Revolution und Kirche: Zur Neuordnung des Kirchenwesens im deutschen Volksstaat 9783111656946, 9783111272726


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German Pages 381 [384] Year 1919

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
I. Das Verhältnis Mischen Staat und Kirche und seine Veränderung durch die Revolution
II. Die äussere und innere Neuorganisation der Kirchen
III. Die Solgen der Trennung für das innere Leben der evangelischen Kirche
IV. Die Kirche und das Unterrichtswesen
Schlußwort
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Revolution und Kirche: Zur Neuordnung des Kirchenwesens im deutschen Volksstaat
 9783111656946, 9783111272726

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Mutwn md Ache Zur Neuordnung des Kirchen­ wesens im deutschen Voltsstaat Mit Beiträgen von Otto Baumgarten, Wilhelm Bouffet, Hlerander von Brandt, Äuguft Corde», Jlbolf Deißmann, Otto Dibelius, Karl Heim, Friedrich Mohling, Johanne» Meßer, Karl Muth, Johanne» Medner, Rudolf Otto, Martin Rade, (Ernst Rolffs, Martin Echian, Friedrich Thimme, Rrthur Litiu», (Emst Troeltsch

tzerausgegeben von

Zrle-rlch thimme

und

Ernst Rolffs

Berlin J9)9

Verlaa von Geora Reimer

Vorwort. Durch die Revolution, die die Grundlagen des ganzen Staats­

wesens in Deutschland über den Haufen gestürzt hat, ist auch die Jahrhunderte alte enge Borbinjdung zwischen Staat, Kirche und

Schule in Frage gestellt worden. Gleich die ersten Kundgebungen

der neuen revolutionären Gewalten haben die Durchführung der Trennung der Kirche von Staat und Schule angekündigt: jener alten demokratisch-bürgerlichen Forderung, die sich die Sozial­

demokratie in ihren Programmen, nicht als eine innere Konse­

quenz des sozialistischen Prinzips, sondern alb ein Mittel zum Kampf gegen den von der Kirche gestützten Staat angeeignet hat.

Zwar haben die revolutionären Machthaber unter dem Eindruck der gewaltigen, noch heute nachzitternden Erregung, die ihr ein­ seitiges und vorschnelles Vorgehen in den weitesten Kreisen defi

Volkes wachrief, sich dazu bequemt, die Lösung der Kirchenfrage

bis zu den Entscheidungen der Nationalversammlung und der ein­

zelnen Landesversammlungen zurückzustellen.

Aber es ist Ichnn

daran zu zweifeln, daß das Schwergewicht, um nicht zu sagen das Übergewicht der sozialistischen Parteien auch innerhalb der Parla­

mente zu Gunsten einer reinlichen Scheidung von Staat, Kirche und Schule in die Wagschale fallen wird. In dieser Lage gilt es für alle christlich und kirchlich ge>-

sinnten Kreise des deutschen Volkes, und nicht bloß für diese —

denn selbst für die überzeugten Anhänger des Sozialismus liegen

die Dinge keineswegs so einfach — sich über die äußerst ver­ wickelten und schwierigen Fragen, die bei der unausbleiblichen Aus­

einandersetzung zwischen Staat und Kirche in Betracht kommen, nach

IV Möglichkeit klar zu werden.

Tas Bedürfnis nach einer solchen

Klärung lebt in allen Schichten des Volkes fast ohne Unterschied

der Weltanschauungen, der Konfessionen, der Parteien; es spiegelt sich wider in den zahllosen Borträgen, die bis in Keine Ort­ schaften hinein unter lebhaftester Anteilnahme der Bevölkerung gehalten werden, wie in der Fülle der einschlägigen Aufsätze in

Presse und Zeitschriften.

Oft genug ist von den verschiedensten

Seiten der dringende Wunsch nach einem allseitig orientierenden und den Wog in die Zukunft weisenden Buche über die Trennungs­

frage ausgesprochen worden. Tas vorliegende Sammelwerk will diesem Wunsch Erfüllung bringen. In ihm haben sich mit den Herausgebern eine größere Anzahl

von Persönlichkeiten

zusammengefunden,

die

als Uni­

versitätslehrer, praktische Kirchenmänner und Schriftsteller in den Fragen des Verhältnisses von Staat, Kirche und Schule ein großes Maß von Autorität in Anspruch nehmen dürfen. Tie Absicht war

von vornherein auf eine möglichst systematische Erörterung aller in Betracht kommenden Fragen gerichtet; doch mußte, um! «in zu

starkes Anschwellen des Buches zu vermeiden, eine Beschränkung auf die hauptsächlichen Probleme erfolgen, manches lockende Thema

beiseite gestellt werden.

Auch war es nicht möglich, eine gleich­

mäßige Heranziehung der verschiedenen kirchlichen und Weltanschauungsgruppen bei der Verleihung des Stoffgebiets durchzui-

führen. Ganz unterblieben ist, nachdem einer der neuen sozialisti­

schen Kultusminister von der Darstellung des Verhältnisses der revolutionären Gewalten zur Religion und den Kirchen wieder

zurückgetreten war, eine sozialdemokratische Beteiligung. Dafür ist der Stellung des Sozialismus zu Christentum und Kirche eine um

so eingehendere historische Betrachtung von" anderer Seite gewidmet

worden, wie sich denn sämtliche Teilnehmer an der Sammelschrift bemüht

haben,

dem

sozialistischen

Standpunkt

eine

objektive

Würdigung zuteil werden zu lassen. Auch von einer paritätischen Verteilung der Kapitel auf die evangelische und die katholische Kirche mußte schon im Hinblick auf die so viel schwierigere und delikatere,

V und darum auch eine eingehendere Behandlung erfordernde Lage der evangelischen Kirche abgesehen werden;

immerhin wird der

Standpunkt der katholischen Kirche in den beiden von katholischer Seite herrührenden Beiträgen ausreichend und wirkungsvoll zur

Geltung gebracht. Sämtliche Aufsätze sind bis aus das Schlußwort schon im Januar und Februar d. I. niedergeschrieben worden.

Da aber alle Mitarbeiter ihre Beiträge nicht auf den Augenblick eingestellt,

sondern mit weitem Blick die künftige Entwicklung zu erfassen ge­ sucht haben, so hat keiner der Aufsätze an Aktualität eingebüßt. Man darf natürlich nicht erwarten, daß alle Teilnehmer an

der Sammelschrift ein und dieselbe Haltung in der Trennungsfrage

einnehmen. Das war um so weniger möglich, als sie ohne eine nähere Verabredung an das Werk gegangen sind, und als keiner von ihnen bei der eigenen Niederschrift die Ausführungen der anderen

Teilnehmer kannte. Daher kann auch keiner für die Anschauungen der anderen verantwortlich gemacht werden; jeder trägt nur die

Verantwortung für seinen eigenen Beitrag. Darin aber sind sich alle Teilnehmer an der Sammelschrift vom! ersten bis zum letzten

einig, daß die große Neuregelung des Verhältnisses von Staat

und Kirche nur mit größter Besonnenheit und Behutsamkeit, unter

weitgehender Rücksichtnahme auf die religiösen Gefühle der christ­ lichen und kirchlichen Schichten, und vor allem nur mit unbedingter

Gerechtigkeit durchgeführt werden darf. Auch darin sind sich alle

Dellnehmer einig, daß die Kirchengemeinschaften nicht etwa die Neuregelung zum Anlaß nehmen dürfen, um sich von allem staat­

lichen Leben zurückzuziehen, sondern daß sie das ganze Gewicht der moralischen und religiösen Faktoren, deren Bedeutung nach

den jüngsten Ereignissen bis weit in die Reihen der sozialistischen Partei erkannt wird, einsetzen müssen zum Wiederaufbau der zer­

rütteten staatlichen Ordnung. So erhebt sich das Sammelwerk als Ganzes zu einem machtvollen und eindringlichen Appell an die kirchlichen Gemeinschaften einerseits und die sozialistischen Parteien andererseits, nicht im Streit und Hader gegeneinander die ach! nut

-viru schwachen Kräfte unseres Bottes noch mehr zu zersplittern und »u zerreiben, sondern mit vereinten Kräften, ein jeder von seinem Standpunkt aus, für die seelische und, moralische Wiedergeburt unseres Volkes zu wirken.

Möchte diesem Appell, der aus der

tiefsten Seele aller Teilnehmer an dem Buche kommt, ein voller und weitreichender Erfolg beschieden sein! Berlin und Osnabrück, im März 1919.

Di e Herausgeber.

Jnboltsverseidmis. ______

c*u*

Vorwort Abschnitt I: Da» Verhältnis -wischen Staat und Kirch« und feine Bet» änderung durch die Revolution.

1. Dr. Friedrich Thtmme, Direktor der Bibliothek de» .Herren« haos«»^, Berlin: Da» Verhältnis der revolutionären Gewalten zur Religion und den Kirchen..................................................................1

2. D. Wtlhüm Boaffet, o. Professor an der Universität Sieben: Die Stellung der evangelischen Kirchen im öffentlich«« Leben bet Ausbruch der Revolution.....................................................................80

3. D. Otto Baumgarten, Geheimer Konfistortalrat, o. Professor an der Universität kiel: Da» Ende der StaatSlirch« da» Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung............................................................... 70 4. Professor Karl Muth, Solln n bei München: Di« Stellung der katholischen Kirche im öffentliche« Leben vor der Revolution .

83

5. D. Martin Rade, a. o. Professor an der Universität Marburg, Mit­ glied der Preußischen Land«»oersamml«ng r Die gemeinsamen Interessen der katholischen und der evangelischen Kirch« angesicht» der Trennung»frage....................................................................................110

Abschnitt II. Di« äußere und innere Neuorganisation der Kirchen. 6. Dr. Alexander von Brandt, Geheimer RegierungSrat, Berlin: Da» Lrennung»problem und di« katholische Kirche in Preußen 122 7. D. Dr. Johanne» Riedner, Geheimer Justlzrat, o. Professor an der Universität und Ob«rverwaltung»gericht»rat in Jena: Die rechtliche Stellung und finan-ielle Lage der evangelischen Lande», kirche nach ihrer Trennung vom Staat ..............................................162 8. D. Dr. Martin Schian, o. Professor an der Universität Gießen: Di« Neugestaltung der Kirchenverfassung............................................. 187

9. Lic. Dr. Otto Dibeliu», Pfarrer, Berlin: Bolkskirchenräte, Volk»« kirchenbund, PolkSkirchrndienst............................................................ 201 10. D. Arthur Tittu», Geheimer Konststorialrat, o. Professor an der Universität Göttingen: Über den Zusammenschluß der deutschm evangelischen Landeskirchen............................ 213

VIII Abschnitt III: DI« Folgen bet Trennung fftt bei evangelischen Kirche.

Innere Leben bet

e«ut

11. D. Ftiebtlch Mahltag, Geheimer Sonsiftotialtat, o. Ptofessot an bet Unioetstlät Berlin: DI« Betinnerlichung bet Kirche nnb bie Wahrung ihrer Einheit al» Bolk»ktrche............................................. 222

12. D. August (Korbe«, Oberkirchenrat, Leipzig: Di« Mobilmachung bet Laien für ble kirchliche Gemetnbearbett........................................ 232 13. D. Dr. Karl Heim, o. Professor an bet Universität Münster: Die vebeutung bet SemeinschaftSbewegung für eine staatSfrete volttkirche..................................................................................................265 14. D. Dr. Rabolf Otto, o. Professor an bet Universität Marburg, Mitglteb bet Preußischen LanbeSversammlung: Die Mission»« pflicht bet Kirche gegenüber bet religionslosen Sesellfchast . . 273 Abschnitt IV: Die Kirche nnb bat Unterricht» wes en.

16. D. Dr. Ernst Troeltsch, Geheimer RegierungSrat, Unterstaats­ sekretär nnb o. Professor an bet Universität Berlin, Mitglteb bet Preußischen Lanbesversammlung: Der Religionsunterricht unb bie Trennung von Staat unb Kirchen .............................................301 16. Lio. Ernst Rolfs», Pastor, Osnabrück: Da» Recht bet Eltern auf Religionsunterricht in bet Staatsschule................................... 825 17. D. Johanne» Meyer, o. Professor an bet Universität Göttingen: Die Pflicht bet Kirche zur religiösen Unterweisung bet Jugenb nnb ihre Anerkennung burch ben Staat..............................................338 18. D. Aböls Deißmann, Geheimer Konfiftorialrat, o. Profeffor an bet Universität Berlin: Die Zukunft bet Theologischen Fakultäten 352 19. Lio. Ernst Rolfs», Pastor, Osnabrück: Schlußwort........................ 365

I. Das Verhältnis Mischen Staat und Kirche und seine Veränderung durch die Revolution. Kapitel 1.

Das Verhältnis her revolutionären Gewalten zur Religion und Öen Kirchen. Bon Friedrich Thimme. Will man das Verhältnis der am 9. November v. I. jählings an das Ruder gelangten revolutionären Gewalten, d. h. des deut­ schen sozialistischen Proletariats zur Religion und zu den Kirchen verstehen, so muß man über die sozialistischen Parteiprogramme von Eisenach, Gotha und Erfurt hinaus, bei denen die Betrachtung zu­ meist anhebt, zurückgehen auf die Stellungnahme der Begründer und Bahnbrecher des wissenschaftlichen Sozialismus, insbesondere des Dioskurenpaars Karl Marx und Friedrich Engels, zu den geistigen und übersinnlichen Problemen.'

Es ist bekannt genug, daß Marx, so stark er in seiner Frühzeit von den Vertretern des Jung-Hegelianismus, vor allem von Ludwig Feuerbach und Bruno Bauer beeinflußt war, schließlich damit endete, die Behauptung Feuerbachs, daß die Perioden der Menschheit sich nur durch religiöse Veränderungen unterschieden, auf dm Kopf zu stellen. Marx selbst hat sein Hauptverdienst darin gesehen, das „ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesell­ schaft" entdeckt und in den Mittelpunkt aller Gesellschastslehre gerückt zu haben. Dieses Marxsche Naturgesetz besteht ganz einfach in dem Primat der materiellm Lebensbedingungen, aus denen heraus sich erst der ideologische Überbau der Welt, d. h. die ganze Summe der religiösen, moralischm, politischen und rechtlichen Vor­ stellungen entwickelt hätte. Der Marxismus kennt keine ewigen Wahrheiten, kein unwandelbares Sittengesetz, kein der Menschheit eingeborenes Gottesbewußtsein; er löst den unendlichen geistigen und sittlichen Gehalt der Geschichte in pure Klassenkämpfe auf. Revolution und Klrche.

\

2 In der religiösen Welt sieht Marx nur den Reflex der wirklichen SBelt1), ober, wie er sich mit Vorliebe ausdrückt, „religiöse Nebel­ bildungen" *), ein Machwerk des menschlichen Kopfes selbst?) Nach Engels wäre alle Moraltheorie und alle Religion lediglich das Er­ zeugnis der jedesmaligen ökonomischen Gesellschaftslage *), die „phantastische Widerspiegelung in den Köpfen der Menschen der­ jenigen äußeren Mächte, die ihr alltägliches Dasein beherrschen, eine Widerspiegelung, in der die irdischen Mächte die Form von überirdischen annehmen"?) Auch der Gottesbegriff ist dem Marxis­ mus weiter nichts als eine Projektion der ökonomischen Interessen der herrschenden Klassen ins übersinnliche. Nach dieser Auffassung muß folgerichtig jede Religion, jeder Gottesglaube seine Rolle ausgcspielt haben, sobald die erstrebte soziale Revolution die Vor­ rechte der herrschenden Klassen über den Haufen geworfen und an die Stelle des „bloß illusorischen Glückes der Religion" das materielle Glück des sozialistischen Zukunftsstaats gesetzt hat. „Wenn die Gesellschaft", so sagt wieder Engels, „durch Besitzergreifung und planvolle Handhabung der gesamten Produktionsmittel sich selbst und alle ihre Mitglieder aus der Knechtung befreit hat baun erst verschwindet die letzte fremde Macht, die sich jetzt noch in der Religion widerspiegelt, und damit verschwindet auch die

religiöse Widerspiegelung selbst, aus dem einfachen Grunde, weil es dann nichts mehr widerzuspiegeln gibt." Ähnlich Marx in seinem Hauptwerk, dem „Kapital", das man wohl als die Bibel der Arbeiterklasse bezeichnet hat: „Der religiöse Widerschein der wirklichen Welt kann nur verschwinden, sobald die Verhältnisse des praktischen Werkeltagslebens den Menschen tagtäglich durch­ sichtig vernünftige Beziehungen zueinander und zur Natur dar­ stellen. Die Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses, d. h. des materiellen Produktionsprozesses, streift nur ihren mystischen Nebelschleier ab, sobald sie als Produkt frei gesellschafteter Menschen unter deren bewußter planmäßiger Kontrolle steht." *) J) ') ') 4) ‘) ')

Maix, Da« Kapital. Volk-ausgabe (1913) I, 42. Das. S- 317 «nm. Das. S- 557. Engel«, Herrn Eugen Dühring» Umwälzung bet Wissenschaft. Das. S. 265. I, 43.

H. 72.

3 Man wird hiernach nicht umhin können, das Verhältnis von Marx und Engels zur Religion als ein durchaus negatives, um nicht zu sagen bewußt ablehnendes und gegensätzliches zu kenn­ zeichnen. In der Tat betont Engels in einem seiner früheren Aussätze einmal geradezu: „Wir haben der Religion und den reli­ giösen Vorstellungen ein für allemal den Krieg erklärt und kümmern uns wenig darum, ob man uns Atheisten oder sonst irgendwie nennt."') Das soll nun freilich nicht heißen, daß Engels und Marx beabsichtigt hätten, die Religion abzuschaffen oder zu ver­ bieten, oder auch nur den Atheismus als obligatorisch für das Proletariat zu proklamieren. Es bleibt ein starker Unterschied zwischen den Begründern des wissenschaftlichen Sozialismus und dem Begründer der anarchistischen Theorien, dem Russen Bakunin. Während dieser der Verkünder einer atheistischen Weltanschauung ist, den Kampf gegen Gott zu einem Programmpunkt seiner sozialistisch­ anarchistischen Bewegung stempelt und geradezu die Devise „Keill Herr, kein Gott" zum Feldgeschrei erhebt**), haben sich Marx und Engels stets damit begnügt, Religion und Kirche als eine quantit6 ndgligeable gleichsam in die Ecke zu stellen. Sie haben mit dein heuristischen Prinzip des historischen Materialismus so wenig eine Weltanschauung begründen wollen, daß sie sich vielmehr von allen Weltanschauungsfragen je länger je brüsker abwandten. Engels gesteht schon 1844, ein Jahr nach der Kriegserklärung gegen die Religion, daß ihn „all das theoretische Geträtsch alle Tage mehr langweile, und daß ihn jede Zeile, die man gegen die Theologie und Abstraktion wie gegen den krassen Materialismus schreiben oder lesen müsse, ärgere"?) Nicht anders erklärt Marx 1851 „Atheismus, Feuerbach usw." für ein ihn ennuyierendes Thema?) Die Indifferenz, die Marx und Engels den Weltanschauungs­ fragen, wohlgemerkt einschließlich des Atheismus und des philo­ sophischen Materialismus, der zu Unrecht oft mit der materialisti*) Mehring, Ge'chichte bet deutschen Sozialdemokratie.

5. 91. (1913) I, 190.

*) Vgl. Kawpffnieyer, Die religiöse Einigung im Sozialismus.

Sozialistisch

MonatShes'e 1912, I, 244. •) Der Brieswechsel zwischen Fr. Engel« und K. Marx.

und Ed. Bernstein I, 8. *) Das. S. 256.

HrSg. von A. Bebe

4 scheu Geschichtsauffassung des Marxismus gleichgesetzt wird, ent gegengebracht haben, hängt nahe zusammen mit chrem zuversicht-

lichen Glauben

an den baldigen Eintritt der großen sozialen

Revolution, den sie trotz des Verpuffens der bürgerlichen Revo­ lution von 1848 hartnäckig festhielten. In ihrer Überschätzung der

ökonomischen Vorgänge lebten Marx und Engels der Überzeugung, daß der nach ihrer Auffassung schon erreichte Höhepunkt der kapitalistischen Wirtschaft ehestens die ökononrische Weltkrise und

mit dieser den Eintritt der großen, alles umstürzenden, auch die überlieferten Religionsformen beseitigenden Revolution herbei­ führen werde. Wenn aber eine ökonomische Weltkrise von selbst einen religionslosen Zustand mit sich führte, was bedurfte es dann

erst des Kampfes gegen Religion und Kirche?

Mußte er vom

Standpunkt der Marx und Engels nicht wie eine Don Quichotcrie erscheinen? Man versteht, daß sie das Thema der Trennung von Staat und Kirche, das später in der Sozialdemokratie eine solche Rolle spielen sollte, gar nicht erst ausnahmen.

Nur in ihre»

frühesten Aufsätzen aus dem Beginn der vierziger Jahre, als

noch der Einfluß der Feuerbach und Bauer vorwaltete, habe» sie sich mit der Frage des Verhältnisses zwischen Staat und Reli­ gion — von der Kirche ist bei ihnen eigentlich nie die Rede besaßt und einer Emanzipation des Staates Dom Christentum,

überhaupt von der Religion das Wort geredet. Es ist in. W. noch nie festgestellt worden, daß die Keimzelle der späteren sozialisti­ schen Forderung, die die Religion zur Privatsache erklärt wissen Marx selbst

wollte, in dem Feuerbachschen Kreise zu suchen ist.

entnimmt der Schrift Bruno Bauers über „Das Judentum" (1843) den Gedanken: „Jedes religiöse Privilegium überhaupt, also auch das Monopol einer bevorrechteten Kirche müßte aufgehoben, und wenn einige oder mehrere oder auch die überwiegende Mehrzahl noch religiöse Pflichten glaubten erfüllen zu müssen, so müßte diese Erfüllung als eine reine Privatsache ihnen selbst überlassen sein." *) Aber Marx warnte doch schon, von einer Dislokation der Religion aus dem Staate in die bürgerliche Gesellschaft, aus dem öffentlichen Recht in das Privatrecht — das sollte den revolutio1, Marx, Zur Judensrage. Au« dem literarischen Nachlaß von Karl Marx. Friedrich E.igel» und Ferdinand Lassalle. Hr«g. von Franz Mehring I, 406.

6 nören Gewalten von heute eine Lehre sein! — zu viel zu erwarten: Die wirkliche Religiosität des Menschen werde durch die politische Emanzipation von der Religion keineswegs aufgehoben! Eine solche Wirkung hat Marx vielmehr, wie wir sahen, nur von der großen ökonomischen Revolution erwartet, auf die er denn auch alles Dichten und Trachten des Proletariats allein zu konzentrieren strebte. Den Einfluß, den die wissenschaftlichen Begründer des Sozialismus mit ihrer negativen Stellungnahme zu Religion und Kirche auf das deutsche Proletariat ausgeübt haben, kann man sich nicht leicht groß genug vorstellen. Zwar hat der Marxismus eigent­ lich erst seit den siebziger Jahren den Lassalleanismus in der sozialistischen Arbeiterschaft zurückgedrängt; aber gerade in der Abkehr von allen Weltanschauungsfragen, in der fortschreitenden, rapiden Materialisierung der Arbeiterschaft setzt der Einfluß des Marxismus zunächst ein. Auch Lassalle hat ja trotz seiner idealistischen Grundrichtung kein positives Verhältnis zur Religion gewonnen. In seiner berühmten „Seelenbeichte" findet sich die Bemerkung, daß er ebensowenig von der christlichen wie von der jüdischen Religion im Herzen trage.') Doch ist bei ihm nichts von der verächtlichen Beiseiteschiebung der Weltanschauungsfragen zu spüren, die Marx und Engels charakterisiert. Im Gegenteil war sein glühendes Streben dahin gerichtet, der Arbeiterschaft gerade im Zusammenhang mit ihrem ökonomischen Vorwärtsdrang, ihrer Bestimmung zum herrschenden Stande ein „würdevolles und tief sittliches Gepräge"" aufzudrücken. „Die hohe weltgeschichtliche Ehre dieser -Bestimmung"", so rief Lassalle der Arbeiterschaft in seinem sogenannten „Arbciterpro-

gramm"" (1862) zu, „muß alle Ihre Gedanken in Anspruch nehmen. Es ziemen Ihnen nicht mehr die Laster der Unterdrückten und die müßigen Zerstreuungen der Gedankenlosen, noch selbst der harm­ lose Leichtsinn der Unbedeutenden. Sie sind der Fels, auf welchem die Kirche der Gegenwart gebaut werden soll. Der hohe sittliche Ernst dieses Gedankens ist es, der sich mit einer verzehrenden Aus­ schließlichkeit Ihres Geistes bemächtigen, Ihr Gemüt erfüllen und Ihr gesamtes Leben als ein seiner würdiges, ihm angemessenes ') S. Frlgl, Ferdinand Lassalle (1911) 6. 89.

6 und immer auf ihn bezogenes gestalten muß. Der sittliche Ernst dieses Gedankens ist es, der, ohne Sie je zu verlassen, vor Ihrem Innern stehen muß in Ihrem Atelier, während der Arbeit, in Ihren Mußestunden, Ihren Spaziergängen, Ihren Zusammenkünf­ ten, und selbst wenn Sie sich auf Ihr hartes Lager zur Nuhx strecken, ist es dieser Gedanke, welcher Ihre Seele erfüllen und beschäftigen muß, bis sie in die Arme des Traumgottes hinüber­ gleitet. Je ausschließender Sie sich vertiefen in den sittlichen Ernst dieses Gedankens, je ungeteilter Sie sich der Glut desselben hin­ geben, um so mehr werden Sie wiederum — dessen seien Sie sicher — die Zeit beschleunigen, innerhalb welcher unsere gegen­ wärtige Geschichtsperiode ihre Aufgabe zu vollziehen hat/") Aus dem fast religiösen Schwünge dieser Worte wird man bereits schließen können, was der Briefwechsel Lassalles mit dem Bischof von Kctteler aus dem Januar 1864 bestätigt, daß er bereit war, bei dem Aufbau der Produktivgenossenschaften, also des sozialen Znkunftsstaates, die „religiösen und moralischen Potenzen mit­ wirken zu lassen".') Lassalles früher Tod (31. August 1864) ist es nicht allein gewesen, der dem Marxismus gerade auch in Beziehung auf die Materialisierung der Arbeiterschaft die Wege geebnet hat. Die volkswirtschaftliche Entwicklung selbst, der reißende (Strom der fortschreitenden Industrialisierung und Proletarisierung, hat in gleicher Richtung gewirkt. Es ist, wie es jüngst Günther Dehn in ergreifender Weise in seinem Aufsatz „Die Religionslosigkeit des Arbeiters und ihre Ursache" geschildert hat: „Die kapita­ listische Wirtschaftsform hat in all ihren praktischen Auswir­ kungen als der Einbruch eines antichristlichen Wesens in die Welt gewirkt, gegen den ein rein mit Waffen des Geistes geführter Angriff auf das Christentum nur wie ein harmloses Geplänkel erscheint. Der Arbeiter kam in den großen Strom der neuen Wirtschaftswelt hinein und wurde einfach herumgerissen. Es war viel mehr als nur ein Hineingezogenwerden in einen geistigen Lufthauch, es war ein Verschlungenwerden vom Strudel.... Es ging ja nicht nur mit der Religion so, auch andere ideale Güter *) F. Lassalle» Reden und Schriften. Hrsg, von Ed. Bernstein II, 48. *) «gl. H. Oncken, Lassalle. 2. Ausl. (1912) S. 465 ff.

7 gingen verloren. Vaterlands-- und Heimatsgefühle, gute alte Sitten und Überlieferungen, all das wurde verschlungen von dem un­ ersättlichen Alltagsleben, das eben alles in den Strudel seiner harten Arbeit und bitteren Sorgen mit hineinriß. Es trat tut ganzen eine jammervolle Verarmung des inneren Lebens ein, infolge deren der religiöse Strom fast gänzlich versiegte.... Die Religion kam unter die Räder der Wirtschaftsverhältnisse und ist seitdem nicht wieder aufgestanden."') Man glaube nicht, daß diese Entwicklung erst in der neuesten Zeit eingesetzt hätte. Schon im Jahre 1873 hat Fr. Engels im „Volksstaat" ausgesührt: „Der Atheismus ist so ziemlich selbst­ verständlich bei den europäischen Arbeiterparteien. Bon der großen Mehrheit der deutschen sozialdemokratischen Arbeiter kann man sogar sagen, daß der Atheismus bei ihnen sich schon überlebt hat; dies rein negative Wort hat auf sie keine Anwendung mehr, in­ dem sie nicht mehr in einem theoretischen, sondern nur noch in einem praktischen Gegensatz zum Gottesglauben stehen; sie sind mit Gott einfach fertig, sie leben und denken in der wirklichen Welt und sind daher Materialisten"?) Es ist schwer zu sagen, was den religiösen Jndifferentismus, ja Nihilismus der Arbeiterschaft mehr gefördert und verstärkt hat, die wirtschaftliche Entwicklung oder eine GesellschastÄehre, die im wesentlichen Zusammenklang mit dem philosophischen Ma­ terialismus, der um die gleiche Zeit immer mehr Eingang in die Arbeiterschaft fand, alle Religion nur für eine wesenlose Ausstrah­ lung der ökonomischen Verhältnisse erklärte, die folgerichtig die Begriffe Gott, Christentum, Sittlichkeit aus ihrem Kodex aus­ strich und ihnen vollends jedes Daseinsrecht in dem sozialistischen Zukunftsstaat absprach. So viel ist gewiß: in dem gleichen Maße, als der Marxismus die herrschende Doktrin in der Sozial­ demokratie wurde, nahm auch die Gleichgültigkeit der sozialisti­ schen Arbeiterschaft gegen alle Religion zu, um alsbald in bewußte Gegensätzlichkeit umzuschlagen. Wie konnte es auch anders sein? *) Günther Dehn, Arohstadtjugend (1919).

•) Auch A. Pannekoel, sache, dah daS

S. 44 ff.

Religion und Sozialismus (1906) konstatiert die Tat­

kämpfende sozialistisch« Proletariat im allgemeinen religionslos sei.

Ebenso H. Deubel, Sozialdemokratie und antikirchlich« Propaganda.

S. 24, 26.

8

Lag

denn nicht schon

an

sich ein

innerer

Zwiespalt zwischen

einer Religion, die ihre Bekenner lehrte, am ersten nach dem Reiche Gottes zu trachten,

das nicht von dieser Welt ist,

und

einer Gesellschaftsordnung, die die Arbeiter anwies, ihr Heil einzig und allein in einer Verbesserung ihrer ökonomischen Verhältnisse zu suchen, zwischen einer Religion der Jenseitigkeit und einen,

Lehrgebäude absolutester, materiellster Diesseitigkeit? einanderprallen

beider

Gegensätze

konnte

um

so

Ein Aus­

weniger

aus-

bleiben, je mehr es offenbar wurde, daß der Glaube von Marx und Engels an die alsbaldige Verwirklichung der ökonomisch-sozia

len Revolution eine Chimäre war.

Bekanntlich haben beide sozia­

listische Führer die Einigung Deutschlands unter der Führung

Preußens in den Kriegen von 1866 und 1870/71 als eine Förde­ rung ihrer Ideen begrüßt und von ihr eine schnellere Entwicklung der Arbeiterfrage und den Sieg des Marxismus in der Welt er­

wartet.') Aber sie übersahen dabei, daß die Gründung des Deut­

schen Reiches zunächst auch den Staat und damit den größten Gegner, das stärkste Hindernis der sozialen Revolution, auf eine neue und stärkere Basis stellte. Für die deutsche Sozialdemokratie,

die die Situation aus der Nähe weit klarer durchschaute, als die seit Jahrzehnten in England lebenden Denker Marx und Engels, ergab sich somit die Notwendigkeit, den Kampf gegen den Staat

und alle ihn direkt oder indirekt stützenden Mächte einschließlich der von jenen noch ganz ignorierten Kirche wesentlich schärfer zu ge­

stalten.

So ist es denn auch kein Zufall, wenn seit dem Jahre

1866 in den Programmen der Sozialdemokratie die dem liberal­ demokratischen Arsenal entlehnte,

den ursprünglichen Gedanken­

gängen des Sozialismus wesensfremde Forderung der Trennung

von Staat und Kirche auftaucht. Zum erstenmal findet sich die Forderung der „Trennung der

Kirche vom Staat und Trennung der Schule von der Kirche" im

Eisenacher

Programm

vom August 1869.

der

„sozialdemokratischen

Arbeiterpartei"

Zu einer Debatte über diesen Punkt scheint

es bei den Verhandlungen des Eisenacher Parteitages nicht ge­

kommen zu sein; doch kann kein Zweifel obwalten, daß die Tendenz der Forderung sich nicht sowohl gegen die Kirche als viel­

st Bgl. H. Oncken, Marz und Engel», Preußische Jahrbücher Bd. 155, S. 252.

9 mehr gegen den Staat richtete. Im Gothaer Einigungsprogramme von 1875 verschwindet die Trennung von Staat und Kirche wieder;

an ihre Stelle tritt die Forderung der „Erklärung der Religion

zur Privatsache".

Im ersten Entwurf zum Gothaer Programm

war neben der allgemeinen und gleichen Volkserziehung durch den

Staat, allgemeiner Schulpflicht und unentgeltlichem Unterricht nur

Freiheit der Wissenschaft und Gewissensfreiheit verlangt worden. An diesem Entwurs hat bekanntlich Marx in einem zur Mitteilung an A. Bebel, Wilhelm Liebknecht u. a. bestimmten Briefe an de»

Braunschweiger Arbeiterführer W. Bracke') eine überaus scharfe

Kritik geübt, die sich auch auf die kulturellen Vorschläge erstreckte. Marx verwarf die gleiche Bolkserziehung durch den Staat durch­

aus, wollte vielmehr Regierung und Kirche gleichmäßig von jedem Einfluß auf die Schule ausgeschlossen sehen.

nahme der liberalen Schlagwörter

Auch von der Auf­

„Freiheit der

Wissenschaft"

und „Gewissensfreiheit" riet Marx ab: „Wollte man zu dieser Zeit des Kulturkampfes dem Liberalismus seine alten Stichwörter zu Gemüte führen, so konnte es doch nur in dieser Form geschehen:

Jeder muß seine religiösen Bedürfnisse') (!) verrichten können, ohne daß die Polizei ihre Nase hineinsteckt.

Aber die Arbeiter­

partei mußte doch bei dieser Gelegenheit ihr Bewußtsein darüber aussprcchen, daß die bürgerliche Gewissensfreiheit nichts ist außer der Duldung aller möglichen Sorten religiöser Gewissensfreiheit,

und daß sie vielmehr die Gewissen vom religiösen Spuk zu be­ freien strebt."

Unter dem Einfluß dieses Briefes, der über die

Fortdauer der antireligiösen Gesinnung Marx' keinen Zweifel läßt,

beantragte Wilhelm Liebknecht, der über ein Jahrzehnt in Eng­ land in nahen Beziehungen zu Marx und Engels gestanden hatte

und nun der hauptsächliche Bahnbrecher für ihre Ideen in Deutsch­ land lourde, in Gotha, die Forderung der Erklärung der Religion zur

Privatsache

und

weiterhin

der

Einführung

religionsloser

Schulen in das Programm aufzunehmen'), während A. Bebel die •) Veröffentlicht von Fr. (Engel» In der »Neuen Zeit* S. 661 ff.

Jg. IX, (1891

•) Im Original steht ein noch häßlicherer, von Engel» gemilderter A ui druck. •) Dir Forderung, daß der Staat die Religion auSschllifillch al» Privatsach, auffaffen solle, um dir er sich absolut nicht zu lümmern habe, findet sich übrigen«

10

Beibehaltung des Programmpunktes von 1869: Trennung der Kircke von Staat und Schule verlangte. Es ist charakteristisch, wie Liebknecht seinen Einspruch gegen Bebel begründete. Wenn die Befürworter der Trennung auf das amerikanische Beispiel ver­ wiesen hatten, so meinte Liebknecht, gerade Amerika, woselbst sich die Geistlichkeit unter dem System der Trennung der Kirche vom Staat sehr wohl befinde — das schien also Liebknecht nicht als ein erstrebenswerter Zustand! — müsse der Sozialdemokratie zur Warnung gereichen! Der Staat dürfe die Kirche nur wie jeden anderen Verein betrachten, vor allem aber müsse er die Schule unter seine eigene Obhut nehmen. Besonderes Gewicht legte Liebknecht, ganz im Sinne Marx' auf die Erklärung der Religion zur Privat­ sache, wodurch die Forderung der Gewissensfreiheit überflüssig werde. In: wesentlichen drang Liebknecht mit seinen Darlegungen durch: in seiner schließlichen Fassung besagt das Gothaer Pro­ gramm: „Allgemeine und gleiche Bolkserziehung durch den Staat: allgemeine Schulpflicht: unentgeltlichen Unterricht in allen Bildnngsanstalten: Erklärung der Religion zur Privatsache."') Der Programmsah, der die Religion zur Privatsache er­ klärte, oder um es genau auszudrücken, der vom Staat verlangte,, daß er die Religion als Privatsache, also nicht mehr als Staats­ sache behandeln sollte, hat freilich von Anfang an in der Sozial­ demokratie viel Anfechtung gefunden. Schon seit 1871 gehörten die von der Majorität allerdings stets a limine abgelehnten An­ träge, daß der Austritt aus den bestehenden Religionsgemein­ schaften für obligatorisch erklärt werden solle, zum eisernen Reper­ toire der Parteitage. Die Tendenz dieser Anträge ist stets die­ selbe gewesen: man wollte die am Ruder befindliche Gewalt, d. h. schon in einem Borirage über das Thema .Wissen ist Macht, Macht ist

Wissen"

(S. 22. Anm), den Liebknecht im Febr. 1872 im Dresdener Arbriierbildungsverem gehalten hat. *) Auch später hat sich Liebknecht der noch wiederholt angeregten Wiederaus­

nahme des Programmpunkies .Trennung der Kirche von Staat und Schule"

stets

widersetzt, so aus dem Parteitage von 1890 m't der Begründung, daß die Erklärung der Religion zur Privatsachr und dir gleiche Erziehung du ch den Staat schon die volle Trennung mit einschlössen, aus dem Parteitage von 1891

mit dem Einwand,

daß mau mit jener Formulierung die Kirche als ein neben dem Staat bestehendes Institut anerkennen würde, was man doch nicht wolle.

11 dm Staat seiner mächtigstm Stütze betäuben. Und es ist nur natürlich, daß sich unter diesem Gesichtspunkt die Frontstellung der Sozialdemokratie gegen die Kirche verschärfte, seit mit dem Sozialistengesetz von 1878 der Kamps zwischen Staat und Sozial­ demokratie auf dem Höhepunkt anlangte. Unter der Herrschaft des Sozialistengesetzes hat die ausgesprochme Feindschaft gegen die Kirchm, die katholische so gut wie die protestantische, als die Stützen und die Werkzeuge des Klassenstaats in den Reihen der Sozial­ demokratie stark zugenommen. Man spürt das schon an den Pro­ grammveränderungen, die auf dm ersten Parteitagen nach dem Erlöschen des Sozialistengesetzes (1890) in Vorschlag gebracht wur­ den: Abschaffung aller Aufwendungen aus öffentlichen Mitteln zu kirchlichm und religiösen Zweckm, Degradierung der kirchlichen und religiösen Gemeinschaften zu privaten Bereinigungen, aus­ drückliche Festlegung der „Weltlichkeit der Schuld. Auffallend ist, daß in dem dem Erfurter Parteitage (1891) vorgelegten Entwurf des neuen Programms der Passus des Gothaer Programms „Er­ klärung der Religion zur Privatsache" gestrichen war. Indessen wurde er im Laufe der Verhandlungen aus taktischen Gründen von neuem eingefügt. Wie Liebknecht auf dem Parteitage als Referent ausführte, hätte er selbst, der doch ursprünglich die Auf­ nahme dieses Passus in das Gothaer Programm durchgesetzt hatte, sich jetzt lange gesträubt, „diese nur durch praktische Rücksichten ge­ botene, ihrem Inhalt nach selbstverständliche Erklärung in das Programm aufzunehmm". Entscheidmd für die Wiedereinfügung war lediglich die Befürchtung, daß ein Fallenlassen dieses Pro­ grammpunktes den „systematischen Verdächtigungen" der Stellung der Sozialdemokratie zur Religion, als ob die Partei diese ge­ waltsam unterdrücken wolle, Nahrung zufügen könne. Die Er­ klärung der Religion zur Privatsache ist also nach dem eigenen Geständnis des sozialdemokratischen Führers weiter nichts als ein Schutz- und Aushängeschild gegen die „frommen Lügen von der Religionsfeindlichkeit der Sozialdemokratie *); ihr eigentlicher Zweck *) Später hat man sich aus sozialdemokratischer Seite ost dagegm verwahrt, daß der Programmpunkt: Erklärung der Religion zur Privatsache nicht emst gemeint gewesen sei. So v. Bollmar aus dem Münchener Parteitage 1902: Der Punkt des Programme- über die Religion ist genau so bindend wie jeder andere; er ist

12 galt, wieder nach einer Äußerung Liebknechts, der Propaganda in den der Bewegung nicht recht zugänglichen Landbezirken, wo die Religion, insbesondere der Katholizismus, in dem die Sozial­ demokratie ihren stärksten Feind erkannte, „noch eine Macht ist". Auch der von Liebknecht zu dem Passus des Programmentwurfs: „die kirchlichen und religiösen Gemeinschaften sind als private Vereini­ gungen zu betrachten" in Vorschlag gebrachte Zusatz: „welche ihre Angelegenheiten vollkommen selbständig ordnen", bezweckte nur, „daß die Katholiken nicht sagen können, wir wollten sie vergewaltigen", er ist also nicht etwa einem Wohlwollen für die Kirche entsprungen. Im Gegenteil lassen Liebknechts rednerische Ausführungen ans den Parteitagen von 1890 und 1891 — diesem Eindruck wird sic!> kein unbefangener Leser der Parteiprotokolle entziehen können immer wieder zwischen den Zeilen lesen, wie ablehnend, um nicht geradezu zu sagen, wie feindselig die Stimmung im sozialdemokrati­ schen Lager gegen Kirche und Religion in der Ära des Sozialisten­ gesetzes gewordm war. Mit Nachdruck wahrt sich Liebknecht gegen den in der Parteiversammlung laut gewordenen Borwurf, als ob das sozialdemokratische Programm, indem es nicht den Atheisinus auf seine Fahne schreibe, nicht Farbe bekenne. „Bekennt unser Programm nicht Farbe, stellen wir uns nicht auf den Boden der Wissenschaft? Und weiß nicht jeder denksähige Mensch, der weiß, was Wissenschaft ist, daß Wissenschaft und Religion unvereinbare Gegensätze sind? Durch den wissenschaftlichen Charakter der Partei ist jede Mißdeutung nach dieser Richtung beseitigt." Liebuicht au- taktischen Gründen ausgenommen,

sondern ei ist uns ernst mit unserer

Stellung zur Religion. Mit besondern Emphase versichert Immer wieder Paul Göhre,

daß die Erklärung

der Religion zur Privatiache

Formulierung absolutester

und

weltrr nicht- al-

allseitigster Toleranz"

sei

die

„praktische

(Vgl. Göhre,

Schule,

Kirche und Arbeiter (1906) S. 12; Die neueste Kirchenau-tritl-bewegung au- der Lande-kirchr in Deutichland (1909)

S. 19 f).

Aber man wirb doch Liebknecht

al- den berufensten Interpreten de- Ersurler Programm- anzusehen baben, und besten obm angeführte Äußerungen lasten gar keinen Zweifel daran, daß bei der

Erklärung der Religion zur Prlvatsachc der taktisch« Gesichtspunkt stand.

Der Grundsatz

der

Gewissen-sreiheil

im Vordergrund

und Toleranz dagegen

kam,

wie

schon die AuSmerzung dieser Begriffe au- dem Programm ven 1875 lehrt, erst tu

zweiter Linie.

BollmarS und Göhre- Äußerungen, die natürlich ganz aufrichtig ge­

meint sind, beweisen nur, daß sich in der Sozialdemokratie seit 1891 riue Wandlung

im Sinne größerer Neutralität und Toleranz vollzogen hat.

13 knecht sagt der Kirche auch offene Fehde an, mindestens sofern sie eine Stütze und ein Instrument des Klassenstaats sei. Aller­ dings warnt er davor, den Hauptkampf gegen die Kirche, die doch gleichsam nur ein Außenposten der Feste Staat und Gesellschaft sei, zu führen. „Jeder General, der den Feind schlagen will, vergeudet seine Kräfte nicht in einer untergeordneten Position, die für das Ganze keine ausschlaggebende Bedeutung hat, sondern er packt den Schlüssel der feindlichen Position, nach dessen Fall alles andere fallen muß. Statt mit Nebensachen die Kirche zu zersplittern, packen wir die ökonomische Basis an, auf welcher der Klassenstaat mitsamt den Kirchen oder Konfessionen und dem Pfaffentum steht; fällt die Basis, dann fällt alles andere mit." Auch Liebknecht huldigt also der Auffassung Marx', daß mit dem Aushören der kapitalistischen Produktionsweise alle Religion im Handumdrehen erledigt sei, eine Auffassung, die ein vielfältiges Echo auf dem Parteitage und späterhin findet: ja, loenn wir einmal den sozialistischen Staat haben, werden wir sehr leicht mit der Religion und der Kirche, der protestantischen wie der katholischen, fertig werden! Inzwischen will aber doch auch Lieb­ knecht mit dem Feldzug gegen die Kirche beginnen. Zwar nicht mit offener Gewalt und Unterdrückung; denn die damaligen sozialdemo­ kratischen Führer, die das Beispiel der französischen Revolution ‘) und des Kulturkampfes vor Augen hatten, waren klug genug, um zu wissen, daß Angriffe auf die Religion sie nur stärken, daß „auch Verhöhnung eines Vorurteils stets töricht und unpolitisch ist und dem Vorurteil nur neue Kraft zuführen kann". Immer wiedelbetont Liebknecht, wie unmöglich es sei, eine Idee, und wäre sie auch eine falsche, mit Gewalt zu überwinden oder durch irgend einen Machtspruch wegzudekretieren. Das Instrument, mit dem *) Vgl. auch Liebknecht« Reichstagsrede vom 11. Ja». 1887: „So lange ich jung war, gehörte Ich zu denjenigen, welche glaubten, man könne vermittelst energi­ scher Maßnahmen mit der Kirche leicht fertig werden. Da lernte ich aber au- der Geschichte der französischen Revolution, wie von dem Momente an, wo die revolu­ tionäre Regierung anfing, den Katholiken in das Gewissen etnzugrrisen, ihr religiöses Gefühl zu verletzen, der Widerstand gegen dir Revolution zunahm, wie d'e Vendse geschaffen wurde, wie trotz der titaniichen Gewaltanstrengungen der Republik, welche obendrein die modernen Ideen In ihrem Dienste hatte, e- doch vollständig unmöglich gewesen ist, der katholischen Kirche, de» Katholizismus Herr zu «erden.-

14 er neben der finanziellen Aushungerung den Kampf gegen die Kirche zu führen vorschlägt, ist vor allem die Schule. „Der Reli­ gion können wir bloß dadurch zu Leibe gehen, daß wir die Reli­ gion des Einzelnen ruhig Religion sein lassen, ihm aber Wissen beibringen; die Schule muß gegen die Kirche mobilisiert werden, der Schulmeister gegen den Pfaffen; richtige Erziehung beseitigt die Religion." „Unsere Partei ist eine Partei der Wissenschaft. Die Wissenschaft steht der Religion feindlich gegenüber; aber sie kann und will sie nicht niederschlagen. Die Wissenschaft sorgt für gute Schulen, das ist das beste Mittel gegen die Religion." Scharf unterstreicht daher Liebknecht in seiner Programmrede die volle Weltlichkeit der Schule. „Das heißt, daß die Kirche, daß die Reli­ gion mit der Schule absolut nichts zu tun hat." Allenfalls will Liebknecht gestatten, daß es den Eltern unbenommen bleiben solle, ihre Kinder in der Religion, die sie haben, selbst zu unterrichten oder unterrichten zu lassen; in den weltlichen Schulen aber, deren Besuch obligatorisch ist — Privatschulen sollen also nicht geduldet sein! —, darf keine Religion gelehrt werden. Man sieht an Liebknechts Äußerungen, deren pointierte Stellungnahme gegen Religion und Kirche kaum noch mit dem Grundsätze „Religion ist Privatsache" verträglich erscheint, wie stark unter der aufreizenden Nachwirkung des Sozialistengesetzes von dem ursprünglichen Standpunkt des „Marxismus", der von Haus aus weiter nichts sein wollte als eine rein ökonomisch-soziale Beivegung, und der jede Ablenkung von den ökonomischen Problemen perhorresziertc'), abgewichen werden mußte. Charakteristisch ist, daß sich 1890 auf dem Hallenser Parteitage mancherlei Stimmen erhoben, denen die Stellungnahme Liebknechts noch nicht weit *) Cb btefer Beschränkung deS Marx'Smu» auf die ökonomischen Probleme schon die takltiche Absicht zu Grunde lag,

desto

leichter die Bereinigung der Proletarier

aller Länder, die durch Weltanschauung-streitigkeiten nur ausgehaiten werden konnte, herbeizuiühren, läßt sich nicht erweisen, da sich Marx und Engels kaum darüber geäußert

haben.

Bei ihren Nachfahren aber tritt diese» Bestreben bewußt in den Vordergrund.

Bgl. K Koutsky, Die Sozialdemokratie und die katholische Kirche (1906).

S. 30:

»Wir müssen den Proletariem zeigen, daß der Klassengegensatz stärker ist al» alle religiisten Verschiedenheiten, müssen ihr Interesse sür kirchliche oder theologische Fragen

nicht stärken sondern e» mindern, indem wir ihre Aufmerksamkeit

de» materiellen Leben» konzentrieren."

aus

dir Fragen

16 genug ging, und die es lieber gesehen hätten, wenn die Partei offen und ehrlich als solche erklärte, „daß wir als Revolutionäre auf dem Standpunkt der Wissenschaft stehend, nichts mit den alten Hirngespinnsten, mit denen die Pfaffen unsere Ziele, unsere Pläne durchkreuzen, gemein haben". Im folgenden Jahre, auf dem Erfurter Parteitage, als die Erregung über das Sozialistengesetz in etwas abgeflaut war, hat sich irgendwelcher Widerspruch gegen das Prinzip: Erklärung der Religion zur Privatsache nicht mehr geregt. Der Programmentwurf wurde vielmehr einstimmig zuin definitiven Programm der sozialdemokratischen Partei Deutschlands erklärt und ist es bis auf den heutigen Tag geblieben. So gilt denn nach wie vor der vielzitierte Paragraph 6: „Erklärung der Religion zur Privatsache. Abschaffung aller Aufwendungen aus öffentlichen Mitteln zu kirchlichen und religiösen Zwecken. Die kirchlichen und religiösen Gemeinschaften sind als private Ber­ einigungen zu betrachten, welche ihre Angelegenheiten vollkommen selbständig ordnen." Freilich ist die Diskussion über diesen Paragraphen auch seit 1891 kaum zur Ruhe gekommen. Namentlich die freidenkerischen Kreise innerhalb der Sozialdemokratie haben zu wiederholten Malen auf den Parteitagen die Abschaffung des der Agitation doch eine gewisse Schranke setzenden Satzes: Erklärung der Religion zur Privatsache verlangt. Es verdient hervorgehoben zu werden, das; einer der hauptsächlichsten Gegner der Bestimmung der nunmehr verflossene Kultusminister Adolph Hoffmann gewesen ist. Schon 1892 hat er auf dem Parteitage zu Berlin beantragt, den Punkt „Religion ist Privatsache" durch die Bestimmung zu ersetzen: „die Religionen und deren Lehrer sind überall dort zu bekämpfen, wo dieselben dem Fortschritt der Wissenschaft entgegentreten oder die nach der Erlösung aus wirtschaftlicher und politischer Knecht­ schaft ringende Menschheit an der Erreichung dieses Zieles zu hindern suchen". Ebenso trat Hoffmann auf dem Parteitage zn Leipzig 1909 lebhaft für einen Antrag ein, der den Parteigenossen den Austritt aus der Landeskirche dringend empfohlen sehen wollte. Bekannt ist, welche Rolle Adolph Hoffmann in der seit 1905 stärker einsetzenden und namentlich seit 1911 mit Hochdruck be­ triebenen Kirchenaustrittsbewegung gespielt hat. In dieser

16 Austrittsbewegung,

die

eine

ganze

Literatur

trafen verschiedene Tendenzen zusammen. stand die Gruppe der sozialistischen

Freidenker,

mit

diesem

dem

Monistenbunde

und

mit

gezeitigt

hat,

Aus der einen Seite

seit

die gemeinsam

1911

in

dem

Komitee Konfessionslos nahe .bereinigt, die Religion als Welt­ anschauung bekämpften.

Eine zweite Gruppe der Freireligiösen

umfaßte diejenigen, die, um mit Paul Göhre zu sprechen, reli­

giösen Menschen von moderner Geistesrichtung, die mit der traditio­ nellen, kirchlich gebundenen Religion innerlich fertig sind, einen religiösen Ersatz zu bieten suchen.')

Die dritte Gruppe, die sich

um den jüngeren, jetzt gewaltsam ums Leben gekommenen Lieb­ knecht scharte, vertrat den „Massenstreik gegen die Kirche" aus

politischen Gründen, um in der Kirche den Bundesgenossen des Staates und der bürgerlichen Gesellschaft zu treffen.

„Kirchen-

anstritt", so proklamierte Liebknecht, „heißt Steuerverweigerung

gegenüber der Kirche, Schwächung derselben und damit Schwächung des Staates und der herrschenden Klassen".

Die Gerechtigkeit ge­

bietet festzustellen, daß die Partei als solche sich niemals mit der

Kirchenaustrittsbewegung und überhaupt nicht mit einer kirchen­

feindlichen Agitation identifiziert hat.

Im Gegenteil, Parteivor-

stand und Parteiausschuß haben mehr als einmal ausdrücklich be­

tont, daß die Agitation zum Austritt aus der Landeskirche eine private Veranstaltung des Komitee Konfessionslos und der Frei­

denkervereine sei, denen die Sozialdemokratie völlig fernstehe. Auch

hat die Austrittsbewegung, im großen gesehen, nie die „lawinen­ artigen"

Dimensionen angenommen, die ihre Urheber von ihr

erwarteten. In diesem negativen Ergebnis spiegelt sich die Er­ scheinung wider, daß weite Kreise der Sozialdemokratie nach dein

Erlöschen des Sozialistengesetzes sich allmählich aus der starren

Negation des Staates zu dem Standpunkt positiver Stellungnahme und Mitwirkung hindurchgerungen hatten: eine Entwicklung, die

auch wieder mäßigend und zügelnd auf das Verhältnis der sozial­ demokratischen Massen zur Kirche zurückwirken mußte.

Als ein Gegenstück gegen die Kirchenaustrittsbeivegung fällt ferner die Tatsache in die Wagschale, daß sich seit dem Beginn *) ®8t>re, KtrchenauStrltlSbewegung und Sozialdemokratie. Jg. 32 (1914), S. 501.

Dir Neue Zelt.

17 des neuen Jahrhunderts in der Sozialdemokratie mancherlei Strö­ mungen zu Gunsten einer Neuorientierung gegenüber Ethik und Religion geltend gemacht haben. Allmählich sind doch immer mehr Sozialdemokraten die Augen über das große Manko des Marxis­ mus aufgegangen, dem als einer einseitig ökonomisch-sozialen Gesellschaststheorie die ethische Fundierung fehlte?) Selbst Marx und Engels haben schließlich eingesehen, daß in dem Lehrgebäude des „Marxismus" auf die ökonomische Bewegung mehr Gewicht gelegt sei, als ihr zukomme. „Wir alle haben", so bekannte Engels iil einem an Franz Mehring gerichteten Briefe vom 14. Juli 1893, „zunächst das Hauptgewicht auf die Ableitung der politischen, recht­ lichen und sonstigen ideologischen Vorstellungen und durch diese Vorstellungen vermittelter Handlungen aus den ökonomischen Grundtatsachen legen müssen. Dabei haben wir dann die formelle Seite über der inhaltlichen vernachlässigt: die Art und Weise, wie diese Vorstellungen zustande kommen"?) Ja, ein solcher ÜberMarxist wie Karl Kautsky, der auf der einen Seite daran festhält, daß die materialistische Geschichtsauffassung das sittliche Ideal als richtunggebenden Faktor der sozialen Entwicklung völlig depossediert habe, hat doch anerkennen müssen, daß die Sozialdemokratie als Organisation des Proletariats in seinem Klassenkampf das sitt­ liche Ideal auf keine Weise entbehren könne?) So hat 'denn, int inneren Zusammenhang mit dem Zurückfluten des philosophischen und naturwissenschaftlichen Materialismus und mit dem Auf­ schwung der neuidealistischen Philosophie, die langsam und allmäh­ lich auch auf den Sozialismus Einfluß gewann^), eine geistige Bewegung innerhalb der Sozialdemokratie eingesetzt, die eine x) P. Kampffmeyer, Die religiöse (Einigung tat Sozialismus, Sozialistische

Monatshefte 1911, S. 248 erklärt es freilich für die größte Kulturtat de» Marxschen

Sozialismus» daß er nicht den religiösen, nicht dm philosophischm, ökonomisch-sozialen Mmschen

ergriff,

sondern dm

daß er das ökonomische Jntereffe, das

tat

Pwtestantm, Katholtlm und Judm gleich iebmdlg ist, in dm Mittelpunkt der sozialisti­

schen Propaganda stellte.

Daran ist so viel richtig, daß hier das Geheimnis des

Marxschen Ersoige» steckt.

Aber wenn die Einseitigkeit ein Vorzug war, so ist sie

doch auch eine Schwöche des Marxismus. *) Aart Vorländer, Kant und Marx (1911), S. 73. •) Ka l Kautsky, Ethik und materialistische Geschichtsauffassung.

S. 140 s.

*) M. Maurenbrecher, Die Neliglonsfrage ta der politischen Agitation. Sozia­

listische Monatshefte Jg. 1910, 967. Revolution unb Kirche.

18 ethische Vertiefung des Sozialismus erstrebt. Namentlich der jüngere Wiener Neu-Marxismus redet einer durchgedachtcn Ver­ bindung von Kant und Marx das Wort?) Seit einigen Jahren werden in der Sozialdemokratie selbst Stimmen laut, die nicht bloß die Entmaterialisierung der Arbeiterschaft, nicht bloß ihre Ethisierung, sondern auch ihre Christianisierung fordern. Zu den Wortführern dieser Tendenzen gehören nicht nur ehemalige Pastoren, wie Göhre, Maurenbrecher u. a., die bei aller Schärfe, mit der gerade sie aus idealen Gründen für die Trennung von Staat und Kirche und selbst für die Kirchenaustrittsbewegung eintraten, doch eine Versöhnung, richtiger gesagt eine Verbindung zwischen Christentum und Sozialismus anstreben, sondern auch Persönlichkeiten, Ivie der von der Genossenschastsbewegung herkommende Hans Müller, tuic Anton Fendrich u. a. Hans Müller hat in seinem lesenswerten Aussatz „Das religiöse Moment in der sozialistischen Bewegung"2) die Auffassung vertreten, daß beim Aufbau sozialistischer Wirt­ schaftsorganisationen religiöse Kräfte sich dauernd überhaupt nicht entbehren ließen, und daß ohne sie jede sozialistische Bewegung verflachen müsse. Eben deshalb will Müller auch eine der wichtig

sten Aufgaben des modernen Sozialismus darin sehen, seine Ain schauungen über die Religion, ihr Wesen und ihre Rolle in der Menschheitsbewegung zu revidieren und dafür einzutreten, daß „von einer der reichsten Kraftquellen, die den Sozialismus zu speisen vermögen, der Schutt veralteter Vorurteile abgetragen werde, durch den heute noch Millionen seiner Anhänger verhindert werden, aus dieser Quelle zu schöpfend Nehmen wir dazu noch Zeugnisse, wie das des ehemalige» sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Edmund Fischer, daß noch in Millionen sozialdemokratischer Arbeiter ein religiöses Be­ dürfnis lebe, dem auch die Sozialdemokratie werde Rechnung tragen müssen, wenn sie nicht eines Tages eine große Enttäuschung erleben wolle?) In den Jahren vor und nach 1891 wären solche Zugeständnisse undenkbar gewesen. Damals hatte Wilhelm Lieb­ 's Näherer bet Vorländer S. 155 ff.. 250 ff. und bei Max Adler, „Marxi-muS

und Ethik' in „Marxistische Probleme" (1913) S. 139 ff.

•) Sozialist sche Monat-beste Jg. 1910, S- 1665 ff. •) Soziallsttsche Monat-hefte Jg. 1913, S. 1560.

IS knecht den Sieg des Guten und der Idee, d. h. der sozialistischen Idee, die wissenschaftliche Überzeugung, daß die Übel der heutigen Gesellschaft nur einen vorübergehenden Zustand bildeten und in absehbarer Zeit durch die Organisation der gesellschaftlichen Pro­ duktion überwunden werden würdenl), mit einem Worte den Glauben an den sozialistischen Zukunstsstaat als die Religion des Sozialismus gepriesen. Und sicherlich haben sich Unzählige lange Jahre hindurch mit ihrem Glauben an die nahe Zukunft der proletarischen Götterdämmerung getröstet. Aber je weiter sich die Erfüllung dieser Götterdämmerung hinauszog, desto stärker machte sich doch in lueiten Kreisen der Arbeiterschaft eine innere Leere und eine geistige Cbe **), oder wie es P. Göhre ausdrückte, „ein nie ganz erstorbenes, nie ganz gestilltes religiöses Bedürfnis im inner­ sten Herzen, die natürliche Folge einer religiösen Veranlagung, die keine Aufklärung dem Menschen ausradieren kann"') geltend. Ja, ein Führer der Kirchenaustrittsbewegung selbst bekannte: seelisches Glück sei in der sozialdemokratischen Bewegung bisher wenig zu finden gewesen?) Zieht man dies alles in Betracht, so wird man sagen dürfen, daß das Verhältnis der Sozialdemokratie zur Reli­ gion und den Kirchen, wie es bei Ausbruch des Weltkrieges be­ stand, trotz allem, was sich zwischen beiden aufgetürmt hatte, die Möglichkeit einer Verständigung und Wiederannäherung nicht durch­ aus ausschloß. Freilich handelte es sich inmitten des geräuschvollen Lärms der Austrittsbewegung und einer in gleicher Schärfe kaum je vorhanden gewesenen feindseligen Haltung der sozialdemo­ kratischen Presse'), die allerdings in der kirchlich-konfessionellen i) Bgl. Panaekoek, Religion und Sozialismus.

S. 20.

') Edmund Fisch« a. a O. S. 1560. *) »Schule, Kirche, Arbeiter" (1906).

S. 19.

4) S. PeuS, Sozialdemokratie und Kirchenchristentum in »Boni inneren Frieden

de» deutschen Volke»". kratie und Religion.

S. 73.

Weitere Zeugnisse bet Franz Meffert, Sozialdemo­

S. 121 f.

•) Eine auSgiebigc Materialsammlung über die seindselige Haltung vor allem der sozialdemokratischen Preffe gegen Christentum und Kirche aus evangelischer Seite bei

W. Jlgenstein, Die religiöse Gedankenwelt der Sozialdcmolraiie (1914), aus

katholischer Seite bei Fr. Meffert, Sozialdemokratie und Religion (1912).

Freilich

hätte auch die Sozialdemokratie sehr wohl «in „großes Sündenregister der politischkonseffionellen Preffe beider christlichen Religionsbekenntnisse" au)schlagen können. 2*

Bgl.

20 Presse vielfach ein Seitenstück fand, um die ersten leisen Spuren einer Wandlung. Ein gedeihlicher Fortgang wäre nur zu hoffen gewesen, wenn sich auch in der Kirche eine Erneuerung vollzogen hätte, die der Sozialdemokratie entgegenkam. Denn es muß offen zugegeben werden, daß von der scharfen Kritik, die aus der Sozialdemokratie an der Kirche vollzogen wurde, vieles, nur zu vieles berechtigt war. Mag es immerhin zu viel

gesagt sein, daß die Kirchen, vorab die evangelische infolge ihrer Verquickung mit dem Staat und den bürgerlichen Klassen eine reine Staats- und Klassenkirche, daß ihre politische und wirtschaft­ liche Haltung identisch mit Geist und Jnteressenstandpunkt der herrschenden Schichten in Staat und Gesellschaft gewesen fei1), so ist doch kaum zu leugnen, daß die Kirche sich vielfach zur Ver­ teidigerin der kapitalistischen Wirtschaftsform hergegeben Ijat2), und daß zumindest die evangelische Kirche sich in ihrem Ver­ hältnis zur Arbeiterbewegung, das nur nach den sich gleich­ bleibenden Rücksichten der christlichen Ethik hätte orientiert werden sollen, in das Schlepptau der wechselnden Staatspolitik begeben hat. Erinnern wir uns: Als die verbündeten deutschen Regierungen der Sozialdemokratie im Sozialistengesetz die schärfste Fehde angesagt hatten, folgte der Erlaß des preußischen Ober­ kirchenrats vom 20. Februar 1879, der die Geistlichkeit vor jeder Agitation für soziale und politische Reformen warnte; als Wilhelm II. dann nach seiner Thronbesteigung zunächst mit vollen Segeln auf das hohe Meer der Sozialreform hinaustrieb, gab ein neuer Erlaß des Oberkirchenrats vom 17. April 1890 den Geist­ lichen nicht nur die soziale Arbeit frei, sondern er ermunterte sie A. Fendrtch tn „vom hmeren Friede« de» deutschen Volke»".

S. 44:

„Wa» aus

diesem Gebiet geleistet worden ist, da» übersteigt alle» Maß. Nicht» war zu schlecht, al» daß e» der Sozialdemokratie nicht Hilt e angebiingt werden dürfen."

*) Paul Göhre, Die neueste KirchenauStrittrbewegung au» den Landeskirchen in

Deutschland.

S. 27.

vgl.

desselben

bewegung und Sozialdemokratie".

Verfasser»

Aufiatz

„KirchenauStritt»-

Di« Neue Zeit Jg. 1913,14, I, 503:

„Daß die

heutigm Kirchen zugleich Klasteaktrchea sind, ähnlich wie der Staat ein Klassenstaat

ist, ist heute immer mehr ein Axiom der sozialdemokratisch gesinnten Massen geworden

und wird e» von Tag zu Tag mehr." ') Für die katholische Kirche Märzheft 1919. S. 589 f.

gibt die» u. a. zu Karl Muth tot „Hochland"

31



sogar, in die Versammlungen der Arbeiter -u gehen und diesen mit Rede und Gegenrede unter die Augen zu trete«; als aber der Wind in den höchsten Regionen wieder umschlug und der Kaiser sich als oberster Landesbischof dahin ausließ, daß „die Herren Pastoren sich um die Seelen ihrer Gemeinden kümmern, die Nächstenliebe vstegen, aber die Politik aus dem Spiele lassen sollten, dieweil sie das gar nichts angehe", und als das offizielle Negierungsorgan das Ziel der christlich-sozialen Bewegung, „bcm vierten Stande zur Gleichberechtigung zu verhelfen auf dem Wege des Christentums, entgegen den Bestrebungen der Sozialdemo­ kratie", als revolutionär und kommunistisch bezeichnete, da war der Oberkirchenrat sogleich wieder bei der Hand, die Mit­ wirkung der Geistlichkeit in den politischen und sozialen Tages­ fragen durch einen dritten Erlaß vom 16. Dezember 1895 in die engsten Schranken zu weisen. Dieser Zickzackkurs der verstaatlichten preußischen Landeskirche hinsichtlich der sozialen Fragen, der in scharfem Gegensatz steht zu der so viel einheitlicheren, die sozial­ politische Tätigkeit der katholischen Geistlichkeit immer nur fördern­ den und anspornenden Praxis des Papsttums, beweist an einen» schlagenden Beispiele ihre weitgehende Abhängigkeit vom Staate. Auch der autoritäre und bürokratische Charakter der deutschen evangelischen Landeskirchen, der so sehr an ihrer Volkstümlich­

keit zehrte, war letzten Endes doch nur das Ergebnis ihrer engen Verbindung mit dem Staate. Das kirchliche Wahlrecht mochte ja an sich demokratisch sein; in nicht seltenen Fällen aber wurde sozialdemokratischen Arbeitern, die in die Gemeinde­ vertretungen gewählt waren, seitens der Kirchenregierung die Bestätigung versagt! Auch sonst ist von der Kirche keines>vegs immer der Schein vermieden worden, als ob sie es vorzugs­ weise mit den Klassen der Herrschenden und Besitzenden halte. Man hat sich in kirchlichen Kreisen kaum je klar genug gemacht, wie viel böses Blut in den proletarischen Massen die hergebrachte Bevorzugung der reichlicher zahlenden Gesellschaftskreise bei Kasualien, bei der Vermietung der Kirchenstühle usw. verursacht hat; ebensowenig, wie erbitternd und aufstachelnd der nicht selten naheliegende Verdacht wirkte, daß die Kirche es mit den Sünden der besitzenden Klassen läßlicher nehme als mit denen der Prole-

22 tarier.1) Mit keinem Argumente haben die kirchenfeindlichen Agi­ tatoren bei den Massen der Arbeiterschaft stärkeren Erfolg erzielt, als mit dem, daß viele offizielle Vertreter des Kirchentums ihr Amt nicht int Geiste Christi ausübten, der seine Liebe vor allem den Mühseligen und Beladenen zuwandte, der keine Sünde mehr rügte als die Herzenshärte der Reichen, und der das Scherflein der armen Witwe höher schätzte als die reichen Gaben der Besitzenden. In diesem Zusammenhänge muß auch des innerkirchlichen Haders, des Streites unter den Konfessionen, des erbitterten Zankes unter den verschiedenen Richtungen und Parteiungen der evangelischen Kirche gedacht werden, der in den Augen der zu vollster Solidarität erzogenen Proletarier gewiß nicht als im Einklang mit den Geboten der christlichen Bruderliebe stehend empfunden werden konnte. Hatte nicht jener sozialistische Schrift­ steller nur zu sehr Recht, wenn er angesichts der Zerklüftung der christlichen Kirchen fragte: „Welche große einigende Kraft könnte heute der Sozialismus aus dein so vielgestaltigen, an Widersprüchen so reichen Leben der bestehenden Religionsgemeinschaften für seine aufbauende sozialschöpferische Tätigkeit gewinnen? Man schaue doch mit unvoreingenommenen klaren Augen in die Welt hinein: Kampf auf der ganzen Linie, Kampf der Protestanten gegen die Katholiken, Kampf der Protestanten untereinander, Kampf zwischen den Richtungen des Katholizismus, Jrrlehrermaßregelungen und Antimodernisteneide."2) Ja, in vollem Ernst, nicht etwa in blutigem Hohn spricht derselbe Schriftsteller die Erwartung aus, daß erst die sozialistisch-genossenschaftliche Wirt­ schaft die religiöse Einigung aller Konfessionen herbeiführen werde?) Nur daß freilich ein Eindringen sozialistischen Geistes in die Kirche auf der einen Seite durch die Religionsfeindlichkeit eines großen Teils der sozialdemokratischen Arbeiterschaft, auf der anderen Seite durch das Staatskirchentum außerordentlich erschwert war, so er*) Dgl. das In bet Arbeiterwett vielgelesene, von den Urchttcheu Kreisen nicht genug gewürdigte Schriftchen Ad. HossmannS, .Die zehn Gebote und die besitzende Klaffet

’) Kampffmeyer,

Die

Monatshefte Jg. 1911, 242.

