinci abgebildet ist, nicht eindeutig zu beantworten ist, kann dies auch bezüglich des Grals nicht geschehen. Es trifft somit auch auf das mysteriöse Ding zu, was Oscar Wilde über die Mona Lisa gesagt hat: „Und so erscheint uns das Bild noch wunderbarer als es in Wirklichkeit ist, und enthüllt uns ein Geheimnis, von dem es in Wahrheit nichts weiß.“100

94 Brown (wie Anm. 1), S. 166. 95 Vgl. hierzu M ANFRED CLEMENSZ : Freud und Leonardo. Eine Kritik psychoanalytischer Kunstinterpretation, Frankfurt/M. 2003. Zu weiteren Interpretationen der Mona Lisa vgl. A NDREAS K RAß : Der Andy Warhol-Code. Framing/Queering, Orignal/Kopie, Kitsch/Camp. In: Queer Studies in Deutschland. Interdisziplinäre Beiträge zur kritischen Heteronormativitätsforschung. Hrsg. von A NDREAS K RAß, Berlin 2009, S. 167–184. 96 Homosexualität als innere Inversion der Geschlechtsidentität anzusehen, geht auf die Arbeiten des Sexualforschers H AVELOCK ELLIS (Studies in the Psychology of Sex, London 1896ff.) zurück. Diese Idee hat sich sowohl als Bezeichnung wie auch als Theorie im Bezug auf die Homosexualität gehalten. 97 CHARLES NICHOLL : Leonardo Da Vinci. Die Biografie. Übers. von Michael Bischoff, Frankfurt/M. 2006, S. 466 u. 468. 98 FRANK ZÖLLNER : Leonardo da Vinci. Mona Lisa. Das Porträt der Lisa del Giocondo. Legende und Geschichte, Frankfurt/M. 1994, S. 9. 99 Oder wie es M ARTIN K EMP, einer der führenden Leonardo-Spezialisten, bezüglich der Identifi kation der Mona Lisa mit Lisa del Giocondo ausdrückt: „Were the painting not so famous and universally beguiling, we would have no difficulty in accepting it as yet another portrait from the Renaissance of a sitter unknown to us.“ M ARTIN K EMP : Leonardo da Vinci. The Marvelous World of Nature and Man, London 1989, S. 268. 100 OSCAR WILDE : Der Kritiker als Künstler. In: Ders.: Sämtliche Werke in zehn Bänden. Übers. von Christine Hoeppener. Hrsg. von NORBERT KOHL , Frankfurt/M. 1982, Bd. 7, S. 101.

Der Gral decodiert?

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Die Erklärung, die der Da Vinci Code bezüglich der Gemälde Leonardo da Vincis und auch der Gralsidee bietet, ist zu einfach. Es instrumentalisiert diese Kulturobjekte, um seine Grundidee der ‚natürlichen‘ Harmonie von ‚weiblich‘ und ‚männlich‘ zu belegen, interpretiert sie hierbei fehlerhaft und unterschätzt ihr Potential. Was auf den ersten Blick progressiv wirkt und die Idee einer Stärkung des Weiblichen vorantreiben soll, fällt schon nach kurzer Analyse in sich zusammen. Dan Brown formt einen Mythos rund um ein mittelalterliches Motiv, er betreibt sein eigenes „myth making“.101 Der Gral, als ein Kreuzungspunkt vielfältiger Deutungen, bietet sich als Rezeptionsobjekt an: Er ist aufgrund des Mythisierungsprozesses, den er seit seinem ersten Auftauchen durchlaufen hat, sogar besonders dafür geeignet, populäre Mittelalterfaszination hervorzurufen.102 Wenn man die produktive Rezeption des mittelalterlichen Motivs im Da Vinci Code jedoch genauer betrachtet, fällt auf, dass die Gralsversion sowie die Inszenierung von Geschlecht und Begehren darin weit hinter den Möglichkeiten der mittelalterlichen Texte zurückbleiben. Dan Browns zeitgenössische Gralsgeschichte übersieht nämlich das subversive Potential neuer Lesarten, die sowohl die mittelhochdeutschen Gralsromane als auch die Gemälde Leonardo da Vincis bieten, gerade weil sie auf eine so lange Rezeptionsgeschichte mit unterschiedlichsten Deutungen zurückblicken können. Mit seiner Festschreibung auf eine eindimensionale Interpretation entlang der Heteronormativität unterschätzt Brown die Kulturobjekte nicht nur, sondern untergräbt deren Potential bezüglich einer möglichen Veruneindeutigung von Geschlecht und queeren Lesarten.

101 HEIMERL (wie Anm. 45), S. 118. 102 ULRICH MÜLLER /WERNER WUNDERLICH : Einleitung: In: Herrscher, Helden, Heilige. Mittelaltermythen. Hrsg. von dens., St. Gallen 1996, Bd. 1, S. Iff.

ANDREA SIEBER

Mittelalterrezeption – multimedial Fallstudien zu König Artus König Artus lebt! 1 Im Comic, in der Esoterik, in der Eventkultur, in Film, Fernsehen und Dokusoap, im Gameboy, im Internet, an Kriegsschauplätzen, im Marketing, in der Musik, im Turnier und ‚in uns‘.2 Die „Unverwüstlichkeit eines literarischen Dauerbrenners“,3 so hat es zuletzt HANSJOACHIM BEHR auf den Punkt gebracht, wurde im akademischen Betrieb insbesondere als Markenzeichen für interdisziplinäre Projekte eingesetzt. Die charismatische Macht, die dem ‚Label‘ König Artus anhaftet, schlägt sich aber nicht voranging in akademischen „Mittelalterkonjunkturen“4 nieder, sondern ist – so meine erste These – vor allem als ein Effekt mythischer Emergenz in alltagskulturellen Praktiken zu betrachten. Dem „Konjunkturphänomen“5 König Artus bin ich gemeinsam mit Studierenden im Rahmen einer ‚Web Queste‘ auf den Grund gegangen.6 Die Ergebnisse möchte ich im ersten Teil meines Beitrags schlaglichtartig unter dem Label König Artus lebt! präsentieren (1). Anschließend werde 1 2

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Ich greife hier den programmatischen Titel der Bonner Ringvorlesung aus dem Wintersemester 2003/04 auf. Vgl. König Artus lebt! Eine Ringvorlesung des Mittelalterzentrums der Universität Bonn. Hrsg. von STEFAN ZIMMER , Heidelberg 2005. Zur beinahe unüberschaubaren Vielfalt der Rezeptionsweisen liegen vor allem im angloamerikanischen Raum Bibliographien, Einzelstudien und Spezialbeiträge vor. Vgl. exemplarisch in forschungsgeschichtlicher Reihenfolge: King Arthur’s Modern Return. Hrsg. von DEBRA N. M ANCOFF, New York 1998; King Arthur in Popular Culture. Hrsg. von ELIZABETH S. SKLAR /DONALD L. HOFFMAN, Jefferson/NC u. a. 2002; A Bibliography of modern Arthuriana (1500–2000). Hrsg. von A NN F. HOWEY /STEPHEN R. R EIMER , Woodbridge/Suffolk u. a. 2006. H ANS -JOACHIM BEHR : König Artus und ... kein Ende. Über die Unverwüstlichkeit eines literarischen Dauerbrenners. In: Eulenspiegel-Jahrbuch 46 (2006), S. 41–61. Vgl. dazu insgesamt STEPHANIE WODIANKA : Zwischen Mythos und Geschichte. Ästhetik, Medialität und Kulturspezifik der Mittelalterkonjunktur, Berlin u. a. 2009. WODIANKA (wie Anm. 4), S. 2 u. ö. Danken möchte ich allen beteiligten Studierenden des Aufbauseminars „Medientheorie und Medienanalyse (Mittelalterrezeption – multimedial)“ im Sommersemester 2007 an der Freien Universität Berlin für das große Engagement und die anregenden Diskussionen.

Mittelalterrezeption – multimedial

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ich methodisch-theoretische Fragen zu Medialität und Mittelalterrezeption konturieren (2). Abrunden möchte ich meine Skizze mit Anmerkungen zu der französischen Comedy-Serie Kaamelott, um zu überlegen, ob zwischen Mittelalterkonjunktur, Multimedia und Mainstream ein spezifischer Konnex auszumachen ist (3).

1. König Artus lebt! Die studentischen Recherchen zu diesem Thema wurden im Rahmen eines Seminars zur Medienanalyse und Medientheorie realisiert, das ich als Blended Learning-Kurs konzeptualisiert hatte.7 Instruktions- und Auswertungsphase fanden als Präsenzveranstaltungen statt. Sie dienten der Theorieerarbeitung, der Vermittlung eines praxisorientierten Analyse- und Begriffsinstrumentariums und einer kritischen Diskussion multimedialer Rezeptionsweisen mittelalterlicher Stoffe, Figuren und Themen. Die Explorationsphase wurde als selbstständige, offene Recherche in Arbeitsgruppen vollzogen und durch Online-Aufgaben und Online-Sitzungen im Chat begleitet. Zu Beginn des Semesters wurde tatsächlich auch sehr schnell ein erstes Fundstück zum Rechercheprozess annonciert. Zitat aus dem kursinternen Forum auf der E-Learning-Plattform ‚Blackboard‘: „Mit einem Zwinkern empfehle ich einen Blick in den Eingangsbereich des Avalon-Hotels in der Emser Straße hier in Berlin“. Kurz darauf konnten wir uns ebenfalls im Forum ein Bild von Artus machen, der als ein für Berlin typischer BärenBuddy gestaltet ist,8 ähnlich wie in Worms an jeder zweiten Straßenecke farbenfreudige Versionen des Drachen Fafnir aus dem Nibelungen-Mythos zu sehen sind. Allerdings erscheint der mythische Link zwischen dem Drachen und Worms auf den ersten Blick plausibler als der zwischen Artus und dem Berliner Bären. Diese erste Begegnung mit Artus markiert demnach bereits neuralgische Punkte der ‚Web Queste‘, die ich in meiner Aufgabenstellung für

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Vgl. dazu die Power Point-Folien zu meinem Vortrag König Artus lebt! – Zur Begleitung offener Rechercheprozesse durch Chat und Blog im Rahmen des E-Learning Kolloquiums vom 10.10.2007 an der Freien Universität Berlin unter www.elearning.fu-berlin.de/veranstaltungen/rueckblick/e-learning_kolloquium2007/Vortrag_eTeaching_Sieber.pdf (Stand 15.6.2010). Die Hotelkette hat inzwischen gewechselt, aber der Artus-Buddy steht weiterhin: Hotel Park Inn, Berlin City-West. Vgl. www.pibcw.de/hotel-park-inn-berlin-city-west-lage-ampanfahrt-,location-de.html (Stand 15.6.2010), sowie den Screenshot zum Forumseintrag SIEBER (wie Anm. 7), Folie 10.

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die Recherchephase als Beweislast bezeichnet habe, denn die Studierenden sollten nicht nur beliebiges Material oder gar Mittelalter-Trash zusammentragen, sondern durch theoretische Überlegungen plausibel machen, dass ihre Fundstücke überhaupt ‚etwas‘ mit König Artus zu tun haben und – dies ist der wesentlich schwierigere Punkt – dass die Fundstücke in einem besonderen medialen Gebrauchskontext stehen. Zu leisten war somit zunächst eine mediale Klassifizierung des jeweiligen Objektes – hier als Foto eines Werbeträgers. Zweitens waren mythische Versatzstücke zu identifizieren, die aus dem Artus-Stoff entlehnt wurden – hier das ‚Label‘ König Artus und die kulturelle Attribuierung durch Krone und Rüstung. Zu analysieren war drittens die Einbindung in performative Praktiken. Berücksichtigt man außerdem, dass der Buddy als Werbeträger für ein Berliner Hotel in Auftrag gegeben wurde, dass er geplant, hergestellt, angeliefert und öffentlich platziert wurde, kommt dem fotografisch dokumentierten Moment der Enthüllung eine besondere Bedeutung zu, denn erst ab dem Augenblick, als man den Artus-Buddy in kulturelle Praktiken eingebunden hat, wurde er als Medium hervorgebracht. Die Studierenden haben die Rechercheaufgabe mit Blick auf diesen Analyse- und Fragehorizont durchweg auf hohem Niveau realisiert und in anspruchsvolle Präsentationen umgesetzt. Zur Bearbeitung standen Bild-, Film-, Textmaterial und Alltagsobjekte. Es wurde jeweils nach passenden Kategorien gesucht, um die Formen der medialen Partizipation am ArtusMythos zu analysieren; punktuell haben wir sogar interaktiv den medialen Charakter einzelner Fundstücke getestet. Für das Cover von Peter Davids Buch Wählt König Arthur! und die Verpackung des Kartenspiels King Arthur, das wir gemeinsam ausprobiert haben,9 wurde zum Beispiel die Kategorie ‚Labelisierung‘ vorgeschlagen.10 Als zentrales Signum des Artus-Mythos setzt das Produktdesign in beiden Fällen das Schwert Excalibur ein: im Fall des Spiels im Rekurs auf die mythische Initiationsszene des jungen Artus zum König,11 im Fall des

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Zum Aspekt des ‚Ludischen‘ im Kontext von Medienpraktiken vgl. BRITTA NEITZEL / ROLF F. NOHR : Das Spiel mit dem Medium. Partizipation, Immersion, Interaktion. In: Das Spiel mit dem Medium. Partizipation, Immersion, Interaktion. Zur Teilhabe an den Medien von Kunst bis Computerspiel. Hrsg. von dens., Marburg 2006, S. 9–17. Peter David: Knight Life, New York 2002; dt. Wählt König Arthur! Übers. von MICHAEL SIEFENER , München 2007; King Arthur Kartenspiel. Entworfen von Reiner Knizia/Franz Vohwinkel, Ravensburg 2005. Vgl. außerdem die Screenshots zu studentischen Power Point-Präsentationen bei SIEBER (wie Anm. 7), Folie 15. Als Ergänzung zum klassisch anmutenden Kartenspiel hat der Spieleverlag Ravensburger ein wesentlich ambitionierteres elektronisches Brettspiel auf den Markt gebracht hat. Diese Szene ist besonders präsent bei der Vermarktung des Artus-Mythos. Das Produktspektrum reicht vom Playmobil-Set bis zum Brieföffner.

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Buchcovers in gezielter Verschränkung mit amerikanischer Freiheitssymbolik.12 Näher an den Aspekt der Multimedialität hat uns die exemplarische Auseinandersetzung mit der japanisch-polnischen Filmproduktion Avalon. Spiel um dein Leben! von 2001 herangeführt.13 Der Film erzählt von der Meiserspielerin Ash, die in einer apokalyptisch-futuristischen Umgebung in dem illegalen Computerspiel Avalon einen Realitätsersatz sucht. Um auf simulierten Kriegsschauplätzen einen verborgenen „Special Class A Level“ zu erreichen, verbündet sie sich mit Murphy, der zu einer elitären Gruppe von Spielern gehört, jedoch mit seinem Übertritt auf Level A in der normalen Realität auf mysteriöse Weise in einen Zustand geraten ist, der sich medizinisch als Wachkoma darstellt. Die Sucht nach Avalon und ihr Wunsch, den ehemaligen „Wizzard-Team“-Gefährten aus seinem Zustand eines „Verschollenen“ zu erlösen, treiben Ash immer tiefer in die virtuelle Realität, wo sie den Immersionseffekten des Spiels zu erliegen droht: denn von „Level A kehrte bislang niemand wieder zurück“.14 Der Film arbeitet mit einer komplexen Cyberpunk-Ästhetik und mit paratextuellen Allusionen auf den Artus-Mythos. Avalon wird einerseits als Ort mythischer Entrückung imaginiert und fungiert andererseits als Level des Computerspiels. Der Film rekurriert intermedial vor allem auf die Matrix-Trilogie der Wachowski-Brüder,15 indem er die Handlungsstruktur, die Schauplätze, das Computerdesign und einige Spezialeffekte des Cyber-Sci-Fi-Action-Thrillers adaptiert. Das bereits 1999 in Matrix artikulierte Misstrauen gegenüber der neuen IT-Welt wird dabei zwei Jahre später in Avalon so virtuos übersteigert, dass die philosophisch-theologische Existenzfrage, ob und in welcher Realität Ash (über)lebt, für die Zuschauer irritierend offen bleibt. In dem Film-Genre, in dem sich Avalon und Matrix bewegen, wird demnach beinahe zwangsläufig immer auch eine meta-reflexive Ebene thematisch: Durchgespielt werden Modi der virtuellen Realitätskonstitution, die sich in signifikanter Weise mit Modi der sozialen Inklusion und Exklusion verschränken. Damit sind zwei Aspekte

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Diese Zuspitzung ist symptomatisch für die Vermarktung im deutschsprachigen Raum, denn das Umschlagbild der englischen Erstauflage (wie Anm. 10) spielt eher mit romantischen Vorstellungen. Mamoru Oshii (Regie): Avalon. Spiel um dein Leben! (Japan/Polen 2001). Kinowelt Home 2002. Vgl. Lexikon des internationalen Films. Filmjahr 2002. Hrsg. vom K ATHOLISCHEN I NSTITUT FÜR M EDIENINFORMATION (KIM) und der K ATHOLISCHEN FILMKOMMISSION DEUTSCHLAND, Marburg 2002, S. 56. Vgl. außerdem die Screenshots zur studentischen Power Point-Präsentation bei SIEBER (wie Anm. 7), Folie 17. Zitiert nach dem DVD-Cover (wie Anm. 13). Larry Wachowski/Andy Wachowski (Regie): Matrix (USA 1999). Warner Home 1999. Vgl. Lexikon des internationalen Films (wie Anm. 13), hier Filmjahr 1999, S. 236.

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angesprochen, die strukturell mittelalterlichem Erzählen über und im Umfeld von König Artus verblüffend nahe kommen.16 Die amüsanteste Ergebnispräsentation im Rahmen unseres Seminars widmete sich der Omnipräsenz von Artus im Alltag. Das Spektrum der Partizipation am Mythos reicht von Blutorangensaft, dem Renommee einer Backwarenkette und der Zigarrenmarke eines Berliner Hotels, über Playmobil-Tafelrunden und Metallschutz-Produkten bis hin zu Möbeln im Artus-Design und Ero-Pharmaka.17 Die schrille Mischung aus zeitgenössischen Produkten lässt sich auf Empfehlung der Studierenden als Weg durch einen modernen arthurischen Alltag rezipieren.

2. Medialität und Mittelalterrezeption Die Ergebnisse meiner Studierenden werfen für mich einige methodischtheoretische Fragen auf, aus denen ich hier lediglich zwei herausgreifen und pointieren möchte: Sind Produkte Medien? Und was ist Mittelalterrezeption? Zur ersten Frage: Sind Produkte Medien? Ja! Denn „[a]lles kann zum Medium werden – sofern es als Medium gebraucht wird“.18 Die zunächst tautologisch anmutende Medien-Definition, die von der Medien-AG des Sonderforschungsbereichs Kulturen des Performativen erarbeitet wurde, markiert einen neuralgischen Punkt in der medientheoretischen Debatte. Mit der wissenschaftlichen Erörterung des Medien-Begriffs geht eine permanente Ausweitung des Gegenstandsbereichs einher.19 Medien sind omnipräsent; der Begriff Medium auch – beides wird im Zusammenspiel ähnlich inflationär gebraucht wie der Konnex zwischen der historischen Figur des König Artus und der narrativ-mythischen Zuspitzung seiner Geschichte. Was jedoch im Rahmen von Artus-Konjunkturen als ein Medium fungiert, bewegt sich möglicherweise jenseits der geläufigen medientheoretischen Debatten, die ihren Gegenstand ohnehin längst entgrenzt haben.20

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Vgl. exemplarisch für den Vergleich zwischen fi lmischem und mittelalterlichem Erzählen FLORIAN K RAGL : Artus im ‚Krieg der Sterne‘. Zyklusbildung als narratologisches Paradoxon einer dynamischen Statik. In: Neophilologus 93 (2009), S. 279–294. 17 Vgl. die Screenshots zur studentischen Power Point-Präsentation bei SIEBER (wie Anm. 7), Folie 16. 18 A RBEITSGRUPPE „ MEDIEN“: Über das Zusammenspiel von „Medialität“ und „Performativität“. In: Paragrana 13 (2004), H. 1, S. 129–185, hier S. 130. 19 Vgl. dazu das Vorwort in: Was ist ein Medium? Hrsg. von STEFAN MÜNKER /A LEXANDER ROESLER , Frankfurt/M. 2008, S. 11f. 20 Vgl. die Einleitung in Medientheorien. Hrsg. von ALICE LAGAAY/DAVID LAUER, Frankfurt/M. 2004, S. 7: „Praktisch alles kann, wie die Dinge stehen, als Medium thematisiert werden.“

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Unabhängig davon, ob es sinnvoll ist, wie MARSHALL MCLUHAN etwa ein Klassenzimmer als Medium zu denken,21 oder wie PAUL VIRILIO durch seine dekonstruktivistischen Geschwindigkeitsreflexionen Frauen in Jägerund Sammlerkulturen gleichsam ihrer anthropologischen Konstitution entfremdet und zu Medien im Sinne von Transportmitteln umzucodieren,22 erscheint es mir sinnvoll, die Aspekte der Materialität und der Nutzung von Medien in konkreten Rezeptionspraktiken zu überdenken. Dabei möchte ich begriffliche und methodische Transgressionen im Bereich der Medientheorie an den Beispielen eines Stuhls und einer Waschmaschine weiter zuspitzen, um durch Überpointierung zu testen, was ein unfester oder weit gefasster Medienbegriff leistet – oder auch nicht leistet – für eine Synthese zwischen dem Artus-Label eines Produktes23 und dem mythischen Potenzial, das durch die Rezeption des Artus-Stoffs in die moderne Konsum- und Vorstellungswelt eingespeist wird. Zunächst zu den Möbeln. Der Begriff Medium ist lateinischen Ursprungs mit einer vergleichsweise klaren Etymologie24 und wird zumeist im Sinne von Mittleres oder Vermittelndes gebraucht,25 für etwas, das der Informationsübertragung dient. Dies trifft auf Möbel eigentlich nicht zu. Um dennoch einen medialen Charakter von Möbeln nachzuweisen, hat WALTER SEITTER, beeinflusst von FLUSSERs und MCLUHANs Ansätzen, vorgeschlagen,26 Medien aus physikalischer Perspektive als „Mittelkörper“27 zu betrachten. Ich folge seiner Argumentation zum Stuhl und rekurriere dabei außerdem auf Tendenzen, dass die Möbelindustrie einerseits wieder21 22

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Vgl. M ARSHALL MCLUHAN : Understanding Media. The Extension of Man, Cambridge/ MA u. a. 1994. Vgl. PAUL VIRILIO : Fahren, Fahren, Fahren…, Berlin 1978, S. 74: „Die Frau dient als Lasttier; wie die Herde geht sie auf die Felder, um unter Kontrolle und Überwachung des Mannes zu arbeiten. Auf den Wanderungen, bei Zusammenstößen trägt sie das Gepäck; lange vor dem Gebrauch des Hausesels ist sie das einzige ‚Transportmittel‘.“ Zur feministischen Kritik an dieser provokanten Sichtweise vgl. VERENA A NDERMATT CONLEY: The Passenger. Paul Virilio and Feminism. In: Paul Virilio. From Modernism to Hypermodernism and Beyond. Hrsg. von JOHN A RMITAGE , London 2000, S. 201–201. Als ‚Produkte‘ werden im Folgenden Objekte bezeichnet, die als Ergebnis von technischer Verfertigung, Design, Werbekonzept und Distribution in den Konsummarkt eingespeist werden. Vgl. dazu C ARL E. L INN : Das Metaprodukt. Produktentwicklung und Marketing von Markenartikeln, Landsberg/L. 1992. Vgl. WOLFGANG H AGEN : Metaxy. Eine historiosemantische Fußnote zum Medienbegriff. In: Was ist ein Medium? (wie Anm. 19), S. 13–29, hier bes. S. 13f. Dazu JOCHEN SCHULTE -SASSE : Medien/medial. In: Ästhetische Grundbegriffe. Hrsg. von Karlheinz Barck/Martin Fontius/Dieter Schlenstedt u. a., Stuttgart 2002, Bd. 4, S. 1–38. MCLUHAN (wie Anm. 21), sowie VILÉM FLUSSER : Medienkultur, Frankfurt/M. 1997. WALTER SEITTER : Möbel als Medien. Prothesen, Paßform, Menschenbilder. Zur theoretischen Relevanz alter Medien. In: Mediale Anatomien. Menschenbilder als Medienprojektionen. Hrsg. von A NNETTE K ECK /NICOLAS PETHES, Bielefeld 2001, S. 177– 192, hier S. 177 u. ö.

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holt das Markenzeichen Artus für das Produktdesign von Stühlen eingesetzt hat28 sowie andererseits im Kontext von Reenactment- bzw. Living History-Kultur auch Bauanleitungen für mittelalterliche Möbel kursieren und publiziert werden, in denen ebenfalls Anspielungen auf den Artus-Mythos auszumachen sind.29 Nach SEITTER hat ein Stuhl primär die Funktion einen Menschen zu präsentieren. Dabei werden ihm „zwei rechtwinklige Knickungen“30 vorgeschrieben und der Körper fixiert. Mit der Platzierung geht die Stiftung von sozialer Ordnung bei gleichzeitiger Isolierung des Sitzenden einher. Zentraler Effekt ist die Stabilisierung von Blick- und Hörrichtung, wodurch Stühle für Frontalunterricht, Konzertsäle oder Computerarbeitsplätze hervorragend geeignet sind. Stühle fungieren dann als „Teil eines Medienverbundes“,31 der den Nutzer von vorn informiert und von hinten unbewusst steuert. Folgt man SEITTERs Argumentation, hätte ein Stuhl der Marke Artus, in Abhängigkeit vom Gebrauchskontext und von den Intentionen eines Benutzers, das Potential zu einem Medium für die symbolische Partizipation am Artus-Mythos. Im performativen Vollzug trüge der Stuhl eine Konversionsenergie, die beispielsweise zur Mediatisierung von Gefühlen oder Machtstrukturen beitragen könnte. Denn an dem Stuhl haftet die Verheißung: ‚Wer auf mir sitzt, ist (wie) König Artus!‘ Folgt man SEITTERs Argumentation nicht, wäre der Stuhl ein Produkt, das über das Artus-Label nur bestmöglich vermarktet werden soll, ohne dass sich in diesen ökonomischen Bestrebungen konkrete Bezüge zum Artus-Mythos herstellen ließen.

28 Vgl. exemplarisch die Werbung zum Ritterstuhl „Artus“: „‚Artus‘ ist ein urig-rustikaler Holzstuhl für Garten und Terrasse. Er entstand nach historischen Entwürfen. Wie das mittelalterliche Original wird unser ‚Artus‘ aus dem Randholz der Eiche mit der Waldkante gefertigt. Hierdurch erhält er wunderschöne Konturen und seine eindrucksvollen Maserungen. Er wird zum Blickfang in Ihrem Garten und dabei sitzt man auf diesem Ritterstuhl erstaunlich gut. Eiche, 3cm stark, geölt, Sitzhöhe ca. 40cm, Lehne ca. 130cm. ca. 12–15 kg. Jeder Stuhl wird einzeln aus natürlichem Vollholz gefertigt. Abweichungen in Kontur und Maserung sind daher Ausdruck der Natürlichkeit.“ www.massivmoebelklink.de/epages/61657913.sf?ObjectPath=/Shops/61657913/Products/Ritterstuhl (Stand 15.6.2010). 29 Vgl. die Anleitung für den Nachbau eines ‚Glastonbury-Stuhls‘ (um 1500) von DANIEL DIEHL : Mittelalterliche Möbel selber bauen, Nürnberg 2010, S. 137–145. Zuerst Mechanicsburg/PA 1997 unter dem wesentlich ambitionierteren Titel Constructing Medieval Furniture: Plans, and Instructions with Historical Notes erschienen. Die Partizipation am Artus-Mythos funktioniert für diesen Stuhl über den Ort Glastonbury, wo das Grab von König Artus vermutet wird. Der ursprüngliche Gebrauchskontext des liturgischen Faltstuhls wird mit dem Schatzmeister der Abtei Glastonbury, John Arthur Thorne, in Verbindung gebracht, weil dessen latinisierter Name „Johanus Arthurus“ auf der Innenseite der linken Armlehne eingetragen ist. 30 SEITTER (wie Anm. 27), S. 180. 31 SEITTER (wie Anm. 27), S. 181.

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Nun zur Waschmaschine. Welchen medialen Stellenwert Produkte für die menschliche Psycho- und Sozialstruktur einnehmen, hat NINA WOTAPKA am Beispiel der Waschmaschine untersucht.32 Dabei rekurriert sie (auf andere Weise als SEITTER) auf das zentrale Axiom MCLUHANs, dass Medien respektive Maschinen als prothesenartige Verlängerungen, Ausweitungen oder Ersetzungen des Körpers dienen, die bestimmte Botschaften kommunizieren.33 Für elektrisches Licht beschreibt MCLUHAN diese Botschaft beispielsweise als Transformation der menschlichen Wahrnehmung durch die Aufhebung von Tag und Nacht, also die Dezentralisierung natürlicher raum-zeitlicher Koordinaten. Dieses Phänomen kann als Aisthetisierungsfunktion von Medien bezeichnet werden.34 Obwohl es nach WOTAPKA im Rekurs auf MCLUHAN prinzipiell möglich ist, eine Waschmaschine als „funktionelle Erweiterung des menschlichen Körpers“, als „Prothese“35 zu betrachten, scheint aus meiner Perspektive die Aisthetisierungsfunktion lediglich in Abhängigkeit vom Gebrauchskontext und von einer spontanen Nicht-Intentionalität eines Benutzers gegeben. Um das Problem zu veranschaulichen, welche Botschaft eine Waschmaschine wahrnehmbar macht,36 hatte ich im Rahmen meines Passauer Vortrags zunächst ein kurzes privates Video von einem arbeitenden Frontlader mit Zoom auf das Bullauge gezeigt. Die entstehende Ratlosigkeit im Plenum hatte ich in einem zweiten Schritt mit der Fotographie einer Katze konfrontiert, die durch das Sichtglas interessiert die sich drehenden Wäschestücke beobachtet.37 Diese situative Umcodierung des Wahrgenommenen wurde mit Lachen quittiert. Medium (Waschmaschine) und Nutzer (Katze) konstituieren in ihrem Zusammenspiel möglicherweise ein Medienphänomen, das als Hybridisierung von Fremd- und Eigenstruktur bezeichnen werden kann38 – ein Medienphänomen, das sich lediglich unter bestimmten Bedingungen als ein ernst zu nehmendes Rezeptionsphänomen konturieren lässt. Im Alltag bleibt die Arbeit einer Waschmaschine in der Regel unterhalb unserer bewussten Wahrnehmungsschwelle; wir nehmen die Aktivität allenfalls als Rauschen39 wahr. Eine Katze ‚sieht‘ vielleicht einen ‚Film‘…

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NINA WOTAPKA : Blind Vision – sind Produkte Medien? Der Versuch einer Antwort am Beispiel der Waschmaschine, Wien 2005. 33 Vgl. MCLUHAN (wie Anm. 21). 34 A RBEITSGRUPPE „ MEDIEN“ (wie Anm. 18), S. 132 u. ö. 35 Vgl. MCLUHAN (wie Anm. 21). 36 Dazu zusammenfassend WOTAPKA (wie Anm. 32), S. 228–231. 37 Vgl. die Abbildung bei WOTAPKA (wie Anm. 32), S. 109. 38 A RBEITSGRUPPE „M EDIEN“ (wie Anm. 18), S. 132 u. ö. 39 Gemeint ist nicht Rauschen im Sinne einer Störung, wie es medientheoretisch vielfach diskutiert wird. Vgl. exemplarisch LUDWIG JÄGER : Störung und Transparenz. Skizze zur

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Artus-Stuhl und Katzenkino habe ich in meiner Skizze einer Spannung von theoretischer Betrachtung und ironischer Verfremdung ausgesetzt. Dabei wurden beide Objekte als Phänomene mit eingeschränkter medientheoretischer Relevanz konturiert, insofern sie jeweils nur durch besondere situative Rahmung und besondere Handlungsvollzüge zu Medien gemacht oder als solche betrachtet werden können. Weil die Beispiele neben dieser Beobachterperspektive außerdem an den entgegengesetzten Polen von Intentionalität bzw. Nicht-Intentionalität eines Nutzers zu verorten sind, wird der Fokus auf ein Dazwischen – auf den Eigensinn des Medialen – gelenkt,40 der als spezifisches Rezeptionsphänomen allererst auszuloten wäre. Ich komme zur zweiten Frage: Was ist Mittelalterrezeption? In Living History- und Reenactment-Kulturen erscheint ‚das Mittelalter‘ als ein „Klebstoff“, der historische Wirklichkeiten verklammert und zeitliche Entfernungen überbrückt; es fungiert als „Feuchtgebiet[ ] wahre[r] Empfindungen“ und avanciert zu einem „touristische[n] Themenpark“; es ist eine bunte „Spielzeugschachtel“, aus der wir uns je nach Laune bedienen können; und es schwebt als große „Discokugel“ über uns.41 VALENTIN GROEBNERs provokanter Buchessay Das Mittelalter hört nie auf. Über historisches Erzählen (2008), dem diese Pointierungen entnommen sind, möchte ich zum Anlass nehmen, den Begriff der ‚Mittelalterrezeption‘42 – die Betonung liegt dabei auf ‚Rezeption‘43 – zu reformulieren. Als ‚Reperformativen Logik des Medialen. In: Performativität und Medialität. Hrsg. von SYBILLE K RÄMER , München 2004, S. 35–74; sowie A RBEITSGRUPPE „M EDIEN“ (wie Anm. 18), S. 139ff. 40 Vgl. dazu A RBEITSGRUPPE „M EDIEN“ (wie Anm. 18), S. 136ff.; sowie programmatisch für den Bereich des Visuellen H ANS ULRICH R ECK : Eigensinn der Bilder. Bildtheorie oder Kunstphilosophie?, München 2007. 41 VALENTIN GROEBNER : Das Mittelalter hört nie auf. Über historisches Erzählen, München 2008, in zitierter Reihenfolge S. 58, 71, 143, 148 u. 139. 42 Vgl. dazu grundlegend die Symposien-Bände zur Mittelalter-Rezeption, Göttingen 1979–1991; außerdem programmatisch das von H ANS -JÜRGEN BACHORSKI und INGRID K ASTEN herausgegebene Themenheft Mittelalterrezeption der Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 45 (1998), H. 1–2, und die Skizze zum Arbeitskreis Mittelalterrezeption von M ATHIAS HERWEG und STEFAN K EPPLER in: Zeitschrift für Germanistik N. F. 18 (2008), S. 465– 467; zugespitzt auf das Nibelungenlied das von INA K ARG herausgegebene Themenheft Nibelungen-Rezeption der Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 55 (2008), H. 4; zuletzt H ANS -JOCHEN SCHIEWER : Modernisierungen und Popularisierungen. Der Nibelungenstoff vom 12. bis zum 21. Jahrhundert. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 56 (2009), H. 4, S. 437–458. 43 Zur Kategorie ‚Recycling‘, die für Rezeptionsphänomene zunehmend veranschlagt wird vgl. grundsätzlich WOLFGANG SCHNEIDER : Der Barbar. Endzeitstimmung und Kulturrecycling, München u. a. 1997; bezogen auf mittelalterliche Themen M ICHAEL M ECKLENBURG /A NDREA SIEBER : Mythenrecycling oder kollektives Träumen? Überlegungen zur Mittelalterrezeption im Film. In: Bilder vom Mittelalter. Eine Berliner Ringvorlesung. Hrsg.