•) Das. S. 245.

religiöse

Einigung

Im

Sozialismus.

Sozialistische

23 schwert war, daß ein Hinneigen einzelner Geistlichen -um Sozialis­ mus bisher noch durchweg zu ihrem Ausscheiden aus dem Kirchen­ dienste geführt hat. Allerdings hat sich auch in den Landeskirchen selbst, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Erkenntnis, daß anders auf eine Zurückgewinnung der Arbeitermassen für ein kirchliches Christentum nicht zu rechnen sei, je länger je mehr der Nuf nach einer Trennung von Staat und Kirche, nach der Umwand­ lung der Staatskirche in eine wirkliche Volkskirche erhoben, mit dem Erfolge, daß doch auch auf sozialdemokratischer Seite schon vereinzelt Erwartungen auf ein besseres Verhältnis zum Kirchen­ christentum aus solchen Reformbestrebungen abgeleitet wurden. In dem 1914 hereinbrechenden Weltkriege schienen sich diese Hoffnungen zunächst zu verstärken. Nicht als ob die zu Beginn des Krieges einsetzende Welle religiöser Belebung, die ohnehin bald zurückflutete, schon tief in die Reihen der sozialdemokratischen Arbeiterschaft hineingedrungen wäre. Aber verheißungsvolle Aus­ blicke ergaben sich aus der Steigerung der Staatsgesinnung in ihr: ivcnit der Gegensatz zum Staat, in dem die sozialistischen Massen nach einem Worte Wilhelm Liebknechts stets den „eigentlichen Übeltäter" gesehen hatten, zurücktrat, so mußte von selbst die Feind­ schaft gegen die Kirche, die doch nur eine Außenbastion des staat­ lichen Bollwerks bedeutete, nachlassen. Auch der von der Klassen­ kampfstimmung ausgehende Gegensatz gegen die Klassen-, die Bourgeoiskirche mußte sich in dem Maße verlieren, als die von allen Klassen, Ständen und Richtungen und wahrlich nicht zuletzt von der sozialdemokratischen Arbeiterschaft wetteifernd bewiesene patriotische Haltung dem gegenseitigen Verstehen und Vertrauen die Wege ebnete. Hüben und drüben hat es nicht an Bemühungen gefehlt, dieses gegenseitige Verstehen und Vertrauen auch auf die Sozialdemokratie und die Kirche auszudehnen. Es darf hier an den Versuch erinnert werden, einem solchen Verständnis in der Sammelschrift „Vom inneren Frieden des deutschen Volkes" (1916) eine Stätte zu bereiten. Aufsätze wie die von Anton Fendrich über „Sozialistische und christliche Weltanschauung" und von Heinrich Peus, einem der Führer der Kirchenaustrittsbewegung vor dem Kriege, über „Sozialdemokratie und Kirchenchristentum" be­ deuteten in ihrer versöhnlichen Haltung und in ihrem warmherzigen

24 Streben, auch der Kirche gerecht zu werden, einen erfreulichen Schritt nach vorwärts. Lauter spricht noch die Tatsache, daß wäh­ rend des Krieges die Kirchenaustrittsbewegung so gut wie völlig zum Stillstand kam. Auch das Trennungsproblem trat in dem Bewußtsein der sozialistischen Arbeitermassen stark in den Hinter­ grund, und wenn ja der heutige Kultusminister Haenisch in seiner Abgeordnetenhausrede vom 15. November 1917 über die Dissi­ dentenkinderfrage noch einmal der Trennung von Kirche und Staat, der Beseitigung des Religionsunterrichts aus den staatlichen Schulen überhaupt und der Zuweisung des Religionsunterrichts an die „völlig freien, vom Staate vollkommen unabhängigen kirchlichen Gemeinschaften" das Wort redete, so geschah es nicht mehr aus einer feindlichen Gesinnung gegen die Kirche, sondern im Namen „echter Religiosität und der Freiheit der Religiosität", und mit einer so rückhaltlosen Anerkennung der gewaltigen kulturellen Leistungen des Christentums und seiner auch für die heutige Zeit noch „außerordentlich viele, bedeutungsvolle und wert­ volle Elemente" enthaltenden Ethik, wie sie bisher aus sozial­ demokratischem Munde nicht erhört war. Ihr Korrelat fand diese tvarme Würdigung des Christentums als der bedeutendsten kulturellen Großmacht der Weltgeschichte in dem auch von kirch­ licher Seite befürworteten Eingehen der Majorität des Abge­ ordnetenhauses auf die früher stets schnöde zurückgewiesenen Forde­ rungen der Sozialdemokratie in der Dissidentenkinderfrage. Auch sonst erhob sich in kirchlichen Kreisen manche Stimme des Ent­ gegenkommens gegen die Sozialdemokratie. Als selbstverständlich bezeichnete es Martin Rade in seiner Schrift „Die Kirche nach dem Kriege"1), daß jetzt ein Pfarrer Mitglied der sozialdemokratischen Partei sein dürfe. Aber freilich fehlte es in einem Kriege von dieser Schrecklich­ keit und dieser das Grauen noch steigernden Dauer auch nicht an solchen Momenten, die die Aussichten auf ein besseres Ver­ hältnis zwischen der Sozialdemokratie und der Kirche wieder trübten, ja ins Gegenteil zu verkehren drohten. Die Tatsache, daß das Christentum nicht imstande gewesen war, den Ausbruch des entsetzlichen Krieges, der fast die ganze christliche Welt in seinen >) S. 40.

25 Strudel hinabzog, zu verhindern, oder auch nur die Art der Krieg­ führung zu mildern, die weitere Tatsache, daß es ebensowenig ver­ mochte, der infolge des Krieges so rapide um sich greifenden Materialisierung des ganzen Volkes, dem Wucher, der Gewinnund Raffsucht und all den anderen Kriegslüstern, an denen aller­ dings auch die sozialdemokratischen Ärbeitermassen ihren Anteil hatten, Einhalt zu tun, konnte nur zu leicht als ein Bankerott des Christentums hingestellt werden. Einen gar nicht wieder gut zu machenden Schaden haben der Sache des Christentums und der Kirchen die sogenannten „Kriegstheologen" mit ihrer Ver­ herrlichung des Krieges und ihren hochgespannten, der wahren Sachlage so gar nicht angemessenen Friedensforderungen getan. Es liegt auf der Hand, wie sehr solche nicht seltenen Entgleisungen, die die öffentliche Aufmerksamkeit mehr auf sich zogen als das unermeßliche, aber meist stille Liebeswalten der Kirche in Seel­ sorge, in Fürsorge und im Dienst des Roten Kreuzes, kirchenfeind­ lichen Agitatoren vom Schlage Adolph Hoffmanns das Wasser auf die Mühle leiten mußten. In den gleichen Debatten über den Religionsunterricht der Dissidentenkinder, die einem Konrad Haenisch Veranlassung gaben, die einzigartige kulturelle Bedeutung des Christentums anzuerkennen, hat Adolph Hoffmann seinen Ver­ unglimpfungen des Christentums und seinen Ausfällen gegen die Kirche die Krone aufgesetzt. Man lese nur seine beiden Reden vorn 15. Nov. 1917 und vom 6. Juni 1918 in den amtlichen Proto­ kollen nach, in denen er nicht nur die Menschenverwüstung des Krieges als eine ungeheure ad absurdum - Führung des Christen­ tums und als einen eklatanten Beweis gegen das Dasein Gottes ausspielte, sondern auch mit neuen Massenaustritten aus der Kirche nach dem Kriege und der gewaltsamen Herbeiführung einer Trennung von Staat und Kirche drohte, bei der u. a. der bisher „vom Staate ausgehaltenen" Kirche ihr Vermögen völlig ge­ nommen werden sollte — denn darauf lief doch der geforderte Nachweis rechtmäßigen Erwerbs nach Hoffmanns eigenen Worten hinaus. Was die Kirche zu erwarten hatte, wenn Adolph Hoff­ mann jemals zu entscheidendem Einfluß kommen sollte, das konnte nach diesen Reden niemandem zweifelhaft sein. Das, was im Juni 1918 noch undenkbar schien, sollte in

26 wenigen Monaten eintreten: im November gelangten überall int Deutschen Reich die revolutionären Gewalten an das Ruder, und mit ihnen Adolph Hoffmann an die Spitze des preußischen Kultusministeriums, freilich nicht er allein, sondern gemeinsam mit seinem Antipoden Konrad Haenisch. Man hätte nun meinen sollen, daß, wenn nicht Adolph Hoffmann, so doch die übrigen revolutionären Machthaber sich sorgfältig überlegt hätten, was sie in dieser unver­ hofften Situation für eine Politik einschlagen sollten. Bei einigem Nachdenken mußte es ihnen klar werden, daß, soweit bisher der Sozialismus eine mehr oder weniger verhüllte Kampfposition gegen die Kirche eingenommen hatte, sie nicht der Kirche als solcher, sondern dem Stützpunkt des staatlichen Bollwerks gegolten hatte. Auch das der bürgerlichen Demokratie entlehnte Religions- und Schulprogramm der Sozialdemokratie war nicht etwa Selbstzweck, sondern nur ein Mittel zur Erreichung eines bestimmten Zweckes, »ämlich der Eroberung der ökonomisch-sozialen Macht gewesen. Nachdem dieser Hauptzweck erreicht war, lag es nahe, das über­ flüssig gewordene Mittel beiseite zu stellen und zu prüfen, ob unter den von Grund aus veränderten Verhältnissen in der Kirche, die doch niemals an eine bestimmte Staatsform gebunden gewesen ist, und die in einem republikanisch-sozialistischen Staatswesen so gut zu Hause sein kann wie in einer Monarchie, nicht ein wertvoller Bundesgenosse für den Fall herangezogen werden könne, daß die Proletariermassen, statt sich unter dem Einfluß der endlich erreichten ökonomischen Umwälzung alsbald zum sozialistischen Edeltypus zu entwickeln, im ersten Freiheitstaumel außer Rand und Band geraten sollten. Und wollten oder konnten die sozialistischen Machthaber nicht soweit hinaus denken, so hätten sie sich wenigstens bei den großen sozialistischen Meistern Rat suchen sollen. Nach der Auf­ fassung von Marx und Engels, die ja stets die Kirche als eine quantit£ negligeable betrachtet und das alsbaldige Verschwinden alles religiösen Spuks nach und von dem Eintritt der ökonomi­ schen Revolution erwartet hatten, wäre es zweifellos das Gegebene gewesen, gar nichts zu tun und die Religion ihrem Schicksal, d. h. ihrem allmählichen Erlöschen zu überlassen. Das von Marx und Engels im Kommunistischen Manifest von 1848 entwickelte Programm der Übergangsmaßregeln der kommenden sozial-ökonomi-

27 schen Revolution sieht zwar die öffentliche und unentgeltliche Er­ ziehung aller Kinder, aber schlechterdings keinen die Kirche oder die Religion betreffenden Eingriff vor.1) In der alsbaldigen Herbeiführung einer Trennung von Staat und Kirche hätten die beiden sozialistischen Apostel keinenfalls ein taugliches Mittel ge­ sehen; wenigstens hat Marx selbst einmal betont, daß die politische Emanzipation unter Umständen die lebensfrische und lebens­ kräftige Existenz der Religion, wie in Amerika erst recht herstelle?) Auch Bebel und W. Liebknecht sind sich sehr wohl bewußt gewesen, daß eine falsche und unüberlegte sozialistische Kirchenpolitik leicht das Gegenteil ihres Zweckes herbeiführen könne. Bebel entwickelt einmal in klarem Anschluß an Marx sein Programm dahin: „Die Religion wird nicht abgeschafft", man wird „Gott nicht absetzen", nicht den „Leuten die Religion aus dem Herzen reißen", womit inan heute die atheistisch gesinnten Sozialdemokraten anklagt. Solche Bockstreiche überläßt die Sozialdemokratie den bürgerlichen Ideologen, die in der französischen Revolution diese Mittel ver­ suchten und natürlich elend Schiffbruch litten. Ohne jeden gewalt­ samen Angriff und ohne jede Unterdrückung von Meinungen, welcher Art sie immer sind, wird die Religion allmählich von selbst verschwinden."') Liebknechts Warnungen vor den Fehlern der französischen Revolution sind uns bereits bekannt. Von den neueren sozialistischen Schriftstellern hat besonders Karl Kautsky, der sich viel Mühe gegeben hat, die Methode aufzuzeigen, durch die eine besondere sozialistische Kirchenpolitik entwickelt werden könne4), aufs dringendste davon abgeraten, der Kirche die Möglichkeit zu geben, eine Märtyrerpose anzunehmen. „Ein Kulturkampf, nach dem Muster des Bismarckschen, verhilft ihr in einer Weise dazu, wie sie es nicht besser wünschen kann. Er wirkt auf die katholischen Proletariermassen ebenso propagandistisch zu Gunsten der Kirche wie irgend eine diokletianische Christenverfolgung und verringert doch ... die materiellen Machtmittel der Kirche nur un*) Das Kommunistische Manifest. Autorls. 6. Ausgabe (1901) S. 23 s. *) K. Marx, Zur Judenfrage. Gesammelte Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels. Hrsg, von Franz Mehring I, 405, 410. ’) A. Bebel, Die Frau und der Sozialismus. 9. Aust. S. 313 f. *) K. Kautsky, Die Sozialdemokratie und die katholische Kirche. 2. Ausl. (1906). Borwort.

28 erheblich. Sie gewinnt dabei an moralischer Macht viel mehr als sie an materieller verliert/") Aber es war, als ob der Sturmwind der Revolution alle Er­ innerung an die Warnungen der großen sozialistischen Denker, alle Hemmungen einer vernünftigen Überlegung hinweggefegt hätte. Fast alle der neuen Machthaber waren von der Vorstellung be­ herrscht, nicht eilig genug die Grundsätze des sozialistischen Pro­ gramms auch in bezug auf Religion und Schule zum Ausdruck bringen zu können. Zwar die Kundgebung der sozialistischen Reichs­ regierung vom 12. November hielt sich noch in vorsichtigen Wen­ dungen: „Die Freiheit der Religionsübung wird gewährleistet; niemand darf zu einer religiösen Handlung gezwungen werden." Auch das bayerische Regierungsprogramm vom 15. November be­ sagte nur: die Regierung werde die volle Freiheit der Religions­ gesellschaften und die Ausübung ihres Kultus gewährleisten; doch kündigte es für die Schule schon die fachmännische Schulaufsicht an. Weiter ging der hessische Arbeiter- und Soldatenrat, der am 12. November die Forderung der Trennung von Staat und Kirche aufstellte. Ihm folgte die preußische Regierung, die in ihrer programmatischen Erklärung vom 13. November unter den zahl­ reichen Aufgaben, vor die sich das neue freie Preußen jetzt und in Zukunft gestellt sehe, auch die Befreiung der Schule von jeder kirchlichen Bevormundung und Trennung von Staat und Kirche nannte. Diese immerhin noch behutsam abgetönte Wendung ging begreiflicherweise einem Adolph Hoffmann nicht weit genug. Im Gegensatz zu seinem Kollegen Haenisch, dem es doch von Anfang an nicht ganz an der Vorstellung gefehlt zu haben scheint, welche ungeheuren Schwierigkeiten rechtlicher, finanzieller, steuertechnischer, sozialpolitischer, ja selbst außenpolitischer Natur mit der Lösung

der Jahrhunderte alten Beziehungen zwischen Staat und Kirche in einem paritätischen Staatswesen größten Stiles, das man mit Recht das komplizierteste der Welt genannt hat?), verknüpft sein müßten, hatte er sich schon in seiner Rede vom 15. November 1917 auf den Standpunkt gestellt: „Das läßt sich sehr leicht machen." l) Sers. S. 29. *) Wilhelm Kahl, Trennung von Staat und Kirche.

1919, Nr. 3/4. S. 125.

Deutsche Jmistenzcitung

29

Er dachte offenbar, den ganzen großen Fragenkomplex der Wechsel­ wirkungen zwischen Staat, Kirche und Schule mit ein paar raschen Federstrichen zu lösen, etwa nach dem auf die deutschen Verhältnisse nicht entfernt passenden Muster der „großartigen" französischen Trennungsgesetzgebung aus dem Anfang dieses Jahrhunderts, deren jahrelange, von konvulsivischen Zuckungen des ganzen Staatskörpers erfüllte Dauer ihm wahrlich auch zu denken hätte geben können. Unbekümmert um den Explosionsstoff, den er dadurch von neuem in den schon hellauf brennenden Holzstoß der deutschen Politik hineinwarf, erklärte er in einem kurz nach seinem Amtsantritt in der Pädagogischen Zeitung **) veröffentlichten Aufsatz im Diktaturstil: „Frei von jeder Bevormundung, frei von traditioneller Geschichtsverfälschung und frei von jeder konfessionellen Beeinflussung wird der Unterricht sein. Vollkommene Trennung von Schule und Kirche wird gewährleistet.... Auch Freiheit des religiösen Bekenntnisses wird gewährleistet. Religion ist persön­ liche Angelegenheit und Sache der religiösen Gemeinschaft. Darum wird vollständige Trennung von Staat und Kirche2) oberster Grundsatz sein. Die Kirche soll ihr eigenes freies Leben führen, aber auch selbst die Lasten aufbringen, die zur Bestreitung ihrer Lebensbedürfnisse erforderlich sind. In christlichem Sinne müssen die reichen den ärmeren Gemeinden dabei zur Seite stehen." In gleicher Art sprachen sich die von A. Hoffmann am 27. No­ vember in die Presse gebrachten „Richtlinien für die Arbeit des Ministeriums" aus: „Die Trennung von Kirche und Staat ist grundsätzlich ausgesprochen, eine Denkschrift ist ausgearbeitet, eine Kommission wird vorbereitet."2) Die Äußerungen der sozialistischen Kultusminister in Sachsen, Bayern, Württemberg usw. zeigen, daß sie im wesentlichen den Hoffmannschen Standpunkt raschen und bedenkenfreien Vorgehens in der Kirchentrennungsfrage teilten. Der Volksbeauftragte Buck *) Jg. 1918. Nr. 47. *) „Vollständige Trennung von Staat und Kirche ist, wie W. Kahl a. a. O. S. 126 mit Recht bemerkt, überhaupt unmöglich und in keinem Staate der Welt

durchgeiührt. Wir werden noch sehen, daß auch A. Hoffmann statt der vollständigen

Trennung vielmehr eine Unterstellung der Kirche unter den Staat bezweckte. •) Abgcdruckt u. a. bei I. Tews, Sozialdemokratie und öffentliches Bildungs-

wesm.

5. Aust. (1919), S. 69 f.

30

in Dresden erklärte dem Konsistorialpräsidenten Böhme mit dürren Worten: die angekündigte Trennung von Staat und Kirche x) werde von der Regierung baldigst durchgeführt werden. Es sei bestimmt mit dem baldigen Wegfall aller Staatsaufwendungen für die Landeskirche, mit der Beseitigung des Religionsunterrichts in der Volksschule, mit der Übernahme der Friedhofsverwaltung durch die politischen Gemeindevertretungen und mit einer Einschränkung des kirchlichen Steuerrechts zu rechnen. Der bayrische Kultus­ minister Hoffmann faßte sein Programm in die kurze Formel zu­ sammen: Freier Staat, freie Schule, freie Kirche. Offen gab er zu, daß es bei der Durchführung dieses Programms ohne etwas Ge­ walt nicht abgehen werde. Auch der Württembergische Kultus­ minister Heymann erklärte kurz und bündig: „Der organische Zu­ sammenhang zwischen Staat und Kirche, ein Produkt unserer historischen Entwicklung, muß gelöst werden."') Ihre ausführlichste und zugleich deutlichste Ausprägung haben die kirchenpolitischen Tendenzen der revolutionären Gewalten in der im Auszug bekanntgewordenen Denkschrift') des als Beirat für die gesamten Trennungsfragen in das preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung — auf diesen Namen war das bisherige Ministerium der geistlichen und Unterrichts­ angelegenheiten umgetauft — gezogenen sozialistischen Schrift­ stellers Alfred Dieterich gefunden. Zwar ist dieser Denkschrisi hinterher jeder offizielle Charakter abgesprochen worden, aber schon die Tatsache, daß sie den Besprechungen mit zu Grunde gelegt wurde, die am 13. und 14. Dezember im Kultusministerium unter Teilnahme von Vertretern der verschiedensten religiösen und frei­ religiösen, kirchlichen und außerkirchlichen Richtungen über die Trennungssrage stattsanden, verbunden mit der Tatsache, daß auch *) Ausruf der Sächsischen Regierung vom 18. November: „Die Trennung bei Kirche vom Staat Ist durchzusühren.

heil gewährt.

Die Schule

ist

Den RcllglonSgemelnschasten wird volle Fiet

von politischer und kirchlicher

Bevormundung zr

befreien". ’) Vgl. die übersichtliche Zusammenstellung

„Revolutionäre Trennung

von Kirche und

Staat"

von

Otto Zimmermann

8. J

der

Zeit"

Dez.

1918

in den „Stimmen

Februarheft S. 345 ff. *) Zuerst veröffentlicht in der Deutschen Tageszeitung vom 21.

Der Abdruck ist in allem wejentiichm korrekt.

31 seither ihr Verfasser im Auftrage des Ministeriums propagandistisch für die Trennung tätig geblieben ist, beweist ihre Bedeutung. Die Denkschrift Dieterichs läßt ganz deutlich das Vorbild der französi­ schen Trennungsgesetzgebung erkennen. Wie in Frankreich sollen alle Kirchen und Kultgesellschaften zu privaten Vereinigungen herabgedrückt werden. Wie in Frankreich soll alle kirchliche Tätig­ keit, insbesondere die der Orden, in flagrantem Widerspruch mit der sonst von sozialdemokratischer Seite so emphatisch betonten Forderung völliger Freiheit und Unabhängigkeit der Kirchen unter die schärfste staatliche Aufsicht gestellt werden. Den Jesuitenorden will Dieterich sogar „zur Wahrung des konfessionellen Friedens, angesichts der Ansprüche der römischen Kirche" völlig aus den» Deutschen Reich ausgeschlossen sehen. Wie in Frankreich solle»» iveiterhin die Religionsgesellschaften allein für die Bestreitung ihrer sämtlichen Bedürfnisse aufkommen; alle staatlichen Zuwen­ dungen sollen, wenn auch nicht mit einem Male, fortfallen; mit der „Ausmagerung" des Kultusbudgets ist schon im nächsten Etat ji» beginnen. Ja, es wird grundsätzlich die vollständige Zurück­ gewinnung des gesamten kirchlichen Besitzes für den Staat, ins­ besondere des Boden-, Gebäude- und sonstigen beweglichen und unbeweglichen Besitzes der toten Hand, einschließlich der zur un­ mittelbaren Ausübung des Kultus erforderlichen Kirchengebäude, des Kunstbesitzes usw. verlangt. Nur insoweit sollen die Kirchen­ gebäude, die Pfarrerwohnungen usw. den bisherigen Kirchenge­ meinden verbleiben, als sie sich in private Kult-Genossenschaften verwandeln werden. An eine Entschädigung der Kirchen für die Hergabe ihres Besitzes ist augenscheinlich gar nicht gedacht; denn es wird sogar eine Enteignung des Besitzes der Kirchen, Kirchen­ gemeinden und Orden an Kapitalgeld, soweit er als übermäßig anzusehen sei, in Aussicht genommen! Das alles ist doch ein fast sklavisch getreuer Abklatsch der französischen Trennungsgesetzgebung. Man geht schwerlich fehl in der Annahme, daß Dieterich, der später nach dem Austritt Hoffmanns aus dem Ministerium sich weit weniger radikal geäußert hat, und der beispielsweise in einem Anfang Februar 1919 vor der Berliner freireligiösen Gemeinde gehaltenen Vortrage dafür ein­ trat, daß der Gesamtbesitz der Kirche erhalten bleiben solle, seine

32 Denkschrift nach den Direktiven oder doch im Sinne Adolph Hoff­

manns abgefaßt hat. In der Tat hat ein urteilsfähiger Teilnehmer an der

Besprechung im Kultusministerium vom 14. Dezember

den Eindruck davon getragen, daß man im geistigen Stabe Adolph Hoffmanns von dem französischen System höchst eingenommen gc-

wesen sei, offenbar aus dem Grunde, weil es am ehesten geeignet wäre, das deutsche Kirchenwesen von Grund aus zu ruinieren.')

Wir sehen, es hatte doch seinen guten Grund, wenn der Münchener

Erzbischof von Faulhaber in seiner Sylvesterpredigt seinen Hörern

znrief: „Glaubt mir! Wenn die Trennung bei uns kommt, kommt sie nicht nach amerikanischem, sondern nach französischem Muster."

Wäre es nach Hoffmann gegangen, so hätte sich ohne Frage das

französische Vorbild durchgesetzt.

In

einem Punkte

hat

sogar

die Dieterichsche Denkschrift

dem vorwärts drängenden Ungestüm Adolph Hoffmanns nicht genug

tun können. Ihr Verfasser war sich im Grunde klar darüber, daß gut Ding Weile haben wolle. Im Augenblick handelte es sich nach ihm bloß um die einleitenden Maßnahmen zur Bewältigung der

großen Aufgabe, die nur in auch organisatorisch und verwaltungs­

technisch

könne.

sorgfältig

„Wo

vorbereiteten

klare und

mit

Etappen

durchgeführt

der Landesverfassung

werden

nicht kolli­

dierende gesetzliche Bestimmungen, insbesondere aus der neueren

Beit, einer Neuordnung entgegenstehen, ist an eine spätere Rege­ lung mit Hilfe der ordentlichen Gesetzgebung zu denken. Was aber

irgend durch ministerielle Verfügung geregelt werden kann, ist

in Angriff zu nehmen und mit der Notwendigkeit zu begründen, dem in der preußischen Verfassung garantierten, bisher vielfach

vernachlässigten Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit wegen

der deswegen in weitesten Kreisen heute wie je vorher bestehen­

den gefährlichen Erbitterung und Erregung zur Durchführung zu verhelfen." Sofort beseitigt sehen wollte Dieterich u. a. die Zwangs­ verpflichtung zum Besuch des konfessionellen Religionsunterrichts einschließlich

des

Konfirmandenunterrichts,

insbesondere

für

Dissidentenkinder und die geistliche Schulaufsicht. Ferner plaidierte er für alsbaldige Beschränkung des allzureichlichen Religionsunter’) Wilhelm Sahl, der bekannte KirchmrechtSlehrer, in der Deutschen Junstenidtung. 3g. 1919, Rr. 3/4, S. 124.

33 richts auf wöchentlich etwa zwei Stunden, sowie des KonfessionellDogmatischen und des Auswendiglernens nach Katechismus, Bibel

und Gesangbuch auf das Allernotwendigste, für das Ausscheiden des rein Begrifflichen (Gott, Heiliger Geist, Dreieinigkeit, Erlösung) aus dem Unterricht, Einführung von religionsgeschichtlichem ver­ gleichenden Unterricht

auf

ideellen Gleichberechtigung gionen usw.

der Grundlage

und

der

grundsätzlichen

Gleichwertigkeit

aller

Reli­

Es ist doch sehr die Frage, ob in Anbetracht des § 24 der preußischen Verfassung, der die Leitung des religiösen Unterrichts in der Volksschule ausdrücklich den betreffenden Religionsgesell­

schaften überträgt, und der Bestimmungen des Volksschulunter­ haltungsgesetzes vom 28. Juli 1906, das ebenso ausdrücklich den konfessionellen Charakter der Volksschule festlegt, auch nur die von

Dieterich vorgeschlagenen Änderungen im Verordnungswege er­ folgen durften. Aber Adolph Hoffmann war nicht geneigt, über juristische Zwirnsfäden zu stolpern und nur insoweit mit Ver­ ordnungen vorzuschreiten, als nicht gesetzliche Bestimmungen im Wege standen.

Revolutionäre Gewalten, deren Dasein an sich

nicht gesetzmäßig ist, pflegen sich nicht allzuängstlich an gesetzliche

Bestimmungen zu kehren. So eilig hatte es Adolph Hoffmann mit seinem Vorschreiten, daß seinem Kollegen und den beiderseitigen unter denen nach dem Ausscheiden des bekannten Dr. Wyneken besonders der ehemalige nationalliberale Abge­ Beiräten,

ordnete Dr. Blankenburg hervortrat, kaum die nötige Zeit blieb,

um die Berordnungsprojekte Hoffmanns stilistisch zurechtzustutzen.') Schon einen Tag nach der offiziellen Übernahme des Kultus­ ministeriums erfolgte der sogenannte Geschichtserlaß vom 15. No­ vember 1918, an den auf Adolph Hoffmanns Betreiben zum Schluß

eine Bestimmung über die ihm von je besonders am Denzen liegende Dissidentenkindersrage angehängt wurde: „Bis zum Erlaß

über Trennung von Schule und Kirche sind Kinder von Dissi­

denten und solchen Andersgläubigen, für die ein Religionsunter­ richt im jetzigen Schulplan nicht vorgesehen ist, auf Antrag der Erziehungsberechtigten ohne jeden weiteren Nachweis vom Reli*) Vgl. Hämisch' Erklärung gegen A. Hoffmann vom 4. Jan. 1919. Berliner Tageblatt vom 5. Jan., Nr. 8. Revolution und Mrche.

34 gionsunterricht zu befreien."l) In einem Erlaß vom 27. No­ vember wurde kurzerhand die geistliche Schulaufsicht beseitigt, ohne daß man bei dem notorischen Eintreten des größten Teils der Lehrerschaft für diese Reform ein Wort der Begründung für nötig erachtet hätte. Eine um so langatmigere Einleitung wurde dem sogenannten Neligionserlaß vom 29. November vorausgeschickt,

wohl in dem Gefühl, daß seine Bestimmungen nur zu leicht als eine schwere Beeinträchtigung der Religionsfreiheit gedeutet werden konnten. Ausdrücklich heißt es in der Vorrede, daß die Aufhebung des Religionszwanges in der Schule nicht im Namen der Trennung von Kirche und Staat, bereit Durchführung vielmehr noch zu treffender Entscheidung vorbehalten bleiben müsse, son

dein - man erinnere sich der taktischen Ratschläge der Dieterichscheu Denkschrift — im Namen der Religions- und Gewissens­ freiheit selbst geschehe und im Hinblick auf das öffentliche Ge­ wissen, das längst die Beseitigung „dieses Rechtes eines vergangenen Zeitalters" fordere. Der Erlaß übersieht nur, daß das öffentliche Gewissen nichts weniger als ein einheitliches in dieser Frage war, nicht einmal innerhalb der Lehrerschaft, die die sozialistischen Minister mit einigem Schein des Rechtes für ihre Auffassung in Anspruch nehmen konnten?) Im Grunde stellt sich der Erlaß vom 29. November schon als die von Adolph Hofsmann im Geschichtserlaß vom 15. November angekündigte Trennung von Schule und Kirche dar. Zwar ließ er noch den fakultativen,

eventuell von der Geistlichkeit zu übernehmenden Religionsunter­ richt, schwerlich mit Willen Adolph Hoffmanns bestehen, der in einer *) Die Erlasse au? der Periode Haeaisch • Hoffmann sind gedruckt im Zentraldlatt für die gesamte Unterricht ^Verwaltung in Preußen Dezemberheft 1918, bei I.

TewS, Sozialdemokratie und öffentliches Bildung-wesen.

5. Aufl.

S. 69 ff. und

a. a. O.

*) Am 17. Rov. sprach sich der geschiNt-sühreude Ausschuß de- Deutschen Lehrer-

oereinS für Beseitigung aller lirchllchea Aussicht-rechte

und jede- Glauben-« und

Gewissen-zwange» für Lehrer und Schüler, kurz daraus

auch

der Au-schuß de»

Preußischen Lehrervereins für volle Trennung von Kirche und Schule, Entbindung des Lehrer- von der Verpflichtung zur Erteilung d - Religionsunterricht- usw. aus. Pidagogische Zeitung Jg. 1918.

Nr. 47, 49.

Indessen machte sich doch auch eine

p.geubewegung in der Lehrerwelt, vor allem in der katholischen gegen die Lösung

der Beziehungen von Kirche und Schule nachdrücklich geltend.

35 seiner nachträglichen Veröffentlichungen mit gewohnter Spitze gegen seinen Kollegen Harnisch bemerkt, daß nicht sowohl dieser wie Dr. Blankenburg durch seinen Einspruch Einschränkungen und Milderungen der Erlasse durchgesetzt habe.') Aber auch für diesen fakultativen Unterricht, den man schon aus logischen Gründen ganz unbehelligt hätte lassen müssen, sollten — hier ging der Erlaß noch über die Vorschläge der Dieterichschen Denkschrift hinaus alle häuslichen Schularbeiten, insonderheit das Auswendiglernen von Katechismiisstücken, Bibelsprüchen, Geschichten und Kirchen liebern untersagt sein. Daß der Religionslehre der Charakter als Prüfungsfach genommen wurde, mochte in der fakultativen Ge­ staltung des Unterrichts begründet liegen; daß aber das Schul­ gebet vor und nach dem Unterricht aufgehoben, jede Verpflichtung der Schüler seitens der Schule zum Besuch von Gottesdiensten oder anderen religiösen Veranstaltungen für unzulässig erklärt und die Schulfeiern jeder religiösen Eigenart entkleidet wurden, drückt dem Erlaß vom 29. vollends den Stempel des Hoffmannscheu, d. h. eines religionsfeindlichen Geistes auf, der nach dem schon von W. Liebknecht empfohlenen Rezept die Entwurzelung der Kirche und des Christentums von der Schule her in Angriff nehmen wollte?) Minister Harnisch, der hinterher offen zugegeben hat, daß es besser gewesen wäre, die Aufhebung der geistlichen Schulaussicht und des religiösen Schulzwangs der künftigen preußischen Landesver­ sammlung vorzubehalten, hat ihre Vorwegnahme mittels Dekrets u. a. damit zu rechtfertigen gesucht, daß gleiche Maßregeln auch in anderen deutschen Staaten getroffen oder vorbereitet seien. So *) „Tse Republik" vom 3. Jan. 1919.

Deshalb kann e8 doch sehr wohl

richtig |em, daß Harnisch, wie er in feinem Aussatz „Der neue Kulturkampf" („Die G ocke" vom 4. Jan. 1919) bemerkt, speziell den ReligtouSerlcß nur schweren Her­

zen» und unter dem Zwange politischer Notwendigkeiten", vor allem der Notwendig­ keit, „in den knitschen Novemberwochen bi» an die Grenze de» Möglichen alle» zu vermeiden, wa» einen Bruch zwischen den nun einmal in der Regiemng vereinigten beiden sozialistischen Parteien Hütte herdeisiihren können", mitbeschlossen hat.

*) In seiner „Rechtfertigung" („Der Atheist"

vom

19. Jan.

1919)

betont

Hoffmann, daß die Initiative zu den Erlassen vom 27. und 29. No», nicht von ihm au»gegongen fei.

Deshalb bleibt e» doch bestehen, daß Hoffmann in dem Augen­

blick, al» die Erlasse zur Debatte standen, sür ihre möglichste Berschürfung ein­ getreten ist.

:r*

36 sei bekannt geworden, daß in Bayern die Aufhebung der geistlichen Schulaufsicht vorbereitet wurde, ebenso sei z. B- in Hamburg die völlige Beseitigung jedes Religionsunterrichts, auch des fakul­

tativen in allen Schulen vom 1. Januar 1919 ab durch den Arbeiter- und Soldatenrat beschlossen worden. „Es bestand die dringende und unmittelbare Gefahr, daß auch für Preußen ver­ sucht werden würde, eine so einschneidende Maßnahme durch ein Dekret des Berliner Vollzugsrats der Arbeiter- und Soldatenräte kurzerhand durchführen zu lassen." ’) Man wird diese Entschuldi­ gung kaum als vollgewichtig gelten lassen können. In Bayern ist die Aufhebung der geistlichen Schulaufsicht erst am 16. Dezember, fast drei Wochen später als in Preußen verfügt worden; ebenso

datiert die drakonische Verfügung des Hamburger Arbeiter- und Soldatenrats über die gänzliche Abschaffung des Religionsunter­ richts erst vom 9. Dezember.

Überhaupt ist Preußen doch mit

feinen Verordnungen vom 27. und 29. November gegen die geist­ liche Schulaufsicht und den Religionsunterricht, die geradezu Schule gemacht haben, allen anderen Staaten voraufgegangen.

Lediglich Braunschweig ist, so viel ich sehe, mit dem „Gesetz"

des Arbeiter- und Soldatenrats vom 21. November, das mit der ganzen geistlichen Schulaufsicht auch den Vorsitz der Pastoren in den Schulvorständen beseitigte, Preußen zuvorgekommen; dagegen datiert z. B. in Sachsen die Aufhebung des Katechismusunterrichts und die Einschränkung des übrigen Religionsunterrichts in der Volksschule vom 12. Dezember, in Bayern die Aufhebung des

Religionsunterrichts als Pflichtfach, die in ihren Einzelheiten ganz besonders dem preußischen Erlaß vom 29. November nachgebildet

ist, gar erst vom 25. Januar 1919.

Richtig ist dagegen, daß

Adolph Hoffmann ein radikales Vorgehen sowohl in der Frage

des Religionsunterrichts, in der ihn der Erlaß vom 29. November noch nicht befriedigte, als auch besonders in der Frage der Tren­

nung von Staat und Kirche durch Drohungen mit dem Arbeiter­ und Soldatenrat zu erzwingen gesucht hat. Der Kernpunkt der Differenzen zwischen ihm und seinem Ministerkollegen, die auf beiden Seiten zu wiederholter Flucht in die Öffentlichkeit *) Ver*) „Die Glocke- vom 4. Jan. 1919. ’) Vgl. Konrad Harnisch, Der .neue Kulturkampf", .Dir Glocke" vom 4. Jan.

37 aulassung gegeben haben, liegt doch darin, daß der erstere mit der Durchführung der völligen Trennung von Staat und Kirchen je eher je lieber vorschreiten, keinenfalls aber mit ihr bis zu dem Zusammentreten der preußischen Landesversammlung warten wollte, mährend Haenisch sich immer mehr in der Auffassung befestigte, daß eine so schwerwiegende Frage wie die der Trennung von Staat

und Kirche, die so tief in das Gewissensleben von Millionen Deut­ scher eingreife, unter keinen Umständen durch ein Dekret der Re­ gierung oder gar des Kultusministeriums allein geregelt werden, rielmehr der Entscheidung durch die gewählte Volksvertretung Vor­ behalten bleiben müsse. In denselben Tagen, wo Adolph Hoff­ mann seine Parole „Vollständige Trennung von Staat und Kirche lvird oberster Grundsatz sein" in alle Winde ausposaunte, er­ klärte Haenisch mit aller Entschiedenheit (30. November), daß er mit der Auffassung: keine übereilte Lösung der Frage im Wege der Diktatur, Entscheidung durch die Nationalversammlung stehe und falle1) Schon acht Tage vorher hatte er in einer Konferenz von Geistlichen und in einem Telegramm an die „Rheinische Zei­ tung" in Köln sich dafür verbürgt, daß selbstverständlich in der Trennungsfrage mit aller gebotenen Rücksicht verfahren werden, daß man diese Dinge nicht roh und brutal, sondern so pflegsam und schonend tote möglich behandeln werde?) Haenischs Verdienst war es doch wesentlich, wenn an die ganze Frage nicht mit jener Lcichtherzigkeit und unbekümmerten Naivität herangegangen wurde, die seinen Kollegen kennzeichneten, sondern der Weg der Einfor­ derung zahlreicher Gutachten und der gründlichen Erörterung in Konferenzen und Kommissionen eingeschlagen wurde. Damit allein schon war die Gefahr eines überstürzten Zugriffs wesentlich ge­ mindert, denn mit jeder Besprechung, jedem neuen Gutachten mußte um so mehr heriwrtreten, wie ungeheuer schwierig und ver­ wickelt die große kirchenpolitische Frage in einem paritätischen Staate von dem Ausmaß Preußens lag, und welche verhängnis-

1919, A. Hossmann, «Minister Harnischs Kanossagang", „Die Republik" vom 3. Ja».

1919; derselbe, «Eine Rechtfertigung", „Der Atheist" tont 19. Jan. 1919. l) Berliner Tageblatt vom 30. November 1918, Nr. 613.

*) Germania vom 24. und 25 November 1918, Nr. 549 und 550.

38 vollen, gar nicht vorsichtig genug in Betracht zu ziehenden Folgen eine Durchschlagung des gordischen Knotens haben konnte. Was dem Minister Haenisch in der Trennungsfrage den Rücken gesteift hat, ist ihre starke Rückwirkung auf die öffentliche Meinung. Es begreift sich, daß schon die Erhebung Adolph Hoff­ manns zum Kultusminister nach seinen ganzen Antezedentien und nicht zuletzt nach seiner uns bekannten Rede vom 6. Juni 1918 von dem ganzen christlich gesinnten Volksteil beider Konfessionen wie eine ungeheure Provokation empfunden wurde. Die Erregung steigerte sich, besonders in katholischen Kreisen, als am 18. und 19. November die „Kölnische Volkszeitung" zu melden wußte'), daß Adolph Hoffmann plane, schon in einigen Tagen auf dem Wege des Dekrets die Trennung von Staat und Kirche mit Wir­ kung vom 1. April durchzuführen, von diesem Datum ab die Zahlung der Kultusgelder einzustellen und selbst den Klöstern ihr Eigentum zu nehmen, und als Kardinal von Hartmann daraus unverweilt namens sämtlicher preußischen Bischöfe feierliche Ver­ wahrung gegen einen solchen „Akt willkürlicher Gewalt" und „fla­ granten Rechtsbruch" einlegte?) Gewiß, die Nachricht des katholi­ schen Blattes traf wohl nicht in vollem Umfange zu. Wie Adolph Hoffmann nachgchends wiederholt versichert hat, hätte auch bei ihm keinen Augenblick die Absicht eines rücksichtslosen, den Be­ stand der Kirche oder die materielle Stellung der Geistlichen irgend­ wie gefährdenden Vorgehens bestanden, vielmehr will er mir einen allmählichen, aus eine Reihe von Jahren zu verteilenden Abbau der Staatszuschüsse im Auge gehabt haben. „An eine Besitz­ ergreifung des Kirchenguts und Kirchenvermögens für Staats­ zwecke war weder gedacht noch gar gesprochen, sondern es sollten durch Schaffung von Fonds die künftigen finanziellen Lebens­ fundamente der Kirche gesichert werden. Alle, den Kirchen zu­ gewendeten Vermächtnisse sollten, wie dies auch schon während meiner Tätigkeit als Minister in einer großen Anzahl von Fällen durch mich persönlich geschehen ist, unterschiedslos bestätigt werden, die Selbständigkeit der Landes- und Provinzialkirchen nicht an­ getastet und ihnen die Möglichkeit eines Zusammenschlusses zu

’) Kölnische Volkszeitung vom 19. und 20. Nov., Nr. 912 und 916. Kölnische Volkszeitung vom 22. Nov. 1918, Nr. 921.

39 Vermögens- und Verwaltungsgemeinschaften gewahrt werden."') Auch mir hat A. Hofsmann auf eine persönliche Anfrage be­ stätigt : „Die Frage der Säkularisierung des Besitztums der Kirchen und Klöster ist, solange ich dem Ministerium angehörte, über­ haupt nicht erörtert worden." Aber es scheint doch, daß A. Hoffmanns Gedächtnis nicht in allen Stücken untrüglich ist. Wie wir sahen, ist in der Dieterich­ scheu Denkschrift, die in den Besprechungen vom 13. und 14. De­ zember eine Rolle gespielt hat, die völlige Enteignung der Kirchen nach französischem Muster sogar sehr eingehend erörtert worden. Gleichfalls auf schwachen Füßen steht die Versicherung A. Hoff­ manns, die Selbständigkeit der Landeskirchen habe nicht angetastet werden sollen. War es etwa nicht ein Eingriff in die Selbständig­ keit der Landeskirche, wenn der Minister den Berliner Pfarrtzr Df. Wessel dem Evangelischen Oberkirchenrat mit dem Recht,

alle kirchlichen Erlasse gegenzuzeichnen und den Vorsitz in der obersten kirchlichen Behörde an sich zu nehmen, aufoktroyierte?') Angesichts seiner notorischen Feindseligkeit gegen Christentum und Kirche durfte sich A. Hoffmann kaum beklagen, wenn jedes seiner Worte, jeder seiner Schritte in der Öffentlichkeit mit dem entschiedensten Mißtrauen ausgenommen wurde, und wenn die Er­ lasse vom 27. und 29. November, mochten sie auch nicht aus­ schließlich auf sein Konto zu setzen sein, durchweg in dem Sinne gedeutet wurden, als habe Hoffmann es wirklich auf die Zer­ trümmerung der Kirche abgesehen. Allein schon durch die Persönlichteit Hoffmanns, von dem man sich nun einmal des Bösesten versah, ist die Atmosphäre eines neuen Kulturkampfs geschaffen worden, vor dem die Altmeister der Sozialdemokratie so dringend gewarnt hatten. Man weiß, wie hohe Wellen die Bewegung schlug, in der katholischen Kirche, die mit ihrer Organisierung des Wider­ standes am erstell auf dem Plan war, wie in der evangelischen. Den mehrfachen Protesten des Kölner Erzbischofs, besonders auch in der Frage der geistlichen Schulaufsicht folgte eine geharnischte Erklärung des gesamten preußischen Episkopats, die den schärfsten ') „Der Atheist* vom 19. Jao. 1919. •) Die Ernennung Wessel- ist nachher durch Minister Hämisch wieder rückflSngig gemacht

40 Einspruch gegen den Plan, Kirche und Staat in Preußen von­ einander zu trennen, erhob und rundweg erklärte: „Wir Katholiken Preußens werden das unter keinen Umständen und um keinen Preis zugeben und billigen."x) Auch der evangelische Oberkirchen­ rat und die Konsistorien blieben mit Eingaben und Vorstellungen nicht zurück. Im Kultusministerium haben sich seit den November­ tagen ganze Berge von Protesten und Eingaben aus allen Landes­ teilen und aus allen Klassen der Bevölkerung gehäuft, die nament­ lich der Trennung der Kirche von Staat und Schule galten und vor allem mit der größten Dringlichkeit das Eine betonten, daß in dieser das ganze Volk bis in seine tiefsten Tiefen erregenden Frage das Volk selbst in seinen erwählten Vertretern zu Worte kommen müsse. Ja, es zeigte sich bald, daß das vielfach geradezu als „wahnwitzig" bezeichnete Vorgehen A. Hoüinanns im Osten wie im Westen das Staatsgefüge zu sprengen drohte! Und wie 'in Preußen so in Sachsen, Bayern usw.: überall die größte Auf­ regung, überall eine starke Bewegung zu Gunsten einer Be­ fragung des Volkes. Einer Kundgebung zur Trennungsfrage in Sachsen, die mit aller Entschiedenheit forderte, daß die Jahr­ hunderte alte Verbindung zwischen Staat und Kirche nicht durch einen willkürlichen Machtspruch gelöst werde, sondern daß der Bolkswillc selbst darüber entscheide, schlossen sich in wenigen Mo­ naten weit über eine Million wahlberechtigte Volksangehörige an, mehr als bei den Wahlen an bürgerlichen Stimmen abgegeben warben, so daß klar wurde, daß die Bewegung gegen eine plötz­ liche und ungerechte Lösung der Trennungssragc bis auf die sozialdemokratischen Massen übersprang. Eine solche machtvolle, sich von Tag zu Tag verstärkende Volksbewegung, die selbst stürmische Massenkundgebungen wie den großen Demonstrationszug der „Christlichen Bolkspartei" vor das Berliner Kultusministerium am Ncujahrstage zeitigte, konnte von den revolutionären Gewalten, die sich durchweg selbst zu dem demokratischen Prinzip der Selbstbestimmung des Volkes bekannten, nicht ignoriert werden. Sie konnte es um so weniger, als sie die Wahlen zu der Nationalversammlung und den Landesversamm­ lungen, die vor der Tür standen, stark zu ungunsten der provrl) Germania vom 23 Dez. 1918, Nr. 598.

41 sorischen' Regierungen zu beeinflussen drohte (und dann tatsächlich auch beeinflußt hat). So suchten die Regierungen allerwärts Ol auf die brandenden Wogen der Erregung zu gießen. In den zahl­ reichen Kundgebungen des preußischen Kultusministeriums wurde, ohne daß das Prinzip der Trennung von Staat und Kirche auf­ gegeben wurde, immer wieder betont, daß nichts geschehen solle und werde ohne die loyalste Rücksichtnahme auf die berechtigten Interessen und Empfindungen auch der kirchlichdenkenden Kreise

des preußischen Volkes. Bald konnte Minister Harnisch, der in­ folge einer inehrwöchentlichen Erkrankung seines Kollegen Hoff­ mann etwa von Mitte Dezember ab das Heft im Kultusministerium allein führte, es auch als ausgeschlossen erklären, daß irgend ein Schritt in der Richtung auf die Kirchentrennung hiv noch vor der Nationalversammlung unternommen werden würde. Als das Ziel einer vernünftigen Politik bezeichnete er in der zweiten Hälfte Dezember: „Hinzuarbeiten auf eine allmähliche Entkirchlichung des Staates und eine allmähliche Entstaatlichung der Kirche;'^) gleichzeitig meinte er, daß es viele Monate dauern werde, ehe die ganze Frage auch nur klargestellt sei. Sympathisch berührt an den T. auch in der Öffentlichkeit verbreiteten Antworten des Ministers Haenisch und seiner Beiräte auf die eingelaufenen Kundgebungen die uns schon aus seiner Rede vom 15. November 1917 bekannte, also nicht etwa jetzt nur als Beschwichtigungsmittel angewandte Wärme, mit der er sich über die Bedeutung der Religion als einer Quelle sittlicher Kräfte und eines wichtigen Faktors des öffentlichen Lebens äußerte. Sicher­ lich war es aufrichtig gemeint, wenn er den Wunsch aussprach, die Religion von jeder schädlichen Verquickung mit den rein welt­ lichen Ausgaben des Staates befreit zu sehen, damit sie ihre ganze mit Recht beanspruchte autonome Größe entfalten könne. In der Erkenntnis des durch das übereilte Vorgehen A. Hofsinanns begangenen Fehlers schreckte die preußische Regierung auch nicht davor zurück, die Erlasse vom 27. und 29. November über die Aufhebung der geistlichen Schulaufsicht und des religiösen Schulzwangs außer Kraft zu setzen. Eine förmliche Zurücknahme vermied man in dem einen wie dem anderen Falle. Hinsichtlich 1

DaS demokratische Deutschland, Nr. 3., vom 28. Dez. 1918.

42 der erstgenannten Maßregel war sie um so weniger von nöten, als der Erlaß vom 27. November, den A. Hoffmann in seinem blinden Eifer entgegen einem ausdrücklichen Beschluß des Staats­ ministeriums ohne vorherige Genehmigung des politischen Kabi­ netts auf eigene Faust veröffentlicht hatte, gar nicht in die Ge­ setzessammlung ausgenommen, also rechtlich gar nicht in Kraft getreten war. So konnte sich der Minister Hirsch namens des Staatsministeriums in der Beantwortung des Protests des Kar­ dinals von Hartmann gegen die Aufhebung der geistlichen Orts­ schulinspektion mit der Erklärung begnügen, daß dieser Erlaß überhaupt nicht zu Recht bestehe, und daß die endgültige Rege­ lung der Angelegenheit der preußischen Nationalversammlung oder einer später zu berufenden gesetzlichen Körperschast vorzubehalten fein werde.

Mit dem Abbau des Religionserlasses vom 29. November beschäftigen sich zwei Verordnungen vom 18. und 28. Dezember 1918. Die erstere wendet sich ausdrücklich dagegen, das; die Neu­ regelung des Religionsunterrichts nun etwa zu einem antireligiösen Gewissensdruck ausgenützt werde; int Gegenteil solle bei ihrer Durch­ führung mit jeder gebotenen Schonung der religiösen Empfin­ dungen von Kindern und Eltern vorgegangen werden. Auch der Attffassung, daß mit dem Erlaß vom 29. November, nach dem ja die Schulfeiern teilten religiösen Charakter mehr tragen dursten, die Schulweihnachtsfeiern verboten feien, trat das Kultusmini­ sterium, das in beut Weihnachtsfest „eine deutsche Volks- und Familienfeier, das deutscheste Fest überhaupt" sehen wollte, ent­ gegen. Am Schluffe der Verfügung wird freilich noch die be­ stimmte Erwartung ausgesprochen, daß die kirchlich gesinnten Kreise der loyalen Durchführung der Grundgedanken des Religions­ erlasses keine Schwierigkeiten mehr bereiten würden. Indessen ordnete die weitere Verfügung vom 28. Dezember mit Rücksicht ans die lebhaften Bedenken, die vielfach gegen den Erlaß vom 29. November geltend gemacht worden seien, an, daß seine Durch­ führung überall dort, wo sie auf ernste Schwierigkeiten stoße, bis zur Entscheidung durch die preußische Nationalversammlung zu unterbleiben habe. Damit war wenigstens in Preußen, wo wenige Tage spater

43

A. Hofsmann wieder aus der Regierung ausschied, im wesentlichen der alte Zustand, wie er vor der Revolution bestanden hatte, her­ gestellt. Auch in Sachsen ist die Verordnung über die Beschränkung des Religionsunterrichts am 30. Dezember wieder zurückgenommen. In den übrigen Staaten Deutschlands scheint ja eine solche rück­ läufige Bewegung nicht eingetreten zu sein, im Gegenteil ist in Bayern, wie schon erwähnt, die Aufhebung des Religionsunterrichts als Pflichtfach erst am 25. Januar erfolgt, nicht ohne einen er­ greifenden Protest des Erzbischofs von Faulhaber, eines Mannes von tiefem, sozialen Gerechtigkeitsgefühl, und eine starke Erregung des kirchlich gesinnten Teils der Bevölkerung hervorzurusen. Aber im großen und ganzen ist doch überall ein Stillstand in den aus die Durchführung des Erfurter Programms gerichteten Maßregeln der revolutionären Gewalten eingetreten, indem sich diese durch­ weg auf die demokratische Pflicht besannen, in einer Frage von solcher Bedeutung dem Volk die Selbstbestimmung anheirnzustellen. Durch den Ausfall der Wahlen zu der Nationalver­ sammlung wie zu den einzelnen Landesversammlungen, der im Reiche eine Koalitionsregierung von Mehrheitssozialisten, Deut­ scher demokratischer Partei und Christlicher Volkspartei herbei­ geführt hat und in Preußen voraussichtlich ebenfalls herbeiführen wirb, ist auch eine sichere Gewähr dafür geschaffen, daß die Lösung der schwierigen und zarten kirchenpolitischen Fragen nicht in einem religions- und kirchenseindlichen Sinn ä la Hoffmann ge­ schehen wird. Es steht zuversichtlich zu hoffen, daß die Reichsversassung die religiösen Grundrechte nunmehr in einer Weise fest­ legen wird, daß auf diesem Gebiete in den einzelnen Staaten nicht die größte Willkür einreißen kann. Von symptomatischer Bedeutung erscheint es, daß die in dem ursprünglichen Entwurf der Rcichsverfassung vorgesehenen kirchenpolitischen Bestimmungen, die durch das Verbot, behördlicherseits nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft zu fragen, eine für das kirch­ liche Steuerwesen und überhaupt für das kirchliche Leben höchst ungünstige Situation zu schaffen drohten, im endgültigen Entwurf der Reichsregierung eine Fassung erhalten haben, die den von kirchlicher Seite erhobenen Forderungen schon viel mehr entgegcnkommt. Nichts könnte den weiteren Auseinandersetzungen

44 in den Landesversammlungen förderlicher sein, als wenn es ge­ länge, in den Beratungen der Nationalversammlung den religiösen Grundrechten eine abschließende Form zu geben, die den einzelnen Freistaaten ein Vorbild sür eine gerechte und wohlwollende Be­ handlung der kirchenpolitischen Fragen gäbe. An schweren Auseinandersetzungen und Kämpfen zwischen dem durch die Revolution so ungeheuer gestärkten Sozialismus und dem nichtsozialistischen Volksteil über Religion und Kirche wird es auch in Zukunft nicht fehlen; geraume Zeit noch mag es dauern, bis hier ein befriedigender Ausgleich gefunden wird. Aber er kann und muß sich schließlich finden, wenn nur beide Teile, der Sozialismus und das kirchliche Christentum, das discite moniti der Weltgeschichte beherzigen. Die Kirche muß es sich klar machen, daß sie durch ihre enge, viel zu enge Ver­ bindung mit den herrschenden Klassen in Staat und Gesellschaft, die noch in dem Kriege sinnfällig zu Tage getreten ist, das Ver­ trauen der breiten sozialistischen Massen verloren hat und verlieren mußte, und sie wird nunmehr alles aufzubieten haben, dieses Ver­ trauen zurückzugewinnen, indem sie sich im ureigensten Interesse von ihrer einseitig staatlich-bürgerlichen Basis und Orientierung auf die Tiefe, auf den Urgrund des Volkes zurückzieht und sich be­ müht, sich ganz anders als bisher in die Psyche und die An­ schauungswelt auch der sozialistischen Arbeiterwelt einzuleben.Sie lvird weit ernstlicher und ängstlicher Sorge zu tragen haben, daß man sie nicht von neuem mit sozial rückständigen und politisch reaktionären Parteien identisizieren könne. Schon macht sich ja wieder das Bestreben mancher Parteien geltend, die Kirche unter dem Vorgeben, ihre Interessen vorzugsweise zu vertreten, an sich zu ketten, und sie als Vorspann gegen die Sozialdemokratie zu benutzen. Es würde wahrhaft verhängnisvoll sein, wenn die Kirche solchen Lockungen folgen wollte; ganz im Gegenteil muß sic sich erinnern, daß das Christentum von Laus aus eine Religion bei Armen und Bedrückten war, und sie muß mit höchstem Ernst und Eifer daran gehen, die dadurch bedingte Wesensverwandtschast mit dem Sozialismus zu vertiefen und zu verankern. *) Vgl. die schönen Ausführungen von Karl Muth Im MSrzhest der Zeitschrift „Hochlanb“ (©. 589), die einen ähnlichen eindringlichen Appell an die katholische Well richten

45 Die Kirche wird sich auch hüten müssen, den hergebrachten Forderungen der Sozialdemokratie in bezug auf das Verhältnis von Staat, Kirche und Schule, die natürlich nicht im Moment einev siegreichen Revolution von der Tagesordnung verschwinden können, von vornherein mit einer Obstruktionspolitik zu begegnen. Im Grunde müßte es wenigstens der evangelischen Kirche leicht fallen, sich in eine wesentlich veränderte Stellung zum Staate hinein­ zufinden. Diese veränderte Stellung ist ja durch den Fortfall des landesherrlichen Episkopats und des Kirchenregiments schon gegeben, und es kommt nun darauf an, sich von unten her als eine wirkliche und wahrhafte Volkskirche, unter Verzicht auf den bisherigen, den breiten Volksmassen so verleideten autoritären und bürokratischen Charakter und unter bewußter und stärkster Heran­ ziehung des Laienelements neu zu konstruieren. Der Gedanke einer allmählichen Entkirchlichung des Staats und einer eben­ solchen Entstaatlichung der Kirche, wie ihn Harnisch als das Ziel einer vernünftigen Politik hinstellt, wird kein Trennungsmoment zwischen der protestantischen Kirche und dem Sozialismus sein; er lebt ja längst in ihren eigenen Reihen und ist in unseren Tagen, wovon auch dies Buch ein beredtes Zeugnis ablegt, in neuer Stärke in allen kirchlichen Richtungen, von der Rechten bis zur Linken und von der Linken bis zur Rechten erwacht.

Der katholischen Kirche, die man auf die Notwendigkeit des innigsten Verwachsens mit dem Volkstum und der hiwgebenden sozialen Betätigung nicht erst hinzuweisen braucht — in beidem ist sie der durch das Staatskirchentum so viel enger ge­ fesselten protestantischen Kirche bei weitem überlegen gewesen — wird es ja bei ihrer prinzipiellen Auffassung von der gottgegebenen engen Verbindung zwischen geistlicher und weltlicher Ge­ walt viel schwerer sein, sich auf eine Lösung der Beziehungen zwischen Kirche und Staat einzulassen. Aber sie wird sich dessen erinnern, daß, um von Äußerungen katholischer Autoritäten wie Kardinal Hergenröther, Ludwig Windthorst und Peter Reichen­ sperger zu schweigen, die unter gewissen Voraussetzungen selbst die Trennung von Staat und Kirche befürwortet haben, auch ein Papst Pius X. in seiner Enzyklika Gravissimo officii das tolerari posse in Bezug auf eine Trennungsform nach Art

46 der

ausgesprochen

amerikanischen

allen gemeinsame

wenn die

Verständigung erzielen,

ihren

die

Kirche

der

»die

über ihre

freie Verfügung

Über diesen Punkt ließe sich also sehr wohl

Güter" gelassen habe.

eine

hat,

Freiheit und die

katholische Kirche,

prinzipiellen Standpunkt fahren zu

lassen



ohne

das kann

kein Mensch von ihr verlangen —, ihr Augenmerk vor allem daraus

richtet, die Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche so zu

daß dabei die größtmögliche Selbständigkeit und Unab­

lenken,

hängigkeit

der

Kirche, die günstigste finanzielle Stellung, deren

sie schon um ihres charitativen Wirkens willen unbedingt bedarf, darf in diesem Zusammenhang darauf hin­

Es

herausspringt.

werden,

gewiesen

daß

auch

große

sozialdemokratische

Organi­

sationen, wie der Gauvorstand der sozialdemokratischen Partei für Nordbayern sich kürzlich zu einer Form der Trennung gleich der­ jenigen in den Vereinigten Staaten von Amerika und der Schweiz bekannt

haben,

„wo bei vollkommener Neutralität der Staats­

gewalt und bei unbedingter Sicherung jeder geistigen Freiheit die

Hier zeigt sich

religiösen Gemeinschaften am besten gedeihen". *)

eine Möglichkeit eines Ausgleichs zwischen den scheinbar so weit auseinanderstrcbenden

Standpunkten

des

Sozialismus

und

der

katholischen Kirche, die von beiden Seiten nicht außer acht ge­

lassen werden sollte. Aber

auch

die

revolutionären

Gewalten

dürfen

inmitten

ihres noch fortdauernden Sicgeszuges sich einer ernstlichen Re­

vision der bisherigen Stellung zu Religion und Kirche keinenfallentziehen. Denn einmal hat doch die große Probe der Revolution

selbst mit eindrucksvollster Deutlichkeit bewiesen, daß die seit Marx und Engels tief eingewurzelte sozialdemokratische Normalvorstel­

lung, als ob mit der sozialen Revolution Religion und Kirchen sofort

völlig

allen

Boden

haltlose

unter

Utopie

den

ist.

Füßen

Im

verlieren

Gegenteil

hat

würden, sich

eine

gezeigt,

daß die Religion doch die stärkste und naturhafteste Macht int Volksleben ist.

Die Throne sind in ganz Deutschland unter dem

Sturmesbeben der Revolution im Nu zusammengestürzt, aber die Altäre

haben

sich

von

einer

sieghaften

Festigkeit

gezeigt,

die

*) Au-tanfchdienst be8 Evangel. PreßverbandeS sür Deutschland, Nr. 79, vom 7. Jan. 1919.

47 sie als in Fels und Erz fest gegründet erscheinen läßt. Die Sozialdemokratie, die ein so feines Gefühl für Massenstimmung lat, wird, auch wenn sie das „Ausflackern" der kirchlich-religiösen Bewegung in der Revolutionszeit auf das Ungeschick des unglück­ seligen Adolph Hoffmann zurückführen will, doch nicht daran zweifeln können, daß trotz aller Ungunst der Verhältnisse, trotz der entsetzlichen Materialisierung, der das deutsche Volk infolge des Krieges in einem noch nie erhörten Maße anheinigefallen ist, die Religion noch immer von stärkster Vitalität und Bedeutung ist und auch mit dieser ungebrochenen Lebenskraft in einen Staat der weitgehendsten Sozialisierung hineinschreiten würde. Die revolutionären Gewalten werden aber auch noch ein Zweites bedenken müssen. Es lebte bisher in der Sozialdemo­ kratie der Glaube, daß mit dem Siege der Revolution von selbst der Charakter des Menschen und insonderheit des Proletariers ein tief sittliches Gepräge erhalten werde. Schon Lassalle rühmte: „Nichts ist mehr geeignet, einem Stande eine würdevolles und tief sittliches Gepräge aufzudrücken, als das Bewußtsein, daß er zum herrschenden Stande bestimmt, daß er berufen ist, das Prinzip seines Standes zum Prinzip des gesamten Zeitalters zu erheben, seine Idee zur leitenden Idee der ganzen Gesellschaft zu machen und so diese wiederum zu einem Abbilde seines eigenen Gepräges zu gestalten/") Und ein Karl Kautsky sah als Ergebnis der Revolution die Schaffung eines höheren Typus des Menschen, als es der moderne sei, vorher. „Dürfen wir nicht annehmen, daß unter den Bedingungen des Sozialismus ein neuer Typus des Menschen erstehen wird, der die höchsten Typen überragt, welche die Kultur bisher geschaffen? Ein Übermensch, wenn man will, aber nicht als Ausnahme, sondern als Regel; ein Mensch, Übermensch gegenüber seinen Vorfahren, aber nicht gegenüber seinen Genossen, ein erhabener Mensch, der seine Befriedigung nicht darin sucht, groß zu sein unter verkrüppelten Zwergen, sondern groß unter Großen, glücklich mit Glücklichen — der sein Gefühl der Kraft nicht daraus schöpft, daß er sich erhebt auf den Leibern der Zertretenen, sondern daraus, daß ihm die Bereinigung mit

*) K Lassalles Reden und Schriften, HrSg. von Ed. Bernstein II, 49.

48 Gleichstrebenden den Mut gibt, sich an die Bezwingung der höchsten Probleme zu wagen."') Ach, was ist von diesen hochgespannten Hoffnungen bei Sozialismus übrig geblieben? Gewiß, noch hat sich nicht, um mit Marx zu reden, die Vergesellschaftung der Produktionsmitkel vollzogen. Aber kann sich noch irgend ein Vertreter der rerolutionären Gewalten einbilden, daß die Durchführung der Sozialisierung mit einem Schlage aus dem Proletarier, dem heute im Moment der Erringung der politischen und wirtschaftlichen Vormacht jedes Gefühl für Solidarität auch innerhalb der Ar­ beiterschaft, für Gemeingefühl, für Sozialismus im edelsten Sinne abhanden gekommen zu sein scheint, ein höheres und von sozialer Ethik erfülltes Wesen machen wird? Die Führer der sozialistischen Arbeiterschaft gestehen heute selbst den völligen moralischen und sozialen Bankerott eines großen Teils der sozialistischen Arbeiter^ schäft zu. „Die Demoralisation ist eine allgemeine Erscheinung. Solidarität und Gemeinsamkeitssinn sind völlig in die Brüche gegangen," klagte noch jüngst Kaliski im Berliner Arbeiterrat. Und Konrad Haenisch gestand in seinem bemerkenswerten Vor­ trage über „Kulturpolitische Ausgaben", den er am 3. Februair in der Berliner Handelshochschule hielt: „Es hat sich in diesen ersten Monaten der Revolution herausgestellt, daß auch weite Ar­ leiterkreise leider noch nicht intellektuell und sittlich sich der großen Aufgabe würdig erwiesen haben, vor die sie von der Geschichte gestellt worden sind. . . Dieses wahnsinnige Spartakusfieber, das vor wenigen Wochen Berlin durchraste, das heute in Bremen, morgen in Düsseldorf und übermorgen in Hamburg oder Wilhelms^haven und ich weiß nicht wo, auflodert, die vielen unsinnigen Streiks, die wahnwitzigen Lohnforderungen, die dazu geeignet sind, unsere Industrie, unser ganzes Wirtschaftsleben und dann auch die Existenz und die Zukunft unserer Arbeiter einfach in den Abgrund hineinzutreiben — alle diese Dinge zeigen mir zu meinem tiefsten Schmerze, daß intellektuell und sittlich auch weite Arbeiter­ kreise noch nicht voll auf der Höhe stehen, auf der ich sie gern sehen möchte." Wenn aber die Dinge so stehen, wenn die sozialistische Ar') «art KautSty Die soziale Revolution.

2. Aufl. (1907).

S. 112.

49 beiterschaft in dem für sie bedeutendsten Moment der Geschichte, ivo sie größer und höher als je dastehen müßte in der Erfüllung des kategorischen Imperativs der Pflicht, der Pflicht vor allem zur Arbeit und zur Solidarität, wo die Parole des Marxismus „Proletarier aller Länder vereinigt Euch" zur vollen Verwirk­ lichung werden müßte, in sich selbst, in ihrem Sozialismus nicht die sittliche Kraft findet, deren der große zukunftsentscheidende Augenblick bedarf, so muß sich der Sozialismus nach Hilfe um­ sehen. Und diese Hilfe kann er doch nur bei der einzigen an­ deren sittlichen Macht finden, die die Geschichte kennt:, bei der Religion und ihrer Trägerin, der Kirche. Nur unter stärkster Mit­ wirkung von Christentum und Kirche kann sich die sittliche Er­ neuerung unseres armen und gebrochenen Volkes vollziehen. Mit vollem Recht bemerkt Haenisch: „So lange wir eine sozial fundierte und sozial betonte neue Ethik noch nicht haben, solange sind auch die starken sittlichen und religiösen An­ triebe der Vergangenheit nicht zu entbehren bei der sittlichen Er­ ziehung unseres Volkes. . . Es ist also nicht die Aufgabe, und kann nicht die Aufgabe des Sozialismus sein, diese Antriebe zu zerschlagen, sie zu negieren, es muß seine Aufgabe sein, diese sittlichen Antriebe nutzbar zu machen, einzuspannen in den Dienst des gesamten Volkes, der großen einheitlichen Nation."

Aus dieser Sachlage aber ergibt sich die klare und unabweisliche Folgerung: Solange der Sozialismus sich nicht mit eigener Kraft aus dem Sumpfe ziehen kann — und heute kann er es eingestandcner Maßen nicht —, so lange kann und darf ihm die Religion nicht Privatsache sein. Oder vielmehr, tvohl kann und darf sic ihm die heiligste Privatsache, aber eben so wohl muß sie ihm Volkssache, ja wir stehen nicht an zu sagen, Parteisache, sein. Gewiß nicht in dem Sinne einer engen dogmatischen Bin­ dung, wohl aber in dem Sinne einer Durchglühung mit tiefer ethischer Gesinnung und mit dem Grundsatz des ora et labora, der neben dem Erfülltsein mit Ehrfurcht vor den ewigen, den gött­ lichen Geheimnissen der Natur und neben dem Glauben an einen Sinn in der Welt die Arbeit als die motorische Kraft aller sozialen Wohlfahrt stellt. Auch den Religionsunterricht, der zu solcher Gesinnung erzieht und tüchtig madjt', darf er nicht Revolution und Kirche.

50 aus der Schule verbannen, er würde sich ja nur etwas rauben was er heute weniger als je entbehren kann. Und selbst zur Kirche muß der Sozialismus ein positives Verhältnis zu gewinnen suchen. Daß er zur alten Stacüts- und Klassenkirche kein Verhältnis lin­ den konnte, begreift sich; nun aber will ein Neues aus der Kirche werden, eine wirkliche und wahrhafte Volkskirche, und an diesem neuen Aufbau einer geläuterten, von den alten Banden der inneren Unfreiheit und Unmündigkeit befreiten Volkskirche soll und muß sich auch der Sozialismus beteiligen, um in gegen­ seitiger Befruchtung, im Nehmen und Geben, die vollen Kräfte zu gewinnen, ohne die er an seiner weltgeschichtlichen Mission rettungslos scheitern muß. So mag jenes schöne und prophetische Wort Lassalles, daß die Arbeiter der Fels seien, auf welchem die Kirche der Gegenwart gebaut werden solle, noch einmal Wahrheit werden.

Kapitel 2.

Die Stellung der evangelischen Kirchen im öffentlichen Lehen bei Ausbruch der Revolution. Von Wilhelm Bousset.

Für die zukünftige Stellung der Kirche im öffentlichen Leben wird die gegenwärtige in hohem Maße mit entscheidend sein, und somit ist die erste Bedingung für eine heilsame Regelung der Verhältnisse eine rückhaltlose Klarstellung der gegenwärtigen Lage. Sehen wir uns nun bei der Erörterung dieser vielfach verschlungenen Frage nach einem Leitgedanken um, der der Betrachtung den Dienst des Kompasses leistet, so bietet sich dieser in einem jetzt überall gehörten Schlagwort, das wir nur aus seiner politischen Sphäre in die kirchliche zu übertragen brauchen. Wie man den alten vorrevolutionären Staat, in dem wir lebten, mit einem Wort als bürokratischen Obrigkeits-Staat zu charakterisieren pflegt, so kann man mit demselben Recht von bürokratisch verwalteten Obrigkeitskirchen reden, wenn man sich den bisherigen Bau der evangelischen Kirchen und damit ihre Stellung im öffentlichen Leben klarmachen will. An diesem Punkt hat die enge Verbindung von Staat und privilegierten Kirchen jedenfalls bestimmend auf

51 deren Charakter eingewirkt. Der deutsch-preußische Obrigkeits-Staat hat den Kirchen den Stempel seines Wesens aufgedrückt. Man kann sich dem Eindruck gar nicht entziehen: die Stoßkraft in dem gesamten öffentlichen Leben der Kirche hat in ganz überwiegender Weise beim Kirchenregiment, seinen Konsistorien und Ober­ konsistorien gelegen. Ja man kann mit Fug und Recht behaupten, daß den evangelischen Kirchen dieser Obrigkeits-Charakter in noch höherem Maße ausgeprägt war, als dem deutschen Staatsleben. Denn wenn in diesem das Parlament und die parlamentarische Verfassung neben Obrigkeit und Bürokratie doch immerhin eine große Rolle spielte, so war das, was wir an kirchlicher Parla­ mentsverfassung hatten, doch nicht viel mehr als ein schöner Schein. Die kirchliche Synodal-Verfassung, zum guten Teil eine Errungenschaft der liberalen Ära von 1848, dereinst gedacht als der Versuch eines volkstümlichen Unterbaues des Konsistorialund Bürokratie-Kirchentums, blieb in kümmerlichen Anfängen stecken. Ein Wahlverfahren, das dem Gedanken einer wirklichen Vertretung des Kirchenvolkes geradezu Hohn sprach, in dessen einzelne Schönheiten wir uns nicht weiter vertiefen wollen, in­ folgedessen eine Zusammensetzung der Synoden, bei der weite Kreise und Berufsstände — Arbeiter, Kaufleute, zum Teil auch der gewerbliche Mittelstand — nahezu ausgeschlossen blieben, Ein­ berufung und Tagung derselben nur in einem Zeitabstand von mehreren Jahren, allgemeine Interesselosigkeit an diesen kirch­ lichen Körperschaften, ihren Sitzungen und Beschlüssen, die sich namentlich auch in der Berichterstattung der Presse zeigte, und die höchstens dann auf eine kurze Weile wich, wenn über einen der vielen kirchlichen „Fälle" verhandelt wurde und eine Synode ihren Spruch dazu sagte, — das ist das wohl nicht zu trübe gezeichnete Bild des kirchlichen Parlamentswesens unserer Tage. Und man hat sich diese Zustände ruhig gefallen lassen, im großen und ganzen hat nirgends eine lebendige Bewegung dagegen eingesetzt. Reformwünsche nach einer stärkeren Laienvertretung und Änderung des Wahlver­ fahrens in den kirchlichen Körperschaften wurden hier und da laut. Es erhob sich die Frage der Beteiligung der Frauen an den kirch­ lichen Wahlen, sogar von konservativen Kreisen Stöckerscher Rich­ tung getragen, aber die frommen Wünsche und wohlmeinenden An4»

52 träge verdichteten sich nicht zu einer wirklichen Reformbewegung. „Die evangelischen Kirchen dürfen keine Experimente machen", das blieb der Grundsatz, mit dem man von kirchenregimentlicher Seite sich zu diesen Wünscher stellte, ein Grundsatz, der bei der Mehrheit der kirchlichen Körperschaften ein nur zu geneigtes Ohr fand. So waren die Synoden int großen und ganzen gefügige Werkzeuge in der Hand des Kirchenregiments, nur daß vielleicht hier und da ein charaktervoller Konservatismus, dem die Behörden noch nicht kon­ servativ genug waren, eine unbequeme Opposition machte, sich dabei aber doch im wohlempfundenen eigenen Interesse hütete den Bogen zu Überspannen. So haben die Kirchenregimente vom Standpunkt der bürokratischeir Behörde ein recht beneidenswertes Dasein geführt. Der Synoden und ihrer Gefolgschaft im großen und ganzen sicher, vor allzu unbequemer Opposition geschickt laviereitd, von den roelb lichen Parlamenten unabhängig, die zwar die vom Staat der Kirche zufließenden Mittel zu bewilligen hatten, denen aber jede Befugnis, in innerkirchliche Verhältnisse dreinzureden auf Grund des eigentümlichen Verhältnisses zwischen Kirche und Staat be­ stritten werden konnte, bis zu einem gewissen Grade unabhängig selbst von den Kultusministerien, direkt abhängig und getragen nur von der Autorität der Landesherren, die aber ihrerseits kon­ sequent darauf verzichteten, in innerkirchliche Verhältnisse direkt und öffentlich hineinzuregieren, schalteten die Kirchenregimente fast frei, ohne eine greifbare höhere Instanz. Aber mit dieser Charakteristik des obrigkeitlichen Gefüges unserer evangelischen Kirchen haben wir deren Gesamtbild doch nicht ganz gezeichnet. Zu dem bürokratischen Regiment der Kirche gesellt sich als der eigentlich lebenschaffende, ausschlaggebende Faktor der evangelische Pfarrerstand. Unsere evangelischen Kirchen sind geblieben, was sie von Anfang waren, Pastorenkirchen. Der Dienst am Worte, die Verkündigung des Wortes ist von Beginn

an int Mittelpunkt des gottesdienstlichen Lebens stehen geblieben, das war die Stärke, zum Teil auch die Schwäche und Begrenzt­ heit des evangelischen Kirchenlebens. Und mit dem Dienst am Wort war die Herrschaft des theologisch gebildeten Pfarrerstandes iestgelegt. Neben die Bürokratie des Kirchenregiments tritt die

53 patriarchalische Herrschaft des Pastors. Mannigfach sind die Reibungsflächen zwischen diesen beiden Faktoren unseres kirch­ lichen Lebens. Und es mag zum Ruhm und Stolz des evan­ gelischen Pfarrers gesagt werden, daß er sich bisher nicht büro­ kratisieren ließ und es immer abgelehnt hat, einfach Beamter der ihm vorgesetzten Behörde zu sein. Es hat sich allerdings auch hier ein gewisses Vordringen der Bürokratie gezeigt. Es kann nicht ge­ leugnet werden, daß das System der kirchlichen Verwaltungsämter, der Generalsuperintendenten und Superintendenten — zum min­ destens in Preußen — hier wieder mit Ausnahme von Westfalen und Rheinprovinz — einen starken bürokratischen Anstrich er­ halten hat, daß Generalsuperintendenten und Superintendenten auf dem Wege waren, zu Vorgesetzten ihrer unterstellten Geist­ lichen im Sinne einer Beamten-Hierarchie zu werden, daß das Amt des einzelnen Geistlichen mit bürokratischen Forderungen belastet wurde. Auch kann man sich der Beobachtung nicht verschließen, daß in den neuerdings so emporgeblühten Psarrvereinen eine starke Strömung des Entgegenkommens gegenüber dem bürokrati­ schen Kirchenregiment vorhanden war, daß gerade die Vertreter: der Pfarrvereine in den Synoden oft die Gruppen der ausge­ sprochen „Gouvernementalen" bilden, daß etwas vün dem alten llnabhängigkeitsstolz und der entschiedenen Ablehnung des Beamten-Standpunktes der evangelischen Pfarrerschaft verloren zu gehen drohte. Dennoch ist hier ein starker und wohltätiger Gegen­ satz lebendig geblieben. Aber in einem Punkte treffen nun doch kirchenregimentliche Bürokratie und Patriarchalismus des Pfarrers zusammen. Sie haben beide in der Richtung gewirkt, daß sie die Grundlage, auf der das Leben der evangelischen Kirchen ruhte, ungemein schmal ge­ stalteten, daß sie die frei wirkenden Kräfte weiterer Kreise unter­ banden und nicht zum Spiel kommen ließen. Mit den beiden Worten Obrigkeits- und Pastorenkirchen ist das Wesen unseres öffentlichen Kirchenlebens tatsächlich umschrieben. An Gegen-Bewegungen und -Strömungen hat es natürlich nicht gefehlt. Es ist der Kampf gegen die Anstalts- und Pastorenkirche gewesen, der die Gemeinschaftsbewegung ins Leben gerufen hat und ihr ihre verhältnismäßigen Erfolge beschieden hat. Sie hat an

54 diesem Punkt ihr Daseinsrecht und ihre Notwendigkeit. Der stärkere, lebenskräftige, freilich auch krankhaft erregte Teil dieser Bewegung kommt für uns hier nicht in Betracht, weil er sich in entschiedene Gegnerschaft zu den Kirchen gestellt hat und abseits von ihnen seine neuen Bahnen sucht. Es wird ihm schwerlich gelingen, die deutsche Christenheit aus ihren alten, seit Jahrhunderten betretenen Ge­ leisen herauszuwerfen und einem religiösen Vereins- und Sekten­ wesen zuzuführen, für das der deutsche durch Luther bestimmte Volksgeist nun einmal nicht gestimmt ist. Der weniger charakte­ ristische Zweig dieser Bewegung hat das Bestreben, innerhalb der evangelischen Kirchen sauerteigartig zu wirken, und man kann ihm nach allem eine Daseinsberechtigung nicht absprechen. So lange unsere evangelischen Kirchen in der geschilderten Verfassung bleiben, wird es Bewegungen geben müssen, welche die Tendenz haben, mehr Wärme, Temperatur, aktive Beteiligung der nicht offiziellen Kreise in sie hineinzubringen. Ob ihnen eine große Zukunft beschieden sein wird, muß freilich dahingestellt bleiben. Allzusehr haftet an ihnen der enge pietistische Geist, das beschränkte Pochen auf den Bibelbuchstaben, die Angst vor jeder stärkeren Inanspruch­ nahme des Verstandes, die Unaufgeschlossenheit gegenüber dem modernen Leben und seinen brennenden Fragen. Möglich bleibt, daß in der von hier ausgegangenen deutschen christlichen Studenten­ vereinigung einmal ein freierer und weiterer Geist sich schaffend regen und die Bewegung aus ihrer Enge herausführen könnte. Doch sind da erst erste Anfänge vorhanden, von denen man nicht sagen kann, wie sie sich auswachscn werden. Stärker mit dem Leben der evangelischen Kirche verflochten ist die Bewegung, die man mit deni Namen „innere Mission" zu­ sammenzufassen pflegt. Auch sie kommt für uns hier zunächst nur unter deni Gesichtspunkt des Gegensatzes und der Ergänzung zur Anstalts- und Pastorenkirche in Betracht. Es war ausgesprochener­ weise die Absicht des Gründers der innern Mission, Wicherns, die freien, nicht offiziellen Kräfte des Kirchenvolkes für ein Wirken im Volksganzen mobil zu machen, eine Zentralstelle zu schassen, in der alle diese Kräfte zu gedeihlichem Wirke« ge­ sammelt werden konnten, das Leben der Anstalts- und Pastoren­ kirchen auf eine breitere Grundlage zu stellen. In diesem Sinne hat

55 denn auch die innere Mission segensreich gewirkt. Ob sie freilich ihr Ziel auch nur annähernd erreicht hat, muß dahingestellt bleiben. Zu einem guten Teil hat sie sich mit ihren Arbeiten, Aufgaben und Zielen in den Organismus der Anstalts- und Pastorenkirche eingegliedert, hat deren Wirkungskreis erweitert, vermannigfaltigt und bereichert, ohne deren Wesen doch grundsätzlich zu verändern. Soweit das nicht geschehen ist, zeigt sie vielfach Ver­ wandtschaft und auch engere Berührung mit der Gemcinschaftsbewegung und ihrer Art und damit auch dieselbe Enge und Begrenzt­ heit, die sie nicht fähig machen wird, auf ein Volks-Ganzes einzu­ wirken. Vor allem ist auch sie in erster Linie eine Sache der Pfarrer und theologisch ganz oder halb ausgebildeter Berufsarbeiter geblieben. „Die Pfarrer haben einen sehr großen Teil der leiten­ den und anregenden Arbeit von Anfang an bis jetzt zu leisten gehabt, in jedem Vorstand und Komitee bilden sie einen erheblichen Bruchteil, oft die Mehrheit; und in sehr vielen Fällen haben sie durchaus die Hauptlast getragen/") So liefert die Entwicklung der innern Mission zum Teil geradezu neue Beweise für den Charakter der evangelischen Kirchen als Pastorenkirchen. Eine Bewegung neuerer Zeit, die wir ebenfalls in diesem Zusammenhang nennen müssen, ist der an Sulze's Namen an­ knüpfende Versuch der Schaffung selbsttätiger, lebendiger Gemeinden. Wenn nicht alles täuscht, ist hier ein gesunder und zukunftsreicher Gedanke wirksam geworden, der die evangelischen Kirchen auf eine breitere Grundlage zu stellen geeignet ist, und der da anknüpft, wo angeknüpft werden muß, bei dem Gedanken der Gemeinde. Man hat begonnen, auf Gemeindekirchentagen (Dorfkirchentagungen) diese Arbeit zu organisieren, in weiten Kreisen anzuregen und ein­ heitlicher zu gestalten, hat Gemeindehäuser gebaut, Gemeindepfleger angestellt. Es scheint, als wenn die Gemeindebewegung berufen ieiil wird, einen Teil der Arbeit der inneren Mission zu über­ nehmen und gesunder zu gestalten. Aber auch hier ist freilich vom Ideal zur Erfüllung noch ein weiter Weg. Die Großstadt­

gemeinde mit ihrer wechselnden Bevölkerung und die Dorfge­ meinde mit ihrer mangelnden Regsamkeit bieten nach verschiedenen ') Religion in Geschichte und Gegenwart III 522.

56 Richtungen schier unüberwindliche Schwierigkeiten. Und auch hier zeigt sich bereits wieder die betrübliche Erscheinung, daß schließlich die ganze Arbeit eine starke Mehrbelastung statt einer Entlastung des Geistlichen darstellt, daß sie nicht vorwärts geht, wenn nicht der Pfarrer die treibende Kraft bleibt, und daß dessen Tätigkeit damit aus dem Zentrum reichlich ins Peripherische gezogen wird. So haben die evangelischen Kirchen trotz aller besprochenen Gegenströmungen im ganzen und großen ihren Charakter als Obrigkeits- und Pastoren-Kirchen nicht verloren. Sie sind ein mit dem Obrigkeitsstaat eng verwachsenes, auch in der inneren Aus­ gestaltung ihm ähnelndes Gebilde geblieben, das dessen Vorzüge - auch von ihnen wird noch die Rede sein — und dessen Mängel teilt. Aber damit ist noch nicht alles gesagt, was hier gesagt werden muß. Der Parallelismus zwischen dem preußisch-deutschen Lbrigkeitsstaat und der evangelischen Kirche geht noch weiter. In beiden hat im Verlauf des vorigen Jahrhunderts eine ausge­ sprochen konservative Grundrichtung geherrscht und sich — von wenigen vorübergehenden Schwankungen abgesehen — immer ivieder siegreich durchgesctzt und behauptet. Und das Ergebnis dieser Entwicklung ist eine beklagenswerte, unheilvolle Verengung der kirchlichen Einflußsphäre gewesen. Zunächst haben sich die Kirchen und das liberale Bürgertum in Deutschland im Lauf des 19. Jahr­ hunderts auseinandergelebt. Die Schuld, wenn man hier über­ haupt von Schuld reden will, lag wohl auf beiden Seiten. Die Kirchen wandelten seit der Erweckungsperiode der Freiheitskriege ausgesprochen die Bahnen der Repristination, die vielgerühmte Konsolidierung des evangelischen Kirchenwesens bedeutete zugleich eine ungeheure Verengung, man erklärte der rationalistischen Frömmigkeit der Väter den Krieg, räumte mit den alten ratio­ nalistischen Gebets- und Andachtsbüchern, Gesangbüchern, Kate­ chismen, Gottesdienstordnungen entschlossen auf, ohne zu bedenken,, wieviel Keime echter, angeerbter Frömnligkeit man dadurch ver­ nichtete, und führte in die Frömmigkeit eine Sprache und Formen ein, die man in weiten Kreisen einfach nicht verstand. Man bekämpfte aber nicht nur die rationalistische Aufklärung, man ging rücksichtslos an der großen geistigen Erweckungszeit des

57 deutschen Idealismus vorüber, und anstatt die hier gegebenen reichen Anregungen zu einer Vertiefung und Neugestaltung der Frömmigkeit auszunutzen, übersprang man keck die Jahrhunderte und stellte einfach die alte Frömmigkeit wieder her. Vom Geiste Schleiermachers hielt sich nur ein kümmerlicher Rest in einer freundlich-matten Vermittlungstheologie, die dann bald stärkeren Geistern das Feld räumen mußte, radikalere Opposition wurde ganz und gar in den Winkel gedrängt. Dem Sehnen des liberalen deutschen Bürgertums nach deutscher Einheit stand man — wenig­ stens in Norddeutschland, es mag hier der rühmlichen Ausnahme des Schöpfers und Führers der Erlanger Theologie, eines von Hof­ mann gedacht werden — mit unverhohlener Abneigung gegenüber. So stellte das Jahr 1848 mit seinen Folgen schließlich die ver­ hängnisvolle Wende dar. Seitdem schloß sich das Bündnis der in der Kirche zur Herrschaft gelangten pietistischen Orthodoxie mit der politischen Reaktion zu einem festen Ring und erhielt seine bedeutenden Führer in Männern wie Stahl, Hengstenberg, den v. Gerlachs u. a., und der Geist der preußisch-norddeutschen Entwicklung griff dann allmählich auch auf den Süden und Westen über, wenn er auch hier niemals so zur Herrschaft gelangt ist wie dort, ja von einigen Ländern — ich nenne vor allem Baden mehr oder minder ferngehalten blieb. Andererseits ist allerdings auch das liberale Bürgertum seine eignen Wege gewandelt, so daß es den Kirchen schwer wurde, den Anknüpfungspunkt bei ihnen zu gewinnen. Es hatte ebenfalls die Kultur des deutschen Idealismus vergessen und ließ sich von den Gedanken der radikalen Aufklärung der westlichen Demo­ kratien treiben. Heine, der erklärte Liebling dieser Kreise, die revo­ lutionären Dichter der 48 er Jahre, Zeitschriften wie die Garten­ laube u. a. dürften etwa das geistige Milieu hier charakterisieren. In den Jahren des Kulturkampfes steigerte und verbreitete sich die Stimmung in dem vorübergehend zu einer gewissen Herrschaft gelangten Liberalismus zu ausgesprochener Kirchen- und PastorenFcindschaft, es kam die starke Welle des im Zeichen der Natur Wissenschaft stehenden Materialismus, auf dein Gebiet der Welt-anschauung die Herrschaft derer um Büchner, Moleschott, Vogt, Haeckel, auf dem Gebiet des praktischen Lebens Manchesterpolitik,

58 antisozialer Sinn, Jagd nach dem Gewinn und Genuß des über Deutschland hereinbrechenden Milliardensegens. Man kann nicht leugnen, daß in den letzten Jahrzehnten hier eine erfreuliche Wandlung zum Besseren eingetreten ist. Die geistige Haltung und Weltanschauung der liberalen bürgerlichen Kreise hat eine starke Vertiefung erfahren, der Geist des deutschen Idealismus ist in entschiedenem Erwachen begriffen, die Flut der naturalisti­ schen Weltanschauung ebbte zurück, die Naturwissenschaft wurde von einer dem Idealismus sich allmählich zuwendenden Philo­ sophie in die Schranken zurückgewiesen, 'das Verständnis für die historischen Mächte der Vergangenheit erstarkte, der Sinn für den Ernst und die Wucht der sozialen Probleme wuchs, stärkere ethische Bestrebungen machten sich geltend, religiöse Fragen wurden wieder Tagesfragen, religiöses Sehnen regte sich und nahm aller­ dings im „Zeitalter der Reizsamkeit" ost sonderbare Formen an, die Mystik in allen ihren Spielarten entwickelte ihre An­ ziehungskraft. Auf der andern Seite vertiefte und erweiterte sich das geistige Leben der evangelischen Kirchen. Trotz aller Wider­ stände von oben, von fetten der Synoden, auf denen die pietistische Orthodoxie nach wie vor die unbestrittene Herrschaft ausübte, von feiten des in der Kirche ausschlaggebenden konservativ gestimmten Laientums und des von der konservativ-klerikalen Reaktion nach wie vor beherrschten Obrigkeitsstaates brach sich ein freierer Geist siegreich Bahn, errang bei aller Verfolgung die Vorherrschaft in der Theologie, die glich durch die in Preußen einsetzende systematisch­ reaktionäre Politik der Lehrstuhl-Besetzungen nicht ganz gebrochen werden konnte, veranlaßte auch die konservative Theologie auf die neuen Fragestellungen einzugehen und sich zu „moderit-positiver" Theologie zu entwickeln, erzwang endlich vom Kirchenregiment mehr und mehr die Anbahnung einer besonneneren, nach rechts und links vermittelnden, nur freilich gegen die Extreme scharf auftretenden Politik. — Auch die Stellung der politischen Parteien zu den Kirchen wandelte sich. Von der ausgesprochenen Abneigung und Feindschaft der 70 er Jahre ist auch bei den radikaleren Richtungen der bürgerlichen Parteien wenig oder nichts zurückgeblieben und hat eiitent wohlwollenden, allerdings oft noch im Dunkeln tappenden Interesse Platz gemacht. Ein Darsteller der geistigen Entwicklung

59 der liberalen Parteien der letzten Jahrzehnte wird den Einfluß, den liberale Theologen auf diese ausgeübt haben — ich nenne u. a. Baumgarten, Naumann, Rade, Otto, Titius, Traub (in seiner vergangenen Periode), Troeltsch nicht vorbeigehen dürfen. Doch darf freilich das Erreichte auch nicht überschätzt werden. Eine Entwicklung, die über ein Jahrhundert gegangen ist, kann nicht so schnell rückgängig gemacht werden. Der Riß zwischen Kirche und liberalem Bürgertum wird sich nicht so einfach schließen. Von der Aufgabe des entschiedenen Widerspruchs gegen Kirche und kirchliches Wesen, von der unleugbaren Vertiefung der geistigen Gesamtverfassung, von dem Wiedererwachen eines gewissen reli­ giösen Fragens und Interesses, von der Lektüre religiöser Schriften und einer gewissen Berauschung an religiöser Mystik ist noch ein sehr weiter Weg bis zu einer tätigen Anteilnahme am praktisch­ kirchlichen Leben in kirchlichen Gemeinschaften. Auch dem ehrlich gemeinten Versuch kirchlich-liberaler Theologen, durch Veranstallung religiöser Vorträge und Debatten, durch eine planvoll aus­ gebaute religiöse und religionsgeschichtliche, aufklärende und erbau­ liche Literatur (Religionsgeschichtliche Volksbücher, „Schriften des Neuen Testaments", „Religion in Geschichte und Gegenwart" u. a.) hier Wandel zu schassen und weitere Kreise für die Arbeit in der Kirche zu gewinnen, ist trotz scheinbarer äußerer Erfolge ein volles Gelingen versagt geblieben. Sehr selten und mit geringem Ergebnis haben sich diese Anregungen zu dem Entschluß dauernder und ernstlicher Mitarbeit im Rahmen der Kirchen verdichtet. Anderer­ seits haben sich die Kirchen im großen und ganzen noch nicht ent­ schließen können, diesen Bestrebungen und neuen Ansätzen ent­ gegenzukommen, ihre Tore weiter zu öffnen, in der Ordnung und den Formeln des Gottesdienstes und der gottesdienstlichen Hand­ lungen, in der Schaffung moderner Gesangbücher, in der Umge­ staltung des Religionsunterrichts (Katechismen) entschlossen dem inodernen Geist und seinen Anforderungen gerecht zu werden. Und wiederum konnten sie allen Mahnungen, die Kirchentore für die modernen Laien weiter zu öffnen, den Einwurf entgegenhalten: Wo sind die modernen Laien, die wirklich in großer Anzahl durch

die weiter geöffneten Tore einziehen wollen?! Es bleibt die Frage, ob nicht in den Schichten des gebildeten Bürgertums eine gewisse

60 ehrliche, aber doch recht matte „Bildungsreligion" sich ihre Wege außerhalb der Kirchen und der Betätigung an ihrem Gemeinschafts­ leben aus die Dauer suchen wird. Und es bleibt der Zustand, daß die evangelischen Kirchen und ihre Arbeit ganz wesentlich von den

konservativen Schichten des deutschen Volkes getragen werden und mit ihnen im Bunde stehen, während der Liberalismus sich abseits hält. Und diese unheilvolle Verquickung von Partei und Kirche, die keineswegs eine innere Notwendigkeit ist, ist ein Grundzug, der evangelisches Kirchenwesen in Deutschland zu dessen Nachteil bestimmt. Eine ähnliche Verquickung von Kirchenwesen mit Partei­ strömungen und bestimmten Kulturschichten haben wir weder in England noch in Nordanierika. Weder macht in Nordamerika der Einfluß der kirchlichen Gemeinschaften vor dem Unterschied von Demokraten und Republikanern Halt, noch in England vor dem der Konservativen und Liberalen. Der liberale Premierminister Gladstone war eine Persönlichkeit von ausgesprochen religiöser Haltung. Ein hoher deutscher Kirchenbeamter war voll der Ver­ wunderung, als er auf der Verständigungsreise nach England seinen Gastfreund, einen bekannten liberalen Politiker, der sich als Freund Theodor Barth's bekannte, seine Morgenandacht kniend im Kreis; seiner Familie verrichtend fand. Auch die katholische Kirche Deutschlands steht politisch jenseits von konservativ und liberal und hat es sogar fertig gebracht, in ihrer politischen Vertretung, im Zentrum, Anhänger von spezifisch demokratischer Gesinnung mit ausgesprochen reaktionären Kreisen zu vereinigen. Ob die unge­

heuren Stürme und die Not der Zeit die Kluft zwischen den evan­ gelischen Kirchen und dem liberalen Bürgertum schließen, ob unter den Führern unserer Intelligenz und Bildung der Sinn für kirch­ liche Gemeinschaft wieder aufleben wird? Wer vermag hier in die Zukunft zu sehen! Was wir sehen, ist, daß die Konsolidierung des evangelischen Kirchenwesens im 19. Jahrhundert zugleich eine starke Verengung und Minderung seines Einflusses im Volksleben bedeutet hat. Das eigentlich Tragische an der ganzen Entwicklung aber ist mit alledem noch nicht aufgezeigt.' Denn mit ihm hing es weiter zu­ sammen, daß die breiten Arbeitermassen des deutschen Volkes dem Einfluß der evangelischen Kirchen und der Berührung mit ihr ver-

61 loten gingen. Wie bet deutsche Obtigkeits-Staat, so haben auch die mit ihm so eng verflochtenen, von ihm in ihtem Wcsm bedingten evangelischen Kirchen den Weg zum Hetzen bet beutschen Arbeiter­ schaft nicht finben können. Währenb bet beutsche bürgerliche Liberalismus mit Ausnahme einer immer kleiner unb bedeutungs­ loser werdenden radikalen Richtung seinen Frieden mit dem von Bismarck gegründeten deutschen Staat schloß, ja zu einem großen Teil diesen als die Durchführung seiner eigenen Gedanken mit Be­ geisterung begrüßte, dabei kaum empfindend, wie wenig dieser Obrigkeits-Staat seinem innersten Wesen und Wollen Rechnung trug, erstand in der von der deutschen Sozialdemokratie gelenkten überwiegenden Mehrheit der deutschen Arbeiterschaft, die sich von Anfang als ein nicht zu seinem Recht gekommenes Stiefkind des Deutschen Reiches empfand, eine entschlossene und grimmige Gegner­ schaft gegen den deutschen Staat. Bon einem geistesmächtigen Führer ins Leben gerufen, der in seinen Anschauungen von der radikalen Richtung der Jung-Hegelianer bestimmt war, getragen von der internationalen Idee des Gegensatzes zwischen Bourgeoisie und Arbeiterstand, die nirgends so wie in Deutschland aufgegriffen und zum äußersten prinzipiellen, weltanschauungsmäßigen Gegen­ satz durchdacht wurde, erbittert durch die planmäßige Verfolgung in der Bismarckschen Zeit der Ausnahmegesetze, traf diese Bewegung mit der. fast über Nacht sich vollziehenden Entwicklung vom Agrarzum Industriestaat und dem gewaltigen Anschwellen der Be­ völkerungsmasse in den Industrie- und Handels-Städten zusammen. Das war die Tragödie des deutschen Volkes, die schließlich ein Hauptgrund der Katastrophe, die wir erlebten, wurde: Dem deut­ schen Staat Bismarcks und Wilhelms II. gelang es nicht, den größten Teil des enormen Menschenzuwachses, den er erhielt, innerlich mit.sich zu verschmelzen und verwachsen zu lassen. Dieser Entwicklung haben die evangelischen Kirchen im großen und ganzen machtlos gegenübergestanden, ja sie sind widerstandslos mit in sie hineingewachsen. Die deutsche Sozialdemokratie — auch hier wieder entwickelten sich die Dinge in der englischen Arbeiter­ schaft spezifisch anders — erklärte sich zwar in ihrem Programm für den schon von wenig tieferem Verständnis zeugenden einseitigen Satz, daß Religion Privatsache sei, übernahm aber tatsächlich vom

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bürgerlichen radikalen Liberalismus eine entschlossen gegnerische Haltung gegen Religion. Ter naturwissenschaftlich bestimmte Materialismus galt ihr als das letzte Wort der Wissenschaft, zumal sich diesem die materialistische Geschichtsauffassung, das A und O der marxistischen Theorie, am besten einfügte. Vor allem aber wurden von ihr die Kirchen als Hauptstützen und Macht­ mittel des preußisch-deutschen Obrigkeits-Staates einfach zum alten Eisen geworfen. Und nicht ganz mit Unrecht. Die Kirchen waren in der Tat viel zu gefügige Werkzeuge des Obrigkeits-Staates ge­ worden, als daß sie der großen Rolle eines Vermittlers zwischen den auseinanderstrebenden Kreisen des Volkes hätten gerecht werden können. Nicht nur die Kirchenregimente, sondern auch die große Mehrzahl der überwiegend konservativ gestimmten Geistlichkeit hat in dem beklagenswerten Zwiespalt der Geister, in dem Kampf der staatserhaltenden Parteien gegen die „vaterlandslosen Gesellen" unbedingt und schroff auf der einen Seite gestanden und ist nicht fähig gewesen, sich aus eine höhere Warte zu stellen, um Ver­ ständigung zu ringen und ein relatives Recht auch dort drüben anzuerkennen. An Unterströmungen hat es in ihr freilich nicht gefehlt, aber es blieb eben bei Unterströmungen. In diesem Zu­ sammenhang muß noch einmal der inneren Mission und ihrer Arbeit gedacht werden. Wichern hatte die innere Mission von vorn­ herein auch unter dem Gesichtspunkt eines Mittels gegen den „Umsturz" aufgesaßt, sie sollte die Aufgabe haben, die „Staats­ bürger" mit christlichem Geist zu erfüllen. Er selbst faßte die Auf­ gabe groß und weit an, wollte nicht zwischen politischen Parteiungen entscheiden, sah in den Ursachen der Revolution nicht bloß „Ver­ hetzung", sondern die wirtschaftliche Not. Er gab 1869 den An­ stoß zur Sammlung der Katheder-Sozialisten und kann in der Tat als der erste Christlich-Soziale in Deutschland bezeichnet werden. Und als seinen Feind sah er „den rohen Unverstand des von allem Leben und Lieben gleich weit entfernten Bürokratismus an".1) Dennoch haftete der inneren Mission von Anfang an eine gewisse Beschränktheit und Gebundenheit des Wesens an, die schon in ihrem Namen zum Ausdruck kam. Man sah den christlich-monarchischen Staat und das mit ihm eng verbundene evangelische Kirchen*) Neig. f. Gesch. u. Gegen» V„ 1998.

63 wesen als den festen gegebenen Boden an, von dem aus es galt, eine betörte und verkehrte Masse zu gewinnen und zu bekehren. Friedrich Wilhelm IV. hatte vor der Revolution den Plan ge­ faßt, Wichern solle in Berlin mit einer Unterstützung von 3 Mil­ lionen Talern „monarchische Erbarmungspolitik" treiben! Man übersah die gewaltige Spannung, in der sich das preußische (deutsche) Staatswesen und die mit ihm verbundene Kirche zu dem mehr und mehr erwachenden modernen Geist befand. Man übersah, daß der so wohl gemeinte Versuch einer Überbrückung und Versöhnung der Gegensätze vor allem ein gründliches Umdenken aus der eignen Seite erforderte, eine Weite und Freiheit des Blickes und eine Kühnheit des Wollens und Bereitschaft des Umlernens, die man eben nicht besaß. Und wenn das zum Teil auch von Wichern nicht galt, so gilt es von der von ihm ausgegangenen Bewegung. Sic blieb eben „innere Mission". Wie ganz anders frei und weit, allen modernen Problemen aufgeschlossen, war demgegenüber die durch die Namen Thomas Carlyle, Maurice, Kingsley charakteri­ sierte verwandte Bewegung in England, und wie ganz anders ist es ihr gelungen, das Ganze des englischen Volkslebens und seine Entwicklung bestimmend zu gestalten! In dem geistesgewaltigsten und einflußreichsten Schüler Wicherns, in Adolf Stoecker, traten auch die Mängel und Einseitig­ keiten dieser Bewegung noch schärfer ins Licht. Es soll und muß Stoecker zum bleibenden Ruhm angerechnet werden, daß er den ganzen Ernst und die Wucht der sozialen Frage erkannt und in weiten Kreisen der Kirche und des Bürgertums das Verständnis für sie erweckt hat. Aber seine groß angelegte Wirksamkeit scheiterte an der Enge und Gebundenheit und der damit zusammenhängenden Zwiespältigkeit seines Wesens. Er wollte Hofprediger und SozialReformer, konservatives Parteihaupt mit stark antisemitischem Ein­ schlag und Arbeiterführer, kirchlicher Parteimann engster Rich­ tung und Vertreter der innern Mission sein, und er ist daran gescheitert. In ihm kam trotz aller darüber hinausstrebenden Tendenzen die unselige enge Verbundenheit des evangelischen Kirchenwesens mit dem preußisch-deutschen Obrigkeitsstaat und mit einer bestimmten Parteirichtung zum überzeugenden Ausdruck. So

hat auch die von Stoecker angefachte christlich-soziale Bewegung

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sich nicht frei entfalten können, die christlich-soziale Partei blieb, bald als ein Anhang der konservativen Partei, bald in einer ge­ wissen Opposition zu ihr, ein kümmerliches Gebilde, und in der sie vielfach zurückdrängenden und ablösenden Bewegung des Sintisemitismus erscheint der Geist der innern Mission geradezu in sein Gegenteil verkehrt. Der von Wichern und Stoecker ausgehende Friedrich Naumann hat in seiner politischen Entwicklung sehr bald die Bahnen der innern Mission und der spezifisch-kirchlichen Arbeit verlassen und sich zu einem profanen Politiker entwickelt. Die von ihm getragene politische Bewegung, in der das religiöse Feuer zwar nachglühte, die Verbindung mit kirchlichen Tendenzen aber grundsätzlich aufgegeben wurde, kommt in diesem unseren Zu­ sammenhang kaum in Betracht. Stoecker hat dann noch einmal einen großen Wurf getan, als er den evangelisch-sozialen Kongreß (1890) ins Leben rief. Hier gelang es ihm, einen Kreis von führenden Geistern verschiedenster Richtung zu sammeln. Und hier hat man wirklich ernst und ehrlich begonnen, den großen Fragen und ringenden Problemen des deutschen Volks- und Staatslebens vom Standpunkt freien christlichen Geistes nachzudenken und dem Wahn den Abschied zu geben, als besäße man schon einen in allen Stücken festen und sichern Boden, von dem aus man bekehren und missionieren könne. Doch ist freilich die hier getane Arbeit im großen und ganzen bei theoretischen Erwägungen, Klärungen und Debatten stehen geblieben, und mit Ausscheidung Stoeckers und seines Kreises und der Grüichung der kirchlich-sozialen Konferenz (1896) scheint der Kongreß ein Teil seiner praktischen Stoßkraft verloren zn haben, während die Konferenz andererseits in die engeren Bahnen einer vom kirchlichen Parteigeist beherrschten Politik zurückglitt. — Schließlich hat die organisierte Kirche, resp, das Kirchenregiment, noch einen ganz besonderen Beweis ihrer Un­ fähigkeit geliefert, unabhängig vom Staat und auf eigenen Bahnen ihren großen Aufgaben an dem deutschen Volksleben gerecht zu werden. Die beklagenswerten Erlasse des Oberkirchenrats, durch die am Anfang der Regierung Kaiser Wilhelms II. die Geistlichen zn energischer Beteiligung an der sozialen Reform aufgerufen wurden, und dann wieder, nachdem der Wind oben umgeschlagen

war,

ebenso

kräftig

abgewinkt wurden,

beleuchteten

grell

die



Lage.

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Viel guter Wille ist in diesen Tagen gelähmt worden.

Und wer im Anfang der neuen kaiserlichen Regierung mit Freude und Stolz in unserer akademischen Jugend das Erwachen stärkeren sozialen Sinns und politischen Verantwortungsgefühls beobachten konnte, sah sich durch die Entwicklung der 90 er Jahre bitter enttäuscht. Es war über den scheinbaren Frühling ein Reis über Nacht gefallen und hatte verheißungsvolle Keime vernichtet. So ist es trotz aller Bestrebungen und Gegenströmungen im einzelnen den evangelischen Kirchen nicht gelungen, den Weg zur deutschen Arbeiterschaft zu finden. Auch hier wieder hat die katho­ lische Kirche einen bedeutenden Vorsprung zu verzeichnen. Die evangelischen Arbeitervereine und Gewerkschaften haben neben den katholischen Organisationen doch nur eine kümmerliche Rolle ge­ spielt. Die evangelische Kirche hat es nicht vermocht, in den sozialen und politischen Kämpfen, die das deutsche Volk zer­ spalteten, ein entscheidendes Wort zu sprechen. Im ganzen ist es ein trübes Bild, das wir zeichnen mußten. Es ist nicht zu leugnen, daß sich der Einfluß der evangelischen Kirche auf das deutsche Volksleben mehr und mehr verengert hat und die weitesten Kreise sich ihm entzogen haben. Es blieben ihr in erster Linie der Adel und das Großgrundbesitzertum mit seinem gewaltigen politischen und sozialen Einfluß, die mit jenen zu­ sammenhängenden Offizierskreise, ein guter Teil des bürgerlichen Mittelstandes und das Bauerntum. Doch wenn man z. B. die geistige Haltung unseres Bauerntums während des Krieges und bei Ausbruch der Revolution kritisch ins Auge faßt, so kann man begreisen, wie gerade aus den Kreisen der Landpfarrer vielfach der Klageruf ertönte: Wo zeigen sich die Früchte einer mehrjundertjährigen Arbeit evangelischen Kirchentums in unserem Bauernstand! Sieht man auf das Ganze, so darf man wohl zu­ sammenfassend, ohne sich den Vorwurf der Schwarzseherei zuzu­ ziehen, urteilen: den evangelischen Kirchen war es nicht ge­ geben, das evangelische Christentum zu einem die innere und äußere Politik beeinflussenden Volksgewissen auszugestalten, wenig­ stens nicht auch nur annähernd in dem Maße, wie dies dem ralvinistisch-puritanischen Kirchenwesen in England und NordNrvolmtou und L'.rche 3

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amerika gelungen ist. Namentlich haben die evangelischen Kirchen auf dem Gebiet der internationalen Fragen, bei allen Versuchen der Herstellung besserer und gedeihlicherer Beziehung der Völker stark versagt, wobei freilich nicht verkannt werden soll, daß die Lage Deutschlands in dieser Beziehung eine besonders schwierige gewesen ist und in dieser schwierigen Lage die so stark an den Staat gefesselten Kirchen besonders ohnmächtig fein mußten. Es wäre aber doch ungerecht, mit diesem trüben Ergebnis abznschließen. Eines muß doch in die Gegenrechnung eingestellt werden. Die evangelischen Kirchen haben es vermocht, durch eine — trog aller Spaltung in Landeskirchen — der Art nach einheitliche Organisation, die in aller Ruhe und Vornehmheit ohne das auf­ geregte Treiben d es Vereins- und Sektenwesens, für das der Deutsche nun einmal nicht angelegt ist, stetig und tadellos arbeitete, — das Band zwischen dem Volksganzen und der Religion durch die religiöse Bolkssitte aufrecht zu erhalten. Was hier geleistet ist, darf keineswegs gering angeschlagen werden. Die Zivilgesehgebnng der 70 er Jahre, die zuerst mit so schlimmen Befürchtungen be­ gleitete, hat an diesem Tatbestand nichts geändert. Taufe und kirchliche Trauung sind troh allem -- abgesehen von gewissen Zu­ ständen in Großstädten — religiöse Volkssitte geblieben. Die Konfirmation mit ihrer Vorbereitung und ihrem feierlichen Ab­ schluß ist eine volkstümliche Angelegenheit geblieben; zu dem be­ deutsame!'. Abschnitt, mit dem die meisten Knaben und Mädchen aus der Schule in den Berus hinübertreten, spricht die Kirche ihr Wort. Das Wort tröstenden Zuspruchs in Sterbesällen begehrt man in weiten Kreisen auch dort, wo man sich sonst des Gedankens an Religion entschlagen hat. Dem Sonntag ist der Charakter der religiösen Weihe erhalten geblieben, ja zum Teil noch verstärkt. Der Besuch der Gottesdienste hat sich, wenn freiluh die statistischen Beobachtungen hier sehr schwierig zu machen sind, eher gehoben als verringert, auch bei Berücksichtigung der gestiegenen Bevölkerungs­ zahl, während freilich die Beteiligung am Abendmahl im dauern­ den Rückgang zu sein scheint. Ein Bewußtsein von dem, was die Kirche dem Volksganzen leistet, spricht sich auch darin aus, daß die allerdings vom Staate verwaltete kirchliche Steuererhebung im ganzen ohne große Schwierigkeit und Reibung sich vollziehen

67 konnte. Durch die Erhaltung der religiösen Bolkssitte ist die Kirche imstande gewesen, in das Leben weitester, ihr sonst fernstehender Kreise wenigstens auf dessen Höhepunkten ein Wort der Religion hineinllingen zu lassen. Als eine Tatsache von ganz gewaltiger Bedeutung, weit über das hinausgehend, was man als religiöse Volkssitte bezeichnen kann, ist weiter die enge Verbindung von Kirche und Staats-Schule anzusprechen. Daß in der Volksschule die religiös-sittliche Erziehung der Kinder im Mittelpunkt des Unterrichts stehen blieb, daß der Religionsunterricht in den höhere» Schulen eine feste Stellung im Rahmen des Staatsunterrichks ein nahm, ist unmittelbar als ein Segen der engen Verbindung zwischen Kirche und Staat anzusehcn. Der gewaltige Widerstand, der sich bei der durch die Revolution ausgewirbelten Frage der Trennung von Kirche und Staat säst int gesamten Bürgertum gerade au diesem Punkt gegen eine radikale Lösung erhoben hat, ein Wider­ stand, vor dem auch breite Kreise der Sozialdemokratie zunt min­ desten bedenklich geworden sind, ist Zeuge dasür, wie stark man den Wert der Verbindung von Kirche und Staat auf dem Gebiet der öffentlichen Erziehung empfindet, so schwer auch die Probleme sind, die sich hier austun. Auch der überwiegend größte Teil der Lehrerschaft ist — trotz mannigfaltiger Reibungen mit den offiziellen Kirchen, zu denen die jetzt wohl endgültig zu Grabe getragene geistliche Schulaufsicht vielfach die Hauptveranlassung gab — nicht geneigt, an der bisherigen Stellung des Reli­ gionsunterrichts in den Schulen zu rütteln und sich diesen nehmen zu lassen. — Eine solche enge Verbindung von Kirche und Staat und öffentlichem Leben stellen auch die theologischen Fakultäten dar. Und auch hier ist es gerade bei der In-Fragestellung ihres Daseins durch die jüngsten Ereignisse, klar geworden, was sie bedeuten, und einen wie schweren Verlust die Zerreißung dieses Zusammenhanges der evangelischen Kirchen mit dem öffentlichen Volksleben und Bildungswcsen mit sich bringen würde gerade für den Staat und das gesamte Volksganze. Nimmt man dazu noch die großartige und mannigfaltige Liebes-Tätig­ keit der evangelischen Kirchen und der doch mit ihr im engsten Zusammenhang stehenden inneren Mission, mit der diese in die verschiedensten Gebiete des öffentlichen Lebens auf das stärkste c»

68 eingreift, so erhält man eine gewisse Kehrseite des oben ge­ zeichneten trüben Bildes. Und dem allen läßt sich noch eine andere Beobachtung zur Seite stellen. Trotz aller ihrer Mängel und Schattenseiten sind im großen und ganzen die evangelischen Kirchen doch die einzigen beachtenswerten Organisationen geblieben, auf die das deutsche evangelische Volk in seinem religiös-ethischen Leben angewiesen ist. Die Gemeinschaftsbewegung hat zu einem Teil mehr oder minder mit den Kirchen ihren Frieden geschlossen und ist anderer­ seits, wo sic sich selbständig entwickelte, nicht über eine lokale Be­ deutung hier und da hinausgekommen. Die Austrittsbewegung hat in einigen Großstädten weiteren Umfang angenommen, hat aber doch den Bestand der evangelischen Kirchen nirgends ge­ fährdet. Und die vielen Versuche, einen Ersatz für das religiös­ sittliche Leben der Kirchen — innerhalb des Rahmens des Christen­ tums oder außerhalb — zu schaffen, sind in den Anfängen stecken geblieben oder fristen doch nur ein künstliches Dasein: freireligiöse Gemeinden, Moritz v. Egidys Bewegung, Gesellschaft der ethischen Kultur, Monistenbund, Übertragung der Heilsarmee-Bewegung von England, der Christian Science aus Amerika Religiöses Gemeinschaftsleben wird seine Verkörperung im evangelischen Deutschland nach wie vor in den evangelischen Kirchen finden, es wird s o sein, oder überhaupt kaum sein. Aber das wird freilich eine Schicksals-Frage für sie und das religiöse Leben Deutschlands sein, ob sie nach dem Zusammenbruch des deutschen Obrigkeits-Staates und trotz der notwendigen Lockerung ihres Ver­ hältnisses zum Staat imstande sein werden, ein eigenes festes Gefüge zu finden, sich durch Schaffung einer freien Synodalordnung und eines lebendigeren, selbsttätigeren Gemeindelebens auf eine breitere Grundlage zu stellen und sich zu wahrhaften Volkskirchen zu erweitern. Dann wird ihrer auch eine große Aufgabe im öffentlichen deutschen Leben harren. Es steht dann doch zu erwarten, daß die Stellung der deutschen Arbeiterschicht zu Religion und Kirche, die sie bis jetzt eingenommen hat, nicht von bleibender Dauer sein wird. Ja es hängt das Geschick des deutschen Volkes daran, daß es in seinen breiteren Kreisen wieder Sinn für Ewigkeitswerte be-

69 kommt. Ganz hoffnungslos sind die Zeichen der Zeit nicht. Wir sahen, wie das liberale Bürgertum seine zum Teil ausgesprochene Gegnerschaft gegen Religion und Kirche im Laufe der Jahrzehnte abgestellt hat und wie bei ihm das Interesse für diese Werte sich zu regen beginnt. Es steht zu hoffen, daß die deutsche Arbeiter­ schaft — vielleicht erst in Jahrzehnten — in dieselben Bahnen ein­ lenken wird. Schon vor dem Kriege konnte das schärfer zublickende Auge eine heilsame Wendung in der Sozialdemokratie erblicken. Sie begann trotz aller Widerstände, trotz mancher Rückwärts­ bewegungen und hartnäckig festgehaltener Dogmen allmählich eine andere positivere Stellung zum Staat und zu staatlichen Aufgaben zu gewinnen. In den Worten Revisionismus, Gewerkschaft läßt sich diese Entwicklung zusammenfassen. Der Anfang des Welt­ krieges schien hier die Erfüllung lange gehegter Hoffnungen und Wünsche zu bringen, die Sozialdemokratie wuchs hinein in den Staat und erkannte sich als Fleisch und Bein von seinem Fleisch und Bein. Der unglückliche Berkaus des Weltkriegs verschüttete diese Hoffnungen, und es entstand ein Chaos, dem gegenüber alle Weissagungen und Zukunftsausblicke kaum am Platze sind. Und dennoch, wenn die Entwicklung nicht ganz zum Abgrund drängt, so wird die deutsche, in der gemäßigten Sozialdemokratie organi­ sierte Arbeiterschaft sich jetzt zu einer staatserhaltenden, staats­ lenkenden Partei in erster Linie auswachsen müssen, sie wird zu gleicher Zeit in das Leben deutscher Kultur hineinwachsen müssen und wird als einer Grundmacht deutscher Kultur, mit Reformation und der Kultur des deutschen Idealismus unveräußerlich festge­ legt, der Religion begegnen und auf dem Wege zur Religion den evangelischen Kirchengemeinschasten. Wenn dann das Hindernis gefallen sein wird, das sie bisher von der mit dem Staat ver­ wachsenen Obrigkeitskirche in erbitterter Gegnerschaft ferngehalten hat, wenn die evangelischen Kirchen sich zu Bolkskirchen ausgewachsen haben werden, dann mag eine Zeit kommen, wo inan mit größerer Zuversicht und Freude von der Stellung der evangelischen Kirchen im öffentlichen Leben zu reden vermögen wird. Wir heißen euch hoffen!

70 Kapitel 3

Das €nöe der Staatshircbe das Ergebnis der ge|) „Hochland", Monattichrist, Dezembrr 1918, S. 238.

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In diesem Zusammenhang ist auch der Klöster zu ge­ denken. Das Ordensleben gehört zu denjenigen kirchlichen Mittelpunkten der Heiligung, des Tugendstrebens, der beschau­ lichen qder karitativ seelsorglichen Arbeit, die dem Ganzen der kirchlichen Heilsökoiwmie als »vescntlicher Teil eingegliedert sind. Nachdem die Kriegszeit auch den letzten Nest des Ausnahmegesetzes gegelt den Jesuitenorden zu Fall gebracht hat, sind der Freiheit religiöser Familicngründungen z. Z. keine drückenden Schranken mehr gesetzt. Nicht weniger als 335 Ordenshäuser für männliche, und 6246 für weibliche Religiösen mit insgesamt 10 984 bezw. 130 689 Insassen werden gegenwärtig in Deutschland gezählt. Die meisten sind auf einer nur schmalen wirtschaftlichen Basis errichtet und gewinnen die Mittel für ihren Unterhalt durch Landwirtschaft, Erziehungsarbeit, Unterricht, gelehrte Tätigkeit oder handwerklichen Verdienst. Wo sie größere wirtschaftliche Bewegungsfreiheit genießen, sind sie fast ausnahmsweise mit unentgeltlichen Arbeitsleistungen tief ins katholische Leben verflochten. Sie waren von jeher die Aushilssstätten der Seelsorge (Volksmissioncn und dergl.) und in ganz unersetzlicher Weise soziale Zufluchtsorte für das menschliche Elend. Und als solche haben sie sich besonders in einer Zeit bewährt, wo die soziale Unzufriedenheit, der Neid der Besitzlosen einerseits, die schamlose Schaustellung des Überflusses andererseits kaum noch ein Gegengewicht fanden irt dem Beispiel ruhig und gleichmütig ertragener Armut. Denn wo wäre sonst noch unter dem Verzicht auf alles persönliche Eigentum das kom­ munistische Ideal gleich dauerbar und vollkommen verwirklicht als dort, wo die Gleichheit int Gebrauch der Güter herge­ stellt wurde nicht aus Neid, daß keiner mehr habe als der andere, sondern aus Geringschätzung jeglichen irdischen Besitzes überhaupt? Es gibt keine Statistik über die Wohltat der klöster­ lichen Gemeinschaft für diejenigen, die, aus den staubigen Heer­ straßen des Lebens müde geworden oder von schweren Schicksalen verwundet, sich in die Stille und Einsamkeit flüchten mußten, wenn sie überhaupt noch schätzbare Mitglieder der menschlichen Gesell­ schaft bleiben wollten. Wie will man dafür Ersatz bieten? Mrd die Gesellschaft für jene Überzähligen Rat wissen, und wären sie besser aufgehoben in modernen Humanitätskasernen oder sozia-

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listischen Phalanfteres, zu denen man zu greifen sich genötigt sehen könnte? Und doch ist diese Versorgungsmöglichkeit nur eine Seite und nicht einmal die bedeutsamste der religiösen Korpo­ rationen, in denen sich weit überwiegend ungebrochene Nervewkraft in den Dienst sozialer Gerechtigkeit stellt. Mehr als der Gebildete ist das Landvolk den Klöstern zugetan, und fast nur in groben Städte», wo die Entfremdung unter den Menschen zu­ weilen Formen annimmt, die sich zu blindem Hab steigern kön­ nen, hat man es erlebt, daß die Klöster der aufgestachclten Wut der­ jenigen zum Opfer fielen, die den größten Nutzen von ihnen zogen. Als in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in kurz­ sichtiger Verkennung der großen sozialen Mission der Ordens­ genossenschaften so etwas wie Klostersturmlust durch die deut­ schen Lande wehte, da schrieb der ehemalige Abgeordnete zur Nationalversammlung in der Paulskirche zu Frankfurt, Beda We­ ber, in seinen „Cartons aus dem deutschen.Kirchenleben" (Mainz 1858) die noch heute gültigen Worte: „Die Katholiken können ihr Recht auf klösterliche Institute nie aufgeben, ohne sich selbst und ihre Kirche auszugcben, und zur gründlichen Äusrottmrg dieses

katholischen Wesens gehört weit mehr Macht und Verstockung, als man in den meisten Fällen aufbringen tarnt. Materielle Inter­ essen kamt man tot niachen, aber auf kirchlichem Gebiet kehrt unaufhörlich die alte Shbilla mit ihren Büchern wieder und trotzt der Gewalt, den Prozessen und dem Kerker. Wer nicht so klug ist, frühzeitig beim ersten Angebot all« neun Bücher zu kaufen, wird das allerletzte allein sehr teuer erwerben müssen, um das Wohl und die Zufriedenheit der Völker vor inneren und äußeren Ge­ fahren sicher zu stellen, welche oft zur Unzeit und gegen alle Be­ rechnung hereinbrechen." Die Kirche, der gemischten Natur des Menschen Rechnung tragend, hat trotz mancher .Gewohnheit bösen Mißbrauchs, auch im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert gewisse Volksandachten und Festfeiern halb kirchlichen, halb weltlichen Charak­ ters nicht abgestellt, die, wie Flurgänge, Wetterprozessionen, Kirch­ weihen und Wallfahrten zu den volkstümlichsten, poesievollsten und bewegtesten Bildern des ohnehin so farbenreichen und plastischen kirchlich katholischen Lebens gehören. Auch hien hat der moderne

96 Staat des neunzehnten Jahrhunderts im Gegensatz zu seinem aufgeklärten Vorgänger soziale Einsicht bekundet. Tenn weit entiertit, solche volkstümlichen Äußerungen religiös nwtiviertcn Froh­ sinns zu stören, hat er sie durch verkehrstechnische Erleichterun­ gen vielfach begünstigt, indem er natürlich zugleich auch seinen iiskalischen Interessen damit diente. Wir denken hier vor allem an das Wallsahrtswesen, das aus einem unzerstörbaren Trieb der menschlichen Natur beruht. Denn ob der Mann von Besitz und Bildung, dem wechselnden Geschmack der Zeit folgend, bald berühmte Kunststätten, bald feierliche Kongresse, theatralische und sportliche Veranstaltungen oder Stange'sche und Cook'sche Weltvvomenaden wallfahrend aufsucht und mitinacht, es ist derselbe seelisch potenzierte Drang nur unter verschiedenartiger Ziel- und Motiveneinstellung, der auch den Mann im Arbeitskittel, den gliedersteif gewordenen Bauern, das alte, vom Einerlei der Ar­ beitstage gekrümmte Weiblein und nicht zuletzt auch das frische, abwechslungheischende junge Volk hin und wieder einer geweihten Stätte zutreibt, damit es sich des tieferen Sinns seines Lebens bewußt werde. In einer frommen Handlung wird so das Pilgcr:iim des christlichen Lebens symbolisiert. Man zerstöre dem Volke den Glauben an die Stätten, die ihm zurufen: „Hier ist heiliges Land!" und statt betender und singender Wallfahrerzüge wird man bald johlende sich in den Taumel städtischer Vergnügungen stürzen jehe», die Herz und Sinn veröden: man unterbinde oder behindere dies Pilgcrtum im eigenen Lande und sein Strom wird sich über' die Grenzen dorthin ergießen, wo der „Glaubensfreiheit an Wunder und Zeichen" noch ein Asyl errichtet ist. Soviel der moderne Staat auch getan hat, nm den Kunstsinn des Volkes zu heben, die Freude an edler Musik und am Bolksgesang schon durch bcn Volksschulunterricht zu erhalten und zu pflegen, so gilt doch bis in die jüngste Zeit, würs Heinrich Riehl vor einem Vierteljahrhundert schrieb: „Noch immer ist die Kirche» die einzige höhere Kunstschule des gemeinen Mannes." Zwar hat die Kirche auch in Deutschland sich der voir Rom ausgehenden allgemeinen Tendenz, das kirchliche Gesamtkrlnstwerk der Liturgie tvieder auf reine, dem Gerste des Meßopfers gemäße Stilgrundlagen zu stellen, nicht versagt, um den strengeren Kirchengesang

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wieder dort einzuführen, wo er zum Wesen der iSache gehört, abep inan hat sich gehütet, etwa auf dem flachen Lande unerfüllbare Forderungen zu stellen, und wenn daher heute „das Volk des ka­ tholischen Oberdeutschlands noch soviel schöpferischer ist im Volksgesange, als die protestantischen norddeutschen Bauern, so darf der Einfluh der katholischen Dorskirchenmusik hierbei gewiß nicht übersehen iverden." (Riehl.) Was die bildenden Künste anlangt, so hat sich im Zusammen»Hang mit dem Aufleben der kirchlichen Verhältnisse in Deutschland seit der religiösen Malerschule der Romantik eine über schwächliches Epigonentum hinausreichende Bewegung nicht gezeigt, wohl absev hat man in dem letzten Jahrzehnt angefangen, sich des besonderen; Charakters der kirchlichen Malerei und Plastik als dienender Glieder im Organismus des liturgischen Gesamtkunstwerkes bewußt zu werden und sich von den falschen Wegen einer christlichen Historienilnd Heiligenbildnerei zu entfernen, die trotz ihres scheinbaren Realismus doch des tieferen geschichtlichen Elements entbehrte. Starke Anregungen gingen von der sogen. Beuroner Kunstschule der Benediktiner aus, doch die Erfüllung scheint nicht in der zum Teil stark repristinierenden Richtung dieser Kunst der schwarzen Mönche, sondern in Bemühungen zu liegen, die scheinbar mit allermodernsten Experimenten verbunden, im Grunde einer überzeitlichen Gestaltung der in der Zeit wirklich gewordenen Offen­ barung des Göttlichen zustreben. Dieser künstlerische Wille hatte sich in der „deutschen Gesellschaft für christliche Kunst zeitweilig; ein Organ äußerer Förderung zu schaffen getrachtet, ist äber heute weit über die dort gesteckten Grenzen hinausgewachsen und wird wohl schon bald eine innere Erneuerung dieser Bereinigung von Künstlern und Kunstfreunden erzwingen. Die „deutsche Gesell­ schaft für christliche Shmft" stützt sich auf ca. 5000 Mitglieder und verfügte int Jahre 1912 über 90 701 Mark Einnahmen, der 82109 Mark Ausgaben für die Zwecke des Vereins gegenüberstehen. In dem Maße, als die Kirche ihre äußere Bewegungsfreiheit wieder gewann, ist auch ihre Liebe und Förderung der Wissenschaft in ihrer vollen Eigenart in die Erscheinung getreten. Es ist kein Zufall, daß die ersten Impulse zur Erweckung des gelehrten Geistes int neuzeitlichen deutschen Katholizismus im Umkreis eines Mannes Revolution und Kirche.

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98 sich regten, der, weit vom Typus des modernen Fachgelehrten entfernt, gerade durch die befruchtende Polymathie seines Geistes, jene Eigenart katholischer Wissenschaft wieder vordeutete, die nur in der organischen Verbundenheit aller Disziplinen gefunden wird. Es ist daher ganz folgerichtig, daß er auch die geistige Paten­ schaft jenes seit 1876 bestehenden Vereins zur Förderung wissen­ schaftlichen Lebens im katholischen Deutschland, der sogen. GörresGesellschast, inne hat, die über 4000 Mitglieder zählt und jährlich 70—80000 Mark für ihre verschiedenen Zwecke aufwendet. Sie wirkt durchaus im Dienste strenger Wissenschaft, und ihre zahl­ reichen großen Publikationen auf dem Gebiet der Geschichte, Kir­ chengeschichte, der Philosophie, der Staatswissenschaften („Staats­ lexikon"), ihre Texte und Forschungen sowie eine Reihe sachwissenschaftlicher periodischer Organe neben den mehr populärwissen­ schaftlichen Vereinsschriften, lassen sie hinter anderen ähnlichen Gesellschaften nicht zurückbleiben, oder doch höchstens nur inso­ fern, als die äußeren Mittel dort größer sind. Aus der' Anschauung von dem organischen Charakter der Wissenschaft, die nur als ein Ganzes ihren letzten Zielen dienen kann, hat die katholische Kirche in Deutschland stets der Stellung der theologischen Fakultäten int Nahmen der Universitäten eine grundsätzliche Bedeutung beige­ messen. Sie sind, wie Erzbischof Faulhaber einmal sagte: „Unser Areopag, Geist vom paulinischen Geiste". Die Ausschaltung der Theologie aus den Universitäten würde daher nicht nur dem Antsehen der Kirche, sondern kaum minder dem Ansehen der Uni­ versitäten selber eine tiefe Wunde schlagen, die damit ihren Na­ men nur mehr nach der Logik des lucus a non lucendo tragen würden. Was die Vertretung der katholischen Geistesarbeit in den anderen Fakultäten anlangt, so sind die Klagen über Zurücksetzung nie verstummt, und was Hermann Schell auf dem Würzburger Katholikentag (1893) aussprach, kann als der treffend formulierte Ausdruck aller maßgebenden kirchlichen Kreise bis zuletzt angesehen werden: „Dem Grundgedanken und den Traditionen des katho­ lischen Geistes in Deutschland und seiner Weltausgabe entspricht es nicht, seine Ansprüche auf eine gebührende Vertretung an unseren öffentlichen Universitäten zu mindern oder gar aufzu­ geben — aus Unmut oder Überdruß an dem engherzigen Geiste,

99 der dort die Alleinherrschaft mit allen Mitteln behaupten will. Es entspricht ihm nicht, sich dafür auf die Gründung neuer Stiftungen zurückzuziehen und den Schwerpunkt der katholischen Wissenschaft etwa auf freie Universitäten oder auf die Seminarien zu verlegen. Vielmehr fordert Zeit und Land, daß das katholische Deutschland sein politisches Recht auf die gebührende Vertretung des christlichen Geistes an unseren Universitäten geltend mache — durch öffentliche Forderung wie durch fachmännische Beteiligung an der wissenschaftlichen Arbeit." — Das an den Hochschulen sich entwickelnde katholische korporative Studentenleben schöpfte seinen Antrieb nicht aus einem konfessionellen Sonderbündlertum, sondern aus der nun einmal bestehenden Tatsache der zentralen Stellung der religiösen Idee auch im Bildungsleben. Es ist in zwei große Verbände, einen „farbentragenden" und den nicht „farben­ tragenden" gegliedert und befand sich bis zum Ausbruch des Kriegs in ständig aufsteigendcr Entwicklung. Wenngleich in dem letzten halben Jahrhundert die katholische Forschung in einzelnen Disziplinen das Schicksal des allgemeinen Wissenschaftsbetriebs teilte und sich vielfach im Sp^ialistentum verlor, so wird das von ihr selber als lein vorübergehend notwen­ diger Durchgangspunkt, nicht als ein Jdealzustand empfunden. Im Grunde ist das katholische Wissenschasts- und Bildungsideal, wenn auch auf viel breiterer und umfassenderer Basis und bei besseren Methoden, noch genau dasselbe wie das der großen mittel­ alterlichen Gelehrsamkeit. Es achtet nichts gering, was zur Bil­ dung gehört und scheut vor nichts zurück, was zur letzten Erkenntnis der Wahrheit beiträgt, aber es sieht nicht in dem Forschen einen Selbstzweck, sondern ein zureichendes Mittel, die Wahrheit zu finden, soweit sie für die eigentliche Bestimmung des menschlichen Geschlechts notwendig und unentbehrlich ist. Bon diesem Bildungs­ ethos sind denn auch alle Maßnahmen inspiriert, die weiterhin der Hebung des geistigen Lebens dienen. Wenn sich neuerdings den älteren, aber kürzlich zur neuen Blüte gekommenen „Akademischen Bonifazius-Vercinen" allenthalben „Vereine katholischer Akade­ miker zur Förderung katholischer Weltanschauung" zur Seite stellen, so ist es damit zwar in erster Linie auf die mehr persönlich gedachte Kultur der Seele abgesehen, aber im Grunde doch nur, weil der 7*

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katholische Mensch darin eben die Seele der Kultur erkennt. Ein „Verein für christliche Erziehungswissenschaft" kann keine wesent­ lich anderen Ziel« haben, mögen die Methoden, mit denen diese Wissenschaft arbeitet, auch iwch so modern sein. Daß je ein Albertus Magnus-Verein und ei» Hildegardis-Verein sich die Unterstützung männlicher und weiblicher Studierenden mit schönem Erfolg gerade bei beit aus den unteren und mittleren Ständen aufsteigenden frischen Begabungen angelegen sein läßt, sei nur nebenbei erwähnt. Der kirchlicherseits gegen den sogen. Modernismus im Geistest­ leben der Katholiken geführte Kampf, welcher die letzten Jahre des! Pontifikats Pius X. so lärmvoll machte, hat an der fortschreitenden Erweiterung und Vertiefung der wissenschaftlichen Arbeit der Katho­ liken nichts geändert. Er hat sogar in mancher Hinsicht dazu bcigetragen, durch eine Nachprüfung gewisser Methodeil und eine Besinnung auf das angedeutete Bildungsethos und seine Ziele klärend zu wirken trotz mancher verbitternder Begleiterscheinungen, die, int Bereich des Menschlichen, Allzumenschlichen liegend, nicht zum Wesen der Sache gehörten. Einen Aufschwung vornehmlich nach der Seite zeitgemäßerer Praktiken haben auch die Volksbildungshestrebüngen erlebt, die im Vortragswesen, in der Veranstaltung von populärwissenschaftlichen Kursen, in Bücher- und Bibliotheksvereinen, nicht zuletzt in der Entwicklung des Zeitschriften- und Zeitungswesens ihren sicht­ barsten Ausdruck sanden, tvährend aus dem so wichtigen Gebiet der Kolportage nur erst schwach« Anläufe vorhanden sind. Der seit 1845 in Bonn residierende Borromäus-Berein, zunächst zur Verbreitung guter Bücher und zur Förderung von Hausbibliotheken gegründet, hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem Institut und Organismus ausgewachsen, wozu man in anderen Ländern vergeb­ lich ein Gegenstück suchen wird. *) x) Ende 1912 warm ihm 4386 OrtSvereine

gliedern.

angeschlosscu mit 232 275 Mit­

Seine Gesamteinnahme beträgt über eine Dreiviertel Million.

Seit seinem

Bestand hat er für fast 20 Millionen Mark Bücher au HauSbüchereien abgegeben.

Im Reiche

hat er über 4000 Bibliotheken eingerichtet;

3000, die Angaben gemacht

haben, verfügen über eine Million 500000 Bünde; davon wurden im Jahre 1912

vier Millionen 58000 Bände entliehen. Kräfte.