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zeption‘ bezeichne ich vorläufig Praktiken des Wiedergebrauchs oder der Wiederverwendung von Texten, Bildern, Artefakten, medialen Konstellationen (insgesamt materielle Objekte) und Praktiken des Wiedergebrauchs oder der Wiederverwendung von Ideen und Vorstellungen (insgesamt Handlungen und Abstrakta), die sich in performativen Vollzügen schlicht ereignen oder intentional in Szene gesetzt und wahrgenommen oder vermarktet werden. In dieser Arbeitsdefinition verschränke ich einerseits Aspekte der klassischen Rezeptionsästhetik (HANS ROBERT JAUß, WOLFGANG ISER),44 die von sogenannten Unbestimmtheits- oder Leerstellen in literarischen Texten, in Artefakten oder medialen Realisierungen ausgehen, welche als polysemantische Konstituenten eines produktiven Rezeptionsprozesses fungieren, mit Aspekten von Medien- und Performativitätstheorien andererseits, die Mittelalterkonjunkturen als diskursive Konstruktionen und als populärkulturelle Emergenzphänomene kenntlich machen. Rezeption erscheint in diesem Kontext als ein Transformationsprozess, bei dem aus einer gegebenen Gegenwart heraus Vergangenes selektiv aufgegriffen, retroaktiv verändert und mit einem für die jeweilige Gegenwart relevanten Sinn versehen wird. Dabei können zum Beispiel (im Rekurs auf GADI ALGAZI) differenzierte Praktiken der Sinnbildung unterschieden werden. Etwa ein ‚Telescoping the past‘,45 wenn die Distanz zwischen Mittelalter und Moderne im Moment des Nachvollzugs gleichsam zusammen geschoben wird. Analog hierzu könnte man von einer Praxis des ‚Kaleidoscoping the past‘46 sprechen, wenn mittelalterliche Vorstellungen in der modernen Wahrnehmung nur noch in fragmentierter, ornamentalisierter und verfremdeter Form zur Geltung kommen. In diesem Prozess werden einzelne Mittelalterversatzstücke herausgegriffen und je nach Intention der Rezipienten zu einer Art „Sekundärmittelalter“47 rekombiniert. Dem Rekombinationsprozess liegen dabei verschiedene Modi der kollektiven und subjektiven Identitätsbildung zugrunde. Zu unterscheiden

von VOLKER M ERTENS /C ARMEN STANGE , Göttingen 2007, S. 95–136, sowie DOROSCHOLL : Das Mittelalter zwischen ‚Recycling‘ und neuem Wissen. Tristans alte und neue Geschichte. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 48 (2007), S. 69–108. 44 Vgl. exemplarisch H ANS ROBERT JAUß : Die Theorie der Rezeption – Rückschau auf ihre unerkannte Vorgeschichte, Konstanz 1987, sowie WOLFGANG ISER : Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa, Konstanz 1970. 45 G ADI A LGAZI : Ein gelehrter Blick ins lebendige Archiv. Umgangsweisen mit der Vergangenheit im 15. Jahrhundert. In: Historische Zeitschrift 266 (1998), S. 317–357. 46 Diese von mir in Anlehnung an A LGAZI vorgeschlagene Komplementärkategorie wäre selbstverständlich allererst zu operationalisieren. 47 GROEBNER (wie Anm. 41), S. 21. THEA

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sind in Anlehnung an GROEBNER ein vertikaler, ein horizontaler und ein subjektiver Modus, die jeweils mit spezifischen Erzählmustern und Identitätskonstruktionen verknüpft sind.48 Vertikal fungiert das Mittealter als retro- oder prospektive „Wunschmaschine“.49 Erzählt werden entweder Ursprungs- oder Zukunftsgeschichten, und Identität funktioniert nach einem ‚Wir-sind-schon-immer-so-gewesen-‘ oder ‚Wir-könnten-so-werden‘Muster. Vergangenheit wird dabei als genealogische Legitimierungsstrategie oder „utopischer Echo-Raum“50 für die aktuelle Gegenwart produktiv gemacht. Horizontal fungiert das Mittelalter als „Alteritätsmaschine“.51 Erzählt werden Abgrenzungsgeschichten, und Identität funktioniert nach einem ‚Wir-sind-anders‘-Muster. Vergangenheit wird dabei zur Konstruktion kultureller Überlegenheit oder als Chiffre für das grundlegend Andere benutzt. Neben oder gar quer zu diesen Modi steht das faszinierte Subjekt. Ihm eröffnen sich Spielräume für individuelle Erfahrungen, die in eine spezifische Aisthetisierung des Mittelalters über Texte, Artefakte und herkömmliche Medien münden oder als Grundidee in populärkulturellen Praktiken vollzogen, verkörpert und nachempfunden werden.52 An den Schnittflächen dieser Erfahrungsmöglichkeiten setzen dann Kommerzialisierungspraktiken und Marketingstrategien an, die ich für das ‚Label König Artus‘ bereits angedeutet habe.

3. Anmerkungen zu Kaamelott Die französischen Fernsehzuschauer verbringen kaum einen Tag ohne König Artus.53 Der offensichtliche Medienerfolg der Comedy-Spots Kaamelott von Alexandre Astier und Jean-Yves Robin provoziert bei mir die 48 49 50 51 52

53

Vgl. GROEBNER (wie Anm. 41). GROEBNER (wie Anm. 41), S. 9 u. ö. GROEBNER (wie Anm. 41), S. 58. Zu den Konjunkturen der Alteritätsthematik vgl. die Tagungen Alterität des Mittelalters? Aufforderung zur Revision eines Forschungsprogramms, München 21.–22. Nov. 2008; und Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren, München 7.– 9. Mai 2009. Zu diesem Trend vgl. bereits HORST FUHRMANN : Überall ist Mittelalter. Von der Gegenwart einer vergangenen Zeit, München 1996, sowie zuletzt (etwas kulturpessimistisch) aus geschichtsdidaktischer Perspektive NICOLA EISELE : Kleiner Hobbit und Großer Artus. Populäre mittelalterliche Mythen und ihr Potenzial für die Förderung historischen Denkens. In: History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres. Hrsg. von BARBARA KORTE /SYLVIA PALETSCHEK, Bielefeld 2009, S. 83–102. Vgl. dazu den Abschnitt „Kein Tag ohne Artus: ‚Kaamelott‘-Spots als Mythos im Alltag“ bei WODIANKA (wie Anm. 4), S. 449–455; sowie SABINE SCHRADER : Zur Serialität des Komischen in der französischen Fernsehserie ‚Kaamelott‘. In: TV global. Erfolgreiche Fern-

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Überlegung, ob zwischen Mittelalterkonjunktur, Multimedia- und Mainstreamtrends eine spezifische Verbindung auszumachen ist.54 Ohne Frage stellen die Kaamelott-Spots ein populäres, multimediales Medium der Mittelalterrezeption von außerordentlicher distributiver Reichweite dar, denn zweimal täglich vor den Nachrichten werden von dem französischen Fernsehsender M6 kurze Gags über die Tafelrunde von König Artus in einer Art simplifiziertem Monty-Python-Stil so platziert, dass die Mediennutzer beinahe zwangsläufig damit in Kontakt kommen. Die seit 2005 fast täglich ausgestrahlten Spots erreichen laut Selbstdiagnose des Marketings55 eine durchschnittliche Einschaltquote von 5 Millionen Zuschauern, was einem Marktanteil von 25% entspricht.56 Mindestens 700 Mal im Sendeformat von dreieinhalb Minuten passierten König Artus und die Ritter der Tafelrunde als Karikaturen ihrer selbst die französischen Fernsehbildschirme. Samstags wurde zudem eine Wochensynopse gesendet. Für die Prime Time wurden Spezialausgaben im Spielfilmformat produziert, und für 2010 ist eine Film-Trilogie anvisiert. DVDs haben sich millionenfach verkauft,57 Fernsehsender aus der Schweiz, Belgien, Spanien, Italien und Kanada haben die Spots übernommen.58 In Deutschland ist Kaamelott lediglich bei Insidern bekannt, aber die Werbestrategie besagt, dass nun zumindest der angelsächsische Markt erobert werden soll. Strukturell gliedert sich jede Episode in fünf Sequenzen: Prolog, zwei Akte, Abspann und Epilog, letzterer als akustisch pointierter Schlussgag mit Black Screen kombiniert. Das akustische Markenzeichen der Spots erinnert an die Atmosphäre in Fußballstadien59 – ob im bewussten oder unbewussten interfilmischen Rekurs auf Brian Helgelands A Knight’s Tale60 sei dahingestellt. Inhaltlich geht es um Angst, Dummheit, Ungehobeltheit seh-Formate im internationalen Vergleich. Hrsg. von Jörg Türschmann / Birgit Wagner, Bielefeld 2011, S. 121–140. 54 Mit dem Begriff ‚Mainstream‘ potenzieren sich nochmals die Schwierigkeiten, populärkulturelle Trends der Mittelalterrezeption in wissenschaftlicher Terminologie auf den Punkt zu bringen, denn wie ‚Mythos‘ und ‚Medium‘ ist Mainstream omnipräsent und entzieht sich einer eindeutigen Bestimmung. Vgl. dazu insgesamt H ANS -O TTO HÜGEL : Lob des Mainstreams. Zu Begriff und Geschichte von Unterhaltung und populärer Kultur, Köln 2007. 55 Vgl. den Trailer www.youtube.com/watch?v=2zjeEG_5duk (Stand 10.10.2009). 56 WODIANKA (wie Anm. 4), S. 449, konstatiert lediglich 16%. 57 Vgl. exemplarisch die erste Staffel: Alexandre Astier (Regie): Kaamelott, Livre I (Frankreich 2005). M6 Video 2005. 58 Vgl. WODIANKA (wie Anm. 4), S. 450. 59 Vgl. exemplarisch Livre I, tome 1, Spot 8: Codes et stratégies. 60 Brian Helgeland (Regie): A Knight’s Tale (USA 2001). Columbia Tristar Home 2001. Weitere Anspielungen auf Comics, Computerspiele, einzelne Filme, die französische Kulturszene und Namen oder Artefakte des europäischen kulturellen Erbes vermerkt WODIANKA (wie Anm. 4), S. 451f.

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und Ungehorsam der Tafelrunde, während sich Artus verzweifelt an die Gralssuche klammert und in zermürbenden Ehezwist mit Ginover oder in schwiegerelterlichen Clinch verstrickt ist. Das Format erlaubt die zufällige Einzelrezeption der Sitcom-Spots; durch gezielte Rückgriffe auf vorausgegangene Sendungen wird aber auch einem Stammpublikum Kontinuität versichert. Dabei stellt sich eine Art Familienähnlichkeit her, in der sich die vermeintlich mittelalterliche Lebensweise mit Praktiken der Alltagskultur amalgamiert. Letztlich geht es überwiegend um moderne Familien- und Gemeinschaftskonflikte, die in eine grotesk verzerrte, mythische Vergangenheit hineinprojiziert werden. Der Zusammenhang bzw. der Wechsel zwischen den Realitätsebenen wird dadurch noch forciert, dass einige Rollen mit Familienmitgliedern des Co-Produzenten, Regisseurs und Hauptdarstellers Alexandre Astier besetzt wurden. Durch die Überblendung von Darstellern im Film mit Familienmitgliedern in der Realität entwickelt sich ein subjektbezogener Sog auf die Zuschauer, keinen der Spots und somit keine Familienmisere bei König Artus oder den Astiers zu verpassen. Die ästhetische Umsetzung der Spots ist bewusst anachronistisch im Dekor und flapsig in der Sprache, steht in deutlichem Kontrast zu aufwändigen Historienfilmen und ist nicht ohne einige Klassiker der filmischen Mittelalterrezeption wie Monty Python, Star Wars oder Excalibur zu denken.61 Die alltagskulturelle Nähe macht Kaamelott zu einem MassenRezeptionsphänomen. Die vor den täglichen Nachrichten platzierten Kaamelott-Minuten lassen sich daher im Anschluss an Siegfried Kracauer als Oberflächenerscheinung des multimedialen Mainstreams betrachten: Denn „[d]er Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozeß einnimmt, ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen schlagender zu bestimmen als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst.“62 Die Multifunktionalität massenmedialer Mittelalterrezeption, die sich im Fall von Kaamelott einem gezielten ‚Mood-Management‘, potenzieller Interaktivität und medialisierten Alltagsemotionen verdankt, wird zudem maßgeblich durch eine spezifische Alltagsästhetik geprägt: Jeder Kaamelott-Spot hätte, unausgeleuchtet, gepixelt, verwackelt, mit einer privaten Web-Cam aufgenommen werden können. Dass die alltagskulturelle Nähe von Kaamelott programmatisch gewollt ist, erscheint evident. Die wissenschaftliche Beurteilung solcher Main61 62

Terry Gilliam/Terry Jones (Regie): Monty Python and the Holy Grail (GB 1975), George Lucas (Regie): Star Wars Episode IV–VI, I–III, The Clone Wars (USA 1977–2008), John Boorman (Regie): Excalibur (USA, GB 1981) SIEGFRIED K RACAUER : Das Ornament der Masse. In: Ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt/M. 1977, S. 50–63, hier S. 50.

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stream-Produktionen innerhalb der Populärkultur unterliegt derzeit einer Verschiebung von der Oberflächenkultur zur Basiskultur, die es als Prozess selbst zu historisieren gilt. Denn was gestern Mainstream war, ist unter Umständen heute Kult und morgen Kunst.63

4. Fazit Mitunter irritiert und provoziert die populäre Artus-Rezeption. In meinem Beitrag habe ich das vielfach ausgelotete Terrain mediävistischer Kanonlektüre und europäischer Kunstfilme überschritten, um die alltagskulturelle Omnipräsenz des Artus-Mythos hinsichtlich ihrer performativen Energie ernst zu nehmen. Jenseits von historischer Authentizität und ambitionierter Ästhetik liefert das ‚Label König Artus‘ eindrückliche Beispiele dafür, wie ein mittelalterlicher Mythos in der Moderne fragmentiert und in teils respektlosen Rekombinationen recycelt und vermarktet wird. In kurzen Fallstudien habe ich die Gebrauchsfunktion, den medialen Charakter und den epistemischen Status von einzelnen Objekten aus dem Bereich der Artus-Rezeption konturiert. Deutlich wurde, dass das ‚Label König Artus‘ in der intrikaten Verschränkung von Mittelalter, Multimedia und Mainstream nicht per se eine erinnerungskulturelle Funktion übernimmt oder eine andere Form bedeutungsstiftender Partizipation am Mythos garantiert. Zahlreichen Produkten wie Möbeln oder Potenzmitteln fehlt eine mythopoietische Energie, die sie zu ‚echten‘ Medien der Mittelalterrezeption machen würde. Diese Feststellung schließt jedoch nicht aus, dass Produkte durch transgressive Verwendungsweisen auch als ‚Nicht-Medien‘ zur Ästhetisierung der Lebenswelt potentiell beitragen können. Der Begriff Mittelalterrezeption beschreibt in dieser Konstellation somit nicht die Ontologie multimedialer Praktiken, sondern erfordert meine Ontogenese als wissenschaftliche Beobachterin,64 die zu lernen hat, mit Hilfe der Differenz zwischen Produkt und Medium zu beobachten, welche ästhetischen Dynamiken ‚das Mittelalter‘ im Mainstream entfaltet und welche Distinktionen aus diesem Rezeptionsprozess sich transformativ auf die Gegenstände mediävistischer Wissenschaft auswirken.

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Dieses Potential wird beleuchtet in dem Band Experiment Mainstream? Differenz und Uniformierung im populären Kino. Hrsg. von CHRISTINE RÜFFERT/IRMBERT SCHENK / K ARL -HEINZ SCHMID u. a., Berlin 2006, sowie bei HÜGEL (wie Anm. 54). 64 Vgl. DIRK BAECKER : Beobachtung mit Medien. In: Medien in Medien. Hrsg. von CLAUDIA L IEBRAND /IRMELA SCHNEIDER , Köln 2002, S. 12–24, hier S. 22.

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Virus Parzival Der Artusroman als Rollenspiel in Tim Staffels Next Level Parzival Die enge Verbindung von Mittelalter und Fantasy bzw. Phantasiewelten in Buch, Film und Spiel ist bekannt.1 Sie lässt sich in ihrer Massivität und Produktivität wohl nur teilweise mit der herrschenden Mittelalterbegeisterung und dem Reiz der Fremdheit erklären, zeigt aber deutlich eine große Faszination des Mittelalters bzw. dessen, was dafür gehalten wird. Das Rollenspiel2 per Computer bietet dabei (zumindest bisher) den Höhepunkt der Immersion, des „Eintauchens“ in eine – wie immer geartete – (pseudo-)mittelalterliche Welt, denn die Spieler können sich nicht nur wie etwa im Roman mit einer der Figuren identifizieren und deren Erlebnisse mit- oder nacherleben, sondern agieren selbst als einer der Charaktere in der fiktiven Welt und müssen nach deren Bedingungen handeln bzw. die Konsequenzen tragen. Im Gegensatz zu realen Rollenspielen ist die Wahl der eigenen Spiel-Identität und deren Fähigkeiten weitaus freier und die Identifikation mit der gewählten Rolle kann durch die im Grunde unbegrenzte Dauer solcher Spiele wesentlich stärker ausgeprägt sein. Diese Immersion in MMORPGs („Massively Multiplayer Online RolePlaying Games“), deren „meist beschränkte virtuelle Räume“3 mit Hilfe

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Vgl. dazu etwa den bereits 1986 erschienenen Beitrag von IRENE ERFEN-H ÄNSCH zu den Star Wars-Kultfilmen. IRENE ERFEN-H ÄNSCH : Die Wiederkehr des Mythos im Gewand des High Tech. ‚Star Wars‘: Chiffren des Mittelalterlichen. In: Forum. Materialien und Beiträge zur Mittelalter-Rezeption I. Hrsg. von RÜDIGER K ROHN, Göppingen 1986, S. 299–318. Zur Geschichte des Rollenspiels vgl. JÜRGEN C. A BELN : Fantasy-Rollenspiele. In: Zauberland und Tintenwelt. Fantastik in der Kinder- und Jugendliteratur. Hrsg. von JÖRG K NOBLOCH /GUDRUN STENZEL , Weinheim 2006, S. 146–158, sowie GERD FREY : Fantastik im Computerspiel. In: Ebd., S. 159–172. TIM GUEST: Die Welt ist nicht genug. Reisen in die virtuelle Realität. Übers. von BERND RULLKÖTTER , Berlin 2008, S. 11.

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einer „digitale[n] Repräsentation[]“4, eines Avatars5, betreten werden, findet nach TIM RITTMANN auf vier Ebenen statt: 1. auf „der räumlichen Ebene“, d. h. dadurch, dass virtuelle „Orte und Räume [...] als Orte wahrgenommen werden“; 2. auf „der Ebene des Gameplays“ bzw. der „ludische[n] Ebene“ durch die Aktions- und Entwicklungsmöglichkeiten, die das Spiel bzw. die virtuelle Welt für den Avatar bietet; 3. auf „der narrativen Ebene“, denn eine virtuelle Welt konstituiert sich auch durch ihre unter anderem narrativ konstruierte „eigene Geschichte, ihre Vergangenheit, ihre Gegenwartsvariationen und ihre Zukunftsvisionen“ und bietet die Möglichkeit, in Geschichten von Figuren einzutauchen, Empathien zu entwickeln und ähnliches; 4. auf „der sozialen Ebene“, da eine virtuelle Welt Gelegenheiten bietet, Beziehungen zu anderen ‚Spielern‘ (nicht nur deren Avataren, aber über diese) aufzubauen, und unter Umständen auch Zusammenschlüsse zu Gruppen fördert oder gar erfordert.6 Die Spieler geraten über ihre Avatare in ein komplexes Rollengeflecht, das sich nicht darin erschöpft, dass eine ‚neue‘ Identität in einer ‚neuen‘ Welt gewählt und bedient werden muss. Vielmehr werden sie gleichzeitig Rezipienten und Autoren der virtuellen Welt, denn sie beeinflussen durch die Aktionen, die sie ihre Avatare unternehmen lassen, die Geschehnisse in der Virtual Reality und lenken sie ein Stück weit mit.7 Dabei verfügen Spieler und Avatare jeweils über einen unterschiedlichen Wissensstand, sind aber auch von einander abhängig, da der Avatar vom Spieler gesteuert werden muss, der Spieler aber auch an die Fähigkeiten des Avatars gebunden ist.8 Der Avatar hilft damit dem Spieler, die Grenzen seiner eigenen Identität zu überschreiten oder zumindest im Spiel andere Möglichkeiten zu erproben. So kann die Bedeutung des aus dem Hinduistischen stammende Wortes 4

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JAN-HINRIK SCHMIDT: Second Life und Web 2.0. Zur Untrennbarkeit von virtueller und realer Welt. In: Second Life – Avatare – Cyberwelt. Gibt es ein zweites Leben? Hrsg. von DIETRICH DÖRNER /WOLFGANG HUBER /JAN-HENDRIK SCHMIDT u. a., Bamberg 2009, S. 42–57, hier S. 47. Der Film Avatar von James Cameron (USA 2009) zeigt einmal mehr die Aktualität der Thematik und das große Interesse an der Diskussion um künstliches Leben und künstliche Intelligenz und deren Stellenwert in der menschlichen Gesellschaft. Alle Zitat dieses Abschnittes aus: TIM R ITTMANN : MMORPGs als virtuelle Welten. Immersion und Repräsentation, Boizenburg 2008, S. 12–14. Vgl. dazu NICOLE MÜLLER /R ALF SCHLECHTWEG -JAHN : Mittelalterbilder im Computerspiel ‚Medieval: Total War‘. Zur Performativität und Immersion von Spieler und Avatar. In: Perspicuitas. Internet-Periodicum für mediävistische Sprach-, Literatur-und Kulturwissenschaft; 11.1.2010, unter www.uni-due.de/imperia/md/content/perspicuitas/mittelalterbilder_computerspiel.pdf (Stand 5.2.2010), S. 2f. Vgl. MÜLLER /SCHLECHTWEG -JAHN (wie Anm. 7), S. 3.

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‚Avatar‘ – „‚Herabkunft‘ [...] die körperliche Manifestation des HinduGottes ‚Vishnu‘ auf der Erde“9, also die „Inkarnation Gottes“10 – auf diese Grenzüberschreitung ebenso hinweisen wie auf die Autorfunktion, die dem Spieler über seinen Avatar im Rollenspiel zukommt. Diese Möglichkeit des intensiven Mit-Lebens einer zweiten, im Spiel geschaffenen Identität und die Rückwirkung auf die Spieler bildet die Basis in Tim Staffels Stück Next Level Parzival11, das im September 2007 bei der RuhrTriennale als Koproduktion mit dem Theater Basel und dem jungen theater basel uraufgeführt wurde. Vorgabe des Auftragswerkes war zunächst nur ‚Mittelalter‘. Bei der Suche nach einem konkreten Thema fiel die Wahl mit Blick auf das jugendliche Zielpublikum nicht zuletzt durch die intensive Lektüre von Tankred Dorsts Merlin oder das wüste Land12 auf den Parzival-Stoff, der in Verbindung mit dem Genre des ComputerRollenspiels, das häufig ein Mittelalterbezug auszeichnet, neu erzählt werden soll.13 Sieben Jugendliche treffen sich – offenbar regelmäßig –, um gemeinsam ‚ins Netz‘ zu gehen und zu spielen. Sie haben dabei Identitäten angenommen, die dem Parzival-Roman Wolframs von Eschenbach entlehnt wurden. Die Vorgaben, die der Parzival-Stoff liefert, und die beiden Spielebenen – RL und VR (Real Life und Virtual Reality) – bilden die Ausgangsbasis für den Handlungsablauf, der die jugendlichen Spieler an ihre Grenzen führt. Diesem Zusammenspiel von mittelalterlichem Stoff – dem Parzival – und dem Medium des Computer-Rollenspiels möchte ich mich mit einem Blick auf eines der zentralen Themen des Stückes – Rollenspiel als Regelspiel – nähern, das vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Quelle untersucht werden soll. Aus der Grundkonstellation des Stückes ergibt sich – sinnfällig durch die Fokussierung von Regeln dargestellt – eine in der Parzival-Rezeption neue Perspektive, die ich im Anschluss aufzeigen möchte. 9 10

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R ITTMANN (wie Anm. 6), S. 9 mit Anm. 1. BERT THEODOR TE WILDT: Pathological Internet Use. Abhängigkeit, Realitätsflucht und Identitätsverlust im Cyberspace. In: Virtuelle Welten werden real. Second Life, World of Warcraft & Co. Faszination, Gefahren, Business. Hrsg. von A NDREAS L OBER , Hannover 2007, S. 68–77, hier S. 68. Im Folgenden zitiert nach TIM STAFFEL : Next Level Parzival. In: Theater heute 11 (2007), Beilage. TANKRED DORST: Merlin oder Das wüste Land. Mitarbeit URSULA EHLER , Frankfurt/M. 1985; vgl. auch ders.: Parzival. Ein Szenarium. Mitarbeit URSULA EHLER , Frankfurt/M. 1990. Vgl. UWE HEINRICH : Slash Repeat. Was glaubst du, wer du wirklich bist. In: ‚Next Level Parzival‘ von Tim Staffel [Programmheft zur Uraufführung bei der RuhrTriennale 2007]. Hrsg. von der Kultur Ruhr GmbH, Gelsenkirchen 2007, S. 3–5, 8f., 12f., 22–25, 30f. u. 34–37, hier 3f.

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Zuvor soll kurz die Konstruktion des Stückes erläutert werden, durch die wie in einem ‚Kammer-Krimi‘ im Stil Agatha Christies ein hoher Grad an Zwangsläufigkeit entwickelt wird.

1. Die Konstruktion Das in die fünf ‚Instanzen‘ „Regeln“, „Kicken und Helfen“, „Im Netz“, „Systemabsturz“ und „Schlachtfeld“ gegliederte Stück erzählt folgende Geschichte: Die Geschwister Lukas und Annika treffen sich zu Hause mit ihren Freunden Chloe, Sylvio, Yannick, Hedda und Oktay zu einer LANParty14. Sie spielen im virtuellen Raum des Netzes ein Rollenspiel, dessen Programm-Zentrum ARTUS ist, der Aufgaben verteilt – im Spiel „Questen“ genannt – und das Spiel steuert. Ziel des Spiels ist es, sich durch die Instanzen zu ‚leveln‘, d. h. durch richtiges Handeln Punkte verschiedener Kategorien zu sammeln, so dass man die eigene Identität verbessern und gemeinsam jeweils den „next level“ erreichen kann. Die sieben Freunde bringen aus dem Real Life ihre jeweiligen Hintergründe und Beziehungen mit. Lukas und Annika sind, wie erwähnt, Geschwister; Chloe und Sylvio sind ein Paar, Hedda und Yannick haben – so erfährt man – miteinander geschlafen (im Lauf des Stückes wird Beteiligten wie Zuschauern zunächst angedeutet, später explizit erzählt, dass Yannick homosexuell ist) und Annika und Oktay kommen sich während des Abends deutlich näher. Die Spielerinnen und Spieler haben sich für das Rollenspiel folgende neuen Identitäten ausgesucht: ARTUS Orakel

Clamide

Ginover

Lukas

Annika

Parzival Liaze

Condwiramurs

Chloe

Jeschute

Gawan

Orilus

Sylvio

Yannick

Hedda

Vera (Mutter von Lukas und Annika)

14

LAN = „Local Area Network“.

Ither Knappe

Oktay

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Dabei haben die Spielerinnen und Spieler offensichtlich keine Kenntnis der Handlung innerhalb des Parzival-Stoffes, bzw. die Handlung ist für das Rollenspiel letztlich unwichtig, denn die Spieler steuern über ihre Avatare das Geschehen. Der Avatar Oktays verliert, nachdem der rote Ritter Ither dem Stoff konform getötet wird, seinen Status und muss als Knappe erneut damit beginnen, sich ‚hochzuleveln‘. Chloes Avatar wandelt sich ohne derart offensichtlichen Einfluss von Liaze zu Condwiramurs, als das Spiel außer Kontrolle gerät. Die Beziehungen der Parzival-Figuren bilden nun ganz andere Linien zwischen den jugendlichen Spielern. Darüber hinaus gibt es zwei Beteiligte, die das Rollenspiel zum virtuellen Crossdressing nutzen: Sylvio wird im Netz zu Jeschute, Hedda zu Orilus. An diesem Abend des gemeinsamen Spielens geschieht nun etwas völlig unvorhergesehenes: Parzival erscheint in der virtuellen Welt. Ihm folgt beinahe ständig Orakel. Orakel wird im Produktions-Bericht des Dramaturgen Uwe Heinrich „als chaosprinzip in der geordneten welt des artus [definiert]“15 und übernimmt in der Geschichte Parzivals vor allem Funktionen von Herzeloyde und Gurnemanz – die Rolle des Lehrers also. Das Eindringen Parzivals in den phantastischen Spiel-Raum ist der Beginn bzw. Auslöser für die Auflösung der Grenzen zwischen beiden Ebenen. Ähnlich wie in Tad Williams’ Otherland-Büchern,16 an denen sich Tim Staffel orientiert hat,17 verlieren die Jugendlichen die Gewissheit darüber, was real und was virtuell ist. Parzival als eine Art KI (Künstliche Intelligenz), die selbständig handelt und von den Spielern nicht gesteuert, sondern nur wie ein Mensch in gewissem Maß durch Interaktion beeinflusst werden kann, lässt ‚wahres‘ Leben und Spielwelt verschwimmen und wirft durch sein

15 16

17

HEINRICH (wie Anm. 13), S. 24. Vgl.: TAD WILLIAMS : Otherland. Stadt der goldenen Schatten. Übers. von H ANS -ULRICH MÖHRING, 3. Aufl. München 2008; Bd. 2: Fluß aus blauem Feuer. Übers. von H ANS ULRICH MÖHRING, München 2006; Bd. 3: Berg aus schwarzem Glas. Übers. von H ANS ULRICH MÖHRING, 2. Aufl. München 2008; Bd. 4: Meer des silbernen Lichts. Übers. von H ANS-ULRICH MÖHRING, 2. Aufl. München 2008. In dieser Fantasy-/Science FictionWelt kann man sich im Netz als „Sim“ [Simulation] bewegen; seinen „Sim“ kann man dabei – je nach finanziellen Möglichkeiten – frei gestalten. Die virtuelle Welt erweist sich aber zum einen als nicht ungefährlich und zum anderen als nicht ganz so virtuell wie gedacht, denn ‚Otherland‘, ein Hochleistungsnetzwerk mit zahllosen nachgebauten und fiktiven Welten lässt seine Besucher nicht in die Wirklichkeit zurückkehren und die Ereignisse innerhalb der virtuellen Welt haben Einfluss auf das Real Life. Vgl. ANDREAS WILINK: Auf der Suche nach dem Gral. Die RuhrTriennale sucht im dritten Jahr von Jürgen Flimms Intendanz ihr Heil im Mittelalter – mit Inszenierungen und Texten von Johan Simons, Wilhelm Genazino, Tim Staffel und Juli Zeh. In: Theater heute 11 (2007), S. 31–34, hier S. 34.

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Erscheinen die Frage auf: „Was ist Realität, und wie real bin ich selbst?“18 Wie HEINER HINK anhand zahlreicher Beispiele aufzeigt, spielen das Thema der simulierten Welt und die Frage ihres Realitätsgehaltes und ihrer Erkennbarkeit in der Science-Fiction-Literatur und im Science-Fiction-Film seit Jahrzehnten eine große Rolle.19 Auch in Tim Staffels Stück verselbständigt sich die virtuelle Welt in einem „prozess der ablösung der avatare von ihren spielern“20 und entzieht sich immer mehr der Kontrolle, bis sich die Spieler schließlich in der virtuellen Welt wiederfinden und sich dort in ihren ‚realen‘ Rollen und Personen gegen ihre Avatare behaupten müssen. Das Problem, das Parzival und Orakel in die Welt des Spiels hineinbringen, ist das Chaos: Die aufgestellten Regeln werden von Parzival nicht beachtet und verlieren im Lauf des Spieles auch für die anderen – Spieler wie Avatare – immer mehr an Bedeutung.

2. Rollenspiel als Regelspiel „Ein wesentlicher Punkt, weshalb die Kids diese Spiele mögen, sind die klaren Regeln, denen sie folgen und an denen man sich festhalten kann.“21 – Mit diesen Worten beschreibt Tim Staffel in einem Interview die Faszination von Computer-Rollen-Spielen. Das virtuelle Leben wird durch die verschiedenen Levels strukturiert, die man in aufsteigender Reihenfolge durchläuft, indem man durch richtiges Verhalten im weitesten Sinne Punkte sammelt und damit auch gleichzeitig seine eigene Rollenidentität aufwertet. Eine der Grundideen von Computer-(Rollen-)Spielen, „Monster töten, Quests erfüllen, Level aufsteigen“, um „Ruhm, Ehre und Beute“22 zu gewinnen, bildet auch hier den Handlungsrahmen. In Tim Staffels Stück geht es namentlich etwa um ganz praktische Fähigkeiten wie „Zauber- und Heilkraft“ (S. 4b) oder schlicht „Kraft“ (S. 5b),

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HEINER HINK: Virtuelle Welten in Film und Literatur. In: Virtuelle Welten werden real. Second Life, World of Warcraft & Co: Faszination, Gefahren, Business. Hrsg. von ANDREAS LOBER, Hannover 2007, S. 63–67, hier S. 63. 19 Vgl. HINK (wie Anm. 18). 20 HEINRICH (wie Anm. 13), S. 24. 21 FRANZ WILLE: „Der Schurke ist am einfachsten zu spielen.“ Ein Gespräch mit Tim Staffel über ‚Next Level Parzival‘, Computerspiel und die Tücken der Feinmotorik. In: Theater heute 11 (2007), S. 34f., hier S. 35. 22 TOBIAS SCHMITZ : Faszination Rollenspiel. In: Virtuelle Welten werden real. Second Life, World of Warcraft & Co: Faszination, Gefahren, Business. Hrsg. von A NDREAS L OBER , Hannover 2007, S. 47–50, hier S. 49.