Der Verein unterhält nur wenig bezahlte

Zu seinen jüngsten Untemehmungeu gehört die Einrichtung von Bibltothekar-

schulm und von Wanderbibliotheken

101 Bei der aus Universalität und Solidarität ausgehenden christ­ lichen Bildung kann es nicht befremden, daß große Geistesmänner auch nicht nationaler Zugehörigkeit den Namen für solche zu­ sammenfassende Bestrebungen hergeben. So hat sich die katho­ lische Presse einen Sammelpunkt in einem Verein geschaffen, der den großen Karthager Aurelius Augustinus zu seinem Patron und sein von höherer Stimme diktiertes Tolle lege gleichsam als Motto genommen hat, wenngleich der umfassendere Spruch »In dubiis libertas, in necessariis unitas, in Omnibus autem caritas“ die

allgemeinste programmatische Orientierung gibt. Während der Augustinusverein aber vorwiegend den Charakter eines Standes­ vereins trägt, ist der katholische Presseverein für Bayern int eigentlichen Sinn ein ganz moderner Zeitungskonzern, ohne jedoch auf jene geistige Propaganda zu verzichten, die Schreibenden wie Lesenden das Gefühl sozialer Verantwortung im christlichen Sinne einpflanzt. Mit der Emwicklung des katholischen Zeitschriftenwesens, dem in der Monatsschrift „Hochland" die erste große Revüe erstand, die ihren Mitarbeiterkreis nicht anders als nach der QualitÄ derl im Rahmen des Programms überhaupt möglichen Beiträge be­ schränkt, ging eine starke Bewegung parallel, um das literarisch­ künstlerische Schaffen von der ihm so ost äußerlich angehängten Ten­ denz zu befreien und wieder aus tieferen Quellen religiöser In­ spiration zu speisen. Sie ist im sogen. Katholischen Literatur­ streit akut geworden und heute noch im Aufstieg nach Zielen, die, mit bewußter Wiederaufnahme der großen Traditionen unserer nationalen Dichtung, in sinnenkräftiger Symbolisierung und in der Vergeistigung des Lebens durch die dichtende Kunst gipfeln. Versuche bei >der Schaffung einer charaktervollen nationalen Theater-Kultur mitzuwirken, haben unter katholischer Führung zu einem Zusammenschluß aller christlich empfindenden Kreise in dem Hildesheimer „Verband zur Förderung deutscher Theater­ kultur" geführt und in der „Calderon-Gesellschaft" eine Vereini­ gung zur Pflege der mehr religiösen Bühnenkunst zustande ge­ bracht. Die offenkundige Krisis jedoch, in der unser gesamtes Bühnenwesen sich befindet, war vor der Revolution noch nicht so weit gediehen, um neben dem literarischen Experimentier- und

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Unterhaltungstheater ein Institut erstehen zu lassen, das sich aus den Ideen aller künstlerisch Hochstehenden von Goethe bis Nietzsche und Wagner ausbaut. Immerhin scheint die bloß prvhibitive Ein­ stellung zu derlei Anstalten katholischerseits überwunden, wie dies insbesondere das positive Eintreten für eine Hebung der Licht­ spielbühnen beweist, das nicht nur theoretisch und durch die vom Bolksverein für das katholische Deutschland seit 1911 heraus­ gegebene Zeitschrift „Bild und Film" in die Erscheinung tritt, sondern auch durch die Herstellung und das Verleihen von Film­ werken, ja selbst durch Gründung von Lichtspielbühnen. Auf die­ sem Gebiet beginnt schon die Berührung der Volksbildungs­ bestrebungen mit der geistigen Volks- bezw. Jugendfürsorge, und wir betreten mit ihr das größte praktische Arbeitsfeld der im Geiste der Kirche tätigen Organisationen, das soziale und karitative. Nirgends ist die Stellung der katholischen Kirche im öffent­ lichen Leben so offenkundig wie dort, wo ihre große organisato­ rische Kraft die Massen erfaßt und sich in den Dienst ihrer gei­ stigen und leiblichen Bedürfnisse und Nöte stellt. In diesem -Punkt war ihr nicht einmal die Sozialdemokratie überlegen, was nm so mehr bedeutet, wenn man bedenkt, daß die Kirche an das niedere Begehrungsvermögen nicht nur keine Zugeständnisse machen kann, sondern gerade die natürlichen Instinkte durch die Gedanken der Gerechtigkeit und Liebe überwinden und läutern muß. Wie die Katholiken niemals und nirgends die Trennung von Kirche und Staat als ein Ideal bezeichnen werden, so ist auch nicht zu erwarten, daß sie ihren Anspruch aus die Mitwirkung der Kirche bei der Jugenderziehung in Schule und Haus jemals aufgeben. Durch das ganze neunzehnte Jahrhundert ertönt dieser Anspruch sowohl im Angriff wie in der Verteidigung, und nichts spricht lauter für das nach langen Kämpfen endlich Erreichte, als daß die Verteidigung schließlich allein zu Recht bestehen blieb. Ent­ sprechend der Tatsache, daß der moderne Staat mit einör Mehr­ heit von religiösen Bekenntnissen zu rechnen hat, fordert die ka­ tholische Kirche mit Recht den religiösen Charakter der Schule, der sich nur in ihrer Konfessionalität ausdrücken kann. In dieser Beziehung waren die deutschen Katholiken stets vollkommen pari-

103 tätisch gesinnt. Sie haben allezeit die verschiedenen Bekenntnisse nicht bloß für die einzelnen, sondern auch für die Nation als Güter erachtet und der katholische Pädagoge Otto Willmann spricht nur die allgemeine Überzeugung aus, wenn er sagt: „Der Glaube eines Bonifatius und der anderen Apostel Deutschlands und die Kunde von ihrem heiligen Wirken in diesem Glauben ist ein Schatz für die religiöse und die nationale Bildung zugleich: die Lehre Luthers, daß der Glaube das Köstlichste und die heilige Schrift das Wort Gottes ist, haben tausend deutsche Herzen erfüllt und gehoben, und die protestantische Schule hat die Pflicht, diese Lehre aufrecht zu erhalten gegenüber dem gleich sehr unchristlichen wie undeutschen Wahne, daß der Glaube etwas Gleichgültiges sei/") Aber auch neben den Schulen sowie über die Schulzeit hinaus, hat die Kirche stets sich der Jugend in besonderer Weise ange­ nommen, sie sowohl in Kongregationen bzw. Sodalitäten, als auch in Standesvereinen zusammengeschlossen. Während die ersten bis weit ins 16. Jahrhundert zurückreichen und ihre Zahl heute Legion ist, wurde die erste soziale Standesvereinigung Jugendlicher im Jahre 1849 durch den katholischen Priester Adolf Kolping als Ge­ sellenverein zu Köln ins Leben gerufen und 1852 das erste Gesellen­ hospiz ebendaselbst errichtet. Daneben bildeten sich Lehrlingsvereine tut weitesten Umfang. 1907 wurden alle Jugendvereinigungen in einem Zentralverband mit eigenem Korrespondenzblatt für die Präsides und mehreren Zeitschriften gesammelt. Ihm gehörten im Jahre 1914 2656 Vereine mit zirka 260000 Mitgliedern an. Die bei weitem jüngere katholische Arbeiterorganisation setzt sich aus vier Verbänden, dem westdeutschen (203 700 Mitgliedern), dem Berliner (130000), dem süddeutschen (114500) und dem noch in der Entwicklung begriffenen ostdeutschen (18 000) zusammen. Wenn bei diesen Verbänden die Förderung des religiösen Lebens auch Hauptprogrammpunkt ist, so haben sich in einzelnen derselben gerade in den letzten Jahren doch auch politische und wirtschaftliche Tendenzen, die mit denen der christlichen Gewerkschaften parallel gehen, bemerkbar gemacht. Um unter der erwerbstätigen Bevöl­ kerung bessere soziale Einsichten bei gleichzeitig reiferem staats*) »Didaktik als Bildungslehre* 3. Aufl. Braunschweig 1913. 2 8b. S. 534.

104 politischem Bewußtsein zu wecken und zu verbreiten, ist im Jahre 1890 auf eine Anregung Windthorst's hin, der „Volksverein für das katholische Deutschland" ins Leben getreten und seitdem für eine Reihe ähnlicher Schöpfungen im Auslande vorbildlich ge­ worden. Während die weibliche Jugendorganisation noch vieles nachzuholen hat (in Norddeutschland bestehen 2000 Kongregationen, in Bayern 130 Vereine), hat sich die gebildete Frauenwelt im ersten Anlauf 1903 im „katholischen Frauenbund" eine Organisation ge­ schaffen, die mit 152 Ortsvereinen und 65 000 Mitgliedern, tüch­ tige Arbeit leistet auf den Gebieten des Bildungswesens und des Sozialen und Karitativen. Seit 1905 hat die Ortsgruppe Köln damit den Anfang gemacht, sich eine Jugendabteilung anzugliedern, die in 50 Vereinen 4000 Mitglieder zählt. Wenn wir an letzter Stelle das öffentliche Wirken der Kirche auf dem Arbeitsfelde der Karitas in den Rahmen der Betrachtung ziehen, so nur deshalb, weil wir darin die Bekrönung ihrer Mission, die Bewährung der Lehre, den höchsten Adel ihrer ir­ dischen Berufung erblicken. Nichts zeugt für ihre Herrschaft in den Gemütern stärker als das Maß von karitativen Arbeits­ kräften, die sie zur Linderung menschlicher Not aufzubieten Hal. Wenn auch im 19. Jahrhundert die Siebenzahl der Werke der Barmherzigkeit nicht vermehrt werden konnte, so ist doch die Aus­ legung und die Anwendung auf die verschiedenen Menschenkate­ gorien gewaltig erweitert worden. Lange Zeit hat sich die Karitas auf Einzelarbeit beschränkt. In ihr lebte sich der Wohltätigkeits­ drang und die Nächstenliebe einzelner gegenüber einzelnen aus. Aber in dem Maße als die Verhältnisse der Not und der Hilfst bedürftigkeit ins Große wuchsen, war mit einer also verstandenen Karitas allein nicht mehr auszukommen. Man sing an sich bewußt zu werden, daß Gerechtigkeit nur eine objektive Form der Liebe ist. Es galt Verhältnisse zu schaffen, die, wenn sie die Karitas auch nicht überflüssig inachen konnten, sie doch entlasteten. Soviel leib­ liche Not ihr auch immer durch allgemeine soziale Maßnahmen entzogen wurde, ihre Unentbehrlichkeit trat nur um so schärfer hervor. Was wäre soziale Arbeit ohne Karitas? Mit verstandes­ kalter Organisation sind noch niemals Kräfte der Selbsthilfe in

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de» Seelen geweckt und frei gemacht worden. So muß aller so­ zialen Arbeit die Karitas zugrunde liegen, wenn sie wahrhaft fruchtbar fein soll. Das aber ist das Wesen der katholischen wie aller christlichen Karitas, daß sie ihre Arbeit an den Seelen wie an den Leibern aus den höchsten und reinsten Motiven leistet und daher auch zu persönlichen Opfern bis zur Hintansetzung des eigenen Wohles bereit ist. Ihr ist die Mühe im Dienste anderer Gottesdienst, das „Königliche Gebot", ja sie sucht die Bewäh­ rung ihrer Gottesliebe in der Liebe zum Bruder, gemäß dem Worte des Liebesjüngers: „Wer seinen Bruder, den er sieht, nicht liebt, wie vermag der Gott zu lieben, den er nicht sieht? (Joh. 4,20.) Wo immer heute noch Menschen sich aufopfern im Dienste der Nächstenliebe, da geschieht es aus Kräften, die der Glaube geschaffen hat, mag sich der einzelne dessen bewußt sein oder nicht. Insofern die katholische Kirche in den Seelen ihrer Mitglieder dieses Glaubensleben rege erhält, ist sie eine wahre Hochschule der Barmherzigkeit. Von jeher bestand die innigste Ver­ bindung von Kirche und Hospital. Wie diese Verbindung aber auch in die Breite gewachsen ist, dafür mögen einige Zahlen sprechen. Für mehr als ein Drittel aller in Deutschland, außer Bayern, bestehenden Krankenhäuser stellt der katholische Volksteil die Pflegerinnen; in Bayern mehr als die Hälfte. 5137 karitative Ordensniederlassungen mit rund 50000 Kräften wirken im Dienste der Kranken, Hilflosen, Waisen. Um jedoch auch die verschämten Armen, das in die Verborgenheit des Familienlebens sich zurück­ ziehende Elend zu erreichen, mußte die katholische Laienloelt auf­ geboten werden. In den sogen. Vinzenz-Vereinen hatte sie sich schon in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts eine Organi­ sation gegeben; sie hat es in Deutschland kurz vor Kriegsausbruch ui 700 Konferenzen gebracht mit 63 000 unterstützenden und 14 500 tätigen Mitgliedern. Diese letzteren besuchten 15200 Fa­ milien zum Zwecke der Hausarmenpflege. Im Dienste dieses Liebes­ werkes werden jährlich etwa 92 500 Mark aufgebracht. In Breslau allein genießen 4113 Familien dauernde und fast ebensovicle im Jahre einmalige Unterstützung. Obwohl die Vinzenzkonferenzen kein Werk der christlichen Nächstenliebe von ihrer Tätig­ keit ausschließen, bildeten sich doch neben ihnen Vereine mit beson-

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deren Zwecken, so z. B. das in den Großstädten segensreich wirkende Franz-Negis-Komitee, das sich zur Aufgabe stellt, wilde Ehen zu regeln, nicht zuletzt durch Beschaffung der nötigen Papiere, was für Ausländer ost schwierig und kostspielig ist. Wie in den Binzen?»

vereinen die Männer, so betätigen sich in dem Elisabethvcrein nach der gleichen Richtung hin mit besonderer Betonung der Wöchnerinnenpslege die Frauen und begegnen sich hier mit den dem Laienstandc angehörigen Mitgliedern des Dritten Ordens vom

hl. Franziskus, der eine ebenso stille wie intensive Arbeit in den

Familien leistet. Um eine noch mehr planmäßige Förderung der Werke der Nächstenliebe zu betreiben, wurde 1897 mit der Parole: Mehr Organisation, mehr Publikation, mehr Studium, der „Karitasverband für das katholische Deutschland" gegründet. Hier tritt die Karitas in ganz bewußter Weise als Ergänzung der Sozialarbeit auf. x) Sie will sich nicht bloß in die Sozialpolitik hincinstellen, sondern darüber hinaus Schrittmacherin, Pfad­ finderin sein. Das Wirken des Karitasverbandcs ist daher haupt­

sächlich organisatorischer Natur.

Auf eine Anregung der Fuldaer

Bischofskonferenz hin wurde er in Diözesan-Verbände gegliedert mit je einem beruflich-tätigen Leiter. Untergliederungen in PfarrVerbände sind geplant. Die größeren Verbände (München, Berlin,

Straßburg usw.) führen Registraturen über die Armen, deren Verhältnisse mit Hilfe der Vereine und besonderer Mitglieder eenau untersucht werden. Innerhalb des Gesamtverbandes hat man eine Reihe von Fachorganisationen ins Leben gerufen, die sich mit Hilfe der jeweils in Betracht kommenden Anstalten der Krankensürsorge, Erziehungstätigkeit, des Ausländer- und Auswan-

.ererwesens, der Sorge für Geistesschwache, für nicht Vollsinnige, Trunksüchtige usw. annehmen. Eine Fachbücherei von 10 000 Bän­ den und 250 abonnierte Zeitschriften stehen im Dienste der sich für berufsmäßiges Wirken im Verband Ausbildenden sowie sämt-

>'.cher Mitglieder. Die meisten Arbeitskräfte erhalten keinerlei Ent­ lohnung. Von den 5200 Mitgliedern sind die Hälfte Priester. Mit diesen und vielen ähnlichen Werken im Dienste der Nächstenliebe hat sich die katholische Kirche im 19. Jahrhundert

*) Bei gl. Pros. Dr. Schmittmanu: „Karitas als Etgiinzung bet Sozialarbeit" in „Deutschland und bet Katholizismus" Bb. 2, S. 215—234 Freiburg, 1918.

107 breit in daS öffentliche Leben Deutschlands hineingestellt. Aber keine Aufzählung kann den wahren Wert dieser Arbeitsleistung angeben, selbst nicht nach der volkswirtschaftlichen und bevölkerungs­ politischen Seite hin, denn die besten und dauerndsten Früchte, die int Feuer der Liebe reifen, entziehen sich der Berechnung, und so wenig wie der Geist, ist auch der Opfergeist in einer Ziffer auszudrücken. Hier verschränken sich Lehre und Tat biS zur Untrennbarkeit, und wer der Kirche die Freiheit beschneidet, durch Lehre und Verkündigung zu wirken, der entzieht auch ihrem Liebeswirken die Kraft und schädigt alle, die bis jetzt die Früchte dieses Wirkens genossen haben. Hier würde sich eine Trennung von Kirche und Staat auch in sehr praktischer Weise fühlbar machen, denn in demselben Maße, als die bisher auf die Gesamtheit ver­ teilten Kosten für Kultuszwecke den Mitgliedern der einzelnen Kirchen allein zufielen, würde notwendig deren Leistungsfähigkeit nach der karitativen Seite herabgesetzt werden.

Wir haben versucht, die Kulturbedeutung der katholischen Kirche innerhalb der staatlichen Gemeinschaft in wenigen Umrißlinien zur Anschauung zu bringen. Wir haben auch hervorgchoben, daß der Staat vor der Revolution diese Bedeutung zu erkennen und anzuerkennen auf dem Wege war. Es erging ihm dabei wie so ost dem einzelnen Menschen, den erst die Not mit dem Nachbar zusammenführt und ihn kennen lehrt. Jit dem Maße als an dem sozialen Körper Zeichen schwerer Erkrankung sichtbar wurden, be­ sann sich der Staat auf die Grenzen seiner Macht. Es waren zwar noch sehr äußerliche Erwägungen, als er die ersten Schritte tat, um die katholische Kirche in Deutschland aus der Ohnmacht, in die er selbst sie versetzt hatte, wieder zu befreien. Daher fehlte es auch nicht an Rückfällen in das alte System der Machtanweivdung auf sozialem Gebiet bei gleichzeitigem Kampf gegen die Kirche. Wer könnte heute berechnen, wie viele sozial beruhigende und einordnende Kräfte gehemmt worden sind durch die Entfesse­ lung des sog. Kulturkampfes in einem Zeitpunkt, wo es in den unteren Volksschichten mehr und mehr zu gären begann? So groß war die Verblendung, daß man auf eindeutig sozial-revo-

108 lutionäre Symptome hin den Einfluß der Kirche noch mehr be­ schränkte, indem man schlechthin sie ihr zur Last legte. Die Aus­ söhnung mit der Kirche mußte daher auf alle Einsichtigen ge­ radezu als eine Rückkehr zur Realpolitik wirken, was sie denn auch tatsächlich war. So schwierig sich oft das Verhältnis zwischen Kirche und Staat in der Theorie anläßt, so einfach stellt es sich heraus, wenn sich die beiden Mächte aus dem Boden praktischer Arbeit für die Gesellschaft begegnen. Das hat sich nirgends so deutlich gezeigt, als da man staatlicherseits sich entschloß, soziale Versöhnungs- und Ausgleichsarbeit in großem Stile zu betreiben. Wo man sie brauchen konnte, ließ man die Kirche gewähren; .man begrub zwar das alte Mißtrauen, aber von einem wirklichen Ver­ trauen, von einem fördernden Zutrauen blieb man weit entfernt. Das einschränkende und kränkende Staatsaufsichtswescn mit teil­ weise recht imparitätischen Methoden blieb in Kraft. Wie wird der neue Staat, der in so vielem das Erbe der jüngsten Vergangenheit abgelehnt hat, in diesem Punkte sich ver­ halten? Wird er, was nicht das Schlimmste wäre, lediglich die Wege seines Vorgängers weiter wandeln, oder wird er, noch klüger als dieser, sich die große soziale Befähigung der Kirche gleich von Anfang an zu nutze machen? Es wäre ebenso wesentlich für sein Gedeihen wie ihm die Feindschaft gegen die von innen organi­ sierenden religiösen Kräfte des Katholizismus den sicheren Unter­ gang bereiten wird. Gerade ein aus demokratischen Grundlagen errichtetes Staatswesen kann auf die Dauer nur bestehen, wenn sittlich-religiöse Kultur durch die volle Breite des Volkslebens hindurch wirksam ist. Der Staat, der seinem ganzen Wesen nach die Dinge nur von außen bewegen kann, vermag die Menschen zu organisieren- nur insoweit sie nach ihrer inneren Reife über­ haupt organisierbar sind. Daß sie es werden, das ist Sache der Kirche und des von ihr religiös befruchteten Bildungswesens. Schafft der Staat die Einheit von außen, so wirkt die Kirche auf das gleiche Ziel hin von innen her. Nur die Religion vermag den zum Bestand einer jeden staatlichen Gemeinschaft notwendigen Ge­ horsam aus einem erzwungenen zu einem frei und freudig ge­ leisteten zu erheben und zu adeln. Oder mit anderen Worten: „Die sittliche Würde der Untertänigkeit läßt sich in vollem Sinne

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nur erhalten bei religiöser Begründung der Autorität" (Maus­ bach). Wie das Christentum seiner Idee nach Weltinnung ist, so ist die katholische Kirche tatsächlich die erste Innung und „aller In­ nungen Mutter" (Franz von Baader). Daher die große Sorge, die sie der Keimzelle alles Gesellschaftslebens, der Familie, zu­ wendet. Das Eherecht der katholischen Kirche ist nur aus dieser Sorge ganz und richtig zu verstehen. Die Ehe gilt ihr als ein so­ ziales Sakrament, das nicht der Priester, sondern die Eheschließen­ den sich selber spenden. Über dem individuellen Glück der Eltern steht der letzte und eigentliche Zweck ihrer Gemeinschaft, die Sicherung und Erziehung der Nachkommen. Darin liegt ein be­ völkerungspolitisches Prinzip allererster Ordnung. Tatsächlich ist dort, wo die Kirche noch in den Gewissen wirkt, dem Bölkertad durch „Ausgeborenwerden" eine feste Schranke errichtet. So unterstützt die Kirche den Staat in seiner versittlichenden Wirksamkeit vom Gewissen aus, wo er selber nicht hinabreicht. Und gerade auf dem Gebiete der Moral, die das Fundament aller Volkskraft ist, kann positiv nur etwas erreicht werden, wenn Staat und Kirche zusammenwirken. Der Staat kann die Segenskräfte der Religion gar nicht entbehren. Wenn wir uns vergegenwärtigen, wie sich heute die verschie­ denen Länder zu der Frage Staat und Kirche stellen, so können wir zwei sehr unterschiedliche Verhaltungsweisen wahrnehmen. Wir möchten sie kurz die französische und die angelsächsische nennen. Während die Franzosen von dem bis weit ins 18. Jahrhundert hinein bestehenden sehr engen Bund zwischen Kirche Und Staat nicht bloß zur Trennung, sondern zu immer schärferer Gegensätzlichkeit, ja Feindschaft fortgeschritten sind, hat das Angelsachsentum die seit denr 16. Jahrhundert eingenommene feindselige Stellung zur römisch-katholischen Kirche im letzten Jahrhundert mehr und mehr gemäßigt und in Amerika dieser Kirche von Anfang an jedwede Frei­ heit zur Entfaltung ihrer religiös-sittlichen Kräfte ohne alle be­ schränkende Kontrolle gewährt. Diese Tendenzen scheinen sich noch immer zu verstärken. Der tiefere Grund liegt zweifellos in der ge­ ringeren bezw. gröberen staatspolitischen Weisheit, womit die be­ treffenden Völker sich selber regieren. Der gewaltige Ausstieg des Angelsachsentums könnte zu denken geben. Der namhafte Rechts-

110 gelehrte Karl Ernst Jarcke hatte in den fünfziger Jahren eine Unterredung mit Papst Gregor XVI. Der Papst sprach von der Stellung der verschiedenen Nationen zu dem heiligen Stuhl und ließ seinen Besucher nicht im unklaren, welches Volk nach seiner Auffassung den ersten Rang unter den Nationen cinnehme. Es sei der angelsächsische Stamm und die Angloamerikaner insbeson­ dere. Diese seien es, welche ohne Unterschied ihres kirchlichen Be­ kenntnisses „diesem heiligen Stuhle und somit dem, dessen Stelle der Nachfolger Petri auf Erden vertritt", die meiste Ehrfurcht zu beweisen pslegtcn. „Mit sichtlicher Rührung," so heißt es in der Auszeichnung Jarckes, „erzählte der hohepriesterliche Greis mehrere Züge als Belege seines Ausspruchs und prophezeite diesem Volke, dem es um den Glauben ticser Ernst sei, eine große Zukunft." Welcher von beiden Richtungen wird das neue Deutschland sich anschließen? Insofern in dieser Frage ein Grundproblem aller geselligen Vereinigung, die Anerkennung der göttlichen Ordnung in den menschlichen Dingen verborgen liegt, ist sie eine Frage auf Tod und Leben. Möchten die, denen des deutschen Volkes Wohlfahrt anvertraut ist, sie unbestochen von Vorurteilen zu Herzen nehmen!

Kapitel 6.

Die gemeinsamen Interessen der katholischen und der evangelischen Kirche angesichts der Crennungsfrage. Von Martin Rade. Nachdem ich in dem Werke „Vom inneren Frieden des deut­ schen Volkes" das Kapitel „Protestantismus und Katholizismuß im neuen Deutschland" behandelt habe, fällt mir wie von selbst hier die Ausgabe zu, aus dem dort Gesagten die Folgerungen für die beiden Konfessionen im Streit um die Trennungsfrage zu ziehen. Hic Rhodue, hic salta! Ich habe dort auf Grund des gemeinsamen Kriegserlebnisses die Hoffnung auf ein engeres Verhältnis zwischen deutschen Katholiken und Protestanten für die Zukunft ausgesprochen und begründet. Nicht die Illusion einer kirchlichen oder religiösen Wiedervereinigung blendete mich; von

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einem besseren Willen und besseren Verständnis — gegenseitig — war die Rede, wurzelnd in staatlichi-nationalem Boden. Diese Gedanken habe ich in einer Artikelreihe des „Fränkischen Kuriers" sortgeführt und vertieft. Vertieft insofern, als ich doch schließlich auf die Annahme und Betonung eines starken reli­ giösen Gemeinbesitzes hinausgekommen bin, der ebenso wie die Gemeinsamkeit der nationalen Art und Geschichte eine innigere Annäherung der beiden Parteien ermöglicht und fordert. „Der konfessionelle Frieden, den wir brauchen" — so meinte ich — „ist nur auf Grund einer weitgehenden religiösen Verständigung zwischen den beiden Konfessionen möglich, aussichtsreich und dau­ ernd." **) Nun ist plötzlich, wider alles Erwarten, die Solidarität der beiden Konfessionen auf eine ernste Probe gestellt worden. Schon der Zusammenbruch unseres Staatswesens für sich allein mußte zeigen, ob sie verwandt und gemeinsam darauf reagieren würden. Indem aber die neuen Gewalten alsbald „Trennung von Staat und Kirche" mit Gesetzeskraft verkündeten (die deutschen Volks­ beauftragten am 12., das preußische Ministerium am 13. Novem­ ber), sahen sich beide Kirchen einem frontalen Angriff auf ihren bisherigen Zustand ausgesetzt: wie würden sie sich eine jede, oder beide zusammen, darauf verhalten?') Von irgendwelcher gegenseitigen Fühlungnahme der obersten Kirchenleitungen hat man nichts gehört. Sie hat wohl auch nicht stattgefunden. Vielleicht in München, aber in Preußen gewiß nicht. Der Erzbischof von Köln übernahm die Führung, indem er namens sämtlicher Bischöfe eine feierliche Verwahrung gegen den geplanten Rechtsbruch einlegte. Diesen Protest begründete der preußische Episkopat eingehend in einer Ansprache an seine Diö­ zesanen (datiert Dezember 1918). — Unter dem 30. November gab der Oberkirchenrat in Berlin eine gleiche öffentliche Erklärung >) FiLnkischer Kurin 1917 Nr. 372, 375,

398, 425, dazu 540.

hat darauf grantworiet in der Aug-burger Postzeitung 1917 Nr.

v. Liesl

425, 435, 443,

455, 475.

*) $k

tinlcfjläqigm Taten

oder Untaten

der

verschiedenen

vorlöufigrn

Ministerien in Deutschland sind tnavp und ausgiebigzujammm bei Zimmermann

8. J. in den Stimmen der Zeit, Februar 1919.

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ab und sprach die Erwartung aus, daß eine Änderung des bis­ herigen Verhältnisses zwischen Staat und evangelischer Kirche nicht ohne vorherigen Verständigungsversuch unternommen werden wurde. Es wäre erstaunlich gewesen, wenn nicht gleichzeitig amtlich minder gebundene Vertreter der beiden Konfessionen angesichts der gewachsenen Gesahr sich die Hände gereicht hätten. In Berlin bildete sich ein „Interkonfessioneller Ausschuß" unter dem Prote­ stanten Prof. Deistmann und dem Katholiken Prof. Faßbender. Im Kreise Kreuznach erließen evangelische und katholische Pfarrer zusammen eine» Wahlaufruf. Das Zentrum, nunmehr „Christ­ liche Volkspartei", unterstrich seinen Anspruch, eine interkonfessio­ nelle Partei zu sein, und lud gegenüber dem gemeinsamen Feinde die evangelischen 'Deutschen zum Beitritt ein. Diese Einladung nahmen der Berliner Pfarrer Haecker und der ehemalige Greifswalder Systematiker D. Dunkmann namens der Evangelischen an, und gerade in Berlin sollen nicht wenige Evangelische zu den beiden Nationalversammlungen Zentrumsliste gewählt beii Die Vcrbrüderungsaktion ist im Gange. Es entsteht die Gewissenssrage für jeden Christen drüben und hüben, wie er sich dazu stellen soll. Und am wenigsten wird nach den von ihm früher ver­ tretenen Sätzen der Schreiber dieses ihr ausweichen dürfen.

Nun ist aber gegenüber dem Erlebten vor allen Dingen Vor­ sicht geboten. Die Lage ist heute (Mitte Februar 1919) bereits wieder eine andere, als damals, wo der Kardinal von Köln, der Berliner Obcrkirchenrat, die preußischen Bischöfe sprachen. Die naive Selbstverständlichkeit, mit der Adolph Hoffmann und sein Genosse Haenisch (denn er bleibt doch für die Erlasse und Anläufe zu Erlassen mit verantwortlich) sofort das Trennungsprogramm vier­ kündeten und mit Gesetzesmacht auszuführen unternahmen, ist gewichen. Die Person Adolph Hoffmanns selbst hat den Platz verlassen, dafür freilich erfreut sich Bayern eines Kultusministers mit gleichem Namen (Johannes Hoffmann) und verwandter Ent­ schlossenheit, Sachsen geht es nicht anders. In Preußen ist aber jedenfalls soviel wieder zurückgenommen und ausdrücklich der Volks­ vertretung vorbehalten worden, daß für eine ruhige Durcharbeitung des Gegenstandes aus Grundsätzen heraus unter Berücksichtigung

113 von Herkommen und Zweckmäßigkeit jeder Ranm geschaffen scheint. Wie wird nun die Gesetzgebung arbeiten? Wird sich dabei ein Zusammengehen der kirchlichen Interessenten von beiderlei Kon­ fession von selber ergeben oder nicht? Die Gemeinsamkeit des Widerstandes gegen den Schrecken der Adolph Hoffmann'schen Voreiligkeit ist mit dieser erledigt; bis zu irgendwelcher offiziellen Form von Fühlungnahme der katholischen und protestantischen Instanz hat er nicht gereicht; auch was in freiem Antrieb von beiden Seiten her sich zusammengetan hat, das sind doch bisher nur Velleitäten, Ansätze geblieben. Wird aber nun das Problem der Trennung mit Ruhe und Ernst auf die Tagesordnung gesetzt, muß es so oder so beantwortet werden: welches Maß gemeinsamer Interessen wird die beiden Konfessionen zusammenzwingen? oder wird die Grundverschiedenheit ihrer Art gerade bei ruhigem Ver­ lauf der Dinge und freier Entschließung sich vielmehr so geltend machen, daß eine jede Kirche ihren andern Weg geht? Man darf vielleicht sagen, daß schon heute sich der Protestan­ tismus für die Trennung von Kirche und Staat entschieden hat, di« katholische Kirche sic ablehnt. Zwar fehlt es auch auf evangelisch­ kirchlicher Seite nicht an berufenen Vertretern, die willens sind, den alten landeskirchlichen Zustand möglichst unverändert in die neue Zeit hinüberzuretten, und die mit Zähigkeit alle juridischen, dialektischen und politischen Mittel anwenden werden, um das Gewesene Schritt für Schritt zu verteidigen. Aber sie haben das Kirchenvolk nicht hinter sich. Zu weit ist schon in die Pfarrer­ schaft und in die Gemeinde das Gefühl gedrungen, daß mit dem Verlust der Landesbischöfe der alte kirchliche Rechtsbestand um sein Fundament gekommen ist, daß es also gilt, einen neuen Grund zu legen und auf ihm einen neuen Bau zu errichten. Was an lieb und wert gehaltenem Gut sich aus dem ptten in das' neue Haus mithinübernehmen, an Rechten, Befugnissen, Einkünften, Vorteilen aller Art sich gegenüber einem veränderten Staatswesen behaupten läßt, das wird man gerne festhalten. Aber grundsätzlich will man. auf den Wandel der Verfassung eingehen. Man will gewiß bei­ sammen bleiben mit dem Staat, das ist selbstverständlich; man kann so wenig auseinander wie der Raum und die Luft, die ihn füllt; aber einer anderen Ordnung des Verhältnisses, die vorn Revolution und Lirche. 8

114 der Unterscheidung des Wesens beider, des Staates und der Kirche, ausgeht, widersteht man nicht. Man befindet sich nicht in statu confessionis. Man steht nicht auf dem Non possumus. Gs kommt alles auf das Wie des neuen Zustandes und der Lösung des alten an. Auf praktische Erwägung also. Auf guten Willen und Politik.

Der katholische Teil hat sich auf den grundsätzlichen Wider­ spruch gegen die Trennung festgelegt. Läßt man all das treffliche Pathos, das die Kanzelansprache des preußischen Episkopats durch­ flutet und das dem Zorn über das Adolph Hoffmann'sche Attentat zu verdanken ist, beiseite, so bleibt ein ruhiges und festes: Nein! Bon Trennung der Kirche und des Staates kann nicht die Rede»

sein. *) Warum nicht? Gibt es nicht Länder, in denen die römischkatholische Kirche die Trennung anerkennt? und sich wohl dabei befindet? So die Bereinigten Staaten von Nordamerika, so Bra­ silien, so Belgien: diese drei Länder nennt das Bachem-Sacher-

sche Staatslexikon (Jg. 1912, Sp. 528) ausdrücklich als solche, in denen die Trennung keine „Knechtschaft für die Kirche be­ deutet". Noch andere südamerikanische Staaten dürsten wohl ge­ nannt sein; in Genf haben die katholischen Bürger die 1907 durchgeführte Trennung mit gewollt und mit beschlossen. Es wird also doch auf das Wie ankommen? Es wird kein Non possumus da sein auch auf feiten dieser Kirche? Nun, die dogmatische, idie

kanonische Hemmung ist doch ungeheuer. Da ist der 55. Satz int Syllabus Pius' IX. von 1864: Eccelsia a Statu, Statusque ab Ecclesia seiungendus est, durch welchen unter den Hauptirrtümern unserer Zeit auch der verworfen wird, daß „die Kirche vom Staat

und der Staat von der Kirche zu trennen ist".

Und es gilt doch

noch die Bulle Unam sanctam Bonifatius' VIII. von 1302, wo­ nach geistliche Gewalt über staatlicher steht, beide Schwerter von Christus der Kirche übergeben sind, der Staat sein Schwert von der Kirche hat. Das ist freilich eine Ordnung des Verhältnisses beider Mächte, die mit solchem Anspruch der heutige Katholizismus einem modernett Geschlecht nicht zu bieten wagt; seine Ethik weiß

vielmehr davon zu reden, wie sie nach natürlichem und göttlichem *) Die Ansprache findet sich j. B. in der Kölnischen Volkszeitung Nr. 1009, MIttagSblatt vom 24. 12. 18.

115 Rechte beide souverän, beide gleichen Ranges sind; aber die Ordnung ihres gegenseitigen Verhältnisses selber kann doch auch die Kirche von heute letztlich nur sich selber als der von Gott gewollten höheren Instanz Vorbehalten. ‘) Das sind freilich starke Hindernisse für ein Tolerari potest. Wie wird die „Trennung" aussehen müssen, wenn die katholische Kirche ungezwungen sich mit ihr befreunden soll? — Umgekehrt die evangelische Kirche! Wir haben nun vierhundert Jahre das Landeskirchentum gehabt. Zuweilen ist wider seinen Stachel gelöst worden. Aber immer wieder hat man sich damit zu­ frieden gegeben. Denn schließlich kam es für Predigt und Glauben und Gemeinde des Protestanten nicht darauf an, mit welcher Staatsform seine Kirche es zu tun hatte. Immer wieder konnte er sich auf die reine Geistigkeit der communio sanctorum, die ihm seine Kirche konstituierte und garantierte, zurückziehen. In hun­ dert verschiedenen Weisen sah er über die ganze Erde hin das Bierlhältnis von Kirche und Staat für seine Bekenntnisverwandteu ge­ ordnet. Hatten wir in Deutschland das Landeskirchentum: wieviel Frcikirchentum ringsum, und wieviel Freikirchentum selbst unter uns! So derhor der Gedanke einer Trennung für uns schon lange das Schreckhafte, das Unmögliche. Sie war vielmehr möglich; vb wünschenswert, ob erträglich, das kam rein auf das Wie an; immer haben wir gewußt und es nun jetzt, als die Krisis ausbrach, sofort zur Hand gehabt und von allen Seiten wiederholt: Die evan­ gelische Kirche ist grundsätzlich vereinbar mit jeder Staatsform, weil sie im Grunde von jeder Staatsform unabhängig ist. Es kommt für die Praxis also nur darauf an, wie man sich gegen­ seitig miteinander einrichtet. Und auch wir haben der Bulle Unam sanctam und dem Syllabus Worte von symbolischem Ansehen entgegenzustellen. In unserem Augsburgischen Bekenntnis handelt das Schlußkapitel >) Wenn

man

die Bulle

Unam lanctam in diese Erörterung hineinzieht,

wird einem wohl von latholischen Gelehrten vorgeholten, die katholische Kirche hab«

auch die Ansicht Bonisatiu»' VIII. sich niemals zu eigen gemacht. Nur eine Minder­ heit sei andrer Meinung.

ES sei in der Bulle zu unterscheiden zwischen dem dog­

matischen Teil und der Privatmeinung de» Papste», die er al» solche gekennzeichnet

habe.

Ich kann die Zeichen der Naht nicht finden.

116 „von der kirchlichen Gewalt". Dort wird scharf geschieden -wischen der kirchlichen Gewalt, die da „ewige Güter gibt und allein durch das Predigtamt geübt und getrieben wird", darum „so hindert sie die Polizei und das weltliche Regiment nichts überall". „Darum soll man die zwei Negimente, das geistliche und weltliche, nicht ineinander mengen und werfen. Non igitur commiscendae sunt potestates ecclesiastica et civilis.* Auf solchem Boden muß der Gedanke der Trennung trotz vierhundertjährigen, von der katholi­ schen Seite uns ost vorgewfoicsenen Staatskirchentums — oder eben deswegen — ganz anders einschlagen als aus dem katholisch­ kirchlichen. Es kommt einzig alles, wie man nur immer wieder­ holen kann, auf das Wie an. Wir sehen, das Interesse an der Neuregelung des Verhält­ nisses von Kirche und Staat nach dem Zusammenbruch der preußi­ schen Staats- und deutschen Reichsverfassung ist von vornherein nicht das gleiche für beide Konfessionen. Denn die katholische Kirche erstrebt grundsätzlich eine (selbstverständlich im letzten Ziel geistige) Herrschaft über den Staat. Die evangelische Kirche er­ klärt den Staat für grundsätzlich unabhängig von der Kirche und ist zufrieden damit, wenn sie in der Verwaltung ihrer ewigen (geistigen) Güter von ihm ungehindert bleibt. Jene fordert eine ganz bestimmte folgenreiche konstitutive Zusammengehörigkeit bei­ der Größen; diese verkündet zuerst deren Wesensverschiedenhcit und wird von da aus mehr oder minder gleichgültig dagegen, wie sich formell in der Praxis das Neben- und Ineinander der beiden Organisationen regelt. Es hängt mit diesem Prinzipiellen zusammen ein rein Praktisches. Die katholische Kirche hat bei ihrer bisherigen Stel­ lung zum Staat ohne Zweifel eine größere Unabhängigkeit be­ hauptet als die evangelische. Sie mußte das, wenn sie ihrem politischen Anspruch nicht ganz untreu werden wollte. Versuchte der Staat ihr in das eigene Gehege zu kommen, so gab es den „Kulturkampf". Dieser ward auch jetzt von den Bischöfen auf den Angriff des preußischen Ministeriums hin proklamiert. So hütete sich nur eben, durch Erfahrung gewitzigt, der bisherige Staat, in ihre innere Sphäre einzugreifen. Er schützte sie, er unter­ stützte sie, aber er ließ sie als Kirche frei und verbürgte

117 ihr insonderheit die Herrschaft über ihr Kirchenvolk durch die konfessionelle Volksschule. Welche Vorteile sollte der katholischen Kirche in Preußen und Deutschland die Trennung bringen? Da­ gegen war die evangelische Kirche in Preußen nach dem Ausspruch Friedrich Wilhelms IV. „gebunden an Händen und Füßen", und Anläufe zur Erlangung einer größeren Selbständigkeit wurden ron kirchlichen Männern oder Parteien verschiedenster Richtung immer neu versucht, zum Teil auch mit Erfolg. Diese inncrlandeskirchlichen Bestrebungen erwiesen sich unter dem bisherigen Staat als völlig aussichtslos. W war der Summ­ episkopat des Landesherrn, der entscheidend im Wege stand. Mit den Landesherren ist jetzt der Summepiskopat gefallen. Soll die evangelische Kirche nicht den Augenblick nützen, um endlich eine wirkliche Unabhängigkeit ihrer Verfassung vom Staate durchzu­ setzen? Indem sie damit erstrebt, was die katholische Kirche schon hat, muß sie sich zur gegenwärtigen Krisis nicht ganz anders stellen als diese? Und wenn sie nun zugleich, ebenso wie diese, zum Staat unter allen Umständen auch wiederum ein positives Verhältnis haben will, muß sie das nicht mit ganz andern Mit­ teln gewinnen als diese? Aus alledem ergibt sich für unsere Frage folgendes. Gemeinsame Interessen angesichts der Trennung bestehen für katholische Kirche und evangelische Kirche durchaus. Allem vor­ aus das Interesse an einer ruhigen, besonnenen, schonenden Über­ leitung des alten Zustandes in den neuen, bei der nicht einfach der Staat von sich aus rücksichtslos befiehlt und regelt, sondern den andern Teil, mit dem er bisher so innige Beziehungen ge­ pflegt hat, zu ordentlicher Mitwirkung veranlaßt. Beide haben Rechte geltend zu machen. Rechte auf Besitz und Eigentum. Wer­ den die Kirchen aus ihren Privilegien entlassen, so muß sich eine befriedigende Form der Ablösung finden. Man darf den Kirchen nicht eine solche neue Stelle anweisen, daß sie aufhören, die Rechtsnachfolgerinnen der alten Kirchen zu sein. Sie sollen öffentliche Korporationen bleiben. Erfolgt irgendwelche Ver­ gewaltigung in dieser Richtung, so ist die Solidarität beider Kon­ fessionen außer allem Zweifel. Aber darüber hinaus besteht auch eine Solidarität innerer

118 Art.

Beide Kirchen sind Hüterinnen und Pflegerinnen ewiger

Güter. Ja sie sind um deswillen nur da. Wird die Religion,

die christliche, wird das Evangelium durch den Staat mit rauher, täppischer oder grausamer Hand gefährdet, dann haben sie gegen

ihn zu stehen wie Ein Mann. So ist das jetzt tatsächlich der Fall gewesen, obwohl die konfessionelle Spaltung stark genug blieb,

um die Geschlossenheit der gemeinsamen Haltung nicht zum öffentlichen Ausdruck kommen zu lassen. Die Gemeinsamkeit geht aber noch tiefer. Auch die evan­ gelische Kirche erstrebt einen Herrschaftsanspruch über den Staat. Sie will auch, daß er sich keine absolute Souveränität anmahe, sondern sich einreihe als dienendes Glied in das Reich Gottes.

Diese Beugung unter den obersten Herrn über alles, was ist, mutet sie ihm zu. Dabei muß sie ihm helfen, will sie ihm helfen.

Weite Strecken der katholischen und der evangelischen Ethik gehen

da zusammen, soweit eben beide die Ausprägung christlicher Ideen sind. Ich denke an das ganze Gebiet der sozialen Fürsorge. Gleichviel ob „der Staat" oder „die Kirche" oder welche freie Instanz die Werke treibt, die getrieben werden müssen, die Kirchen haben hier ihre gemeinsamen Forderungen an das öffentliche Gemeinwesen, ihren gemeiiisamen Einsatz, ihren ge­ meinsamen Ort darin. Und wie sie die Wohlfahrt des Volkes

beide zusammen mit dem Staat zu pflegen haben, so haben sie mit ihm Sitte zu wahren, Zucht zu üben. Verkennt das der Staat, so gilt es ihm Widerstand zu leisten und den verkannten Lebensnotwendigkeiten zur Anerkennung zu verhelfen. Der Punkt, in dem beide Konfessionen am seltsamsten sich zusammenfinden, ist der der konfessionellen Schule. Daß die Schule im Laufe ihrer Geschichte je länger je mehr Staatssache geworden ist, diese Entwicklung kann und wird niemand mehr rückgängig

machen. Die Schule ist recht eigentlich das Symbol des modernen Kulturstaats. Der Staat kann sie und ihre Gestaltung sich nicht

nehmen lassen. Indem er nun bisher sie in ihren Fundamenten (der Volksschule) und mehr oder minder auch in den höheren Stockwerken konfessionell gestaltete, erkannte er nicht nur die Wich­ tigkeit der Religion für das Staatsvolk an, sondern auch die Maßgeblichkeit der Konfessiönskirchen für die Schule und ihren

119 Religionsunterricht. Es ist unmöglich, daß die beiden Kirchen ihren Anspruch in dieser Hinsicht, wenn er ihn abweist, ohne Kampf mit dem Staat fallen lassen. Ich nannte die Solidarität, in der sich die getrennten damit befinden, seltsam. Denn indem sie miteinander die konfessionelle Schule wollen, treten sie dafür ein, daß sie sich weiterhin selber gegenseitig in der Schule be­ kämpfen dürfen. Die konfessionelle Schule scheint ja der dauernde .Herd des interkonfessionellen Widerstreits. Und es scheint ge­ radezu ein Staatsinteresse, ein nationales darin zu liegen, daß man sie aufhebt. Fragt sich nur, zu Gunsten wessen. Religion, christliche Religion ist nicht eine bloße Abstraktion, die man mit allgemeinen, ob auch noch so sentimentalen Wendungen den Kin­

dern beibringen könnte, sie ist Charaktersache, sie ist Leben. Sie ist in ihrer wirklichen Form von einem Geschlecht dem andern zu übergeben. Gewiß so, daß die Idee darüber herrscht und zu immer neuen Entfaltungen führt. Aber das muß aus der Re­ ligion, nne sie ist, selber kommen, man kann es nicht von außen her durch Zucht und Zwang machen. Will aber der Staat Religion und Moral machen, so befinden sich beide Konfessionen in statu confcssionis, und die Gemeinsamkeit des Interesses ist da. Ich kann hier das verwickelte Problem der konfessionellen Schule nicht nebenher erledigen. Wo sie aus geschichtlichen und praktischen Gründen der Simultanschule gewichen ist, hat auch di« katholische Kirche sich damit abgefunden. Aber auch im sozialen Staat bleibt die Individualisierung der verschiedenen Bolksteile bestehen und erhebt, schon durch Elternrecht, ihren Anspruch an die Staatsschule. Solche Auswüchse des alten Systems wie die Nötigung der Dissidentenkinder und der widerwilligen Lehrer zum Religionsunterricht sind ohne weiteres mit dem alten System ge­ fallen; die geistliche Schulaussicht wird ihnen nachfallen. Aber das Charaktervolle des Religionsunterrichts, und das ist dass Konifessionelle, wird bleiben; es wird auch auf das Ganze der Schub» einheiten, in allerlei Kulturunterricht, seinen Einfluß behalten. W i e die Staatsschule technisch-methodisch in ihren Plänen und Re­ gulativen damit fertig werden will, das ist des Staates Sache. Wir haben hier nur die weitgehende Gemeinsamkeit der beiderkirchlichen Interessen festzustellen.

120 Und sind damit freilich zugleich an dem schmerzlichen Punkte angelangt, wo die beiden Kirchen wiederum auseinander^gehen. Wie schon angedeutet, bereits in der Schule selbst. In denk Religionsunterricht, weil er konfessionell ist. * In der Behand­ lung, die der Staat, die Gesellschaft, das profane Leben dort er­ fährt. Je charakteristischer die Religion ihrer kirchlichen Sonder­ art nach im Unterricht und in der Erziehung gepflegt wird, desto mehr klafft der Zwiespalt. Der Staat kann das nicht künstlich hindern, und wollte er es, so würde es nur einen um so härteren Rückschlag geben: Kulturkampf. Es kann aber der Protestantismus, auch der streng kirchliche, von Konfessions wegen nicht verzichten auf seine besondere akatholische Stellung zum Staat. Um des konfessionellen Friedens willen sich der katholischen Lehre vom Staat unterwerfen, das würde für ihn die Preisgabe einer der größten Errungenschaften der Reformation bedeuten. Man mag protestantischerseits der katholischen Kirche dankbar sein für so manchen Dienst, den sie entgegen versuchter Staatsomnipotenz der Kirche überhaupt und damit der Kultur erwiesen hat. Aber eine andere grundsätzliche Hochschätzung des Staates bleibt nun doch dem Protestantismus eigen, und von daher ein Zutrauen und eine Hingabe an ihn, die auch durch schwerste Erfahrungen nicht totzumachen sind. So auch jetzt. Der Zusammenbruch des alten Staats und die un­ übersehbaren Mängel des neuen haben uns gewiß irre machen können an dem Werte des Staates selbst. Aber wie der Phönix aus der Asche, so erhebt sich vor unserm inneren Auge immer wieder neu und jung die Staatsidee und behauptet sich in ihrer göttlichen Kraft neben der Kirchenidee. Kein Rechtsbruch, keine finanzielle Benachteiligung, kein Übergriff der Befugnisse sonst kann uns daran irre machen. Und der Unterschied von der ka­ tholischen Praxis ist, daß wir eine neue Staatsform wie diesen Bolksstaat mit der unvermeidlichen Trennung nicht nur „dulden", sondern alsbald hoffend seiner Zukunft entgegengehen. Wir heißen das Geschenk einer größeren Unabhängigkeit, einer endlichen Selbst­ bestimmung und Selbstverwaltung für unser kirchliches Wesen aus seiner Hand willkommen. Das ist die Grundlage eines neuen Ver­ hältnisses, wie es die katholische Kirche nicht erfährt, weil fte

121 es nicht erfahren kann und zu erfahren nicht nötig hat. Und wir gehen auf dieser Grundlage trotz aller miterlittenen Erschüt­ terung der kritischen Zeit freudig hinein in die neue Zeit. Mit diesem Staat, zu dem wir beim Verlust des alten Zustandes doch wahrlich nicht überhaupt das Verhältnis verloren haben, mag er nun Fehlgriffe machen, so viel er will. Er wird doch schließlich begreifen müssen, als Volksstaat, daß er, der Staat, nichts andres ist als das Volk. Und daß das Staatsvolk zugleich das Kirchenvolk ist. Und daß er also nicht sein kann und nichts ist ohne das Kirchcnvvlk. — Das emviinden, das bekennen wir a n d e r s als unsere katholischen Volksgenossen, und das weist dann andere Bahnen der Kirchenpolitik. Darum können wir evan­ gelischen und katholischen Deutschen nicht einfach miteinander bil­ den „eine christliche Volkspartei". Wohl aber bleibt es dabei, daß, wie wir zusammen ein deut­ sches Staatsvolk sind, wir auch zusammen ein christliches Kirchen­ volk bilden. So wird sich auch ferner unser Zusammensein um die beiden Pole bewegen der christlich-kirchlichen Solidarität und der charaktervoll unterschiedlichen Konfessionalität. Den unverlierbaren Naturboden unserer Gemeinsamkeit bildet unsere deutsch-nationale Einheit. Das Ziel einer immer tieferen, auch religiösen Ver­ ständigung richtet unsere gemeinsame christliche Herkunft, unser gemeinsamer christlicher Besitz, unser gemeinsamer christlicher Be­ ruf unter allem Wechsel der vaterländischen Geschichte mahnend und ermutigend immer neu vor uns auf.

II. Die äussere und innere Neuorganisation der Kirchen. Kapitel 6.

Das

trennungs probiern und bie katbolifdie Rtre sein wird. Art. 15B.U. besagte: „Die evangelische und die römischkatholische Kirche sowie jede andere Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig und bleibt int Besitz und Genuß der für ihre Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und Fonds." Dadurch, daß die katholische Kirche neben der evangelischen be­ sonders genannt wird, ist die besondere Rechtsstellung, welche beide im Staate genießen, hervorgehoben. Diese ist durch den Grundsatz der Kultusfreiheit nach Art. 12 unberührt geblieben. Nur insofern wurde sie durch die Berfassung geändert, als durch diese die Rechtsstellung der anderen Religionsgemeinschaften ver­ bessert wurde. Um das die katholische Kirche betreffende Recht festzustellen, muß man somit zurückgehen zu den Grundsätzen des Landrechts, welches die Religionsgesellschaften einteilt in die öffentlich aufgenommenen (sog. Landeskirchen) und die nur ge­ duldeten Religionsgesellschaften. Das Konzessionsprinzip mit Be­ zug auf die geduldeten Religionsgesellschaften (§ 20II11 A. L.R )

ist durch Art. 12 V. U. beseitigt. Dagegen ergibt sich aus Art. 13 der Verfassung, wonach Religionsgesellschaften, welche keine Korpo­ rationsrechte haben, diese Rechte nur durch besondere Gesetze er­ langen können, eine neue, für die äußere Lebensentfaltung wichtigere Unterscheidung in Religionsgesellschaften mit und ohne Korpo­ rationsrechte. Die katholische Kirche, welche ebenso wie die evan­ gelische nach dem Religionsedikt vom 9. Juli 1788 öffentlich aus­ genommen ist, genießt als solche die Rechte einer „privilegierten Korporation". Die Eigenschaft als juristische Person teilen die beiden Landeskirchen für ihre Einrichtungen heute mit 7 anderen

128

Religionsgesellschaften'), während eine Reihe von Heineren Ge­ meinschaften wie die Methodisten und Jrwingianer der Rechts­ fähigkeit entbehren. So sind die Landeskirchen der landrechtlichen Zeit durch die Verfassung in einigen Beziehungen anderen Reli­

gionsgesellschaften gleichgestellt, in anderen Beziehungen aber vor ihnen bevorrechtigt geblieben. Die landrechtlichen Vorrechte der beiden Landes­

kirchen sind in dem Patent betreffend die Bildung neuer Religionsgesellschaften vom 30. März 1847 zusammengefaßt. Hiernach

werden nur die ihnen gehörenden gottesdienstlichen Gebäude »Kirchen" genannt und genießen als solche die Vorrechte der öffentlichen Gebäude des Staates. (§ 17II11.) „Die Kirchen sowie

Pfarr- und Küstergärten sind von den gemeinen Lasten des Staates

frei und die zur Feier des Gottesdienstes und Religionsunterrichtes bestellten Personen haben mit anderen Beamten im Staate gleiche

Rechte."

Diese Bestimmungen sind auch nach der Verfassung in

Geltung geblieben. Die Kirchengebäude sind als solche dem Privat­

eigentum meinden

entzogen,

stehen.

obwohl

sie

im

Eigentum

Die Geistlichen besitzen

zwar

der

Kirchenge­

nicht mehr Be-

amtenqualität im eigentlichen Sinne, es kommt ihnen aber im Staatsleben eine beamtenähnliche Ehrenstellung zu, wie dies

auch in steuerlicher Beziehung in der späteren Gesetzgebung seinen Ausdruck gefunden hat. So besteht Freiheit von direkten Gemeinde­ steuern für die Geistlichen und Kirchendiener nach der Verordnung

vom 23. September 1867 und die Befreiung der Dienstgrund­

stücke und Dienstwohnungen von der Grund- und Gebäudesteuer nach Maßgabe des § 24 des Kommunal-Abgaben-Gesetzes. Dahin

gehört ferner auch der öffentliche Glaube der von den Geistlichen gefertigten Auszüge aus den Kirchenbüchern und im gewissen Sinne auch die Nichtwählbarkeit der Geistlichen zu der Stadt­

verordnetenversammlung und Gemeindevertretung. Wesentlich wcitergehend als diese Sonderrechte der Landeskirchen sind die­ jenigen, welche den mit Korporationsrechten ausgestatteten Reli­ gionsgesellschaften zustehen: Auf diese bezieht sich der Schutz gegen öffentliche Beschimpfungen kirchlicher Einrichtungen und Gebräuche

*) Es sind die- die Altlutheraner, Kohlbrüggianer, Hrrrenhuter, Böhmische Brüder, die Synagogengrmeiaden, Menoniten und Baptisten.

129 nach 8 166 St G B., während die Störungen des Gottesdienstes einer Religionsgesellschaft nach § 167 strafbar sind, ohne daß der Besitz der Korporationsrechte der letzteren Voraussetzung wäre. Zu erwähnen ist ferner die Gemeindesteuerfreiheit der Kirchen und Kapellen nach § 24 des Kommunal-Abgaben-Gesetzes, die Be­ freiung von der Quartierlast nach dem R.G. vom 25. Juni 1868, die Befreiung von der Landesstempelsteuer nach § 5c des Gesetzes vom 31. Juli 1895. Nach § 24 des Reichs-Vereins-Gesetzes vom 19. April 1908 in Verbindung mit dem Preußischen Vereins­ gesetz vom 11. März 1850 sind die mit Korporationsrechten ver­ sehenen Religionsgesellschaften von der Verpflichtung befreit, der Polizeibehörde Vorstand und Satzungen anzuzeigen, ihre Ver­

sammlungen anzumelden und ihre polizeiliche Überwachung zu dulden. Prozessionen bedürfen keiner Genehmigung, wenn sie in der hergebrachten Art stattfinden. Schließlich werden nach § 65 des Reichsmilitärgesetzes vom 20. Mai 1874 Personen des Beurlaubten­ standes und der Ersatzreserve, welche ein geistliches Amt in einer mit Korporationsrechten bestehenden Religionsgesellschaft bekleiden, zum Dienst mit der Waffe nicht herangezogen. Ungleich wichtiger als diese, gewiß den Ausdruck der Achtung und Rücksichtnahme darstellenden und als solche wertvollen Be­ stimmungen, welche vorwiegend den Charakter der äußeren Ehren­ stellung besitzen, sind die Anerkennung der hierarchischen Gliede­ rung und des kirchlichen Disziplinarrechts sowie die Grundsätze der Parochialzugehörigkeit und des kirchlichen Abgabenrechts, welche sich bereits in dem Allgemeinen Landrecht finden und durch das Berfassungsrecht unberührt geblieben sind. Das Landrecht aner­ kennt das Kirchenregiment der Bischöfe: „Bei den katholischen Glaubensgenossen ist der Bischof der gemeinschaftliche Vorgesetzte aller Kirchengesellschaften des ihm angewiesenen Distrikts." (§ 115.) Der Bischof entscheidet über die Zulassung zum geistlichen Amte, er führt die Aufsicht über die Diözesan­ geistlichkeit, die ihm Ehrfurcht und Gehorsam schuldet. Kirchenzucht und Disziplinargewalt stehen ihm zu (§ 121 ff.). Die Zuständigkeit ausländischer Bischöfe ist von der Einwilligung des Staates ab­ hängig (§ 136). Die Domkapitel stehen dem Bischof in wichtigen Angelegenheiten der Diözesen zur Seite und besitzen KorporationsRevolution und Kirche.

9

130 rechte (§ 1022 ff.). Dem Kapitel steht die Wahl des Bischofs und während der Vakanz die Wahl des Kapitularvikars zu (§ 1041 ff.). Dieser Stellung der Diözesanorganisation nach dem Landrecht ent­ sprach es, wenn zur Wiederherstellung geordneter kirchlicher Ver­ hältnisse nach der napoleonischen Kriegszeit die Neueinteilung der Diözesen und die Ernennung der Mitglieder der Domkapitel zum Gegenstand einer Vereinbarung zwischen Staat und Kirche gemacht wurde, deren Ergebnis in der landesherrlich sanktio­ nierten und als bindendes Statut der katholischen Kirche in Preußen in der Gesetzsammlung verkündeten Bulla De salute anitnarum vom 16. Juli 1821 niedergelegt ist. Ein vom gleichen Tage >vie die Bulla De salute datiertes päpstliches Breve Quod de fidelium

regelt die Bischofswahl dahin, daß die Kapitel sich vor der Wahl dahin versichern sollten, daß die Kandidaten dem Könige „nicht minder genehm" sind. Das kirchliche Disziplinarrecht ist vom Landrecht in­ sofern anerkannt, als § 126 bestimmt, daß katholische Geistliche!, die sich in ihrer Amtsführung grober Vergehungen schuldig ge­ macht haben, nach dem Erkenntnis des geistlichen Gerichts zu be­ strafen sind. Für Amtsvergehen von Pfarrern ist auf das geistliche Gericht verwiesen (§ 535). Auch die neuere Gesetzgebung enthält eine Anerkennung der Entscheidungen kirchlicher Disziplinargerichte, indem § 9 des Gesetzes vom 12. Mai 1873 über die kirchliche Disziplinargewalt die Vollstreckung der Entscheidung solcher Ge­ richte int Wege der Staatsverwaltung vorsieht; sie wird allerdings davon abhängig gemacht, daß die Entscheidung vom Oberpräsi­ denten nach erfolgter Prüfung für vollstreckbar erklärt worden ist. Der Mittelpunkt der landrechtlichen Kirchenauffassung ist die Kirchengemeinde. Es ist dies auf die evangelische Auffassung des Kirchenwescns zurückzuführen, welche die Redaktoren des Land­ rechts leitete. Für die unmittelbaren kirchlichen Bedürfnisse der Bevölkerung ist aber auch gerade das Leben in der Kirchengemeinde mit der wichtigste Teil der kirchlichen Verfassung. An der Spitze der Bestimmungen über die Parochie steht der Grundsatz, daß der Distrikt, in welchem die Mitglieder einer Landeskirche zu einer gemeinschaftlichen Kirche angewiesen sind, eine Parochie genannt wird (§ 237). Die zu einer Kirche Eingepfarrten bilden in ihrer

131

Gesamtheit eine juristische Person (Erkenntnis des Obertribunals Band 13, Seite 525). Errichtung und Änderungen von Parochien sind dem Staate unter Mitwirkung der geistlichen Oberen Vor­ behalten (§ 238). Wer innerhalb eines Kirchspieles seinen ordent­ lichen Wohnsitz ausgeschlagen hat, ist zur Parochialkirche eingepfarrt (§ 260). Der hieraus folgende Begriff der gesetzlichen Zu­ gehörigkeit des kirchenrechtlich einer Landeskirche angehörenden Bürgers zur Parochie ist eine der Säulen, auf welchen die äußere Existenz der Kirche heute beruht. Die Kirche braucht nicht werbend

tätig zu sein, um ihren Mitgliederstand zu sichern, dte Gläubigen brauchen sich nicht um eine äußere Form der Zugehörigkeit der Kirche zu bemühen, der Kreis der Kirchenglieder steht für den Staat so fest, wie er sich nach kirchlichen Grundsätzen bestimmt, und er wird äußerlich festgestellt für den Staat wie für die Kirche durch die seitens des Staates vorgenommenen Feststellungen über die Personalverhältnisse der Einwohner. Da nach kirchlichem Recht das Kind katholischer Eltern zur Kirche gehört, so ist der Mit­ gliederkreis der Kirche kraft Staatsgesetzes den kirchlichen Bedürf­

nissen entsprechend weit gezogen. Der Grundsatz der Parochialzugehörigkeit gewinnt besondere Bedeutung bei der Aufbringung der P a r o ch i a l l a st e n. Das Landrecht weist den Kirchengemeinden die Pflicht zu, für den Unterhalt der Geistlichen und niederen Kirchendiener zu sorgen (§ 164). Das Besoldungswesen der katholischen Pfarrer hat später­ hin den Gegenstand besonderer Gesetze gebildet (Gesetze vom 2. Juli 1898 und 26. Mai 1909). Die Kirchengemeinden haben ferner die Kirchengebäude und -geräte zu unterhalten (§ 699). Für beit Bau von Kirchen sind hinsichtlich der Entscheidung über die Notwendig­ keit und die Kostenaufbringung eingehende Bestimmungen getroffen (§ 707 ff). Für Streitigkeiten ist die Entscheidung der weltlichen Obrigkeit vorgesehen. Im Falle der Unzulänglichkeit des Kirchen­ vermögens zur Bestreitung der Baukosten müssen der Patron und die Eingepfarrten gemeinschaftlich den Ausfall tragen. „Kein Eingepsarrter kann sich dieser Verbindlichkeit entziehen" (§ 721), wie denn überhaupt „die weltlichen Mitglieder einer Kirchengesell­ schaft, solange sie Mitglieder der Gesellschaft bleiben, zur Unter­ haltung der Kirchenanstalten nach den Verfassungen der Gesell9*

132

schäft beitragen müssen" (§ 110). Für die kirchlichen Abgaben, welche die Angehörigen einer der Landeskirchen schulden, hat aber der Staat auch die Zulässigkeit des Berwaltungszwangs verliehen. Nach der Kabinettsordre vom 19. Juli 1836 unterliegen die kirch­ lichen Abgaben, ebenso wie die Schulalbgaben, der exekutivischen Beitreibung durch die Verwaltungsbehörde. Das kirchliche Abgaben­ wesen hat aber noch weiterhin in materieller Beziehung in der Gesetzgebung eingehende Regelung gefunden. Das Gesetz betr. d i e Erhebung von Kirchensteuern in katholischen Kirchen­ gemeinden und Gesamtverbänden vom 14. Juli 1905 gibt den Kirchengemeinden das Recht, zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse von den dunch ihren Wohnsitz den Kirchengemeinden angehörenden Personen Steuern zu erheben nach Grundsätzen, welche denen der staatlichen Veranlagung analog sind. Das Gesetz sichert den Kirchen­ gemeinden die Möglichkeit, die Unterlagen der Staatssteuerveranlagnng der Verteilung ihrer Abgaben zu Grunde zu legen, es sichert die Angehörigen der Kirchengemeinden gegen überbürdung durch das Erfordernis der staatlichen Genehmigung des Umlagesatzes sowie durch Normen über dse Verteilung des Umlagebetrages aus die einzelnen Steuerarten; es regelt schließlich das Rechtsmittel­ verfahren in einem staatlichen Jnstanzenzug. Das staatliche System der kirchlichen Steuererhebung ist durch die Gesetze über die Diözesanbesteuerung abgeschlossen: Durch das Gesetz vom 21. März 1906 über die Erhebung von Ab­ gaben für die kirchlichen Bedürfnisse der Diözesen wurde den bischöflichen Behörden die Möglichkeit geboten, zur Bestreitung kirchlicher Diözesanbedürfnisse eine Umlage nach dem Maßstab der von den katholischen Gemeindegliedern zu zahlenden Ein­ kommensteuer zu erheben, welche durch eine Matrikel auf die Kirchen­ gemeinden der Diözese verteilt wird. Zur Erhebung der Umlage bedarf es der Genehmigung des Staatsministeriums, sofern sie 1% der Einkommensteuer überschreitet. In gleicher Weise wie für die Diözesanbedürfnisse kann auch eine Umlage erhoben werden zur Beschaffung von Mitteln zu Beihilfen an neu zu errichtende, leistungsunfähige katholische Pfarrgemeinden, welche zur Auf­ bringung des Psarrgehaltes Umlagen ausschreiben müssen, sowie zu Beihilfen für kirchliche Bauten (Gesetz betr. Bildung kirchlicher

133 Hilfsfonds für neu zu errichtende katholische Pfarrgemeinden vom 29. Mai 1903).

Dem Gedanken eines Ausgleichs der Belastung

unter den einzelnen Kirchengemeinden dient schließlich das Gesetz

betr. die Bildung von Gesamtverbänden der katholischen Kirche vom 29. Mai 1909. Durch die Vereinigung von mehreren Kirchen­

gemeinden zu einem Gesamtverbande, dem insbesondere auch die

Aufbringung des Umlagebedarfes obliegt, soll die Ungleichheit der kirchlichen Lasten innerhalb der nämlichen politischen Gemeinden oder benachbarter Gemeinden beseitigt und die Erfüllung von Auf­

gaben,

für welche

die

Kräfte einzelner Kirchengemeinden nicht

ausreichen, zu einer gemeinsamen Angelegenheit des ganzen Ver­

bandes gemacht werden. Die selbstverständliche Grundlage für die Durchführung des Grundsatzes der Parochialzugehörigkeit sowie des kirchlichen Umlage­

rechtes bildet die staatliche Feststellung, welcher Religionsgemcitt-

schaft der einzelne Bürger angehört.

Auf der Grundlage der bei

behördlichen Anmeldungen usw. getroffenen Feststellungen entstehen

die Verzeichnisse der Religionsgenossen bei den bürgerlichen Be­

hörden, auf welchen wiederum die kirchlichen Listen beruhen. Unter diesem Gesichtspunkt gewinnen die Bestrebungen besonderes Inter­

esse, welche darauf abzielen, die Religionszugehörigkeit bei behörd­

lichen Feststellungen in Wegfall zu bringen.

Diese Forderung

bildete bereits einen Programmpunkt der viel besprochenen Denk­ schrift von A. Dieterich?) Der erste zur Veröffentlichung gelangte

Entwurf einer neuen Reichsverfassung bestimmte im § 19 eben­

falls, daß niemand verpflichtet ist, über seine Religionszugehörig­ keit zu einer Religionsgemeinschaft Auskunft zu erteilen, und daß

keine Behörde befugt ist, eine Feststellung hierüber zu treffen. In diesem Grundsatz ist eine Konsequenz des radikalen Trennungs­

prinzips gezogen: Wenn der Staat keine Kirchen mehr kennt, so

ist das religiöse Bekenntnis des Staatsbürgers für ihn bedeutungs­ los.