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um gesellschaftliche Auszeichnungen wie „Ruhm“, „Respekt“ und „Ehre“ (S. 5b), um Eigenschaften wie „Mut“ und „Seelenstärke“ (S. 5c) oder auch um moralische Werte, die pauschal als „Tugendpunkte“ (S. 4a) oder „Charakterpunkte“ (S. 5c) bezeichnet werden. Erreicht werden Pluspunkte auf den jeweiligen ‚Konten‘ durch Handlungen wie „Versöhnung“ (S. 5b [„Für Versöhnung kriegt man Kraft.“]) oder durch Hilfe für andere Figuren; sogar durch Heiraten ist eine Aufwertung von Konten möglich (S. 5c; Charakterpunkte).23 Die auf diese Weise gleichsam ‚durchgestylte‘ Welt wird zu einer Art Schutzraum für die Spieler: Der Weg der einmal gewählten Figur ist weitgehend vorgegeben – man weiß, was man zu tun hat – und es gibt festgesetzte Normen, nach denen man handeln muss, um in dieser Welt Erfolg zu haben und vorwärts zu kommen. Das Abweichen von diesen virtuellen Gesetzen hat negative Konsequenzen, vom Minus auf den Punktekonten bis zur Degradierung auf einen niedrigeren Stand der Figur (so geschieht es Oktays Avatar Ither). Den Unterschied – oder Vorzug – gegenüber der realen Welt benennt Tim Staffel folgendermaßen: „Im Spiel gibt es [...] die klaren Regeln, da kann ich nicht verarscht werden und bin in gewisser Weise geschützt.“24 Diese Regeln sind nun die Schnittstelle zum Mittelalter bzw. Mittelalterbild im Allgemeinen und zu Wolframs Parzival im Besonderen. Eines der wohl am deutlichsten wahrgenommenen ‚Kennzeichen‘ der mittelalterlichen Gesellschaft im Vergleich zu unserer heutigen ist die nach Ständen geordnete Struktur.25 Die (vereinfachte) Dreiheit von ‚Bauern‘, ‚Adel‘ und ‚Klerus‘ ist in der Rezeption bis hin zu einer Art Typenbildung geführt: Der edle Ritter, der dumme Bauer, der hinterlistige Geistliche oder ähnliche Figuren sind in einer ganzen Reihe von Filmen, Comics und anderen Rezeptionsprodukten zu finden. Auch das städtische Leben des späteren Mittelalters wird deutlich vor dem Hintergrund von gesellschaftlicher Ordnung – beispielsweise nach Zünften und Gilden – rezipiert (auch die soziale Organisation etwa in „Gilden oder Clans“ ist, so TIM RITTMANN, „in nahezu allen Computerspiel-Genres anzutreffen“26). Diese Strukturen sind Ordnungssysteme, die die jeweiligen Gruppen voneinander abgrenzen, damit aber auch Zugehörigkeiten aufbauen. In23 Das „Feature ‚Heiraten‘“ spielt auch in anderen MMORPGs eine Rolle. Vgl. SCHMITZ : Faszination Rollenspiel (wie Anm. 22), S. 49. 24 WILLE (wie Anm. 21), S. 35. 25 Vgl. dazu O TTO GERHARD OEXLE : Das Bild der Moderne vom Mittelalter und die moderne Mittelalterforschung. In: Frühmittelalterliche Studien 24 (1990), S. 1–22, hier S. 6. Zur mittelalterlichen Ständegesellschaft vgl. R ALF MITSCH : Stand, Stände, -lehre., I. Definition; Mittel- und Westeuropa. In: Lexikon des Mittelalters, München 2003, Bd. 8, Sp. 44–49. 26 R ITTMANN (wie Anm. 6), S. 14.

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nerhalb dieser (mittelalterlichen) Stände herrschen ebenfalls klare ‚Vorschriften‘, Normen, nach denen man sich zu richten hat. So zumindest sieht Tim Staffel das Mittelalter: „In der Ritterwelt zum Beispiel regiert ja ein strenger Ehrenkodex, es wird nach klaren Regeln gehandelt.“27 Dabei ist ihm völlig klar, dass es (ihm und den Rollenspielern) nicht um das tatsächliche Mittelalter geht, denn er fährt fort: „Vielleicht gibt es eine Sehnsucht danach. Vielleicht sind ja die Werte eines idealisierten Mittelalters tauglicher als die, die wir heute anzubieten haben.“28 Das Mittelalter dient damit einmal mehr als Projektionsfläche bzw. als Ideal-Spiel-Raum für das Experimentieren mit neuen oder einfach anderen möglichen Welten. Als ‚Ideal‘ fungiert dabei das Element der Ordnung, der Klarheit der eigenen Position wie auch des eigenen Weges, das im Gegensatz zur heutigen (westlichen) Gesellschaftsstruktur steht, die (scheinbar) geprägt ist von Möglichkeiten, ‚Freiheiten‘, die genutzt werden können, die aber auch gewählt werden müssen, somit auch Unklarheit und Schwierigkeiten mit sich bringen. Diese (ideale) Klarheit ist nun Grundlage für das Rollenspiel, allerdings mit einer wichtigen Einschränkung: Am Beginn steht die Wahl des eigenen Avatars, d. h. der Spieler kann (in einem gewissen Rahmen) wählen, wer er ist. Auch das mag eine Sehnsucht und auch in gewissem Sinn eine Notwendigkeit für viele Jugendliche abbilden, denn die virtuelle Welt kann so zum „Experimentierfeld“29 werden, in denen die Heranwachsenden „Suchen und Ausprobieren zu Leitmotiven“30 machen und „verschiedene soziale Rollen und Handlungsstrategien“31 erproben können.32 Wolframs Parzival fügt sich in dieses Raster nun im Grunde nahtlos ein. Aus der Abgeschiedenheit von Soltane gelangt der junge Sohn eines Ritters in die ‚wirkliche‘ Welt, gleichsam als unbeschriebenes Blatt. Die Regeln dieser Welt kennt er nicht und muss sie in mehr oder weniger harten Lehrgängen erlernen und seine Rolle in der Gesellschaft finden. Die ersten Verhaltensratschläge erhält er von seiner Mutter:

27 Gier nach Leben. Tim Staffel im Interview. In: ‚Next Level Parzival‘ von Tim Staffel [Programmheft zur Uraufführung bei der RuhrTriennale 2007]. Hrsg. von der Kultur Ruhr GmbH, Gelsenkirchen 2007, S. 6f., hier 7. 28 Gier nach Leben (wie Anm. 27), S. 7. 29 CHRISTINA SCHACHTNER : Jugendliche am Computer. Ein Raum für Experimente mit sozialen Rollen und Handlungsstrategien? In: Medien und Erziehung 4 (1995), S. 236–243, hier S. 237. 30 SCHACHTNER (wie Anm. 29), S. 237. 31 SCHACHTNER (wie Anm. 29), S. 241. 32 Vgl. dazu auch TOBIAS SCHMITZ : „Soziale“ Welten. In: Virtuelle Welten werden real. Second Life, World of Warcraft & Co: Faszination, Gefahren, Business. Hrsg. von A NDREAS L OBER , Hannover 2007, S. 51–62.

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dune solt niht hinnen kêren, ich wil dich list ê lêren. an ungebanten strâzen soltu tunkel fürte lâzen: die sîhte und lûter sîn, dâ soltu al balde rîten în. du solt dich site nieten, der werlde grüezen bieten. Op dich ein grâ wîse man zuht wil lêrn als er wol kan, dem soltu gerne volgen, und wis im niht erbolgen. sun, lâ dir bevolhen sîn, swa du guotes wîbes vingerlîn mügest erwerben unt ir gruoz, daz nim: ez tuot dir kumbers buoz. du solt zir kusse gâhen und ir lîp vast umbevâhen: daz gît gelücke und hôhen muot, op si kiusche ist unde guot.33

Wenn Herzeloyde auch, wie ihr JOACHIM BUMKE bescheinigt, „pädagogisch [...] alles falsch [macht]“34 und ihre Lehren „verkürzt und mißverständlich“35 sind, so lässt sich doch eines erkennen: Sie versucht, Parzivals Weg in die Welt voraus zu ahnen und ihn auf die vor ihm liegenden „Begegnungen“ vorzubereitet. Als erste Hürde wird – so müsste sie denken – ein Bach seinen Pfad kreuzen, danach werden Leute kommen, ein weiser alter Mann, dann eine Frau. Sie hat damit auch beinahe recht, und wenn es so gekommen wäre, hätte Parzival möglicherweise auch keinen Fehler gemacht – jedenfalls keinen mit unangenehmen Folgen. Doch unglücklicherweise trifft Parzival erst auf Jeschute und dann

33

„Du sollst noch nicht fort von hier, vorher will ich dich erst lehren, was du wissen mußt. Wenn du auf ungebahnten Straßen reitest, so mußt du die dunklen Furten meiden. Wenn das Wasser seicht und lauter ist, da hab nur immer Mut und reite hinein. Du sollst dich bemühen, immer höflich zu sein, und alle Leute grüßen. Wenn ein grauer, weiser Mann dich lehren will, wie man sich recht benimmt, dann weiß der, was er tut, und also sollst du ihm gern folgen und ja nicht zornig aufgeblasen sein. Mein Sohn, das lege ich dir noch ans Herz: Wo du Gelegenheit hast, von einer lieben Frau ein Fingerringlein zu erwerben und freundliche Worte, dort greif zu; das hilft dir gegen Traurigkeit. Du mußt sie drängen um ihren Kuß und ihren Leib recht fest umfangen: Das bringt Glück und macht die Seele edel, wenn die Frau Unschuld hat und Güte.“ Text und Übersetzung zitiert nach Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von K ARL L ACHMANN. Übers. von PETER K NECHT. Einführung zum Text von BERND SCHIROK, Berlin u. a. 1998, 127,13–128,2. 34 JOACHIM BUMKE : Wolfram von Eschenbach, 8. Aufl. Stuttgart u. a. 2004, S. 55. 35 BUMKE (wie Anm. 34), S. 57.

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auf Gurnemanz (dass auch der Bach in seinem Verlauf dabei eine unselige Rolle spielt, sei nur am Rande bemerkt). Festzuhalten bleibt, dass Parzival Regeln lernen und zudem deren Anwendung einüben muss, um „in die Gesellschaft hineinzuwachsen“36 und sich integrieren zu können. Darüber hinaus trifft Parzival zwar scheinbar die Wahl seines Weges selbst – er möchte Ritter werden –, ist aber dabei natürlich nicht wirklich frei, sondern wird von seiner art (d. h. ‚Natur, Herkunft’) gelenkt. Ebenso können die Spieler in Next Level Parzival zwar theoretisch ihre Avatare frei wählen, doch die virtuelle Welt Tim Staffels unterliegt wie jede andere Virtual Reality „in vielfacher Hinsicht Regulierungen [aus der] [...] und Bezügen zur realen Welt“37. Darüber hinaus wird die Wahl der SpielIdentität mehr oder weniger durch unbewusste Entscheidungen gesteuert, so dass die Avatare zumeist entweder Ähnlichkeiten oder Gegensätze zu den Spielern ausdrücken. Dabei spielt auch die eigene Wahrnehmung von Freiheit oder deren Gegenteil eine Rolle: Sylvio beispielsweise ist derjenige unter den Jugendlichen, dessen Weg am klarsten vorgezeichnet scheint. Yannick, dem Sylvio mehrfach das Wort „Schwuchtel“ an den Kopf wirft, fasst Sylvios Situation so zusammen: „Hat dein Bonzenvater dir das Wort beigebracht? Was erwartet so einer von seinem Sohn? In Aktien machen, heiraten, Kinder kriegen? Braves Söhnchen.“ (S. 8b) Dieser Sylvio wählt sich als Avatar eine Frau, Jeschute, für ihn der größtmögliche Gegensatz und damit ein Ausbruch aus seiner so festgelegten Rolle. Für ihn bietet die virtuelle Welt zunächst völlige Freiheit und die Möglichkeit zur eigenen Wahl und Entwicklung. Die Vergewaltigung durch Parzival (im Stück ist es zweifellos eine solche) erschüttert ihn zutiefst und bringt sein geordnetes Weltbild völlig durcheinander, denn er muss damit die Kehrseite der Freiheit, die Schutzlosigkeit, kennenlernen, die Regellosigkeit oder die Unkenntnis bzw. Nichtbeachtung von Regeln mit sich bringt. ‚Brave‘ Spieler sind allerdings zunächst alle Beteiligten: Sie halten sich an die Regeln, auch wenn es hin und wieder Unstimmigkeiten gibt. Das ändert sich erst, als Parzival die virtuelle Welt betritt.

3. Der Eindringling Parzival Als sich an diesem Abend alle in das Spiel gefunden haben, erscheint Parzival. Er kennt seinen Namen nicht und steht zunächst nackt im Raum. Sein einziges Wissen in diesem Zustand des Neugeborenen drückt er

36 SCHACHTNER (wie Anm. 29), S. 237. 37 SCHMIDT (wie Anm. 4), S. 56.

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mit Wolfram’schen Worten aus: „Bin mittendurch, dann war ich hier.“ (S. 4b)38 Von Orakel erhält er seinen Namen und erste Ansätze von Lehren bzw. Hinweise, die etwa dem entsprechen, was Parzival von den Rittern im Wald von Soltane und von seiner Mutter Herzeloyde erfährt. Das erste Zusammentreffen Parzivals mit einem Avatar findet zwischen ihm und Jeschute (Sylvio) statt. Dass auch hier die ‚Lehren‘ missverständlich und unvollständig waren, zeigt die sofort folgende Vergewaltigung. Der Rat Orakels bezüglich Frauen weicht allerdings auch in einer auffordernden Weise von dem bei Wolfram ab: „Wag dich an Frauen ran, die tun dir nicht weh. Die wehren sich nur, wenn du sie nicht ebenso wie ihren Schmuck begehrst. Überzeuge sie, dass du sie willst, dann geben sie, was du dir wünschst.“ (S. 4c) Nach Sylvio müssen auch die anderen Mitspieler die Bekanntschaft mit Parzival machen, allen voran Oktay mit seinem Avatar Ither, für den die Begegnung letal endet – falls man das bei einem Avatar sagen kann. Im Gegensatz zu diesem wird Ginover (Annikas Avatar) in Übernahme der Rolle Cunnewares von Parzival, inzwischen in der Rüstung Ithers, beschützt. Schließlich wird Parzival von ARTUS zum Ritter geschlagen – d. h. „Artus schlägt Parzival. Parzival schlägt zurück“ (S. 7c) und Gawan kommentiert: „Parzival! Artus schlug dich zum Ritter.“39 In der Sprache des Spiels hat die KI Parzival nun offensichtlich den nächsten Level erreicht. Nach dem Ritterschlag Parzivals benimmt sich das Programm ARTUS allerdings merkwürdig. Zunächst folgt regelkonform der nächste Auftrag an den erfolgreichen Parzival, doch damit schaltet das Programm sich selbst offenbar in eine Art Sleep-Modus: Artus ist der Gebieter. Quest. Ehe Parzival den Gral nicht gefunden hat, wünscht Artus Parzival nicht mehr zu sehen. Der Gebieter hat gesprochen. Euer Gebieter ist müde; so müde. Seht ihr nicht, Artus ist müde. Geschwind, geschwind, Artus entschwind. (S. 7c)

Daraufhin gibt Yannick, der als Clan-Sprecher fungiert, den Befehl: „Raus! Alle! Sofort!“ (S. 7c). Parzival selbst und auch Orakel sind aber anscheinend unabhängig von ARTUS, denn sie unterhalten sich weiter, während die Avatare ‚einschlafen‘. Im Real Life versucht man nun, die Herkunft des Eindringlings herauszufinden, wobei die Spekulationen vom Virus über einen Hacker bis

38 Vgl. Wolfram (wie Anm. 33), 140,16f. 39 Die Parallele zur entsprechenden Szene bei TANKRED DORST, in der Gawein sich als Artus ausgibt bzw. den Irrtum nicht aufklärt und zum Vergnügen der übrigen Ritter der Tafelrunde Scherz mit Parzival treibt, ist deutlich. Vgl. DORST: Parzival (wie Anm. 12), S. 84ff.

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zum Next Level reichen, und geht mit zwei Handlungsalternativen – ‚kicken oder helfen‘ – wieder zurück ins Netz, wobei die Abstimmung darüber, ob man ein „Integrationsprogramm“ (S. 9a) mit Parzival durchführen oder ihn aus dem Spiel werfen soll, unentschieden bleibt, da sich Annika (Ginover) nicht entscheidet und somit ein 3:3 stehen bleibt. Die jeweiligen Versuche führen ins Leere, allerdings werden die Grenzen immer weiter aufgebrochen. Zum einen treten auf der ‚realen‘ Ebene – noch sind die Ebenen getrennt – die eigenen Befindlichkeiten, Probleme, Beziehungen etc. in den Vordergrund; zum anderen verlieren die Spieler nicht zuletzt dadurch ihre Distanz zu ihren Avataren bzw. zum Spiel. Der Streitpunkt aller ist der Umgang mit Parzival. Die Immersion, das Eintauchen, wird zum Versinken, die Trennung der Ebenen wird auch im Text aufgehoben, das Programm ARTUS richtet sich gegen Parzival und bekommt damit Ginover/Annika zur Gegnerin, es entbrennt ein Kampf zwischen den Avataren, der sich in die Realität hinein fortsetzt, wobei es keine Unterschiede mehr zwischen Spielern und ihren Avataren gibt: Annika etwa beherrscht Ginovers Kampfkunst und Lukas hat Clamides Narben. In die virtuelle Welt gelangen ahistorische Waffen wie Shotguns, die aber gegen Parzival ebenfalls nichts ausrichten können. Alle Spieler kämpfen nun gegen ihre Avatare bis auf Sylvio, der zuvor als Jeschute für Parzival gekämpft hat. Dieser wird von Parzival gefragt: „Waz wirret dir?“ (S. 15c), und mit einem Kuss ‚geheilt‘. Als schließlich alle wieder aus dem ‚Spiel‘ sind, hat Sylvio Jeschutes Ring – den offenbar Parzival ihm (zurück-) gegeben hat. Die Jugendlichen müssen an diesem Abend lernen, dass es keine Welt gibt, die durch Regeln absolut gesichert ist, bzw. dass das Kennen und Beachten von Regeln alleine nicht immer genügt. Sie kommen dabei sich selbst und einander etwas näher, lernen sich besser kennen und sind ein Stück erwachsener geworden – was nicht zuletzt durch Lukas’ Entschluss, seinen Account zu verkaufen, deutlich wird, da er wohl am intensivsten in und mit der ARTUS-Welt gelebt hat. Dass die Geschichte Parzivals eine Geschichte des Erwachsen-Werdens ist oder sein kann, ist nicht neu. Parzival bleibt in der Rezeption, wie PETER VON MATT es beschreibt, nicht als „gesalbter Priesterkönig“40 im Gedächtnis, sondern als „unsresgleichen“, als „Parzival der Ahnungslose“41, der lernen muss. Auch eine der jüngeren Parzival-Rezeptionen, Simon Werles Libretto Der Parzival von 1997, rückt dieses Thema ins Zentrum 40 PETER VON M ATT: Parzival rides again. Vom Unausrottbaren in der Literatur. In: Forum. Materialien und Beiträge zur Mittelalter-Rezeption III. Hrsg. von RÜDIGER K ROHN, Göppingen 1992, S. 81–90, hier S. 83. 41 M ATT (wie Anm. 40), S. 86.

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und stellt neben die Figur des Parzival eine weibliche Stimme, die parallel ihre Abtrennung von der Mutter vollzieht.42 Tim Staffel dreht allerdings die Perspektive um 180 Grad: Nicht mehr Parzival und sein Weg stehen im Mittelpunkt, sondern gewissermaßen die von Parzival Betroffenen. Er selbst betritt die (virtuelle) Welt gleichsam ‚mittendurch‘ (sc. durch ein Tor) und befindet sich zunächst in einer Art TURNER’schem Schwellenzustand:43 Er ist nackt und namenlos (S. 4b), ähnlich wie Wolframs Parzival bei seinem Weg aus der Einöde von Soltane, die er ebenfalls ohne Namen und zumindest ohne seine standesgemäße Kleidung und damit auch ohne das Wissen über seine Position in der Gesellschaft verlässt. Da er die Welt als Fremder betritt, kennt er deren Regeln nicht. Seine Regelverletzungen führen zu Beeinträchtigungen bis hin zum Chaos in der zuvor so geordneten Welt. Diese Funktion Parzivals als ‚Störer‘, eben als ‚Virus‘ ist bei Wolfram ebenso angelegt. Parzival ‚stört‘ Ither, Jeschute und damit auch Orilus, Clamide – die Auswahl der Personen hat Tim Staffel sicher nicht zufällig getroffen. Gawan spielt bei Wolfram wie bei Staffel die Rolle des Katalysators. Er möchte den Neuling integrieren, der das zwar in beiden Fällen zunächst durchaus annimmt und davon profitiert, letztlich aber dennoch seinen eigenen Weg geht. Parzival ist damit nicht mehr wie etwa bei Peter Handke44, Christoph Hein45 und Tankred Dorst (in den Worten PETER VON MATTs) „das Echo zur Unwissenheit unserer Jahre“46, sondern die Erschütterung des scheinbaren Wissens in einer scheinbar geregelten Welt. Die katastrophalen Schwierigkeiten im Umgang mit dem (noch) nicht assimilierten Eindringling zeigen die Anfälligkeit des Systems der Ordnung und Normierung. Der ‚Virus‘ Parzival bietet aber auch eine Chance: Der ‚Spiel-Raum‘, das virtuelle Experimentierfeld, das sich die Jugendlichen auch nach ihrer Erfahrungswelt angelegt haben, entpuppt sich durch die Situation der Anarchie, des (vorübergehenden) Umsturzes der Regeln, ebenfalls als Schwellenraum. Das trifft zumindest für diejenigen der Spieler zu, die auf dem

42 SIMON WERLE : Parabel Parzival. In: Der Parzival. Ein Opernprojekt in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Musik und Theater Rostock. Hrsg. von der Stadttheater Gießen GmbH, Spielzeit 1998/99, S. 8–26. 43 Vgl. VICTOR TURNER : Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Übers. und mit einem Nachwort von SYLVIA M. SCHOMBURG -SCHERFF, Frankfurt/M. u. a. 2005, bes. S. 94ff. Vgl. dazu auch A RNOLD VAN GENNEP : Übergangsriten (Les rites de passage). Übers. von K LAUS SCHOMBURG /SYLVIA M. SCHOMBURG -SCHERFF. Mit einem Nachwort von SYLVIA M. SCHOMBURG -SCHERFF, 3. Aufl. Frankfurt/M. u. a. 2005. 44 PETER H ANDKE : Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land, 2. Aufl. Frankfurt/M. 1990. 45 CHRISTOPH HEIN : Die Ritter der Tafelrunde. Eine Komödie, Frankfurt/M. 1989. 46 M ATT (wie Anm. 40), S. 86.

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Weg sind, sich ihren Platz in der Gesellschaft zu suchen wie Lukas, der das Spiel nutzen will, um Anerkennung in der Gruppe zu finden. Die Erfahrungen des Abends zeigen ihm, dass dieser Weg ihn nicht ans Ziel führt. Der gesellschaftliche Idealvertreter Sylvio aber, der die Enge des Systems wie eine Zwangsjacke spürt, wird am Ende von Parzival geküsst und mit den Worten: „Das war ich dir schuldig. Danke. Leb wohl...“ (S. 15c) verabschiedet. Er erfährt durch Parzival, symbolisiert im Kuss, nicht weniger als die ‚Heilung‘ durch Mitleid, das letztlich die Rückbesinnung auf und die Versöhnung mit sich selbst ermöglicht. Der Weg durch die Regellosigkeit eröffnet ihm eine neue Sicht und neue Wege. Damit erweisen sich Parzival und Sylvio – wie auch Parzival und Anfortas bei Wolfram – zugleich als Erlöser und Erlöste.

ZUGRIFFE

DER

VERMITTLUNGEN: JUGENDLITERATUR UND DIDAKTIK

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Vom Geöfneten Ritter-Platz (1702) zum postmodernen Jugendroman. Ritterdarstellungen aus vier Jahrhunderten Kinder- und Jugendliteratur Die Darstellung des Ritterlichen bildet seit dem 18. Jahrhundert einen Hauptschwerpunkt in der mittelalterbezogenen geschichtserzählenden Kinder- und Jugendliteratur.1 Anhand des Gestaltwandels dieses dort stets sehr präsenten Themas lassen sich unterschiedliche Darstellungsweisen und die mit ihnen verbundenen Perspektivierungen besonders gut exemplifizieren. Allerdings können die signifikanten Wandlungen der Darstellungsabsichten vermittels einer diachronen Studie nur exemplarisch gezeigt werden. Eine solche Analyse erlaubt es zugleich, erstmals anhand eines kinder- und jugendliterarischen Quellenkorpus eine überblicksartige Dokumentation des Umgangs mit Ritterbildern in der populären Kultur des 18. bis 21. Jahrhunderts zu erschließen. Der folgende Beitrag soll die wichtigsten Stationen dieses Gestaltwandels im Hinblick auf pädagogischdidaktische und historische Funktionen sowie auf die damit verquickten Darstellungsabsichten skizzieren.2

1

2

Diese Sparte der Kinder- und Jugendliteratur vor 1945 – die Analyse von Adaptationen mittelalterlicher epischer Stoffe ausgenommen – ist nahezu unerforscht. Zur geschichtserzählenden Kinder- und Jugendliteratur insgesamt vgl. GeschichtsBilder. Historische Jugendbücher aus vier Jahrhunderten. Hrsg. von C AROLA POHLMANN /RÜDIGER STEINLEIN, Wiesbaden 2000. Zur Rezeption des Mittelalters in einigen aktuellen Romanen für Jugendliche vgl. M ELANIE ROSSI : Das Mittelalter in Romanen für Jugendliche. Historische Jugendliteratur und Identitätsbildung, Frankfurt/M. u. a. 2010, bes. S. 185–195. Dabei steht nicht die Rezeptionsgeschichte der Adaptationen mittelalterlicher Heldenund Ritterepen im Vordergrund. Sie bildet einen eigenständigen Forschungsbereich, der an dieser Stelle ausgeklammert werden soll.

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1. Vom barocken Anstandsbuch zum philanthropischen Schaumodell: Ritterdarstellungen des 18. Jahrhunderts Ein erstes, besonders aufschlussreiches Ritterbild des 18. Jahrhunderts findet sich in dem (nach barockem Muster) enzyklopädisch angelegten Anweisungsbuch Der Geöfnete Ritter-Platz / Worinnen / Die vornehmste Ritterliche Wissenschafften / und Ubungen […] Denen Liebhabern zum Vergnügen / vornemlich der Politischen Jugend zu / Nutzen / und denen Reisenden zur Bequemlichkeit an das Licht gestellet werden. Es erschien 1702 in Hamburg bei Benjamin Schiller. Hier wird der standesgemäß ausgebildete Kavalier, der als epochaler Modetypus den gesellschaftlichen Ton angibt, auf einen literarischen ‚Ritter-Platz‘ geführt, auf dem ihm die ‚vornehmsten Ritterlichen Wissenschafften‘ gelehrt werden. Mit diesem barock-emblematisch anmutenden Schaubild wird vorausgesetzt, dass der weltgewandte, lebenserfahrene und weitgereiste Kavalier des 18. Jahrhunderts ein direkter Abkömmling des mittelalterlichen Ritters sei. Das elegante chevalereske Auftreten, die Kenntnisse und Fertigkeiten, die einen ritterlich denkenden, in allen standesgemäßen Kulturtechniken und Wissensbeständen wohlunterrichteten honette homme charakterisieren, werden in dieser Enzyklopädie entschieden in die Tradition der mittelalterlichen Hofkultur gestellt. Das Ritterliche wird hier als das Galante inszeniert. Der Verfasser führt vor dem Hintergrund des Turnierplatz-Bildes das Erziehungskonzept eines körperlich und geistig geschulten jungen Mannes aus, der als Standesperson die Karriere eines Weltmannes durchlaufen soll. Auch das Curiöse / Reit- Jagd- Fecht- Tantz- / oder / Ritter-Exercitien- / Lexicon zur Schulung des galanten Kavaliers steht in der Tradition derartiger Anweisungsbücher. Valentin Trichter (Pseudonym für C. E. S. von Tenecker) veröffentlichte es 1742 im Verlag von Johann Friedrich Gleditsch in Leipzig. Es sollte im 18. Jahrhundert zum berühmtesten Lexikon für die Erziehung junger Kavaliere avancieren. Trichter formuliert bereits im Titel seines Ritter-Exercitien- / Lexicons, dass „Alles in Alphabetischer Ordnung und dergestalt eingerichtet [sei], daß junge Herren von Adel angewiesen werden, wie sie durch eine gefällig-machende Aufführung sich in Stand setzen können, dereinst vollkommende Hof-Leute, gute Soldaten und geschickte Hauswirthe abzugeben“.3

3

Vgl. auch VOLKER M EID : Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock, München 2009, S. 886f.: „Es ging in den zahlreichen politischen oder galanten Anweisungsbüchern der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und des beginnenden 18. Jahrhunderts nicht um die

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Versteht sich diese Art von Erziehungsliteratur noch als quasi distanzlose Fortsetzung ritterlicher Traditionen, wird das Ritterliche im Verlauf des 18. Jahrhunderts zunehmend historisiert. Im Zuge eines Paradigmenwechsels bildet sich die aufgeklärte, mittelalterbezogene geschichtserzählende Kinder- und Jugendliteratur heraus. Die privilegierte Position, die Ritter in der höfischen Gesellschaft des Mittelalters einnahmen, sieht beispielsweise der aus bürgerlicher Perspektive argumentierende Jugendschriftenverfasser Johann Matthias Schröckh in seiner Allgemeinen Weltgeschichte für Kinder (1779–1784) äußerst skeptisch. In kritischer Distanz zu den feudalen Privilegien des Ritterstandes konstatiert dieser Wittenberger Kirchenhistoriker lediglich, wie sich Ritter durch ‚gewisse‘ Eigenschaften gegenüber dem Bürger hervorgetan haben. Diese Kritik des Ritterlichen, die für die Mittelalterrezeption der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts typisch ist, wird ebenso deutlich, wenn Schröckh lakonisch feststellt, dass Ritter durch ihre Exklusivität und ihren Militarismus „auch oftmals ihren Zeitgenossen beschwerlich“ fielen. Ritter werden damit als Störfaktoren der Ständehierarchie charakterisiert, die der Entwicklung des bürgerlichen Gemeinwohls hinderlich waren. Dem heroisch-mythischen Ritterbild, wie es durch die romantische Bewegung wenige Jahrzehnte später auch Einzug in die Kinder- und Jugendliteratur halten sollte und im Biedermeier seine Hochphase erlebte, steht der klare und nüchterne Blick dieses aufgeklärten Autors völlig fern. Schröckh, utilitaristisch denkend, kritisiert das prononcierte Streben der Ritter nach Gefahren, das das Glück anderer beeinträchtigte. Er tadelt das Bedürfnis, „ihren Muth zu zeigen“, als Egoismus – und damit als eine Einstellung, die einer ‚progressiven‘ Entwicklung des Gemeinwesens nicht förderlich war. Das Rittertum brachte aus dieser Sicht lediglich eine neue ständische Elite hervor. Es widersprach damit dem Prinzip bürgerlicher Chancengleichheit und dem Streben nach dem größtmöglichen Glück für die größtmögliche Menge aller Staatsbürger. Nicht zuletzt kritisiert Schröckh auch das für die Mode des 18. Jahrhunderts vorbildliche Frankreich, wenn er die Entwicklung des Rittertums in desavouierender Absicht auf französische Einflüsse zurückführt.4

4

Vermittlung eines Menschenideals, sondern um die Einübung von gesellschaftlichen Fertigkeiten.“ Vgl. Johann Matthias Schröckh: Allgemeine Weltgeschichte für Kinder. Dritter Theil, Leipzig 1781, S. 278: „Die Kriegslust des hohen und niedern Adels wurde jezt auf eine neue Art durch die Turniere unterhalten, welche von den Franzosen zu den Deutschen kamen. […] es waren Kampfspiele des Adels, die zum Vergnügen und zur Uebung des Körpers, auch zur Vorbereitung auf wirklichen Krieg, in Friedenszeiten angestellt wurden […]. Eben diese bewaffneten Wallfahrten, die Kreuzzüge, die ein neues Feld zu kriegerischen Thaten im Namen und zur Ehre der Religion selbst eröffneten, halfen […] das Muster eines vollkommenen Kriegers, oder den ritterlichen Stand, auszubilden. Nur derjenige

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Der fortschreitende Prozess einer Historisierung des Rittertums wird besonders in der philanthropischen Jugendschrift Felsenburg. Ein sittlichunterhaltendes Lesebuch (1788/89) deutlich. Diese zweibändige Adaptation von Johann Gottfried Schnabels Romantetralogie Wunderliche Fata einiger See-Fahrer (1731–1743) – seit Ludwig Tiecks Bearbeitung von 1828 bekannter unter dem Titel Insel Felsenburg – stammt aus der Feder Christian Carl Andrés, des Schwiegersohns des Philanthropen Christian Gotthilf Salzmann.5 Im Rahmen einer Hochzeitsfeier treten unter der Obhut von Fachhistorikern stehende Zöglinge vor der vollständig versammelten Einwohnerschaft der Insel Felsenburg auf. Die Gelehrten und ihre Schuljugend veranschaulichen den Zuschauern „ein Hauptstück aus der europäischen Verfassung […] – das Ritterwesen“.6 Diese pädagogische Inszenierung wird zum ganzheitlichen, didaktisch aufbereiteten Anschauungsunterricht nach philanthropischem Vorbild: „Hier sind Abbildungen und Modelle von allem, was dazu gehört. Und hier wird euch itzt unser Historiker, an welchem diese Woche die Reihe ist, die nöthigen Erklärungen und Aufschlüsse aus dem Schatze seiner Kenntnisse mittheilen.“7 Als ambitionierter Volksaufklärer kritisiert André – in ähnlicher Argumentation wie Johann Matthias Schröckh – den Adel, indem er die Hierarchien der Ständegesellschaft für historisch überlebt erklärt. Er bemerkt mit kritischem Blick auf das mittelalterliche Rittertum: Die Vornehmen „nannten sich die Aedeln oder den Adelstand, grade, als wenn nicht jeder Mensch, reich oder arm, mit oder ohne Land adel seyn sollte!“8 Demgemäß übt André volksaufklärerische Kritik an den mittelalterlichen Le-

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6 7 8

wurde mit feyerlichen Cärimonien öffentlich für einen Ritter erklärt, und in dieser Würde Fürsten gleichgeschätzt, der sich durch außerordentliche Kriegsthaten hervorgethan hatte, auch immer bereit war, die nothleidende Unschuld zu schützen, und seine Ehre und Treue über alles zu behaupten. Die Ritter erhoben sich also über die gewöhnlichen Krieger durch eine gewisse Großmuth, Hülfsbegierde und Höflichkeit; aber da sie zu sehr Gefahren und Veranlassungen ihren Muth zu zeigen suchten, fielen sie auch oftmals ihren Zeitgenossen beschwerlich.“ Zur Charakteristik von Schröckhs Buch vgl. BARBARA STOLLBERG -R ILINGER : Johann Matthias Schröckh: Allgemeine Weltgeschichte für Kinder. In: Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1750 bis 1800. Hrsg. von THEODOR BRÜGGEMANN /H ANS -HEINO EWERS, Stuttgart 1982, Sp. 1039–1046. Vgl. ausführlich SEBASTIAN SCHMIDELER : Die Insel Felsenburg als philanthropische Mädchenschule – Die Jugendbearbeitungen der ‚Wunderlichen Fata‘ von Christian Carl André (1763–1831). In: Schnabeliana 9 (2006–2008), S. 91–181, sowie ders.: „Daß er sich bey reiferm Nachdenken eines Bessern besinnen werde“ – Zur Rezeptionsgeschichte von Christian Carl Andrés Felsenburg (1788/89). In: Schnabeliana 9 (2006–2008), S. 191–201. Christian Carl André: Felsenburg. Ein sittlichunterhaltendes Lesebuch, Dritter Theil, Gotha 1789, S. 25. André (wie Anm. 6), S. 26f. André (wie Anm. 6), S. 30.

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hensverhältnissen und beklagt die Unfreiheit nichtadliger Lebensformen.9 Unverkennbar werden in diesen Passagen – der Jugendschrift von 1789! – die Egalitätsbestrebungen der Französischen Revolution zur Sprache gebracht. Der Fachhistoriker, der in Andrés Sittlichunterhaltendem Lesebuch diese brisanten Betrachtungen anstellt, erläutert daraufhin umständlich die Haupteigenschaften eines Ritters sowie alle Stationen des cursus honorum, die ein junger Mann durchlaufen musste, bevor er in diesen Stand aufgenommen wurde. Auch die Waffen und die Eigenarten des Ritterkampfes werden erläutert. Entscheidend ist jedoch, dass es auf Felsenburg nicht bei dieser theoretischen Exploration bleibt. André benötigt ein philanthropisches Komplement: die praktische Anschauung und sichtbare Anwendung, die der Geistesarbeit die körperliche Ertüchtigung an die Seite stellt. Hier zog eine Anzahl Jünglinge, zu Pferde in Rittertracht vorbey. Der Vater und Historiker hatte es mit denselben verabredet, dieses zugleich unterhaltende, ihre eignen Körperkräfte übende, und alle Zuschauer noch belehrende Schauspiel zu geben. Sie […] waren nun im Stande, von allem, was der Historiker eben gesagt hatte, der Volksversammlung, zu Aller Freude und Beyfall, eine anschauliche Idee zu geben.10

Mit dieser Szene hat es allerdings noch nicht sein Bewenden. Die Fortsetzung der theoretischen Belehrung erstreckt sich auf Waffen und Wappen; insbesondere werden die Formen des Turniers beschrieben.11 Anschließend erst folgt der Höhepunkt des Ganzen: der szenische Nachvollzug des mittelalterlichen Rittertums. Dies ist, endigte der Historiker, was ich aus den vorhandenen Nachrichten zu unserer Belehrung über das Europäische Ritterwesen ausgezogen habe und was uns nun künftig tausend Dinge in den europäischen Geschichten verständlicher machen wird. Wollt ihr euch aber noch lebendiger alles darstellen, so folget mir! Hiermit führte er die Versammlung auf jenen Uebungsplatz der jungen Ritter, wo auf einmal ein nie gesehenes Schauspiel in der Vorstellung der Zuhörer das vollends aufhellte, was in der Beschreibung des Historikers noch etwa dunkel geblieben war. Völlig treu dieser Beschreibung sahe man hier alles zu einem Turniere veranstaltet und ausgeschmückt – Schranken, Emporbühnen, Zelte, aufgehangene Wappen, die Ritter selbst, welche nach und nach alle die Uebungen vornahmen, deren der Historiker erwähnt hatte. Sie führten sehr artig ein kleines Turnier auf, und den neu Vermählten ward die Ehre, den Dank auszutheilen.12

9 10 11 12

André André André André

(wie (wie (wie (wie

Anm. 6), Anm. 6), Anm. 6), Anm. 6),

S. 31. S. 33. S. 33–45. S. 45f.

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In Andrés Felsenburg ist die Darstellung des ritterlichen Schauplatzes mit einem ganzheitlichen philanthropischen Erziehungsprogramm verbunden, das nach dem Prinzip der Äquilibration der Körper- und Geisteskräfte organisiert war. Zu dieser Form philanthropischen Anschauungsunterrichts gehört einerseits die fachkundige Belehrung über das Rittertum, andererseits die praktische Anwendung der ritterlichen Verhaltensweisen in einem nachgespielten Turnier. Zugleich wird hier eine Wiederbelebung des Ertüchtigungsaspekts verfolgt, der der ritterlichen Kampfübungs- und Bewährungsform des Turniers inhärent war. Die Szene dokumentiert das neue Körperbewusstsein der Philanthropen: André war schließlich auch der erste Turnlehrer an Salzmanns Schnepfenthaler Philanthropinum.13

2. Von der belehrend-unterhaltenden Geschichtserzählung zum kulturhistorischen Roman: Ritterdarstellungen im 19. Jahrhundert Ging es in Christian Carl Andrés philanthropisch pädagogisierter Ritterdarstellung um eine wissenschaftspropädeutische Veranschaulichung des Turnierwesens im Kontext eines kritischen Rationalismus, gewann im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert ein märchenhaft-mythisches Bild des Rittertums zunehmend an Bedeutung. Der entscheidende Umschwung findet in der Kinder- und Jugendliteratur jedoch erst zu Beginn der Biedermeierzeit statt – verglichen mit der Entwicklung der allgemeinen Literaturgeschichte also verspätet.14 Die für die Romantik typischen Prosagattungen des Märchens und der Sage sind mit mittelalterlichen Stoffen und Themen zwar mannigfach durchsetzt.15 Der für das gattungsspezifische Ritterbild entscheidende Epochenumbruch findet indes außerhalb derselben statt. Ein interessantes Übergangsphänomen bildet das Werk des viel gelesenen Jugendschriftenverfassers Christoph von Schmid.16 Hier mischen 13 14 15 16

Vgl. SCHMIDELER : Die Insel Felsenburg (wie Anm. 5), S. 99. Hierzu grundlegend Kinder- und Jugendliteratur vom Biedermeier bis zum Realismus. Eine Textsammlung. Hrsg. von K LAUS-ULRICH PECH, Stuttgart 1985. Hierzu grundlegend Kinder- und Jugendliteratur der Romantik. Eine Textsammlung. Hrsg. von H ANS -HEINO EWERS, Stuttgart 1984. Die herausragende Bedeutung Christoph von Schmids für die biedermeierliche Kinderund Jugendliteratur lässt sich allein schon an der Tatsache ermessen, dass er der einzige zeitgenössische Jugendschriftenverfasser ist, dem eine Gesamtausgabe seiner Werke in einer Fassung letzter Hand zuteil wurde. Vgl. hierzu K LAUS -DIETER FÜLLER : Erfolgreiche Kinderbuchautoren des Biedermeier. Christoph von Schmid, Leopold Chimani, Gustav Nieritz, Christian Gottlob Barth. Von der Erbauung zur Unterhaltung, Frankfurt/M. u. a. 2006.

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sich romantisch-märchenhafte Motive mit einer spannend-unterhaltenden Darstellungsform. Als Augsburger Domkapitular versteht Christoph von Schmid seine Jugendschriften hauptsächlich als Teil der christlichen Erbauungsliteratur. Er rückt die Erziehung zu frommer Denkungsart in den Fokus. Die edelmütigen Ritter, mildtätigen Klosterfrauen und herzensreinen Burgfräulein erscheinen wie idealisierte biedermeierliche Zeitgenossen, die in ein mittelalterliches Kostüm gekleidet worden sind. Nicht zuletzt mit seiner im Hochmittelalter situierten Erzählung Rosa von Tannenburg begründete Schmid seinen Ruhm als Kinder- und Jugendbuchautor, was ihm 1837 die Erhebung in den Adelsstand durch den bayerischen König Ludwig I. einbrachte.17 Rosa von Tannenburg avancierte zu einem Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur. Noch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein wurde sie immer wieder aufgelegt. Schmid schildert darin eine weibliche Erziehung biedermeierlicher Prägung im mittelalterlichen Gewand. In der Darstellung des Ritters Edelbert (!) und seiner Gemahlin Mathilde konvergieren biedermeierliches Eheideal und romantisiertes Mittelalter. Edelbert ist im öffentlichen Leben ein tapferer und kampferprobter Krieger sowie ein gütiger Herr seiner Untertanen. Als Hausvater repräsentiert er das Muster eines gefühlvollen Innenlebens. Humanität und Frömmigkeit, Güte und Freundschaftsfähigkeit sind die bevorzugten Tugenden, die Schmid ihm zuordnet. So wird er als „ein biederer deutscher Mann“ charakterisiert. Für diese ‚privaten‘ Tugenden erntet Edelbert öffentlichen Ruhm: Sie bringen ihm die Freundschaft des Herzogs von Schwaben und sogar die Gunst des Kaisers ein. Mathilde zeichnet sich als Gattin, Mutter und Hausfrau durch Verstand, Frömmigkeit, Tugendhaftigkeit und Wohltätigkeit aus. Das Eingangstableau der Erzählung gibt einen Begriff von den Umständen: Auf diesem Schlosse [Tannenburg] lebte ehemals Ritter Edelbert mit seiner Gemahlin Mathilde in der seligsten Eintracht. Edelbert war ein sehr tapferer Ritter. So rauh aber sein Beruf war, Schwert und Lanze zu führen, so sanft und mild war sein Sinn. Unter dem eisernen Panzer schlug sein Herz voll Menschlichkeit. Er war ein überaus gottseliger Herr, ein biederer deutscher Mann, ein gütiger Beherrscher seiner Unterthanen. Der Herzog von Schwaben ehrte ihn als seinen Freund, und selbst der Kaiser hatte ihn vor allen übrigen Rittern sehr rühmlich ausgezeichnet. Mathilde, Edelberts Gemahlin, galt wegen ihres Verstandes, ihrer Frömmigkeit, ihrer Tugend, ihrer Wohlthätigkeit gegen die Armen für die vortrefflichste Frau weit umher; überdies war sie von ganz ausnehmender Schönheit.18

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Zu Rosa von Tannenburg vgl. Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1800 bis 1850. Hrsg. von OTTO BRUNKEN /BETTINA HURRELMANN /K LAUS -ULRICH PECH, Stuttgart u. a. 1998, Sp. 1820f. Zitiert nach Christoph von Schmid: Rosa von Tannenburg. In: Gesammelte Schriften des

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Parallel und komplementär zu den Jugendschriften Christoph von Schmids entwickelt sich das vom österreichischen Katholizismus geprägte Ritterbild im Œuvre von Leopold Chimani.19 Mit seinem Monumentalwerk Geschichte der Kreuzzüge und des Königreiches Jerusalem von dessen Entstehung bis zum Untergange. Für die Jugend und ihre Freunde lehrreich erzählt, das 1835 („Mit der Karte des Königreiches und der angränzenden Länder“) im Wiener Verlag von Anton Pichler erschienen war, lag die erste Gesamtdarstellung der Kreuzzüge für junge Leser vor. Zweifellos war diese zweibändige Monografie von der sechsbändigen Geschichte der Hohenstaufen und ihrer Zeit (1821–1825) des preußischen Historikers Friedrich von Raumer inspiriert, die das öffentliche Interesse am Mittelalter in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts auf ein neues, bis dahin ungekanntes Niveau hob. Junge Leser waren hier bereits mit adressiert.20 Chimani selbst verweist zudem auf Karl Wilhelm Ferdinand von Funcks vierbändige Gemälde aus dem Zeitalter der Kreuzzüge (1821–1824) als einer Hauptquelle seiner Jugendschrift. Die neue Form – unterhaltend erzählte Geschichte auf der Grundlage historistischer Faktendarstellung – und der wieder entdeckte Inhalt – das Ritterliche als beherzigenswertes Vorbild der Knabenerziehung mit dem Ziel der männlichen Ertüchtigung und der Vermittlung christlicher Religiosität – kommen bei Chimani eindrucksvoll zum Tragen. Besonders der Bewährungsaspekt hat es Chimani angetan. Durch fesselnde Schilderung soll den jungen Lesern das „Herz für das Heilige, Große und Schöne erwärmt“ werden. Dezidiert wendet sich diese Konzeption gegen die als überholt empfundene philanthropische Methode der Geschichtsdarstellung.21

Verfassers der Ostereier, Christoph von Schmid. Originalausgabe von letzter Hand, Augsburg 1842, Bd. 7, S. 6. 19 Zur Bedeutung Leopold Chimanis vgl. ORTWIN BEISBART: Heitere Ansichten der Kindheit. Leopold Chimani. Ein vergessener österreichischer Leseerzieher. In: Geschichte der österreichischen Kinder- und Jugendliteratur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hrsg. von H ANS -HEINO EWERS /ERNST SEIBERT, Wien 1997, S. 32–37. 20 Zur Bedeutung von Friedrich von Raumers Geschichte der Hohenstaufen und ihrer Zeit vgl. unter anderem WALTER MIGGE : Die Staufer in der deutschen Literatur seit dem 18. Jahrhundert. In: Die Zeit der Staufer. Hrsg. von R EINER H AUSSHERR , Stuttgart 1977, Bd. 3, S. 275–286, hier S. 275. 21 Vgl. Leopold Chimani: Geschichte der Kreuzzüge und des Königreiches Jerusalem von dessen Entstehung bis zum Untergange, Wien 1835, S. II: „In der Überzeugung, daß es schon lange an der Zeit sey, von der philanthropischen Methode der vergangenen Jahrzehente, welche aus Mißverstand so viele faselnde, die Phantasie und das Gefühl irre leitende Jugendschriften erzeugt hat, abzulenken, und der Jugend auch in ihren Erholungsstunden kräftigere, auf den festen Zweck der Moralität und des Gründlichwissens hinzielende Geistesnahrung zu geben, habe ich schon längst den Plan entworfen, die Geschichte der Kreuzzüge für die Jugend so zu bearbeiten, daß derselben die Begebenheiten aus dieser

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War Chimanis süddeutsch-österreichischem Ritterbild ein katholischreligiöser Patriotismus inhärent, gab es im Gegensatz dazu ein norddeutsch-preußisches Ritterbild, das zu militaristischen Zügen neigte. So dokumentieren die biedermeierlichen Ritterbilder nicht zuletzt auch den sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zuspitzenden österreichischpreußischen Dualismus. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür bietet Friedrich Philipp Wilmsens Der Mensch im Kriege oder Heldenmuth und Geistesgröße in Kriegsgeschichten aus alter und neuer Zeit. Ein historisches Bilderbuch für die Jugend. Es erschien 1819 in der dritten, verbesserten und vermehrten Auflage bei Carl Friedrich Amelang in Berlin. Diese Jugendschrift stellt den Krieg als Heldentat dar, appelliert (ein relativ früher Beleg für völkische Argumentationsmuster) an das nationale Gemeinschaftsgefühl und konzentriert sich in militärerzieherischer Absicht auf die spannend erzählte Wiedergabe von Schlachtordnungen und Kriegshandlungen. Sie propagiert die Einordnung des Einzelnen in ein militärisches Ganzes als siegversprechend für die Freiheit der Nation. Charakteristisch ist der Gedanke des Opfertodes. Er wird von Wilmsen durch die Mythisierung von Vorbildern, zumeist kampfesmutigen Herrschern, vermittelt. Als Held kann nur derjenige gelten, der bereit ist, sich für das Vaterland zu opfern. In einem seiner Schlachtenpanoramen, Die Schlacht bei Creci, zeigt Wilmsen die aus der Masse herausragenden Ritter als Vorläufer der borussischen Soldaten der Freiheitskriege. Nach dem Muster von Plutarchs Doppelviten werden hier gleichsam historische Parallelbilder aufgestellt. Der englische Sieg über Frankreich in der Schlacht von Crécy (1349) wird dementsprechend zum ideologisch getönten Vorbild für das preußisch-deutsche Heer. Das Schlachtenbild offenbart somit neben dem übersteigerten militaristischen Nationalgefühl auch die Frankophobie Wilmsens. Besonders der junge Held Edward (Eduard), der fünfzehnjährige Prinz von Wales, Sohn König Eduards III. von England, wird als pädagogische Identifikationsfigur in das Zentrum des Geschehens gerückt. Noch deutlicher steht jedoch das genrehafte Ausmalen der Schlachtenszenerie im Vordergrund, aus der das englische Heer durch die militärstrategische Überlegenheit der jugendlichen Führerfigur, des ‚Schwarzen Prinzen‘ Edward von Wales, gestärkt hervorgeht. Eine borussophile Perspektive auf das Rittertum nimmt auch Gottfried Peter Rauschnick (unter dem Pseudonym Philipp Rosenwall) ein. Sein Jugendbuch Historische Bilderhalle oder Darstellungen aus der älteren

merkwürdigen Periode nicht nur klar und deutlich werden, und ihr Herz für das Heilige, Große und Schöne erwärmt werde, sondern daß sie auch in dem Werke Unterhaltung und Erheiterung fände.“

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Geschichte Preussens, zur Belehrung und Unterhaltung für die reifere Jugend erscheint 1831 in zwei Bändchen im Meißener Kinder- und Jugendbuchverlag von Friedrich Wilhelm Goedsche. In den fünfunddreißig Episoden, die Rauschnicks Bilderhalle zu einem literarischen Geschichtsmuseum machen, findet sich auch ein Kapitel Von dem Ursprunge und der Verfassung des deutschen Ritterordens. Der Orden wird als genuiner Bestandteil der preußischen Kulturgeschichte geschildert. Christentum und deutsche Bildung seien durch ihn im Herzogtum Preußen eingeführt worden. Durch diese Argumentation erhalten die Deutschherren eine wichtige Funktion im Hinblick auf den Zivilisationsprozess und die Herausbildung der Kulturnation zugesprochen. Diese borussische Sicht legitimiert die Vormachtstellung Preußens in der deutschen Geschichte und will sie anhand des Ritterordens dokumentieren, der hierbei zu einem Vorbild der nationalen Einigung avanciert.22 Durch diese Glorifizierung wird ein Subgenre begründet, das von der Kaiserzeit bis hin zum Nationalsozialismus und zum Teil noch darüber hinaus Bedeutung hatte: die Deutschordensrittererzählung. Insgesamt also entwickelten sich Ritterdarstellungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem überaus beliebten Thema der Kinder- und Jugendliteratur. In einem ausführlichen Kapitel von Christian Ferdinand Schulzes Historischem Bildersaal oder Denkwürdigkeiten aus der neuern Geschichte – einem monumentalen zehnbändigen Geschichtswerk, das sich speziell an Jugendliche des gehobenen Bildungs- und Wirtschaftsbürgertums richtete – zeigt sich, dass Ritterdarstellungen aus dem Kanon historischen Wissens für die Jugend nicht mehr wegzudenken waren. Das

22 Die Einigung des Vaterlandes soll entsprechend dem militaristischen Patriotismus, den Preußen zum Credo erhoben hatte, mit kriegerischen Mitteln erfolgen. Vgl. Gottfried Peter Rauschnick: Historische Bilderhalle oder Darstellungen aus der älteren Geschichte Preussens, zur Belehrung und Unterhaltung für die reifere Jugend, Meißen 1831, S. 64: „Der deutsche Ritterorden hat nach einem langen blutigen Kampfe ganz Preußen erobert, das Christenthum und deutsche Bildung darin eingeführt und das Land Jahrhunderte lang als Eigenthum besessen; daher muß Jeder, der die Geschichte von Preußen recht verstehen will, den Ursprung und die innere Einrichtung dieses berühmten Ordens kennen, und es dürfte hier der gelegene Ort seyn, das Nöthige davon zu sagen.“ Außerdem schildert Rauschnick Lebensbilder von „Konrad, Landgraf von Thüringen, Hochmeister des deutschen Ordens in Preußen“ sowie von „Winrich v. Kniprode, Hochmeister des deutsch. Ordens“. In diesem Kontext gehört auch das kulturgeschichtliche Gemälde „Das Schloß und der Hofhalt zu Marienburg“. Besonders vorausweisend ist jedoch das Kapitel „Die Schlacht bei Tannenberg“, in dem jener Mythos präfiguriert wird, an den im 20. Jahrhundert wiederangeknüpft werden konnte. Vgl. hierzu grundlegend FRITHJOF BENJAMIN SCHENK : Tannenberg/Grunwald. In: Deutsche Erinnerungsorte. Hrsg. von ETIENNE FRANÇOIS /H AGEN SCHULZE , München 2001, Bd. 1, S. 438–454.

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„Ritterthum“ wird hier zur „glänzendsten Erscheinung des Mittelalters“ erklärt (Abb. 1).23 Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts entwickeln sich kultur- und sittengeschichtliche Schilderungen zunehmend zu größeren epischen Einheiten. Beispiel hierfür ist Friedrich von Falkensteins Das Ritterbuch aus dem Jahr 1863, das sowohl unterhaltend als auch belehrend ein Panorama des Rittertums entwirft. Das darin vermittelte Ritterbild folgt einem organologischen Geschichtsmodell. Den Lebensstufen von Jugend, Blüte und Alter folgend, wird die Geschichte des Rittertums in Wachstum, Höhepunkt und Verfall eingeteilt. Auf die Wachstumsmetaphorik, die um das Wort „groß“ kreist,24 folgt die Verfallsmetaphorik (wie in dem Kapitel Das Raubrittertum oder die Ausartung des einst so edlen Standes der Ritterbürtigen). Das Ende wird gar mit der tragödienhaften Kapitelüberschrift Der Aufruhr der Bauern und die Zugrabetragung des Rittertums bezeichnet. So vermittelt Falkenstein eine Gesamtschau des Ritterwesens. Das Mittelalter wird zu einer Projektionsfläche von Sehnsüchten, in die sich Interessantes, Spannendes, Sentimentales, Tragisches und Wissenswertes mischen. Diese auf Belehrung und Unterhaltung bedachte Darstellungsabsicht zeigt sich auch in der Verknüpfung von ritterlicher Personen-, Ereignis- und Sittengeschichte, die prinzipiell auf die sacherzählenden Darstellungen des 20. Jahrhunderts vorausweist. Vorerst jedoch gewann zunehmend die vaterländische Geschichtserzählung an Bedeutung, in der Ritter wiederum eine entscheidende Rolle spielten. Vielfach aufgelegt wurden die Rittergeschichten des patriotischen Jugendschriftstellers Richard Roth, der Beiträge zu einer ‚reichstreuen‘ Erziehung lieferte.25 Für diese Erziehungskonzeption und ihren Militarismus einflussreich ist speziell sein Roman Kaiser, König und Papst (1875). Dieser Text stellt zugleich einen Höhepunkt der Barbarossa-Verehrung nach der Reichseinigung von 1871 dar und diente einer nationalen Verklärung der Leistungen des Rittertums. Roth hat durch seine Veröffentlichungen im nationalliberal orientierten Leipziger Verlag von Otto Spamer gewichtige Beiträge zur geschichtserzählenden Kinder- und Jugendliteratur geliefert,

23 Vgl. Christian Ferdinand Schulze: Historischer Bildersaal oder Denkwürdigkeiten aus der neuern Geschichte. Ein Lehr- und Lesebuch für gebildete Stände. Vierten Bandes erster Theil, Gotha 1819, S. 491. 24 Vgl. die Kapitel „Kaiser Karl der Große und seine Paladine“; „Die drei großen Ritterorden“; „Die großen Turniere und Ritterspiele“; „Das Vehmgericht oder die heimliche Acht und der große Orden der Wissenden“. 25 Zur Biografie Richard Roths vgl. Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1850 bis 1900. Hrsg. von OTTO BRUNKEN /BETTINA HURRELMANN /M ARIA MICHELS -KOHLHAGE , Stuttgart u. a. 2008, Sp. 1419.

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die durch ihre hohe Auflagenzahl und ihre vielfachen Wiederauflagen bis zum Ende des Kaiserreiches von enormem Einfluss waren.26 Die romanhafte Geschichtserzählung Heinz Treuaug, Wie er ein Ritter ward, Und wie er den Freimut geschwungen hat, der reiferen Jugend geschildert von Anna Helms-Blasche, ein „allbeliebtes Ritterbuch“ aus dem Jahr 1880, stellt demgegenüber in mehrfacher Hinsicht eine Ausnahme dar. Helms erzählt vom Ritterkind Heinz, dessen Vater von den Ungarn erschlagen wurde. Mit Anklängen an Parzival und unter Bezug auf den Bildungsroman durchläuft der Junge das Bildungsprogramm zum vollendeten Ritter. Wie zahlreiche Jugendbücher der Kaiserzeit als Geschenk zu Weihnachten und Geburtstag bestimmt, zeigt es in der Kernerzählung – ungewöhnlich für die franzosenfeindliche Stimmung in der Kaiserzeit – Anklänge an Joséphine-Blanche Colombs Franchise, Aimery Au Clair Visage. Gleichwohl gestaltet Helms ihre Rittererzählung unter einem nationalen Blickwinkel. Neu in Heinz Treuaug ist, dass eine für die ausgehende Bismarck-Ära typische ‚Schilderung der Sitten und Gebräuche‘ und damit die kulturhistorische Dimension in den Vordergrund rückt. Dies wirkt sich entscheidend auf die Gestaltungsform aus. Es ist die Zeit der kulturhistorischen Sittenbilder, in denen nicht nur die sacherzählenden, sondern auch die episch erzählenden Geschichtsszenen die Aufgabe erfüllen sollen, Auskunft über den Nationalcharakter zu geben. Die strenge Trennung zwischen belehrenden und erzählenden Passagen, wie sie zuvor noch vorherrschte, wird aufgehoben; es kommt zu einer Ebenenverschmelzung. Die kulturhistorische Gestaltungsweise verfolgt den doppelten Zweck, sowohl moralisch für die Charakterbildung der jungen Leser durch Vorbilder aus dem deutschen Nationalcharakter zu sorgen, als auch die Spannungs- und Unterhaltungselemente zu vermehren. In dieser neuartigen Konzeption werden vorzugsweise fiktive Kinder- und Jugendhelden eingesetzt, die auf historisch verbürgte Gestalten der mittelalterlichen Geschichte treffen. Hier ist es der Minnesänger Ulrich von Liechtenstein, auf den sich Helms konzentriert. Nach der Jahrhundertwende wird der militaristische, auf die „literarische Mobilmachung“27 dringende Ton der Ritterdarstellungen nochmals schärfer. Man schwört die Jugend auf den kommenden Krieg, auf militärische Autoritäten und die Treue zu Kaiser und Vaterland ein. Besonders die Reihe der Mainzer Volks- und Jugendbücher, die von Wilhelm Kotzde herausgegeben wurde und im Verlag von Joseph Scholz erschien, ist hierfür

26 Von Kaiser, König und Papst wird noch 1903 eine fünfte Auflage verlegt. 27 Vgl. M ARIELUISE CHRISTADLER : Kriegserziehung im Jugendbuch. Literarische Mobilmachung in Deutschland und Frankreich vor 1914, Frankfurt/M. 1979.

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charakteristisch. Dies ließe sich exemplarisch anhand von Eberhard Königs Kreuzzugsroman für junge Leser Ums heilige Grab zeigen.28 Aufschlussreicher ist es aber, sich den ferneren Konsequenzen zuzuwenden.

3. Ritterdarstellungen in der nationalsozialistischen Kinder- und Jugendliteratur Wirken zur Zeit der Weimarer Republik im wesentlichen die Traditionen des Kaiserreichs nach, gewinnen in der mittelalterrezipierenden Kinderund Jugendliteratur des Nationalsozialismus solche Geschichtsdarstellungen an Bedeutung, die sich mit dem Deutschen Ritterorden auseinandersetzen. Auch sie knüpfen an Entwicklungen des Wilhelminismus an. Die Gründe für diese Stoffwahl liegen aber zweifellos in der Ideologie der nationalsozialistischen ‚Bewegung‘ selbst. Hier sollte anhand von ‚Beweisen‘ aus der Geschichte (vor allem der ‚Schlacht bei Tannenberg‘) ein zentrales Element der eigenen Weltanschauung, nämlich die Gewinnung von ‚Lebensraum im Osten‘, historisch verankert werden.29 Führerfiguren und Ostkolonisatoren wie Heinrich von Plauen30 und Heinrich der Löwe31 (Abb. 2)

28 Vgl. beispielsweise die folgende Szene aus Eberhard König: Ums heilige Grab, Mainz 1909, S. 187f.: „Ein Sturm schmetternder Tuben, es waren die der Deutschen, gleichzeitig vernahm man jetzt ganz deutlich das brausende Schlachtgeschrei ‚Rom‘ […]. Äxte blitzten in dem Durcheinander, die langen Ritterschilde wurden sichtbar über der Mauer, Fahnen wuchsen aus dem Chaos heraus, Friedrichs Fahne voraus, zersprengt flog da das Tor auf, und herein flutete es, herein wie die See, wenn ein Damm gebrochen; herein brach der Zorn, die Wut, der Mord, und schonte nicht Weib noch Kind. Durch die ganze Stadt jagte, strömte, drängte der Moslim wilde, jammernde Flucht. Tor um Tor flog auf, Tod und Verderben in die Stadt ergießend; mit den Streitern des Kaisersohnes mischten sich jauchzend die Sieger von draußen – ein Ozean von Haß und Zorn schlug über die Stadt zusammen. Posaunen suchten das Gebrüll zu durchschneiden, Einhalt dem Morden zu gebieten – da begegneten einander vor der Burg unter dem Jubel der Christenkrieger zwei edle Reiter, sprangen aus den Sätteln und umarmten sich: es waren der greise Kaiser und sein tapferer Sohn. Da schrie es ihnen zu Häupten auf dem Turm laut auf: ‚Friedrich! Mein Kaiser!‘“ 29 Vgl. z. B. Herbert Erich Buhl: Hans Sagan siegt. Wie der Schustergeselle Hans Sagan den Deutschen Orden und das Land Preußen rettete, sich und dem ehrsamen Handwerk zu Ruhm und Ehr. Erzählung, Berlin 1942. 30 Vgl. z. B. August Broese: Ein Held der Ostmark. Eine geschichtliche Erzählung aus der Zeit des Deutschen Ritterordens, Berlin 1934. 31 Vgl. insbesondere Werner Chomton: Heinrich der Löwe, Stuttgart 1943. Zur nationalistischen Rezeption gerade Heinrichs des Löwen vgl. im Überblick den einschlägigen Artikel in: Gestalten des Mittelalters. Ein Lexikon historischer und literarischer Personen in Dichtung, Musik und Kunst. Hrsg. von HORST BRUNNER /M ATHIAS HERWEG, Stuttgart 2007, S. 170–172.

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wurden als Helden von Rittererzählungen in den Dienst der Ideologie genommen.32 Charakteristisch sind überdies die Erzählungen, in denen der Kampf der christianisierten Einwohner für die Sache der ordensritterlichen ‚Bewegung‘ geschildert wird. Ein Beispiel hierfür ist Max Worgitzkis Erzählung Wolf der Struter aus dem Jahr 1934. Der heidnische Wolf lässt sich zum Christentum bekehren. Durch seine Zugehörigkeit zum Orden erhält er eine besondere Ausbildung: Er wird zum ‚Struter‘ (Kundschafter) der jungen Elite des Ritterordens – eine auffällige Parallele zur kämpfenden ‚Elite‘ in SA und SS. Wolf wird als hellwacher, hochkonzentrierter und jederzeit angriffsbereiter Kämpfer beschrieben, in dessen von der ‚Bewegung‘ geschultem Charakter sich Sentimentalität und Brutalität mischen. In seinem Verhalten wird der systematisch perfektionierte Abbau der Gewalthemmung deutlich. Er gibt sich ungebremst dem Tötungstrieb hin, wenn er im ‚völkischen Kampf‘ um ‚Lebensraum im Osten‘ dazu herausgefordert wird. Worgitzki assoziiert: Der Wolf ist ein Herdentier, das die Hierarchie im Rudel akzeptiert und in Gemeinschaft jagt – ebenso auch der ‚Struter‘, der über Kameradschaftsgeist, Treue und absoluten Gehorsam verfügt, im Kampf aber wie ein Tier bis zum Äußersten geht: Und doch schaute aus seinen blauen Augen die Güte eines Herzens heraus, das ihn zum hilfsbereitesten Menschen und treuesten Gefährten machte. Im Kampf aber schien er in ein reißendes Tier verwandelt. Haß und Mordgier verzerrten sein Gesicht und tobten durch seine bebenden Glieder. Jeder Streich seiner Waffe brachte den Tod und zerbrach sie ihm, so stürzte er sich mit den bloßen Händen auf den Feind, würgte ihn und brach ihm das Genick.33

Die Konversion zum Christentum sowie das Initiationserlebnis des Ordenseintritts beschreibt Worgitzki unverhüllt in NS-Terminologie. Wolf bekennt sich in Treue zu seinem ‚Gelöbnis‘; er wird seinen ‚Volksgenossen‘, die er für die ‚Bewegung‘ gewinnen will, zum Vorbild. Auffälliger lassen sich die beabsichtigten Parallelen nicht ziehen. So werden die ‚Struter‘ wie SS-Männer zu besonders kampferprobten Soldaten stilisiert; nicht zuletzt weil es ihnen gelingt, die ‚Gefolgschaft‘ für die ‚Bewegung‘ zu stützen und zu stärken: In unbeirrbarer Treue hatte er fortan in Kampf und Fährnis zu seinem Gelöbnis gestanden und viele seiner Volksgenossen durch Wort und Vorbild der neuen

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Zum nationalsozialistischen Jugendschrifttum vgl. grundlegend ULRICH NASSEN : Jugend, Buch und Konjunktur. 1933– 1945. Studien zum Ideologiepotential des genuin nationalsozialistischen und des konjunkturellen Jugendschrifttums, München 1987. Max Worgitzki: Wolf der Struter. Erzählung aus der Zeit der Eroberungskämpfe des Deutschritterordens in Ostpreußen, Berlin 1934, S. 43.

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Lehre gewonnen. […] So mehrte sich seine Gefolgschaft von Jahr zu Jahr. Mit ihr mehrte sich aber auch der Haß in den Herzen seiner heidnisch gebliebenen Volksgenossen.34

Für die Ritterdarstellungen in der mittelalterrezipierenden Kinder- und Jugendliteratur des Nationalsozialismus waren außerdem einige Perspektivenwechsel und Neubewertungen charakteristisch. Wurden die Raubritter traditionell als Kontrastfiguren und Antihelden behandelt, avancierten sie nun mitunter zu vorbildlichen Protagonisten. In Fritz Helkes Geschichtserzählung Fehde um Brandenburg. Geschichte eines Rebellen aus dem Jahr 1936 beispielsweise wird der Raubritter Dietrich von Quitzow zu einem Helden erhoben, der bis zum Äußersten zu kämpfen bereit war. Er sei „der Stärkste und Gefürchtetste unter den Rittern seiner Zeit“ gewesen.35 Der Raubritter repräsentiert wegen seiner Angriffslust und seines stählernen ‚Charakters‘ den Typus des nationalsozialistischen Kämpfers, der ähnlich wie Wolf der Struter jederzeit bereit ist, Leib und Leben für die ‚Bewegung‘ zu geben. Er stellt das rassenbiologisch begründete Recht des Stärkeren über das gewachsene mittelalterliche Rechtsverständnis. Ebenso charakteristisch ist die mögliche Umbewertung des historischen Exempels. Die Erzählung aus der Zeit der Eroberung Preußens durch den deutschen Ritterorden von Hansgeorg Buchholtz, die 1938 unter dem Haupttitel Nomas Opfer im Verlag von Hermann Schaffstein in Köln erschien, steht für diesen Fall ein. Buchholtz nimmt nämlich die Perspektive der heidnischen Preußen ein. Diese erscheinen als das tapfere, edle Volk, das den Nationalsozialisten zum Vorbild werden soll. Ihre ‚völkische‘ Leistung – so das Hauptargument von Buchholtz – liege darin, sich gemäß dem Gesetz der Treue zu ‚Blut und Boden‘ verhalten zu haben. Das überwiege die christliche Missionsleistung des Ritterordens. Nicht die Deutschordensritter, sondern das seines ‚rassischen Wertes‘ und seines angestammten ‚Bodens‘ bewusste Volk der Preußen habe sich im hartnäckigen kriegerischen Widerstand bewährt.36

34 Worgitzki (wie Anm. 33), S. 45. 35 Vgl. Fritz Helke: Fehde um Brandenburg. Geschichte eines Rebellen, Stuttgart 1943, S. 9: „Der Stärkste und Gefürchtetste unter den Rittern seiner Zeit, hat Dietrich von Quitzow sich stets als Brandenburger gefühlt. Durch Mut, Kühnheit und Charakter hebt er sich aus der Masse seiner Standesgenossen heraus […]. Der Kampf, den er führte, war ihm immer eine Kampf um das Recht, Recht freilich nicht als Sammlung von Paragraphen, sondern als natürliche Ordnung der Dinge gewertet.“ 36 Vgl. Hansgeorg Buchholtz: Nomas Opfer. Eine Erzählung aus der Zeit der Eroberung Preußens durch den deutschen Ritterorden, Köln 1938, S. 93.