Es bedarf dann auch keines Kirchenaustrittsgesetzes mehr.

Bei Annahme eines solchen Grundsatzes würde mit einem Schlage

die wesentliche Grundlage der heutigen materiellen Existenz der Kirche beseitigt.

Was vor allem die Aufbringung der Mittel für

den kirchlichen Bedarf angeht, so ist die Beschaffung eines Ver*) Bergt. Deutsche Tageszeitung Nr. 649, („Vngewaltlgung de» Christentums.")

134 zeichnisses der Mitglieder der Kirchengemeinden und demnächst die Kenntnis ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit, wie sie sich am vollkommensten aus den Ergebnissen der staatlichen Steuerveran­ lagung ergibt, für die Kirche ebenso wichtig wie die Befugnis zur Beitreibung im Verwaltungszwangsversahren. An sich würde die Möglichkeit, die kirchlich veranlagten Steuerbeträge bei den Zivil­ gerichten einklagen zu können, wie sie das holländische Recht gibt *), dem Bedürfnis in gewissem Umfang, wenn auch höchst unvoll­ kommen, entsprechen. Die Beschaffung jener Unterlagen ist aber für eine Religionsgemeinschaft mit Millionen von Mit­ gliedern geradezu unentbehrlich. Sie ist ein Akt wohlwollender Unterstützung, den auch ein konfessionell völlig neutraler Staat zur Erleichterung des Wirkens einer kulturell hochbedeutsamen Einrichtung, wie sie die Kirche nun einmal auf jeden Fall darstellt, prästieren kann und muß, so lange er vom Geiste der Neutralität geleitet ist. Mit Genehmigung der staat­ lichen Aufsichtsbehörden und im Vertrauen auf die kirchlichen Steuereinnahmen als eines Hauptfaktors des kirchlichen Finanz­ wesens haben die kirchlichen Vermögensträger bedeutende Anleihen für Bauzwecke u. bergt ausgenommen, deren Sicherheit von der Forterhebung der Kirchensteuer abhängt. Die kirchlichen Anleihen bilden wie die Kommunalanleihen einen Teil des öffentlichen Kreditwesens. Eine Beseitigung des Umlagerechtes müßte daher mit der Gefährdung der kirchlichen Anleihen auch eine Er­ schütterung des allgemeinen Vertrauens in die Sicherheit des An­ leihewesens nach sich ziehen. Die Unterstützung, welche der Staat der Kirche in steuerlicher Beziehung leiht, ist aber schließlich auch eiu eminent sozialer Akt. Er ermöglicht, daß die Kirche die kirch­ lichen Lasten auf ihre Glieder gleichmäßig, d. h. so verteilt, daß die stärksten Schultern auch am stärksten belastet werden. Eine Änderung des Systems würde unfehlbar zur Folge haben, daß die Belastung sich zuungunsten der mittleren Bevölkerungsschichten verschiebt, da die religiöse Gesinnung und Opferwilligkeit bei den am meisten begüterten Kreisen mitunter zu wünschen übrig läßt. — Dies die Grundzüge der landrechtlichen Rechtsstellung der katholischen Kirche in ihrer Fortentwicklung bis zur Gegenwart. *) Rothenbücher u. a. O. S. 428.

135

Die kirchlichen Institutionen sind gewissermaßen mit einem Mantel staatlicher Gesetzgebung umkleidet, freilich mit einem solchen, welcher sich der kirchenrechtlichen Struktur nicht voll anpaßt, viel­ mehr in manchem — vor allem hinsichtlich des korporativen Ge­ dankens — eigenen Schnitt aufweist, der aber so weit ist, daß er das kirchliche Leben nicht hemmt, dieses vielmehr schützt und fördert. Die kirchlichen Einrichtungen in ihrer Ausgestaltung im bürgerlichen und staatlichen Gefüge sind Gegenstand der ordnenden Gesetz­ gebungsgewalt und damit Teile des öffentlichen Rechts geworden. Wer innerhalb dieser kirchlichen Organisationsbezirke wohnt, gilt gesetzlich auch als Mitglied der kirchlichen Organisation und als verpflichtet, zu deren Lasten beizutragen. Diesen staatlichen An­

forderungen kann sich der Einzelne freilich jederzeit dadurch ent­ ziehen, daß er aus der Kirche ausscheidet. Es wird also kein staatlicher Zwang zugunsten der Zugehörigkeit der Staatsbürger zur Kirche wirksam. Die staatliche Ordnung wirkt nur in deni Sinne der zweifelsfreien Feststellung der Zugehörigkeit zu einem Bekenntnis und der sich hieraus ergebenden bürgerlichen Ver­ pflichtungen. Die spätere Gesetzgebung hat sogar zur Erzielung der Rechtseinheit das Verfahren wegen des Austritts aus der Kirche mit bürgerlicher Wirkung geregelt. Solange die Mitgliedschaft aber besteht, bestehen auch die Gemeindeangehörigkeit und die Abgaben­ pflicht zufolge staatlichen Rechts. Zur Verwaltung der rein kirch­ lichen Angelegenheiten ist der Klerus berufen. Die Anerkennung der Zuständigkeit der Hierarchie und die Grundsätze der gesetzlichen

Pfarrangehörigkeit und der Kirchensteuerpslicht sind die drei Säulen der Rechtsstellung der katholischen Kirche in Preußen. Für die Beurteilung der hierin liegenden Bevorzugung ist es nicht ohne Wert darauf hinzuweisen, daß nach dem Gesetz über die Rechts­ verhältnisse der Juden vom 23. Juli 1847 ähnliche Grundsätze wie für die Kirchengemeinden auch auf die äußeren Rechtsverhält­ nisse der Synagogengemeinden Anwendung finden?) ') Hiernach sollen die Juden nach Maßgabe der Orts- und BevölkerungSver» hilltnisse dergestalt in Cynagogrngemelnden zusommcngefaßt werden, daß alle inner­

halb eine- § y nagogenbeztrkes wähl enden Juden einer solchen Gemeinde angehöre« (§ 68).

Die Synagogengemeiuden sind rechlSsöhig.

glieder umgrlegt.

Ihr Bedarf wird auf die Mit­

Die Umlage kaun im Brwaltungswege eiogezogen werden.

136 Faßt man nun die innere Begründung für die den Kirchen im Staate eingeräumte Rechtsstellung ins Auge, so ist diese in der Würdigung der Wirksamkeit der Kirche zu erblicken, wie sie

aus § 131111 A.L.R. entgegentritt: „Jede Kirchengesellschaft ist

verpflichtet, ihren Mitgliedern Ehrfurcht gegen die Gottheit, Ge-

horsam gegen die Gesetze, Treue gegen den Staat und sittlich gute Gesinnungen gegen ihre Mitbürger einzuflößen. Andere Religions­ grundsätze sollen im Staate nicht ausgebreitet werden."

Grundanschauung,

Auf der

daß die beiden Religionsgesellschaften diesem

Ideal in unvergleichlicher Weise entsprechen, erwuchs das jus advocatiae des alten Preußens der Kirche gegenüber. Die Siche­ rung ihres äußeren Bestandes ward so zu einem Teile der öffent­

lichen Ordnung.

Dieses Fundament der landrechtlichen Rechts­

stellung der Kirche, die Wertschätzung der Kirche als Kulturfaktor ersten Ranges, ist demnächst auch zum Leitmotiv der einschlägigen

Artikel der Verfassung und der auf ihrer Grundlage ergangenen Gesetzgebung geworden. Diese Grundanschauung ist aber nicht durch

die Eigenart des Staates oder der Staatsverfassung bedingt, sie behält vielmehr Wert und Bedeutung in gleicher Weise bei allem

Wechsel der politischen Verhältnisse. Ewige Wahrheit liegt in dem

Goetheschen Worte, daß in den Evangelien der Abglanz einer Hoheit von so göttlicher Art wirksam ist, wie nur je auf Erden das Göttliche erschienen ist.')

Die christliche Religion bleibt die

Grundlage unserer Kultur und damit jeder Ordnung des Staats­ und Gesellschaftslebens.

Der Glaube an eine höhere Bestimmung

des menschlichen Daseins und an eine überweltliche Sanktion des

Sittengesetzes, mit einem Wort der Glaube an einen persönlichen Gott ist aber auch die unentbehrliche Stütze der staatlichen Autori­ tät.

Zu wünschen wäre es, wenn es Deutschland erspart bliebe,

für diesen alten Erfahrungssatz neues Erfahrungsmaterial zu er­

bringen.

Nicht ohne Wert erscheint es heute, die Ansicht eines so

nüchternen Realpolitikers wie Bonaparte anzuführen, der sich ani

5. Juni 1800 über die Bedeutung der Religion für den Staat folgendermaßen äußerte: „Keine Gesellschaft kann bestehen ohne

Moral; es gibt aber auch keine gute Moral ohne Religion. Folg­ 's Gespräche mit Goethe von I. P. Eckermann, herausgegeben von Houbeu, Leipzig 1910 S. 613.

137 lich gibt die Religion dem Staate eine feste und dauerhafte Stütze. Eine Gesellschaft ohne Religion gleicht einem Schiffe ohne Kompaß. Ein solches Schiff kann weder seinen Lauf sicherstellen, noch hoffen, in den Hafen einzulaufen. So wird auch eine Gesellschaft ohne Reli­ gion vom Wirbelwind der rasendsten Leidenschaften bewegt und herumgetrieben, erfährt in sich alle Schrecken eines inneren Krieges, der sie früh oder spät notwendigerweise in den Abgrund hinein­ zieht.') Eine derartige Auffassung findet ja in denjenigen Kreisen der heutigen Gesellschaft keine Zustimmung, welchen das Verständnis für das Wesen der Kirche, des christlichen Glaubens und der Reli­ gion überhaupt abhanden gekommen ist. Trotz ihres grundsätzlich verschiedenen Standpunktes aber müßten sich diese zur Anerken­ nung eines relativen Wertes jener Güter verstehen, welche von dem anderen Teil des Volkes als Lebensnotwendigkeiten betrachtet werden. Eine wahrhaft freiheitliche Auffassung wird nie dazu führen können, Organisationsformen zu zerschlagen, auf die ein großer, wenn nicht der größte Teil der Bürger entscheidenden Wert legt. Sie wird höchstens dazu führen können, Sonderrechte zu verallgemeinern, damit auch solche Gemeinschaften, welche sich etwa durch bestehende Bevorzugungen benachteiligt fühlen, ähnliche Vorteile zu erlangen vermögen. Man kann dabei im einzelnen au Regelungen denken, wie sie in Italien und Holland bestehen?) Die Voraussetzung eines Vorgehens im angedeuteten Sinne bleibt indessen, daß der Staat Stellung nimmt zu den einzelnen Religionsgesellschaften, daß er also ihre Organisation und Bedeutung wertet und danach den Umfang ihrer Rechte bestimmt. Verzichtet er darauf, so kann naturgemäß das Maß von Berechtigungen, welches den einzelnen Gemeinschaften zusteht, nur noch so gering sein, daß von einem materiell erheblichen Rechtsinhalte nicht mehr

die Rede sein kann. Ein Verfassungsgrundsatz, wonach keine Reli­ gionsgesellschaft Vorrechte vor anderen genießen darf, würde daher tatsächlich nichts anderes bedeuten, als daß die Religionsgeselll) Correspondenoe de Napoleon I. Pari- 1857 Bd. 6 S. 226. e) In Italien sind

Recht-.

auch die nur geduldeten Sekten Verbände de- ösfentlichen

Jedermann gilt al- Mitglied der Religion-gesellschaft, in die er nach kirchlichem

Recht ausgenommen ist.

In Holland haben alle Religion-gesellschaften Anspruch oul

Besoldung ihrer Geistlichen durch den Staat.

(Roihenbücher S. 418, 427).

138 schäften, welchen das geltende Staatskirchenrecht Befugnisse einge­ räumt hatte, also die Landeskirchen wie alle anderen mit Korpo­ rationsrechten ausgestatteten Gemeinschaften ihre Rechte verlieren. Bei den Bestrebungen, das ganze Kirchenwesen nach fran­ zösischem Muster aus der staatlichen Rechtssphäre zu entfernen, und der Kirche zu überlassen, unter Benutzung privatrcchtlicher Formen ihre materielle Existenz fortzusetzen, ist indessen nicht so sehr die Rücksicht auf die kleineren Religionsgemeinschaften, als vielmehr die Vorstellung leitend, daß die heutige Macht der Kirche wesentlich auf der Anerkennung und Unterstützung durch den Staat beruht. Diese Annahme ist freilich, wie die Macht des katholischen Kirchentums in den Vereinigten Staaten beweist, grundfalsch. Die katholische Kirche ist dort die größte religiöse Gemeinschaft iin Staate geworden und eine Lebensmacht, mit welcher jeder Staats­ mann rechnen muß. Die Absicht, welche jenem Vorhaben zu Grunde liegt, würde sich somit als eitel erweisen. Falsch ist aber ferner auch die Vorstellung, als ob sich das Ignorieren der Kirche praktisch durchführen ließe. Der geistige Machtsaktor Kirche kommt überall wieder zur Geltung. Auf dem Boden der amerikanischen Aus­ fassung des Verhältnisses von Staat und Kirche haben sich Rechts­ sätze gebildet, die den Bedürfnissen der katholischen Kirche ent­ sprechen und es ermöglicht haben, bei genossenschaftlichen Rechts­ formen den anstaltsmäßigen Charakter ihrer Verfassung zu er­ halten.') Der Bischof steht dort mit Bezug auf die Verwaltung des Kirchengutcs und in der Leitung der Diözese unabhängiger und mächtiger da als in Europa. Das Stiftungsvermögen der kirch­ lichen Gemeinden ist dort gesicherter als in Ländern, wo politische Leidenschaften, Neid und Habgier es bedrohen können?) Beiläufig bemerkt, hat auch das französische Trennungsgcsetz eine besondere Rechtsform für das kirchliche Vermögen geschaffen, ist dabei freilich einen Weg gegangen, welcher von den Beteiligten abgelehnt wurde und unbenutzt blieb. Die Ausführung des Gesetzes selbst hat dazu ge­ führt, die kirchliche Bezirkseintcilung anzuerkennen. Das Beispiel der amerikanischen Verhältnisse kann aber doch andererseits den kirchlich gesinnten Kreisen keinen Anlaß dazu geben, den Wünschen nach

l) Nothenbücher a. a O. Seite 164 *) Rothenbücher a. a. O. Seite 194 ff.

139 Versetzung der Kirche in das privatrechtliche Gebiet entgegenzu­ kommen. Abgesehen davon, daß diese Forderung nicht von einer sachlichen Begründung gestützt wird, bedeutet eine solche Umstellung eine Unsumme von Schwierigkeiten und Opfern, wie auch die Ge­ fahr zeitweiliger Verluste. Es darf nicht verkannt werden, baß ein solcher aus politischen Gründen erzwungener Systemwechsel in einem Lande mit staatskirchenrechtlicher Vergangenheit etwas ganz anderes bedeutet wie der Fortbestand eines im Kolonialland mit reicher Sektenbildung historisch begründeten Systems. Bei den erhöhten finanziellen Ansprüchen der Kirche und der unvermeid­ lichen Schwächung, welche die äußere Stellung zunächst erfahren lvürde, ist mit Verlusten zu rechnen, die nicht leicht zu nehmen sind. Die katholische Kirche wird daher den größten Wert darauf legen müssen, daß das, was als Fundament ihrer bisherigen Rechtsstellung dargelegt wurde, ihr auch im neuen Preußen erhalten bleibt.

2. Abschnitt. Staatlicher Einfluß aut kirchlichem Gebiet

Hat der preußische Staat in der landrechtlichen Gesetzgebung und in ihrer dargelegten Fortentwicklung sich von dem Schutz­ gedanken gegenüber der Kirche leiten lassen, so hat er anderer­ seits auch der Kirche gegenüber bedeutsame Rechte als Ausfluß staatlicher Kirchenhoheit in Anspruch genommen. Das im ersten Abschnitt geschilderte Kirchentum im Staatswesen besitzt so in dem staatlichen Einfluß auf die kirchlichen Einrichtungen sein Gegen­

stück. Ähnlich wie die Verfassung in lapidaren Sätzen die Grenzen der staatlichen Befugnisse gegenüber der individuellen Rechtssphäre zieht, stellt sie im ersten Satz des Art. 15 den Grundsatz der Nichtintervention mit Bezug auf das innerkirchliche Gebiet auf.

Indem Artikel 15 die Selbständigkeit der Kirche in der Ordnung und Verwaltung ihrer Angelegenheiten aussyricht, stellt er nach den ministeriellen Erläuterungen damit fest, daß „künftig eine posi­ tive Teilnahme von feiten der Staatsgetvalt nicht stattfinden werde". In Verbindung mit Artikel 16 und 18, deren Inhalt sich nach der gleichen Richtung bewegt, beseitigt er eine Anzahl von

140 staatlichen Befugnissen aus kirchlichem Gebiet. Nach dein Ministerialerlaß vom 6. Januar 1849 (M. Bi. d. i. V. Seite 265) waren so fortgefallen: a) die Aufsichtsrechte des Staates mit Bezug auf die kirchliche Vermögensverwaltung, b) die Beschränkung des Verkehrs mit kirchlichen Oberen und der Mitglieder der Kirche mit auswärtige Vorgesetzten sowie das Plazet für kirchliche Ver­ fügungen, c) die landesherrliche Bestätigung für die von den Bischöfen angestellten Pfarrer und Benefiziaten, die Bestätigung

der kraft Privatpatronats erfolgten bischöflichen Stellenbesetzung und der Anstellung von Erzpriestern, Dechanten und bischöflichen Beamten. Bei den anschließenden Verhandlungen bestand ferner Übereinstimmung darüber, daß die Selbständigkeit sich ferner be­ ziehe aus die kirchlichen Anordnungen über den Gottesdienst, die Anordnung von Festtagen, die Errichtung von religiösen Vereinen, die Einführung von kirchlichen Orden und die Errichtung von Klöstern. Hinsichtlich des Gottesdienstes außerhalb der Kirchen,

der kirchlichen Vereine und Orden galten fortan die allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen über die Aufrechterhaltung der öffent­ lichen Ordnung und Sicherheit, sofern erstere ausschließlich kirchliche und religiöse Zwecke verfolgten. Nach der Aufhebung des Artikels 15

durch das Gesetz vom 16. Juni 1875 wurde eine Anzahl von neuen staatsgesetzlichen Beschränkungen wieder cingeführt, welche

indessen beim späteren Abbau der Kulturkainpfgesetzgebung zum Teil wieder beseitigt wurden. Für die Zwecke dieser Arbeit genügt

es, den zurzeit bestehenden Rechtszustand darzustellen. Vorweg ist zu betonen, daß die neueren Regelungen sich von denen der siebziger

Jahre wesentlich dadurch unterscheiden, daß sie nicht ohne weiteres staatsgesctzlich oktroyiert ivurden, sondern nach vorgängigen Ver­

handlungen mit den kirchlichen Behörden getroffen worden sind, so daß der Grundsatz der Selbständigkeit der kirchlichen Verwaltung und der Nichteinmischung der Staatsgewalt in innerkirchliches

Gebiet gewahrt geblieben ist. Seitens der Vertreter der kirchlichen Interessen ist indessen wiederholt darauf hingewiesen worden, daß ein Teil der aus der Kampfzeit zurückgebliebenen Beschränkungen änderungsbedürftig sei, und daß es dem zwischen der staatlichen und kirchtlchen Gewalt bestehenden Friedenszustand entspräche, wenn

141

er verschwände.') Diese Erwägung beansprucht besondere Auf­ merksamkeit dann, wenn eine veränderte Zusammensetzung der staatlichen Gewalt die Gewähr für die weitere Geltung eines Geistes des Wohlwollens und Verständnisses für das Kirchentum be­ seitigt oder mindert. Gelangt der Gedanke der Entfernung der Kirche aus dem öffentlichen Rechtsgebiet zur Durchführung, so muß die Entkirchlichung des Staates auch die Entstaatlichung der Kirche nach sich ziehen. Eine staatliche Einflußnahme auf die inneren Angelegenheiten der Kirche kann dann nicht mehr in An­ spruch genommen werden, wenn der Staat diese im übrigen igno­ riert. Wollte man dennoch besondere Aufsichtsrechte für den Staat beanspruchen (Kultuspolizei), so würde ein-solches Eindringen iit die Privatrechtssphäre den Charakter einer Ausnahmegesetzgebung besitzen. Gegenstand der Staatsaufsicht bildet zunächst die kirchliche Vermögensverwaltung. Ihr Schwerpunkt liegt in der Verwal­ tung des Vermögens der Kirchengemeinden, welche durch das Gesetz vom 20. Juni 1875 geregelt ist. Dieses beruht nach seiner Begründung auf dem Gedanken, daß Vermögensfähigkeil und Vermögensrecht der Kirche sich aus dem bürgerlichen Recht er­ geben, und daß der Staat daher auch in der Lage ist, die Gewährung der Rechtsfähigkeit an Bedingungen zu knüpfen. Der Ausgangs­ punkt der Regelung ist somit privatrechtlicher Natur. Durch die weitgehende Mitwirkung der Staatsbehörde bei der Verwaltung »vird sic in die Sphäre des öffentlichen Rechts gerückt. Der ausge­ sprochene Zweck dieses Gesetzes war, aus Erwägungen, welche sich aus der Gesamtrichtung der damaligen Politik ergaben, eine starke Beteiligung des Laienelementes an der Besorgung der Vermögens­ verwaltung zu sichern. Der Episkopat hat gegen die einseitige, in das kirchliche Recht eingreifende Regelung Verwahrung eingelegt; die Mitwirkung der Bischöfe und Pfarrer bei der Ausführung des Gesetzes ist aber nicht versagt worden. Hierfür darf der Umstand als bestimmend angesehen werden, daß das Gesetz — im Gegensatz zu dem französischen Trennungsgesetz — die Stellung der Hierarchie ’) Die einschlägigen Wünsche sind zusammeugefoßt in de" Schrift „Die staatstirchenrechtliche Lage der Katholiken in Preußen, von einem rheinische» Theologen,"

beran-gegeben von Dr. Hoeber, Cöln 1918.

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ausdrücklich anerkannt und gewahrt und sie nur in Fragen der

In maßvoller sachlicher

Vermögensverwaltung beschränkt hat?)

Ausführung hat das Gesetz sich bewährt und auch in der von Hoeber

herausgegebenen Schrift wird anerkannt, daß es sich so eingelebt hat, daß es nicht mehr beseitigt werden könne. Die Beaufsichtigung der kirchlichen Vermögensverwaltung erfolgt nach diesem Gesetze

durch die staatliche und die kirchliche Behörde. Die den vorgesetzten

Kirchenbehörden gesetzlich zustehenden Rechte der Aufsicht und der Eintvilligung sind unberührt gelassen (§ 47).

Nach der Erklärung

der Negierung (Drucksachen des Abgeordnetenhauses Nr. 250, S. 39)

sind hierdurch die internen Beziehungen zwischen dein Bischof und der Genreinde reserviert, sei es, daß sie auf Gesetz, sei es, daß sie

auf Herkommen beruhen.

tung

der

Inhalt

des

Insbesondere kommt nach dieser Rich­

Landrechts

in

Betracht,

das

in § 167

bestimmt, daß das Kirchenvermögen unter der Aufsicht der geistlichen Oberen steht, und das in einer Fülle von Einzelbestimmungen das

bischöfliche Aufsichtsrecht erwähnt.

Das

staatliche Aufsichtsrecht

ist ein scharf umschriebenes und deckt sich mit dem, welches gegen­

über den evangelischen Kirchengemeinden nach dem Kirchenver­ Nach der Vorlage be­

fassungsgesetz vom 3. Juni 1876 besteht.

ansprucht der Staat nur eine begrenzte Aufsicht, keine Obervor-

mundschaft int Sinne des Landrechts.

Eine Spezialisierung der

Aussichtsbefugnisse sollte einem Spezialgesetz für das gesamte kirch­

liche Vermögen vorbehalten bleiben.

Durch die Kommission des

Abgeordttetenhauses wurde aber der Grundsatz der Spezialisierung der Aussicht, wie er nach § 50 des Gesetzes Geltung besitzt, in die

Vorlage ausgenommen.

Es bedürfen hiernach zu ihrer Gültigkeit

der staatlichen Genehmigung insbesondere die Beschlüsse der kirch­

lichen Körperschaften, welche betreffen Erwerb, Veräußerung oder Belastung von Grundeigentum, Aufnahme von Anleihen, Bau von

Gebäuden für Gottesdienst oder Geistliche, Gebührentaxen, Aus­

schreibung

von Sammlungen,

Verwendung

von

Vermögen

für

Zwecke außerhalb der Gemeinde sowie die Erhebung von Umlagen.

Andere Beschlüsse

als

solche, welche der Aufsichtsbehörde

aus­

drücklich zugewiesen sind, stehen der Aufsichtsbehörde nach diesem Bergt. Neundörfer, F-anzös. Kultu-veretne u. Prcuß. Kirchengemeinden. Archiv für kathot. Ktrchenrecht Bd. 97 S 409.

143

System der Spezialisierung nicht zu. Die den Gesetzgeber leiten­ den Gesichtspunkte sind in der Begründung zum evangelischen Kirchenverfassungs-Gesetz, welches in dieser Hinsicht sich der Rege­ lung des Gesetzes vom 20. Juni 1875 angeschlossen hat, folgender­ matzen zusammengefaßt: „Die Staatsaufsicht über die Vermögens­ verwaltung einer Korporation, 'als welche sich die Kirchengesell­ schaften in der öffentlichen Rechtsordnung darstellen, hat den Zweck, zu verhüten, daß Gesetzwidriges oder dem allgemeinen Wohl Schädliches begangen wird und dafür zu sorgen, daß das Vermögen, welches der dauernden Korporation gehört, nicht aber den zu einer Zeit vorhandenen Mitgliedern derselben zu freier Verfügung steht, von Generation zu Generation erhalten bleibe. Die Grenze der Staatsaufsicht ist damit gegeben. Wo nichts Gesetzwidriges oder dem allgemeinen Wohl Schädliches erscheint, wo eine die Zukunft der Korporation nicht gefährdende Vermögensverwaltung geführt wird, hat der Staat sich nicht einzumischen, nicht vom Standpunkt einer sogenannten Zweckmäßigkeit in die Verwaltung einzugreifen, zu gebieten oder zu verbieten. Hier muß den geordneten Organen Freiheit und Selbständigkeit der Bewegung bei der Vermögens­ verwaltung bleiben. Aus diesem Grunde ist in dem Gesetz vom 20. Juni 1875 das System der allgemeinen, alles ergreifenden Staatsaufsicht verlassen und das System der speziellen Angabe derjenigen Verwaltungsakte, die der Beaufsichtigung, der Genehmi­ gung der Staatsbehörde bedürfen, angenommen, so daß außerhalb dieser speziellen Fälle die Vermögensverwaltung frei und selb­ ständig von den kirchlichen Organen unter Aufsicht der kirchlichen Behörden geführt werden kann." Erwägt man, ob eine Trennung von Staat und Kirche in dem oben dargelegten radikalen Sinne der Bezeichnung auch Konse­ quenzen auf dem Gebiete der Gemeindevermögensverwaltung haben müßte, so ist dies jedenfalls hinsichtlich der organisatorischen Grund­ züge (Wahl und Aufgaben der Vertretungsorgane) zu verneinen. Sind diese doch lediglich notwendige Folgerungen aus der Ver­ leihung der Rechtsfähigkeit, welche einer Kirchengemeinde selbst nach dem radikalsten Trennungsrecht nicht würde versagt werden können. Die Trennung könnte sachlich die heutige Regelung des Gegenstandes nur durch den Fortfall der staatlichen Mitwirkungs-

144

rechte in Mitleidenschaft ziehen. Mit den Genehmigungsbesugnissen nach § 50 fiele auch das Recht der Etatsbeanstandung und daS der Zwangsetatisierung. Nach einer Milderung der Staatsaufsicht gehen auch die Wünsche der kirchlichen Kreise. Daß diese der tat­ sächlichen Berechtigung nicht entbehren, wird man schon mit Rück­ sicht darauf anerkennen müssen, daß sich infolge der Kräsngung und Bewährung des Selbstverwaltungsgedankens auch eine Ab­ schwächung der Kommunalaussicht des Staates als zeitgemäß erlvicsen hat. Es spricht dafür ferner, daß die kirchliche Vermögensverwaltung schon in der Zeit nach der Verfassung bis 1875 keiner besonderen staatlichen Aufsicht unterstanden hat, und daß in dieser Zeit die ausschließliche Beaufsichtigung durch die bischöfliche Be­ hörde zu Nachteilen nicht geführt hat. Inzwischen haben sich aber die Selbstverwaltungsfähigkeiten der Bevölkerungskreise, aus welchen die kirchlichen Vertretungsorgane sich zusammensetzen, noch wesentlich vermehrt. Im übrigen kann auch die Gewähr­ leistung der Zielpunkte der Aufsicht, wie sie in der oben mitge­ teilten Gesetzesbegründung bezeichnet sind, unbedenklich in weitem Umfange der kirchlichen Aufsichtsbehörde überlassen werden. In Betracht kommt schließlich noch, daß eine Anzahl von den genchmungspslichtigen Vorgängen des § 50 bereits unter allge­ meine gesetzliche Genehmigungsregeln fallen. Dahin gehören der Erwerb von Grundbesitz durch juristische Personen (Art. 7 d. Pr. Ausführungs-Ges. zum B.G.B.), die Hauskollekten und die An­ lage von Bcgräbnisplätzen. Die Genehmigung der Umlagebeschlüsse regelt sich nach dem Kirchenstcuergesetz. Die Genehmigung der Veräußerung von Grundbesitz ist ebenso wie die Vorlage der Jahresrechnung bereits durch das Gesetz betr. die Vereinfachung der Verwaltung vom 13. Mai 1918 (Art. 11) für die Dauer des Kriegszustandes ausgehoben worden und wohl dauernd entbehrlich. Beim Wegfall der staatlichen Mitwirkung käme naturgemäß auch die staatliche Ergänzung der bischöflichen Zustimmung und Ge­ nehmigung in den Fällen der §§ 48, 49 in Fortfall. Das Gleiche gälte von der einseitigen Ernennung der Berwaltungskommissare durch die Staatsbehörde in den Fällen der §§ 45 u. 46. Die Be­ seitigung dieser Bestimmungen würde einem kirchlichen Wunsche entsprechen und übrigens auch ohne Trennung insofern rein fach-

146 lich gerechtfertigt sein, als diese Bestimmungen seinerzeit in der Annahme getroffen worden sind, daß die kirchlichen Stellen ihre Mitwirkung bei der Ausführung des Gesetzes versagen würden. In diesen und manchen anderen Beziehungen (vgl. § 14 ff. Be­ rufung des Kirchenvorstandes durch die Kreisbehörde, § 26 ff. Vor­ aussetzungen für das Wahlrecht, § 56 Stellung der Domgemeinden) könnte die heutige Fassung des Gesetzes verbessert werden. Für sich betrachtet, bedeuten derartige Änderungen keine Entstaatlichung der Kirche, sondern die Befreiung der kirchlichen Selbstverwaltung von entbehrlich gewordenen Kautelen und die Entlastung der staat­ lichen Organe von bürokratischem Ballast. Sie können daher auch auf dem Boden der bestehenden Regelung vertreten werden. Die Beseitigung der öffentlich-rechtlichen Qualität der Diözesanorganisation, wie sie eine Trennung mit sich bringt, würde auch die Beseitigung des Gesetzes über die A u f s ich t s r e ch t e d e s Staates bei der Vermögensverwaltung in den katholischen Diözesen vom 7. Juni 1876 nach sich ziehen. Diese Folge wäre an sich vom kirchlichen Standpunkt aus zu be­ grüßen und würde auch vom staatlichen aus keinen Nachteil dar­ stellen. Die Überzeugung von der staatlichen Zweckmäßigkeit dieses Gesetzes dürfte heute kaum mehr weit verbreitet sein. Die Be­ gründung der Vorlage besagte in; bezeichnender Kürze, das Be­ dürfnis zum Erlab eines solchen Gesetzes könne nicht in Abrede gestellt werden, da der Umfang der Aufsichtsrechte in keiner Weise vollständig klar sei. Nach Emanation der Verfassung wurden Auf­ sichtsrechte gegenüber der Vermögensverwaltung der Diözesen zu­ nächst ebensowenig ausgeübt, wie gegenüber den Kirchengemeinden. Das Gesetz ist hinsichtlich der staatlichen Rechte dem vom 20. Juni 1875 nachgebildet, jedoch habe, so sagen die Motive, in einigen Punkten über das Gesetz vom 20. Juni 1875 hinausgegangen werden müssen, weil es in der Diözesanverwaltung an einem Kontrollorgan fehle wie es bei den Kirchengemeinden in der Gemeindevertretung bestehe. Theoretisch wurde das Aufsichtsrecht begründet mit der Aufgabe des Staates, die stiftungsmäßige und gesetzmäßige Ver­ wendung der rechtsfähigen Anstalten und Fonds zu beaufsichtigen. Indessen dürste gerade bei den Diözesaneinrichtungen der Ver­ fassungsgrundsatz der Selbstverwaltung der kirchlichen AngelegenRevolution und Ktrche.

10

146

Heiken Anspruch auf volle Berücksichtigung verdienen. Das Gesetz war zweifellos nach seiner Entstehung und Bestimmung ein Kamps­ gesetz, hat diesen Charakter aber bald verloren, als sich erwies, daß die Art der Verwaltung zu staatlichen Eingriffen keinen prakti­ schen Anlaß bot. Die unter bischöflicher Leitung oder Aussicht stehenden Verwaltungen sind in der Tat schon deshalb kein ge­ eignetes Objekt für eine großzügige Aussichtstätigkeit, weil sie sich wegen der Beschränktheit der Mittel und der Stetigkeit des Be­ darfes in sich völlig gleichbleibenden Bahnen bewegen. Die vor­ kommenden Genehmigungsakte besitzen eine rein formale Bedeutung, so daß der staatliche Wert der Aufsichtsbefugnisse nach dem Gesetz vom 7. Juni 1876 nicht als erheblich angesehen werden kann. Eine besondere Beaussichtigung des Diözesanvermösgens fehlt auch nach den Staatskirchenrechten Österreichs und Bayerns, welche im übrigeil mit dem Vreußens viel Ähnlichkeit besitzen. Ein weiterer Kreis staatlicher Einflußnahme auf kirchlichem Gebiet ergibt sich aus dem Gesetze über die Vorbildung und Anstellung der Geistlichen vom 11. Mai 1873: „In deni oberhoheitlichen Aufsichtsrechte des Staates ist die Befugnis be­ gründet, die Bedingungen für die Zulassung zum geistlichen Amte zu stellen." Mit dieser Maxime wurde der tiefe Eingriff des ersten der drei Mai-Gesetze in die innerkirchlichen Verhältnisse und die kirchenrechtlichen Verwaltungsbefugnisse begründet, durch welchen der eigentliche kirchenpolitische Konflikt eröffnet wurde. Was nach dem Abschluß des Konflikts an Gesetzesstoff übrig geblieben ist, sind int wesentlichen allgemeine Grundsätze, deren heutige praktische Bedeutung darin liegt, daß sie gewissermaßen eine Verbindung zwischen der bürgerlichen und kirchlicheit Welt, zwischen der staat­ lichen und kirchlichen Lebenssphäre herstellen. Die Trennung von Kirche und Staat würde auch das Verschwinden dieser Grundsätze

zur logischen Folge haben. Nach dem Gesetzesinhalt, wie er sich nach den verschiedenen Novellen darstellt, handelt es sich um fol­ gende Regeln: a) Staatsgesetzliche Voraussetzungen für die Übertragung eines geistlichen Amtes. Es sind dies der Besitz der Reichsange­ hörigkeit, die Ablegung der Entlaisungsprüfung auf einem

deutschen Gymnasium und die Zurücklegung eines dreijährigen

147 theologischen Studiums auf einer deutschen Staatsuniversität oder an einem zur wissenschaftlichen Vorbildung der Geist­ lichen geeigneten kirchlichen Seminar. b) Normalien über kirchliche Vorbildungsanstalten, welche der staatlichen Aufsicht unterstehen: Für die Konvikte für Gymnasiasten oder Besucher von Universitäten oder kirchlichen Seminaren sind die Sahungen und Hausordnungen der staatlichen Aufsichtsbehörde einzu­ reichen sowie die Namen der Leiter und Erzieher, die Deutsche sein müssen, mitzuteilen. Für Priesterseminare zur praktisch-theologischen Vor­ bildung finden die nämlichen Grundsätze sinnmtsprechende Anwendung. Für kirchliche Seminare zur wissenschaftlichen Vorbildung gilt das gleiche. Ihr Lehrplan ist dem Universitätslehrplan gleichartig zu gestalten. Auch müssen die Lehrer die wissen­ schaftliche Befähigung besitzen, an einer deutscher! Staats­ universität in ihrer Disziplin zu lehren. c) Für die Übertragung des Pfarramtes gilt der Grundsatz der Benennung durch die bischöfliche Behörde und das Ein­ spruchsrecht durch den Oberpräsidenten, wenn die gesetzlichen Erfordernisse für die Bekleidung des geistlichen Amtes fehlen oder der Betreffende aus einem auf Tatsachen beruhenden Grunde, welcher dem bürgerlichen oder staatsbürgerlichen Gebiete angehört, für die Stelle nicht geeignet ist. Diese Grundsätze entsprechen lediglich staatlichen Interessen, während sie kirchlicherseits nur als Akte des Entgegenkommens

gegenüber staatlichen Wünschen betrachtet oder als beengende Härten empfunden werden. Für die staatliche Gemeinschaft, insbe­ sondere bei einer gemischtkonfessionellen Bevölkerung, ist es vor allem nicht ohne Belang, welche Allgemeinbildung die Träger eines geistlichen Amtes, von welchen ein weitgehender Einfluß auszu­ gehen pflegt, erhalten, und wo dies geschieht, ob die Ausbildung sich int Zusammenhang mit dem allgemeinen Geistesleben des Landes

oder von diesem abgeschlossen, etwa in ausländischer Umgebung vollzieht. Unter diesem Gesichtspunkt bedeuten daher auch die katholisch-theologischen Fakultäten der preußischen Universitäten io*

148 nicht nur einen Vorteil für die Kirche, sondern sie haben auch eine hohe Bedeutung für unsere allgemeine staatliche und kulturelle Ent­ wicklung. — Das Verschwinden mancher Bestimmungen aus der Kampfzeit würde von der Kirche gewiß begrüßt werden?) Es gilt dies vor allem von den Strafbestimmungen (§§ 22—24), durch welche sich die Kulturkampfgesetze überhaupt von der außerpreußischen Gesetzgebung in kirchlichen Angelegenheiten unterscheiden?) Neben den Strafbestimmungen besteht auch ein Verwaltungszwang insofern, als der Oberpräsident nach Art. 3 des DeNarationsgesetzes vom 21. Mai 1874 zur Beschlagnahme des Stellenvermögens befugt ist, falls nämlich ein geistliches Amt entgegen den gesetzlichen Be­ stimmungen übertragen ist. Nach § 13 des Anstellungsgesetzes ist er ferner ermächtigt, den kirchlichen Vorbildungsanstalten wegen Nichtbefolgung von Anordnungen die Staatsmittel einzubehalten oder sie zu schließen. Bezüglich dieser Bestimmung läßt sich freilich sehr wohl der Standpunkt vertreten, daß sie nach Aufhebung der besonderen Staatsaufsicht nach §§ 9—14 durch Art. 5 der Novelle vom 21. Mai 1886 obsolet geworden ist?) Entbehr­ lich ist schließlich das Erfordernis der staatlichen Genehmigung zur Errichtung von Seelsorgeämtern, deren Inhaber unbedingt abberufen werden können (§ 19). Ist doch der Inhalt dieser Bestimmung keineswegs zweifelsfrei. Zudem treffen die tatsächlichen Voraussetzungen, von denen seinerzeit dabei ausgegangen wurde, jedenfalls heute nicht mehr zu, vielmehr bildet gerade im Gegen­ teil der Ausbau der Pfarrorganisation das ausgesprochene Ziel der kirchlichen Berwaltungstätigkeit. Das Gesetz vom 12. Mai 1873 über die kirchliche Disziplinargewalt gibt Regeln über das Disziplinarver­ fahren gegen die Inhaber eines geistlichen Amtes: Die Anhörung des Beschuldigten hat vor der Verhängung von Disziplinarstrafen *) Dgl. die oben zitterte von Hoeber herausgegebene Denkschrift. *) Schon bei Be-atung der Novelle vom 14. 7. 1880 führte Minister e. Pultfamer im Abgeordnctenhause aus, daß die Strafgesetze der Mai Gesetzgebung sich von dem reinen Strafrecht insofern unterschieden, als sie auf politischen Motiven be­ ruhten. ES handele sich dabei um Handlungen, die vom moralischen Gefühle auS nichts Strafbares enthalten. *) Bgl. Rintelen, Die kirchenpolitischen Gesetze nach dem Abänderung-gesetz vom 29.4.1887, Seite 26 und Htnschius, Kommentar zur Novelle von 1886, Seite 24.

149 zu erfolgen, der Entfernung aus dem Amte hat ein prozessuales Verfahren vorherzugehen, die Entscheidung ist schriftlich unter An­ gabe der Gründe zu erlassen. Die körperliche Züchtigung ist unzu­ lässig. Geldstrafen dürfen den Betrag von 30 Talern oder den Betrag eines einmonatlichen Diensteinkommens nicht übersteigen, die Verweisung in eine Demeritenanstalt darf die Dauer von 3 Monaten nicht übersteigen. Die Anstalt muß eine inländische sein. Die Vollstreckung darf gegen den Willen der Betroffenen weder begonnen noch fortgesetzt werden. Für die Demeritenanstalten sind der Staatsbehörde die Namen der Leiter mitzuteilen, Satzung und Hausordnung einzureichen und jährlich ein Verzeichnis der Demeriten vorzulegen. Eine Vollstreckung kirchlicher Disziplinarentschcidungen im Wege der Staatsverwaltung ist von der Prüfung und Vollstreckbarkeitserklärung durch den Oberpräsidenten abhängig. Alle diese Grundsätze, welche sich gedanklich auf die landrechtliche Anerkennung des kirchlichen Disziplinarrechts stützen, würden bei Durchführung des Trennungsprinzips begriffsmäßig in Wegfall kommen und durch die gemeinrechtlichen Bestimmungen über die persönliche Freiheit ersetzt werden. Es schwände damit auch das Aufsichtsrecht des Oberpräsidenten über die Demeritenanstalten und seine Zwangsbefugnisse (§§ 6, 8), die bereits in der heutigen Fassung des Gesetzes so gut wie bedeutungslos sind. Für die Kirche würde der Wegfall des Berwaltungszwanges zur Voll­ streckung der Urteile eine Einbuße an Autorität bedeuten, die int Einzelfalle recht fühlbar werden kann. Im allgemeinen ist schon heute die Freiwilligkeit der Unterwerfung zur Ausübung der Disziplinargewalt unerläßlich. In Fällen, wo die kirchlichen Oberen in die Lage versetzt werden, ihre Entscheidungen hinsichtlich der Entfernung aus dem geistlichen Amte durchzusetzen, würde in Zukunft (um z. B. die Freigabe der Dienst­ wohnung zu erzielen), die Hilfe der Zivilgerichte in Anspruch zu nehmen sein. Wird die Kirche auf den Boden des gemeinen Rechts gestellt, so kann doch die gerichtliche Vollstreckung, welche dein privaten Rechtsanspruch zur Seite steht, den kirchlichen Rechts­ trägern nicht versagt werden. Zu verkennen ist fteilich hierbei nicht, daß sich Schwierigkeiten insofern ergeben könnten, als der be­ treibende Teil nicht mehr die bischöfliche Behörde, sondern diejenige

150 Korporation sein würde, welcher die privatrechtliche Verfügung über das Grundstück zusteht. Die Beseitigung der öffentlich-rechtlichen Qualität der Kirche würde ferner noch die Beseitigung folgender Gesetze nach sich ziehen müssen: Von dem Gesetz vom 13. Mai 1873 über die Grenzen des Rechts zum Gebrauche kirchlicher Strafund Zuchtmittel steht nur mehr der Grundsatz des § 1 in Kraft, wonach keine Religionsgesellschast befugt ist, andere Straf- ilnd Zuchtmittel anzuwenden, als solche, welche dem teilt religiösen Gebiete angehören oder die Entziehung eines innerhalb der Kirche wirkenden Rechtes oder die Ausschließung aus der Kirche betreffen. Strafen gegen Leib, Vermögen, Freiheit, bürgerliche Ehre sind unzulässig. Auch diese Bestimmung ist aus dem Geiste der Kampfzeit zu verstehen, wie er aus den Gesetzesmaterialien spricht. Danach handelte es sich im wesentlichen um die Verhängung der sogenannten excommunicatio- major, welche nach der Ansicht der einen die Verkehrssperre nach sich zieht, während sie nach den anderen diese Folge heute nicht mehr hat. — Das Gesetz über die Verwaltung erledigter katholischer Bistümer voin 20. Mai 1874 sieht für die Kapitularvikare, welche die Ver­ waltung der Diözese ivährend der Vakanz des bischöflichen Stuhles zu leiten haben, ein besonderes Zulassungsverfahren vor. .Hiernach besteht ein Einspruchsrecht der Staatsbehörde gegenüber denjenigen, welche die mit dem bischöflichen Amt verbundenen Rechte und geistlichen Verrichtungen bis zur Einsetzung eines staatlich an­ erkannten Bischofs ausüben wollen, und es ist von diesen ein Eid auf die Staatsgesetze zu leisten. Wenn trotz derartiger eingreifenden und von der Kirche bestrittenen Bestimmungen dank der maßvollen Handhabung die Entwicklung sich in friedlichen Bahnen hat voll­ ziehen können, so würde doch kirchlicherseits das Verschwinden dieser durch die Ereignisse überholten Grundsätze gewiß gern gesehen werden. Das gleiche gilt auch von anderen Bestimmungen, welche zwar an maßgebender Stelle als tatsächlich und rechtlich beseitigt erklärt worden sind, die aber immerhin zum Gegenstand juristischer Wiederbelebungsversuche gemacht werden könnten. Mit besonderer Befriedigung würde kirchlicherseits gewiß der Fortfall des Sonderrechtes für die O r d e n s g e n o s s e n s ch a f t e n

151 begrüßt werden, wie dieses sich aus dem Gesetz vom 31. Mai 1875 betr. -ie geistlichen Orden in seiner Fassung nach den Novellen von 1880, 1886 und 1887 ergibt. Hiernach ist der grundsätzliche Ausschluß der Orden aus dem Staatsgebiete, wie er durch § 1 des Gesetzes von 1875 ausgesprochen wurde, bestehen geblieben, aber durch zahlreiche Ausnahmen allmählich tatsächlich gegenstandslos gemacht worden. Die Errichtung von Ordensniederlassungen unterliegt der Genehmigung der Minister der geistlichen Ange­ legenheiten und des Innern. Als zulässige Ordenstätigkeiten waren nach dem Gesetze von 1875 nur mehr die Krankenpflege einschließ­ lich der Pflege der Blinden, Tauben, Stummen und Idioten ver­ blieben. Neben ihr war nach der Novelle von 1880 die Pflege und Unterweisung von Kindern, die sich noch nicht in schulpflichtigem Alter befinden, gestattet. Die Novelle von 1886 dehnte die Be­ fugnis auf eine Reihe von sozial-charitativen Tätigkeiten aus, näm­ lich auf bii' Übernahme der Pflege und Leitung in Waisenanstalten, Armen- und Pfründnerhäusern, Rettungsanstalten, Asylen und Schutzanstalten für sittlich gefährdete Personen, Arbeiterkolonien, Verpflegungsanstalten, Arbeiterherbergen, Mägdehäuser, sowie auf die Übernahme der Leitung und Unterweisung in Daushaltungsschulen und Handarbeitsschulen für Kinder in nicht schulpflichtigem Alter. Durch die Novelle von 1887 wurden wieder zugelassen die Orden, welche sich der Aushilfe in der Seelsorge, der Übung der christlichen Nächstenliebe, dem Unterricht und der Erziehung der weiblichen Jugend in höheren Mädchenschulen und gleichartigen Erziehungs­ anstalten widmen, oder deren Mitglieder ein' beschauliches Leben führen. Auch sind Niederlassungen zur Ausbildung von Missionaren zulässig. Das System der Niederlassungsgenehmigung, welches für jede, auch die kleinste Niederlassung und deren Erweiterung, sei es auch nur um eine Schwester, den Apparat zweier Ressorts in Be­ wegung setzt, kann von keinem Standpunkte aus als ideal be­ trachtet werden und erscheint schon als solches der Verbesserung fähig. Was aber von den kirchlichen Kreisen von jeher besonders peinlich empfunden wurde, ist die Bestimmung des 8 2 des Ordens­ gesetzes, wonach die der Krankenpflege gewidmeten Niederlassungen zwar bestehen bleiben sollten, aber „jederzeit durch Königliche Ver­ ordnung aufgehoben werden können", eine Befugnis, welche nach

152

dem 1. Entwurf der Vorlage für die Staatsregierung in Anspruch genommen war, auf Veranlassung des Monarchen aber der Ent­ scheidung des Landesherrn vorbehalten wurde. Dazu kommt der dehnbare Begriff der Staatsaufsicht nach § 5. Eng begrenzt ist schließlich die Vermögenssähigkeit für die Ordensgesellschasten. Durch Gesetz vom 22. Mai 1888 (G.S. S. 113) ist zwar einer Anzahl von wieder zugelassenen Ordensgesellschasten das nach dem Ordensgesetz in einstweilige Verwahrung genommene Vermögen wieder ausge­ händigt und ihnen zugleich die Rechtsfähigkeit verliehen worden. Im übrigen aber ist den Orden die Vorschrift des Art. 13 der Ver­ fassung bei der Erlangung der Rechtsfähigkeit hinderlich, wonach die Religionsgesellschaften sowie die geistlichen Gesellschaften, welche keine Korporationsrechte haben, diese Rechte nur durch besondere Gesetze erlangen können. Art. 13 der Verfassung ist durch Art. 84 des Einführungsgesetzes zum B.G.B. aufrecht erhalten worden. Es ist daher von den Gerichten für unzulässig erachtet worden, daß Ordensgesellschaften durch Eintragung ins Vereinsregister oder in der Form von Handelsgesellschaften, Genossenschaften oder Gesell­ schaften m. b. £>. Rechtsfähigkeit erwerben. Die Klöster sind somit darauf angewiesen, den Besitz, ohne welchen keine größere Personen­ gemeinschaft bestehen kann — man denke nur an die großen Krankenanstalten — auf Treuhänder als Rechtsträger zu über­ tragen, ein Verfahren, welches zu großen Beschwernissen und Unzuträglichkeiten führt. Ein dem preußischen Landtage in seiner letzten Session vorgelegter Gesetzentwurf, welcher diesem Mißstand abhelsen sollte, ist nicht mehr verabschiedet worden. Sollte der Kirche eine privatrechtliche Stellung durch die künftige Gesetzgebung

zugcwiesen werden, so würde sich eine Sonderbestimmung iin Sinne des Art. 13 nicht begründen lassen, da die Orden als kirchliche Einrichtung für die Staatsgesetze nicht mehr existieren. Eine ganz andere Frage ist es freilich, ob die Väter eines preußischen Tren­

nungsgesetzes sich durch derartige grundsätzliche Schwierigkeiten würden davon abhalten lassen, Sonderbestimmungen für die Orden zu erlassen.') Die Ausschaltung des in Vorstehendem umrissenen staatlichen Einflusses auf dem weiten Gebiet der kirchlichen Verwaltung würde *) Bergt, die oben erwähnte Denkschrlst von Dieterich.

ISS für die Betätigung der kirchlichen Einrichtungen eine Erleichterung bedeuten. Seine Wertung vom Standpunkt der staatlichen Inter­ essen ist bei deren Relativität heute crfdjtulert. Es liegt in der Natur der Sache, daß ein Staatswesen, welches in seiner Rechts­ ordnung Rücksicht auf kirchliche Interessen malten läßt, auch seiner­ seits eine entsprechende Rücksichtnahme auf die Erfordernisse des staatsbürgerlichen Zusammenlebens auf kirchlichem Gebiete erwarten darf. Diese rein sachliche Erwägung ist vielleicht eher geeignet, als Ausgangspunkt für eine praktische Lösung entstehender Fragen in einem demokratischen Gemeinwesen zu dienen, als der staatsrecht­ liche Begriff der Kirchenhoheit, welcher der Zeit des absoluten Staatsregiments entstammt. Das eine aber steht jedenfalls fest, daß die Geltendmachung staatlichen Einflusses mit Bezug auf kirchliche Angelegenheiten für das Gemeinwohl gedeihlich und für die Kirche erträglich nur solange ist, als die Staatsgewalt den kirchlichen An­ gelegenheiten mit wohlwollender Neutralität gegenübersteht. Fällt diese Voraussetzung fort, so führen jene Einrichtungen nur zu leicht zu Reibungen und Konflikten. Sind sie in ersterem Falle ein Mittel, um die Entstehung von Mißtrauen und Gegensätzen zu ver­ hindern, so sind sie in letzterem Anlaß zu Schikane und Streitig­ keiten. Eine unbedingte Notwendigkeit ihrer Beseitigung ergibt sich aber, wenn der Staat die Kirche der ihr bisher gewährten Rechtsstellung enthebt und sie weiterhin als privatrechtliches Ge­ bilde behandelt. Geschieht der eine Schritt, so ergibt der andere sich als unabweisbare logische Folge. Deshalb wird man, wenn in das Rechtsverhältnis von Staat und Kirche eingegriffen werden sollte, auch von vornherein die Konsequenzen nach allen Seiten ziehen müssen. Die staatlich-kirchlichen Verhältnisse sind ein kunstvolles Gewebe von Wechselbeziehungen, an dessen Herstellung die Jahr­

hunderte gearbeitet haben. Löst man es an einer Stelle, so gerät das ganze Gebilde in Auflösung. 3. Abschnitt. Die getollten Leistungen »es Staates für die katboli|d>e RIrtbe.

Die vermögensrechtliche Stellung der katholischen Kirche hat ihr Fundament in dem Satze des Art. 15 der Verfassung, wonach sie — ebenso wie die evangelische Kirche und jede andere Religions-

154 gesellschaft — im Besitz und Genuß der für ihre Kultus-, Unter­

richts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen

und Fonds bleibt. Diese Bestimmung war bei den Verhandlungen,

welche der endgültigen Redaktion der Verfassungsurkunde vorher­ gingen, zeitweise um deswillen für entbehrlich gehalten worden,

weil das kirchliche Eigentum bereits durch den allgemeinen Eigen-

tumsschutz des Art. 9 genügend gesichert erschien. Sie fand indessen

Aufnahme, um den Besorgnissen vorzubeugen, welche wegen ihrer

Weglassung

durch die Berfassungskommission laut wurden.

So

wurde denn, ähnlich wie in Bayern, Württemberg, Baden und

Sachsen

und anderen Bundesstaaten, im Hinblick auf bekannte

„Lehren und Vorgänge" noch eine besondere Garantie für das kirch­

liche Vermögen für erforderlich erachtet, welche sich inhaltlich an

den besonderen Eigentumsschutz des Reichsdeputationshauptschlusses vom 25. Februar 1803 für den an einen Landesherrn überwiesenen

katholischen oder evangelischen geistlichen Besitz anschloß (§ 63). Durch Art. 15 wurde den Religionsgesellschaften nach der Denkschrift

des Ministers von Ladenberg *) zur Verfassung „der Fortbestand ihrer dermaligen Eigentumsverhältnisse in deren verschiedenen Rich­

tungen und Gestaltungen garantiert". Es sollte dadurch den Religivnsgesellschaften „die Zusicherung gegeben werden, daß der Staat

in Beziehung auf die Eigentumsverhältnisse den bestehenden Zu­ stand anerkenne und achte".

Sinn und Inhalt dieser speziellen

Eigentumsgarantie geht nach Anschütz")

dahin:

„Jede Kirchen­

gesellschaft behält, was ihr gehört: was Kirchcngut war und ist,

bleibt cs; als Kirchengut aber gelten alle Bermögensgegenstände (Anstalten, Stiftungen und Fonds), welche kirchlichen Zwecken zu

dienen bestimmt sind. Entscheidend für die Eigenschaft ist die Zweck­

bestimmung,

nicht

das

Subjekt des

Eigentums.

Als

kirchliche

Zwecke erkennt der Satz an die Kultus-, kirchlichen, Nnterrichts-

nnd Wohltätigkeitszwecke." Der Staat gewährleistet aber ferner durch den angeführten Satz

des Art. 15 der Kirche auch die Fortdauer derjenigen Leistungen,

welche ihr bisher aus staatlichen Mitteln zugeflossen waren.

Die

*) Erläuterungen der Bestimmungen der Berfassung-urkunde vom 5.12. 1848 über Religion, Religion-gesellschaften und Unterricht-wesen betr. Berlin 1848. ’) Anschütz. Die Verfassung-urkunde de- Preußischen Staate», Berlin 1912.

155 ministeriellen Erläuterungen bemerken hierzu, daß die Berfassungs­ urkunde in dieser Hinsicht „nur eine Forderung der Gerechtigkeit erfülle, weil jene Leistungen teils auf einer speziellen, teils auf einer allgemeinen Verpflichtung beruhen, welcher der Staat sich nicht entziehen kann, ohne das Prinzip seines eigenen Lebens zu verletzen". Die Erläuterungen verweisen dann auf die Verpflich­ tungen und Zusagen, welche in den Säkularisationsgesetzen, ins­ besondere dem Reichsdeputationshauptschluß, dem Edikt vom 27. Oktober 1810 (Gesetzsammlung S. 28) und den Proklamationen bei der Besitzergreifung der Rheinlande und der Provinz Posen übernommen wurden, und fährt dann fort: „Deshalb war es, als über die Wiederherstellung der Kirchenverfassung mit dem Römi­ schen Stuhle verhandelt wurde, nicht eine Gnade, sondern die Er­

füllung einer wohl begründeten Verpflichtung, wenn der Staat die Dotation der Bistümer und der zu ihnen gehörigen Institute über­ nahm, wie denn dies auch ausdrücklich sowohl während der Ver­ handlungen selbst, als später bei der Verkündigung des Resultates derselben, der Bulle de salute animarum vom Jahre 1821 an­ erkannt worden ist. Es ist.bekannt, daß aus finanziellen Gründen die Radizierung l) der Dotationen der Bistümer und Kapitel auf die Staatswaldungen bezw. die Ausstattung dieser Institute mit Grundbesitz nicht hat erfolgen können. Um so mehr aber ist der Staat in fortgesetzter Leistung in der bisherigen Weise durch das Recht und seine Ehre verpflichtet." Die Denkschrift folgert schließ­ lich aus der geschichtlichen Grundlage der staatlichen Leistungen für die Kirche, daß der Staat „das dermalen bestehende Leistungs­ verhältnis nur durch einen Wort- und Treubruch hätte auflösen können, dessen Folgen auf ihn selbst zurückgefallen sein würden". Alle Verpflichtungen, die bei den Säkularisationsgesetzen, wenn auch nur als moralische Pflicht übernommen waren, sind nach Anschütz (S. 337) durch die Worte „und bleibt" im Art. 15 als *) Der vereinbarten Radizierung, der Deckung der.Dotation durch Grundzinsen,

welche auf Staat-waldungen angewiesen werden sollten, stand dir aus letzteren ruhende

Speztalgarantir für die StaatvgUiubigrr nach der Verordnung von 17. Januar 1820 (®. S. S. 9) zunächst tat Weg«.

Trotz mehrfacher Anregungen der Kurie und im

Landtag« ist die Schwierigkeit nicht überwunden worden und d!e Zusage unetngelöst geblieben.

156 wahre rechtliche Verbindlichkeiten des Staates und zwar als ver­

fassungsmäßige Notwendigkeiten anerkannt worden. Die Grundzüge der mit der Kurie vereinbarten staatlichen Dotation, deren Charakter in der Denkschrift durchaus zutreffend

gekennzeichnet ist, sind in der Bulle festgelegt.

Die nach Maßgabe

der Bulle den einzelnen Diözesen zukommenden Beträge sind durch

die vom König genehmigten Organisationsetats festgelegt, welchen

Verhandlungen vorhergingen,

langwierige

zumal

bei

der

Aus­

führung die größte Sparsamkeit obwaltete, so daß sich zum Teil erhebliche Weiterungen ergaben. Im ganzen ist die Bistumdotation

ein überaus bescheidener Betrag im Verhältnis zum Werte des säkularisierten Kirchengutes.') Die durch Staatsgesetz eingeführte Bulle enthält die zwischen Staat und Kurie getroffenen Verein­

barungen, welche nach der Rechtsprechung der Obertribunals (Ent­

scheidungen Band begründeten.

19, S. 409) völkerrechtliche Verbindlichkeiten

Die rechtliche Verpflichtung des Staates

in der Kulturkampfzeit nicht bestritten,

ist

auch

sondern selbst auf dem

Höhepunkte des Kampfes, als die Zahlung der Staatslcistungcn zur Erzwingung der Anerkennung der Maigesetze eingestellt wurde,

gewahrt geblieben.

Das Sperrgesetz vom 22. April 1875 sprach

die Einstellung der Staatsleistungen nur als eine gegen die da­

maligen Amtsinhaber gerichtete Maßnahme aus,

die wegfallen

sollte, sobald sie sich zur Befolgung der Staatsgesetze verpflichteten

(§ 2). Die ersparten Gelder waren aufzusammeln (§ 9) und wurden

durch Gesetz vom 14. Juli 1891 der kirchlichen Verwendung wieder zugeführt.

Vor Erlaß des Sperrgesetzes war die Zahlung der

dotationsmäßigen Bezüge an den Bischof von Ermeland int Ver­

waltungswege

eingestellt

worden.

Der Klage des Bischofs

auf

Zahlung der ihm nach der Bulle zustehenden Dotation hat das Obertribunal den Erfolg versagt, da durch die landesherrliche Fest­ setzung

des Organisationsetats

zur

Ausführung

privatrechtlicher Titel nicht entstanden sei?)

der

Bulle ein

Der Standpunkt des

Obertribunals ist indessen vielfach angegriffen worden, und es erscheint

überaus

zweifelhaft, ob die Rechtsprechung

gegebenen«

*) Rudophi, Zur KIrchenpolttik Preußen», 1897. 9) Entscheidung vom 14. Juli 1873, Archiv für katholische» Kirchenrecht, Bd. 31 Seite 113 fs.

157 falls auf diesem Standpunkt verbleiben würde.

Hat diese doch in

der neueren Zeit auf einem verwandten Gebiete, nämlich da, wo

es sich um die Erfüllung von Verpflichtungen aus'der Säkulari­ sation gegenüber einzelnen Kirchen handelt, den staatlichen Do­

tationsakt als eine Quelle privatrechtlicher Ansprüche anerkannt. Was die Höhe der Dotation angeht, so handelt es sich zu­

nächst um einen nach Kapitel 116, Titel 1—16 des Staatshaus­

haltes zahlbaren Betrag von 1 669 722 M., welcher für die bischöf­ lichen Stühle, die bischöflichen Seminare, die Emeriten- und Deineriten-Anstalten,

die Domkapitel und Domkirchen geleistet wird.

Nach Art und Zeit des Verpflichtungsgrundes steht dieser Leistung

am nächsten die Position „Besoldungen und Zuschüsse" im Ka­ pitel 116 (kath. Geistliche und Kirchen), Titel 1 mit 1 410 337 M. Den nach diesem Titel zu gewährenden Staatsleistungen liegt eine

große Anzahl von speziellen Rechtstiteln zu Grunde, deren Ur­ sprung

gleichfalls

vorwiegend in der Säkularisation kirchlichen

Eigentums zu erblicken ist.

Die

finanziell

schwerwiegendsten

Staatsleistungen

sind

die

zu Gunsten der Pfarrgemeinden, die zuletzt durch die Gesetze vom 2. Juli 1898 bezw. 26. Mai 1909 betreffend das Diensteinkommen

der katholischen Pfarrer geregelt sind. Die Grundlage dieser Rege­

lung bildet ein Entschädigungsanspruch der Kirche aus der Säkulari­ sation.

Sie hat den nämlichen Rechtsgrund wie die Dotation der

Bistümer.

Dieser Anspruch ist in der ministeriellen Denkschrift

zur Erläuterung der Verfassung wie auch bei der Beratung des Gesetzes anerkannt worden?) Die Besoldung der katholischen Pfarrer ist nach dem Besoldungsgesetz Sache der Pfarrgemeinde. Der Staat

beschränkt sich darauf, Beihilfen bei Leistungsunfähigkeit der Ge­ meinde zur Verfügung zu stellen, wobei die Voraussetzung ist,

daß auch die bischöfliche Behörde Mittel bewilligt.

Von ler An­

führung des Gesetzesinhaltes muß hier abgesehen werden.

Zu er­

wähnen ist noch derFonds Kapitel 115, Titel 16 mit 350000 M

für Beihilfen zur Ausbringung der Ruhegehälter der Geistlichen

und

ferner

noch

ein

auf

katholische

Geistliche

entfallender

•) Bgl. Tourneau, Da» preußische vesep, bete. Dienstetnkommen der kath Pfarrer, Mainz 1910, S. 16.

158

Teil des Fonds zur Unterstützung für Geistliche aller Bekenntnisse von 350000 M., aus welchen in Fällen der Not helfend eingegrifsen zu werden pflegt. Die ganze Dotation der katholischen Kirche beläuft sich hiernach auf etwa 97i Millionen Mark, ein Betrag, welcher in einem modernen Staatshaushalt keine Rolle spielt, dessen Ausbringung aber aus kirchlichen Mitteln naturgemäß schwer fallen würde. Würde die Kirche darauf angewiesen sein, für diesen Betrag durch Steuern Deckung zu schaffen, so würde eine ganz beträchtliche Um­ lageerhöhung erforderlich sein, welche für die steuerliche Leistungs­ fähigkeit der beteiligten Bevölkerung sich recht erschwerend geltend machen würde. Es macht naturgemäß einen großen Unterschied, ob eilt Betrag aus den Gesamteinnahmen des Staates entnommen wird, die einen sehr mannigfaltigen Ursprung haben, oder ob er nach deut Maßstabe der bereits von Staat und Gemeinde reichlich beanspruchten direkten Staatssteuern aufgebracht werden muß. Z u s a m m e n s a s s u n g und Ausblick. Eine zusammensassende Würdigung der Normen des staatlichen Rechtes in kirchlichen Angelegenheiten führt zu dem Ergebnisse, daß die Stellung, welche der preußische Staat der katholischen Kirche zugewiesen hat, keineswegs die einer glänzenden Bevorrechti­ gung ist, daß vielmehr dasjenige, was für die katholische Kirche als Sonderrecht gegenüber anderen Religionsgemeinschaften festge­ setzt ist, recht eigentlich ein Ausfluß der ordnenden Tätigkeit des Staates darstellt, welche sich auf das Gebiet der äußeren Gestaltung des kirchlichen Lebens der Staatsbürger erstreckt hat. Diese äußere Ordnung hat freilich der Kirche ihr äußeres Wirken erleichtert. Eine Aufhebung dieser Ordnung bedeutet daher für die Kirche einen Nachteil, nachdem sich die Entwicklung nun einmal bisher in diesen Bahnen vollzogen hat. Jede Neuschaffung eines Verwaltungs­ systems, jedes Umlernen in den Gewohnheiten in einer Gemein­ schaft von Millionen von Mitgliedern, die Notwendigkeit, neue Wege zur verwaltungsmäßigen Erfassung und Heranziehung der Mitglieder zu finden, bedeutet große Schwierigkeiten, Nachteile und Verluste. Dazu kommt, daß, wie schon im Eingänge betont wurde, nach der Natur der Sache eine völlige Loslösung der Kirche

159 vom Staat überhaupt nicht möglich ist, daß vielmehr die bestehende Regelung der äußeren Angelegenheiten der Kirche nur durch eine andere erseht werden kann, welche sich von der bisherigen dadurch

unterscheidet, daß sie d?r Kirche weniger Schuh und weniger Be­

rücksichtigung ihrer eigenartigen Bedürfnisse gewährt und weniger Achtung zuteil werden läßt. Cs erscheint daher als ein Gebot des

Interesses wie der Selbstachtung der Kirche, wenn die sich zu ihr bekennenden Staatsbürger sich mit aller Entschiedenheit für die Erhaltung der bestehenden Rechtsstellung

einsehen.

Sie können

diesen Standpunkt auch in einem demokratisch regierten Volks­

staate mit einem starken kirchlich nicht interessierten Bevölkerungs­ teil vertreten, da das für die Kirche bestehende Sonderrecht seine

innere Begründung von dem Standpunkt eines modernen paritäti­

schen Staates in der tausendjährigen Kulturtätigkeit der Kirche und in ihrer überragenden Bedeutung der Mitgliederzahl nach findet,

und zwar um so mehr, als dieses Sonderrecht in wesentlichen

Grundzügen der äußeren Ordnung übereinstimmt mit der Rege­ lung für eine nicht christliche Gemeinschaft, nämlich die Synagogen­

gemeinden?) Die Beseitigung einer solchen Rechtsstellung ist somit nicht durch demokratische Grundsätze bedingt, sondern würde nur als

Ausfluß

feindlicher

Gesinnung,

als

die

Konsequenz

einer

Stellungnahme des Staates zu Gunsten der dem Kirchenglauben entgegengesetzten Weltanschauung zu verstehen sein. Erfolgt dennoch

ein solches Eingreifen in den Kampf der geistigen Kräfte, so läßt

sich voraussehen, daß dann auch die finanziellen Verpflichtungen nicht mehr gewahrt werden und überhaupt jede Berücksichtigung

wohlerworbener Rechte,

selbst

des Eigentumsrechtes

zweifelhaft

wird. Was etwa durch den Wegfall einschränkender Bestimmungen der bisherigen Gesetzgebung, wie sie im zweiten Abschnitte ange­

führt wurden, gewonnen wird, würde ausgewogen durch die Gefahr einer Ausnahmegesetzgebung unter der Firma einer Kultuspolizei. Mit naturgesetzlicher Folgerichtigkeit liegt es ferner in solcher Ent­

wicklung, daß auch die Rücksichtnahme auf die kirchlichen Bedürf­

nisse und kirchlichen Empfindungen, wie sie bisher von dem Staate in Gesetzgebung und Verwaltung geübt worden sind, fortfallen,

*) In der Schweiz besitzen die christlichen Kirchen zumeist die gleiche Stellung al- Lande-lirchm wie in Preußen. Insbesondere genießen sie da- Besteuerung-recht.