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4. Ritterdarstellungen in der Kinder- und Jugendliteratur der DDR37 Das Mittelalterbild in der geschichtserzählenden Kinder- und Jugendliteratur der DDR stellt wegen seiner spezifischen, in den meisten Fällen auf die vorherrschende Ideologie abgestimmten Perspektivierungstendenz sowohl gegenüber der Epoche vor 1945 als auch gegenüber der Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur in der BRD einen Paradigmenwechsel dar. Das Mittelalter wird im Kontext des marxistischen Klassenmodells als Zeit des Feudalismus gedeutet, in der sich die soziale Ungerechtigkeit zwischen dem Figurenpaar „Herr und Knecht“ manifestierte.38 Das genrehafte Ausmalen dieses Gegensatzes mit den damit verbundenen Zuschreibungen von historischen Rollenmustern durchzieht das vorherrschende Ritterbild. So beispielsweise in der im rheinischen Hochmittelalter angesiedelten Nik-Trilogie von Götz Gode.39 Gode klagt das kapitalistische Gewinnstreben, den imperialen Geltungsdrang und den dekadenten Hedonismus des Ritters Heribert an. Die Burgherrin Gerda erscheint ebenso als von kapitalistischem Gewinnstreben besessen. Sie hat für nichts anderes Augen als für „blanke Münzen“. Ihr gesamtes Denken kreist um die Sorge für den Besitz.40 Der Ritter wird verschiedentlich als komische Figur desavouiert.41 So muss er sein aus Stahlringen geflochtenes Panzerhemd an den Edelknaben Ezzo abtreten, „weil er selbst nicht mehr hineinpaßte; er war zu dick geworden und konnte sich kaum bewegen, wenn er’s anhatte“.42 Eine besondere Spielart des Ritterbildes im Dienst von MarxismusLeninismus hat Helga Talke mit ihrem 1977 im Kinderbuchverlag Berlin erschienenen Ritter von der Hubertusburg vorgelegt. Die beiden Proleta-

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Vgl. zum Folgenden SEBASTIAN SCHMIDELER : Ritterdarstellungen in der geschichtserzählenden Kinder- und Jugendliteratur der DDR. In: Interjuli – Internationale Kinder- und Jugendliteraturforschung 2 (2010), H. 1, S. 6–22. 38 Dies zeigt sich paradigmatisch beispielsweise in P ETER DONAT: König und Bauer. Vom Werden des deutschen Feudalstaates, Berlin 1981. 39 Vgl. Götz Gode: Nik auf der Wasserburg, Berlin 1962; Nik in dunklen Gängen, Berlin 1966; Nik auf gefährlichen Wegen, Berlin 1968. 40 Gode: Nik auf der Wasserburg (wie Anm. 39), S. 16. 41 Gode: Nik auf der Wasserburg (wie Anm. 39), S. 44: „ ‚So! So!‘ rief Ritter Heribert laut und böse. Mit dem Altenfelser Grafen stand er sich nicht gut. Es war ein alter Span zwischen ihnen. Als sie beide noch Knappen waren, hatte Graf Altenfels ihn bei einem Turnier so geschickt und zugleich hart aus dem Sattel gestoßen, daß Ritter Heribert mit einem komisch wirkenden Purzelbaum nach rückwärts zwischen die Röcke der zuschauenden Damen gerollt war. Es hatte ein Geschrei und Gelächter gegeben, und dieser Lärm klang Ritter Heribert immer in den Ohren, wenn der Name des Altenfelsers genannt wurde.“ 42 Gode: Nik auf der Wasserburg (wie Anm. 39), S. 9f.

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rierkinder Frieda und Caroline leben in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts in einem Leipziger Arbeiterviertel. Frieda behauptet allerdings, ihr Vater wohne auf einer Burg. Im Kapitel Der Ritter kommt kontrastiert Talke die klischeehaft geschilderte raue Wirklichkeit des Arbeiterlebens im feucht-kalten Hinterhauskeller des 19. Jahrhunderts mit der romantischen Märchenphantasie der kleinen vaterlosen Caroline, die sich Friedas Vater als mittelalterlichen Bilderbuchritter ausmalt.43 Die Pointe dieses sozialistischen Kinderbuches besteht nun darin, dass sich hinter dem vermeintlichen Ritter der Drechslermeister, Arbeiterführer und Sozialrevolutionär August Bebel verbirgt. Mit der geheimnisvollen Burg, auf der er lebt, ist die Festung Hubertusburg gemeint, in der Bebel wegen Hochverrats jahrelang einsaß. „Haben Sie auf der Burg nicht gedrechselt?“ fragte Caroline. Der Meister lachte. „Wenn so einer wie ich auf einer Burg wohnt, dann darf er nicht an der Werkbank arbeiten.“ Weil es sich für einen Ritter nicht schickt, dachte Caroline. Ritter drechseln nicht. Sie reiten Turniere oder kämpfen mit Ungeheuern. Vielleicht verrät er nicht, daß er ein Ritter ist, weil er gern wieder einmal drechseln will.44

In einem Nachwort löst Talke das Geheimnis auf und ordnet die Zusammenhänge in die sozialistische Geschichtsdeutung ein. Für die mittelalterrezipierende Kinder- und Jugendliteratur der DDR sind ferner traditionelle Ritterdarstellungen mit sozialistischen Modifikationen typisch, wie in der Sammlung Der Geschichtslehrer erzählt von Herbert Mühlstädt. Der Autor steht deutlich in der Tradition der spannenden, zum Pathos neigenden Abenteuererzählung des späten 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er ist um opulente Sitten- und Schlachtenschilderungen bemüht und entwirft panoramatisch genrehafte Historienbilder, wenngleich er sich inhaltlich an den Vorgaben der marxistisch-leninistischen Geschichtsdeutung orientiert. Das Repertoire der bürgerlichen Geschichtserzählungen wird übernommen und sogar das Inventar der bis 1945 üblichen Begriffe in die marxistische Deutung integriert.45 Mühlstädts Vorliebe für historisierende Schlachtengemälde ist etwa dem Kapitel „Die Niederlage der Ordensritter bei Grunwald (Tannenberg) 1410“ abzulesen. Der Mythos Tannenberg wird mit umgekehrten Rollen 43 Vgl. Helga Talke: Der Ritter von der Hubertusburg, Berlin 1977, S. 9: „Der Briefträger bog in die Straße ein. Schon von weitem winkte er zu Frau Julie hinauf, die am Fenster stand und nach ihm Ausschau hielt. ‚Von der Burg, Frau Meisterin‘, rief der Postbote und schwenkte einen weißen Umschlag. […] Also ist es doch wahr, dachte Caroline mit klopfendem Herzen. Der Drechsler ist ein Ritter! Er wohnt auf einer Burg.“ 44 Vgl. Talke (wie Anm. 43), S. 17. 45 Vgl. Herbert Mühlstädt: Der Geschichtslehrer erzählt. Band 2: Vom Frankenreich bis zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, Berlin 1983.

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fortgeschrieben: Mühlstädt glorifiziert die Völker der sozialistischen ‚Bruderländer‘ („Polen, Litauer und Russen“) im Kampf gegen das reaktionäre Heer des ordensritterlichen Feudaladels.46

5. Neuere Ritterdarstellungen Die mittelalterbezogenen Jugendromane der BRD orientierten sich noch relativ lange an traditionellen Erzählformen. Ein leitendes Beispiel hierfür ist Inge Otts Geier über dem Montségur. Der heldenhafte Kampf einer Schar auserlesener Ritter gegen König und Papst, der 1977 im Verlag Freies Geistesleben erschien. Die bedeutende Episode aus der Geschichte der Kreuzzüge dient hier einem historischen Roman, der wie Otts Das Geheimnis der Tempelritter zu den bekanntesten der bundesrepublikanischen Jugendbücher zählt. Der Verknüpfung von spannend dramatisierter Rittergeschichte und konkreten historischen Informationen liegt das Prinzip von prodesse et delectare zugrunde. Die Ritter werden, wie es im Vorwort von Heinrich Pleticha heißt, zu Akteuren „in einem Drama von abendländischer Bedeutung“. Ott präsentiert zu Beginn ihres Romans – wie in einem historischen Schauspiel – ein Verzeichnis der dramatis personae, betont jedoch zugleich, dass die Handlung des Romans nicht erfunden sei.47 Innovative Impulse gehen – außer von einzelnen deutschsprachigen Beiträgen48 – inzwischen von englischsprachigen Neuerscheinungen aus. Hier ist der mittelalterbezogene Jugendroman längst in der Postmoderne angekommen. So die Pagan-Reihe der Australierin Catherine Jinks, die in Sydney Geschichte studiert hatte und für ihre Ritter-Tetralogie vielfach ausgezeichnet wurde. Die Bände erschienen zwischen 1992 und 1996 und liegen seit 2003 und 2004 übersetzt im Deutschen Taschenbuchverlag vor.49 Jinks zeichnet das Leben des hochmittelalterlichen Ritters Pagan

46 Vgl. Mühlstädt (wie Anm. 45), S. 157: „Naht Hilfe? Ja, wie ein Sturmwind braust sie heran: […] Die Polen, Litauer und Russen verdoppeln ihre Kraft. Unter ihren Hieben sinken die Ordensritter reihenweise zu Boden. Die Weißmäntel packt das Grausen. Da trifft sie ein neuer Schlag. Der Hochmeister ist gefallen. […] Sie reißen die Pferde herum. Geben ihnen die Sporen und fliehen unter dem Jubel der siegreichen Verbündeten vom blutgetränkten Schlachtfeld.“ 47 Vgl. Inge Ott: Geier über dem Montségur. Der heldenhafte Kampf einer Schar auserlesener Ritter gegen König und Papst, Stuttgart 1977, S. 5f. 48 Vgl. z. B. die in der Tradition des Adoleszenzromans und des Road-Movie stehende ritterkritische Mittelaltererzählung von Doris Meißner-Johannknecht: Vogelfrei, Hamburg 2003. 49 Vgl. Catherine Jinks: Pagan und die Tempelherren. Übers. von GABY WURSTER , München 2003; Pagan in der Fremde. Übers. von GABY WURSTER , München 2003; Pagan

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nach, der im ersten Band als tolpatschiger Knappe in den Dienst des Ritters Graf Roland tritt und im vierten Band als ritterlicher Erzdiakon des Bischofs von Carcassone in hohen diplomatischen Diensten steht. In ihren didaktischen Aspekten greift die Tetralogie durchaus auf die Tradition des Erziehungs- und Bildungsromans zurück. Als ungewöhnlich fällt die Sprache auf, die Jinks der Hauptfigur des sechzehnjährigen Pagan in den Mund legt: Die hochmittelalterliche Figur spricht die Jugendsprache der 1990er Jahre. Die Distanz zwischen der Lebenswelt des Ritters und der Gegenwart der Rezipienten soll dadurch überwunden werden. Deshalb denkt Pagan wie ein 16-jähriger Jugendlicher unserer Zeit und tritt mit der drahtigen Beweglichkeit und frechen Nonchalance eines sprachgewandten Hip-Hoppers auf. Insofern erscheint diese Erzählweise zwar als anachronistisch, zieht jedoch die Aufmerksamkeit junger Leser auf sich. Ironische und saloppe Bemerkungen Pagans über mittelalterliche Phänomene erzeugen weitere Distanz zum mittelalterlichen Handlungskontext. Eine von Jinks wiederholt angewandte Technik besteht überdies darin, die in moderner Jugendsprache formulierte Gedankenrede der Hauptfiguren zwischen die Dialoge zu schalten. Dadurch gewinnt die Erzählung zweifellos an Tempo und Dynamik und vermag junge Leser durch witzige Effekte zu fesseln. Nicht zuletzt bedeutet diese Gestaltungsform eine Prosakopie der Technik filmischen Erzählens in Comedy- und Zeichentrickfilm-Serien. Jinks scheut sich vor keiner Verballhornung. Als der selbstbeherrschte Ritter Roland das erste Mal lächelt, wird dies von Pagan wie folgt kommentiert: Dann – kann das sein? Ja. Nein: Ja. Ich habe eine Erscheinung! Ein Wunder! Der heilige Georg lächelt tatsächlich! Klatscht alle in die Hände, ihr Leute, und ruft Gott mit Triumph in der Stimme an! Ein erhebender Augenblick in der Geschichte, Freunde. Graf Roland Roucy de Bram hat ein kleines, aber sattes Lächeln aufgesetzt. Kein Anzeichen von Spannungen oder Rissen im Gesichtsbereich, die Zähne sind an ihrem Platz. Keine hässlichen Überraschungen. Eine tapfere Leistung. Schon vorbei, aber unvergessen.50

und die schwarzen Mönche. Übers. von WOLFRAM STRÖLE , München 2003; Pagan in geheimer Mission. Übers. von WOLFRAM STRÖLE , München 2004. 50 Vgl. Jinks: Pagan und die schwarzen Mönche (wie Anm. 49), S. 58. Vgl. auch GERALDE SCHMIDT-DUMONT: Anmerkungen zur Darstellung der Kreuzzüge in der Kinder- und Jugendliteratur. Perspektiven, Aspekte der Interkulturalität und der historischen Authentizität. In: Kinder- und Jugendliteratur & -medien 2007, H. 2, S. 17–22, hier S. 19f.: „Wie mit einer in seinen Kopf eingebauten Kamera nimmt der Leser einen Raum erst sukzessive mit seinen Augenbewegungen und dem Eingewöhnen an die Dunkelheit wahr. Zusammenhänge erschließen sich erst allmählich in dem Maße, wie Pagan selbst ein Erkenntnislicht aufgeht. Handlungsabläufe, wörtliche Reden von fremden Personen und von Pagan selbst vermischen sich übergangslos mit seinem despektierlichen Räsonieren. Wenn er einschläft, lösen sich die Sätze langsam in Bruchstücke und unzusammenhängende

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Eine ähnliche Tendenz findet sich im Werk des amerikanischen Jugendschriftstellers und Lehrers Gerald Morris. Der Verfasser bedient sich des Verfahrens der Travestie und überträgt einen trocken-zynischen Humor in Manier der britischen Komikergruppe Monty-Python auf die Ritterwelt des Parzival.51 Fortwährend sucht Morris nach Anlässen, um die geschilderte Handlung mit einer comedyartigen Desavouierung des Ritterlichen zu überlagern. So fügt er eine Reihe von Situationen aneinander, in denen er die Lächerlichkeit des jungen Parzival durch groteske Verzerrungen verstärkt hervortreten lässt. Auch in seinem zweiten Buch, Triumph dem tapferen Troubadour, 2004 in deutscher Übersetzung bei Carlsen erschienen, verfolgt Morris diese Strategie, ja steigert sie nochmals durch Satire und Parodie. Diesmal wird der Stoff um Tristan und Isolde umgedeutet. Die Figur des Ritters Dinadan, der in der Vorlage lediglich eine Nebenrolle spielt,52 dient dazu als Aufhänger.53 Michael Cadnums innovativer Kreuzzugsroman Im Zeichen des Kreuzes, 2001 übersetzt im Ravensburg Verlag veröffentlicht, zwingt den Leser hingegen, die Rolle eines Historikers einzunehmen. In der Ich-Perspektive eines Ritterknappen führt Cadnum schonungslos offen die Grausamkeit des mittelalterlichen Lebens und die Widersprüche des Crusade-Gedan-

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Bilder auf. In unaufhörlichem Bewusstseins- und Redestrom des inneren Monologs lässt sich das Auftauchen und Anwachsen von Gedanken mitverfolgen. Bei hektischer Handlung und beim Ansteigen des Tempos steigert sich der Erzählrhythmus zu bloßen Wahrnehmungsfetzen und Stoßgebeten. Im Gegensatz zu sehr sorgfältig recherchierten historischen Fakten wird in der Sprache allerdings auf die Gegenwart zurückgegriffen. Der heutige Leser ist Pagan, und Pagan ist der Leser.“ Vgl. insbesondere Die Ritter der Kokosnuß (Monty Python and the Holy Grail, 1975). Vgl. auch die kritische Einschätzung von JACQUES LE GOFF : Ritter, Einhorn, Troubadoure. Helden und Wunder des Mittelalters. Übers. von A NNETTE L ALLEMAND, München 2005, S. 25: „Man lacht über Artus in Parodien – auch dies ein Zeichen für Popularität – wie beispielsweise in Die Ritter der Kokosnuß (1975) oder Ritter Hank, der Schrecken der Tafelrunde von Tay Garnelt (1949) mit Bing Grosby. Ob unser Held Artus – o neues Ungemach! – wohl eines Tages die Gesichtszüge von George W. Bush tragen wird? […] Artus wird uns wohl noch öfter in Erstaunen versetzen.“ – Ein Mitglied der britischen Komikergruppe, Terry Jones, trat übrigens auch mit einem einschlägigen Kinderbuch hervor. Vgl. Terry Jones: Der Ritter und seine Knappen. Übers. von M ANFRED MIETHE , München 1999. Vgl. Gerald Morris: Triumph dem tapferen Troubadour. Übers. von G ABRIELE H AEFS, Hamburg 2004, S. 266. Vgl. z. B. folgende Szene aus Morris (wie Anm. 52), S. 33: „Sie war in ihren eigenen Dolch gefallen, der noch immer aus ihrer Brust ragte. Unter ihr hatte sich bereits eine Blutlache gebildet. Dinadan zog den Dolch heraus, ließ ihn fallen und warf einen neugierigen Blick in das liebliche Gesicht zu seinen Füßen. Ihre Augenlider bebten und ihre Lippen bewegten sich. Dinadan ging auf, dass sie etwas zu sagen versuchte, und aus Achtung vor ihrem Geschlecht oder einfach vor einer Sterbenden beugte er sich über sie, um ihre letzten Worte nicht zu verpassen. ‚Oh … scheiß drauf ‘, sagte sie. Dann war sie tot.“

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kens plastisch vor Augen. Mit reduziertem Personal und einer im Vergleich zum genretypischen Aktionismus geradezu minimalistischen Handlung verfolgt Cadnum die unmittelbare Nachzeichnung mittelalterlicher Wahrnehmungen. Der Verfasser beabsichtigt das ungeschönte Psychogramm eines mittelalterlichen Adoleszenten. Der Junge Edmund wird nach der Ermordung seines Meisters, eines Schmieds, als Knappe einem englischen Ritter zugewiesen, der mit ihm dem Kreuzzugsaufruf folgt und sich ins Heilige Land begibt. Die Rekonstruktion der mittelalterlichen Mentalität stellt sich im Bewusstseinsstrom Edmunds ein, der die Handlungen und Gesinnungen der Akteure reflektiert. Das spezifisch Mittelalterliche sowie die Charakteristik des Ritterlichen muss sich der Rezipient selbstständig aus diesen Daten erschließen. Wie mit einem Zeitzeugenmonolog aus der Oral History wird der Leser mit diesem fiktiven Bewusstseinsdokument allein gelassen. Er selbst muss hier die Distanz erzeugende, historisch interpretierende Instanz sein. Dieser neuartige Typus des Kinderhelden will unaufdringlich zur Skepsis gegenüber einer Glorifizierung des Mittelalters erziehen und junge Leser durch Wahrnehmungsgeschichte in Bann schlagen. Das Moment der Subjektivität geschichtlicher Wahrnehmung wird postmodern zum Prinzip erhoben und erreicht eine neue Dimension von Unmittelbarkeit.54

54 Diese wahrnehmungs- und bewusstseinsgeschichtliche Dimension zeigt sich beispielsweise in Szenen wie der folgenden, in der an dem Schmiedemeister die mittelalterliche Strafe für einen begangenen Frevel statuiert wird: „Es dauerte nur einen Herzschlag. Stahl blitze auf und fuhr klirrend auf den Amboss herab. Ein weißes Etwas zappelte im Kohlenstaub auf dem Holzboden und der Schrei meines Meisters klang ungläubig. Maud begann zu kreischen und ich schrie ebenfalls auf, als einer der Lederhandschuhe die abgetrennte Hand meines Meisters aus dem Kohlenstaub klaubte. Der nicht enden wollende Schrei meines Meisters nahm eine neue Klangfarbe an, als Blut ins Kerzenlicht pulste.“ Die Hand wird darauf in abschreckender Absicht an die Wand genagelt: „Blut reflektierte das Kerzenlicht. Die abgetrennte Hand leuchtete weiß um den schwarzen Nagelkopf. Ich schaute nicht direkt hin, sah sie aber dennoch, war mir ihrer bewusst, auch wenn ich auf die dunkle Wand starrte. Schwere Füße drückten mich in das gerinnende Blut auf den Holzdielen.“ Selbst die auf antike Traditionen beruhenden Urteile Edmunds über die mittelalterliche Weltkenntnis werden unkommentiert so wiedergegeben, wie man sie bei Plinius oder bei Isidor nachlesen kann. Auch dies sind Zeichen, die der moderne Leser eigenständig zu deuten verstehen muss: „Ich hatte von monströsen Menschen in fremden Ländern gehört, Ungeheuern mit dem Gesicht auf der Brust und dem Hirn hinter den Rippen, ohne Köpfe, und von einer Menschenrasse, die man die Einbeiner nannte, weil diese Wesen auf nur einem dicken Bein über den Boden hüpften.“ Michael Cadnum: Im Zeichen des Kreuzes, Ravensburg 2001, S. 11, 14 u. 89.

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6. Die Kinderbücher William Steigs: Ritter als anthropomorphisierte Tiere55 Abschließend sei der besondere Fall von Rittern in Gestalt anthropomorphisierter Tiere vorgestellt. Heraus ragt hier das Werk des amerikanischen Cartoonisten und Kinderbuchautors William Steig. – „Es war einmal ein Schwein namens Roland, das auf der Laute spielen und so betörend singen konnte, daß seine Freunde nicht müde wurden, ihm zuzuhören.“56 Mit diesen Worten beginnt Steigs eigentümliche Karriere als Kinderbuchautor. In seinem Gesamtwerk spielt der Autor mit zahlreichen Motiven mittelalterlicher Epen.57 Seine erste, im Alter von 61 Jahren vorgelegte Arbeit, Roland der fahrende Sänger (1968), ist eine Kunstfabel für Kinder, die auf klassischen Tierfabeln und ritterromantischen Motiven basiert. Erzählt wird die Geschichte eines begnadeten, aber etwas dummen Minnesängers in Gestalt eines Schweins, das aus eitlem Kunstehrgeiz in die Welt hinauszieht, dem listigen Fuchs Sebastian in die Falle geht, sich durch seinen Gesang zufällig retten kann und schließlich nicht als Schweinebraten, sondern am Königshof des Löwen als gefeierter Sänger endet. Bereits in dieser ersten Erzählung zeigen sich die charakteristischen Leitmotive, die Steigs gesamtes Œuvre als Kinderbuchautor begleiten. Die Geschichte spielt mit Motiven aus der Artus-Sage und dem Bild des ritterlichen Minnesängers, das mit dem Fabelcharakter des ‚dummen Schweins‘ verquickt ist. Der König aus den Ritterepen wird vom ‚König der Tiere‘, dem Löwen, vertreten. Der Name des Minnesängers Roland erinnert an den ritterlichen Helden des Rolandslieds aus dem Sagenkreis um Karl den Großen.58

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Zum Phänomen der anthropomorphisierten Tierdarstellung in der Kinder- und Jugendliteratur vgl. grundlegend GERHARD H AAS : Das Tierbuch. In: Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. Hrsg. von KURT FRANZ /GÜNTER L ANGE /FRANZ-JOSEF PAYRHUBER . 2. Erg.-Lfg., Meitingen 1996, S. 1–26. Vgl. auch das Klassifikationsmodell zur Typologie von Tierdarstellungen von SEBASTIAN SCHMIDELER : Das Leben der Vögel (1861). Zur Anthropomorphisierung bei Tiervater Alfred Edmund Brehm (1829–1884). In: Kodikas/Code. Ars Semeiotica. An International Journal of Semiotics 28 (2005), H. 3–4, S. 345–378. 56 William Steig: Roland der fahrende Sänger. Übers. von JENS ROEDLER , Reinbek 1974, unpaginiert. 57 Vgl. SEBASTIAN SCHMIDELER : William Steig. In: Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. Hrsg. von KURT FRANZ /GÜNTER L ANGE /FRANZ-JOSEF PAYRHUBER . 32. Erg.-Lfg., Meitingen 2008, S. 1–18. 58 Das Rolandslied lag als Kinder- und Jugendbuch-Adaptation mit wissenschaftlichen Erläuterungen von Albert Richter bereits 1870 vor. Zur Bedeutung Richters vgl. SEBASTIAN SCHMIDELER : Albert Richter. In: Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. Hrsg. von KURT FRANZ /GÜNTER L ANGE /FRANZ-JOSEF PAYRHUBER . 34. Erg.-Lfg., Meitingen 2008, S. 1–17.

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Dominic, eine von Steigs größeren Erzählungen für Kinder ab neun Jahren, erzählt die Geschichte eines jungen abenteuerlustigen Hundes, der als Ritter in die Welt hinauszieht, um sein Glück zu versuchen. Dieses handlungsstarke Kinderbuch knüpft an mehrere Traditionen der europäischen Literaturgeschichte an. Es greift Motive des Pikaroromans auf, spielt mit Elementen der Artus-Legende (Dominics wunderbarer Speer als eine Reminiszenz an das Schwert Excalibur) und verarbeitet das Beschützermotiv des edlen Räubers Robin Hood. Die ‚Doomsday Gang‘ (UntergangsBande), gegen die Dominic siegreich ankämpft, spielt auf eines von Steigs Lieblingsbüchern an – Carlo Collodis Pinocchio. Dominic, der mit dem sprichwörtlichen Spürsinn eines Hundes als ein Ritter aus mittelalterlichen Epen in die Lebensschule des Abenteuers geht, vermag sich in vielen Prüfungen zu bewähren. Seine Gerechtigkeitsliebe, seine guten Manieren, seine Verlässlichkeit und Klugheit – Eigenschaften eines vollendeten Ritters – werden mit dem Bewährungsaspekt des Ritterlichen verbunden: „Mit allem, was das Leben einem in den Weg stellte, wurde man, so oder so, auf die Probe gestellt. Man mußte zeigen, was man konnte. Dominic genoß es, diesen Proben gewachsen zu sein.“59 Steig führt ein ganzes Panorama von Tiercharakteren vor, die eine kindgerechte Welt im Kleinen bilden, um die vielgestaltige Welt im Großen zu spiegeln. In Der wahre Dieb erzählt Steig eine Parabel von Recht und Gerechtigkeit im Konflikt mit Freundschaft und Treue. Und auch hier greift er auf ritterliche Tugenden zurück. Der dem Bärenkönig in freundschaftlicher Treue ergebene, stolze Ganter Gawain ist Wächter über die königlichen Staatsjuwelen, die auf merkwürdige Weise aus der Schatzkammer des Schlosses verschwinden. Nur Gawain und der König besitzen die Schlüssel. Der unschuldige Gawain wird wegen schweren Raubes angeklagt und verurteilt, obwohl – wie sich im Verlauf der Geschichte herausstellt – die kleptomanisch veranlagte Maus Derek für die Diebstähle verantwortlich ist. Der gutmütige Derek weidet sich als Ästhet am Anblick der Juwelen in seiner schmutzigen Höhle, ohne dabei den Gedanken an Reichtum zu haben. Steig schildert, wie das Leiden der ritterlich denkenden Helden über Recht und Strafe gehen kann und wie sehr Freundschaft und Vertrauen gefährdet sind, wenn sie wie hier auf eine harte Probe gestellt werden.

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William Steig: Dominic. Die abenteuerliche Reise zum verzauberten Garten. Übers. von ELMAR K REIHE , Hildesheim 1992, S. 25.

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7. Ausblick Summa summarum ist zu konstatieren, dass das Thema Ritter, Rittertum und Ritterlichkeit in der geschichtserzählenden Kinder- und Jugendliteratur nach 1945 sowohl in gattungsspezifischer als auch rezeptionshistorischer Perspektive eine enorme Konjunktur zu verzeichnen hat. Diese Konjunktur hält in den letzten Jahren ungebrochen an. Als sich die Göttinger Literaturdidaktikerin Ina Karg im Jahr 2007 kaum fünfzehn Minuten lang „in der Abteilung für Kinder- und Jugendliteratur in einer populären Buchhandlung einer süddeutschen Großstadt“ (München) aufhielt, konnte sie während eines Gangs entlang der Regale innerhalb dieses kurzen Zeitraumes „mehr als dreißig“ einschlägige „Titel zum Thema“ Mittelalter notieren.60 Das Gattungsspektrum reichte vom Bildersachbuch bis zum Jugendroman. Ein Großteil dieser Bücher widmete sich auch dem Thema Rittertum. Die Konjunktur der Ritter im geschichtserzählenden Jugendbuch zeigt sich nicht zuletzt darin, dass dieses mittelalterliche Phänomen, wie im 19. Jahrhundert,61 gegenwärtig sogar wieder innerhalb großangelegter Zyklen historischer Romane für junge Leserinnen und Leser verarbeitet wird.62 Auch an adressatenorientierter spezifischer Mädchenlektüre, in der das Thema Rittertum in der Form des historischen Romans verwertet wird, mangelt es nicht.63 Selbst in den Lektüreangeboten für Erstleser sind Ritter nicht selten Protagonisten, die insbesondere Jungen zur Lektüre animieren sollen.64 Die in der einschlägigen Forschung als ‚schwierige‘ Leser geltenden Jungen sollen jedoch speziell in der informationsorientierten geschichtserzählenden Kinder- und Jugendliteratur, der sogenannten

60 INA K ARG : Ritter, Elfen, Zauberwelten. Mittelalterbilder in aktuellen Kinder- und Jugendbüchern. In: Bilder vom Mittelalter. Eine Berliner Ringvorlesung. Hrsg. von VOLKER M ERTENS /C ARMEN STANGE , Göttingen 2007, S. 155–179, hier S. 155. 61 Erinnert sei an dieser Stelle exemplarisch an Oskar Höckers fünfbändigen Romanzyklus Merksteine deutschen Bürgertums. Kulturgeschichtliche Bilder aus dem Mittelalter (Leipzig 1886–1910), an den an Mädchen adressierten Zyklus von Brigitte Augusti (Ps. für Auguste Plehn) An deutschem Herd. Kulturgeschichtliche Erzählungen aus alter und neuer Zeit mit besonderer Berücksichtigung des Lebens der deutschen Frauen. Für das reifere Mädchenalter (Leipzig 1895–1898) sowie an die zweibändige kulturprotestantische Darstellung von Ferdinand Sonnenburg Für Kaiser und Reich. Kulturgeschichtliche Erzählungen aus der Zeit Kaiser Heinrichs IV. Der erwachsenen evangelischen Jugend gewidmet (Leipzig 1892f.). 62 Zu nennen sind hier unter anderem die Romantrilogie Der Morgenstern von Max Kruse (Würzburg 1990) sowie die Trilogie Die Bruderschaft vom Heiligen Grahl von Rainer Maria Schröder (Würzburg 2006f.) 63 Vgl. etwa E. W. Heine: Papavera. Der Ring des Kreuzritters, München 2006. 64 Vgl. z. B. Renée Holland: Leselöwen. Ritter-Wissen. Abenteuer- und Sachgeschichten, Bindlach 2004.

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Sachliteratur, nicht zuletzt über Ritterbücher zu Lesern werden. Hierbei sind in den letzten Jahren spielerische Formen der Vermittlung entstanden, die innerhalb des klassischen Modells der Doppelseitenstruktur des modernen Sachbuchs geschickt Pop-Up-Elemente, sogenannte Klappen, in kleinen Umschlägen integriertes Spielmaterial sowie Zieh- und DrehElemente dazu nutzen, um insbesondere Jungen für das Thema Rittertum zu interessieren.65 Im Bereich der Sachliteratur konzentrieren sich Graphiker, Layouter, Illustratoren und Verfasser überdies in Rücksichtnahme auf veränderte Rezeptionsgewohnheiten im Zeitalter der Multimedialität auch in Ritterbüchern verstärkt auf visualisierende Elemente sowie auf eine textreduzierte Vermittlung von Sachwissen in kleinen Textblöcken, den sogenannten Informationskästen.66 Doch auch traditionelle, erzählende Kinderbücher wie Kirsten Bojes Der kleine Ritter Trenk (Hamburg 2006) erfreuen sich als Familienlektüre und Vorlesestoff großer Beliebtheit. Die Tatsache, dass eine im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur international bekannte Bestseller-Autorin wie Cornelia Funke sich mit einem adressatenorientierten „Ritterbuch“ für Mädchen, Igraine Ohnefurcht (Hamburg 2007, mit Illustrationen der Verfasserin), diesem Thema gewidmet hat, spricht einmal mehr für die verlagsökonomische und rezeptionsspezifische Attraktivität des Phänomens in diesem Segment des Buchmarktes.

65

Zumeist gelangen diese Sachbilderbücher als Lizenzen aus amerikanischen bzw. englischen Verlagen auf den deutschen Kinder- und Jugendbuchmarkt. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist das Ritter-Handbuch. Wie werde ich ein Ritter?, München 2007. Auf S. 2 ist hier ein verschiebbarer Ritterhelm als Pop-Up-Element integriert, auf S. 8 eine Zugbrücke mitsamt Burgturm, verschiebbarem Fallgitter und Holztoren. Darüber hinaus sollen zahlreiche Klappen, eingeklebte Leporellos sowie Material für das Unterhaltungsspiel Knappenkampf für Abwechslung in der spielerischen, entdeckenden Rezeption dieses Sachbilderbuchs sorgen. 66 Vgl. hierzu SEBASTIAN SCHMIDELER : Optische Transformationsprozesse und Mediatisierungsphänomene in der Kinder- und Jugendliteratur. In: Literatur und Literaturwissenschaft im Zeichen der Globalisierung. Themen – Methoden – Herausforderungen. Hrsg. von A NNA KOCHANOWSKA-NIEBORAK /EWA PŁOMIŃSKA-K RAWIEC . Frankfurt/M. u. a. 2012 [im Druck]. Beispiel hierfür ist Die visuelle Weltgeschichte des Mittelalters, Hildesheim 2005, die im Rahmen der Reihe Gerstenbergs visuelle Enzyklopädie erschien. Hierbei handelt es sich um englische Lizenzen von visuellen Sachbüchern, die in einer urheberrechtlich geschützten, eigens entwickelten Doppelseitenstruktur, dem sogenannten Dorling-Kindersley-Format, entworfen worden sind. In den ritterbezogenen Passagen der Visuellen Geschichte des Mittelalters werden beispielsweise Fotografien originaler mittelalterlicher Quellen und Überreste wie ritterbezogene Abbildungen aus Codices, nachgebaute Modelle einer Burgküche, nachgestellte Szenen von Ritterkämpfen und höfischer Lebensweise mit in mittelalterbezogenen Kostümen gekleideten Protagonisten zu einem Schauplatz des Interessanten inszeniert, die über optische Effekte und eine klare druckgraphische Seitenaufteilungsstruktur die Aufmerksamkeit der Rezipienten auf sich ziehen sollen.