160 und daß das Gesamtbild des öffentlichen Lebens eine Unnoandlung erfährt, welche dem christlichen Staatsbürger das Leben und Wirken im Sinne seiner Lebensauffassung erschwert und verleidet. Wenn eine religiöse Erziehung der Jugend durch die Einrichtungen der Staatsschule unmöglich gemacht wird, wenn die christliche Feiertags­ ordnung bei der Festsetzung der bürgerlichen Feiertage geflissent­ lich übersehen, die Sonntagsheiligung durch die Regelung des Ver­ kehrslebens erschwert und die Seelsorge in Heer und Gefängnis aufgehoben wird, so sind dies nur weitere Auswirkungen des Trennungsgedankens. Es sind dies keineswegs willkürliche Annahmen und Kom­ binationen, sondern die naturnotwendigen Konsequenzen, die sich aus den Voraussetzungen der Trennungsbewegung, wie sie im Eingang geschildert wurden, ergeben. Während das Preußen der Verfassungszeit „indem es sich von den Reli­ gionsgesellschaften schied, sich nicht scheiden wollte von der Reli­ gion"'), würde eine Trennung von Staat und Kirche im neuen Preußen mit Sicherheit auch zur Trennung des Staates von der Religion überhaupt werden. Diese Trennung würde das Gegen­ teil der „Trennung" werden, wie sie in den Vereinigten Staaten besteht, auf welche zu Unrecht von den Verfechtern des Trennungs­ gedankens verwiesen wird. Der Verhütung solcher Konsequenzen gilt zugleich der Widerspruch, welcher sich gegen jede grundlegende Änderung der kirchlichen Rechtsstellung im staatlichen Organismus erhoben hat. In allen diesen Beziehungen besteht ein einheit­ liches Interesse für die katholischen wie die evangelischen Staats­ bürger. Von der Erkenntnis und Pflege solcher Gemeinsamkeit wird die weitere Entwicklung wesentlich abhängen. Diese Gemeinsamkeit besteht aber nicht nur für die Mitglieder der beiden Landeskirchen, sondern auch für die Anhänger eines jeden positiven religiösen Bekenntnisses. Würde doch die Entfernung der Religion aus dem öffentlichen Leben für sie alle ihre Wirksamkeit und die Betätigung ihrer Anhänger beeinträchtigen. Die katholische Kirche wird freilich damit zu rechnen haben, daß eine parteipolitisch orientierte neue Kirchenpolitik sich speziell auf ihre Angelegenheiten als auf die des organisatorisch stärker veranlagten Teiles erstrecken könnte. Es

*) Erläuterungen der Bestimmungen der Versassungsurtunde usw.

161 veibicnt Beachtung, daß gerade die Berhältnisse der katholische.! Kirche in der Dieterichschen Denkschrift eine besondere, recht unlieb­ same Berücksichtigung gefunden haben. Ist es nach alledem ein Irrweg, der unserem neuen Staate gewiesen wird, wenn er von den wohlgeregelten Beziehungen zu Kirche und Religion losgelöst und auf den Standpunkt eines fünft lichen Fremdseins gegen diese Lebensmacht geführt werden soll, io wird man nach anderen Richtlinien für eine die Religion und Kirche betreffenden Kulturpolitik der Zukunft Umschau zu halten haben. Diese wird man aber in der Pflege des Grundsatzes der Gr wissens- und Glaubensfreiheit und der staatsbürgerlichen Gleich heil ohne Rücksicht aus Religion und Bekenntnis zu erblicken haben Wenn im alten Staate Traditionen eines früheren Staatskirchen, tu ms zu Gunsten des kirchlichen Bekenntnisses gewirkt haben mögen und in einem dem Art. 12 der Berfassung entgegengesetzten Sinne Einfluß geübt haben, so hat der dadurch hervorgerufene Druck auf die Beteiligten sicherlich dazu beigetragen, eine kirchenseind liche Stimmung zu unterstützen. Derartige Traditionen haben indessen ihr natürliches Ende erreicht. Auch der Regelung der Frage des Religionsunterrichts der Dissidentenkinder kommt eine ähnliche Bedeutung zu. Nach allen diesen Richtungen sind frühere Hemmungen gefallen. Der Sicherung der freien Überzeugung und ihrer Bekundung wirb im neuen Staate die Arbeit aller freiheit lich gesinnten Staatsbürger gewidmet sein müssen. Auf dem Boden dieses Grundsatzes werben sich die Vertreter der alten und einer neuen Weltanschauung begegnen können. Wenn daneben die kirch lich gesinnten Staatsbürger dafür eintreten, daß die rechtliche Ord nung der äußeren kirchlichen Verhältnisse bestehen bleibt und der Kirche ihr Eigentum gewährleistet wird und ihr Dotationsein­ kommen verbleibt, so verletzt dies nicht die Rechte und Interessen eines Dritten. Für jede Art der Neugestaltung der staatlich-kirchlichen B> ziehungen, welche früher oder später in Betracht kcmmen könnte,

gilt ein Gesichtspunkt, an welchem staatlicherseits nicht achtlos vorübergcgangen werden darf: Für die Regelung innerkirchlichor Verhältnisse sind nach der katholischen Kirchenverfassung die Bischöfe zuständig und deren Kompetenz besteht auch dann, wenn Äetrohinon und tttrtic. )I

162

das kirchliche Leben in die staatliche Rechtssphäre hineinragt. In solchen Fällen bedarf es daher des Zusammenwirkens der staat­ lichen und kirchlichen Gewalten, wenn ein Ergebnis erzielt werden soll, welches die Anerkennung der Kirche finden kann. Diese Auf­ fassung hat der Behandlung staatskirchenrechtlicher Angelegenheiten in der Periode einer gedeihlichen Kirchenpolitik zu Grunde gelegen, worauf bereits im 2. Abschnitt hingewicsen wurde. Die Vertreter der katholischen Interessen im Parlamente haben auf die Wahrung dieses Grundsatzes stets entscheidenden Wert gelegt?) Einer Ände­ rung der Gesetzgebung mutzten daher stets Verhandlungen mit dem Episkopat vorhergehen, damit das erreicht werde, was auch zum Gedeihen des Volksstaatcs nottut: Die Vermeidung von Konflikten und die Erhaltung gedeihlicher Beziehungen zwischen der staat­ lichen Gewalt und der unvergänglichen Geistesmacht der katholischen Kirche. Kapitel 7.

Die rechtliche Stellung und finanzielle sage der evan­ gelishen Candeshlrhen nach ihrer Trennung vom Staat Von Johannes Riedner.

Im folgenden sollen die, zugleich das finanzielle Verhältnis bedingenden, Rechtsformen besprochen werden, die bei einer Tren­ nung von Staat und Kirche in Frage kommen. Denn in der Forde­ rung der Trennung von Staat und Kirche liegt immer zugleich die Forderung einer Veränderung der rechtlichen Stellung der kirchlichen Einrichtungen. Richt als ob sich das Verhältnis von Staat und Kirche nur in Rechtsnormen darstellte. Es ist vielmehr wesentlich bestimmt durch das ganze gegenseitige Verhalten derer, die sich im staatlichen und kirchlichen Leben betätigen. Mehr als auf ein rechtlich nicht anfechtbares Verhalten kommt es auf die gegenseitige Gesinnung an. Die besten auf ein zweckmäßiges Ver­ hältnis hinzielenden Gesetze sind wirkungslos, wenn nicht beider­ seits freundliche Gesinnung und ehrlicher Wille, ein gutes Ver­ hältnis aufrecht zu erhalten, vorhanden ist, und die zweckwidrigsten Gesetze schaden manchmal gar nicht so viel, wenn das persönliche Verhalten auf beiden Seiten ernstlich auf Vermeidung von Reil) vgl. Tourneau a a. £)., S. 16 ff.

163 bungen gerichtet ist. Solche Gesinnung und solcher Wille läßt sich aber durch Rechtsnormen nicht herbeisührcn. Das Recht gibt nur die Norm für das schließliche äußere Verhalten. Dabei fordern wir aber allerdings von einer guten Rechtsordnung, daß sie sich darstellt als die passende Form für vernünftige Lebensbetätigung, diese regelnd und dadurch fördernd. So muß das Verhältnis von Staat und Kirche jedenfalls auch in organisatorischen Rechtsnormen zum Ausdruck kommen und die Gesamtheit dieser Rechtsnormen muß sich darstellen als der Niederschlag der Grundanschauungcn, die in einem Volk über die Art der Betätigung religiösen Lebens im staatlichen Gemeinwesen bestehen. Will man diese An­ schauungen kennen lernen, so muß man in die Lokalinstanz gehen, denn dort spielt sich das kirchliche Leben ab. Die täglichen Berührungen kirchlicher und politischer Betätigung im örtlichen persönlichen Zusammensein sind cs, nach denen sich die An­ schauungen bilden, die für die Gestaltung des Verhältnisses der Kirche zu dem, auch in der örtlichen Kommune er­ scheinenden, staatlichen Gemeinwesen im ganzen schließlich maß­ gebend werden. Das Verhältnis im ganzen wird nicht richtig gvie man im Volke denkt über die Mitgliedschaft, den staatlichen Schutz und die Förderung der kirchlichen Ein­ richtungen, wie den besonderen strafrechtlichen Schutz, die bürger­ liche Wirkung der Feiertage, Wahrung des kirchlichen Charakters der Begräbnisplätze, wie man denkt über Art der Teilnahme an Erziehungs- und Unterrichtswesen auf den verschiedenen Aus­ bildungsstufen, von der Volksschule bis zur Universität, in öffent­ lichen Anstalten und beim Militär, wie über die rechtliche Gleich­ stellung der Geistlichen mit den öffentlichen Beamten, ihre Stellung zum Militärdienst, die Gleichstellung der kirchlichen Einrichtungen mit denen anderer Wohlfahrtseinrichtungen im Vermögensver­ kehr, über die vielen rechtlichen Beziehungen, die sich zwischen den Gemeindeverwaltungen und den kirchlichen Verwaltungen finden, über die Berücksichtigung der kirchlichen Interessen bei Neuansied­ lungen, die örtlich verschiedenen Wirkungen des Patronats u. a. m. Man wird, wenn man diese Rechtsbeziehungen näher ins Auge saßt, voraussichtlich zu dem Resultat kommen, daß in ihnen doch ein mehr oder weniger größeres staatliches Interesse an dem Beitande der Landeskirche zum Ausdruck kommt und daß man Revolution und Kirche.

\o

178 diese Beziehungen nicht alle wird trennen mögen. Die Kirche würde danach im Ganzen doch mehr in die Rechtsstellung eines öffentlichen Selbstverwaltungskörpers gehören. Daß man in einer einzelnen Beziehung dabei zu einer Regelung kommt, die sich bei den anderen Selbstverwaltungskörpern nicht so findet, darf, wenn diese Regelung praktisch ist, nicht abschrecken. Denn die Auf­ gabe ist eben nicht die kirchliche Lebensbetätigung in eine bestimmte Rechtskategorie einzuschachteln, sondern eine geeignete Rechtsform für die Lebensbetätigung zurechtzumachen. Das gilt insbesondere von der Regelung der Mitgliedschaft. Der Rechtsstellung der Kirche als reinen Privatvereins würde es mehr entsprechen, die Mitglied­ schaft von besonderem Zutritt abhängig zu machen und jederzeitigen Austritt zu gestatten, die Rechtsstellung als öffentlicher Selbst­ verwaltungskörper setzt grundsätzlich Zwangsmitglicdschaft voraus Wenn aber das staatliche Interesse dahin geht, einerseits den Be­ stand der Landeskirche als umfassender Bolkskirche zu wahren, anderseits Freiheit in der religiösen Betätigung zu lassen, so darf keine Prinzipienreiterei hindern, den Mittelweg zu gehen, der zur Anerkennung der jetzigen Rechtslage führt, daß man grundsätzlich in den kirchlichen Verband hineingeboren wird, Austritt aber frei steht. Und wenn die Anpassung der Rechtsform an das wirkliche Leben dazu führt, die Rechtsstellung der verschiedenen Religions­ gesellschaften im einzelnen verschieden auszugestalten, so darf man auch davor nicht zurückschrecken. Es wäre eine völlige Ungereimt­ heit, wenn man die Rechtsstellung der Landeskirche und die eines kleinen Konventikels egalisieren wollte. Wenn das Interesse des Staates am Bestände der Landeskirche darauf beruht, daß diese ihm wesentliche Arbeit leistet, und wenn danach die einzelnen Be­ ziehungen der Kirche zum Staat rechtlich geregelt sind, so muß bei der Regelung der rechtlichen Stellung der andern Religions­ gemeinschaften gefragt werden, ob sie eben diese Arbeit auch leisten können. Nur dann hat es einen vernünftigen Sinn, ihnen die gleiche Rechtsstellung zu geben. In dieser Hinsicht käme z. B. in Betracht, wie sich die verschiedenen auch größeren Religions­ gemeinschaften zu einem interkonfessionellen Religionsunterricht stellen würden. Zudem wäre es auch praktisch undurchführbar, feste Rechtsbeziehungen, die auf einem bestimmten Gebiet ein zweck-

179 dienliches Zusammenarbeiten ermöglichen sollen, mit einer Unzahl der verschiedensten großen und Keinen Religionsgesellschaften anzu­ knüpfen. Der Staat kann sich vielmehr auf ein solches Zusammen­ arbeiten nur mit großen einheitlich geleiteten Berwaltungskörpern einlassen, die über das Staatsgebiet nach dem Bedürfnis religiöser Betätigung gleichmäßig verteilt sind, und mit denen die Be­ ziehungen einheitlich vereinbart und durchgeführt und einheitliche Grundsätze über das Verhältnis des staatlichen zum religiösen Leben beobachtet werden können. Das sind im wesentlichen nur die großen Kirchen, wenn es auch nicht ausgeschlossen ist, daß an ört­ lichen Stellen einmal auch eine kleinere die Mehrheit des Bezirks umfassende religiöse Gemeinschaft dieselbe Stellung einnehmen kann. Daß jedem Staatsbürger in gleichem Maße öffentliche Ein­ richtungen zum Nutzen sind, ist ein in der Praxis nicht erreichbares Ideal. Auch von den Vorteilen einer Zwangs-Innung und Handelskammer ist ein großer Teil der Gewerbetreibenden und Kaufleute ausgeschlossen, weil es praktisch nicht durchführbar ist, die das gewerbliche Leben mit dem Staat verbindende Organisation auf verstreut wohnende Gewerbetreibende auszudehnen. Deshalb ganz darauf zu verzichten, für die Mehrheit der Volksgenossen nützliche Einrichtungen zu schaffen, wäre auch wieder eine un­ praktische Prinzipienreiterei.

Durch das Interesse des Staates an ihrer Tätigkeit im einzelnen und damit an dem Bestände der Kirchen int ganzen und durch die danach gewählten Organisationsformen ist dann auch Art und Maß der Trennung der finanziellen Beziehungen der Kirche zum Staat bestimmt. Auch hierbei sind wieder zwei Stadien der Trennung scharf zu unterscheiden. Zunächst handelt es sich, wie oben dar­

getan, bei den evangelischen Landeskirchen um die Ausgliederung der kirchlichen Verwaltung aus der Staatsverwaltung und die dadurch bedingte finanzielle Auseinandersetzung und dann weiter am die Feststellung des finanziellen Verhältnisses zu dem neu organisierten Rechtssubjekt der Kirche. Die Gesichtspunkte für beide Feststellungen sind ganz verschieden. Bei der Ausgliederung der Kirche aus dem Staat handelt es sich um eine Trennung des bis dahin gemeinsamen Körpers, der das Rechtssubjekt für die

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180 finanziellen Angelegenheiten auch der Kirche war. Ter sogenannte fiscus consistorialis war nur eine statio fisci des Staats. Eigen­ tum der noch in Staatsverwaltung stehenden Landeskirchen war rechtlich staatsfiskalisches Eigentum. Ausgaben für die Besorgung der kirchlichen Angelegenheiten wurden rechtlich wie Ausgaben für die eigenen Angelegenheiten behandelt. Bei einer Trennung dieses staatskirchlichen Zusammenhanges muß eine Auseinandersetzung hinsichtlich der Finanzierung der kirchlichen Angelegenheiten er­ folgen, die gerechterweise nur dahin erfolgen darf, daß die zu kirch­ lichen Zwecken bestimmten Vermögensstücke des gemeinsamen Ver­ mögenskomplexes dem ausscheidenden Verband mitgegeben werden, so kirchliche Gebäude, Anstalten und Stiftungen, ebenso aber auch Arbeitskräfte bezw. die Besoldung dafür. Es sind daher die Staats­ haushaltspläne genau daraufhin anzusehen, in welchen Ausgabe­ positionen Leistungen für kirchliche Zwecke enthalten sind, was man den Überschriften nicht immer ansehen, vielmehr nur bei genauer Kenntnis der bisherigen Kompetenzen erkennen sann. Der rechtliche Vorgang dieser Auseinandersetzung ist analog anzusehen dem der Abschichtung der Ehausseeverwaltung aus der allgemeinen Staatsverwaltung an den Provinzialverband in Preußen. Es wurde dabei das Eigentum an den Chausseen an die Provinzen übertragen und ihnen eine Dotation mitgegeben. Man kann das Verhältnis auch vergleichen mit dem Vorgang einer Gemeinde­ teilung oder der Verselbständigung eines gewerblichen Filialunter­ nehmens, wobei der ausgeschiedene Teil von Rechtswegen ent­ sprechend abzufinden ist; eventuell auch mit der Selbständigmachuug des noch nicht vollerwcrbsfähigen Hauskindes. So ist denn auch bisher bei den Landeskirchen, die bereits aus dem Staatsverbande entlassen sind, verfahren, obwohl bei manchen die finanzielle Aus­ einandersetzung bei der Abschichtung bis heute noch nicht ganz dnrchgeführt ist, z. B. iverden die Ausivendungen für die Verwaltung des landesherrlichen Kirchenregiments in Altpreußen heute noch unmittelbar von Staatswegen bestritten. Eine entsprechende Do­ tation der Landeskirche ist in diesem Falle keine rechtliche Ver­ pflichtung etwa auf Grund früherer Säkularisationen, sondern einfach die rechtliche Folge bestandener Vermögensgemeinschaft. Lehrreich sind in dieser Hinsicht die Verhandlungen und Erwä-

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gungen, die anläßlich der Trennung von Staat und Kirche nach der Revolution von 1848 angestellt wurden. Anders liegt das Rechtsverhältnis dann wieder hinsichtlich der staatlichen Zahlungen, die an eine bereits als selbständiges Rechtssubjekt konstituierte Landeskirche oder Landeskirchenkasse oder einzelne kirchliche Institute oder Verbände mit Rechtspersönlichkeit geleistet werden. Hier kann es sich um bestimmte rechtliche Ver­ pflichtungen handeln oder um freiwillige bei der Aufstellung des Haushaltsplanes jedesmal erfolgende Bewilligungen. Die recht­ liche Verpflichtung kann auf den verschiedensten Titeln beruhen, auf einem Spezialgesetz, Patronat, Inkorporationen, Vertrag u. a. In diesen Fällen besteht ein sogenanntes wohlerworbenes Recht der betreffenden kirchlichen Rechtsträger. In der Streichung dieser Zuschüsse läge, rechtlich angesehen, ein Expropriationsakt, eine Säkularisation von Kirchengut. Das wäre ein tiefeinschneidender Schritt, der noch viel weiter gehen würde, als die früheren Säkularisationen in Deutschland. Denn diese, besonders die im Anfänge des 19. Jahrhunderts vorgenommenen, gingen immer nur dahin, das Vermögen einzuziehen, welches den Bedarf zur Erhaltung des ordentlichen Kultus und des Kirchenregiments über­ stieg. Die größeren Staatsbeiträge, die jetzt hauptsächlich in Be­ tracht kommen, das sind die zur Besoldung der Geistlichen und zum Bau von Kirchen und Pfarrhäusern, sollen aber eben nur gerade zur notdürftigen Unterhaltung des Kirchensystems dienen. Wenn man die Zurückziehung der gesetzlich festgelegten staatlichen Zuschüsse unter dem rechtlichen Gesichtspunkt der Enteignung an­ sieht, so wäre nach den im modernen Staat hierfür maßgebenden Rechtsgrundsätzen zu prüfen, ob und welches Interesse der Allge­ meinheit für die Enteignung spricht. Dies Interesse wäre dann mit dem öffentlichen Interesse abzuwägen, das der Staat am Be­ stände der Kirche hat. Bejaht man die Gleichwertigkeit des letzteren, so wäre weiter zu prüfen, ob der Bestand der Kirche auch ohne die staatlichen Beiträge gesichert werden kann. Für die Enteignung könnten zwei Gründe angeführt werben. Einmal die Finanzlage der Staaten, die die Beschaffung von Mitteln, nötigenfalls durch außer­ ordentliche Maßnahmen, erfordert. Es wäre dann die Enteignung wie eine Vermögensabgabe zu staatlichen Zwecken anzusehen. Eine

182 solche fordert man aber nicht von Selbstverwaltungskörpern, deren Bestand im öffentlichen Interesse liegt, und die daher den Ausfall selbst wieder durch Besteuerung ihrer staatssteuerpflichtigen Mit­ glieder aufbringen müßten. Als anderer Grund könnte angeführt werden, daß es unbillig ist und nicht im Interesse der Allgemein­ heit liegt, wenn Andersgläubige, die persönlich gar kein Interesse und auch keine Möglichkeit haben, an den kirchlichen Einrichtungen teilzunehmen, die Kosten ihrer Unterhaltung mittragen. Das ist im Prinzip gewiß anzuerkennen; die Finanzpolitik muß allerdings dahin gehen, daß auch öffentliche Einrichtungen tunlichst von den nächsten Interessenten unterhalten werden; das ist aber praktisch nicht immer durchführbar und so finden wir es auch sonst, daß von Staatswegen Einrichtungen erhalten werden, für die nur ein Bruch­ teil der Bevölkerung Sinn und Interesse hat. Ähnlich wie mit den Einrichtungen zur Betätigung religiösen Empfindens steht es z. B. mit den Einrichtungen für die Betätigung ästhetischen Emp­ findens, den Kunstinstituten. Es gilt eben auch hier, das öffent­ liche Interesse am Bestände der Einrichtung mit dem Interesse gerechter Lastenvcrteilung abzuwägen. Stellt man sich auf den Standpunkt, daß der Staat an dem Bestände der Kirche ein Inter­ esse und von ihrem Zerfall einen Schaden zu erwarten hat, so wird es schließlich immer wieder darauf ankommen, ob und wie sich die Kirche trotz der Enteignung ihrer Vermögensrechte die Mittel zu ihrer Erhaltung selbst beschaffen kann. Bei der gesetz­ lichen Festlegung der hauptsächlichsten Zuschüsse ist, wie bemerkt, be­ reits geprüft, daß die Kirche nach ihrer bisherigen Finanzverfassung dazu nicht imstande ist, bei anderen auf besonderen Nechtstiteln beruhenden wird es noch zu prüfen sein. Es setzt solche Prüfung eine eingehende Kenntnis auch der Verteilung des Vermögeninnerhalb der Landeskirchen und Kenntnis ihres bisherigen Ab­ gabewesens voraus. Aus der Verteilung des kirchlichen Vermögens kann man ersehen, ob die Kirchenkassen- und Pfründen-Besteuerung mehr ausgebildet werden kann. Von der Art des Gebühren- und Abgabewesens hängt dessen Ergiebigkeit und Entwicklungsfähig­ keit ab. Eine weitere Ausbildung des Gcbührenwesens, wie sie z B. für die kommunalen Selbstverwaltungskörper empfohlen wird, verträgt fick' schlecht mit dem kirchlichen Wesen und ebenso sind die

183 herkömmlichen alten Kirchen- und Pfarrabgeben, auf denen die Unterhaltung der örtlichen Kirchenshsteme ist manchen Gegenden zum großen Teil beruht, nicht entwicklungsfähig. Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß die Naturalabgaben und herkömmliche mit Liebesgaben verbundene Gebühren durch den Übergang des Pfründenvermögens in die Gemeindeverwaltung zum Teil an Er­ giebigkeit verloren haben. So würde wohl die Eröffnung neuer Ein­ nahmequellen, abgesehen von dem verstärkten Appell an freie Liebestätigkeit, nur durch Einführung bezw. weitere Ausbildung

der modernen Steuerformen für die Kirche möglich sein. Hat der Staat also überhaupt ein Interesse daran, daß die Kirche nicht zerfällt, so wird er ihr diese Möglichkeit nicht- verschränken dürfen; und er hat, wenn er ihr die Besteuerungsmöglichkeit gibt, auch ein Interesse daran, daß diese Besteuerung finanztechnisch zweckmäßig angelegt wird. Dazu gehört z. B-, daß die Berwaltungskosten nicht einen unverhältnismäßig hohen Betrag der Einnahme verschlingen. Das würde der Fall sein, wenn die Kirche genötigt wäre, sich einen eigenen Steuerverwaltungsapparat zu beschaffen, der wieder außer­ ordentliche Kosten machte und nie so gut arbeiten würde wie der staatliche Beamtenapparat; die Erfahrungen, die man mit der Ein­

sammlung von Kollekten gemacht hat, wären zu beachten. Man wird daher im Interesse der Kostenersparnis gut tun, den staatlichen Steuerapparat einschließlich der über die Rechtsmittel entscheidenden

Gerichte der Kirche zur Verfügung zu stellen. Trotz grundsätzlicher Annahme des Prinzips der Trennung von Staat und Kirche wird es sich empfehlen, diese Beziehung nicht zu lösen, denn der Staat wird sich immer gegenwärtig halten müssen, daß durch jebe außer­ ordentliche auch freiwillige Belastung der Kirchenmitglieder deren

Geneigtheit und Kraft zur Zahlung von andern öffentlichen Lasten gemindert wird. Was der Staat auf der einen Seite nimmt, kann er leicht auf der andern Seite verlieren. Diese Erkenntnis hat in Verbindung mit dem Wunsch, das Odium der Enteignung zu ver­

meiden, z. B. Frankreich bei der Trennung von Staat und Kirche veranlaßt, die ganzen durch die Abschaffung des Kultusbudgets verfügbar gewordenen Summen den Gemeinden zur Entlastung von der Grundsteuer zu überweisen, um es zu ermöglichen, daß

184 die dadurch freiwerdende private Steuerfreist für kirchliche Zwecke

betätigt werde. Derselbe Gesichtspunkt des Interesses an dem wirtschaftlichen Bestände der Kirche führt dann dazu, auch noch andere rechtliche Beziehungen des Staats zur Kirche aufrecht zu erhalten. Es sind die vielfachen Rechtsnormen, die eine Aufsicht und Mitwirkung des Staats bei der kirchlichen Vermögensverwaltung vorsehen, auch dort, wo die Verwaltung des kirchlichen Vermögens bereits in die Hand kirchlicher Behörden übergegangen ist. Nach Lösung des staatskirchlichen Verbandes werden diese Beziehungen nach den­ selben oben angegebenen Gesichtspunkten zu berichtigen sein, nach denen staatliche Aufsicht und Mitwirkung großen Selbstverwaltungs­ körpern von ähnlicher Bedeutung, z. U. den Kommunen und großen Privatgesellschaften wie Hypothekenbanken und Versicherungsgesell schäften gegenüber in Anspruch genommen wird. Auch hier sann aber nicht aus eine in Einzelheiten fest ausgeprägte Rechrsform verwiesen werden, vielmehr muß das Rechtsverhältnis immer noch individuell ausgestaltet werden. Bei allen diesen Mitwirkungs­ rechten ist ein Zusammenhang zu beachten, der darin besteht, daß in der Mitwirkung zugleich eine Hilfe und eine Kontrolle liegt. Das tritt wie bei der Beteiligung an der Steucrvermaltung z. B. auch bei der bisherigen technischen Mitwirkung in kirchlichen Bausachen hervor. In vorstehendem sind nur ganz skizzenhaft die Gesichtspunkte angedeutet, unter denen die Frage der Trennung von Staat und Kirche in rechtlicher Hinsicht anzusehen ist. Die Übersicht genügt aber wohl um zu erkennen, daß es sich hier um einen Komplex vieler organisatorischer Fragen handelt, die aufs engste miteinander zu­ sammenhängen und unabhängig voneinander gar nicht sachlich be­ antwortet werden können. Eine Veränderung der evangelischen Landeskirchen ist bedingt durch die Forderung der Trennung von Staat und Kirche. Die Art der Trennung ist aber wiederum durch die Art dieser Verfassung bedingt. Die Stellung der Kirche zum Staat kann im ganzen nur richtig beurteilt werden, wenn man die vielen einzelnen Beziehungen kennt, die zwischen staatlichen und kirchlichen Organen bisher bestanden, und alle die einzelnen Normen, die für das Verhältnis von Bedeutung sind. Die Frage

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nach der Trennung von Staat und Kirche kann also für die ein­ zelnen rechtlichen Beziehungen verschieden beantwortet werden, ein­ zelne Beziehungen können aufrecht erhalten, andere verändert, wieder andere gelöst werden. Ebenso ist die Frage nach der Streichung der Staatszuschüsse für die einzelnen Zuschüsse verschieden zu beantivorten und ihre Beantwortung hängt im ganzen von der Leistungsfähigkeit der Kirche ab, und deren Leistungsfähigkeit ist wiederum durch die Finanzverfassung bedingt, die man ihr gibt. Daraus ergibt sich für die gesetzgeberische Behandlung der Frage, daß man weder über die Trennung von Kirche und Staat ein allgemeines Gesetz aufstellen kann, ehe man zu allen Einzel­ fragen Stellung genommen hat, noch einzelne Beziehungen be­ sonders regeln kann, ohne ihren Zusammenhang mit allen übrigen geprüft zu haben. Ehe man ein Gesetz macht, sagte ein kundiger Verwaltungsmann, muß man die Ausführungsanweisung dazu fertig haben. Das gilt in besonderem Maße für die Regelung des Verhältnisses von Staat und Kirche. Geschichtliche Vorgänge be­ weisen es. Gans dieselben Bestrebungen wie die jetzigen wurden durch die Revolution im Jahre 1848 ausgelöst; die damals in der Paulskirche gehaltenen Reden könnten heute gehalten sein. Nach dem Vorbild der „Grundrechte des deutschen Volkes" in der Reichs­ verfassung von 1849 gedachte man das Verhältnis von Staat und Kirche nach dem Trennungsprinzip in der preußischen Verfassung festzulegen und bestimmte: „Die evangelische und die römischkatholische Kirche sowie jede andere Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig und bleibt im Besitz und Genuß der für ihre Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke be­ stimmten Anstalten, Stiftungen und Fonds." Dieses Gesetz be­ ruhte auf gänzlicher Unkenntnis des damals bestehenden Rechts und konnte deshalb gar keine dispositive Wirkung äußern. Eine als selbständiges Rechtsobjekt organisierte evangelische Kirche, die ihre Angelegenheiten hätte verwalten können, gab es gar nicht. Was Angelegenheiten der Kirche sein sollten, war dem Gesetzgeber selbst nicht klar, wer als Rechtsträger der Anstalten, Stiftungen und Fonds in Frage kam, wußte niemand. Alsbald entstanden die heftigsten politischen Kämpfe darüber, welche tatsächlich bestehenden Beziehungen nun eigentlich damit aufgehoben sein sollten. Man

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glaubte diesen Streit zu schlichten, indem man nach dem Vorgang der Reichsverfassung von 1849 die Bestimmung einfügte, daß „jede Religionsgemeinschaft den Staatsgesetzen und der gesetzlich ge­ ordneten Aussicht des Staates unterworfen bleibe". Auch dieser Satz fand in Hinsicht auf die einzelnen in Betracht kommenden Beziehungen die verschiedenste Auslegung, so daß sich der Staat schließlich nur dadurch retten konnte, daß er das ganze „Grund­ gesetz" aushob. Ebenso stand es mit den andern Bestimmungen der Reichsverfassung von 1849 über das Verhältnis von Staat und Kirche. Man verfügte: „Keine Religionsgemeinschaft genießt vor der andern Vorrechte durch den Staat; es besteht ferner keine Staatskirche." Dieser Satz wurde von Anhängern aller Parteien angenommen, aber eben nur deshalb, weil jeder unter Vorrechten etwas Verschiedenes verstand. Nicht anders stand es mit der gesetz­ lichen Bestimmung, daß „niemand seine religiöse Überzeugung zu offenbaren brauche"; auch diese Bestimmung war, wenn sie sich auch auf die rechtliche Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft beziehen sollte, praktisch undurchführbar, solange an die Zugehörig­ keit zu einer Religionsgemeinschaft noch irgendwelche Rechts­ wirkungen geknüpft waren. Alle solche allgemeinen Gesetze sind praktisch wertlos, meist auch schädlich. Sie berücksichtigen nicht die Kompliziertheit des Verhältnisses von Staat und Kirche, das, wie zum Schluß noch bemerkt sein mag, auch örtlich verschieden sein kann. Denn das durchschnittliche Volksempfinden, dessen Ausdruck der allgemeine Rechtssatz sein soll, ist nicht überall dasselbe; es ist ein anderes, wo die katholische und wo die evangelische Kirche herrscht, wo lebendige Scktenbildung und große ganz unkirchliche Kreise vorhanden sind, ist anders in der Großstadt und im kleinen Dorf. Ein Gesetz, das hier keine verschiedene Behandlung zuläßt, wird seine Aufgabe nicht erfüllen. Selbst bei der Regelung von ein­ zelnen Beziehungen muß man mit egalisierenden Rechtssätzen sehr vorsichtig sein. So hätte z. B. die Aufhebung der sog. Patronats­ verfassung eine ganz verschiedene Wirkung für die evangelische und ftzr die katholische Kirche. In der ersteren würde dadurch das demo­ kratische Prinzip gestärkt loerden, in der letzteren das hierarchische Prinzip. Die Vorbereitung der Gesetze über das so komplizierte Verhältnis von Staat und Kirche erfordert vor allem das gründ-

187 lichste Studium des bis jetzt geltenden Rechts in allen seinen oben angedeuteten Einzelheiten und danach die Prüfung aller Vorschläge auf ihre Tragweite und unmittelbare Ausführbarkeit. Erst dann darf man sich getrauen die künftige Rechtsstellung der Landeskirchen in den einzelnen Staaten gesetzlich festzulegen. Ein Reichsgesetz mit ausführbaren dispositiven Vorschriften würde kaum in Frage kommen. Kapitel 8.

Die Neugestaltung der klrcdenvertassung. Von Martin Schian.

Kein Zweifel: die staatliche Umwälzung muß auch eine Neu­ gestaltung der Verfassung der evangelischen Kirchen zur Folge haben. Zu eng waren Staatsregimente und evangelische Kirchen verbunden, als daß die letzteren einfach bei ihrer alten Art bleiben könnten, wenn sich die ersteren von Grund auf wandeln. Ich denke dabei nicht an die Möglichkeit, daß die zersplitterten evangelischen Kirchen Deutschlands sich zu einer Reichskirche ver­ einigen, oder daß die sieben preußischen Landeskirchen sich zu­ sammenschließen, oder daß sonstwo kleine Kirchen sich verbinden. Wenn innerhalb Deutschlands die staatlichen Grenzen sich ver­ schieben sollten, so ist noch keineswegs sicher, daß auch eine Ver­ schiebung der kirchlichen Grenzen folgen wird. Unmöglich ist sie aber nicht. Darüber hinaus kann der bereits bestehende Zusammen­ schluß der evangelischen Kirchen wohl etwas enger gestaltet werden. Auch ein innerpreußischer lockerer Verband ist möglich. An weitere und erheblichere Umgestaltungen vermag ich zunächst nicht zu glauben. Hier soll nur von der Neugestaltung der Einzelkirchen die Rede sein. Zwei Umstände werden diese Neugestaltung bestimmen: der Fortfall der Monarchien und die Entchristlichung der Regierungen. Unsere evangelischen Kirchen standen zumeist (nicht in den Hanse­ städten!) unter dem Kirchenregiment des Landesherrn. Wo er etwa katholisch war (Königreich Sachsen), war eine Art Stellver­ tretung eingerichtet. Dieses Regiment mit allen seinen Funktionen hört auf; also -. B. die Ernennung der Kirchenbehörde, die Berufung

188 von Synodalmitgliedern und die Bestellung von Kommissaren sür die Synoden, die Ernennung der Superintendenten (Dekanei und !wo sie üblich war) der Pfarrer durch den Landesherrn; desgleichen jede Mitwirkung des Fürsten bei der kirchlichen Gesetzgebung. Die Übernahme dieser Funktionen oder eines Teils derselben durch neue staatliche Instanzen ist ausgeschlossen. Verstände sich das nicht ganz von selbst, so würde es durch die Entchristlichung der Regierungen zu einer Notwendigkeit. Bisher war in den Itaatsregierungen, nicht nur in Preußen, christliche Gesinnung, mindestens kirchenfreundliche Haltung, herkömmlich. Der preußische Kultus minister mar regelmäßig evangelisch. Die künftige Staatsgestalr wird diesen Zustand schwinden machen. Die Parlamente werden starken Einfluß aus die Besetzung der Regierungen haben, wahr­ scheinlich sie geradezu vollziehen. In ihnen wird ein großer Prozentsatz von Nichtchristen und von Kirchenentsremdeten sitzen. Ähnlich wird es also auch, selbst wenn wir demokratische und nicht sozialistische Republiken bekommen, in den Regierungen sein. Damit ist gegeben, daß von irgendwelchem Einfluß der Regierungen auf die Kirchenleitung nicht mehr die Rede sein kann. In den evangelischen Kirchen wird also künftig nichts mehr „von oben" gemacht werden. Sie werben zurSelb st regier u » g überzugehen haben. Die Antivort aus die Frage, von wem diese Selbstregierung getragen sein soll, kann nicht zweifelhaft sein. Zwar deuten sich bereits Bestrebungen an, die eine hierarchische Kirchenverfassung zum Ziel haben. Die Pfarrer sollen danach die eigentlichen Träger der Kirchengewalt werden; Pfarrersynodeu und als Spitze ein mit allen Befugnissen ausgerüsteter Bischof sollen die oberen Organe bilden. Aber solche „hochkirchlichen" Neigungen haben keinerlei Aussicht auf Verivirklichung. Es ist nicht bloß der demokratische Geist der Zeit, der ihnen Halt gebietet; nein, es ist der Geist der Reformation selber. Die Reformation kennt keinen besonderen geistlichen Stand; sie hat alle Gläubigen zu Priestern gemacht. Darum stehen alle, die in das Verständnis evangelischen Mesens wirklich eingcdrungen sind, gegen jeden Versuch, ein hierarchisches Regiment einzuführen, fest zusammen. In Betracht kommen als Träger der Kirchengewalt nur die Ge­ meinden. Sie bilden, rein äußerlich angesehen, die unterste

189 Stufe des Aufbaus. Will man also davon sprechen, daß die Kirchen­ leitung „von unten" her komme, so mag man das tun. Man soll sich nur hüten, mit diesem Wort von vornherein eine üble Neben­ bedeutung zu verbinden. Will man eine Neugestaltung, die auf den Gemeinden ruht, demokratisch nennen, so kann auch das niemandem verwehrt werden. Ich sür mein Teil liebe diese Bezeichnung freilich nicht. Sie ist aus dem politischen Leben hergenommen; schon desivegen empfiehlt sich ihre kirchliche Benutzung nicht. Im politischen Gebrauch ist sie zum Schlagwort geworden und weist alle Eigen­ schaften aus, die ein solches im Kampf anzunehmen pflegt; sic ist vieldeutig und mißverständlich geworden. Vor allein aber, sie paßt nicht aufs kirchliche Leben. Nicht um den Demos in seinen Massen handelt es sich hier, sondern um die, welche Glieder der christlichen Kirche zu sein wünschen. Das ist ein mächtiger Unter­ schied. Endlich: Demo k r a t i e, Volks Herrschaft, ist schon deswegen ein falscher Ausdruck, weil es sich in der Kirche nicht um .Herrschaft handelt, sondern um den Dienst der Leitung. In welcher Form sollen die Gemeinden Träger der Kirchen­ leitung werden? Das Wort „Gemeinde" gibt darüber noch keinen deutlichen Aufschluß. Soll die Gemeinde als geschlossener, organi­ sierter Körper austreten? Oder sollen die einzelnen Ge­

mein deglieder unmittelbar Rechte üben? Darüber, daß dies letztere — mindestens in gewissem Maß — gelten muß, kann gar kein Zweifel sein. Wir haben in den meisten deutschen Landes­ kirchen bereits ein Wahlrecht der- Einzelnen für die kirchlichen Gemeiudekörperschasten. Niemandem kann es einsallen, dies Recht aufzuheben. Wohl aber erheben sich Fragen, sobald man den Kreis derer, die mit dem Wahlrecht auszustatten sind, näher umgrenzt. Tie altpreußische Landeskirche gibt — von gewissen Ausnahmen abgesehen — das Wahlrecht allen männlichen selbständigen über 24 Jahre alten Mitgliedern der Gemeinde, die bereits ein Jahr in der Gemeinde wohnen, zu den kirchlichen Gemeindelasten nach Maß­ gabe der dazu bestehenden Verpflichtung beitragen und sich zum Eintritt in die wahlberechtigte Gemeinde ordnungsmäßig ange­ meldet haben. Können diese Bestimmungen bestehen bleiben? Die Beschränkung auf die männlichen Gemeindeglieder, längst gerade auch von sehr kirchlicher Seite angefochten und sachlich nur durch

190 den Hinweis auf das allgemein geltende Herkommen zu begründen, kann, nachdem das staatliche Wahlrecht den Frauen gegeben ist und das Wahlrecht zur bürgerlichen Gemeinde dem zweifellos folgen wird, nicht mehr aufrecht erhalten werden. Die Ansetzung der Berechtigungsgrenze auf das vollendete 24. Lebensjahr ist selbst­ verständlich besser als die staatliche Ansetzung auf das 20. Lebens­ jahr. Und die Kirche braucht natürlich keineswegs falsche Wege des Staates mitzugehen. Nych weniger soll sie etwa gar eine llbertrumpfung des staatlichen Wahlrechts nach der „demokratischen" Seite hin versuchen. Also ist die Beibehaltung der bisherigen Grenze der Wahlfähigkeit sehr wohl zu rechtfertigen. Freilich müssen auch andere Erwägungen zur Geltung kommen. Kann die Grenze beim kirchlichen Wahlrecht später gelegt werden als beim staatlichen Wahlrecht? Bisher lag die kirchliche Grenze in Alt­ preußen früher als die staatliche (24 gegen 25)! Und beim staatlichen Wahlrecht hat der Zwanzigjährige sowieso über manche kirchlichen Fragen mitabzustimmen. Die Trennung von Staat und Kirche unterliegt seinem Votum! Dazu kommen dann die nicht ausschlag­ gebenden, aber doch ernsthaft zu erwägenden Rücksichten auf die durch die Ausdehnung des staatlichen Wahlrechts geschaffene Stim­ mung, besonders in der Arbeiterschaft, die eine Heraufsetzung des Berechtigungsalters schwerlich verstehen wird. Die Entscheidung ist schwierig, aber jene ersten Erwägungen brauchen keineswegs ohne weiteres zurückgestellt zu werden. Endlich die Anmeldung zur Wählerliste. Sie wird im Zusammenhang mit der anderen Frage zu prüfen sein, ob künftig vielleicht eine besondere Erklärung des Bei­ tritts zur Gemeinde gefordert werden soll. Angenommen, das wäre der Fall, so wird die Anmeldung zur Wählerliste über­ flüssig. Es gibt sehr ernste Beurteiler, die von einer solchen Er­ klärung nicht absehen zu dürfen glauben. Jetzt, wo den aus den Ge­ meinden heraus zu bildenden Leitungsinstanzen kein Gegengewicht

von oben her mehr gegenübersteht, — jetzt ist es nach ihrer An­ sicht unumgänglich, die kirchlichen Rechte auf diejenigen zu be­ schränken, die ausdrücklich bezeugen, daß sie zur Kirche gehören wollen. Ich verstehe die Motive solcher Gedankengänge vollkommen; die Sorge vor dem Einfluß innerlich kirchenfremder Massen ist dabei ausschlaggebend, und sie ist durchaus berechtigt. Dennoch

191 habe ich schwere Bedenken gegen den Plan. Wenn unsere evangelischen Kirchen Bolkskirchen bleiben wollen, so werden sie unbe­ dingt auch in Zukunft zunächst alle bisherigen Kirchenglieder, die nicht austreten, zu ihren Gliedern rechnen müssen. Die Forderung einer ErNärung des Willens, zur Kirche gehören zu wollen, stößt den Grundsatz der Volkskirchlichkeit um. Unter den Kirchengliedern aber einen Unterschied zwischen Wahlberechtigten und Nichtwahl­ berechtigten machen zu wollen, halte ich sowohl für undurchführbar wie für praktisch wirkungslos. Undurchführbar ist das: die Masse der Kirchenglieder würde, wenn rechtlos, den Zusammenhang mit der Kirche vollends verlieren; sie würde in den Zustand voll­ kommener Gleichgültigkeit, wenn nicht geradezu in die Opposition getrieben werden. Wollte aber eine kirchenfeindliche Masse ihren Einfluß zur Schädigung der Kirche benutzen, so würde ihr das auch durch die Forderung einer besonderen Willenserklärung nicht unmöglich gemacht werden. Die Agitation könnte sehr wohl Tausende solcher Erklärungen zustande bringen und damit ihr Ziel erreichen. Zur Beschreitung dieses Weges rate ich also nicht. Ich glaube auch, daß die Besorgnisse, die zu solchen Plänen führen, auf andere Weise entkräftet werden können. Ich befürworte ent­ schieden die Beibehaltung der Bestimmung, die einen Beitrag zu bett Gemeindelasten zur Voraussetzung für die Ausübung des Wahl­ rechts macht. Zwar soll derjenige, der Armenunterstützung empfSrfflt, nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen sein, wohl aber der Leistungsfähige, der nicht steuern will. Das kirchliche Steuer­

recht, das ja wohl erhalten bleiben wird, soll sehr sozial ausgebaut werden. Minderbemittelte soll es verhältnismäßig viel weniger belasten als Wohlhabende. Aber es soll grundsätzlich keinen ganz frei lassen, der einen Beitrag zahlen kann. Ob er ihn zahlen will, das soll der Prüfstein dafür sein, ob er ausreichend kirchliche Ge­ sinnung hat, um als wahlberechtigt gelten zu dürfen. Kein irgend gerecht Denkender wird an dieser Bedingung etwas aussetzen dürfen. Auch sonst lassen sich noch Bestimmungen treffen, die kirchen­ feindlicher Ausnützung des Wahlrechts begegnen. Davon wird unten noch die Rede sein. Andere Näherbestimmungen von geringerer Bedeutung über­ gehe ich. Aber die Frage heischt Beantwortung: Soll auch für

192 die Kirchenwahlen die Verhältniswahl gelten? Der diesem System zu gründe liegende Gedanke hat zweifellos sehr rasch im deutschen Volk Fuß gefaßt; er wird auch auf das kirchliche Gebiet überzuspringen suchen. Die möglichst gerechte Berücksichtigung der verschiedenen Stimmungen ist der Vorzug des Systems; mir scheint: auch für kirchliche Wahlen. Aber der Nachteil des Systems wird sich gerade in der Kirche sehr stark bemerkbar machen. Es setzt ja die Arbeit organisierter Parteien beinahe notwendig voraus. Dadurch könnte auch in ruhige Gemeinden ein Element der Zer­ spaltung hineingetragen werden, das sehr unerwünschte Wirkungen haben müßte. Immerhin, man wird die Anwendung des Ver­ hältniswahlrechts auf kirchliche Wahlen nicht ohne weiteres ab­ lehnen dürfen, eint wenigsten, wenn es auch bei den Gemeindcivahlen Eingang findet. Gewisse Erscheinungen, die jetzt bei den ersten politischen Wahlen nach der Revolution zu beobachten waren, werden ja auch allmählich an Ächärfe verlieren; dafür wird schon die Häufigkeit der Wahlhandlungen (Reichswahlen, Bundesstaatsivahlen, Gemeindewahlen, Kirchcnwahlen) sorgen. Wie soll nun auf dem Wahlrecht der einzelnen Gemeindeglieder eine kirchliche Verfassung aufgebaut werden? Kein Zweifel kann darüber bestehen, daß die Organe der Gemeindeleitung un­ mittelbar von den Gemcindeglicdcrn zu wählen sind. Das ist ja bisher schon Recht geivescn. Nur in einer Beziehung bestanden abiveichende Bestimmungen, die in der Theorie unbedeutend erschienen, in der Praxis aber einschneidend wirkten. In manchen Landes­ kirchen, z. B. in Altpreußen, wurden Vakanzen in der weiteren Gemeindevertretung zunächst durch Wahl der vereinigten kirchlichen Gemcindekörperschaftcn ausgefüllt. Bei den Kirchenwahlen waren daher freie Plätze kaum zu besetzen; und, da man in kleinen Ver­ hältnissen nur ungern die Inhaber der Sitze herauswählt, so gctvannen die Hauptwahlen in der Regel lediglich den Charakter einer Bestätigung der gegebenen Verhältnisse. Dieser Umstand hat nach meiner Überzeugung zur Ertötung des Interesses für die Kirchenivahlen sehr viel beigetragen. Hier muß eine Änderung eintreten. Vakanzen müssen unausgefüllt bleiben, bis allgemeine Wahlen stattfinden. Diese aber iverden dann wohl etwas häufiger als

bisher anzusetzen sein.

193 Wichtig ist auch die Frage, ob das passive Wahlrecht für diese Organe an bestimmte Voraussetzungen zu binden sei: kirch­ liche Haltung usw. Man muß damit rechnen, daß solche Bestim­ mungen scharfem Widerspruch begegnen werden. Dennoch kann ich sie nicht für unberechtigt halten. Die Dinge liegen eben auf kirchlichem Gebiet anders als auf staatlichem. Wohl darf nicht etwa in engherziger Weise Gesinnungsspionage getrieben werden; auch ist sorgfältig darauf zu achten, daß nicht Richtungswünsche sich hier durchsetzen. Aber daß die zu Wählenden sich zum min­ desten nicht kirchenfeindlich betätigt haben dürfen, das darf man wahrlich fordern. Mir scheint auch die andere Forderung nicht

unberechtigt, daß sie die kirchlichen Handlungen für sich und ihre Kinder in Anspruch genommen haben müssen. Die Maßstäbe müssen nur einwandfrei und klar sein; dann ist gegen ihre Geltend­ machung nichts zu erinnern. Lieber würde ich einer Gleichsetzung der Wahlberechtigungsgrenze mit dem staatlichen Wahlrecht das Wort reden als einem völligen Fortfall dieser Beschränkung des passiven Wahlrechts. Auch die Altersgrenze für die zu Wählenden ist höher anzusetzen als die für die Wähler. Die kirchlichen Gemeindekörperschaften werden ähnlich den bisher bestehenden Ordnungen zu bilden sein. Eine Heinere Körperschaft, die die laufenden Geschäfte besorgt, und eine größere, die in wichtigeren Fragen beschließt, müssen nebeneinander bestehen bleiben. Auch die Bemessung der Stärkeverhältnisse kann ungefähr so bleiben, wie sie meist ist. Die weitere Gemeindever­

tretung mag etwa den dreifachen Umfang des Kirchenvorstands (Gemeindekirchenrats) haben. Dringend aber erhebt sich die Frage, ob nicht neben den Kirchenvorstand noch ein anderes Gemeindeorgan zu setzen ist. Der Kirchenvorstand (Gemeindekirchenrat, Kirchen­ gemeinderat) soll nach dem Buchstaben der Kirchenordnung auch für den religiösen und sittlichen Aufbau der Gemeinde sorgen. Tatsächlich tritt aber diese Aufgabe für ihn fast regelmäßig hinter den äußeren Verwaltungsgeschästen ganz zurück. Ich fürchte, daß dieser Zustand kaum zu beseitigen sein wird, wenn man nicht die Ordnung ändert. Man muß eben für die Verwaltungsgeschäfte besonders befähigte Personen wählen; der Gesichtspunkt der prakti­ schen Arbeitsmithilfe am inneren Gemeindeleben muß bei der Wahl Revolution und Kirche.

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194 zurückstehen; so steht er nachher auch in der Wirksamkeit der Ge­ wählten zurück. Wäre es nicht richtig, auf die Vorschläge, die schon früher gemacht wurden, zurückzugreifen und — wenigstens in größeren Gemeinden — neben den Kirchenvorstand eine zweite kleine Körperschaft zu setzen (Presbyterium, Arbeitsausschuß, an, allerbesten „G e m e i n d e p f l e g e" genannt), die nur das innere, religiöse und sittliche Leben der Gemeinde als Gegenstand ihrer Arbeit zugewiesen bekäme? Eine gewisse Verbindung mit dem Kirchenvorstand würde der Geldmittel wegen nötig, aber auch leicht herstellbar sein. Man kann einwenden, daß der Pfarrer durch

das Nebeneinander dieser beiden Körperschaften übermäßig belastet würde, namentlich wenn ihm auch noch die Leitung der Gemeinde­ vertretung bleibt. Aber wollen wir bei der Neuordnung der Dinge wirklich dem Pfarrer den Vorsitz in allen Gcmeindeorganen grund­ sätzlich vorbehalten? Beanspruchen darf er ihn jedenfalls für die „Gemeindepslege"; da handelt es sich um sein eigenstes seelsorgerliches Gebiet. Dagegen wird ihm die Verantwortung für die bloßen Berwaltungsangelegenheiten sehr wohl abgenommen werden können. Ich möchte nicht dafür stimmen, daß er unter keinen Umständen die Leitung dieses Ministeriums der äußeren Angelegenheiten haben soll. In zahlreichen Dorfgemeinden wird sich nach wie vor auch die Führung der Geschäfte durch ihn nahelegen. Aber die feststehende Ordnung braucht das nicht zu sein. Wo ein geeignetes Gemeindeglied zu finden ist, kann der Pfarrer vom Vorsitz be­ freit und so entlastet werden. Es wird auch sehr heilsam sein, wenn Kirchensteuerbeschlüsse und -Zustellungen sowie andere ver­ mögensrechtliche Schriftstücke, namentlich solche, die beim Empfänger minder angenehme Empfindungen auslosen, nicht die Unterschrift des Pfarrers tragen. Auch der Vorsitz in der weiteren Gemeinde­ vertretung braucht nicht notwendig in seiner Hand zu liegen. Es wird auch ernsthaft zu erwägen sein, ob die preußische Ordnung, wonach diese Gemeindevertretung nur in Gemeinschaft mit dem Gemeindekirchenrat tagt, aufrecht zu erhalten sein wird. Die größere Körperschaft wird dadurch zur Unselbständigkeit und infolgedessen zur Unlust verurteilt. Man wird ihr getrost ein Eigenleben zu­ billigen dürfen, dann aber auch einen eigenen Vorsitzenden. Natür­ lich wird der Apparat auf diese Weise etwas verwickelter; auch sind

195 Reibungen leichter möglich. Es mag auch sein, daß mancher Pfarrer dabei die Empfindung haben wird, daß sein Einfluß in der Ge­ meinde geschädigt werden könnte. Aber wenn die Selbstbetätigung der Gemeinde auf diese Weise gehoben werden kann, so darf die Sorge vor Reibungen nicht schrecken. Die verschiedenen Faktoren, deren Zuständigkeiten freilich sorgfältig umschrieben werden müssen, werdm sich in der Praxis miteinander einarbeiten. Die Pfarrer aber werden daran denken müssen, daß wir den Schrei nach Be­ seitigung der Pastorenkirche schon sehr lange und sehr laut haben erklingen hören, und daß wir seine Berechtigung immer haben rück­ haltlos anerkennen müssen. Wir können aber nicht von der Pastorenkirche loskommen, wenn die Pastoren die gesamte Leitung

der kirchlichen Angelegenheiten in der Land behalten wollen. Auch in diesem Stück muß ich die Erörterung zahlreicher und keineswegs ganz unwichtiger Einzelheiten unterlassen. Nur eins noch: daß die Frau das passive Wahlrecht für die Gemeindeorgäne künftig nahezu in gleicher Weise haben muß wie der Mann, wird als ausgemacht gelten dürfen. Höchstens kann für den verwaltenden Kirchenvorstand das Recht der Frau enger begrenzt werden; in die Gemeindepflege gehört sie so gut hinein wie der Mann; und auch in der Gemeindevertretung wird man ihr Sitz und Stimme geben müssen.

Der so geordneten Gemeinde ist die Verwaltung ihrer eigenen Angelegenheiten, also die Selbstverwaltung, zuzubilligen. Es wird die Regel sein müssen, daß ihr in allen nur gemeind­ lichen Dingen die Entscheidung zustehen muß. Andererseits ist selbstverständlich, daß die Zugehörigkeit zum Organismus einer Gesamtkirche gewisse Beschränkungen des Eigenrechts zur Folge

haben muß. Die Gemeinde lehnt sich an die Gesamtkirche an; so muß sie ihr auch Rechte zugestehen. Im einzelnen kann das hier nicht ausgeführt werden.') Nur von einem wichtigen Recht muß kurz die Rede sein: vom Recht der Pfarrwahl. Die Pfarrwahl durch die Gemeinde gilt in der Regel als selbstverständlicher Be­ standteil jeder Selbstverwaltung. Auch ich bin der Meinung, daß

*) »gl. meinen Aussatz, „©nylgemetabe und GrsamMrche". Deutsch-evangelische »mit« 1606. S. 462 ff.

196 die Gemeinde bei der Wahl ihrer Pfarrer den Ausschlag geben soll. Aber um ihrer Einfügung in die Gesamtkirche wie um des Pfarrer­ standes dieser Kirche willen, dessen wissenschaftliche Durchbildung, dessen Dienstfreudigkeit und möglichst praktische Verwendung nicht Staats-, sondern auch Kirchen- und Gemeindeangelegenheiten sind, wird auch für die Pfarrwahl der Kirchenleitung eine gewisse Mit­ wirkung eingeräumt werden müssen.1) Welche oberen Stufen bauen wir nun, um eine Gesamt­ kirche zu erhalten, auf den Gemeindeverfassungen aus? Die Ge­ meinden müssen irgendwelche Vertretungskörper wählen, denen die höchsten Befugnisse zustehcn. Sollen die Gemeinden sie durch ihre Gemeindeorgane wählen? Oder soll direkte Urwähler­ wahl eintreten? An dieser Frage werden vermutlich in aller­ nächster Zeit sehr lebhafte Gegensätze erwachsen. Grundsätzlich kann man sic dadurch zu entscheiden suchen, daß man die Gemeinden gleich­ sam als geschlossene Gesamtkörper ansieht, die aus freiem Willen

ihre Zugehörigkeit zu einer Kirche erklären und die nun auch als solche Gcsamtkörper Einfluß üben. Das ist ja bisher das übliche. Aber ob es dabei bleiben kann? Die wichtigste Funktion der eigentlichen Kirchenleitung würde dann durch Vertreter ausgeübt, die von den Gemeindeorganen in geschlossener Sitzung gewählt würden. Die Minderheiten würden ausgeschaltet werden; denn eine Verhältniswahl ist dabei kaum denkbar. Gegen solche Wahl­ methode ist aber das Empfinden unserer Volksgenossen heute sehr kräftig eingenommen. Bedenken gegen unmittelbare Urwählerwahl sind in nicht geringem Umfang vorhanden; das gewichtigste be­ steht in der Sorge vor dem Einfluß unkirchlicher Massen. Ich ver­ weise demgegenüber auf meine obigen Ausführungen über das aktive und passive Wahlrecht. Bisher haben nach den Kirchenordnungen die Pfarrer An­ spruch auf eine beträchtliche Anzahl der Sitze in den Synoden. Dadurch ist deren Zusammensetzung zu einem guten Teil von vornherein bestimmt. Die Beweggründe für diese Maßregel liegen zutage. Neben dem Wunsch, das theologisch-sachverständige Ele*) Vgl. meine Aussätze über die Besetzung der Pfarrstellen Preußische Kirchen­ zeitung 1908. S. 356 ff, 371 ff, 465 ff, 481 ff.

197 ment zur Geltung zu bringen, war die Sorge vor dem Eindringen oder doch dem Einfluß solcher Männer bestimmend, für deren Wahl etwa nicht kirchliche Interessen ausschlaggebend gewesen sein könnten. Diese Sorge ist nicht ganz ohne Grund. Ich meine daher auch nicht, daß auf eine Bestimmung, die einer Anzahl von Pfarrern in der Landessynode Sitz und Stimme sichert, ganz Verzicht ge­ leistet werden sollte. Aber in dem Umfang, wie bisher, wird die Mitgliedschaft der Pfarrer nicht aufrecht zu erhalten sein. Sonst bleiben wir wieder bei der Pastorenkirche, die doch unbedingt der Gemeindekirche weichen muß. Über ein Sechstel aller, höchstens ein Viertel der Gesamtzahl darf die Zahl der für Theologen gesicherten Sitze nicht hinausgehen. Auch sie sind durch Urwahley zu wählen; freilich wird die Wahl von Pfarrern neben Nichttheologen die Wahl etwas schwierig gestalten. Einwände dagegen, daß über­ haupt einer Anzahl von Pfarrern von vornherein ein Sitz in der Gesamtsynode zugebilligt wird, liegen nahe. Aber ein Hinweis auf die Kirche der wesleyanischen Methodisten, die das Element der Diener am Wort in der Verfassung so sehr stark zur Geltung kommen läßt, wird manchen Einwand entkräften. Jetzt bestehen über der Gemeindestufe in den Heineren Landes­ kirchen zwei, in Altpreußen drei Stufen von Synoden: Kreis(Dekanats-)synoden, (Provinzialsynoden), Landes- oder General­ synode. Soll es so bleiben? Die Kreissynode unterliegt fast überall schärfster Befehdung. Im Osten wie im Westen hört man das Wort von ihrer ,,organisierten Bedeutungslosigkeit". Nimmt man ihr das Recht der Wahlen für die oberen Synoden, so wird diese Bedeutungslosigkeit vollkommen. Ich stimme für Aufhebung der Kreissynoden als Verfassungskörper. Aber ich befürworte um so mehr die Einrichtung von Beratungsgemeinschaften der Vertreter der Kirchengemeinden eines engeren Bezirks, der Pfarrer wie der Ältesten. Dabei mag der gesamte amtliche Schematismus fortfallen,

der jetzt diese Synoden beherrscht und der sie oft so unfruchtbar macht; zwanglose Besprechung dringender gemeinsamer Fragen soll den Inhalt bilden; gemeinsame Arbeiten mögen sich, wo die Verhältnisse dazu drängen, daraus entwickeln. Die preußischen Provinzialsynoden werden in irgend einer Form bleiben müssen. Eine Provinz ist schon dem Umfang

198 nach so groß und bedeutsam; sie bedeutet auch als geschlossene Interessengemeinschaft so viel, daß ihr eine besondere Vertretung zuzubilligen ist. Freilich gilt das nur für den Fall, daß ein Groß­ staat Preußen und in ihm die altpreußische Landeskirche wenig­ stens einigermaßen in ihrem gegenwärtigen Bestand erhalten bleibt. Wird der preußische Staat nach den phantastischen, jedes geschicht­ lichen Sinns ermangelnden Plänen der neuesten Reformer zer­ teilt, so wird die Lage sich möglicherweise auch für die Kirche ganz anders gestalten. In kleineren Kirchen besteht keine Veranlassung zur Einschiebung einer im eigentlichen Sinn synodalen Instanz zwischen Gemeinde und Landessynode. Bleibt aber in einer gröberen Kirche eine solche bestehen, so ist ihr Verhältnis zur Landessynode klar dahin zu regeln, daß die Gesetzgebung nicht bei der Mittelinstanz, sondern allein bei der obersten Instanz liegt. Der Provinzialsynode würde nur die Regelung solcher Fragen der Provinzialkirche vorzubehalten sein, die von der Gesetzgebung der Landessynode nicht betroffen sind. Und von daher wird es sich empfehlen, jener überhaupt nicht den Charakter einer aus besonderen Urwahlen hervorgegangenen gesetzgebenden Versamm­ lung zu geben, sondern den eines Rates von Vertrauensmännern. Das einfachste wäre, wenn die in je einer Provinz zu Mitgliedern der Landessynode gewählten Abgeordneten für sich zu solcher Provinzialversammlung zusammenträten. Bon außerordentlicher Wichtigkeit ist die künftige Landessynode. Sie bedeutet die gesetzgebende Instanz. Zugleich liegt in ihrer Hand die oberste Aufsicht über die sämtlichen Organe der Kirche. Sie entscheidet über die Organisation der kirchlichen Organe; sie wählt die Mitglieder der obersten kirchlichen Behörden. Sie nimmt deren Rechenschaftsbericht entgegen; sie kontrolliert ihre Amtsführung; sie beschließt Richtlinien für ihre Stellungnahme. Sie faßt die Steuerbeschlüsse und sichert ihre Durchführung. Sie muß auch über die Zugehörigkeit von Gemeinden entscheiden, die sich den Gesamtordnungen nicht fügen wollen. Sie bestimmt über die Stellung der Kirche zum Staat und zu anderen Kirchen. In ihrer Hand liegt die Regelung der Lehrfragen und der Vorbildung der Pfarrer. Eine Hauptschwierigkeit wird die Abgrenzung der Befugnisse

199 der Gesamtsynode gegenüber den Einzelgemeinden bilden. Wie der Kirchenaustritt des Einzelnen, so wird auch das Ausscheiden ganzer Gemeinden aus dem Kirchenverband in Zukunft erheblich leichter sein als bisher, und damit wird die Neigung der Gemeinden wachsen, den eigenen Willen durchzusetzen. Die richtige Mitte zwischen Souveränität und Willenlosigkeit der Einzelgemeinde zu finben wird nicht leicht sein. Man wird mit der Selbstverwaltung der Gemeinden unbedingten Ernst machen müssen; nicht eine Haaresbreite weiter wird in allen äußeren Fragen die Gemeinde einzuschränken sein, als der Zusammenschluß der Gesamtkirche das fordert. Aber wo dieser Zusammenschluß es fordert, muß aller­ dings der Gesamtsynode auch die Möglichkeit gegeben sein, die Notwendigkeiten, die sich daraus ergeben, der Einzelgemeinde gegen­ über durchzusetzen. Der Landessynode steht die Einsetzung der Leitungs- usw. Organe der Gesamtkirche zu. Sie wird einen Oberkirchenrat wählen müssen, der alle laufenden Geschäfte führt. Seine Mitglieder werden, wenigstens teilweis, hauptamtlich angestcllt sein müssen. Es empfiehlt sich vielleicht, die Wahl (wie jetzt z. B. bei Bürger­ meistern) nur auf eine begrenzte Wahlperiode zu erstrecken. Juristen müssen zum Oberkirchenrat gehören, und ebenso sind Theologen unentbehrlich. Aber das Kollegium soll nicht allein aus Juristen und Theologen zusammengesetzt sein. Vielmehr soll es möglich sein, auch Männer aus anderen Berufen zur Mitarbeit zu veranlassen. Am besten so, daß neben hauptamtliche Mitglieder, die dann wohl Theologen und Juristen sein müßten, auch Mitglieder im Nebenamt gesetzt werden, die weder Juristen noch Theologen sind. Nicht ganz einfach ist die Frage des Vorsitzes in dieser Behörde zu lösen. Nicht wenige wünschen einen Theologen an die Spitze, vielleicht mit dem Bischofstitel. Die Möglichkeit, einen Theologen zum Präsidenten zu machen, muß auch nach meiner Meinung gewahrt bleiben; aber es scheint mir fraglich, ob nicht besser auch in dieser Beziehung Freiheit gelassen würde. Auf alle Fälle muß ein Theo­ loge zu dieser Behörde gehören, der gleichsam als Bischof für die gesamte Kirche bestellt wäre, dem die unmittelbar praktische An­ leitung und Anregung zukäme. Weil es sich bei Besetzung dieser Ämter um die schwierigsten und ernstesten Personalfragen handelt.

200 ist dem Vorstand der Landessynode ein Vorschlagsrecht einzu räumen. Nur so können Zufallswahlen, die unter Umständen ver­ hängnisvoll wirken könnten, ausgeschlossen werden. Sehr wichtig ist, daß der Aufgabenkreis dieser Behörde richtig bestimmt wird. Bisher hatte die oberste Kirchenbehörde viel zu aus­ schließlich Verwaltungsbefugnisse. In Zukunft wird die Verwal­ tung zwar notwendig bleiben, aber die Kirche wird in ganz anderem Maße als bisher eine Arbeitsgemeinschaft bilden müssen Das muß auch in dem Aufbau der Oberleitung zum Ausdruck kommen. Ich möchte — ohne mich auf diesen Vorschlag festzu­ legen — eine Lösung zur Beachtung empfehlen, die mir inanche Vorteile zu haben scheint. Mehreren Mitgliedern der Oberleitung sollte je ein Arbeitsgebiet der Kirche als Sonderbereich zugewiesen werden; jedem wären ehrenamtlich eine Reihe von Persönlichkeiten beizugeben, die teils der Landessynode angehören, teils als Sach verständige aus dem Kreise der Spezialarbeiter des fraglichen Ge­ biets zugezogen werden. Sie alle bilden einen Ausschuß, der nicht bloß die Aufgabe hat, freundlich zuzusehen, sondern dem selbst die Pflicht der Arbeit zusteht. Als solche Einzelgebiete nenne ich die Gemeindeorganisation, die Gemeindepflege, die Jugendpflege, die Gottesdienste, die Heidenmission, die Innere Mission (vielleicht ebenso wie die Gemeindepflege in mehrere Gebiete zu teilen). In diese Ausschüsse würden auch Frauen zu berufen sein. Haß der Oberkirchenrat der Landessynode verantwortlich sein muß, versteht sich. Ebenso selbstverständlich ist, daß die Landes­ synode unmöglich auf kurze Sitzungsperioden in großen Zeitab­ ständen beschränkt werden kann. Da aber der Apparat der Landes­ synode ziemlich umfangreich und teuer sein wird, so muß der Vor­ stand der Synode (vielleicht ein zu diesem Zweck erweiterter Vor­ stand) den Auftrag erhalten, die nicht versammelte Synode gegen­ über dem Oberkirchenrat zu vertreten. Das sind in ganz großen Zügen die Grundlinien für einen Neubau der Kirchenverfassung. Eins möchte ich zum Schluß noch hervorheben. Eine nach allen Richtungen ideal arbeitende Ver­ fassung zu schaffen ist nicht wohl möglich. Eine verfaßte Kirchen­ gemeinschaft ist ein Organismus, der mit den Formen dieser Welt rechnen muß. Sie ist nicht „die Kirche Christi", sondern ein Werk-

201 zeug zum Bau des Reiches Gottes. So muß sie denn auch die Un­ vollkommenheit tragen, die allem Menschlichen innewohnt. Es wird sich vielleicht empfehlen, die neue Verfassung zunächst gleichsam probeweise auf eine gewisse Zahl von Jahren einzuführen und sie nachher einer Revision zu unterziehen. So wird sich allmählich derjenige Stand herausbilden, der der annähernd beste genannt zu werden verdient.

Kapitel 9.

VolksMrcbenrflte,

Volkshlrcbenbunb,

Volhshlrtbenblenft

Von Otto Dibelius.

Seit Jahrzehnten geht durch die evangelische Kirche Deutsch­ lands die Klage, ^daß sie nicht volkstümlich, daß sie wohl dem

Namen, nicht aber der Wirklichkeit nach eine Volkskirche sei. Ob sie das überhaupt jemals gewesen ist im vollen Sinne des Wortes — darüber gehen die Meinungen auseinander. Nie sind die Klagen darüber verstummt, daß die Kirchen leer, die Pfarrer mißachtet, Gottes Wort und Luthers Lehre vernachlässigt seien. Immerhin: zu einer Zeit, wo die Kirche mit ihrer Predigt die einzige Trägerin geistiger Nahrung für die große Menge war, wo kirchliches und bürgerliches Leben ineinander flössen, wo an den Festtagen eine dichtgedrängte Menge den Wechselchören der Schulkinder lauschte und keine Familienfeier denkbar war ohne die Mitwirkung der Kirche, da hat der Protestantismus in deutschen Landen wohl ein kirchliches Leben gehabt, das man als volkstümlich wird bezeichnen dürfen. Im 19. Jahrhundert ward das anders — ganz anders. Warum? — das kann hier nicht erörtert werden. Genug: das Bürgertum der deutschen Städte entfremdete sich der Kirche. Die mächtig emporstrebende Arbeiterschaft stand ihr von Anfang an ablehnend, ja feindselig gegenüber. Die kirchliche Sitte schränkte sich ein auf kleine Kreise innerhalb des großen Volkes. Auch die Erweckungsbewegung der ersten Jahrhunderthälfte vermochte nur einen Bruchteil des Volkes zu erreichen. Kirchliche Kunst und gottesdienstliches Leben wandten sich rückwärts zu Formen ver­ gangener Zeiten. Der Strom des Volkslebens flutete nicht mehr durch die Kirche hindurch; er flutete an der Kirche vorbei.

202 Daran konnte auch die Schaffung einer neuen kirchlichen Verfassung nichts ändern. Die Kirche hatte den Willen, nicht länger Pastorenkirche zu sein. Sie wollte die Gemeindeglieder heranziehen zur Mitarbeit und Mitverantwortung. Das der Sinn der Gemeinde- und Synodalordnung von 1873 für die östlichen Provinzen Preußens mit ihrem demokratischen Wahlrecht, mit ihrem Aufbau synodaler Körperschaften. Große Hoffnungen be­ gleiteten dies Gesetz. Die Hoffnungen wurden zuschanden. Die Beteiligung der Gemeinde an den Wahlen zu den kirchlichen Körperschaften erwies sich als erschreckend gering. An manchen Orten kamen nicht einmal so viel Wähler zur Urne, als die Gemeinde Repräsentanten besaß. Kreissynoden, Provinzial­ synoden, Generalsynoden — das blieb für das Volk ein leerer Begriff, das blieben unbekannte Namen. Daß es kirchliche Be­ hörden gab, daran pflegte man sich nur zu erinnern, wenn es sich zu beschweren galt über mißliebige Pfarrer und über mißbilligte Kirchensteuern. So stand es im Osten Preußens. Im Westen und in den übrigen Landeskirchen stand es nicht viel anders. Zwar hatten die Synoden, hatte vor allem das Amt der Ältesten im Westen von

altersher ein anderes Gewicht als im Osten. Wer einmal einen Rheinländer voll Stolz hat erzählen hören, daß er sein 25 jähriges Presbyterjubiläum gefeiert habe, der hat etwas davon gespürt, in was für einem Ansehen dieses Amt in den westlichen Provinzen steht bis auf den heutigen Tag. Und doch: die Entfremdung der großen Massen von der Kirche hat an der Porta Westfalica nicht Halt gemacht. Schließlich bietet sich überall dasselbe Bild: eine Kirche — nicht arm an Leben, nicht arm an Einfluß, nicht arm an Wirkung auf Volksleben und Staat, aber arm an Volkstümlich­ keit, arm an lebendiger Teilnahme ihrer Glieder für das große Ganze, zu dem sie gehören. Nur eine Form des kirchlichen Lebens hat von jeher eine gewisse Volkstümlichkeit besessen: das waren die Vereine der Kirche mit Einschluß der kirchlichen Gemeinschaften. Die großen Missions­ feste, namentlich in früheren Jahrzehnten, waren Volksfeste in des Wortes bester Bedeutung. In den Vereinen des Evangel. Bundes, der Gustav Adolf-Stiftung und anderer großer Verbände

203 pulsierte vielfach ein Leben, das dem der großen katholischen Volks­ vereine nahe kam. War es der Umstand, daß hier die „Laien" Tätigkeit und Einfluß fanden, wie sie ihnen das feste Gefüge des kirchlichen Lebens nicht bot, war es das, daß man sich hier frei und ungezwungen zusammenfand und Freundschaft und Gemein­ schaft zu ihrem Rechte kämm — gmug: in den Vereinen fand sich mehr und mehr ein gut Teil echten kirchlichm Lebens. Und hier fand die evangelische Kirche auch, was sie in ihrem offiziellm Leben nicht findm konnte: den Weg zur volkstümlichm Form und zur fröhlichm Teilnahme des kirchlichen Volks an den großen Aufgaben des deutschen Protestantismus.

*

*

*

Da kam der 9. November 1918. Das Sturmsignal der Revo­ lution gellte durch die deutschm Lande. Auch die evangelischen Kirchen Deutschlands erzitterten unter den Erschütterungen dieser schicksalsschweren Tage. Und in den Herzen derer, die an ihrer Kirche hingen, blitzte die Überzeugung auf: nun ist auch für die Kirche neue Zeit! Nun muß aus dem unvolkstümlichen Bau der früheren Tage endlich, endlich eine wahre, freie, kraftvolle Volks­ kirche erstehen! Zweierlei wirkte zusammen. Bei denen, die die Revolution als dm Anbruch freierer, besserer Tage begrüßten, der Gedanke: auch die Kirche muß teilhaben an dem Geschenk des neuen Geistes! Wie int Staat, so muß auch in der Kirche von unten her das Neue kommen! Wir dürfen die Frühlingsstunde, die unwiederbring­ liche, nicht verschlafen! Bei den anderen, die in der Revolution einen Verrat an der deutschen Vergangenheit, eine furchtbare Gefahr für die deutscheZukunft sahm, führte mtgegmgesetzte Besorgnis zu dem gleichm Ziel: wir muffen die Kirche retten vor der Zerstörung durch dm neuen Geist! Und nur dann werdm wir sie retten, wenn wir uns Mann für Mann und Frau für Frau um unsere Kirche scharm, >vmn das Volk seine Kirche wiederfindet und die Kirche ihr Volk. Um das Erbe der Vergangenheit zu wahren, müssen wir eine Volkskirche haben! Und die Revolution selbst tat ein übriges. Die großen Revolutionm sind immer kirchenfeindlich gewesen. Hin und her haben

204 sie kirchlichen Minderheiten die Freiheit gebracht — die prote­ stantische Kirche Frankreichs feiert noch heute die große Revo­ lution als die Geburtsstunde ihrer Freiheit —; aber den großen, bevorrechtigten Kirchen traten sie immer entgegen in kirchenfeind­ lichem Geist. Auch durch die deutsche Revolution von 1918 klang ein Nachhall von Friedrich Herweghs Kampfgesang: „Reißt die Kreuze aus der Erden!" In Preußen bestieg Adolf Hoffmann den Stuhl des Kultus­ ministers, Adolf Hoffmann, dessen Lieblingsreden die Überschrift trugen: „Warum sind wir gottlos?" In Sachsen erklärte der neue Kultusminister Buck, Hoffmanns Gesinnungs- und Partei­ genosse, daß alle Leistungen des Staates für die Kirche kurzer­ hand aufhören werden. In Braunschweig feierte der Pöbel tumultuarische Weihnachten im alten, ehrwürdigen Dom. Unter dem Schlagwort: Trennung von Staat und Kirche! fanden sich alle

Sozialisten zusammen. Und die Reden der Minister, die neuen Verordnungen in Hamburg und in Preußen, in Braunschweig und in Sachsen zeigten zur Genüge, in welchem Sinne dies vieldeutige Schlagwort gemeint sei. Es ging für die Kirche um Tod und Leben. Kein Wunder, wenn sie sich rüstete zum Kampf! Kein Wunder, wenn die Geister aus den verschiedensten Lagern einander die Hand reichten zu gemeinsamer Arbeit! Kein Wunder, wenn eine Volkskirchenbewegung entstand, an den verschiedensten Stellen zu gleicher Zeit, in gleicher Absicht, in gleichem Geist! Wir überschauen, was geschah. ♦ * ♦ Professor Rade in Marburg und Pfarrer Gay in Chemnitz riefen auf zur Bildung von „Volkskirchenräten": „An unsere protestantischen Volksgenossen! In den allgemeinen Zusammenbruch des bisherigen Systems sind die protestantischen Landeskirchen mit hineingerissen. Die Religion wird davon nicht Schaden leiden. Aber auch Religions­ gemeinschaft soll bleiben. Wir sind in der Bildung eines Volkskirchen-Rats begriffen. Man bilde an vielen Orten solche Räte und setze sich mit uns in Verbindung." Als Programm wurden vor allem folgende Punkte aufge­ stellt:

205

„Trennung von Kirche und Staat — ja. Aber wir fordern «ine anständig bemessene Übergangsfrist und für uns Kirchenchristen das Mitbestimmungsrecht bei Neuordnung der Verhältnisse: eine deutsche Kirchenversammlung! Die evangelische Kirche gründet sich auf die religiöse Gleich­ berechtigung aller ihrer Glieder (allgemeines Priestertum auch der

Laien). Die konfessionellen und territorialen Verschiedenheiten wird sie auch in ihrer neuen Verfassung mit Ehrfurcht und Rücksicht be­ handeln. Aber diese Verfassung soll für das ganze deutsche Vater­ land ihre einheitliche Form finden. Wir brauchen als dauernde Grundlage unseres Verfassungs­ lebens eine einheitliche Reichssynode, die hervorgeht aus allge­ meiner direkter und geheimer Wahl durch eingeschriebene Gemeinde­ glieder (Männer wie Frauen, mit vollendetem 20. Lebensjahr). Die Gemeindekörper, innerhalb deren sich diese Wahlen voll­ ziehen sollen, sind die bis heute bestehenden Gemeinden, gleichviel ob landeskirchlicher oder sonderkirchlicher Herkunft, im Deutschen Reich. Wie wir uns die weitere Entwicklung des deutschen evan­ gelischen Religionswesens vorstellen, darüber werden weitere Vor­ schläge Auskunft geben. Zur Erreichung eines gedeihlichen Zu­ standes werden wir gern mit jeder andern Instanz gleichen Willens Zusammenarbeiten." Professor Titius in Göttingen gründete einen „Volks­ kirchenbund". Die erste und nächste Absicht dabei war, die Kirche vor gewaltsamen Eingriffen des Staates zu schützen, die Kandidaten der politischen Parteien vor die Frage zu stellen, ob sie für eine wohlwollende Behandlung der Kirche eintreten wollen, durch eine Konferenz von Delegierten aus dem Reich im Verein mit den großen kirchlichen Verbänden die Forderungen der Kirche für die Nationalversammlung festzustellen und vor allem die Einzel­ gemeinden zu mobilisieren und in politisch verwendbare Formen zu überführen. So trat der Volkskirchenbund zusammen und formu­ lierte sein Programm: „1. Vertretung des evangelischen Glaubens im öffentlichen Leben, insbesondere Überleitung der Staatskirchen in staatsfreie

206 Kirchen unter Wahrung der kirchlichen Lebensinteressen. 2. Um­ gestaltung der Kirchen in wahre Volkskirchen und Pflege des kirch­ lichen Lebens. 3. Bekämpfung kirchenfeindlicher Bestrebungen und öffentliche Mission an den der Kirche Entfremdeten. In Überbietung der demokratischen Forderungen soll Mitglied jeder konfirmierte Christ beiderlei Geschlechts werden können. Ein fester Beitrag muß ausgeschlossen sein, damit alle Konfirmierten Einer Familie beitreten können; nur so läßt die große Zahl sich erreichen, die wir gebrauchen. Die treue und energische Mitarbeit der Pastoren als der kirchlichen Berufsarbeiter ist selbstverständlich; aber sie müssen die Selbstverleugnung üben, bei den Vorstands­ wahlen zurückzutreten, sobald andere geeignete Kräfte vorhanden sind. Denn es liegt alles daran, daß das Ganze den Charakter eines Laienbundes erhält. Die Organisation des Bundes muß sich der Gliederung der Wahlkreise für die Nationalversammlung anschließen." In Berlin bildete sich ein „Volkskirch en dienst", der in sieben Ausschüssen das ganze Gebiet des kirchlichen Lebens in Angriff nahm: 1. Ausschuß zur Behandlung der Frage des Verhältnisses von Kirche und Staat, 2. Ausschuß für kirchliche Versassungssragen, 3. Ausschuß für Jugendunterricht, 4. Ausschuß für Belebung der Einzelgemeinde, 5. Ausschuß für soziale Wohlfahrtspflege, 6. Ausschuß für volkstümliche Verkündigung des Evangeliunis

durch Wort und Schrift, 7. Ausschuß für internationale, interkonfessionelle und litische Beziehungen. Daneben mangelte es nicht an anderen Formen des neu regenden Lebens. Vor allem sei der Treuerklärungen wähnung getan, mit denen zahlreiche Pfarrer einen Kern der meinde um sich zu sammeln suchten. Bald mären es schlichte klärungen, bald waren es feierliche Gelöbnisse, die gefordert

po­ sich Er­ Ge­ Er­ und

abgegeben wurden. Und immer diente dem Pfarrer das so ge­ wonnene Verzeichnis seiner Getreuen als feste Unterlage für die großen Werbeaufgaben, die die Not der Zeit den Gemeinden

207 stellte:

Kundgebungen,

arbeit uff.

Sammlung

*

*

von

Unterschriften,

Wahl­

*

Das sind die Tatsachen. Was haben die so ins Leben ge­ rufenen Unternehmungen erreicht? Welche Bedeutung haben sie gewonnen für das Leben der Kirche? Zunächst wiederholte sich, was bei der Entwicklung politischer Revolutionen so oft beobachtet worden ist, daß das Alte, das in Jahrhunderten Aufgebaute, sich doch zäher und kräftiger erwies, als es im Augenblick des großen Umsturzes erschienen war. Wer ge­ meint hatte, über die offizielle Kirche mit ihren rechtlich gesicherten Einrichtungen und Körperschaften hinwegschreiten und in freien Organisationen aus eigenem Recht eine neue, freie Bolkskirche gründen zu können, der sah sich bald enttäuscht. Die überwältigende Mehrzahl der Gemeinden dachte nicht daran, ihre kirchlichen Körper­ schaften zugunsten neuer Bildungen preiszugeben oder sie auch nur ins Hintertreffen drücken zu lassen. Höchstens „Arbeitsgemein­ schaften" riesen sie ins Leben, die unter Leitung des Pfarrers und im Anschluß an die überlieferten Gemeindeorgane die Aufklärung und Mobilmachung der Gemeinde übernahmen. In allen Landes­ kirchen regte sich das Kirchenregiment. In Preußen riefen Ober­ kirchenrat und Generalsynodalvorstand eine Anzahl von Vertrauens­ männern an ihre Seite, um mit diesen zusammen die Arbeit zu tun, die Professor Titius einer freien Konferenz von Delegierten aus dem Reich zugedacht hatte: Forderungen für die National­ versammlung zu formulieren, die Befragung der Kandidaten in die Wege zu leiten, soweit diese nicht schon von anderer Seite erfolgt war uff. Mehrere andere Landeskirchen folgten diesem Beispiel. Konsistorien und Generalsuperintendenten ergriffen die Initiative mit Aufrufen und Richtlinien für Pfarrer und Gemeinden. Die Kirchenbehörden und die Synoden ließen es sich -nicht nehmen, die Fragen der künftigen Verfassung in ihrem Schoß bearbeiten zu lassen, und dieser Arbeit kam naturgemäß ein stärkeres Gewicht zu als der der freien Vereinigungen. Die finanziellen Fragen mit ihrer ungeheuren Tragweite konnten nur von den Behörden ganz überblickt und wirksam behandelt werden. Und da auch die organi­ sierte Kirche sich überall bestrebt zeigte, dem Geist der neuen Zeit,

208 soweit er das kirchliche Leben zu befruchten imstande sei, die Türen aufzutun, neue Formen zu schaffen und mit neuen Mitteln um die Herzen des „Kirchenvolks" zu werben, so ist der wichtigste Gewinn für das kirchliche Leben in den ersten Monaten nach der Revolution nicht etwa eine neue Führung der Gemeinden und der Kirchen durch freie volkskirchliche Organisationen gewesen, sondern im Gegenteil eine Neubelebung der organisierten Kirche, unab­ hängig von der volkskirchlichen Bewegung in ihren mannigfaltigen Formen. Ist jene Bewegung aber dadurch auch vielfach von ihren ursprünglichen Zielen abgedrängt worden, so hat sie dennoch Be­ deutsames geleistet und Ergebnisse gezeitigt, die dem kirchlichen Leben auf Jahrzehnte hinaus zugute kommen werden. Es ist bezeichnend für die deutsche Art, daß die größten äußeren Erfolge diejenige Bewegung zu verzeichnen hat, die sich am meisten der Vereinsform nähert. Es war der Volkskirchen­ bund, der alle anderen volkskirchlichen Neugründungen sofort überflügelte. Schon wenige Wochen nach dem ersten Zusammen­ schluß in Göttingen hatte der Volkskirchenbund für Hannover das erste Hunderttausend seiner Mitglieder erreicht. In der Provinz Ostpreußen bildete sich ein ähnlicher Bund, der sehr bald 200000 Glieder zählte. In Westfalen riefen der Präses der Provinzial­ synode und der Generalsuperintendent zu einer entsprechenden Gründung auf und fanden den gleichen Erfolg. Der „Schutzverband" in Stettin begann ähnliche Wege zu gehen. Und in den Provinzen, in denen ein Zusammenschluß noch nicht erfolgt ist, bildeten sich Einzel-Volksbündnisse in großer Zahl. Drei Monate nach dem Beginn der Bewegung waren, so wird man schätzen dürfen, innerhalb Preußens 500000 evangelische Christen in Volksbund-Vereinen organisiert. Das ist ein Erfolg, der ohne Beispiel dasteht in der Geschichte des deutschen kirchlichen Lebens. Es bedarf nur noch des lebendigen Zusammenschlusses aller Ver­ eine und Verbände — und das evangelische Gegenstück zum katholi­ schen Volksverein für Deutschland steht fertig da! Wie der Volksbund künftig arbeiten wird, was für Felder der Tätigkeit er wird bebauen wollen und wie er seine Arbeit wird abgrenzen wollen von der Arbeit anderer großer Verbände,

209 namentlich der des ®v. Bundes — das läßt sich noch nicht über­ setzen. Nur soviel ist gewiß, daß sein besonderes Feld die Kirchen­ politik im weitesten Sinne des Wortes sein wird; die öffentliche Betonung des Wertes, den der Glaube für die evangelischen Christen besitzt. Und er wird dieser Aufgabe nicht zuletzt gerecht zu werden suchen durch die Arbeit innerhalb der Gemeinden. Denn nicht Gemeinden durch Vereine zu ersetzen ist sein Ziel, sondern die durch die Form des freien Vereins entbundenen Kräfte der Gemeinde dienstbar zu machen. Hinter dieser großen Organisation tritt die Arbeit der „V o l k s k i r ch e n r ä t e" zurück. Sie haben sich am kräftigsten in Mitteldeutschland durchgesetzt, wo eine starke Jndustriebevölkerung das öffentliche Leben in sozialistischem Sinn beherrschte. Auch dort ist es freilich nicht gelungen, durch diese neue Einrichtung mit ihrem sozialistischen Namen größere Arbeitermassen für die Kirche wiederzugewinnen. Unter geschickter Leitung haben die „Bolkskirchenräte" hier und da für das praktische Gemeindeleben wertvolle Anregungen gegeben, ohne daß es zu einer bestimmten, eigenartigen Bewegung gekommen wäre. Die Mehrzahl der Ge­ meinden hat, wie bereits angedeutet, die ganze Gründung solcher Volkskirchenräte abgelehnt. Man stieß sich an dem Namen. Man wollte die Revolution mit ihren „Räten" nicht nachahmen im Leben der Kirche. Man stieß sich aber auch an der Sache. Man wollte nicht den Anschein erwecken, als trete neben die rechtmäßigen Organe der Gemeinde eine neue Körperschaft, die den Anspruch erhöbe, in die Verwaltung der Gemeinde hineinzuregieren. Im übrigen war die Bewegung der Bolkskirchenräte von Anfang an nicht zuerst auf die Arbeit in der Einzelgemeinde ein­ gestellt. Eine freie evangelische Bolkskirche wollte sie schaffen. Nicht immer war es klar, >vie weit dabei an sichtbare, auf festen Rechtsboden sich gründende, neue Organisationen gedacht wat und wie weit nur an losen Zusammenschluß bestehender Kirchen, oder gar nur an ein Idealbild, das den Herzen eingeprägt werden sollte, eine Art ecclesia invisibilis Vielleicht daß diese Unklar­ heit dazu beigetragen hat, daß die hochfliegenden Pläne nur ein verhältnismäßig geringes Echo in den Herzen fanden. Trotzdem ist aus der Bewegung der Bolkskirchenräte wert» Revolution nutz Kirche.

14

210 volle Frucht erwachsen. Ein besonderes, wesentliches Verdienst war ihre Mitarbeit an den Anregungen des Elberfelder Kirchentages vom 3. Januar 1919. Es war ein bunter Kreis von Männern und Frauen, der sich in Elberfeld zusammensand: die Gemcinschaftsleute Westfalens unter der Führung von GaugerElberfeld und Michaelis-Bielefeld, mit den Professoren Schmitz und Heim in Münster; zahlreiche Geistliche und Laien der west­ lichen Provinzen, auch Vertreter der großen kirchlichen Verbände. Auf diesenr Kirchentag, den seine führenden Männer gern den „Geburtstag der Bolkskirchenbewegung" nennen, wurde ein Pro­ gramm für die künftige Gestaltung der Kirche besprochen. Be­ merkenswert an diesem Programm war vor allem der Vorschlag, die Kirche auf das kurze, apostolische Bekenntnis zu einigen: „Jesus ist der Herr!" Und unmittelbar erfolgreich war die Anregung, mit den Kirchenregierungen Deutschlands einen freien, vorbe­ reitenden Kirchentag für das Deutsche Reich zu vereinbaren, der die freie Volkskirche Deutschlands heraufführen sollte. Vielleicht wäre auch diese Anregung nicht so schnell verwirklicht worden, wenn ihr nicht bei den Kirchenregierungen der deutschen Landes­ kirchen ein Verlangen ähnlicher Art entgegengekommen wäre. Man wollte die bedeutsame Stunde für einen engeren Zusammenschluß des deutschen Protestantismus nach Kräften nutzen. So ist es zu dem vorbereitenden Kirchentag in Cassel gekommen, am 27. Febr. 1919. Nicht eine deutsche Reichskirche galt es zu gründen, sondern die evangelische Kirche Deutschlands, wie sie in allerlei Einrich­ tungen und Körperschaften längst bestand, auf breitere Grundlage zu stellen — unter Wahrung der Eigenart jedes Landes und jeder Kirche. Ein enger Zusammenschluß des gesamten deutschen Pro­ testantismus — seit Jahrzehnten erstrebt und immer wieder an tausend Schwierigkeiten gescheitert — jetzt ist er da! Und er wird dem deutschen Volk zum Segen sein! Der Berliner Volkskirchendienst endlich, der sich bald „Deutscher Volkskirchendienst" nannte, hat sich auf praktische Arbeit beschränkt, die der Rüstung auf das Neue in Staat und Kirche dienen soll. In sorgfältiger Beratung hat er, parallel dem Verfassungsausschuß des Bertrauensrats der preußischen Landes­ kirche, die künftige Verfassung behandelt. Flugblätter zur Kirchen-

211 frage hat er in die Gemeinden geworfen.

Bedeutsame Kund­

gebungen von evangelischen Religionslehrcrn hat er veranstaltet — kurz, ohne sich festzulegen auf ein bestimmtes Programm, hat er in einmütigem Zusammenarbeiten der verschiedenen kirchlichen Richtungeil wertvolle Einzelarbeit getan. — Ähnlich sind die Organi­ sationen in der Provinz vorgegangen. Und wenn in den ersten Monaten nach der Revolution ein frischer Luftzug durch die evan­ gelischen Gemeinden, namentlich in den Städten, wehte, so haben der Volkskirchendienst und die verwandten Organisationen daran ein gut Teil des Verdienstes. * ♦ * Bolkskirchenräte, Volkskirchenbund, Volkskirchendienst — „Volk", „Volk", immer wieder „Volk"? — Ist das nur eine Ver­ beugung vor der Revolution, nur ein Zugeständnis an die demo­ kratische Strömung der Zeit? Jst's ein krampfhaftes Sichklammern an das, was verloren zu gehen droht, wenn der Wille der sozialistischen Machthaber sich durchsetzt und die evangelische Kirche nicht mehr als der alte, große geschichtliche Ban das ganze Volk umspannt? Nein, cs ist mehr als das! Es ist das Bekenntnis zu einem bestimmten Programm, das sich die evangelische Kirche zu eigen machen soll, um ihre Mission am deutschen Volk zn er­ füllen. Unseren Vätern war die evangelische Kirche ein Gebilde, der katholischen int Wesen ähnlich: eine Anstalt, in der die Autorität das Wort führte und Unterwerfung verlangte und An­ passung an den Geist und an die Formen, die man für kirchlich erklärte; in der gesicherte Autorität darüber wachte, daß kein fremder Geist und kein moderner Unglaube eindringe, das Bekenntnis anzutasten und die von den Vätern überkommenen Formen zu zerstören: sie war wie eine befestigte Stadt, auf deren Mauern die Wächter standen zu Schutz und Trutz, und deren Tor nur zögernd geöffnet ward, um Widerwillige hinausschlüpfen zu lassen, und noch zögernder, um Außenstehende hineinzulassen. Noch ist diese An­ schauung unter uns lebendig, und die sie vertreten, sind charakter­ volle Männer, durchdrungen von dem Ernst einer heiligen Verant­ wortung. Aber die Zukunft gehört dieser Anschauung nicht. Das Band zwischen Staat und Kirche löst sich mehr und mehr. Nun gibt es nur zwei Zukunftsmöglichkeiten noch für 14'

212 die Kirche: entweder, sie wird eine freie Sekte - - dies Wort im guten Sinne gebraucht — eine Sekte, wie es die Brüdergemeinde ist. in der die Gläubigen sich eng aneinander schließen und nur mit solchen Gemeinschaft Pflegen, die ehrlich

und völlig ihres

Glaubens sind. Wer ein Herz voll Frömmigkeit und Liebe in der Brust trägt, fühlt sich instinktiv angezogen von solch einem Zu­

kunftsbild.

Wen lockte es nicht, in der herzlichen Brüderlichkeit

der Herrenhuter und in der ernsten gläubigen Art so mancher

anderer

kleinen

christlichen

Gemeinschaften

mit

den

Glaubens­

genossen zusammen zu stehen?'Wen dürstete nicht danach, in enger

Gemeinschaft mit solchen, die bewußte Jünger Jes» sein wollen, sein Leben zu führen! — Aber der Gehorsam gegen den Meister

weist einen anderen Weg.

Ihn jammerte seines Volkes, und er

wollte Arbeiter senden in die große Ernte. Das muh auch unser

Geist sein!

Wir sind gebunden im Gewissen, dem ganzen Volk,

in das wir gestellt sind, den Dienst des Glaubens zu tun.

Nicht

eine Sekte, sondern eine Volkskirche sollen wir sein! Ob uns das

lieb ist oder nicht

- danach wird nicht gefragt.

So lange uns

die Bolkskirche nicht zerschlagen wird, müssen wir sie sesthalten als das gottgegebene Werkzeug für die Arbeit nni Ganzen des

Volks

Solche Arbeit aber ist nur dann möglich, wenn die Türen

weit ausgctan werden, wenn der Dienst der Kirche jedem angeboten

wird, der sich nicht ausdrücklich von ihr trennt, und wenn die Kirche zu den Schwankenden, zu den Gleichgültigen, zu den Kirchenfremden

eine Sprache redet, die sie verstehen. Und diese Sprache muh nicht

nur äußerlich die Sprache unserer Tage sein, in gesprochenem Wort, in den Formen der Verwaltung, im Gottesdienst und in der kirch­

lichen Kunst. Sie muß vor allem eine Sprache des Vertrauens feinl

Wer sich der Kirche zuwendet, soll fühlen, daß man ihn

freudig willkommen heißt. Wer niitarbeiten will, der soll ein Feld zur Mitarbeit finden. Nicht um die Gunst der großen Masse

wollen wir buhlen, nicht das alte Evangelium wollen wir preis­

geben — dies Evangelium ist stärker als die Menschen.

Aber

volkstümlich zu sein in des Wortes «delsteni Sinn — das ist die

große Aufgabe der Kirche.

Und wenn sie diese Ausgabe nicht zu

lösen versteht, dann wird sie keine Volkskirche mehr sein.

Volkskirchenbewegung

hat diese Aufgabe erkannt;

sie hat

Die

ihre

213 Lösung mit neuer Kraft in Angriff genommen. Mag man über die Mittel, die angewandt werden, im einzelnen verschiedener Meinung sein, mag man die Wege, die eingeschlagen werden, nicht alle für richtig halten — die Sache selbst hat ihr inneres Recht und hat ihre ungeheure Bedeutung. Noch ist die Bewegung freilich nicht dazu gekommen, schöpferisch etwas Neues zu gestalten, das den Geist des kirchlichen Lebens zu wandeln imstande wäre. Einer religiösen Erneuerung ist die Zeit nicht günstig. Weder eine großzügige Belebung der sozialen Arbeitsgemeinschaften, noch eine „Brüder­ schaftsbewegung" nach englischem Muster, weder neuen Sinn für den Wert der Kirchlichkeit, noch einen neuen Eifer für die Volks­ mission hat die Volkskirchenbewegung bisher gebracht. Was sie aber gebracht hat, das ist des Dankes wert, das wird dazu Helsen, daß unsere Kirche Bolkskirche bleibt, daß wir voll Vertrauen der Stunde entgegenharren dürfen, wo das Erbe der Väter sich zu neuen Formen hindurchringen wird, und entpor vom alten Grunde frei die neue Kirche steigt!

Kapitel 10.

über den Zusammenstdlutz der deutstden evangelischen Landeskirchen. Von Arthur T i t i u s.

Durch die Entwicklung der politischen Verhältnisse sind die bisherigen Träger des landesherrlichen Kirchenregiments zusammen­ gebrochen, und die Erhaltung des bisherigen Verhältnisses der evan­ gelischen Kirchen zu den deutschen Einzelstaaten erscheint aussichts­ los, ist aber auch nicht wünschenswert. Denn da die Leitung aller öffentlichen Angelegenheiten in Zukunft notwendig der jeweilig herrschenden Partei zufallen wird, so würden die Kirchen mehr denn je in den politischen Kampf hineingezogen und ihre Leitung Sache des jeweiligen Siegers werden. Damit sind dann auch die auf mehr oder minder engen Zusammenschluß der evangelischen Landeskirchen gerichteten Bestrebungen in eine ganz neue Phase getreten. Der deutsche evangelische Kirchenausschuß, der seit andert­ halb Jahrzehnten die gemeinsamen Interessen der deutschen evan

214 gelischeri Kirchen vertrat, konnte noch innerhalb gewisser Schranken als eine Erneuerung des auf die Resormationszeit zurückgehenden Corpus Evangelicorum, das mit dem alten Reich dahingesunken war, angesehen werden. Waren es doch die auf die landesherr­ licheil Gewalten zurückgehenden Kirchenregierungen, die hier zusammentraten. Alledem ist nun die Rechtsgrundlage entzogen Indes sind hiermit die unmittelbaren Wirkungen der voliti scheu Lage auf die kirchlichen Einigungsbestrebungen noch keines­ wegs erschöpft. Mindestens ebenso tiefgreifend sind zwei andere unter sich zusammenhängende Momente. Man meist, mit welcher Wucht das preußische Übergewicht im Reiche auf den andern deutschen Staaten lastete und wie es der ganzen Staatskunst Bismarcks bedurft hatte, den Bundesrat so anszugestalten, daß sie sich nicht erdrückt fühlten. Auf kirchlichem Gebiet ward das Bestreben, die Sonderart und das Sonderrecht der deutschen Stämme den vorhandenen Zentralisierungsbestrebungen gegenüber zu behaupten, noch verschärft durch die kirchlichen Unionsbe­ strebungen, die, aus unabweisbaren geschichtlichen Nötigungen des preußischen Staatsgebildes herausgewachsen, zur persönlichen Sache und gewissermaßen zur Familientradition der preußischen Könige geworden waren. Es ist daher nicht verwunderlich, daß die Vertreter gerade der lutherischen Landeskirchen allen von Preußen ausgehenden Einigungsbestrebungen mit Mißtrauen gegenüber­ traten und sie vielfach hemmten. Jeder staatlichen Unions ­ politik ist nun durch den Wandel der Dinge der Boden ein für allemal entzogen. Damit ist ein sich immer wieder geltend machendes Hemmnis gegen Bestrebungen auf Zusammenschluß in Fortfall gekommen. In Erwägung zn ziehen sind ferner die Tendenzen, die gegen den Fortbestand Preußens im bisherigen Umfange gerichtet sind. Die Wahle» zeigten, wie in der Bevölkerung Niedersachsens der Wunsch nach selbständigem staatlichen Dasein durch die gegenwärtige Lage eine Wiederbelebung in weitesten Kreisen erfahren hat. Die gebieterische

Notwendigkeit ferner, die Kompetenzen der Einzelstaaten, nament­ lich auf wirtschaftlich-finanziellem Gebiet, weiter einzuschränken, das Reich also in der Richtung auf den Einheitsstaat hin weiter zn entivickeln, wird sich kaum ohne möglichste Freigebung und

215 Sicherung der geschichtlichen Eigenart der deutschen Stämme, mit­ hin nach weitverbreiteten Ansichten am ehesten durch Zerteilung Preußens in landschaftlich und geschichtlich zusammengehörige Einzclstaatcn durchsetzen lassen. Kommen diese Tendenzen, denen freilich auch sehr erhebliche Gegengewichte gegenüberstehen, in der angedcuteten Weise zur Durchführung, so werden damit auf kirch­ lichem Gebiete alle Befürchtungen einer zu weitgehenden Zentrali­ sierung und Schablonisierung ein für allemal gegenstandslos. Zugleich aber werden im Gefolge dieser Entwicklung die auf Einigung und Zusammenschluß gerichteten Bestrebungen notwendig an Kraft gewinnen. Die Teile der altpreußischen Landeskirche werden auch bei etwaiger Lösung des staatlichen Zusammenhangs »wischen verschiedenen Landesteilen ein Bewußtsein der Zusammen­ gehörigkeit und ein Bedürfnis des Zusammenwirkens behalten; auch die mancherlei Verbindungen, die sich zwischen der altpreußischen Landeskirche und den Landeskirchen Hannovers, Schleswig-Hol­ steins, Hessen-Nassaus gebildet haben, werden schwerlich mit einem Schlage abgeschnitten werden können. Mit der Verkleinerung Preußens und folgerichtig auch der mächtigen preußischen Landes­ kirche, die im Notfall jederzeit als Vertreterin des deutschen Prote­ stantismus auftreten konnte, wird notwendig das Bedürfnis nach einer geordneten Vertretung der deutschen evangelischen Christenheit um so dringender werden, und das Verschwinden mancher Zweig­ kirchen, die sich zur Not auch eigenwillig dem Pulsschlag dedeutschen Geisteslebens fernhalten konnten, wird in der gleichen Richtung wirken. Mit dem Wegfall des Staatskirchentums werben ferner alle deutschen Kirchen sich nach wesentlich gleichen Gesichtspunkten synodal aufbauen müssen und auf die Svnodalvertretungen wie aus die Kirchenregierungen werden naturgemäß die großen, den deutschen Protestantismus vertretenden Organisationen (der Gustav Adolf-Verein, der Evangelische Bund, die evangelisch-sozialen Ber­ einigungen, die Vereine der äußeren und inneren Mission usw.) die bereits heute sich großenteils zu Arbeitsorganisationen ver­ bunden haben, größeren Einfluß gewinnen als bisher, einen Einfluß, der ohne Frage im Sinne einer inneren Einigung des deutschen Gesamtprotestantismus sich wirksam zeigen wird. Schließ-

216 lief) wird die wachsende Bedeutung der großen, über das ganze deutsche Volk sich verbreitenden politischen Parteien, in bereit jeder sich mit mehr oder minder großer Deutlichkeit eine ganze Welt-- und Lebensanschauung zum Ausdruck bringt, insofern einigende Kraft haben, als in allen Landcsteilen die gleichen prin zipiellcn Fragen und Gegensätze entstehen, und das Bedürsnis auch der bewußten Christen, zu alledem Stellung zu nehmen, überall bic großen Zeitfragen in den V o r d e r g r u n d st e l l e n wird; ihnen gegenüber wird eine gemeinsame Verständigung und ein Zusammenwirken als erwünscht, ja notwendig empfunden werden Es bedarf darüber keines Wortes mehr, sobald »vir an die pro grammatische Stellung etiva der sozialdemokratischen Parteien oder des Zentrums denken, aber Ähnliches gilt von den andern großen Parteien. So vorsichtig alle diese Dinge zu behandeln sind, um nicht die Kirchen in Fragen weltlicher Politik zu ver wickeln, mit denen sie uuverworren bleiben müssen, so ist doch i n dem Maße, als sich die Trennung von Staat und Kirche vollzieht, b. h. d i e st a a t l i ch e n und kirchlichen Organe und Funktionen genau voneinander g c schieden werden, eine Vertretung brr protestanti schen Gesichtspunkte und Interessen gegenüber der Reichsgesetzgebung durch geordnete kirchliche Instanzen einfach unerläßlich. Für den gegemvärtigen Moment mit seiner folgenschweren Aufgabe einer Neuordnung aller öffentlichen Verhältnisse liegt das auf der Hand; es gilt aber, so gewiß die Kirchen mit ihrer Pflege des religiös-sittlichen Lebens ein öffentliches Interesse ersten Ranges vertreten, dauernd, gerade auf Grund der Neuordnung der Beziehungen zwischen Staat und Kirche. Irr dem Maße als der Staat auf Beeinflussung des religiösen Lebens verzichtet und, soweit es sich nur um die Religion als solche handelt, alle religiösen Gemeinschaften prinzipiell einander gleich­ stellt, die evangelischen Kirchen mithin auf ihre eignen Lebens­ kräfte verwiesen werden, ihre geschützte und bevorrechtete Stellung gegenüber andern religiösen Gemeinschaften sich verändert, muß sich ihr Verhältnis auch zu diesen umgestalten. Ohne Frage wird damit der gegenseitige Wettbewerb an Stärke und Heftigkeit zunehinen.

217 «der nicht übersehen läßt sich, daß auch gemeinsame Interessen aller religiösen Gemeinschaften dem Staate und seiner Gesetz« gebung gegenüber, z. B- bei der Jugenderziehung, der Bekämpfung der Unsittlichkeit, des Alkohols und an vielen andern Punkten hervortreten werden, die ein Zusammengehen von Fall zu Fall au« gezeigt erscheinen lassen. In allen diesen Beziehungen kann, wenn nicht der deutsche P r o l e st a n t i s »i u s seinen ökunienischen Charakter gänzlich verlieren soll, nur eine Gesamtvertretung der deutscheir evangelischen Kirchen zur Entscheidung b c r u s e n sein. Diese Fragen haben zugleich eine internationale Seite. Von vornherein deutlich ist das gegenüber der römischen Kirche mit ihrer Weltstellung. Als kirchlicher Organismus angesehn, wird sich stets der Protestantismus ihr gegenüber im Nachteil befinden, so lange es nicht gelingt, in geeigneten Formen eine Zusammenfassung des Gesamtprotestantismus hcrbeizusühren. An die vor dem Weltkriege vorhandenen Anfänge einer solcheit Eitttvicklung wird man unter voller Wahrung deutscher Ehre neu ankuüpseu müssen. Leider

wird sich der Arbeiter-Internationale, die den Weltfriedenskongreß begleite>l wird, eine religiöse protestantische Internationale noch nicht zur Seite stellen lassen. Aber zweifellos wird die protestantische Christenheit ihre Mitschuld am Kriege nur dadurch abtragen können, daß sie für alle auf den Weltfrieden abzielenden Bestrebungen in den einzelnen Ländern einen günstigeren Boden

und einen stärkeren Widerhall schafft, für die durch den Weltkrieg aufs schiverfte gefährdete Missionsarbeit erneut und mit allen Kräften eintritt und tüt persönlichen Austausch der führenden Männer in den einzelnen Ländern regelmäßig wiederkehrendc Ge­ legenheiten bietet. Erscheint aber eine Fühlungnahme des gesamten Protestantismus unter manchen GHichtspunkten als ein erstrebenswertes lwenn auch nicht leicht erreich­ bares) Ziel, so tritt damit zugleich die Stellungnahme der deutschen protestantischen Kirchen zu den andern protestantischen religiösen Gemeinschaften auf deutschem Boden in neue Be­ leuchtung. Bekanntlich sind manche dieser Gemeinschaften, die bei uns als „Sekten" ziemlich geringschätzig beurteilt werden.

218 aus anglo - amerikanischem Boden Gemeinschaften von einer Massigkeit und einer religiösen Wirkungskraft, deren sich nur wenige deutsche Landeskirchen rühmen können. Eine freundliche Fühlungnahme mit dem angelsächsischen Protestantismus wird sich daher nur unter der Bedingung anbahnen lassen, daß sich die ..Kirchen" zu den „Sekten" auf einen andern Fuß stellen als bisher, was, wie angedeutet, auch aus andern Gründen ein Gebot der Stunde sein dürfte. Nur eben zu erwähnen sind jene Gesichtspunkte für ein Zusainmenwirken der deutschen evangelischen Kirchen, welche schott in der bisherigen Arbeit des deutsch-evangelischen Kirchenausschtlsses ihre volle Bedeutung erwiesen haben. Unter diesen ist die kirchliche Versorgung des Auslandsdeutschtums besonders wichtig, und der Berkaus des Weltkrieges erst hat weitesten Kreisen zum Beioußtieiii gebracht, wieviel das Mutterland den im Auslande weilenden Deutschen verdankt. Was hier verloren gegangen, ist tvieder aufzubanen Die dauernde Verbindung mit diesen Außenposten zu pflegen, wird eine wichtige Aufgabe des deutschen Volkes sein und an dieser nationalen Aufgabe nach ihren Kräften und Gaben mitzuwirken, werden sich die evangelischen Kirchen Deutschlands nicht nehmen lassen. Daneben aber harrt ihrer eine noch näher­ liegende Aufgabe. Die Ereignisse lassen den engen politischen Zu­ sammenschluß mit den Deutsch-Österreichern als gesichert erscheinen, und es wird eine Ehrenpflicht des deutschen Protcstantisinus sein, sich der schwer um ihre Existenz ringenden österreichischen Bruder­ kirchen noch mehr als bisher anzunehmen. Man kann noch nicht voraussehen, ob nicht solche Hilfeleistung seitens gesicherter und gut fundierter deutscher Kirchen auch gegenüber manchen andern weniger glücklichen deutschen Landeskirchen erforderlich werden wird. Jedenfalls dürfte es unleidlich sein, wenn durch Kurz­ sichtigkeit und Fanatismus zufälliger Machthaber einzelne deutsche Kirchen in eine Notlage geraten sollten, ohne daß die Gesamtheit für die Bedrohten ihren ganzen Einfluß und ihre ganze helfende Kraft einsetzt. Die aufgeführten Gesichtspunkte haben für die gegenwärtige Praxis sehr verschiedenen Wert, aber in ihrer Gesamtheit werden sie an der Notwendigkeit eines dauernden Zusammenwirkens der

219

deutschen evangelischen Kirchen keinen Zweifel lassen. Die Frage ist, wie ein solches Zusammenwirken sich gestalten soll. Drei Möglich­ keiten bestehen hier: Entweder nimmt man eine deutsche ReichSkirche in Aussicht, die auf kirchlichem Gebiet — allerdings in Be­ grenzung auf die evangelischen Volksteilc — dasselbe leistet, wie auf politischem Boden das Deutsche Reich im Verhältnis zu den Einzelstaaten, oder man beschränkt sich auf eine bloße Aussprache der führenden Persönlichkeiten des deutschen Protestantismus in zwangloser Form und ohne jede Rechtsverbindlichkeit für die Kirchen, oder man wählt irgend einen Mittelweg zwischen beiden Extremen. Der alte Gedanke einer deutschen Reichskirche hat gewiß auf bcn ersten Blick etwas Verlockendes, auch Luther hat ihm in seinem berühmten Programm an den Adel der deutschen Nation Ausdruck gegeben. Indes sind die Schwierigkeiten, welche die ge­ schichtliche Sonderentwicklung der deutschen Kirchen mit ihrer sehr erheblich differenzierten Ausprägung der religiösen Gedanken, der gottesdienstlichen Feiern, des kirchlichen Rechts und Herkommens der Verwirklichung einer protestantischen Reichskirche entgegenstellt, lehr bedeutend und kaum zu überwinden. Bor allem aber muß betont werden, daß die schrankenlose Geltendmachung der Analogie der staatlichen für die kirchliche Rechtsbildung prinzipiell verfehlt ist. Zum Wesen des Protestantismus gehört die Einheitlichkeit der kirchlichen Rechtsbildung nicht. Diese ist mithin nur insoweit anzustreben, als dafür zwingende Gründe aus der geschichtlichen Lage sich ergeben. Solchen Zwang enthalten die oben entwickelten Gesichtspunkte nicht, also ist zur Bildung eines den ein­ zelnen deutschen Kirchen übergeordneten. Recht schaffenden kirchlichen Organs kein Anlaß ge­ geben. Unter den heute vorliegenden Entwürfen steht der von Schmitz und Heim (Licht und Leben, 1. Dezember 1918) den» Projekt einer evangelischen Reichskirche am nächsten; sie er­ streben „eine freie evangelische Volkskirche, die alle bestehenden Landeskirchen umfaßt" und ihren Willen „durch Stiiirmentscheid ihrer kirchenmündigen Mitglieder" äußert. In aufsteigender Staffe­ lung sollen diese Mitglieder den Gemeindekirchenrat, die Gcmeindekirchenräte den Kreiskirchenrat, die Kreiskirchenräte den Provinzial­ kirchenrat wählen; die Provinzialkirchenräte treten zum Landes-

220 kirchentag zusammen und wählen den Landeskirchenrat. tir Landeskirchentage entsenden Abgeordnete zu einem Reichskircheu

tage, die Landeskirchenräte entsenden Vertreter in einen Reichs kirchenaussckuß. In beiden Einrichtungen faßt sich die „freie evan gelische Volkskirche Deutschlands" zusammen zu einem einheitlichen Kirchengebilde. Ich verzichte daraus, die bekannten Einwände gegen das hier vorgeschlagene Siebsystem auszusühren, auch die Pe stimmung des Begriffs der Kirchenmündigkeit möge aus sich bc ruhen. Es genügt hervorzuheben, daß hier doch wohl an eine oberste einheitliche gesetzgebende und verwaltende Instanz für das gan;, evangelische Deutschland gedacht ist, mithin an eine Reichskirche, und daß somit das ganze Projekt unter die eben geübte Kritik am Gedanken einer Reichskirche fällt. Die Idee einer inneren Einheit des deutschen Protestantismus wird mit der ganz heterogenen ein heitlicher Rechtsbildung für den deutschen Protestantismus ver ivechselt. Wird bei der Befürwortung einer evangelischen Reichskirche die Bedeutung der Rechtsbildung für das evangelische Christen tum überschätzt, so würde diese, wenn man sich aus bloße zwang lose Aussprachen beschränken wollte (Kongresse oder Kirchentage erheblich unterschätzt werden. Allerdings bieten diese (luie z. B. Wicherns epochemachendes Auftreten auf dem Wittenberger Kirchen tage beweist) einen unschätzbaren Vorzug, der durch kein anderes Mittel ersetzt werden kann, das .hervortreten der freien, durch keinerlei amtliche oder synodale Verbindlichkeiten beeinträchtigten Initiative vom Geiste Christi getriebener Persönlichkeiten. Aber zu geordneter Geschäftsführung und zur Herausbildung allge meiner, gleichbleibender Grundsätze für die kirchliche Praxis eignen sich beide nicht, und doch weisen die oben entwickelten Ausgaben aui die Notwendigkeit beider hin. Sind wir somit auf einen Mittelweg hingewiesen, so empfiehlt es sich, von dem deutsch-evangelischen Kirchenaus schuß auszugehe», der seine Lebensfähigkeit und seine kirchliche Bedeutsamkeit bereits erwiesen hat. Dieser Ausschuß ist befugt, Beschlüsse in kirchlichen Fragen zu fassen, die zwar rechtsverbindliche Krust für die ein »einen Kirchen nicht besitzen, ober doch eben durch ihre Autorität

221 und ihre Sachlichkeit sich durchzusetzen pflegen; er ist zugleich mit der Verwaltung und Pflege bestimmter kirchlicher Interessen dauernd beauftragt. Gelingt es, diesen Ausschuß aktionsfähiger als bisher zu gestalten und die Vertrauensmänner des deutschen Protestantismus in ihn zu entsenden (und beides darf von der bevorstehenden Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse in vollem Maße erwartet werden), so dürften damit solche Gesamtinteressen des deutschen Protestantismus, welche eine dauernde und geordnete Vertretung verlangen, in befriedigender Weise gewahrt sein, ohne daß eine den Kirchen übergeordnete Instanz geschaffen wäre, die störend in ihr Leben eingreifen könnte. Diese Einrichtung bedürfte sodann einer Ergänzung, die in der Eisenacher Konferenz der Kirchenregierungen bereits vorgebildet ist, aber in der Richtung der allgemeinen Kirchentage umgestaltet werden müßte. Die synodale Verfassung, die jetzt alle deutschen evangelischen Kirchen sich zu geben im Begriff sind, zeigt bereits den Weg der not­ wendigen Entwicklung an. Indes würde ich es sür einen Fehler halten, wollte man das synodale Element zum allein entscheidenden Faktor der allgemeinen Kirchentage machen. Daneben müßte auch der so kräftig entwickelten Vereinsbildung auf dem Gebiete des deutsch-evangelischen Christentums, wie überhaupt der Initiative freier Persönlichkeiten in geordneter Weise Rechnung getragen werbe«. Eine derartige Versammlung dürfte selbstverständlich ge­ setzgebende, Kraft für sich nicht in Anspruch nehmen, sondern ihre Beschlüsse müßten sich durch ihre innere Kraft Geltung verschaffen. Damit wäre ein Organ geschaffen, durch das der deutsche Prote­ stantismus in der breitesten Öffentlichkeit sich in würdiger und zugkräftiger Weise zur Darstellung bringen kann. Denkbar wäre, daß der Kirchentag einen dauernden Ausschuß aus seiner Mitte zur weiteren Verfolgung der gegebenen An­ regungen wählte. Indes würde ein ständiger- Kirchentagsausschub mit dem aus Delegierten der einzelnen Landeskirchen bestehenden Kirchenausschuß nur allzuleicht sich reiben. Es dürfte deshalb den Vorzug verdienen, wenn der Kirchentag das Recht erhielte, eine bestimmte Anzahl von Vertretern in den Kirchenausschuß zu wählen. Bedenken dagegen können um so weniger in Frage kommen, als ja in Zukunft die Mitglieder des Kirchenausschusses selbst auf

222 synodalem Wege, also durch freie Wahl seitens der einzelnen Landeskirchen auf ihren Posten kommen werden. Der Kirchen­ ausschuß wird, wie bisher, nicht die einzige Vertretung des deut­ sche Protestantismus sein. Denn die freien Verbände werden es sich nicht nehmen lassen, einzeln oder vereint nach eignem Ermessen und durch keine andere Verantwortung gebunden als die vor ihren« eigenen Gewissen, die großen Aufgaben, welche die heutige Zeit dem evangelischen Christen stellt, anzufassen. Entscheidend dürfen in religiösen Dingen nie menschliche Ordnungen d. h. Schablonen sein, sondern vom Geist des .Herrn der Kirche erfaßte Persönlichkeiten. Zu wünschen bleibt nur, daß die Verbände (etwa durch einen gemeinsamen Aktionsausschuß) unter sich und mit dem Kirchenansschnß genügend Fühlung halten, um in Zeiten der Ge­ fahr in gemeinsamer Schlachtordnung kämpfen zu können.') *) Diese Zeilen sind bereit» im Januar geschrieben. Heute, Ende Mär­ hat sich Manche» verschoben, doch roüfcte ich nicht» von Bedeutung an meinen bähen zu ändern. Nur möchte ich jetzt noch deutlicher zum Ausdruck bringen, bah, wie schon bisher, dem KirchenauSschnh selbstverständlich wichtige ge­ meinsame Angelegenheiten daucrnd und auch von Fall zu Fall zu definitiver Erledigung überwiesen werden können.

223

111. Die Solgen der Trennung für das innere Leden der evangelischen Kirche. Kapitel 11.

Die Verinnerlichung her Kirche und die Wahrung Ihrer Einheit als Volkskirche. Bon Friedrich MaHling. Leben ist Bewegung und Entwicklung. Entwicklung ist in jeder Zeit vorhanden. Und doch ist unsere Zeit in ganz besonderem Maße eine Übergangszeit. Es will auf allen Gebieten etwas Neues werden. Die Kämpfe und Leiden der Zeit sind wie die Geburtswehen einer sich neu anbahnenden Zukunft. Wir hoffen und wünschen, daß die Stürme, die uns umbrausen, Frühlingsstürme

sind, die uns den Lenz bringen, nicht Herbstorkane, die den Wald zerzausen und Kälte und Ode und winterliche Dunkelheit herauf­ führen. Sozialismus ist für viele die Parole, unter der sich alles Neue zusammenfaßt. Sozialismus ist eine Wirtschaftsordnung, in welcher sich die Güterproduktion aufbaut auf der Vergesell­ schaftung der Produktionsmittel und der Aufhebung der Aus­ beutungsmöglichkeit des Kapitals zu privater Höchstbereicherung unter gleichzeitig damit Hand in Hand gehender Verarmung und Knechtung aller Kapitalarmen. Sozialismus ist eine Wirtschafts­ ordnung, welche die Befreiung der Menschheit vom Mammons­ dienst verheißt; Sozialismus will Gerechtigkeit sein in der Arbeits­ teilung, Einspannung jeder gesunden Arbeitskraft in den organi­ sierten Arbeitsbetrieb der Gesamtheit, Ausmerzung des Privilegs jeglicher Faulheit, die nur von fremder Arbeit sich nährt, Weckung der Arbeitsfreude durch Zuweisung des vollen gerechten Arbeits­ ertrages an den einzelnen, Gewöhnung des einzelnen an den grundlegenden Dienst, den er der Gesamtheit zu leisten hat. Per-

224 sicherung, bast die Gesamtheit, deren vollberechtigtes Etnzelglied er selber ist, ihre soziale Verpflichtung ihm gegenüber anerkennt, und ihm für ein menschenwürdiges, freudedurchzogenes, an Er­ holung reiches, seine Teilnahme an einem geistigen .Kulturleben ermöglichendes Dasein sorgt. Sozialismus will Arbeit sein, will Betätigung des Brudersinns sein, will die Durchführung des Gruichfatzes: alle für einen und einer für alle zur Wirklichkeil machen Sozialismus ist ein Ideal, ein leuchtendes Slerngebilde, ein voll­ tönender frohlockender zukunftsfroher Schlachkruf, ein Motto, das, von der Wirtschaftsordnung anhebend, immer mehr ethischen Cha­ rakter annimmt und zuletzt sich wie zu einem religiös verklärenden Zukunftsruf gestaltet, indem es einen Himmel ans Erden, eine vom Arbeitsstück erfüllte, vom Mammon befreite, harmonisch geeinte Menschheit in leuchtender Schönheit in Aussicht stellt. Eilt wundervolles Ideal! Der Sehnsuchtskraum der Menschen nicht von gestern und vorgestern, sondern von tausenden votn Jahren her. Im Alten Testament malt der Prophet seine Verwirklichung mit den glühenden Farben eines friedlichen Zusammenseins unter Aushebung aller naturhaften Gegensätze «Jes. 11 j, in der apo­ kalyptischen Literatur erscheint er als das tausendjährige Friedens­ reich aus Erden, unter Bindung des Bösen, bei Plato in seinem Dialog vom alten Athen und der alten Atlantis mit in seiner Republik als Staatengeinälde der Zukunst, iin Mittelalter von Joachim von Floris an als in Aussicht stehende Venvirklichung des ewigen Evangeliums und als Anbrechen des johanneischen Zeitalters, des Zeitalters des heiligen Geistes; bei den Hussiten glühen diese Gedanken auf, in den sozialen Bewegungen des 15. Jahrhunderts bis zum Bauernkrieg hin werden sie zu treiben­ den Kräften, Lessing redet von ihnen in seiner Erziehung des Menschengeschlechts, Ibsen faßt sie in Kaiser und Galiläer zu­ sammen als die Idee vom dritten Reich, die sozialen Idealisten des 18. Jahrhunderts schwärmen von Utopien, von Ozeanien und Jkarien, Bellamy schildert von ihnen begeistert die Zustände nm das Jahr 2000 und nimmt damit auch die neue Atlantis eines Baco von Berulam in sich auf, mit all der- in Aussicht gestellten Vollendung der Technik, Bebel führt sie in seinem Buch: Die Frau einer staunend horchenden Menge in Werkstattkleid und

225

Arbeitsbluse vor: sie kommt, sie kommt die Zeit und sie kommt bald, dann wird der Sozialismus Wahrheit, dann werden die Menschen ein brüderlich geeintes Volk auf dieser Erde sein. Wir begreifen es, wenn Arbeiter erklären: Der Sozialismus ist unsere Religion; wir brauchen keine andere: denn die unsere ist die bessere gegenüber allen anderen. Der Sozialismus ist eine Gesellschaftsordnung auf dem Boden der Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit. Er ist in der Tat ein herrliches Ideal, und wir verstehen es, daß viele es mit Be­ geisterung begrüben. Aber die Verwirklichung des Ideals setzt Menschen voraus, die dafür reis sind. Ohne diese ist das Ideal eine bloße Abstraktion, eine phantasievolle Theorie. Reif dafür sind nur die Menschen, die nicht nur bereit sind, eine soziale Gesinnungsgemeinschaft zu bilden, sondern die auch die Kraft haben, eine solche soziale Gesinnungsgemeinschaft zu verwirklichen. Wir brauchen Menschen, die besser sind, als alle Menschen­ geschlechter vor ihnen, Menschen, die gelernt haben, sich einzu­ ordnen und unterzuordnen und die dabei doch frei sind, Menschen, die neidlos jedem seine Eigenart und Eigenentwicklung lassen, sich aber in der Erfüllung ihrer Pflicht und der Betätigung ihres inneren Verantwortlichkeitsbewußtseins zur Gleichheit in der äußersten Anspannung ihrer Kräfte berufen fühlen, Menschen, die von einer höheren Warte aus die ganze Menschheit in ihrer Ein­ heitlichkeit geschaut haben, die innerlich etwas von dem gemein­ samen Ausgangs- und Zielpunkt der Menschheit erlebt haben, und denen darum Völker und Volk erscheinen wie eine große Menschheitsfamilie, innerhalb deren jeder einzelne mit dem anderen durch die Brüderlichkeit der Gesinnung verbunden ist. Solche Menschen müssen gewonnen werden; sie müssen un­ ermüdlich in jeder Generation neu herangebildet und erzogen werden. Und diese große Aufgabe der Volkserziehung muß Leuten

anvertraut werden, deren Seele durchglüht ist von dem Ideal, deren Auge die volle Wirklichkeit schaut, deren Sinn imstande ist, in den Seelen anderer Menschen zu lesen, deren Herz brennt von einer mitempfindenden unbesiegbaren Liebe, deren Hand fähig ist zum Führen und geschickt zum Helfen, und die vor allem eine ÄTöft besitzen, die sie in den Stand setzt, ihr Ziel zu erreichen, Revolution und Kirche. 1 •’>

226 und Menschen zu dem zu gestalten, rvas sie sein sollen, in Wahr­ heit gleiche', sreie und brüderliche Persönlichkeiten.

Man sollte denken, der Sozialismus hätte keinen besseren Freund, als die Kirche, und die Kirche keinen herzlicheren Ver­ tranten, als den Sozialismus. Denn die Kirche will und soll ja nichts anderes sein, als eine Sammlung von Menschen, die dazu Helsen, daß andere Menschen besser werden, und daß so die ganze Menschheit eine vollkommenere wird. Und doch ist der Sozialismus der Kirche grain, und seine Vertreter wollen von dem erziehlichen Einfluß der Kirche nicht nur nichts wissen, sondern weisen ihn weit ab- Es ist ihnen lieber, locnn die Kirche ein Winkeldasein führt in ganz stiller, ivenn auch zeitvergeudender Beschaulichkeit, als daß sic auf den Markt der Öffentlichkeit hervortrilt, um ihre innere Erziehungsaufgabe in Angriff zu nehmen und durchzuführen. Und mit den .Herolden des Sozialismus schließen sich die großen Massen, die das soziale Zukunftsreich in nächster greifbarer Gegenwart zu verwirklichen gesonnen sind und die in atemloser Spannung und mit glühendem sich verzehrenden! Eifer ihre Kräfte dafür einzusetzen gewillt sind, zusammen und bestimmen: Die Kirche muß ausgeschaltet werden als Faktor des öffentlichen Lebens. Wir brauchen ihre Dienste nicht, wir wollen sie nicht haben! Mit solcher Gesinnung gräbt sich der Sozialismus auch in unseren Tagen selbst das Grab. Die Führer wie die Geführten werden eine furchtbare Ernüchterung, eine grausame Enttäuschung erleben. Die Menschen werden fehlen, die für den Sozialismus reif sind. Und damit fehlt der ausschlaggebende Faktor zu seiner Verwirklichung. Wenn man wirklich für die Herrlichkeit des Sozialismus als Ideal begeistert ist, wenn man die Menschen, wenn man sein Volk, in herzlicher und wahrer Liebe lieb hat, dann kann man über diese kommende Enttäuschung mit unsagbarer Traurigkeit erfüllt werden. Die Menschen werden an Hoffnungen ärmer und an Verzweiflung reicher; die Gesellschaft wird durch einen Rückschlag zum Egoismus gedrückter und zerrissener, als zuvor; die Elenden des Volks werden noch elender und die Herz­ losen werden grausam werden bis zur Herzlosigkeit. Trotz aller neuen Wirtschaftsordnung, trotz allem gesetzlichen Zwang der

227 Sozialisierung wird sich das Tier im Menschen regen, und die Wahrheit des Satzes wird neu erlebt werden: Humanität ohne Divinität führt zur Bestialität! Aber zwei Fragen drängen sich hier auf: Warum diese Abneigung gegen die Kirche? Woher dieses abweisende Miß­ trauen gegen ihre Erziehungsaufgabe? Warum die Ablehnung ihrer Hilfe im öffentlichen Leben? Ist es nur Verblendung, nur Haß, der blind macht, — oder liegt eine Schuld vor? Hat die Kirche sich seither falsch eingestellt? Hat sie ihre Aufgabe verkehrt angefangen? Das führt uns unmittelbar zu der zweiten, noch viel ernsteren Frage: Warum hat denn die Kirche es bis dahin ihrerseits noch nicht fertig gebracht, daß die Menschen für den Sozialismus reif geworden sind? Sie hat doch ihre Erziehungsaufgabe in unserem deutschen Volk ein* ganzes Jahrtausend hindurch erfüllen können, zum Teil unter Schwierig­ keiten, aber zum Teil doch ungehindert, ja im Einvernehmen mit der öffentlichen Regierungsgewalt und unter ihrem Schutz. Warum hat sie kein besseres Resultat bei ihrer Erziehung erzielt? Hat sie es nicht selbst verschuldet, wenn man sie als Erziehungsfäktor für die Zukunft ausschaltet oder wenigstens ganz beiseite stellt? Es will etwas Neues werden in unserem Volk. Wir sind an einem Wendepunkt der Zeiten. Gerade, wenn man dieses im Auge hat, und darüber klar ist, daß es auch mit unserer Kirche etwas Neues werden muß, muß man der Wirklichkeit ins Angesicht schauen, und rückhaltlos sich selbst prüfen. Alles Gericht fängt an am Hause Gottes. Nur wenn die Kirche sich über die Ursache, die Begründung, die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der gegen sie eingenommenen Stellung klar ist, kann sie daraus lernen, für die Zukunft denjenigen Weg einzuschlagen, der ihr neues Vertrauen erwirbt und ihr die Erfüllung ihrer Aufgaben möglich macht. Salzmann, der große, in seinem schlichten Ernst und seiner Wahr­ heitsfreude die Herzen gewinnende Pädagog, geht in seinem „Ameisenbüchlein" (1805) von dem grundlegenden Satz aus: „Bon allen Fehlern und Untugenden seiner Zöglinge muß der Erzieher den Grund in sich selbst suchen." Er hebt ausdrücklich hervor, daß er nicht sagte: „Man" muß den Grund im Erzieher suchen, sondern der Erzieher selbst muß ihn in sich suchen. Wir 15e

228 wollen den Gedanken Salzmanns uns recht zu Herzen nehmen, gerade hier, wo wir von der Erziehungsaufgade der Kirche reden Es lassen sich ja eine große Reihe einzelner Grüirde angeben, die der Kirche das Vertrauen im Volk verkürzt haben. Der Arbeiter hielt sie für seine Feindin im sozialen Befreiungskampf, sah in ihrer Verbundenheit mit dem Staat, mit der herrschenden Wirtschaftsordnung und der in Besitz und Bildung iür ton­ angebend erachteten Gesellschaft die Fesseln, die sie sich selbst an­ gelegt hatte und in die sie auch ihn einzuspannen Lust hätte: er ivar von ihrer sozialen Gesinnung und Hilfsbereitschaft, durch mancherlei trübe Wahrnehmungen dazu gebracht, nicht überzeugt: er war so mißtrauisch geworden, daß er auch dem ausrichtigen Verlangen, ihn in seiner Not zu verstehen und ihm in seiner Aufwärtsbeivegung zu helfen, zweifelnd gegenüberstand Kleine persönlich erfahrene Kränkungen verallgemeinerte er. Durch un­ soziale Einrichtungen, wie Vermieten von Kirchplätzen, oder Nichtberücksichtigung seiner Slandesgenossen bei Kirchenwahlen, bol ihm die Kirche Anlaß zu entschiedener Klage. Ihre Welt­ anschauung konnte er nicht in Einklang bringen mit dem Welt­ bild moderner Wissenschasl, das ihm gezeichnet wurde, und das er im Hunger nach Bildung immer schärfer zu schauen begehrte: er legte es der Kirche als absichtlichen Täuschungsversuch aus, wenn sie von sich aus ein Erde und Himmel umspannendes Weltbild entwerfe und lehre: er nannte sie eine Verdummungsanstalt und ließ sich ausklären über ihre Geschichte; und als diese ihm als in Hexenprozessen und Inquisitionen und Wissenschaftsverfolgung

verlaufend mit stark entstellten Zügen vorgeführt wurde, da tvandle er sich mit Entrüstung von ihr ab; der einzelne hielt vielleicht das Bertrauensband noch fest, die Masse als solche zerschnitt es. Und die Glieder der Gesellschaft, die literarisch und ästhetisch ge­ bildet waren, die in Theater und Kunst und Wisseilschast und im geselligen Leben ihre Interessen ausgedrückt fanden, tvarcn wohl bereit, die Kirche vor den Wagen der Bolkserziehung zu spannen, aber nur soweit die anderen zu erziehen waren, nicht sie selbst. Sie selbst emanzipierten sich mit Geringschätzung von jeder tieferen

kirchlichen Beeinflussung. Natürlich nicht alle. Auch hier waren genug einzelne auszunehmen: aber durch die Welt der ,,Ge»

229 bildeten" ging ein allgemeiner Zug der Gleichgültigkeit und Ver­ achtung gegen die Kirche hindurch.

Doch es handelt sich nicht in erster Linie um diese einzelnen Gründe; es handelt sich vielmehr - wenn ich recht sehe um einen vierfachen Gesamteindruck, der zu dem starken Mißtrauen gegen die Kirche geführt hat: Berkirchlichung und damit Veräußerlichung der Religion, Verbindung freien religiösen Lebens mit staa ts g es e tz l i chen, Zwang, Mangel an Wahrheit und Mangel an Liebe. Wir wollen der psychologischen Grundstimmung, die in diesen Empfindungen zum Ausdruck gebracht wird, nachzugehen versuchen.