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Sebastian Schmideler

Eine aktuelle Besonderheit der kinder- und jugendliterarischen Rezeption des Rittertums stellt die zunehmende Bedeutung des Themas innerhalb der sogenannten Fantasy-Literatur dar, die sich im letzten Jahrzehnt zu einer Leitgattung der Kinder- und Jugendliteratur entwickelt hat. Dazu trug hauptsächlich die in äußerst ungewöhnlichen Dimensionen rezipierte siebenbändige Romanreihe Harry Potter (1997 [deutsch: 1998]–2007) von Joanne K. Rowling bei. Die Rezeption der Reihe wurde zu einem internationalen Kulturphänomen.67 Dass in den Harry-Potter-Romanen zahlreiche Anspielungen auf mittelalterliche Ritter-Epen zu entdecken sind, hat speziell Ina Karg in ihren Studien gezeigt.68 Allerdings sollte die augenblickliche wissenschaftliche Konzentration auf mittelalterbezogene Phänomene in der Fantasy-Literatur nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mittelalterrezeption in der Kinder- und Jugendliteratur insgesamt, insbesondere im diachronen Vergleich, nach wie vor zu den nahezu von der Forschung unerschlossenen Gebieten innerhalb der Geschichte der Popularkultur zählt.

67

Vgl. INA K ARG /IRIS M ENDE : Kulturphänomen Harry Potter. Multiadressiertheit und Internationalität eines nationalen Literatur- und Medienevents, Göttingen 2010. 68 Vgl. auch INA K ARG : Von Einhörnern, Monstern und magischen Orten. Über kinder- und jugendliterarische Fantasy-Motive und ihre Herkunft. In: Kinder- und Jugendliteraturforschung 16 (2009/2010), S. 69–81.

Vom Geöfneten Ritter-Platz (1702) zum postmodernen Jugendroman

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Abb. 1 Gottfried von Bouillon am Grabe des Erlösers. Kupferstich von Johann David Schubert, gestochen von Johann Friedrich Rosmäsler zu Christian Ferdinand Schulzes Historischem Bildersaal oder Denkwürdigkeiten aus der neuern Geschichte (1819). Quelle: CHRISTIAN FERDINAND SCHULZE: Historischer Bildersaal oder Denkwürdigkeiten aus der neuern Geschichte. Ein Lehr- und Lesebuch für gebildete Stände. Vierten Bandes erster Theil. Gotha 1819, Frontispiz (Privatbesitz, Sammlung Schmideler).

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Sebastian Schmideler

Abb. 2 Holzschnitt des Verfassers Werner Chomton zu seinem Jugendbuch Heinrich der Löwe (1943). Quelle: Werner Chomton: Heinrich der Löwe. Stuttgart 1943, S. 19. (Privatbesitz, Sammlung Schmideler).

IRIS MENDE

„Der König, der war, und der König, der sein wird“ Die Artus-Rezeption in der Kinder- und Jugendliteratur Die Rezeption mittelalterlicher Stoffe in der Literatur für junge Leser ist ein im Kontext der Mittelalterrezeptionsforschung bislang nur wenig beachteter Gegenstand. Angesichts der großen Anzahl an aktuellen Publikationen und ihrer offensichtlichen Beliebtheit beim Zielpublikum ist diese Tatsache aus zweierlei Gründen bedauernswert: einerseits aus der Perspektive der Didaktik, für die ein Interesse daran besteht, die einschlägige Lesemotivation der Schülerinnen und Schüler als Anknüpfungspunkt für unterrichtliche Arbeit zu nutzen, andererseits aus philologischer Sicht, da eine Mittelalterrezeptionsforschung, die nicht rein akademisch und im außeruniversitären Bereich folgenlos bleiben will, berücksichtigen sollte, wie das Mittelalter und seine Literatur von Nicht-Experten wahrgenommen werden. „Der König, der war, und der König, der sein wird“ – viele Autoren haben sich dieses Bildes, das auf den Mythos von der Wiederkehr Artus’ anspielt, bereits bedient. „Hic iacet Arturus Rex quondam Rexque futurus“ („Hier liegt Artus, König einst und in Zukunft“) soll Thomas Malorys Le Morte d’Arthur zufolge auf Artus’ Grabstein stehen. T. H. Whites zunächst in vier Teilen erschienene Bearbeitung des Artus-Stoffes wird heutzutage üblicherweise in einem Band unter dem Titel The Once and Future King verlegt. Und auch Kevin Crossley-Holland, dessen Artus-Trilogie im Folgenden genauer betrachtet werden wird, verwendet wiederholt die Wendung „der König, der war und sein wird.“ Die Wiederkehr des Königs findet sich allerdings nicht nur innerhalb der Texte, sondern trifft in gewisser Weise auch auf die Rezeption zu: Vom Mittelalter bis heute ist der Artus-Stoff ein äußerst beliebter Gegenstand literarischer und außerliterarischer Bearbeitung. Auch diese Feststellung ist keineswegs neu. Bereits Hartmann von Aue formuliert den Wiederkehrmythos literaturtheoretisch um, wenn er im Iwein-Prolog feststellt, die Briten hätten recht, zu sagen, Artus lebe noch, da weiterhin über ihn erzählt wird.

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Iris Mende

Bei näherer Betrachtung der Rezeption lässt sich allerdings schnell feststellen, dass zwischen dem König, der war, dem König, der ist, und vermutlich auch dem König, der sein wird, große Unterschiede bestehen. Und doch entsteht kein Text, egal ob der Autor sich bewusst auf einen Prätext bezieht oder nicht, voraussetzungslos. Die vielfältigen Wechselwirkungen prägen maßgeblich die Art und Weise, wie sich die produktive Mittelalterrezeption darstellt. Sie gilt es nachzuvollziehen, wenn moderne Adaptationen mittelalterlicher Stoffe auf ihre Eignung für didaktische Arbeit untersucht werden sollen.

1. Die Geschichte des Artusstoffes Die Wurzeln der ‚matière de Bretagne‘ reichen zurück bis vor die Zeit der Verschriftlichung. Die mündliche Artustradition hat ihren Ursprung im keltischen Raum, und die früheste schriftliche Erwähnung findet sich im 9. Jahrhundert in der Historia Britonum. Ausführlicher behandelt wird Artus’ Person erstmals in Geoffreys von Monmouth Historia Regum Britanniae. Populär wurden die Geschichten von König Artus und seinen Rittern dann im klassisch-mittelalterlichen Artusroman in der Tradition Chrétiens de Troyes und seiner deutschen Bearbeiter Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach sowie in verschiedenen Zyklen wie dem französischen Vulgata-Zyklus aus dem frühen 13. Jahrhundert. Die vor allem im englischen Sprachraum wirkungsmächtigste Bearbeitung ist Sir Thomas Malorys Le Morte d’Arthur, die 1485 von William Caxton in gedruckter Form herausgegeben wurde. Innerhalb der mittelalterlichen Artustradition unterscheidet WALTER HAUG drei verschiedene Phasen: bei Geoffrey von Monmouth und seinem französischen Übersetzer Wace erscheint Artus als Glanzfigur britischer Königsgeschichte – oder auch als „Action-Held par excellence“,1 bei Chrétien und seinen Bearbeitern wird er zum Repräsentanten einer ritterlich-sozialen Utopie und zum ruhenden Pol im fiktiven Geschehen, wobei allerdings bereits die Frage nach der Realisierbarkeit dieser Utopie gestellt wird. Dieses Konstrukt zerbricht schließlich in den Texten der nachklassischen Autoren, wie beispielsweise in Ulrich Füetrers Buch der Abenteuer, an der Erprobung seiner Grenzen; Artus wird zum gescheiterten König und betrogenen Ehemann. Diese drei Artusbilder bestehen über die

1

WALTER H AUG : König Artus. Geschichte, Mythos, Fiktion. In: Mythen Europas. Hrsg. von INGE MILFULL /MICHAEL NEUMANN, Regensburg 2004, S. 105–125, hier S. 116.

Die Artus-Rezeption in der Kinder- und Jugendliteratur

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Jahrhunderte hinweg nebeneinander und finden sich auch in den unterschiedlichsten Formen moderner Mittelalterrezeption wieder.2 Heute ist Artus nicht nur in Großbritannien so alltäglich wie omnipräsent.3 Der Stoff wird nicht allein literarisch wieder aufgenommen und weiterentwickelt, sondern ist auch Gegenstand von Bilddarstellungen, Filmen, Opern, Musicals und Rockmusik. Eine weitere Rezeptionsform ist die Verwendung von Namen oder Situationen aus dem Stoffkreis um Artus, die oft schon feststehende Ausdrücke geworden sind (so zum Beispiel ‚Heiliger Gral‘ für etwas übermäßig Wertgeschätztes) oder die politische Instrumentalisierung (wie der Camelot-Mythos der Kennedy-Administration), durch die sich der Stoff ebenfalls dauerhaft im kulturellen Wissensbestand einer Gesellschaft verankert. Das allgemeine Interesse am Mittelalter im außerakademischen Bereich ist nunmehr seit mehreren Jahrzehnten ungebrochen. Oft wird dieses Phänomen als ‚Mittelalter-Boom‘ bezeichnet. Als sein Anfangspunkt gilt gemeinhin die Staufer-Ausstellung in Stuttgart im Jahre 1977. Allerdings ist es fragwürdig, eine Erscheinung als ‚Boom‘ zu bezeichnen, die mittlerweile seit über 30 Jahren relativ konstant anhält. Eher ist anzunehmen, dass die Faszination, die das Mittelalter auch auf Nicht-Experten ausübt, mehr als eine Modeerscheinung darstellt. Die Produkte moderner Mittelalterrezeption sind vielfältig und richten sich an unterschiedliche Adressatengruppen mit unterschiedlichem Vorwissen. Auch die Produzenten selbst verfügen über unterschiedliche Wissensbestände und Intentionen, die sie in ihre Werke einbringen.

2. Kulturspezifik der Artusrezeption Die Artusrezeption stellt sich in verschiedenen Kulturkreisen unterschiedlich dar. Diese Unterschiede zeigen sich bereits im Mittelalter. Daraus entwickeln sich verschiedene nationale Traditionslinien, die bis in die heutige Zeit reichen. Diese sind jedoch nicht scharf voneinander abgegrenzt, sondern beeinflussen sich gegenseitig; so durch die Rezeption einzelner Werke in anderen Ländern als dem Herkunftsland und heute vor allem durch Übersetzungen in andere Sprachen. In England gab es vermutlich schon vor der Zeit der Verschriftlichung volkstümliche Legenden über Artus; belegt sind sie allerdings erst ab dem 12. Jahrhundert. Außerdem kommt Artus in walisischen Heiligenlegenden

2 3

H AUG (wie Anm. 1), S. 122. Siehe hierzu den Beitrag von A NDREA SIEBER im vorliegenden Band.

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vor. Seine früheste schriftliche Erwähnung findet er in der anonymen Historia Britonum aus dem frühen 9. Jahrhundert, in der davon die Rede ist, dass ein Heerführer dieses Namens im 5. Jahrhundert zwölf Schlachten gegen die Sachsen geschlagen habe. Hervorgehoben wird sein Christentum im Vergleich zum Heidentum der Eindringlinge. Die erste ausführliche Erzählung über König Artus findet sich in Geoffreys von Monmouth 1136 vollendeter Historia Regum Britanniae, die bereits die meisten bis heute bekannten Handlungselemente enthält: Artus’ Zeugung in einer von Merlin arrangierten Liebesnacht zwischen Ygerna und Uther Pendragon, seine Salbung zum König mit 15 Jahren, Kämpfe gegen die Bretonen, Sachsen, Pikten und Schotten, der Glanz seines Hofes, aber auch der Verrat Mordreds, der bei Geoffrey nicht Artus’ Sohn, sondern sein Neffe ist, die Entscheidungsschlacht, Mordreds Tod und Artus’ Entrückung nach Avalon. Die Historia war als Vorgeschichte des normannischen Königtums angelegt und zielte darauf, die Eigenständigkeit Britanniens gegenüber Frankreich herauszustellen. Ziel der Normannenherrscher war es, eine Geschichtskonzeption zu entwickeln, die sie selbst als Erfüller der britischen Geschichte darstellte (obwohl sie nicht in der heimischen Tradition verwurzelt waren), und gleichzeitig ein Identifikationsmuster zu schaffen, das es ermöglichte, sich von Frankreich abzugrenzen. Artus wurde als typischer Vertreter eines modernen Herrscherideals und Idealbild einer neuen, säkularen Kultur dargestellt. Der Artushof reflektierte das aufwändige Hofleben der Normannenherrscher. Geoffreys Werk erfreute sich großer Beliebtheit: noch immer sind über 200 Handschriften erhalten. 1155 wurde es von Wace ins Französische übersetzt, 1190 dann ins Mittelenglische.4 Englische Herrscher von Heinrich II. Plantagenet über Edward I. und III. bis zum ersten Tudorkönig Heinrich VII. nahmen den Artusstoff für ihre politischen Ziele in Anspruch und versuchten auf unterschiedliche Weise, sich selbst in der Artustradition zu verankern und ihre Herrschaft dadurch zu legitimieren. So behauptete Heinrich II., die Gebeine Artus’ seien in Glastonbury gefunden worden. Er erklärte das dortige Kloster zur Grabesstätte, um den Wiederkehrmythos zu zerstören. Heinrichs Nachfolger ernannten Artus programmatisch zum Ahnherren der eigenen Dynastie. Edward I. und III. veranstalteten Turniere, die sie ‚Tafelrunden‘ nannten; Heinrich VII. führte das Drachenbanner und nannte seinen ersten Sohn Arthur.5 Der Volksglaube an das Weiterleben Artus’ und die Möglichkeit seiner Wiederkehr waren jedoch trotz aller politischer Bemühungen nicht zu zerstören. Der Wiederkehrmythos blieb Jahrhunderte lang in

4 5

Vgl. H AUG (wie Anm. 1), S. 109ff. Vgl. H AUG (wie Anm. 1), S. 106.

Die Artus-Rezeption in der Kinder- und Jugendliteratur

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ganz Europa präsent. Noch im 19. Jahrhundert hielt sich in Nordengland der Glaube, der König lebe in einer Höhle weiter.6 Im literarischen Bereich ist der wichtigste englische Leittext Malorys 1485 gedrucktes Werk Le Morte d’Arthur, basierend auf dem französischen Vulgata-Zyklus aus dem 13. Jahrhundert. Es umfasst die gesamte Geschichte Artus’ von seiner Zeugung bis zu seiner lebensgefährlichen Verwundung und seiner Entrückung nach Avalon. Dieser Text stellt die entscheidende Vermittlungsstelle für den gesamten Stoffbereich dar und nimmt in der britischen Kultur eine Stellung ein, die mit der von Grimms Märchen im deutschen Sprachraum vergleichbar ist. Nicht ausschließlich, aber doch entscheidend auf diesen Text gründet ein nationaler Identifikationsmythos, der in Großbritannien kollektiver Wissensbestand ist und außer den Elementen der mittelalterlichen Artusliteratur auch populär-esoterische Seiten wie Druiden und Steinkultur (Stonehenge) sowie Zauberwelten und reale Orte, allen voran Glastonbury, aufweist. Es gibt hier offensichtlich einen gesellschaftlichen Grundkonsens über die Epoche Mittelalter, die sich auf bestimmte Symbolträger stützt und die als für Kinder und Jugendliche erfahrenswert erachtet wird.7 Dies zeigt ein Blick in das National Curriculum for English: „Pupils should be taught how and why texts have been influential and significant, for example, the influence of Greek myths, the Authorised Version of the Bible, the Arthurian legends.“8 Wace, der französische Übersetzer der Historia Regum Britanniae, führt die Tafelrunde als festlich-harmonische Gemeinschaft aller Edlen ein und prägt damit das Bild höfischer Idealität, das zum Kernstück von Chrétiens de Troyes ‚Sozialutopie‘ werden sollte. Allerdings handelt der mittelalterliche Artusroman nicht von Artus, sondern von seinen Rittern. Artus wird zu einer weithin passiven Figur, die selbst keine Aventiuren besteht, sondern am Hof auf die Ritter und die Erzählungen ihrer Taten wartet. Der Grund für diese radikale Uminterpretation liegt in der Funktion der Romangattung begründet. Während die Geschichtsschreibung konkrete Zwecke verfolgt, hat der Roman eine diskursiv-problemorientierte Ausrichtung. Mit dieser hängt ein besonderes Verständnis von Fiktionalität zusammen, das für den hochmittelalterlichen Artusroman charakteristisch ist. Anstatt vermeintlich historische Wahrheiten wiederzugeben, ist die Struktur des Romans selbst Träger des Sinns. Die Wahrheit des Werks erschliesst sich aus dem Verständnis des Strukturschemas, innerhalb des6 7 8

Vgl. H AUG (wie Anm. 1), S. 107. INA K ARG : Ritter, Elfen, Zauberwelten. Mittelalterbilder in aktuellen Kinder- und Jugendbüchern. In: Bilder vom Mittelalter. Eine Berliner Ringvorlesung. Hrsg. von VOLKER M ERTENS /C ARMEN STANGE , Göttingen 2007, S. 155–179, hier S. 157f. http://curriculum.qcda.gov.uk (Stand 20.3.2010).

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sen die Aventiuren gleichzeitig aufeinander und auf die Gesamtstruktur bezogen werden. Der Artusroman gibt nicht vor, Geschichtsschreibung zu betreiben. Im Gegenteil: je klarer der fiktionale Charakter der Erzählung deutlich wird, desto gezielter kann der Blick des Rezipienten auf die sinntragende Struktur gelenkt werden. Der Artusroman setzt dort an, wo Artus’ Heldenweg bei Geoffrey endet: bei der Verwirklichung einer idealen ritterlichen Gesellschaft, und er fragt nach den Bedingungen, unter denen die Utopie nicht nur erreicht, sondern auch dauerhaft erhalten werden kann. In diesem Zusammenhang wird die Artuswelt immer wieder auf die Probe gestellt, indem die Balance zwischen den Extremen, auf der die arthurische Idealität beruht, von innen oder von außen ins Ungleichgewicht gebracht wird.9 In dieser Tradition steht auch der deutsche Artus-Roman, dessen prominenteste klassische Vertreter Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach sind. Tragendes Element ist die Aventiure als bewusst erstrebte, wiewohl nicht gesuchte Bewährungsprobe. Es kommt zu einer Höfisierung des Herrscherbildes, und Artus selbst wird zum Fixpunkt der höfischen Welt, indem er in seiner Tatenlosigkeit geradezu das Gegenbild zum gleichnamigen Helden der Chroniken abgibt. Im Unterschied zum englischen Sprachraum wird der Stoff des Vulgata-Zyklus in Deutschland nie richtig heimisch. Vielmehr spielt hier für die Vermittlung mittelalterlicher Stoffe Richard Wagner eine herausragende Rolle. Obwohl er in seinen Bearbeitungen nicht nur auf mittelalterliche Quellen zurückgreift, tragen seine Opern entscheidend zur Verankerung der Stoffe – im Bezug auf Artus handelt es sich vor allem um die ParzivalGeschichte – im allgemeinen Wissensbestand bei. Durch den ideologischen Missbrauch des Mittelalters vor allem für die nationalsozialistische Propaganda waren mittelalterliche Stoffe in Deutschland dann freilich lange korrumpiert. Ein nationaler Identifikationsmythos, analog zu dem in England vorhandenen, konnte sich daher nicht herausbilden. Die zeitgenössische deutsche Mittelalterrezeption ist stark durch die Übersetzung englischsprachiger Texte und damit auch durch den Artus-Stoff geprägt. Die amerikanische Artus-Rezeption steht in engem Zusammenhang mit der englischen Tradition. Als wichtigste Bearbeitung ist T. H. Whites auf Malory basierender Roman The Once and Future King zu nennen. Allerdings ist anzumerken, dass Whites Werk sich zwar an Malory orientiert, aber nicht viel Mittelalterliches übrig lässt. Mit seinem ‚Prinzip Hoffnung‘ und der Betonung eines vermeintlich idealistischen Aspekts des ArtusStoffes scheint White vor allem in der Nachkriegszeit den Nerv der ame-

9

H AUG (wie Anm. 1), S. 116f.

Die Artus-Rezeption in der Kinder- und Jugendliteratur

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rikanischen Gesellschaft getroffen zu haben. Diese Art der Wahrnehmung hat die Artusrezeption in Amerika entscheidend geprägt. Als weitere Leittexte sind Mark Twains A Connecticut Yankee at King Arthur’s Court und Marion Zimmer Bradleys The Mists of Avalon zu nennen. Einen folgenreichen Aspekt stellt auch der Camelot-Mythos der Kennedy-Administration dar, der von Jacky Kennedy direkt nach der Ermordung ihres Mannes über ein Interview verbreitet worden war. Darin wird die kurze Regierungszeit Kennedys mit der imaginären Camelot-Ära gleichgesetzt und wie diese als kurzer, aber herausragender Moment in der Geschichte verstanden.

3. Aktuelle Kinder- und Jugendliteratur Inzwischen liegen im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur unzählige Bearbeitungen mittelalterlicher Stoffe, und hier vor allem auch des Artus-Stoffs, vor. Letzterer behauptet sich als bei weitem beliebtester Gegenstand literarischer Adaptation.10 Das Spektrum der Bearbeitungen ist breit: es reicht von Bilderbüchern über Comics zu Romanen, die sich an unterschiedliche Adressatengruppen richten. Bei vielen Titeln handelt es sich um Übersetzungen aus dem Englischen. Sowohl im Bezug auf die Handlungselemente als auch auf die dargestellte Welt liegen oftmals starke Überschneidungen zwischen Adaptationen mittelalterlicher Stoffe und der Fantasy-Literatur vor. Das hier vorgestellte Korpus versteht sich natürlich keinesfalls als repräsentativ, sondern ist ausgewählt, um in einem begrenzten Rahmen ein möglichst breites Spektrum an Produktions- und Rezeptionsformen aufzuzeigen. Kevin Crossley-Holland: Artus Die Artus-Trilogie des englischen Schriftstellers Kevin Crossley-Holland besteht aus den Romanen Artus – der magische Spiegel,11 Artus – zwischen

10 11

Dies zeigt beispielsweise der Vergleich einer Suchanfrage zu Artus und zu den Nibelungen beim Online-Buchhändler Amazon: die Suchanfrage ‚Nibelungen‘ liefert 63 verschiedene Treffer, ‚Artus‘ hingegen 101. www.amazon.de (Stand 30.8.2009). Kevin Crossley-Holland: Artus – Der magische Spiegel. Übers. von A LEXANDRA ERNST, Stuttgart 2001.

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den Welten12 und Artus – im Zeichen des Kreuzes.13 Die Handlung um König Artus und seine Ritter ist eingebunden in eine Rahmenhandlung um einen zu Beginn der Geschichte zwölfjährigen Jungen, der im Jahr 1199 lebt und Ritter werden möchte. Vom mysteriösen Merlin, einem Freund seines Vaters, bekommt er einen magischen Stein geschenkt, der ihm in Episoden die Lebensgeschichte König Artus’ sowie Geschichten über die Artusritter zeigt. Crossley-Holland orientiert sich im Handlungsablauf stark an Malory, beschränkt sich aber nicht auf die Kernelemente der Handlung, auf die der Artusstoff in anderen populärkulturellen Werken oft reduziert wird – nämlich die Zeugung und Geburt Artus’, die Inzestthematik, die Lanzelot/Ginover-Handlung und den Konflikt um Mordred – sondern bezieht auch aventiuren der Artusritter, namentlich Gawains, Parzivals und Erecs, mit ein. Ein Zitat aus Crossley-Hollands Internetseite indiziert, dass er sich in Vorbereitung des Buches intensiv mit der Tradition auseinander gesetzt hat: So I began to research, and to plan. I immersed myself in books not only about the fabric of medieval life but, so much more difficult to get at, the temper and imagination of the medieval world. I read Le Ménagier de Paris’s domestic advice to his young wife and contemporary accounts of the crusades not only by Villehardouin and Robert of Clari but by Islamic writers. I read and reread Geoffrey of Monmouth, Sir Thomas Malory, Chrétien de Troyes, the lais of Marie de France, Perlesvaus, Culhwch and Olwen, the Vulgate Version, the anonymous Alliterative Morte Arthur, ranging further and further afield in search of likely candidates.14

Die profunden Kenntnisse der Überlieferung und der vielfältigen Einflüsse zeigen sich auch in Crossley-Hollands Romanen. So konzentriert er sich auf der Handlungsebene nicht allein auf die in der englischen Traditionslinie vorherrschende Lebensgeschichte Artus’, sondern bezieht sich mit den Episoden, die von aventiuren einzelner Artusritter berichten, auch auf den französischen und deutschen Artusroman. Der wichtigste Aspekt seiner Adaptation liegt allerdings nicht auf der Handlungsebene, sondern darin, dass der Artusstoff durch die Unterteilung in zwei Handlungsebenen als Literatur verhandelt wird, nicht als real- oder pseudohistorische Begebenheit. Auch dieses Vorgehen ist bewusst gewählt:

12 13 14

Kevin Crossley-Holland: Artus – Zwischen den Welten. Übers. von A LEXANDRA ERNST, Stuttgart 2001. Kevin Crossley-Holland: Artus – Im Schatten des Kreuzes. Übers. von A LEXANDRA ERNST, Stuttgart 2004. www.kevincrossley-holland.com/arthur.html (Stand 30.8.2009).

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So when and where should the historical strand be set? At the end of the twelfth and beginning of the thirteenth centuries, I thought, because this is precisely when King Arthur was about to enter the literary mainstream and become the pan-European hero.15

Crossley-Hollands Protagonist rezipiert die Geschichte von Artus und seinen Rittern zwar auf eine wundersame Weise, aber dennoch genau wie die mittelalterlichen deutschsprachigen Rezipienten der Artus-Literatur als Fiktion. Der Text leistet hier etwas, das nur wenige Bücher für junge Leser über das Mittelalter anstreben: die Thematisierung des literarischen Charakters des Artus-Stoffes. Nancy Springer: Mordred, Sohn des Artus; Ich, Morgan le Fay In ihrem Roman Mordred, Sohn des Artus wendet sich Nancy Springer Mordred zu, dem inzestuös gezeugten Sohn Artus’, der schließlich dessen Untergang besiegelt. In den meisten Quellen wird die Gestalt uneingeschränkt böse dargestellt – nicht so bei Springer. Ihr Mordred erfährt durch seinen Ziehbruder Garet von seiner Bestimmung, den Vater zu töten, und kämpft fortan dagegen an. Entgehen kann er dem Schicksal gleichwohl nicht, und so tötet er schließlich Artus. Über den ganzen Roman hinweg wird anhand von Mordreds innerem Konflikt die Frage von Selbstbestimmtheit des Individuums und Lenkung durch das Fatum verhandelt. Die Extrempole repräsentieren Nyneve, die den Schicksalsglauben als Lüge bezeichnet und den Lauf der Dinge als Ergebnis von individuellen Entscheidungen ansieht, und Morgan, die von der Macht der Vorhersehung überzeugt ist und keinerlei Handlungsspielraum für das Individuum sieht. Trotz mittelalterlicher Kulisse schrieb Nancy Springer diesen Roman ausdrücklich im Hinblick auf moderne Probleme: „And while Mordred’s story takes place in Camelot, I was thinking as I wrote of modern teens, assumed guilty, deprived of constitutional rights the moment they enter a school.“16 In Ich, Morgan le Fay17 steht hingegen Artus’ Halbschwester Morgan im Zentrum. Artus selbst spielt nur eine untergeordnete Rolle. In der literarischen Tradition existieren zwei Morgan-Bilder: eines aus der keltischen Kultur, in dem Morgan als wohltätige Heilerin dargestellt wird, und eines aus der französischen Tradition, in der sie als böse, rachsüchtige Hexe

15 16 17

www.kevincrossley-holland.com/arthur.html (Stand 30.8.2009). Nancy Springer: I am Mordred, New York 2002, Klappentext. Nancy Springer: I am Morgan le Fay, New York 2001.

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auftritt. Springers Morgan entspricht eher der ersten Darstellung. Damit findet ein Rückgriff auf die keltische Tradition statt. Dieser zeigt sich auch in der Übernahme weiterer Elemente der keltischen Mythologie wie der Götter Cernunnus und Morrigan. Mit ihrer Konzentration auf Morgan als zentrale Figur steht Springers Roman in offensichtlicher Nähe zu Marion Zimmer Bradleys Die Nebel von Avalon, allerdings ohne wie Letztere Morgan als Priesterin in eine Art Gegenreligion zum Christentum einzubinden. Springers Interesse an der Figur ist ähnlich gelagert wie das an Mordred: No wonder, then, that I chose to write about Mordred and Morgan le Fay. I had to know: What truth lay beneath the wicked woman’s surface? Fate to the contrary, no one is born evil. Morgan was not born a sorceress any more than Mordred was born a murderer. How did Morgan of Cornwall become Morgan le Fay?18

Auch hier besteht das Ziel also in der Verhandlung moderner Probleme in mittelalterlichem Gewand. Umso bemerkenswerter ist es, dass Springers Text Elemente aufweist, die Anknüpfungspunkte für eine philologisch vertretbare Beschäftigung mit mittelalterlicher Literatur bieten. So schickt Morgan den von ihr geliebten Thomas weg, worauf dieser sie um eine Aufgabe für die Fahrt bittet. Hier greift Springer ein Detail des Minne-Konzepts auf. Diese Textstelle ist nicht das einzige Exempel für die Übernahme genuin mittelalterlicher Elemente.19 Ob nun beabsichtigt oder nicht, Ich, Morgan le Fay bietet mit seiner Aneignung mittelalterlicher Muster wie Minne oder Queste die Möglichkeit zu einem tatsächlichen Dialog mit mittelalterlicher Literatur. Wolfgang und Heike Hohlbein: Die Legende von Camelot In ihrer die Bände Gralszauber,20 Elbenschwert 21 und Runenschild 22 umfassenden Trilogie erzählen Wolfgang und Heike Hohlbein ihre Version der ‚Legende von Camelot‘. Es ist die Geschichte des Küchenjungen Dulac, der sich mit Hilfe einer magischen Rüstung in den mächtigen Ritter Lanzelot verwandelt und den Verfall des arthurischen Reiches miterlebt. Dieser Verfall geschieht allerdings nicht wie in der mittelalterlichen Überlieferung dadurch, dass die gesellschaftliche Balance durch Brutalität oder

18 19 20 21 22

Wie Anm. 17, Klappentext. Vgl. KARG (wie Anm. 7), S. 169. Wolfgang und Heike Hohlbein: Gralszauber, München 2007. Wolfgang und Heike Hohlbein: Elbenschwert, München 2008. Wolfgang und Heike Hohlbein: Runenschild, München 2008.

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den absoluten Anspruch der Liebe herausgefordert würde. Vielmehr wird sie als eine Illusion dargestellt, als eine Lüge von Anfang an. Artus und seine Ritter erscheinen bereits auf den ersten Seiten als lüsterne, dekadente Säufer, deren Ruhm im Grunde nie gerechtfertigt war. Im weiteren Handlungsverlauf werden weitere Stationen des Artus-Stoffes wie die Liebe zwischen Lanzelot und Ginover (hier Gwinneth), die Entführung der Königin und schließlich die letzte Schlacht zwischen Artus und Mordred abgearbeitet. Es handelt sich allerdings eher um einen Fantasy- als um einen Mittelalterroman. Die Handlung rückt in eine phantastische Dimension, indem Artus, Mordred, Morgan, Gwinneth und Lanzelot zu ‚Elben‘ aus einer anderen Welt erklärt werden: aus Avalon, dessen Schicksal mit dem der Menschen verknüpft ist. Die Mittelalterreferenzen bleiben klischeehaft und inhaltsleer und bieten an keiner Stelle Anknüpfungspunkte an ein wissenschaftlich vertretbares Mittelalterbild. Peter Schwindt: Gwydion Bei Peter Schwindts vier Bände umfassender Serie23 handelt es sich um eine sehr freie Adaptation des Artus-Stoffes. Hauptfigur ist der Bauernjunge Gwyn (später Gwydion), der Ritter werden möchte und daher von seiner Heimat in Cornwall nach Camelot zieht, um dort das Ritterhandwerk zu erlernen. Er beginnt seine Ausbildung, verlässt Camelot aber bald wieder, um sich auf die Suche nach seiner wahren Identität zu begeben. Es stellt sich heraus, dass Gwydion der letzte Nachfahre des Fischerkönigs und damit der Gralshüter ist. Zusammen mit Sir Lanzelot, Sir Tristan und Sir Degore sowie einigen Knappen geht Gwydion auf Gralssuche, wobei er allerdings nicht der Einzige ist: sowohl Artus als auch Mordred, beide dem Wahnsinn verfallen, wollen den Gral in ihren Besitz bringen. Es kommt zum letzten, tödlichen Kampf zwischen Vater und Sohn. Gwydion hat den Gral gefunden, möchte ihn aber nicht benutzen, um Artus zu retten. Er geht nach Frankreich und überlässt Britannien den Sachsen. Im Epilog kommt sein Nachfahre Guillaume im Jahr 1066 auf die Insel: Einen Moment blieb Guillaume wie vom Blitz getroffen stehen, dann lachte er laut und aus vollem Herzen. Dies war in der Tat ein magischer Ort, an dem die Geister der Vergangenheit höchst lebendig waren. William, so hatte ihn der Alte genannt. Ein guter Name. So würde er sich fortan nennen: William, der Eroberer.

23 Peter Schwindt: Gwydion – Der Weg nach Camelot, Ravensburg 2007; Gwydion – Die Macht des Grals, Ravensburg 2007; Gwydion – König Arturs Verrat, Ravensburg 2007; Gwydion – Merlins Vermächtnis, Ravensburg 2007.

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Dabei, so dachte er, war Eroberung im Grunde das falsche Wort. Denn eigentlich hatte er Britannien nicht erobert. Eigentlich war er heimgekehrt.24

Hier zieht sich eine deutliche Rezeptionslinie zu Geoffrey und Wace, die den Artusstoff ebenfalls als Legitimationsmythos für die normannische Herrschaft nutzten. Bei Schwindt wirkt diese Grundlegung allerdings seltsam unmotiviert, da die Romane ihre Fiktionalität über alle vier Bände deutlich herausstellen und an keiner Stelle den Anspruch einer Geschichtsschreibung erheben, wie es für die Historia der Fall war. Hinzu kommt, dass mittelalterliche Themen ausgesprochen unmittelalterlich verhandelt werden, allen voran das Bild des Ritters: Camelot ist als eine Art Ritterinternat dargestellt, in dem die Knappen von den Rittern der Tafelrunde in verschiedenen Fächern unterrichtet werden. Es gleicht eher dem Zaubererinternat Hogwarts aus J. K. Rowlings Harry-Potter-Romanen als dem Artushof der Tradition. Die Konzepte von Ritterschaft und Minne sind äußerst klischeehaft. Die Alterität des Mittelalters verschwindet zugunsten von Elementen, die den jugendlichen Lesern entweder aus ihrer eigenen Lebenswirklichkeit oder aus ihrer Lektüreerfahrung bekannt sein dürften und eine hürdenfreie Identifikation mit dem Protagonisten ermöglichen.

4. Fazit Von allen vorgestellten Beispieltexten lassen sich Verweislinien zur englischen Tradition ziehen, vor allem zu Malorys Le Morte d’Arthur. Wie bereits erwähnt, ist dieses Werk in Großbritannien einer breiten Öffentlichkeit und auch vielen jungen Lesern bekannt. Dadurch wird ein gemeinsamer Wissensbestand hergestellt, auf dessen Grundlage sich alle möglichen Themen, ob mittelalterlich oder modern, verhandeln lassen. Auch deutsche Autoren greifen oft auf die englische Artus-Tradition zurück, da ein analoger nationaler Identifikationsmythos in Deutschland nicht (mehr) existiert. Der Nibelungenstoff schien zeitweise geeignet, zur Grundlage eines solchen Identifikationsmythos zu werden, diskreditierte sich jedoch spätestens durch den ideologischen Missbrauch vor allem im Rahmen der nationalsozialistischen Propaganda gründlich für solche Zwecke. Da der Artusstoff im kollektiven Wissensbestand der Deutschen nicht wie in dem der Briten verankert ist, sind die Wiederaufnahmen der insularen Traditionslinie durch deutsche Autoren bisweilen stark von klischeehaften

24 Peter Schwindt: Gwydion – Merlins Vermächtnis, Ravensburg 2007, S. 310.

Die Artus-Rezeption in der Kinder- und Jugendliteratur

423

Vorstellungen geprägt. Aber auch auf Rezipienten-Seite gestaltet sich der Dialog mit der Tradition unter Umständen schwierig: Da den deutschen Kindern und Jugendlichen der gemeinsame Wissensbestand fehlt, werden auch bei den der Tradition entsprechenden Texten Anknüpfungspunkte und mittelalterliche Motive unter Umständen nicht erkannt. Eine weitere Gemeinsamkeit vieler Erzeugnisse der modernen ArtusRezeption ist die Übernahme keltischer (Bild-)Elemente. Hierin erfolgt ein Rückgriff auf vormittelalterliche Substrate, der sich nicht auf den Artusstoff beschränkt, sondern beispielsweise auch bei aktuellen Bearbeitungen des Nibelungenstoffes häufig vorkommt. Dieses Vorgehen steht in einer deutschen Tradition des 19. Jahrhunderts, wo viele Autoren versuchten, im Vormittelalterlichen den Kern der Stoffe und das eigentlich Volkstümliche zu finden. Es bleibt zu fragen, ob sich die zeitgenössischen Adaptatoren mittelalterlicher Stoffe dessen bewusst sind. Die keltischen Facetten entstammen ferner indirekt der englischsprachigen Literatur, in der das Keltentum als Bestandteil des Artus-Identifikationsmythos auftritt, außerdem der New-Age-Subkultur. Aus didaktischer Perspektive lässt sich nun fragen, wie mit einer solchen produktiven Mittelalterrezeption umzugehen ist. Der kommerzielle Erfolg dieser Bücher ist mehr als nur ein Indiz dafür, dass diese Werke von vielen Kindern und Jugendlichen tatsächlich gelesen werden. Diese Freizeitlektüre sollte im Deutschunterricht nicht unberücksichtigt bleiben, einerseits, da sie als Teil des literarischen Erfahrungsschatzes der Leser die Art und Weise, wie Literatur rezipiert wird, beeinflusst, andererseits aber auch, weil sie möglicherweise Anknüpfungspunkte für eine unterrichtliche Auseinandersetzung mit bestimmten Formen und Themen der Literatur bietet. In diesem Zusammenhang ist gewiss auch eine qualitative Beurteilung der vorliegenden Texte notwendig. Der Umgang mit der literarischen Tradition und die Möglichkeit, über vertraute Texte einen Zugang zu weniger leicht verständlichen Texten zu finden, kann hierbei als Kriterium angesetzt werden. Eine reflektierte Auseinandersetzung mit der literarischen Überlieferung und die Fähigkeit, Charakteristika vormoderner Texte zu thematisieren, wäre bei Adaptationen mittelalterlicher Stoffe also als Qualitätsmerkmal anzusehen, während die Verwendung klischeehafter Mittelalterbilder und die Verhandlung ausschließlich moderner Themen in mittelalterlicher Kulisse eine eher geringe Qualität des Textes hinsichtlich des oben formulierten Anspruchs signalisieren würde. Es ist nicht grundsätzlich zu kritisieren, wenn Leser unterhaltende Literatur rezipieren, in denen ein klischeehafter und wissenschaftlich nicht vertretbarer Umgang mit literarischen Traditionen erfolgt. Problematisch ist nur eine Rezeptionshaltung, die davon ausgeht, aus Texten mit Mittel-

424

Iris Mende

alterbezug etwas über die historische Epoche und ihre Literatur erfahren zu können. Da Kinder und Jugendliche meist über einen geringeren literarischen Erfahrungsschatz als erwachsene Leser verfügen, stellt sich hier die Gefahr einer solchen naiven Rezeption besonders leicht ein. Daher ist es wichtig, den Schülern Wissen über die literarische Überlieferung zu vermitteln und ihnen einen kompetenten Umgang nicht nur mit Schul-, sondern auch mit privater Lektüre zu ermöglichen. Ein Deutschunterricht, der der Philologie verpflichtet bleiben will, darf sich nicht mit quantitativer Leseförderung begnügen, sondern sollte auch darum bemüht sein, ein qualitativ adäquates, d. h. auch wissenschaftlich vertretbares Bild vergangener Epochen und ihrer Literatur zu vermitteln. Nicht wenige, doch eben keineswegs alle Texte aktueller Kinder- und Jugendliteratur sind geeignet, diesem Anspruch Genüge zu tun.

INA KARG

(Keine) Freude über die ‚Lebenszeichen‘? Vermittlung von Mittelalter und seiner Literatur an die nachfolgende Generation im Deutschunterricht

1. Kein Anlass zur Aufregung? Der Historiker HORST FUHRMANN hat vor einigen Jahren gezeigt, dass überall Mittelalter ist – so jedenfalls signalisiert es der Titel seines populär gewordenen Buches.1 Wir treffen auf die entsprechenden architektonischen Spuren in Städten, wir verwenden eine Sprache, die im Mittelalter den entscheidenden Schritt zur Schriftsprache genommen hat, wir haben eine Überlieferung mittelalterlicher Texte und deren kontinuierliche Rezeption, oder doch eine immer wieder erfolgte Wiederaufnahme und Neuverarbeitung ihrer Motive, Figuren und Handlungskonstellationen. Letzteres gilt nicht nur, aber vor allem für den fantasy-Bereich der Kinder- und Jugendliteratur. Insbesondere aber gibt es die Wiederbelebung in unserer eigenen Lebenswelt: Ausstellungen ziehen interessierte Besucher aller Altersgruppen an,2 Burgen werden restauriert, zugänglich gemacht und genutzt, Märkte eingerichtet, die mittelalterliche Waren, Speisen und Getränke – oder was man dafür hält – anbieten. Das Mittelalter wird zum event. Für die Schule und die Lehrerausbildung hat ULLA REICHELT vor etwas über zehn Jahren von „Lebenszeichen nach lautlosem Begräbnis“ gesprochen.3 Mittelalterliche Literatur war aus dem Deutschunterricht nie ganz

1 2 3

HORST FUHRMANN : Überall ist Mittelalter. Von der Gegenwart einer vergangenen Zeit, München 2003. Im Winter 2009/10: Edelsteine des Mittelalters. Eine Sonderausstellung im Museum Reich der Kristalle vom 9.12.2009 bis 11.4.2010; www.lrz-muenchen.de/~Mineralogische. Staatssammlung/Mittelalter.pdf (Stand 30.3.2010). ULLA R EICHELT: Lebenszeichen nach lautlosem Begräbnis. Mittelalterliche Literatur im Deutschunterricht. In: Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 45 (1998), S. 30– 43.

426

Ina Karg

verschwunden, nie aber auch ganz unumstritten ein Teil davon. Seit den 1970er Jahren hat sie vorwiegend eine Art Nischendasein geführt und war und ist dabei einem größeren Legitimationszwang ausgesetzt als Texte jüngerer Epochen. Mittelalterliche Literatur hat eine polarisierende Wirkung: Neben ablehnenden Stimmen, die sie für den schulischen Zusammenhang als irrelevant erklären und damit eine Wechselwirkung von Nichtexistenz erzeugen – was keine Rolle in der Schule spielt, bekommt keinen Platz in der Lehrerbildung, und was angehende Lehrpersonen im Studium nicht erfahren haben, das werden sie dann auch in ihrem Unterricht nicht vermitteln –, finden sich vehemente, ja geradezu streitbare Befürworter für ihren Erhalt als einer nicht nur bedeutsamen, sondern unverzichtbaren Bildungskomponente.4 Dass allein eine Antwort auf Legitimationsfragen noch keine überzeugende Vermittlungsarbeit darstellt, richtet sich als Forderung an die Fachdidaktik als institutionell längst etablierte Vermittlungswissenschaft, solche in den Blick zu nehmen. Auch hier ist nach Zeiten der Abstinenz, deren Gründe in der Dominanz bestimmter Paradigmen des Literaturunterrichts gesehen werden können,5 neuerdings ein verstärktes Interesse festzustellen. Auch wenn man sich kultusministerielle Vorgaben für den Deutschunterricht am Gymnasium ansieht, findet man Mittelalterliches. Vergleicht man allerdings über mehrere Jahre hinweg die Entwicklung der Vorgaben, so macht man eine wichtige Beobachtung: Das Mittelalter wird in den Unterricht für immer jüngere Jahrgänge verlagert,6 und seine Bearbeitung folgt dem zunehmend vorherrschenden Trend zur sogenannten Kompetenzorientierung. Konsequenzen zeigen sich dann auch verständlicherweise sehr deutlich in den Unterrichtswerken der entsprechenden Schulstufen. Dabei mag allerdings die Zahl der Mittelalterthemen, Schwerpunkte, die Nennung kanonischer Titel und Autorennamen in Lehrwerken für den Deutschunterricht in den Sekundarstufen I und II auf den ersten Blick zumindest den Eindruck erwecken, als kämen auch gegenwärtig Schülerinnen und Schüler informiert und kompetent aus dem Unterricht. Die

4 5 6

Diesen Aussagen liegen langjährige Erfahrungen, v. a. bei der Einrichtung der neuen Studiengänge und der Formulierung von Modulkatalogen zugrunde. Zu Gründen: INA K ARG : Die Schüler bei der Stange halten? ‚Nibelungenlied‘ und Deutschunterricht. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 55 (2008), S. 400–413. Diese Aussagen beruhen auf eingehenden Beobachtungen der kultusministeriellen Vorgaben. Es ist allerdings nicht leicht, sich einen Überblick über 16 Bundesländer zu verschaffen, zumal gegenwärtig die Verkürzung des Gymnasiums auf acht Schuljahre erschwerend hinzukommt; vgl. dazu EDITH FEISTNER /INA K ARG /CHRISTIANE THIM-MABREY: Mittelalter-Germanistik in Schule und Universität. Leistungspotenzial und Ziele des Faches, Göttingen 2006, bes. S. 90 ff. Die Situation ändert sich jedoch ständig.

Vermittlung von Mittelalter und seiner Literatur im Deutschunterricht

427

Tabellen geben Aufschluss über die Situation in der Sekundarstufe I und II.7 Mittelalter in Schulbüchern – Sekundarstufe I Buch (Ausgabe und/oder Verlag)

Jahr

Jg.

Thema, Aufgabe

Seite

Deutschbuch (Bayern; Cornelsen)

2003

5

Der Kampf zwischen Gut und Böse. Wir lesen Legenden und Sagen.

224

Deutschbuch (Cornelsen)

2004

5

Helden aus früheren Zeiten (Siegfried, Tristan und Isolde)

256

Deutschbuch (Cornelsen)

2005

6

Ritter, Bauern und Soldaten

243

Praxis: Sprache und Literatur (Westermann)

2006

6

Sagen (Nibelungen)

162

Praxis: Sprache und Literatur (Westermann)

2007

8

Werkstatt Literatur (Der von Kürenberg: Der Valke)

150

Deutschbuch Neue Ausgabe (Cornelsen)

2005

6

Helden aus früheren Zeiten (Drachensagen, sagenhafte Orte)

193 201

Deutschbuch Neue Ausgabe (Cornelsen)

2008

9

Ehre und Abenteuer – Begriffe (Wolfram von Eschenbach)

108

Deutschwerk 1 (Klett)

2004

5

Wortarten (Siegfried)

205

Deutschwerk 2 (Klett)

2004

6

Sprache betrachten. Ritter und Burgen

170

Deutschwerk 3 (Klett)

2006

7

Umgang mit literarischen Texten. Helden und Heldinnen (Nibelungen, Parzival)

127

Duo Deutsch (Oldenbourg) 2006

5

Heldenhaftes. Sagen und Märchen.

159

Deutsch.ideen (Schroedel)

2006

7

Heldensagen (Siegfried bzw. Nibelungen)

Deutsch.ideen (Schroedel)

2006

9

Themenähnliche Gedichte – Liebesgedichte vergleichen (Walter von der Vogelweide: Unter der Linde)

7

91 196

Die Übersicht gibt den Stand vom Juni 2009 wieder; ferner wurden durchgesehen die Werke deutsch.punkt. Sprach-, Lese- und Selbstlernbuch. Schülerband. Erarb. von JUTTA BIESEMANN /CHRISTOPH BIRKEN, Leipzig 2006, Teile 1–3; Tandem. Ein Deutschbuch für das 8. Schuljahr. Realschule. Teil 4. Schülerband. Hrsg. von Jakob Ossner. Erarb. von R ITA BARTMANN, Paderborn 2006; Tandem. Ein Deutschbuch für das 9. Schuljahr. Realschule. Teil 5. Schülerband. Hrsg. von Jakob Ossner. Erarb. von R ITA BARTMANN, Paderborn 2007. In diesen Schulbüchern sowie in allen anderen Jahrgangsstufen der hier erwähnten Lehrwerke findet sich nichts zur mittelalterlichen Literatur.

428

Ina Karg

Buch (Ausgabe und/oder Verlag)

Jahr

Jg.

Thema, Aufgabe

Kombibuch Deutsch (Bayern; Buchner)

2005

7

Inhaltsangabe/Textzusammenfassung (Nibelungen) Epos (Nibelungen/Hartmann von Aue: Iwein/Der von Kürenberg: Falkenlied) Im Mittelalter (Mittelhochdeutsch als Sprache) Erziehung damals – Erziehung heute (Wolfram von Eschenbach) „Minne“ damals – „Liebe“ heute?

43

62

Kombibuch Deutsch (Ausgabe N; Buchner)

2008

7

Inhaltsangabe und Textzusammenfassung (Nibelungen)

P.A.U.L. D (Schöningh)

2007

7

Der Untergang der Nibelungen: Gier – Verrat – Rache

Seite

60 72 79 81

132

Mittelalter in Schulbüchern – Sekundarstufe II Buch (Ausgabe und/oder Verlag)

Jahr

Jg.

Thema, Aufgabe

Seite

Deutsch S II: KompetenzenThemen-Training (Schroedel)

2007

Sek II

Von Deutschland reden. Die Nibelungen – ein nationaler Mythos? Reflexion über Sprache (Dietmar von Aist)

274,

Texte, Themen und Strukturen (Cornelsen)

1999

Sek II

Epochen der deutschen Literatur. Vom Mittelelter zum Barock. (Walter von der Vogelweide, Gottfried von Straßburg: Tristan und Isolde)

184

Blickfeld Deutsch (Schöningh)

2003

Sek II

Mittelalter. Kapitel I: Leitbilder mittelalterlichen Lebens (Der arme Heinrich, Parzival; div. Minnelieder) Kapitel II: Die Sprachen des Mittelalters

84

176

106

Passagen (Klett)

2000

Sek II

Sprachgeschichtlicher Exkurs: Mittelalter 562 1. Der Typus des Tageliedes (Wolfram von 567f. Eschenbach) 2. minne: Das Glück zweier Herzen? 570f. (Walther von der Vogelweide)

Facetten (Klett)

2001

Sek II

Europäische Liebesszenen – von der Antike bis zur Moderne 2. Das Tagelied – eine Spielart des mittelalterlichen Minnesangs

242

Deutsch in der Oberstufe (Schöningh)

1999

Sek II

Die lyrische Form – Zum Beispiel Liebesgedichte Der von Kürenberg: Der Falke (nhd., mit begleitendem „Sachtext“)

218

Vermittlung von Mittelalter und seiner Literatur im Deutschunterricht

429

Buch (Ausgabe und/oder Verlag)

Jahr

Jg.

Thema, Aufgabe

Seite

Magazin Deutsch 1 (Buchners)

2000

11

Epochen der deutschen Literatur – Mittelalter (Walther von der Vogelweide, Physiologus, Parzival)

78

Kennwort 13 (Schroedel) 1994

13

Lyrik vom Mittelalter bis zur Gegenwart (Sachtext, Walther von der Vogelweide)

265

Arbeit mit Texten (Schroedel)

1993

Sek II

Die Rolle von Mann und Frau im Liebesgedicht – 1. Mittelalter (Der von Kürenberg, Walther von der Vogelweide)

73

Sichtweisen – Epochen (BSV)

2002

Sek II

Kapitel zum Mittelalter, unter anderem: Nibelungen Walther von der Vogelweide Rolandslied Iwein

5 8 11 14 14

Sichtweisen – Texte (BSV)

2002

Sek II

Kapitel zum Mittelalter, unter anderem: Nibelungen Parzival Tristan Physiologus Megenberg: Buch der Natur

5 7 12 21 25 26

2. Vermittlungsarbeit in Lehrwerken der Sekundarstufe II Es scheint also zunächst und so besehen für Aufregungen und Befürchtungen, eine Kenntnis mittelalterlicher Literatur würde zunehmend aus den Lehrwerken (und dem Deutschunterricht) verschwinden, kein Anlass zu bestehen. Das Bild wandelt sich jedoch, wenn man die Vermittlungsarbeit, die hierbei geleistet werden soll, genauer betrachtet. Schülerinnen und Schüler einer 11. Jahrgangsstufe, d. h. im Alter von etwa 17 Jahren und ohne die Kompetenz, die ein Studium der Mediävistik zu vermitteln den Anspruch hat, treffen beispielsweise auf folgende Texte: In der Episode aus dem ersten Buch seines Parzival erzählt Wolfram von Eschenbach die Begegnung von Parzivals Vater Gahmuret mit der Mohrenkönigin Belacane. Sie wird die Mutter von Parzivals geflecktem Halbbruder Feirefiz. Gahmuret aber zieht weiter und gewinnt Herzeloyde, die Landesherrin von Waleis (Valois). Ihrer beider Sohn ist Parzival. Seine Geschichte, in deren Zentrum die Suche nach dem sagenhaften Gral steht, erzählt Wolfram in den folgenden sechzehn Büchern seines Artusromans. Vorlage war ihm ein Werk von Chrétien de Troyes (Perceval oder Le conte du graal).8 8

Sichtweisen. Texte. Hrsg. von DIETER M AYER . Bearb. von ULRIKE BREHM, München 2002, S. 12.

430

Ina Karg

Anschließend an diese Einleitung wird eine Passage aus Wolframs Parzival in der Übersetzung Dieter Kühns präsentiert, der die Begegnung Gahmuret/Belakane zum Gegenstand hat (Buch I, vv. 22,2ff.). Das für die Sekundarstufe II konzipierte Lehrwerk Magazin Deutsch führt in die Thematik des Grals folgendermaßen ein: Bei einem ersten Kontakt mit dem Gral stellt Parzival aus Gründen der höfischen Zurückhaltung auf der Gralsburg nicht die erlösende Mitleidsfrage an den leidenden Anfortas. Schimpflich davongejagt, irrt er lange Zeit durch die Welt, immer auf der vergeblichen Suche nach dem Gral, d. i. in der mittelalterlichen Dichtung ein geheimnisvoller, heiliger Gegenstand, der seinem Besitzer irdisches und himmlisches Glück verleiht, den aber nur der Reine, dazu Vorherbestimmte, finden kann.9

Wir wissen inzwischen, dass das Lesen eines Textes als ein Prozess der Kohärenzbildung zu verstehen ist.10 Dabei greift ein Leser die Impulse eines Textes auf und verbindet sie mit seinem Vorwissen, das er hat. Je nach Umfang und Qualität sowohl des Vorwissens als auch des zu lesenden Textes, ergibt sich die Verstehensleistung als Resultat der Verarbeitung von beidem im Lektüreprozess. Appliziert auf das Beispiel der zitierten Einführungstexte aus den Schulbüchern bedeutet dies, dass sich deren Aussagen nur vor dem Hintergrund mediävistischen Wissens erschließen lassen, wenn nicht sogar korrigiert werden müssten. Wer ein solches Wissen nicht hat, wird umso mehr versuchen, aus dem Text selbst sein Verständnis abzuleiten oder sich allenfalls auf der Grundlage von möglicherweise vorhandenem Halbwissen eine wie auch immer geartete Vorstellung von dem zu machen, wovon der Text handelt. Es ist allerdings zu befürchten, dass diese Leser alleine gelassen sind, denn eine Kohärenz im Lesevorgang kann sich bei diesen Texten nur bedingt einstellen. Beide Texte sind diffus, zeugen von mangelnder Kenntnis der Bezugsliteratur und von ungenügender Wahrnehmung ihrer wissenschaftlichen Bearbeitung. Vielmehr geben sie den Eindruck einer Mixtur von Bruchstücken aus unterschiedlichen Komponenten und Bildern aus dem einstigen literarischen Feld des Artus-Gral9

10

Magazin Deutsch. Teil 1. Arbeitsbuch für das 11. Schuljahr. Hrsg. von GÜNTER GRAF / ERHARD HÖNES. Erarb. von GÜNTER GRAF, Bamberg 2000, S. 88. Die anschließende Textpassage wird in der Übersetzung von Wilhelm Hertz, Stuttgart 1959, präsentiert (sic!). Die Darstellung beruht auf einem Modell, das TEUN VAN DIJK und WALTER K INTSCH entwickelt haben, und das als Kern kognitionspsychologisch-linguistischer Forschung zum Leseverstehen betrachtet werden kann. Es ist kompatibel mit gegenwärtig vertretenen hermeneutischen Positionen; WALTER K INTSCH : Comprehension. A Paradigm for Cognition, Cambridge 1998; INA K ARG : Hermeneutik und Fortschritte im Verstehen. Kompetenzhandbuch für den Deutschunterricht. Auf der empirischen Basis des DESI-Projekts. Hrsg. von HEINER WILLENBERG , Baltmannsweiler 2007, S. 37–48.

Vermittlung von Mittelalter und seiner Literatur im Deutschunterricht

431

Komplexes und seiner Rezeptionsgeschichte, wobei das eine vom anderen nicht geschieden wird: Ein bisschen Sir Thomas Malory, ein bisschen Richard Wagner – und auch die gegenwärtige fantasy-Welt ist vertreten. Ein uninformierter Leser bekommt ein schiefes Bild oder ist irritiert; ein informierter Leser wird erst einmal eine Sortierung und Richtigstellung vornehmen. Nun mag man einwenden, dass es sich möglicherweise um unglücklich gewählte Beispiele handelt, denen weder Repräsentativität noch Symptomatik zukommt. Wenn man allerdings die Arbeitsbücher der Sekundarstufe II durchsieht, so stößt man eigentlich nur auf Irritationen. Diese betreffen zwei Aspekte. Zum einen ist das Literaturverständnis zu nennen. Unklar bleibt der Status von Literatur. Zwar wird von der „gesellschaftlichen Aufgabe“ der am Hofe vorgetragenen Werke gesprochen, doch heißt es im erläuternden Text weiter: „Das Leben in der höfischen Gesellschaft soll hôhen muot, freundliche Hochstimmung, ausstrahlen, êre galt es im ritterlichen Kampf zu erwerben, dem Kampfgefährten mussten triuwe und staete, dem Untergebenen milte entgegengebracht werden.“11 Die Verfasser dieser Erläuterungen haben kaum überlegt oder doch zumindest nicht deutlich machen können, worauf diese Aussagen bezogen werden sollen: Ist an die in den Texten präsentierte höfische Gesellschaft oder an die historisch-kulturelle Realität gedacht? Und welchen Stellenwert hat dann der Text, der den Schülerinnen und Schülern vermittelt werden soll? Die Verfasser des Lehrwerks nehmen offenbar literarische Struktur- und Handlungskomponenten für Wirklichkeit bzw. geben keinerlei Signale einer Unterscheidung zwischen beiden, wenn sie erklären: „Parzival hat sich durch Rittertaten bewährt und ist in die Nähe der Gralsburg gelangt“ – eine Aussage, die sich auf den ersten Besuch des Protagonisten auf der Gralsburg bezieht. Im selben Lehrwerk wird dann in ähnlicher Weise unter der Überschrift „Ritter und Mönch – Zwei Lebensformen des Mittelalters“ die „ritterliche Lebensform“12 durch die Gurnemanz-Szene, d. h. die nachgeholte Erziehung des Protagonisten, aus Wolframs Parzival in der Übersetzung von Dieter Kühn, vorgestellt. In anderen Werken findet man ein noch problematischeres Vorgehen: Ganz selbstverständlich ist êre Ehre, triuwe Treue, minne Liebe und âventiure Abenteuer. Mitunter wird auf die mittelhochdeutschen Ausdrücke gar nicht verwiesen, allenfalls in sprachgeschichtlichen Abschnitten, nicht aber in ihrer Funktion als Handlungs- und Strukturelemente der

11 12

Blickfeld Deutsch. Oberstufe. Hrsg. von PETER M ETTENLEITER . Paderborn 2003, S. 91. M ETTENLEITER (wie Anm. 11), S. 87.

432

Ina Karg

Geschichten, die die Texte erzählen. Die zeitliche Distanz wird nicht thematisiert, denn entweder wird implizit einfach angenommen, dass es anthropologische Grundkonstanten gibt und Männer und Frauen sich eben lieben (oder auch nicht); oder aber es wird mit einem Duktus von „Seht mal, auch damals schon …“13 jede historische Differenz überspielt. Vereinzelt findet man die Aufforderung an Schülerinnen und Schüler, die mittelhochdeutschen Begriffe nachzuschlagen. Das Lehrwerk Blickfeld Deutsch empfiehlt dabei das Mittelhochdeutsche Wörterbuch von MATTHIAS LEXER in der Ausgabe von 1956.14 Anlass für die Sprachreflexion sind aber nun nicht etwa die problematischen, vermeintlich bekannten Beispiele wie êre, minne, triuwe oder âventiure, sondern meist heutigen Lesern völlig fremde Wörter, die deswegen verschwunden sind, weil es die einschlägige Erscheinung und Verhaltensform nicht mehr gibt. Ein Beispiel dafür ist fridel, wofür ohnehin im Buch selbst eine Erklärung gegeben wird. Ohne historisch-kulturelle Erläuterung werden jedoch Schülerinnen und Schüler mit der angebotenen Reihe „Geliebter, Buhle, Bräutigam, Gatte bzw. Geliebte, Buhlin, Braut, Gattin“15 dann wiederum auch wenig anfangen können. Dass heutige Vorstellungen als selbstverständlich erachtet werden, davon zeugen auch Urteile, wie man sie im Lehrwerk Sichtweisen, Texte findet, wo der Tristan als „skandalöse Infragestellung aller gültigen Rechtsund Moralvorstellungen“ hingestellt wird, was – so weiter – „Gottfrieds Tristan zu einem der beliebtesten und zugleich auch umstrittensten Liebesromane des Mittelalters“16 machte. Wer hat darüber gestritten? Warum war der Text ‚beliebt‘? Und vor allem: Woher weiß man von der Beliebtheit? Neben dem Literaturbegriff sind – und dies zum Zweiten – insbesondere auch die Aufgabenstellungen in den Lehrbüchern irritierend: Aus den bisherigen Darstellungen ist bereits deutlich geworden, dass aus der Sicht der wissenschaftlichen Bearbeitung der Gegenstände ihre Vermittlung in den Lehrwerken höchst defizitär ist. Nun werden in den meisten Schulbüchern nicht mehr allein Textausschnitte mit mehr oder weniger umfangreichen Erläuterungen präsentiert, sondern es werden dazu auch Aufgaben zur Bearbeitung gestellt. Sie interessieren vor allem aus fachdidaktischer Perspektive. Das Lehrwerk Passagen bietet unter der Überschrift „minne: Das Glück zweier Herzen?“ eine komplexe Aufgabenstellung an. Bezugstext ist Walt-

13 14 15 16

Deutsch in der Oberstufe. Schülerband. Hrsg. u. erarb. von PETER KOHRS unter Mitarb. von GISELA DREISMANN, Paderborn 1999, S. 215. M ETTENLEITER (wie Anm. 11), S. 93. M ETTENLEITER (wie Anm. 11), S. 87. M AYER (wie Anm. 8), S. 14.

Vermittlung von Mittelalter und seiner Literatur im Deutschunterricht

433

hers von der Vogelweide bekanntes Gedicht Saget mir ieman, waz ist minne? Dazu werden folgende Arbeitsaufträge formuliert: 1. Beschreiben Sie, was für eine Beziehung zwischen Mann und Frau auf den beiden Abbildungen aus dem Codex Manesse (151r und 252r) dargestellt ist.17 2. Untersuchen Sie das Lied von Walther von der Vogelweide unter folgenden Aspekten: a) die Beziehung zwischen dem Ich und der frouwe, b) die Vorstellung des Ichs von der minne, c) die thematisierten Möglichkeiten für eine Lösung des Problems, d) die Bedeutung und die Funktion der letzten beiden Verse. 3. Betrachten Sie die Bilder im Zusammenhang mit dem, was Walther von der Minne fordert. Formulieren Sie, welche Fragen sich daraus ergeben.18

Die Aufgaben wären möglicherweise gute Aufgaben für eine MediävistikKlausur im Bachelor-Studium. Doch ist anzunehmen, dass dann Studierende bereits einschlägiges Wissen erworben und sich mit wissenschaftlichen Modellen befasst haben, mit Hilfe derer solches Wissen generiert und diskutiert wird. Damit soll ausgedrückt werden, dass nur in einem wissenschaftlichen Diskurs sinnvolle Aussagen über die gefragten Sachverhalte zu machen sind. Hier jedoch läuft der Unterricht Gefahr, zum Dilettantismus zu verkommen, wenn das erforderliche Wissen nicht vermittelt wurde. Ob dies im Schulzusammenhang in der erforderlichen Tiefe und mit Verweis auf die wissenschaftlichen Positionen überhaupt möglich ist, ist angesichts der Zeitvorgaben für das Fach zwar fraglich, wäre aber immerhin ein Auftrag, darüber nachzudenken. Das Unterrichtswerk selbst gibt allerdings keinerlei Hinweise darauf, ob und wie an eine solche Vermittlung von wissenschaftlich fundiertem Wissen gedacht ist. Aus dem Text selbst erschließt es sich jedenfalls nicht. Um die oben zitierten Fragen zu beantworten, reicht nämlich nicht einfach eine Textlektüre aus, was im Übrigen nicht nur für mittelalterliche Literatur, sondern für jeden Umgang mit Texten gilt. In diesem Fall kommt hinzu, dass die Fragen ins Zentrum wissenschaftlicher Kontroversen zielen, die jedoch eine Schülerpopulation nicht von sich aus erkennt, und an die sie erst herangeführt werden müss-

17

18

Die Bilder sind im Lehrwerk abgedruckt. Es handelt sich um Ulrich von Singenberg, Truchseß von St. Gallen: http://diglit.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848/0297?sid=5c140 3e12c0425fffa1d4d7946799566 (Stand 8.10.09). Hier ist abgebildet, wie die Frau dem Sänger den Kranz aufsetzt. Im anderen Fall handelt es sich um das Bild des Herrn Hug von Werbenwag: http://digi.ub.uniheidelberg.de/diglit/cpg848/0499 (Stand 8.10.09). Hier sitzen die dargestellten Personen in Umarmung nebeneinander. Passagen. Text- und Arbeitsbuch Deutsch Oberstufe. Hrsg. von THOMAS KOPFERMANN. Erarb. von JOACHIM BARK, Leipzig u. a. 2000, S. 577.

434

Ina Karg

te. Die eigentlich notwendige Vermittlungsarbeit wird in diesem Lehrwerk an dieser Stelle daher nicht geleistet. Ähnlich unbedarft wie mit der eben vorgestellten, vermeintlich ganz aus dem Text erschließbaren ‚Interpretation‘, wird davon ausgegangen, dass eine Kombination von Bild und Text etwas Selbstverständliches ist. Nicht bedacht wird dabei, dass eine Bebilderung ja bereits eine Textrezeption darstellt und die illustrierte Handschrift in einer Vermittlungssituation angesiedelt ist. Abgesehen davon sind diese beiden Illustrationen keine Bebilderungen des abgedruckten Gedichtes. Die Unbedarftheit gilt generell für die Art der Bebilderung im Lehrwerk: Wahllos werden romantische Darstellungen, Bilder aus der Manesse-Handschrift und Fotografien von Statuen neben die Texte gestellt. Es gibt noch eine andere Art von Aufgaben in den Lehrwerken für die Sekundarstufe II, bei denen man wahrnimmt, dass sie der gegenwärtig im Bildungskontext generell propagierten ‚Kompetenzorientierung‘ verpflichtet sind. Dazu gehört, dass man beispielsweise zeigt, wie ein Leserbrief, eine literarische Erörterung oder eine Interpretation geschrieben wird. Erst recht sind bei solchen Aufgaben die Inhalte vergleichsweise nebensächlich. Eine ‚Interpretation‘ eines mittelhochdeutschen Gedichts sieht nämlich in diesen Aufgabenstellungen nicht anders aus als die eines jeden beliebigen Textes. Vermittelt wird eine von jedem Gegenstand und Sachverhalt unabhängige Form, die aus Einleitung, Hauptteil und Schluss besteht: Beginnen sollen die Schülerinnen und Schüler mit einer „Orientierung am vertraut Erscheinenden“.19 In der Einleitung sind Name des Autors, Gattung und erster Eindruck niederzuschreiben. Der Hauptteil soll sich auf die (nach Auffassung der Aufgabenkonstrukteure im Text!) dargestellte Lebenssituation, d. h. die Rollen von Mann und Frau, und auf Sprachliches beziehen. Der Schluss soll eine Reflexion des Verstehensprozesses, eine persönliche Wertung, einen Vergleich mit anderen Texten und die Einordnung des Tagelieds in den ‚Donauländischen Minnesang‘ beinhalten. Diese literaturgeschichtliche Konstellation wird im Lehrwerk, abgesehen vom Kontext dieser Hinweise, allerdings nur ein einziges Mal erwähnt, und zwar in einer Bildunterschrift zur Abbildung des Kürenbergers aus der Manesse-Handschrift. Auch hier ist demnach die eigentliche Vermittlungsarbeit, die Grundlage für eine solche ‚Interpretation‘ sein müsste, ausgespart. Die Kompetenzorientierung bleibt ohne Kompetenz, da die Inhalte beliebig sind, und die ‚persönliche Wertung‘ wird zur dilettantischen Hochstilisierung der eigenen Befindlichkeit oder bleibt in zufälligen Gefallens- oder Missfallenskundgebungen stecken.

19

M ETTENLEITER (wie Anm. 11), S. 93.

Vermittlung von Mittelalter und seiner Literatur im Deutschunterricht

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3. Mittelaltervermittlung in der Sekundarstufe I Wie verfährt man nun mit den jüngeren Schülerinnen und Schülern? Auch die Lehrwerke und Unterrichtsmaterialien für die Sekundarstufe I sollen zunächst unter dem Blickwinkel des Verstehens angebotener Erläuterungstexte betrachtet werden. Das Deutschbuch 6 vermittelt in seiner neuen Ausgabe aus dem Jahr 2005 (S. 193) Folgendes: Am Anfang der deutschen Literatur stehen ebenso wie in der griechischen Literatur Götter- und Heldensagen. Sie erzählen, wie Mut, Tapferkeit, Ehrgefühl und Gerechtigkeitssinn nicht immer zum Sieg führen. Denn ein ungünstiges Schicksal, falsche Freunde, aber auch die eigene Blindheit bringen es mit sich, dass die Helden und Heldinnen scheitern. Das berühmteste Beispiel ist das Nibelungenlied, das im fünften Jahrhundert spielt und um das Jahr 1200 aufgeschrieben worden ist. Es erzählt von Siegfrieds Tod durch die Hand seiner Freunde aus Burgund und von der Rache, die seine Frau, die schöne Kriemhild, dafür an ihren Brüdern nimmt. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Goldschatz der Nibelungen, den Siegfried dem Zwerg Alberich abgenommen hatte und der von Hagen, dem Mörder Siegfrieds, im Rhein versenkt wurde.20

Eine unzureichend reflektierte Qualität der Texte, auf die man sich bezieht („das Nibelungenlied, das im fünften Jahrhundert spielt“), und die fehlende wissenschaftliche Grundlegung finden sich demnach auch hier. Beides wird noch dadurch verschärft, dass in der Sekundarstufe I mittelhochdeutsche Texte eher den Status von exotischen Leckerbissen führen, aber nicht wirklich Gegenstand von Vermittlung und Erkenntnis sind. Was an ihre Stelle tritt, sind Nacherzählungen. Vor allem Auguste Lechner und Franz Fühmann geben sich in den Lehrwerken zur Sekundarstufe I ein häufiges Stelldichein. Die bereits erwähnte Verlagerung von ‚Mittelalter‘ in jüngere Jahrgangsstufen, die sich in den kultusministeriellen Vorgaben seit einigen Jahren beobachten lässt, zeigt hier deutlich ihre Konsequenzen. Offenbar erachtet man den Text einer früheren Sprachstufe als zu schwer für zehn- bis fünfzehnjährige Schülerinnen und Schüler und präsentiert ihnen Neuerzählungen. Problematisch ist dabei vor allem, dass Neu für Alt genommen wird, dass die Nacherzählungen aber Geschichten erzählen, die mit den alten wenig zu tun haben: Sie harmonisieren und vermitteln vor allem im Falle von Lechner ein völlig anderes Bild der literarischen Figuren, ihrer Handlungsmotivationen und ihrer Wertewelt, als die ihrer mit-

20 Deutschbuch 6. Sprach- und Lesebuch. Gymnasium. Hrsg. von HEINRICH BIERMANN / BERND SCHURF, Berlin 2005, S. 193.

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telalterlichen Entsprechungen.21 Die ‚kindgerechte‘ Nacherzählung macht, um mit ANTONIE SCHREIER-HORNUNG zu sprechen „aus brüchigen Texten kohärente“;22 sie fördert damit – in den Worten WERNER WUNDERLICHS – „historischen Analphabetismus“ und reicht „literarische Schmalkost“.23 Durch diese Vermittlung werden Schwierigkeiten alter Texte ausgeblendet, indem einfach von gegenwärtigen Vorstellungen, beispielsweise der Geschlechterbeziehungen, des menschlichen Verhaltens, der psychologischen Motivation ausgegangen und all dies den literarischen Figuren aus einer lange zurückliegenden Zeit unterstellt wird. Weder der Literaturcharakter noch die zeitliche Distanz werden damit bedacht. Gelegentlich gibt es ein wenig Sprachreflexion, wenn beispielsweise die Herkunft einiger Wörter aus dem Französischen erläutert wird.24 Dennoch wird anschließend erneut historische Unbedarftheit gefördert, indem man Schülerinnen und Schülern erklären lässt, welche Gefühle sich bei ihnen angesichts des Wortes ‚Abenteuer‘ einstellen oder was in einer gegenwärtigen multikulturellen Klasse unter ‚Stolz‘ und ‚Ehre‘ verstanden wird. Sieht man sich neben den Texten, mit denen gearbeitet werden soll, die Aufgabenstellungen in den Lehrwerken an, so fällt als Erstes auf, dass hier die Aufträge zur Arbeit mit den Texten einen noch weitaus größeren Raum einnehmen als in den Büchern der Sekundarstufe II. Nicht unähnlich dem bereits vorgestellten Beispiel aus einem Lehrwerk für die Sekundarstufe II sind der (vermeintlichen?) Kompetenzorientierung Aufgaben verpflichtet, die andere Bereiche des Deutschunterrichts bedienen: eine Inhaltsangabe schreiben oder den Konjunktiv lernen. Nicht selten aber sind die Aufgaben einem ganz bestimmten Paradigma

21

Nicht alle Nacherzählungen sind so problematisch; doch müsste hier eine gezielte Auswahl für den Unterricht erfolgen; vgl. dazu IRIS M ENDE : „Mir scheint, die Geschichte ist unter den Menschen doch nicht so richtig überliefert worden.“ Die Nibelungen-Rezeption in der Kinder- und Jugendliteratur. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 55 (2008), S. 414– 430; dort auch weiterführende Literatur. 22 A NTONIE SCHREIER-HORNUNG : Mittelalter für die Jugend. Auguste Lechners Nacherzählungen von ‚Nibelungenlied‘, ‚Rolandslied‘ und ‚Kudrun‘. In: Mittelalterrezeption III. Vorträge des 3. Salzburger Symposions: Mittelalter, Massenmedien, neue Mythen. Hrsg. von JÜRGEN KÜHNEL u. a., Göppingen 1988, S. 181–197. 23 WERNER WUNDERLICH : „Ein Hauptbuch bey der Erziehung der deutschen Jugend …“ Zur pädagogischen Indienstnahme des Nibelungenliedes für Schule und Unterricht im 19. und 20. Jahrhundert. In: Die Nibelungen, ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum: Studien und Dokumente zur Rezeption des Nibelungenstoffs im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von JOACHIM HEINZLE /A NNELIESE WALDSCHMIDT, Frankfurt/M. 1991, S. 119–150, hier S. 133. 24 Vgl. Deutschbuch 9. Sprach- und Lesebuch. Gymnasium. Hrsg. von BERND SCHURF. Erarb. von GERD BRENNER , Berlin 2008, S. 109.

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verpflichtet, das als sogenannter handlungs- und produktionsorientierter Unterricht seit etwa dreißig Jahren die Literaturdidaktik dominiert.25 Besonders zwei Publikationen sind diesem Paradigma verpflichtet, die allerdings keine Lehrwerke darstellen, sich aber an Lehrkräfte wenden, die eine Unterrichtseinheit zum Thema Nibelungenlied in einer Sekundarstufe I planen und durchführen wollen. Die Aufgabenstellungen finden sich hier in kompakt präsentierter Form. Es sind solche, mit denen vergleichsweise und im didaktischen Prinzip auch die Lehrbücher der Sekundarstufe arbeiten. Das von ANJA STRUBE zusammengestellte Arbeitheft ist im Verlag Bergmoser und Höller erschienen und nimmt als Grundlage die Nacherzählung des Nibelungenliedes von Auguste Lechner.26 Das im Klett-Verlag publizierte Heft von KARIN POHLE beruht auf der Erzählung von Franz Fühmann.27 Exemplarisch und kursorisch seien einige Aufgabenstellungen erwähnt: – Eine Sicherung des Textverständnisses erfolgt als Multiple Choice, um Aussagen als richtig oder falsch zu erkennen, oder es werden den Schülerinnen und Schülern bestimmte Aussagen – auch in Form von Sprechblasen zu gezeichneten Köpfen – vorgelegt, die sie Textstellen bzw. Figuren zuzuweisen haben (POHLE; STRUBE). – Die Lerngruppe soll eine Figurencharakteristik als Grabinschrift für Siegfried und Kriemhild schreiben (POHLE). – Mittelalterliche Standesunterschiede sollen die Schülerinnen und Schüler lernen, indem sie einen Dialog zwischen einem Ackergaul und einem Ritterpferd schreiben (POHLE). – Hagen wird von einem Schüler in einer Talkshow gespielt, die die Klasse zum Thema „Intrigant, Freund, Schwein“ veranstalten soll (POHLE). – Die Schülerinnen und Schüler sollen einen Comic-Strip zu einer Episode des Nibelungenliedes zeichnen (STRUBE). Zu diesen Heften ist aus fachdidaktischer Sicht zu sagen, dass mit Materialien dieser Art natürlich Unterricht, auch ‚guter‘ Unterricht, zu halten ist, wenn man darunter Schüleraktivierung, vielfältige Aufgabenstellungen, Anbindung an die Lebenswelt, Einbeziehung der eigenen Erfahrungen und

25

Dazu immer noch der Standardtext: GERHARD H AAS /WOLFGANG M ENZEL /K ASPAR H. SPINNER : Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht. In: Praxis Deutsch, H. 123 (1994), S. 17–25. 26 Auguste Lechner: Die Nibelungen. Zusammengestellt von A NJA STRUBE . In: Deutsch. Unterrichtsmaterialien Sek. I, Aachen 2007, H. 4. Zu Lechner selbst wird von IRIS M ENDE (siehe Anm. 21) das Nötige gesagt. 27 Das Nibelungenlied. Neu erzählt von Franz Fühmann. Arbeitsheft zusammengestellt von K ARIN POHLE , Stuttgart 2007.

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Kooperation im Klassenzimmer versteht. Weder darf man jedoch auf die Inhalte blicken, mit denen Schülerinnen und Schüler dabei konfrontiert werden, noch die Bilder vom Mittelalter und seiner Literatur bedenken, die hier unbefragt auf ihre Richtigkeit und wissenschaftliche Verantwortbarkeit vermittelt werden. Was vielleicht Methode sein könnte, verselbständigt sich, wird zum Klamauk, und um den Gegenstand geht es nicht mehr.

4. Gibt es eine Alternative? Natürlich stellt sich angesichts dessen die Frage, was ein sinnvolles, wissenschaftlicher Modellierung verpflichtetes Programm wäre, das eine Alternative darstellt und die Sache ernst nimmt. Die folgenden Überlegungen stellen einen Versuch dar, der nur Ansätze aufzeigen kann, der aber deutlich machen soll, dass mittelalterliche Literatur mehr wert sein sollte, als für Spaß und Klamauk verramscht zu werden. Der Entwurf sieht drei Phasen vor: In einer ersten Phase, in der Schülerinnen und Schüler zunächst mit einem Text konfrontiert werden, sind ihre eigenen Zugänge, wie sie neue Verfahren der kognitionspsychologisch orientierten Lerntheorien, auf die sich auch der handlungs- und produktionsorientierte Unterricht beruft, zugelassen. Dies ist jedoch nicht Selbstzweck, sondern ermöglicht die Eröffnung eines Dialogs im Klassenzimmer. Man würde als Lehrperson mit den verschiedenen Verfahren des handlungs- und produktionsorientierten Unterrichts bei den Schülerinnen und Schülern Äußerungen über den Text initiieren. Die von den Schülerinnen und Schülern verfassten Rollenprofile, fiktive Biographien literarischer Figuren, Zeitungsartikel über das Geschehen und Ähnliches hat als unterrichtliche Arbeit den Status einer Methode. Sie dient zunächst der Lehrperson zur Diagnose bzw. als Grundlage für Gespräche. Denn auch ein produktiver Umgang mit Text beruht auf Verstehensleistungen, die Voraussetzungen haben: Das Rollenprofil, das ein Schüler von einer literarischen Figur skizziert, wird wahrscheinlich von Voraussetzungen höchst gegenwärtigen Rollenverhaltens einzelner Personen der eigenen Umgebung ausgehen; der Zeitungsartikel wird vielleicht ein Bild des Geschehens zeichnen, wie wir es aus den Interpretationsmustern der Boulevardpresse kennen. Da stets – wie oben in anderem Zusammenhang bemerkt – die Verstehensleistung von Vorwissen und Voreinstellungen abhängt, gibt diese Arbeit der Lehrperson die Möglichkeit einer Diagnose ebendieser Grundlagen, mit denen die Schülerinnen und Schüler ihre Lektüre vornehmen. Die Lehrperson wird sie im Unterrichtsgespräch dann deutlich machen und sie als einen (ersten) Dialog mit dem Text positionieren.

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Der Zweck dieser Phase besteht demnach nicht im ‚eigenen Zugang‘ und ‚eigenen Text‘, der aus Anlass eines anderen Textes produziert wurde, als solchem, im Um-, Neu- und Ausgestalten, in der Abwechslung und dem Spaß, den ‚das Lernen‘ machen soll, sondern darin, die „mentalen Modelle“,28 das Textwissen und die Vorstellungen von Literatur zu eruieren, die die Schülerinnen und Schüler mitbringen, um damit anschließend weiterarbeiten und den Verstehensprozess – den eigenen – transparent werden zu lassen, Möglichkeiten seiner Weiterentwicklung zu sehen und zu befördern. Ziel ist demnach, herauszufinden, was verstanden wird, was vermeintlich verstanden wird, und was vielleicht – hoffentlich – auch fremd geblieben ist. Eine zweite Phase soll die Wahrnehmung und Bewusstmachung der Mittelalterqualität von Texten, mit denen im Unterricht gearbeitet wird, leisten. Sie dient dem Wissenserwerb und kann sich verschiedener Instrumente bedienen, wozu beispielsweise gehören kann: – Zeigen von Bildern einschlägiger Handschriften – Beispiele aus literaturwissenschaftlichen Aussagen bei älteren Schülerinnen und Schülern – Präsentationen (durch Schülerinnen und Schüler) zugänglicher bildlicher Darstellungen – Beschaffen von Informationen aus zugänglichen Quellen wie Sachbüchern oder dem Internet – Vermittlung von Wissen über Sprache, Textmuster und Gattungen Wesentlich ist dabei das Mittelalterwissen, d. h. die Vermittlung der Wissenslogik einer anderen Zeit als der eigenen mit anderen Weltdeutungsmustern und Ausdrucksformen. Aus den Schülerarbeiten der ersten Phase kann deutlich werden, welche andere Wissenslogik vermittelt werden muss. Immer wiederkehrende Beispiele, an denen dies gezeigt werden kann, sind etwa Eltern-Kind-Beziehungen, das Rollenverhalten der Geschlechter, sozial bedingte Verhaltensmuster, die Beziehung Mensch/Gott, Einstellungen zum Körper, zu Krankheit, zur Natur. Die konkreten Arbeitsabläufe der Wissensvermittlung können verschieden erfolgen. Gängige Organisationsformen wären beispielsweise der Aufbau von Stationen mit informierendem Material, die Bildung von Expertenteams, die Durchführung von Internetrecherchen nach bestimmten Leitlinien in der Aufgabenstellung und schließlich die Gestaltung von Pinnwänden und Postern mit den einschlägigen Informationselementen. Dies können Bilder, Textausschnitte, graphische Darstellungen in Verbindung mit eigenen Texten, Kommentie-

28 Vgl. K INTSCH (wie Anm. 10).

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rungen und Zusammenfassungen der Schülerinnen und Schüler sein. Das Vorgehen hat ferner den Nebeneffekt, dass es Basisfähigkeiten und Lernstrategien entwickeln und praktizieren lässt. Dazu gehören Recherche, Informationsbeschaffung, Präsentation, Verantwortung bei der Übernahme von Aufgaben und insbesondere Metakognition, d. h. die Art und Weise, wie man zu Erkenntnissen kommt und diese auch anderen weitergibt. In einer dritten Phase sollen Schülerinnen und Schüler nun den Text in seiner historischen Situation als literarischen Text ansiedeln können. Vor allem aber sollen sie auch wahrnehmen und beschreiben können, wie sich durch den nun erfolgten Wissenserwerb ihr Verständnis vom Gegenstand, d. h. dem literarischen Text und seinen Figuren und Handlungskonstellationen, gegenüber ihrem ersten Zugang verändert hat. Konkret heißt dies: Nachdem Wissen erworben ist, soll der Text damit in Beziehung gesetzt werden. Dabei ist nicht daran gedacht, dass dieses Wissen komplett und erschöpfend ist oder sein kann. Doch wird die erste Phase dieses Vorgehens zeigen, dass und welche Wissensbestände vor allem notwendig sind und eine Lerngruppe und ihre Lehrperson dies für einen abgegrenzten Bereich einmal durchspielen kann und soll. Im Verfahren der dritten Phase werden nun also verschiedene Textstellen (erneut) betrachtet und nunmehr auf der Grundlage der Wissensbestände, die zusammengetragen und an den Pinnwänden, durch Poster oder Präsentationen dokumentiert sind, gelesen. Vor diesem Hintergrund kann dann eine Beschreibung der sozialen Beziehungen, der Bedeutung der Religion, der allegorischen Redeweise und Weltinterpretation, der Schönheit, d. h. all jener ‚mittelalterlichen‘ Erscheinungen, von denen die Texte handeln, erfolgen. Die Veränderungen in der Wahrnehmung eines Textes oder mehrere Texte – dem Unterrichtsprogramm entsprechend – sollen thematisiert werden. Je nach Lebendigkeit und Bereitschaft der Lerngruppe kann ein Gespräch geführt werden oder eine individuelle Selbstreflexion erfolgen. Die konkrete Unterrichtssituation ist so zu denken, dass Gruppen an kleinen Teilprojekten mit bestimmten Aufträgen arbeiten und sich dabei einzelne Textstellen vornehmen, die zu den Informationen über die Mittelalterqualität in Verbindung gebracht werden sollen. Eine optische Darstellung ist hilfreich, um sich vor Augen zu führen, worin Erkenntnisgewinn und Einsicht besteht. Textstellen werden ausgesucht und zu den Darstellungen und Informationen über das Mittelalterliche (aus der zweiten Phase) dazugesetzt: Es kann (soll!) zu einem Umarrangement der Pinnwände aus der zweiten Phase kommen, um damit den Erkenntnisprozess zu veranschaulichen. Ziel eines solchen Programms ist es, wahrzunehmen bzw. Schülerinnen und Schüler wahrnehmen zu lassen, dass und wie sich ein literarischer Text in seiner Zeit verorten lässt. Zugleich lernen sie, dass es erforderlich ist, Wissen zu haben und sich gegebenenfalls zu beschaffen oder es vermittelt

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zu bekommen, um ‚verstehen‘ zu können. Gerade die mittelalterlichen, vormodernen Texte geben Zeugnis von einer anderen Sicht auf Mensch und Welt als sie heutige Jugendliche gängigerweise haben. Dies ist jedoch kein Hindernis und kein Grund, das Mittelalter und seine Literatur aus dem Unterricht zu verbannen. Kein Sinn besteht jedoch darin, sich die Texte gefügig zu machen und ihre „Alterität“29 auszublenden. Das hier skizzenhaft entworfene Modell zur Literaturvermittlung ist grundsätzlich auf jeden Text jeder Epoche applizierbar. Die mittelalterlichen Texte sind jedoch gerade wegen ihrer Andersartigkeit, ja mitunter Sperrigkeit, im Unterschied zu (vermeintlich!) leichter zu rezipierenden Literaturen jüngerer Epochen besonders geeignet, auf die Bedingungen eines jeden Verstehens aufmerksam zu machen. In diesem Sinne sind sie für den Unterricht unverzichtbar.

29

Vgl. H ANS ROBERT JAUß : Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur, München 1977.

Autoren- und Werkregister

Albrecht von Halberstadt 17, 25ff., 32ff. Albrecht von Straßburg 211, 214 Andrés, Christian Carl, Felsenburg 386ff. Annolied 17, 31ff. Ariosto, Ludovico 172, 183 Arndt, Ernst Moritz, Ueber Sitte, Mode und Kleidertracht 229ff. Arnim, Achim von 90, 95, 110f., 164, 187f., 289 Aventin, Johannes 37, 48 Bechstein, Ludwig, Deutsches Sagenbuch 220 Bechstein, Reinhold, Tristan 264f. Becker, Nikolaus 289 Berenson, Bernard, Die florentinischen Maler der Renaissance 171 Boccaccio, Giovanni, Decamerone 53, 56 Bodmer, Johann Jakob 2, 8, 89, 92, 96, 101ff., 106, 248ff. Sammlung von Minnesingern aus dem schwaebischen Zeitpuncte 89, 101 Von den Gedichten ‚Twein‘ und ‚Tristran‘ 248f. Boje, Kirsten, Der kleine Ritter Trenk 407 Borchardt, Rudolf 278ff. Pisa – ein Versuch 281f. Brant, Sebastian 17, 19ff., 31ff., 46 Additio ad fridanck 20 Der Freidanck 19 ff., 32ff. Narrenschiff 19ff. Breitinger, Johann Jakob 2, 8, 89, 92, 96, 101ff., 106, 249 Brentano, Clemens 90, 95, 101, 110ff., 164, 289 Brown, Dan 11, 309ff., 328ff. The Da Vinci Code 309ff., 328ff. Illuminati 328 Bruni, Leonardo 63 Buchholtz, Hansgeorg, Erzählung aus der Zeit der Eroberung Preußens 397 Burckhardt, Jacob 166f., 169ff., 178f., 182, 274

Cadnum, Michael, Im Zeichen des Kreuzes 402f. Celtis, Konrad 11, 38ff. Chaucer, Geoffrey 204, 313 Chimani, Leopold, Geschichte der Kreuzzüge 390f. Cicero 63 Collodi, Carlo, Pinocchio 404 Colomb, Joséphine-Blanche, Franchise, Aimery au Clair Visage 394 Chrétien de Troyes 412, 415, 418, 429 Crossley-Holland, Kevin 411, 417ff. Artus – der magische Spiegel 417f. Artus – zwischen den Welten 417f. Artus – im Zeichen des Kreuzes 418 Dahn, Felix 2, 187 Dante Alighieri 93, 108, 172, 183, 258, 279, 283 David, Peter, Wählt König Artus 354 De Bruyn, Günter 1 Der Geöfnete Ritter-Platz […] 384 Die Gute Frau 59 Die Abenteuer des Ritters mit dem Rade Guy von Waleis 69 Dietrich von Bern (Druck 1577) 100, 104 Disticha Catonis 23 Dickens, Charles, David Copperfield 188 Döblin, Alfred 194 Dorst, Tankred 368, 376 Duncker, Carl 164 Eco, Umberto, Baudolino 66 Edda 124 Eichendorff, Joseph von 4, 111, 112ff., 151ff., 262, 289 Ahnung und Gegenwart 133 Auch ich war in Arkadien 161 Aus dem Leben eines Taugenichts 127, 133 Das Marmorbild 112ff., 128, 131, 133, 142f. Die Glücksritter 128, 133

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Autoren- und Werkregister

Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands 112ff. Geschichte des Dramas 141 Julian 116, 142f. Lucius 142f. Unstern 162 Eilhart von Oberg 256, 258 Einhard, Vita Karoli Magni 41ff. Falkenstein, Friedrich von, Das Ritterbuch 393 Flacius, Mathias 33, 35, 38, 48 Follett, Ken 5, 308ff. Die Säulen der Erde / The Pillars of the Earth 308ff. Die Tore der Welt / World without End 309ff. Fouqué, Friedrich de la Motte 109, 132, 147, 290 Frauenlob (Heinrich von Meißen) 210ff. Freidank, Bescheidenheit 19ff. Freytag, Gustav 4, 185ff. Bilder aus der deutschen Vergangenheit 188ff. Dank an Charles Dickens 188 Die Ahnen 185ff. Erinnerungen an mein Leben 187, 197f. Soll und Haben 185f., 188ff., 197, 207 Füetrer, Ulrich 35, 50, 68, 412 Funke, Cornelia, Igraine Ohnefurcht 5, 407 Gelzer, Heinrich, Deutsche poetische Literatur 113 Geoffrey of Monmouth 412, 414f. George, Stefan 224ff., 276ff., 282ff., 289ff. Buch der Hirten- und Preisgedichte […] 224f., 277, 292, 296 Buch der Sagen und Sänge 276ff., 292f. Das neue Reich 293, 296 Der siebente Ring 293, 294ff. Die Gräber in Speyer 301 Rhein: I–VI 294ff. Der Stern des Bundes 293 Der Teppich des Lebens 293, 296 Frauenlob 277 Maximin 276 Variations sur thèmes germaniques 292 Gervinus, Georg Gottfried 113ff., 135, 257f. Gobineau, Joseph Arthur Graf 166, 169 Gode, Götz 398 Goethe, Johann Wolfgang von 4, 90, 98, 122, 141, 190, 241 Görres, Joseph 114, 125, 153, 164, 220

Teutsche Volksbücher 164 Altteutsche Volks- und Meisterlieder 220 Goldast, Melchior 8, 33, 48 Gordon, Noah 319, 321, 327 Gottfried von Straßburg, Tristan 106, 137ff., 248ff., 255, 263ff., 428, 432 Gregorovius, Ferdinand, Geschichte der Stadt Rom in Mittelalter 169, 171, 178ff. Greif, Martin 167 Grillparzer, Franz 223 Grimm, Jacob 96f., 102, 105, 124, 155, 164, 219, 227, 255f. Grimm, Wilhelm 96, 260f. Die Brüder Grimm 96, 102, 135, 164, 219, 227, 415 Grothe, Wilhelm 166ff. Der Herzog von Valentinois 174ff., 183 Gunther, Ligurinus 40f. Hagen, Friedrich Heinrich von der 96, 104f., 218f., 251, 253, 255ff., 267 Hamerling, Robert 167 Handke, Peter 317 Happel, Eberhard Werner, Denkwürdigkeiten 132, 143 Hartmann von Aue, 80, 83, 101, 254, 264, 279, 411, 416 Der Arme Heinrich 101, 279 Erec 6, 83 Iwein 80, 411 Hein, Christoph, Die Ritter der Tafelrunde 378 Heine, Heinrich 4, 111, 113f., 138f., 146, 149, 211, 238ff., 289, 302 Die Romantische Schule 113f., 138, 146 Die schlesischen Weber 240 Deutschland. Ein Wintermärchen 146ff., 302 Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland 114, 146 Klagelied eines altdeutschen Jünglings 239f. Heinrich von Freiberg 249 Heinrich von dem Türlîn, Diu Crône 74, 80, 139, 330ff., 338, 348 Heinrich von Meißen, s. Frauenlob Heinrich von Morungen 106 Heinrich von Veldeke 80, 101, 137, 313 Helke, Fritz, Fehde um Brandenburg 397 Helms-Blasche, Anna, Heinz Treuaug 394 Heyse, Paul, Die Fornarina 170, 174 Hildebrandslied 124, 205 Historia Britonum 412ff. Hölderlin, Friedrich, Der Rhein 297, 302

Autoren- und Werkregister Hofmannsthal, Hugo von 166ff., 170ff., 183f., 274 Hohlbein, Wolfgang und Heike, Die Legende von Camelot 420f. Homer 120, 204 Hrabanus Maurus 46f. Hrotsvit von Gandersheim 35, 39 Hucbald von St. Amand 47 Hugo, Victor 194, 223f. Hernani 194 Le Rhin 223f. James, Henry, The Last of the Valerii 132 Jean Paul, Vorschule der Ästhetik 129 Jinks, Catherine 335, 400f. Jordanes, Historia Gothorum 46 Jung, Franz Wilhelm, Heinrich Frauenlob 217 Kaiserchronik 132, 143 Kantorowicz, Ernst, Kaiser Friedrich der Zweite 1, 278, 281ff., 287, 294 Klabund, Borgia. Roman einer Familie 174 König, Eberhard, Ums heilige Grab 395 König Rother 104f. Konrad von Würzburg 139, 262 Kühn, Dieter, Ich Wolkenstein 1f. Kürenberg, Der von 104, 106, 434 Lessing, Gotthold Ephraim 8, 11, 114, 300 Lichtenberg, Samuel Karoch von 51f. Epistola de amore 53, 56 Epistola iucunda 51, 53ff., 64 Historia de comite quodam ex Sopheya 51, 58ff. Griseldis 45 Lindau, Paul 164 Lindner, Albert 144 Longfellow, Henry W., Hyperion 189f. Lukan 37 Lukács, Georg 164 Machiavelli, Niccolò 148, 154 Malcolm, Georgiana 162 Malory, Thomas 347, 359 Le Morte d’Arthur 342f., 345, 352 Mann, Heinrich 143, 231 Mann, Thomas 14, 143, 158, 231, 239ff. Doktor Faustus 240f. Fiorenza 149 Gladius Dei 149 Zauberberg 239, 241 Mathias von Neuenburg, Chronik 181

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May, Karl 161 Medici, Lorenzo de’ 148 Melone, Altobello, Cesare Borgia 152 Merimée, Prosper, La Vénus d’Ille 112 Merseburger Zaubersprüche 104 Meyer, Conrad Ferdinand 8, 144f., 170 Morris, Gerald, Triumph dem tapferen Troubadour 336 Mühlstädt, Herbert, Der Geschichtslehrer erzählt 334 Münster, Sebastian, Cosmographia 31 Myller, Christoph Heinrich 210f., 214 Neuenahr, Hermann von 37ff. Niavis, Paulus, Historia occisorum in Kulm 44, 53f., 64 Nietzsche, Friedrich 166, 169, 173, 175, 293f. Menschliches, Allzumenschliches 169 Der Antichrist 169 Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben 173, 293 Nibelungenlied 6, 96, 101, 235, 246, 253f., 261, 296, 360, 435, 437 Novalis 114, 117, 127, 135ff., 143, 156ff., 162f., 272 Die Christenheit oder Europa 114, 143, 156, 158f., 272 Glaube und Liebe, oder der König und die Königin 159, 163 Heinrich von Ofterdingen 137, 157 Opitz, Martin 2, 8, 16f., 31ff., 48, 92, 103 Annolied (Editio princeps) 31ff. Buch von der deutschen Poeterey 92 Otfrid von Weißenburg, Evangelienbuch 33, 35 Ott, Inge 400 Otto von Freising 46 Ovid, Metamorphosen 25f. Pantaleo, Heinrich, Heldenbuch deutscher Nation 214 Pater, Walter 166, 169, 171, 275 Petrarca, Francesco 36, 52, 56, 63f., 93 Pfaffe Lambrecht, Alexander 137 Piccolomini, Enea Silvio 36, 52, 56 Historia de duobus amantibus 52f., 56, 64 Pirckheimer, Willibald 39 Platon, Timaios 63 Prosa-Lancelot 330, 333, 335, 338, 343f., 348

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Autoren- und Werkregister

Raumer, Friedrich von, Geschichte der Hohenstaufen und ihrer Zeit 390 Rauschnick, Gottfried Peter, Historische Bilderhalle […] 391f. Reumont, Alfred von, Toskanische Geschichte 171 Rhenanus, Beatus, 36f., 48 Ritter-Exercitien-/ Lexicon 384 Rolandslied 315, 404 Rosenkranz, Karl 257 Roth, Johann Ferdinand, 69ff., 77, 84, 86 Wieduwilt. Ein Ammenmaehrchen 69ff. Roth, Richard, Kaiser, König und Papst 393f. Rotteck, Karl von 151, 161f. Rowling, Joanne K., Harry Potter 408, 422 Rühmkorf, Peter 1 Rudolf von Ems 139, 262 Sachs, Hans 1, 11, 36, 100, 143 Savigny, Friedrich Carl von, Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter 154f. Schenkendorf, Max von 289 Schiller, Friedrich 4, 97f., 109, 123, 204 Die Götter Griechenlands 123 Die Jungfrau von Orleans 204 Kabale und Liebe 98 Schlegel, August Wilhelm 101, 122, 144, 219, 251, 254 Schlegel, Friedrich 91f., 95, 98, 101, 116, 124f., 133ff., 144, 155ff., 158f., 289 Geschichte der alten und neuen Literatur 125f. Reise nach Frankreich 158 Über die neuere Geschichte 124, 155ff. Schmid, Christoph von 388f. Schnabel, Johann Gottfried, Wunderliche Fata einiger See-Fahrer 386 Schröckh, Johann Matthias, Allgemeine Weltgeschichte für Kinder 385 Schulze, Christian Ferdinand, Historischer Bildersaal 393, 409 Schwindt, Peter, Gwydion 421f. Scott, Walter 4, 185ff., 313 Anne of Geierstein 190, 192, 196, 201, 205, 207 Count Robert of Paris 190 Ivanhoe 4, 190, 192, 196, 198f., 202ff. Quentin Durward 190, 192, 199 The Abbot 190, 193, 201f. The Betrothed 190, 205 The Fair Maid of Perth 190, 198 The Heart of Midlothian 190

The Monastery 90, 193, 196, 202 The Talisman 190, 192, 197ff., 204, 206 Waverley 190, 206, 209 Shakespeare, William 93, 121, 188, 204 Simrock, Karl, Rheinsagen 220 Sir Tristrem 256 Spangenberg, Cyriacus, Von der Edlen vnnd Hochberüembten Kunst der Musica 215 Springer, Nancy 419f. Mordred, Sohn des Artus 419 Ich, Morgan le Fay 419 Staffel, Tim, Next Level Parzival 11, 366ff. Statius 41 Steig, William 404f. Der wahre Dieb 405 Dominic. Die Abenteuerliche Reise zum verzauberten Garten 405 Roland der fahrende Sänger 404 Steinen, Wolfram von den, Helden und Heilige des Mittelalters 294 Stifter, Adalbert 4, 187, 199 Stolterfoth, Adelheid von, Rheinischer Sagenkreis 220 Der Stricker, Pfaffe Amis 54 Stumpf, Johannes, Eidgenössische Chronik 34 Sue, Eugène 193f. Sybel, Heinrich von 195 Tacitus, Germania 17, 36f., 45, 234f. Talke, Helga, Ritter von der Hubertusburg 398f. Tasso, Torquato 183 Thesmophagia 23 Thornbury, Walter 221 Tieck, Ludwig 4, 89ff., 135, 219, 235, 251, 256, 386 Brief der Minne 107f. Denkwürdige Geschichtschronik der Schildbürger 100 Der blonde Eckbert 91 Der Minnesänger 104, 107ff. Die Geschichte von den Heymons Kindern 100 Die sieben Weiber des Blaubart 91 Franz Sternbalds Wanderungen 92 Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders 93 Kaiser Octavianus 92, 100 Leben und Tod der heiligen Genoveva 92, 100 Phantasien über die Kunst 93 Phantasus 110 Prinz Zerbino 92

Autoren- und Werkregister Ritter Blaubart 91 Wundersame Liebesgeschichte der schönen Magelone 100 Trithemius, Johannes 33, 47f. Truffaut, Francois, L’Homme qui aimait les femmes 225 Twain, Mark, A Conneticut Yankee at King Arthur’s Court 417 Uhland, Ludwig 135, 231, 219, 289 Ulrich von Lichtenstein 196, 256 Vadian, Joachim 16, 37, 48 Vasari, Giorgio 172 Vergil 25, 41 Vogt, Nikelas, Heinrich Frauenlob oder der Sänger und der Arzt 217 Vulgata-Zyklus (13. Jh.) 412, 415f. Wace 412, 414ff., 422 Wagner, Richard 296, 299 Waltharilied 196, 205 Walter von Châtillon 41 Walther von der Vogelweide 104, 106, 212, 254, 263, 433 Wedekind, Frank 274 Welcker, Carl, Staats-Lexikon 151, 154

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White, Terence Hanbury, The Once and Future King 411, 416f. Wickram, Jörg 2, 11, 25ff., 31ff. Widuwilt 66ff. Wigelis 68 Wigoleis vom Rade 68 Wildt, Gernot, Wigalois, der Ritter mit dem Rade 69 William of Malmesbury, De gestis regum Anglorum 132 William, Tad 370 Otherland 370 Wilmsen, Friedrich Philipp 391 Wirnt von Grafenberg, Wigalois 66ff. Wölfflin, Heinrich, Renaissance und Barock 171 Wolfram von Eschenbach, 69, 80f., 101 138ff., 254, 256, 263f., 313, 330, 333f., 368, 372f., 376, 378f., 412, 416, 429ff. Parzival 69, 80f., 83, 101, 112, 254, 313, 330ff., 368, 372ff., 394, 429ff. Worgitzki, Max, Wolf der Struter 396f. Zimmer Bradley, Marion, The Mists of Avalon 420 Zimmern, Helen, Half-Hours With Foreign Novelists 189