Die Kirche ist die Vertreterin, Pflegerin, vüterin der Reli flioii. Religion ist etwas absolut Innerliches. Religion wirkt nach außen, zeigt sich nach außen in Früchten des sittlichen Lebens, aber ihr Wesen und Kern ist ein ganz innerlicher Vorgang, der als solcher gar nicht nach außen hin gezeigt iverden darf, wenn er seine innere Kraft und Wirkung bewahren will. Die Zirkulation des Saftes des Weinstocks in der Rebe ist eine lebendig vorhandene, aber tief zarte und geheimnisvolle, nach außen geradezu ge­ schützte. Die Frucht der Traube ist der einzige Beweis, daß in der Rebe gesundes Leber: zu finden ist. Religion ist die Beziehung des Mensche«: zu einer schlechthin übergeordneten Macht. Christ­

liche Religion ist die Vermittlung einer inneren Lebensverbindung zwischen der Seele des Menschen mit ihrem Urgrund und ewigem Lebensquell, mit dem unergründlichen, unfaßbaren, und doch in dieser Lebensverbindung als Realität erlebbaren, ewigen, heiligen Gott, dessen Name nur mit tiefer Ehrfurcht genannt werden kann. Was Jesus Christus in dieser Lebensverbindung mit Gott seinen« Vater erfahren hat, was er darüber ausgesagt hat, was er an Kräften der Menschheit dargereicht hat, um sie durch die Gabe des heiligen Geistes und die Macht seiner überwindenden Liebe, mit dem lebendigen Gott in Verbindung zu bringen, das ist christ­ liche Religion. Das persönliche Dinaufgezogenwerden auf die Höhe religiöser Erfahrung, und die Fähigkeit, Leben auf andere zur Lebensweckung wirken und Liebe auf andere zur Entzündung der

230 Gegenliebe ausstrahlcn zu lassen, ist Religiosität, oder subjektiver Besitz der objektiv dargebotenen Religion. Jede Geisteswahrheit wird vennaterialisiert, wenn sie zn einen, Gegenstand konkreter Überlieferung gemacht wird: jede lebendige Geistesregung wird der Gefahr der Schematisierung ausgesetzt, wenn sie zu fassen gesucht wird, wenn man sie hineingießt in die Form von Worten, von Vorstellungen, von Begriffen; sie verliert ihre ursprüngliche Kraft und Frische, ihr quellenhastes Wesen. Jede Selbstverständlichkeit im Empfinden sittlichen Taktes, ange­ borener Zartheit, wird ihres morgensrischen tautropfena.rligen Glanzes beraubt, wenn man sie in Paragraphen formt oder sie in Forderungen und Gesetzesbestimmungen ümgießt. Jede Reli­ gion verliert an Wärme und überirdischer Hoheit, wenn sie zur Institution wird; die Überlieferung religiösen Lebens wird der herzhaften Innigkeit beraubt, wenn sie organisiert wird; der Geist wird eingeschnürt, wenn das Recht sich seiner bemächtigt, und ihn in Verfassungsbestimmungen kodifiziert. Dieser großen Gefahr ist auch die Religion ausgesetzt, sobald ihre ursprünglichen Geistesvertreter sich zu einer organisierten Kirchengemeinschaft zusammenschließen. Und doch kann keine Wahr^ heit in der Welt aus die Dauer bestehen, wenn sie nicht Vertreter findet, die es als ihre Aufgabe erkennen, sie den kommenden Generationen zu überliefern. Die Vermittlung der Wahrheit braucht Lehrer, die sie lehren. Darum ist eine Kirche notwendig. Ohne Kirche hört die Weitergabe der Religion an die nächste Generation auf. Lhne Kirche stirbt die Religion ab; ohne Kirche erlischt der religiöse Funke; die Kirche mit ihrer Organisation ist die Rinde, welche das Weiterzirkulieren des Geisteslebens er­ möglicht und vor Gefahren schützt. Weil eine Kirche sich organisieren muß, will sie anders der Heranwachsenden nnd kommenden Generation dienen, darum muß die Kirche ein Rechtsgetvand anziehen. Sie trägt ihren himm­ lischen Schatz in irdenen Gefäßen, aber sie kommt ohne das irdene Gefäß nicht aus. Sie organisiert sich durch ihre Ver­ fassung zur Rechtsgemeinschaft, und ist doch ihrem ursprüng­ lichen Wesen nach Geistesgemeinschast; sie setzt sich in ihrer Eigen­ art ans wahrhaftigen Bekennern zusammen, und umfaßt doch als

231 ihre Glieder alle, die fich zu ihrer Rechtsgemeinschafl verbinden: sie ist darauf angewiesen, daß in allen, die ihr zugehören, bewußtes religiöses Leben pulsiert, und rechnet doch als ihr zugehörig alle die, welche in ihre Mitgliedschaft hineingeboren werden: sie ist Bekennergemeinschast ihrem Wesen nach, und Bolkskirche ihrer Ge­ schichte und Erscheinung nach, und organisierte Landeskirche ihrer Rechtsverfassung nach. In dieser Tatsache liegt für die Kirche die große Gefahr der Veräußerlichung ihres religiösen Gutes. Es ist, als ob da­ frisch sprudelnde Quellwasser auf Flaschen gefüllt würde, und da­ durch seine» ursprünglichen Charakter verlieren würde. Diesen Abstand zwischen Wesen und Erscheinung, zwischen Inhalt und Form, zwischen Geist und Rcchtssatzung, zwischen Leben und organisiertem Lebensgehalt empfinden unsere Zeit­ genossen, wie er zu allen Zeiten empfunden worden ist. Aber nichts in der Welt verträgt weniger die Gefahr der Veräußevlichung, als was seinem Wesen nach das innerlichste ist, die Reli­ gion. Wenn Engel fallen, sagt das Sprichwort, werden Teufel daraus. Je höher und reiner das Geistesgut, um welches es sich handelt, desto mehr fällt der Abstand der Hülle ins Auge, in der es dargereicht wird. Zu dem Eindruck der Verkirchlichung und damit der Veräußer­ lichung der Religion kommt der zweite hinzu, der die Zeitgenossen mit Mißtrauen gegen die Kirche erfüllt, das ist die Verbindung freien religiösen Lebens mit staatsgesetzlichem Zwang. Die hier vorliegenden Tatsachen sind aus das engste mit dem Zustand der Kirche verbunden, wie wir ihn soeben kennen gelernt habe». Die Rechtsorganisation der Kirche schiebt sich in den Vordergrund: die Institution als solche stellt den Geist unter Zwangsgewalt. Das ursprünglich aus der Herzenstiefe heraus auellende Danken und Jauchzen wird zu einem wiederkehrenden Teil der Kultusordnung: das Klagen einer in ihrer Gottesferne um das Wiederausgenommemverden in die Gottesnähe ringenden Seele wird zu einem sich wiederholenden Bestandteil in der gesetz­ lich sestgelegten Liturgie; das freie, fröhliche Sichbekennen zu Jesus als dem Retter und Herrn des Lebens wird zu einem in bestimmte Worte gefaßten Bekenntnis, dessen einzelne Bestand-

232 teile aus einzelnen sachlichen Aussagen zu bestehen scheinen, zu denen die persönliche Zustimmung ausgesprochen wird. Alles Institutionelle tritt mit größerem oder geringerem Zwangs charakter in die Erscheinung, wenn es auch nur ein moralische, Zwang ist, der aus den einzelnen Handlungen zu liegen scheint, llbe, der Konfirmation scheint das gleiche moralische Muß zu liegen, wie über der Trauung, wie über dem Abendmahlsgang, Hin­ über dem Begräbnis. Es bildet sich ein gewisser Aberglaube ans. als wenn ihr äußerer Vollzug von einem geheimnisvollen Wunder wirken begleitet wäre, und ihre äußere Unterlassung als Ursache für das Heraufziehen finsterer Schicksalsmächte zu fürchten wäre, Tradition und Herkommen, Sitte und Gewohnheit, Konvention und Mode wirken ivie ein ungeschriebener Rechtszwang, und verwandel!, die innere Herzenssrömmigkeit in äußere Kirchlichkeit, in den Boll zug des sonntäglichen Kirchgangs und der mit dem kirchlichen Kultusleben im engeren und weiteren Sinn verbundenen Hand lungen. Und durch das Geld, welches die Kirche als Institution braucht, ragt sie noch mehr in den Rechtszwang hinein. Denn nun werden Gebühren erhoben für einzelne Handlungen; eine feste Besoldung wird verlangt für ihre Angestellten; der freie Diener des Wortes, der Herold des Geistes, der Berkünder der Liebe, der Prophet der Frömmigkeit ivird so zum besoldeten Beamten, zum „berufsfrommen" Arbeiter. Und damit das Kirch gebäude hergestellt und unterhalten iverden kann, und der Pfarre, seinen Lebensunterhalt empfangen kann, niüsscn Kirchensteuer» erhoben werden. Sie machen den Gegensatz gegen den innere» Geistescharakter der Frömmigkeit besonders fühlbar. Darum er rege» sie den lebhaftesten Widerspruch, und sind eine Quelle der Abneigung gegen die Kirche. Und von dieser Erfahrung der Ab neigung werden nicht nur die Pfarrer betroffen, sondern auch die Behörden, und diese in um so höherein Grade, je mehr ihre Tätig­ keit eine rein mit der äußerlichen Organisation de, Kirche zu­ sammenhängende ist. Der Rechtsorganisation der Kirche lieh der Staat seither seinen starken Arm zu ihrer Durchführung. Er sorgte für die zwangsweise Erhebung der Kirchensteuer, er sorgte für die zwangs

233 weise Erteilung des Religionsunterrichts, er sorgte für dessen zwangsweisen Besuch durch die Kinder, er sorgte, daß jeder Staats­ bürger sich zu einer Religionsgemeinschaft bekenne, er gab dieser Sorge manche Zwangsbeihilse. Das tat der Staat, weil er wohl erzogene Bürger brauchte, die sich der staatlichen Ordnung fügten; darum unterstützte er die Kirche; es waren doch schließlich die­ selben Polksgenossen, die in dem Staat ihre nationale Rechts­ ordnung, und in der Kirche ihre kirchliche Rechtsordnung vor sich Hattert; Staat und Kirche bildeten durch die Gemeinsamkeit der Volksgenosseil und durch die in reichem Maße vorhandene Ge meinsamkeit der Interessen eine starke Einheit. So wurde der Gegensatz gegen den Staat zur gleichzeitigen Feindschaft gegen die Kirche. Die gesetzliche Zwangsordnung der Kirche wurde übel empfunden. Es ist kein Wunder, wenn aus der Beräußerlichung des reli giösen Lebens und seiner gesetzlichen Zwangsordnung der Bor­ wurf des Mangels an Wahrheit gegen die Kirche abgeleitet wurde. Denn es mar ja zu leicht möglich, daß das ganze innere fromme Leben zum Schein ausartete, zur Form, daß es geivissermaßen nur in der Maske vorhanden war, während sich hinter derselben die Unfrömmigkeit verbarg. Auf der anderen Seite konnte es vor­ kommen, daß alles, was nur die innerste Seite des religiösen Lebens betraf, zu einer äußeren Rechtsordnung gestempelt wurde, und daß dann mancher der äußeren Ordnung untertoorfen mürbe, ohne daß er innerlich mit seiner Überzeugung zustimmte. Man braucht nur an die Bekenntnisfrage zu denkeir, die das freie Be­ kenntnis der Bekenner zu einem Statut oder Gesetz der Institution umwandelte, und dadurch so viele auf dem Gebiete der Wahrheit in innere Not brachte. Es wurden dadurch Eindrücke innerer Zustimmung hervorgerufen, während die letztere in der Tat gar nicht vorhanden war. Sobald das innere fromme Leben in die Form der Institution oder der Satzung eingeht, ist es in Gefahr zu erstarren, buchstabenmäßig zu werden, die lebendige Geistesart zu verlieren und so zu verknöchern. Der Geist weicht zurück. Um so mehr sucht die Erfüllung des Buchstabens sein Schwinden zu verdecken. Die Außenseite der Frömmigkeit steigert sich. Man sagt mehr mit Worten aus, als man verantworten kann, man

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steigert die Gefühle und ihren Ausdruck, und kommt io immer mehr in die Gefahr der Übertreibung hinein. Übertreibung in frommen Aussagen ist Unwahrheit. Die Pharisäer des Evan­ geliums sind ein warnendes Beispiel. Die Gesetzesfrommen int auserlesenen Sinn nach außen müssen sich das Urteil aus dem Munde der Wahrheit gefallen lassen, daß sie Heuchler genannt werden. Sie wollen Fromme sein und keine Heuchler, und waren Heuchler und keine Fromme: das war die Folge der Materiali sierung der Frömmigkeit, Wirkung ihrer institutionellen 93er* kirchlichung. Dieser Mangel an Wahrheit wird aber, wenn er irgendwie mit dein Leben der Kirche in Zusammenhang ge­ bracht wird, mit vollem Recht ganz besonders tief und schmerz­ lich empfunden. Er beruht auf der Selbsttäuschung: der einzelne unterstellt sich nicht genügend der Zucht des Geistes: und die Kirche als Ganzes gerät in die Selbsttäuschung hinein: sie setzt die äußere Zugehörigkeit ihrer in sie hineingeborenen Mitglieder gleich mit deut Vorhandensein einer inneren frommen Herzens­ stellung; man rechnet mit bestimmten Zahlen evangelischer Christen, und sie sind doch vielleicht nur Christen dem Namen nach. Und umgekehrt macht man den Maßstab der Zugehörigkeit zur Kultusgemeinschaft und Rechtsorganisation der Kirche zu einem Ent­ scheidungspunkt im Urteil über die persönliche Frömmigkeit Und vielleicht hat der, der das äußere Kirchenband zerschneiden wollte, mir wahr sein wollen. Ihm widerstrebte der Schein. Solche Tat der Wahrheit kann gerade für ihn der An sang aus dem Weg seiner inneren Seelenrettung sein. Hätte Judas aus die Frage: Wollt ihr auch weggehen? mit einem Ja geantwortet, so wäre er wohl nie der Verräter Jesu geworden. Weil er äußerlich blieb, wurde seine Stellung zu Jesu von da an eine halbe, eine unwahre, eine verlogene; und eine Ausgeburt dieser inneren Unwahrheit war bann fein Verrat. Neben dem Mangel an Wahrheit ivird der Mangel an Liebe empfunden. Zweifellos wird in der Kirche der Gegenwart eine Liebestätigkeit entfaltet, die größer ist als in vergangenen Zeiten. Und doch hat die Kirche nicht Kräfte der Liebe genug entfaltet, um die ungeheueren sozialen Gegensätze in unserem Volk zu überbrücken. Wir waren zwei Hälften geworden im eignen Volk,

235 Vie sich nicht mehr verstanden; man unterschied sie in unrichtiger Weise als die Gebildeten und die Arbeiter; man hätte sie besser unterscheiden sollen als die auf der einen Seite literarisch und ästhetisch in ihrer Bildung orientierten und die aus der anderen Leite wirtschaftlich und nationalökonomisch in ihrer Bildung in­ teressierten und tzeschulten Volksgenossen. Neben der Bildung machte der Kapitalbesitz den großen Strich durch unser Volk; der Mittel­ stand füllte die Kluft nicht aus. Besitzende und Besitzlose, Reiche und Arme, Selbständige und Unselbständige standen sich gegen­ über; der eine wußte nichts von der Not des anderen, Neid und Verbitterung zogen in die Herzen ein; der schwere Arbeitsbmd ließ tausende unter ihin seufzen; die entsetzlichen Wohnungs­ verhältnisse in den Mietkasernen unserer Großstädte, die an dem Sichelendfühlen der großen Massen die Hauptschuld tragen, ver­ finsterten das Gemüt; man meinte, hinter den seidenen Vor­ hängen wohne das Glück, denn da wohne der Luxus und der lfberfluß; und man ahnte nicht, daß auch dort Leiden schwerster Art, körperliche und seelische, der tägliche Gast waren, und das innere Glück durch keinen äußeren Besitz gewährleistet wurde. Die Kirche, besonders im Rahmen der Einzelgemeinde, mußte der neutrale Boden des Zusammentreffens für alle werden; hier mußten sie sich finden, sich aussprechen, sich achten lernen, hier gemeinsam arbeiten an der Erneuerung des Volks im Sinn einer sozialen Gesinnungsgemeinschaft, von der wir oben gesprochen haben. Und dieser Boden fehlte. In unseren Großstädten mit ihren Massengemeinden und ihrer unbeschreiblich geringen seelsorgerlichen Versorgung hatten weder die einen noch die länderen einen Heimat­ boden in der Gemeinde. Die Kirchgänger kannten sich kaum, grüßten, sich kaum, gingen aneinander vorbei; und die nicht in die Kirche kamen, standen abseits. Es fehlte der Geist der Liebe, der alle Glieder am Leibe Christi zu einer organischen Einheit znsammenfaßt, und jedem die Gerechtigkeit zuteil werden läßt, auf die er als Mensch und Volksgeirosse und Bruder Anspruch hat. Verstehen wir nun, warum man an der Eingangspforte zur neuen Zeit, an dem Tore des Sozialismus der Zukunft, der Kirche mit so gar wenig Vertrauen gegenübersteht? Die Losung: Tren­ nung von Staat und Kirche bedeutet für viele soviel wie das

236 Feldgeschrei: Wir wollen uns trennen von der Kirche. Den Staat, soweit er nötig ist zur Durchführung der neuen sozialen Ortu nung, nehmen wir für uns in Anspruch. Wollt ihr, die ihr auf Frömmigkeit Wert legt, an eurer Kirche fest halten, so tut's. Opfert dafür, was ihr habt, gebt dafür, was ihr mögt; wir wollen euch in dem privaten Erweis und Betrieb eurer Fröinmigkeit nicht stören. Aber laßt uns im öffentlichen Leben unverworren nut eurer Kirch«. Wir sprechen ihr die Erziehungsbedentung und Er ziehungskraft ab, die ihr ihr beilegt. Darum lehnen wir ihre Mithilfe für die Zukunft dankend ab. Die so sprecl-en, sind im Irrtum begriffen. Sie verkennen die Bedeutung, die das menschliche Herz hat und die seiner Ein stellung auf gut oder böse zukommt; sie unterschätzen den Einflust sittlicher Kräfte und ebenso die furchtbare ZerstörungSmöglichkeit. welche durch die ungebundene sittliche Zügellosigkeit liervorgerusen wird; sie bedenken nicht, daß ihre ablehnende Stellung zur Kirche die völlige Untergrabung des Glücks und Gedeihens der neuen sozialen Zukunftsordnung in sich einschließt. Wir könnten es ja von feiten der Kirche aus auf das Experiment ankommen lassen Wir könnten ja ruhig abwarten und zusehen, wie sich die Wahr heit des Wortes auch hier erfüllen wird: „Was nicht mit Gott hebt an, und sich zu Gott hinwendet, ist um und um mißtan. mißangesahn, mißendet; den Schein, etwas zu sein, mag's haben eine Frist, bald wird es offenbar, daß es nichts war, nichts ist!" Und diese Wahrheit wird sich erfüllen. Aber wir können das Ex periment nicht »vagen. Dazu ist unser inneres Berantwortungs gefühl zn rege. Dazu ist auch die Liebe zu unserem Volke zu groß. Wir wollen von feiten unserer Kirche wirklich ehrlich un serem ganzen Volke dienen. Wir wollen die wahre Liebe üben, die keinen ausschließt, sondern jeden einschließt. Wir wollen keinem zu leid leben, nud jedein das beste zu bieten suchen, ivas mit haben. Wir wollen am Sozialismus der Zukunft mitarbeiten; wir wollen Freiheit und Gleichheit und Brüderlichkeit als leucht tende Ideale uns von neuem zu Herzen nehmen. Wir wollen nicht das Unsere suchen, sondern das Heil unserer Brüder und unseres Volks. Diese unsere Gesinnung gibt uns das Recht, von ganzem Herzen alle unsere Brüder und Volksgenossen um Ber

237 trauen zu bitten für unsere Kirche und für ihre Arbeit. An­ der Vergangenheit wollen wir lernen, das abzutun, was dies Ver­ trauen gestört oder untergraben hat, und für die Zukunft wollen wir versuchen, uns so einzurichten, daß die Bitte um Vertrauen gerechtfertigt wird. Hier ist nun unsere grundlegende Aufgabe die Verinnerlichung der Kirche bei Wahrung ihrer Einheit als Volkskirche; in diese Aufgabe schließen wir all das ein, was wir oben in den einzelnen Punkten zur Erklärung des Mißtrauens gegen die Kirche auskinandergelegt haben. Dahin gehört in allererster Linie die Frage des Weiter­ bestandes der Kirche als Volkskirche. Eine Kirche ist eine Bekennergemcinschaft. Die bewußten Mitglieder der christlichen Kirche bekennen sich zu Jesus Christus, als dem Retter und Herrn ihres Lebens. So ist es neutestamentlich zu fassen. Manche sind ge­ neigt, das Wort Retter in dem Wort Herrn bereits mit ein­ begriffen zu denkn, oder aus dem sich Bekennen zu Jesus dem Herrn als Wirkung oder auch als Grundlage die tatsächliche Er­ fahrung der Rettung abzuleiten. Neuerdings wird in dem Auf­ ruf der Münsterschen Professoren Schmitz und Heim und der ..Flugschrift der Elberfelder Arbeitsgemeinschaft für eine freie evan­ gelische Volkskirche" (im Zusammenhang mit der kirchlichen Zeit­ schrift: Licht und Leben) das neutestamentliche Grundbekenntnis : Jesus ist der Herr als das Symbol der einheitlichen Zusammen­ fassung der Kirche in den Mittelpunkt gestellt. „Die freie evan­ gelische Volkskirche muß eine Glaubensgemeinschaft sein; dem Herr­ schaftsanspruch Christi gegenüber gibt es keine Neutralität." Zu­ gleich wird betont: „Die freie evangelische Volkskirche muß den redlichen Versuch wagen, ohne jeden rechtlichen Bckenntniszwang auszukommen." Diese Gedanken verlangen mit Recht Zustimmung. Wenn wir eine Volkskirche bleiben wollen, die sich durch den Geburts­ zuwachs ergänzt, und die Kindertaufe festhält, dann müssen wir um der inneren Wahrheit und Schlichtheit willen bei dieser Grund­ lage: Jesus der Retter und Herr oder Jesus der Herr bleiben. Das ist unsere Eigenart, die uns als Christen kennzeichnet; das ist geschichtlich der Anknüpfungspunkt an die Gemeinde des

238 Neuen Testaments; dort wurde jeder getauft, der in der Taufe bereit war, sich zu bekennen zu Jesus als dem Herrn seines Lebens. Darum wollen wir hieran festhalten, aber auch hieran uns genügen lassen. Und das soll unsere Freude sein und unsere Arbeit, allen Gliedern der Kirche und allen Gliedern des Volks dazu i« helfen, das; Jesus ihr Herr wird. Dann wird jeder ein Gotteskind, und dann werden sie alle eine Familie von Brüdern und Schwestern. Das muß aber nun im kirchlichen Leben zum Ausdruck komnien. Jesus der Herr! Darum keinen institutionellen Zwang! Ordnung wohl: denn ohne Ordnung kann man nicht leben. Aber alle Ordnung ist menschliche Einrichtung. Die Ordnung ist um der Menschen willeir da, nicht die Menschen um der Ordnung willen. Alle Ordnung im Kultusleben, in der Rechtsorganisation der Kirche muß eine dienende sein. Der gesetzliche Agendenzwang schadet. Die gesetzliche Festlegung der Liturgie führt zur Bin­ dung der Frömmigkeit und nicht zu ihrer Entfaltung. Wir brauchen für die Frömmigkeit freie Bewegung. Agende und For­ mulare müssen der (Gemeinde dargeboten werden zur freien Be­ nützung. (So ist's mit dem Kirchenbuch in Frankfurt a. M. ge­ schehen.) Schlichtheit und Wahrheit sollen den Gottesdienst aus­ zeichnen, Herzlichkeit und Innigkeit soll ihn durchziehen, heilige Ehrfurcht vor Gott und warme Brüderlichkeit aller Teilnehmer untereinander sollen sein Wesen ausmachen. Wie die Ordnung, so muß auch das Recht in der Äirche dienen. Darum muß die Kirche geleitet werden von der Gemeinde und denen, die sic als die Leute ihres Vertrauens beruft. Aus den Gemeinden und ihren Vertretern setzen sich die provinziellen und landschaftlichen Verbände zusammen, die dem größeren Kirchen­ körper zu dienen berufen sind. Wie der Pastor der Gemcinjde dient, so dient der Bischof der Kirche. Solcher Dienst durch das Wort ist Leitung der Gemeinde und Leitung der Kirche. Darum sind alle Verwaltungsbeamte Helfer in diesem Dienst: aber die Verantwortung trägt in Kirche und Gemeinde der Dienst, der durchs Wort geschieht. Der Bischof wird von den Vertretern aller Gemeinden gewählt unter sachkundiger Beratung seitens der Pfarrer der Gemeinde; der Pfarrer wird von den Vertretern der ein-

239 zelnen (tfemeinbe gewählt unter sachkundiger Beratung seitens des Bischofs. Bischofsamt ist Besuchsamt. So wird der ganze Kirchen­ dienst verinnerlicht, vertieft. Und alles kirchliche Handeln und Sichbewegen wird aufgebaut aus der Grundlage des Vertrauens. Man befiehlt nicht und zwingt nicht; man bringt Vertrauen entgegen. Wo Vertrauen ist, da wird Freiheit in der Entwicklung gewährt. Freiheit braucht die Kirche. Die Trennung von Staat und Kirche ist ihr willkommen, sofern sie die Kirche vom staatlichen Rechtszwang frei macht. Sie ordnet fortan ihre Angelegenheiten selbständig. Sie will auch niemandes Mittel für sich in Anspruch nehmen, der nicht bereit ist, aus innerer Freudigkeit ihr die Mittel zu gewähren. Das Problem der Besteuerung mutz in der Kirche sehr durchgedächt werden. Wenn es gelänge, aus der Zwangs­ besteuerung eine freiwillige Selbstbesteuerung zu machen, aus den Beiträgen gesetzlicher Art Gaben quellenhaft sprudelnder Liebe, so wäre viel gewonnen. Bei der Auseinandersetzung mit dem Staat soll alles nach Gerechtigkeit, Ordnung und Billigkeit zugehen, nicht so, daß die beiden froh sind, nichts mehr miteinander zu

tun zu haben, sondern so, daß beide sich freuen, in! der Freiheit einer dem anderen um so besser dienen zu können. Vor allem soll dies zur Geltung kommen auf dem Gebiet der Schule. Der Staat verwaltet die Schule, organisiert sie, sorgt für die Bildung der Jugend. Die Kirche dient ihm durch den Re­ ligionsunterricht. Sie ist dazu besonders berufen, denn ihr fällt ja die religiöse Erziehungsaufgabe des ganzen Volkes zu. Der Religionsunterricht wird als integrierender Bestandteil der staat­ lichen Schule anerkannt. Die Kirche trägt für ihn die Ver­ antwortung. Das heißt nicht, die Kirche erteilt ihn nur durch ihre kirchlichen Organe. Soiveit sie Kräfte dazu stellen kann, soll sie es tun. Sie freut sich, wenn die Lehrer der Schule ihrerseits Freudigkeit haben, die innere Herzensnötigung, diesen Religions­ unterricht zu erteilen. Kein Zwang soll auf sie ausgettbt werden. Jeder Lehrer soll sich völlig frei dafür oder nicht dafür entscheiden. Aber denen, die mit ihrem Herzblut dabei sind, soll der Unterricht gelassen werden. Und zwar wieder mit dem vollen Vertrauen. Die Kirche will nicht konkurrieren mit dem staatlichen Aufsichts-

240 recht bei Schule. Dies Recht gehört dem Staate, nicht ihr. Wer ihr gehört der Dienst der Liebe. Und diesen bietet sie den Lehreirn an, in Fortbildungskursen, freien Konferenzen und Besprechungen. «Gerade hier soll sich die neue Zeit zeigen. Ach, wenn es doch der Kirche gelänge, verlorenes Vertrauen wiedcrzugewinnen, und ihrer­ seits so vertrauensvoll, so geistesmächtig und so liebewarm allen zu begegnen, daß sie merkten, wes Geistes Kinder die Jünger Jesu lind, sein sollen und sein wollen!

Auch für die Kinder bestehl nicht der gesetzliche Zwang des Staates zum Besuch des Religionsunterrichts. Es besteht nur die Pflicht der Mird>e, für die Unterweisung ihrer getauften Jugend zu sorgen. Will jemand, daß sein Kind in der christlichen Re­ ligion nicht unterwiesen werde, dann soll er es nicht taufen lassen, sondern warten, ob es später selbst die Taufe begehrt. Wer sein Kind als Kind taufen läßt, muß bon der Kirche die Einlösung ihrer Verpflichtung, das Kind zu unterweisen, verlangen dürfen Hat er es taufen lassen, wird aber danach anderer Meinung und tritt aus der Rechtsorganisation der Kirche aus, so hat die Kirche nur das Mittel freundlicher Aussprache, herzlicher Darlegung ihrer Überzeugung, und Bewährung ihrer Liebe zu dem Kinde; aber sie hat keinen gesetzlichen Zwang. Darum sollen Dissidentenkinder frei sein vom Zwang des Besuches des Religionsunterrichts, wenn ■'ne für sie verantwortlichen Erzieher es verlangen Und innerhalb des Religionsunterrichts malte das Ver­ trauen auf die Güte und die Kraft dessen, was dem Kinde von der Geschichte Jesu erzählt wird. Keine Handlung nehme dem Lehrer, ivie dem Kinde, den Eindruck: „Der Boden, aus dem du stehst, ist heiliges Land." Kein Einprägen von Sätzen mit Androhung von Strafen; sondern freie freudige Gewinnung für die Sache selbst. Ein Religionsunterricht, der mit Zwangsgewalt arbeitet, liegt in keinen pädagogisch guten Händen. Hier im Gesinnungs­ unterricht muß gerade die Gesinnung ihre überragende geistige Kraft entfalten. Freiheit und Freude, Vertrauen und Liebe müssen seine Zierde sein, und die selbstwillige Begeisterung der Kinder sein schönster Schmuck. So soll Wahrheit und Lauterkeit die Herzen von früh an erfüllen. Es sollen keine scheinfrommen Menschen,

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keine aus Gewohnheit, aber ohne Nachdenken frommen Menschen erzogen werden, sondern solche, die innerlich voll Geistes nach außenhin ein Leben führen in sittlicher Kraft und die sich jnit ihren Brüdern zusammenschließen zu einer Gemeinschaft der Bruderliebe. Alle Erziehung geht über zur Selbsterziehung, wenn sie ihr Ziel einigermaßen erreicht hat. Die Seelsorge ist der Liebesdienst auf dem Wege der Selbsterziehung, den die Kirche ihren Gliedern anbietet. Rat und Trost, Stärkung und Aufrichtung, Warnung und Hilfe geht von der seelsorgerlichen Liebe und Treue aus. Wir wollen besonders in den Großstädten die Zahl der Seelsorger vermehren. Jetzt gibt es 1.6 400 Pfarrer in Deutschland auf dem Land und in kleinen Städten zur Versorgung von 30 Millionen Evangelischen, und 1'600 Pfarrer in Großstädten für 10 Millionen Evangelische. Sollte ihre Zahl entsprechend sein der Zahl der Seelsorger auf dem Land, so müßte sie 5400 betragen. So viele Arbeiter fehlen uns. Vielleicht läßt sich manches bessern durch eine bessere Verteilung der Kräfte, besonders durch Zusammcwlegung kleiner und kleinster Landgemeinden zu größeren Pfarr­ bezirken. Vielleicht müssen noch andere Wege eingeschlagen wer­ den, um der Not zu steuern. Aber nur wenn wir mehr Seel­ sorger haben, bekommen wir auch kleinere, in sich zusammen­ hängende, miteinander lebende Gemeinden. Jede Gemeinde muß die Verwirklichung eines wahren Sozialismus im kleinen sein. Das ist chen unsere Trauer, daß wir als Kirche unserem Volk noch so wenig Anschauungsunterricht davon gegeben haben, wie eine wahre, rechte Gemeinde aussieht. Dann hätten auch unsere Volksgenossen eingesehen, daß ihr Gedanke, die Kirche arbeite für einen Himmel, für ein besseres Jenseits und vernachlässige das Diesseits, ein unrichtiger ist. Jedenfalls ist das sicher, daß wir nur in der Verankerung der Seele in ewigen übersinnlichen Ge­ wißheiten den festen Stand für sie erkennen, der sie im Wechsel der Zeiten und in der Unruhe des Lebens stark un|i> zuversichtlich und froh macht; daß aber von diesem Fundament aus alle Arbeit des einzelnen wie der Gemeinde und Kirche dem Lebensfortschritt hier aus Erden gehört, und daß unser Ziel ist, eine Menschheft zu bilden in Gottes Kraft, die aus freien Persönlichkeiten be­ steht, und sich untereinander in Liebe grüßt, die einen wahrRevolution und Kirche.

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242 haften, geistigen Sozialismus der Völkerbefreiung und Volks­ beglückung darstellt. Wir möchten von der Kirche aus zur Erreichung dieses Zieles mithelfen. Die Verinnerlichung der Kirche und die Wahrung ihrer Einheit als Bolkskirche soll uns dazu stark machen. Voll Begeisterung im Blick auf unseren Herrn, in dessen Herz hinein wir all unser sonstiges Leid und Weh legen, stehen wir am Tor der neuen Zeit. Unsere Hände sind gefüllt mit Gaben, die Er uns gibt. Wir bitten von ganzem Herzen um Ver­ trauen, damit wir unserem Volke dienen dürfen und unsere Gaben ihm Segensgaben werden zur Verbürgung einer innerlich glück­ lichen und dadurch gesegneten neuen Zukunst.

Kapitel 12.

Die Mobilmachung der Laien für die kirchliche Gemeindearbeit. Bon 91 u g u ft Cordes. Die kirchliche Mobilmachung der Laien dürfen wir zunächst als eine Gabe begrüßen, die uns die neue Zeit bringt. Sie vollzieht sich bis zu einem gewissen Grade von selbst als eine not­ wendige Folge der veränderten Verhältnisse. Die Laien sind durch den Gang der Dinge aus ihrer Passivität aufgerüttelt worden. Sie sehen den Bestand ihrer Kirche in Frage gestellt; denn der Staat entläßt diese aus seinem Schutz und seiner finanziellen Für­ sorge, die Erleichterung des 9lustritts aus ihr, das Entfremdet­ sein breiter Volksschichten vom kirchlichen Leben und die unaus­ bleibliche Erhöhung der Kirchensteuern lassen eine Massenslucht seitheriger Mitläufer erwarten, und — was vor allem aufrüttelnd wirkt — die religiöse Erziehung der Jugend erscheint ernstlich bedroht. So hat sich eine Beunruhigung auch solcher bemächtigt, die bislang nicht gerade viel kirchliches Interesse bekundeten. Es kommt ihnen auf einmal zum Bewußtsein, daß sie selbst mit­ verpflichtet sind, für die Erhaltung eines Lebensgutes einzutreten, das sie als etwas Selbstverständliches und unbedingt Gesichertes angesehen und darum nicht dankbar genug gewürdigt hatten. Hinzu kommt die demokratische Welle, die durch die Gedankenwelt der

243 Zeitgenossen flutet und Selbstregierung anstelle des Regiertwerdens zur allgemeinen Forderung werden läßt. Auch im Kirchenvolke gewinnt merflich der Gedanke Boden: Wir müssen und wollen unser Geschick selbst in die Hand nehmen. Und da gleichzeitig auch hier das Selbstbestimmungsrecht sehr erheblich erweitert wird, indem ohne Zweifel wie im Staate neben den Männern die Frauen fortan die Wählerschaft bilden, kommt eine Laienbewegung in Gang, die noch vor kurzem wohl niemand für möglich gehalten hat. Was seit Jahrzehnten von treuen, einsichtigen Christen ersehnt worden war, was der Deutsche evangelische Gemeindetag seit seinem Be­ stehen nachdrücklich und unermüdlich gefordert hatte, nämlich die Umbildung der Pastorenkirche in eine Laien- oder Gemeindekirche, scheint auf einmal in raschen Fluß zu kommen. Eine Folge der allgemeinen Umwälzung, die wir neben den sonst vielfach trost­ losen Wirkungen derselben doppelt dankbar begrüßen. Aber diese erfreuliche Gabe der neuen Zeit erspart uns nicht, in der kirchlichen Mobilmachung der Laien zugleich eine Auf­ gabe zu erkennen und in Angriff zu nehmen. Was sich unwill­ kürlich regt, muß zum bewußten Wollen erhoben werden, das Zu­ fällige ist planmäßig auszugestalten, das Augenblickliche bedarf nachhaltiger Triebkraft. Gerade jetzt, wo die Voraussetzungen für das Verständnis von der Wichtigkeit der Laienhilfe und für die Willigkeit vieler Laien, sich zu betätigen, mehr als je zuvor bei uns gegeben sind, gilt es nichts zu versäumen, um das Verständnis zu vertiefen und die Willigkeit fruchtbar zu machen. Es gilt die Anerkennung der allgemeinen Dien st pflicht in der Kirche vollends durchzusetzen und zu ihrer Durchführung deut­ liche, praktische Wege zu weisen. Ein Beitrag dazu möchte dieser Aufsatz sein. In dem demokratischen Zeitalter, dem wir entgegengehen, wird die Kirche von unten auf zu bauen sein, wird also ihren Schwerpunkt, ihre eigentliche Kraft mehr als seither im Leben der Einzelgemeinde haben. Bon entscheidender Bedeutung wird demnach sein, inwieweit es gelingt, die einzelnen Gemeinden zu lebensstarken Gebilden, zu wirklichen Gemeinschaften des Glaubens und der Liebe zu gestalten. Das aber hängt wesentlich davon ab, wie weit hier die Laisierung sich durchsetzt. Bekommen wir in unsern 16*

244 Einzelgemeinden einen kräftigen Einschlag verständnisvoller, schaffens- und opferfreudiger Laienhilfe, so braucht uns um die Zu­ kunft unserer evangelischen Kirchen in Deutschland nicht bange zu sein. Die Mobilmachung der Laien für die Arbeit in der Ge­ meinde — das ist das kirchliche Hauptproblem der Gegenwart und nächsten Zukunft. Wie lösen wir es? Ich bitte um sorgfältige Prüfung der folgenden Ausführungen. Die nächste Aufgabe besteht darin, daß in Predigt, Seelsorge und Jugendunterricht mit aller Entschiedenheit auf die Weckung und Pflege persönlichen, seiner Verantwortung für das Ganze be­ wußten, bekenntnisfreudigen, arbeitswilligen Christentums hinge­ arbeitet wird. Soll es zum Bau eines „geistlichen Hauses" kommen, so müssen vor allem „lebendige Steine" zugerichtet werden. Jene Erbaulichkeit, die sich mit trockener Lehrhaftigkeit, tönender Bered­ samkeit, Erregung frommer Gefühle, Vorführung geistreichelnder Gedankengänge begnügt, aber nicht auf solide, praktische „Erbauung" dringt, muß endlich verschwinden. Jeder Hörende und Lernende muß sich persönlich „angefaßt" fühlen, muß immer wieder unter dem Eindruck stehen: „Christ sein bedeutet etwas eminent Prakti­ sches, die ganze Persönlichkeit Durchdringendes, das ganze Leben Regelndes", muß jedesmal etwas mitnehmen können, was im täg­ lichen Leben angewandt werden will, muß auch ganz deutlich gesagt bekommen, wie er es nun anwenden soll. Kurz: die Verkündi­ gung des Evangeliums muß vollends herunter vom hohen unfruchtbaren Kanzelkothurn, muß zugleich evangeli­ sierender und laienmäßiger werden. Sodann ist weit nachdrücklicher als seither die treue Be­ teiligung am gottesdienstlichen Leben der Ge­ meinde als Pflicht jedes Gemeindegliedes zu betonen. Man ist bei uns in dem Eifer, den Wahn einer Verdienstlichkeit des Kirchen­ besuchs abzuwehren, vielfach zu weit gegangen. Ich weiß von Geist­ lichen, die jedes Jahr ihren Konfirmanden sagen: „Ihr braucht nicht regelmäßig in die Kirche zu gehen; man kann auch ohne das fromm sein; der Gottesdienstbesuch hat nur dann Wert, wenn man das Bedürfnis danach hat." Kein Wunder, daß solche junge Christen sich nie an den Besuch des Gottesdienstes gewöhnen und je länger, desto kirchenfremder werden. Aber ein reges Gemeinde-

2aftsbewegung für eine staatsfreie VolhsMrcbe. Von Karl Helm.

Die drohende Entstaatlichung und Demokratisierung der Kirche wird innerhalb der Gemeinschastsbewegung von weiten Kreisen als eine Befreiung empfunden. Während die Kirchenbehörden und der größte Teil der Pfarrer, besonders in den lutherischen Landes­ kirchen, dem Eindringen der demokratischen Bewegung in das Ge­ biet der Kirche mit banger Sorge entgegensehen und alles tun, um der roten Flut einen Damm entgegenzusetzen und vom alten Zustand zu retten, was zu retten ist, nehmen die Gemeinschafts­ kreise im großen und ganzen eine entgegengesetzte Haltung ein. Sie begrüßen die Demokratisierung der Kirche mit hochgespannter Er­ wartung. Es hat sich dieser Kreise ein Gefühl bemächtigt, das man in dem Wort Nietzsches ausdrücken könnte: „Heil uns, weh uns, der Tauwind weht!" Die Eisdecke schmilzt. Erstarrte und verjährte Berfassungs- und Kultusformen kommen wieder in Bewegung. Die Eisschollen treiben stromabwärts, und das fließende Wasser wird wieder sichtbar. Reformationsluft weht. Der Geist kann die Formen umgestalten. Das war die Stimmung, die durch viele Briese hin­ durchklang, die auf den Aufruf in „Licht und Leben" Nr. 48 „Für eine freie evangelische Volkskirche" aus allen Teilen des Reichs eingingen.

256 Woher kommt es, daß der Pietismus trotz seiner Königstreue doch zu allen Zeiten eine gewisse Neigung zu demokratischen An­ schauungen auf politischem und kirchlichem Gebiete hatte, während umgekehrt die dem Pietismus entgegengesetzte Richtung innerhalb der Kirche, das hochkirchliche Luthertum, fast immer politisch kon­ servativ war und für Erhaltung der Staatskirche eintrat? Daß die „Stillen im Sanbe" jeder Revolution fernblieben und doch von der Demokratie innerlich stark bewegt wurden, das hängt offenbar damit zusammen, daß sie von jeher innerhalb des alten Gegensatzes zwischen hochkirchlichem und freikirchlichem Gemeindeideal eine eigentümliche Mittelstellung einnahmen. Nach der hochkirchlichen Anschauung, wie sie z. B. Albrecht Ritschl in der „Geschichte des Pietismus" vertritt, ist bei aller religiösen Gemeindebildung das Ganze vor den Teilen. Der Ein­ zelne findet sich schon bei seiner Geburt als Teil eines Ganzen vor, das vor ihm da war. Er wird in die Kirche und ihren Heilsbesitz hineingeboren, wie er in den Staat hineingeboren wird, unter dessen Schutz er ruht, noch ehe er zum Bewußtsein erwacht ist. Die Kirche geht der Heilsentwicklung des Einzelnen voraus. Es ist deshalb kein bewußter Akt nötig, durch den der Einzelne in die Kirche eintritt und ein Glied der gläubigen Gemeinde wird. Es hat darum auch keinen Sinn, jemand zu fragen: Bist du bekehrt oder nicht? Bist du in die Gemeinde der Gläubigen eingetreten oder stehst du noch außerhalb? Denn der Lebenskeim der Tauf­ gnade ist jedem eingesenkt, der in die Kirche hineingeboren ist. Es gibt nur verschiedene Grade der Entwicklung dieses allen gemein­ samen Lebenskeims, wie das allen gemeinsame Staatsbürgerrecht dem einen mehr, dem andern weniger lebhaft zum Bewußtsein kommt. Einem Getauften ist die Frage, ob er bekehrt sei, ebenso unverständlich, wie einem geborenen Staatsbürger die Frage, ob er sich schon in die Bürgerlisten eingetragen habe. Dieser hochkirchlichen Anschauung steht die freikirchliche gegen­ über. Nach ihr ist bei aller religiösen Gemeinschaftsbildung der Einzelne vor dem Ganzen. Die Summe der Einzelnen tritt durch eine Art contrat social zum Ganzen zusammen. Es ist darum ein bewußter Schritt nötig, durch den der Einzelne ein Glied der gläubigen Gemeinde wird. Welcher Art dieser Schritt ist, ist hier

257 zunächst nebensächlich. Er kann in einem Bußkampf bestehen, der durch eine Höllenfahrt zu einer Himmelfahrt führt, in einem er­ schütternden Erlebnis, wie es der gründliche deutsche Pietismus von Franckc und Spener vorschrieb. Die Bekehrung kann sich aber auch auf die einfache Willenserklärung beschränken: „Ich bekenne mich zu Christus als meinem persönlichen Heiland und Herrn", wie es in englischen Freikirchen üblich ist. Die Umkehr kann all­ mählich oder plötzlich eintreten. Das Gemeinsame bleibt immer: Es muß ein bewußter Schritt geschehen sein, durch den der Einzelne in die Gemeinde eintritt. Nur durch eine Summe solcher Beitritts­ erklärungen kann überhaupt eine Kirche entstehen. An jeden Men­ schen muß daher die Frage gerichtet werden: Bist du bekehrt oder nicht? D. h. Bist du mit Bewußtsein in die Gemeinde der Gläu­ bigen ein getreten oder stehst du noch außerhalb derselben? Wenn man diese Frage ausschalten will, indem man alle Getauften für Christen erklärt, so wird damit das Erwachen persönlichen Glaubens von vornherein unterbunden. Die ganze Einrichtung der Hochkirche ist darum, vom freikirchlichen Standpunkt aus betrachtet, eine List des Feindes, um die Entstehung einer gläubigen Gemeinde zu ver­ hindern. Dieser teuflische Zweck wird dadurch am sichersten er­ reicht, daß man alle Menschen, die in einem bestimmten Lande geboren werden, in die Selbsttäuschung einwiegt, als besäßen sie das Heil bereits, als sei es ihnen schon zusammen mit der Staats­ angehörigkeit in die Wiege gelegt worden. Sobald wir uns diesen Gegensatz zwischen dem hochkirchlichen und dem freikirchlichen Gemeindeideal einmal deutlich gemacht haben, verstehen wir ohne weiteres, warum die Freunde der Hoch­ kirche politisch konservativ sind und für Beibehaltung der Staats­ kirche eintreten, warum dagegen die Vertreter der Freikirche zum politischen Liberalismus neigen und die Trennung der Kirche vom Staat herbeiwünschen. Vom hochkirchlichen Standpunkt aus be­ trachtet sind Kirche und Staat die beiden Mächte, die über uns stehen, weil sie vor uns gewesen sind. Wir haben sie nicht hervor­ gebracht, sondern sie haben uns hervorgebracht. Sie sind der Mutterboden unserer äußeren und inneren Existenz. Wir ent­ wurzeln uns selbst, wenn wir uns gegen sie auflehnen. Es ist das Gegebene, daß diese beiden übergeordneten Mächte eine unzerRevolution und Kirche. 17

258 trennliche Einheit bilden. Kirchenregiment und Staatsregierung müssen eine einheitliche Macht darstellen. Die überindividuelle Be­ deutung dieser Macht muß darin zum Ausdruck kommen, daß sie nicht vom Volk gewählt ist, sondern dem Volkswillen völlig unab­ hängig gegenübersteht. Das ist nur möglich, wenn Kirchen- und Staatsregierung vereinigt sind in der Hand der erblichen Monarchie, des Königtums von Gottes Gnaden. Umgekehrt erscheint einem Vertreter der Freikirche das landes­ herrliche Kirchenregiment als widernatürliche Verbindung von zwei ganz entgegengesetzten Dingen, von einer Gewalt, die über dem Willen aller einzelnen steht, mit einer Gemeinde, die nur durch den Willen von einzelnen zustande kommt. Eine christliche Gemeinde ist, von diesem Standpunkt aus betrachtet, nur als freier Verein möglich, der vom Staat völlig unabhängig ist. Da aber der Staat auch das Vereinsrecht des Landes in seiner Hand hat, so ist für die Freikirche jede Staatsverfassung eine Gefahr, bei der die Regierung nicht aus dem Volkswillen hervorgegangen ist, sondern auf irgendwelchen Vorrechten des Standes oder der Geburt beruht. Denn nur eine Staatsgewalt, die selbst auf demokratischem Wege zustande gekommen ist, also auf der freien Willensentscheidung gleichbe­ rechtigter Volksgenossen ruht, kann ihre Bürger unter keinen Um­ ständen hindern, sich zu freien Vereinen zusammenzuschließen, um ohne Gewissenszwang ihrer religiösen Überzeugung zu leben. . Wir mußten uns diesen Gegensatz deutlich machen zwischen hochkirchlichem und freikirchlichem Gemeindebewußtsein, zwischen monarchischer und demokratischer Grundstimmung, um die eigen­ tümliche Mittelstellung zu verstehen, die die Gemeinschastsbewegung von jeher zwischen diesen beiden entgegengesetzten Standpunkten einnahm. Die Gemeinschaftsbewegung ist ein Kompromiß zwischen dem hochkirchlichen und freikirchlichen Gemeindeideal. Sie bildet eine demokratische Gruppe innerhalb einer Gesamtkirche, die auf monarchischen Grundlagen ruht. Sie teilt mit der Freikirche die demokratische Unterscheidung zwischen Bekehrten und Unbckehrten, zwischen solchen, die durch einen bewußten Schritt in die Gemeinde der Gläubigen eingetreten sind, und andern, die noch außerhalb der Gemeinde stehen. Aber sie zieht nicht die Konsequenz, die die Freikirche aus dieser Unterscheidung für die äußere Gestaltung der

259 Kirchenverfassung zieht. Sie will nicht die Schar der Bekehrten als „reine Gemeinde" zu einer Sonderkirche vereinigen, die sich von der Hochkirche trennt. Sie bleibt mit vollem Bewußtsein in der Gesamtkirche, obwohl sie weiß, daß diese auf Voraussetzungen aufgebaut ist, mit denen sie nicht übereinstimmen kann. Sie will die Gesamtkirche nicht durch eine Revolution auseinandersprengen, sondern.sie von innen her wie ein Sauerteig durchdringen. Sie will schon durch ihr bloßes Dasein als ecclesiola in ecclesia eine Aufforderung sein zur persönlichen Bekehrung der einzelnen, wenn ihr auch fortwährend entgegengehalten wird, es habe gar keinen Sinn, diese Aufforderung an eine Gesamtkirche zu richten, in der jeder schon durch die Kindertaufe in den Gnadenbund Gottes aus­ genommen sei. Weil der Pietismus in der Bekehrungsfrage mit der Freikirche geht, steht das pietistische Ideal einer gläubigen Ge­ meinde in allen Beziehungen im Gegensatz zum Gemeindebewußt­ sein der Gesamtkirche, in der er lebt. Dieser Gegensatz muß immer wieder zu Zusammenstößen führen. In allen Fragen der Kirchen­ verfassung müssen ja entgegengesetzte Auffassungen zutage treten, z. B. in der Frage, wer berechtigt ist, am Abendmahl teilzunehmen, was für Männer in eine Gemeindevertretung hineingehören, wer berufen ist, das Evangelium zu verkündigen und eine Gemeinde zu leiten. Aber diese Spannung zwischen Gemeinschaftsideal und Gesamtkirche und die Reibungen, die sich daraus ergeben, nimmt die Gemeinschaftsbewegung mit vollem Bewußtsein auf sich als eine Last, die mit ihrer Missionsaufgabe an der Kirche zusammen­ hängt. Wenn diese Spannung auch manchmal zu Kämpfen mit unduldsamen Pfarrern, ja gelegentlich zu einer Art Christenver­ folgung innerhalb der Kirche geführt hat, so läßt sich die Gemein­ schaftsbewegung, solange sie ihrer Eigenart treu bleibt, dadurch doch grundsätzlich nicht aus der Kirche herausdrängen. Nicht bloß weil sie eine Missionsaufgabe an der Kirche zu haben glaubt, sondern auch um ihrer selbst willen. Um des Gemeindeideals willen, das sie mit den Freikirchen teilt. Denn — das hat die Geschichte der Freikirchen gezeigt — sobald man den Versuch macht, das Ideal der reinen Gemeinde in die irdische Wirklich­ keit umzusetzen und die Gemeinschaft der Bekehrten nicht bloß religiös zusammenzuschließcn, sondern als sichtbare Kirche mit

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eigener Rechtsgrundlage und Vermögensverwaltung zu organi­ sieren, verliert die Bekehrung schon nach wenigen Generationen ihren innerlichen Charakter als religiöses Erlebnis und sinkt zu einer äußerlichen Beitrittserklärung herab, die in vorgeschriebcner Form abgegeben wird. Vor dieser Erstarrung zu einem kirchlichen Sondergebilde bleibt die Gemeinschaftsbewegung nur dann be­ wahrt, wenn sie das schützende Vaterhaus der Volkskirche nicht verläßt, mag sie sich darin manchmal auch noch so sehr beengt fühlen und mißverstanden vorkommen. Denn nur solange sie ihr Deimatrecht in der Volkskirche nicht ausgibt, kann sie sich auf ihre religiöse Ausgabe beschränken und bleibt von allen Geschäften der äußerlichen Kirchenregierung und Finanzvcrwaltung entlastet. Damit haben wir uns zunächst einmal die innere Spannung zum Bewußtsein gebracht, in der sich die Gcmeinschastslcute be­ finden als Vertreter eines freikirchlichen Gemeindeideals innerhalb einer Kirche, die auf einer entgegengesetzten Grundlage ausgebaut ist, als Träger einer demokratischen Grundstimmung innerhalb einer Landeskirche, die auf monarchischen Grundlagen ruht. Bon hier aus verstehen wir zunächst die Erregung, die schon der bloße Gedanke an eine nahende Entstaatlichung und Demokratisierung der Kirche in den Gemeinschaftskrcisen Hervorrufen mußte. Von hier aus können wir aber auch die Aufgabe bestimmen, die der Ge­ meinschaftsbewegung bei einer kirchlichen Neugestaltung zukommt. Als die Revolution das landesherrliche Kirchcnregiment weg­ fegte, entstand in den Gemcinschastskreisen sofort der Eindruck, damit seien die alten Landeskirchen zusammengcbrochen. Mit dem Sturz der landesherrlichen Kirchenrcgierung war — das erkannten die Gcmeinschaftskrcise mit sicherem Instinkt — nicht bloß eine Turmspitze abgetragen, die leicht durch ein Notdach ersetzt werden konnte, ohne daß das übrige Gebäude Schaden litt. Es war viel­ mehr, wie wenn der Kopf von einem lebendigen Körper abgetrennt worden wäre. Der Rumpf lebt nur scheinbar noch fort, wenn er auch zunächst noch keine Veränderung zeigt und lebhaft versichert wird, in der Kirchenverwaltung sei, abzüglich des Landesherr^ alles beim alten geblieben, denn der Oberkirchenrat, die Konsistorien und Synoden arbeiten ja unverändert fort. Trotz dieses äußeren Fortbestandes der alten Kirchenform ist für das Volksbewußtsein

261 mit dem Sturz des Landesherrn und der Lostrennung der Kirche von der Monarchie das tiefste Wesen der Landeskirche verloren ge­ gangen, der Glaube, daß das Christentum mit allen den Dingen zusammengehört, die uns schon bei unserer Geburt in die Wiege gelegt worden sind, mit der Volksangehörigkeit, dem Heimatrecht tm Land der Väter, dem schützenden Regiment des angestammten Herrscherhauses. War die monarchische Grundlage erschüttert, so stürzten damit auch alle Wände des alten Hauses zusammen, das auf dieser Grundlage aufgebaut war und in dem man sich auf Grund der Kindertause für alle Ewigkeit geborgen gefühlt hatte. Nun mußte man auswandern und sich ein neues Wohnhaus bauen. Für diesen inneren Zusammenhang zwischen der religiösen Grund­ lage der Landeskirche und dem Geist des monarchischen Staats hatten die Gemeinschaftskreise eine feine Empfindung, weil sie gerade an dieser Stelle ihren inneren Gegensatz zur Landeskirche von jeher gefühlt hatten. Mit dem Zusammenbruch des landes­ herrlichen Kirchenregimcnts wurde die alte Frage in ihnen wieder lebendig, ob das nicht vielleicht der tiefste Grund der Verweltlichung der Kirche sei, daß sie dem monarchischen Geist in ihrer Verfassung Raum gegeben hatte. Der Protest wurde laut gegen alles das in der Kirchenverfassung, was den Stempel des monarchischen Geistes an sich trug, gegen die Königliche Beamtenschaft in der Kirchenver­ waltung, die den höheren, durch ihre Geburt bevorzugten Kreisen entstammte, gegen das Pfarramt, das nicht allen vom Geist Er­ füllten, sondern nur solchen offen stand, die das Geld zum Uni­ versitätsstudium hatten, also nicht aus dem einfachen Volk, sondern aus einer reicheren Familie stammten. Das Idealbild einer Ekklesia tauchte auf, in der es nach Jesu Wort int Gegensatz zum monarchi­ schen Staat („die weltlichen Könige herrschen...., ihr aber nicht also") überhaupt keine Herrschenden, keine Regierenden, sondern nur noch Dienende gibt. Wie lebhaft diese Stimmung ist, wird vielleicht am deut­ lichsten, wenn wir hier einigen Laien das Wort geben, die auf den Aufruf zur Vorbereitung einer staatsfreicn Volkskirche hin brieflich ihre Meinung über die Kirchcufrage geäußert haben. Was die Laien sagen, erscheint natürlich, verglichen mit den wohlabgewogenen Gutachten der Theologen und Kirchenrcchtslehrer, mehr

262 als naive Stimmungsäußerung, ungetrübt durch geschichtliche und juristische Sachkenntnis. Der Laie hat keinen Einblick in die Kompliziertheit eines großen Berwaltungsapparats und die Schwierigkeit der Aufgabe, eine geschichtlich gewordene Verfassungs­ form ohne Bruch mit der Vergangenheit und schweren Schaden für die Sache umzugestalten. Trotzdem hat der Blick, den der Laie für kirchliche Dinge hat, gegenüber dem geschulten Auge des Fach­ manns den Vorzug der Unmittelbarkeit. Der gesunde Menschen­ verstand des Laien sieht die Dinge einfacher, kindlicher und groß­ zügiger. Ein Gemeindehelfer, der durch zahlreiche Hausbesuche über die Stimmung in den kirchlichen Familien ziemlich genau unter­ richtet ist, schreibt: „Von vielen, mit denen ich darüber sprach, hörte ich: Endlich, endlich wird man unsern Bedürfnissen Rechnung tragen; aber es hat große Eile, und vor allem muß diese neue Volkskirche .... von innen heraus zusammengestellt werden: denn zu den jetzt bestehenden hohen Kirchenregierungen und Räten haben die wirklich christlich denkenden und tätigen Glieder gar kein Ver­ trauen mehr, weil sie vollständig versagt haben. ... In fast sämt­ lichen christlichen Kreisen ist man jetzt der Gesinnung: Entweder eine Volkskirche, die von innen heraus durch das Vertrauen ihrer Glieder aufgebaut und organisiert wird, oder aber, neben der etwa

von oben herab zusammengedrucktsten Volkskirche, für uns dann noch eine „Gemeinschaftskirche" daneben. So bedauerlich eine Zer­ splitterung wäre, könnte man es diesen Leuten durchaus nicht ver­ denken, weil sie eben einfach zu solch einem Oberkirchenrat mit seinen beigegliederten Stäben, wie gegenwärtig, gar kein Vertrauen mehr fassen, weil diese ihren Bedürfnissen auch nicht mal in der schweren Kriegszeit Rechnung getragen haben. Hatte man vielleicht zu viel Arbeit da oben, daß nach den Wünschen ihrer Glieder nicht gefragt werden konnte? Nein, der Grund liegt tiefer: Bon ihrem hohen Throne haben diese zu hoch stehenden Herren ihre Glieder mit ihren Sorgen, Wünschen und Nöten noch nicht kennen gelernt und werden's auch nimmer und können sie deshalb auch nicht in ihren Forderungen verstehen. Sie sind eben zu „hoch". Man fängt natürlich da oben jetzt auch an aufzuwachen und haben nun „Vertrauensmänner" nach Berlin berufen und allerhand be-

263 raten und beschlossen, sich auch zu bequemen, sich der neuen Lage anzupassen und der Sache ein neues Mäntelchen umzuhängen und — der alte Kurs geht weiter! Aber die Kirchenglieder sagen: Wir lassen uns nun nicht mehr täuschen, sie haben zuviel mit uns ge­ spielt, als daß wir jetzt ihnen glauben könnten. Die Zeit, in der diese Herren etwas schaffen und wirken konnten, haben sie ver­ schlafen und verträumt, und nun können sie sich ihren Lohn geben lassen und — können gehen. Nehmen Sie es mir, geehrter Herr Professor, nicht übel, wenn ich offen ausspreche, hiermit nicht nur meine, sondern zugleich weiter Kreise Meinung und Gesinnung, die bis jetzt noch treu zur Landeskirche gestanden haben, aber dieser Mißwirtschaft ohne Taten nie zustimmen konnten, bis hierher aber voller Sehnsucht auf den Anbruch einer neuen Morgenröte gewartet haben." Hier macht sich der demokratische Ingrimm des kirchentreuen Mannes aus dem Volke gegen die hohen Kirchenbehörden in unge­ schminkter Offenheit Luft. Aber noch stärker als gegen Ober­ kirchenrat und Konsistorien richtet sich die Kritik der Gemeinschafts­ kreise gegen den bisherigen Pfarrer. Viele sehen die Wurzel des Übels darin, daß ein über dem Volk stehender, durch akademische Bildung bevorzugter Stand das alleinige Recht hat, das Wort zu verkündigen und die Gemeinde zu leiten. Ein Gemeindehelfer schreibt: „Meines Erachtens tut es sehr not in Stadt und Land, besonders aber unter der Landbevölkerung, zumal mit einem ver­ stärkten Zuzug aufs Land zu rechnen ist, Prediger anzustellen, die ein Herz voll Jesusliebe haben und in ihrer einfachen und volks­ tümlichen Art den Landleuten den Weg zur Seligkeit weisen. Unsere Kirche braucht jetzt Männer, die sich dem Volke anzupassen vermögen, mit dem Einzelnen denken und fühlen können. An diesen Leuten hat es in unserer Kirche immer gefehlt, die gut­ gemeinten Predigten gingen über den Kopf hinweg. Es ist nun einmal so, und es wird so bleiben, daß geringe und ungebildete Leute — und aus diesen setzt sich vornehmlich der ländliche Kirchen­ besuch zusammen — den hochstudierten Predigten nicht folgen können, und deshalb bleibt das Herz unberührt. ... Jedenfalls würde die neue freie evangelische Volkskirche eine segensreiche Wirksamkeit entfalten, wollte sie die zu ihrer Verfügung stehenden

264 Hilfskräfte (gemeint sind besonders die seminaristisch gebildeten Brüder, Stadtmissionare, Gemeindehelfer usw.) nicht nur äußerlich dulden, sondern sie vor allem nach dem Maße ihrer Begabung und Fähigkeiten zu selbständiger Leitung und Verwaltung berufen." Ein anderer macht dazu den Vorschlag: „Könnte nicht auch fleißigen jungen Männern — wie Kaufleuten —, welche zwar nicht jene wissenschaftliche Bildung nachzuweisen imstande sind, sich aber in der Praxis gut bewährten, die Hand gereicht und ihnen der Weg zum Psarrerberuf eröffnet werden?" Zur Frage der Heranbildung der künftigen Pfarrer schreibt der Sekretär eines christlichen Jugendvereins, der im Heeres­ dienst seine Erfahrungen gesammelt hat: „Hochkirchler hielte» Ihre gelinde Behandlung der scelsorgerlichen Beeinflussung der Studenten für selbstverständlich, während Gemeinschastsführer sie für absolut unzureichend und flau hielten. ... Wenn wir denn einmal radikal werden müssen in anderen Punkten, warum denn nicht beim Punkt »der kommende Pfarrer!'? Hier liegt doch das nicht zn heilende Elend in seinen Urquellen: der Werdegang des Pastors schon ist ein Unding. Es sollte etwas Ähnliches geschaffen werden, wie der Künstlerparagraph, der auch ungebildeten ,Könnern' den Weg zum Fnhrcrbcruf offen hält. In religiöser Hinsicht spielt die ,große Kunst' eine tatsächlich geheimnisvolle, ähnliche Nolle wie in der bildenden Kunst. Die nur wissenschaftliche Linie ist nicht die richtige, wenn sie auch theologische heißt. Wärmn ,muß' das Gymnasium voraufgegangen sein? Hier ist die Wurzel des Übels, das nicht erst zwischen den Vorlesungen geheilt werden muß noch kanil — .wenn der Fuchs erwachsen ist' — könnte man hinzufügcn. Auf das eigentlich religiöse Können, etwa im Sinne von prophetischer Zcugenbegabung und Hingabe an Christus ist viel mehr noch das Gewicht zu legen wie auf »Gelahrtheit'. Was nützen uns die Unmenge von religionsphilosophisch gespickten Pfarrern, die ohne die kongenialen Potenzen des Gottcskünstlers dastehen und »predigen' wollen! Auch göttliche Kräfte lassen sich schulen, züchten und mehren — ganz im Gegensatz zu der land­ läufigen Ansicht, dieses Gebiet entziehe sich der wissenschaftlichen und pädagogischen Kontrolle. Dieselbe muß von »Männern des Geistes' (im besonderen Sinn) ausgeübt werden. Das Schreck-

265 gespcnst »Bekehrungstreiberei^, .gesetzlicher Druch usw. darf uns keine Furcht mehr einjagen; für uns reife Christen muß es eine

Kinderkrankheit bleiben, die immer wieder auftritt, von uns aber gemeistert wird!" Aber diese Wünsche nach Beseitigung des alten Kirchenrcgiments und nach Laienpredigern, die nicht durch Studium, sondern vermöge einer prophetischen Zeugenbegabung zu leitender Stellung aufgestiegen sind, hängen eng zusammen mit einer weiteren Forde­ rung, die durch alle Briefe aus Gemeinschaftskreisen hindurchgcht. Es ist das Verlangen nach Umwandlung der bisherigen Staats­ kirche in eine Glaubensgemeinschaft, in der nur der lebendige Bibel­ glaube Heimatrecht hat. Ein technischer Betriebsleiter schreibt: „Warum läßt Gott unsere Kirche so unter den Hammer kommen? — Ich sage kurz: Weil sie nicht mehr auf Glauben gestellt und gestützt war, sondern auf und darum auch unter den Staat. Deshalb haben sich auch all die glaubenslosen Hirten und Pfarrer so lange halten können. Jetzt, wo die morschen Staatsgebäude zerfallen, bricht auch die Kirche mit ihrer geistlosen, lebenslosen Form zusammen. Das würde doch niemals der Fall sein, wenn die Kirche eine Glaubens­ gemeinde wäre, die auf dem Felsen Jesu stände. ... Unbekehrte sind von Gott nicht berufen, das Evangelium zu verkündigen. ... Gerade hier liegt der größte Schaden unserer Kirche. Aus diesem Grunde kann sie nicht bestehen noch Leben wirken; darum ist sie ein leckes Wrack ohne Mast und Segel, in welchem der Wind des heiligen Geistes sich verfangen könnte. Wollen >vir wieder eine Kirche haben, in der Geisteswunder, Gotteswunder geschehen können,

dann müssen wir dieselbe wieder auf das ewige Gotteswort stellen und gründen und nach Gottes Wort einrichten. Alles andere hat gar keinen Wert; denn auch die besten Formen sind wertlos, wenn diejenigen, die da zu wirken haben, unfähig sind, etwas in die­ selben hincinzugießen. Und außerdem: Wo der Geist Gottes herrscht, da ist Freiheit, da hält man sich nicht immer straff an der vorge­ schriebenen Form, sondern macht dem Geiste Raum. Ich hoffe, nach dem Gesagten ist es klar, daß in der Volkskirche kein Konsistorium und fein Oberkirchenrat mehr bestimmen darf, wer auf der Kanzel

stehen darf und wer nicht. ... Ach möchte cs doch gelingen, daß

266 die wenigen Gläubigen sich aufraffen, um mit Freuden in der Kraft des Herrn fein Reich zu bauen und in der lebten Stunde noch das Licht auf den Leuchter zu stellen!" Je mehr dieses Verlangen nach einer Kirche des lebendigen Glaubens laut wird, desto stärker wird die Spannung empfunden, die zwischen dem pietistischen Gemeindeideal und der allen Getauften zugänglichen Gefamtkirche besteht, und es regt sich unwillkürlich der Wunsch, durch eine Trennung von der Gesamtkirche mit einem Schlage den ganzen Ballast von erstarrten Formen und un­ lauteren Mitgliedern loszuwerden, der die Stoßkraft und Aktions­ fähigkeit der bisherigen Kirche so sehr gelähmt hat. So berichtet ein Oberlehrer über eine Aussprache zwischen den Vertrauensleuten der landeskirchlichen Gemeinschaften einer westlichen Großstadt: „Es war kein engherziger Geist, der etwa eine reine Gemeinschafts­ kirche gefordert hätte. Ich freute mich an dem weiten Blick und Herz der Brüder, die an ihre Volksgenossen denken und für sie sorgen und arbeiten wollen. Durchweg war aber mehr Stimmung für eine Missionskirche auf engerer Grundlage mit weitestgesteckten Zielen, auf das Ganze eingestellt, unbelastet durch die Übernahme des ganzen Inventars an Personen, Instanzen, Richtungen der bisherigen jammervoll verpfuschten Kirche." Aber so stark sich auch in vielen Kreisen der Wunsch regt nach Loslösung der so stark belasteten Landeskirche, so sind sich doch die Führer der Gemeinschaftsbewegung ganz fiar darüber, daß die kirchlichen Gemeinschaften durch eine solche Loslösung, auch wenn sich damit ein hochgestecktes Missionsziel verbindet, ihrer Eigenart

untreu werden würden. Denn sie sahen bisher ihre besondere Auf­ gabe gerade darin, trotz des Widerstreits zwischen ihrem Gemeinde­ ideal und den Grundlagen der Gesamtkirche als Salz in der Landes­ kirche zu bleiben. Der Vorstand des Gnadauer Gemeinschaftsver­ bandes hat auf seiner Herbsthauptsitzung in Schönblick am 9. und 10. Okt. 1918 angesichts des nahenden Sturmes noch einmal aus­ drücklich den Beschluß gefaßt: „Im Blick auf die kirchlichen Zu­ kunftsfragen bleiben wir auf dem Standpunkte, daß wir die Be­ strebungen unterstützen, die eine wirkliche Bekenntniskirche zum Ziel haben, daß wir aber auch innerhalb einer künftigen bekenntnis­ treuen Volkskirche das bleiben werden, was wir von Anfang an

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gewesen sind, nämlich Zusammenschluß der lebendig gläubigen Kreise innerhalb der Kirche. Die Gnadauer Gemeinschastskreise wollen keine Freikirche bilden und werden sich auch nicht mit neuen Bekenntnisgemeinden verschmelzen." Angesichts der Unruhe und Sorge, die sich nach Ausbruch der Revolution infolge der drohen­ den Umwälzung in den Kreisen des Gnadauer Verbands bemerk­ bar machte, ließ der Vorsitzende des Brüderrats, Direktor Haar­ beck, ein Flugblatt ausgehen, in dem er den Standpunkt des Vor­ standes noch einmal unzweideutig klarlegt und in drei Grundge­ danken zusammenfaßt: „1. Warum keine eigene Gemeinschafts­ freikirche? ... Nun, wenn wir das gewollt hätten, hätten wir auf die neue Zeit nicht zu warten gebraucht. Das hätten wir auch vor 20 Jahren schon tun können. ... Aber glaubt wohl jemand, daß dann der Gnadauer Verband dieselbe Entwicklung und Ausdehnung gewonnen hätte, wie es jetzt der Fall ist? Gott hat unserer neuen Gemeinschaftsbewegung den Missionsgedanken und Missionsaufttag in die Wiege gelegt. Deshalb dürfen wir uns nicht gegen die Volkskirche abschließen. Tun wir das doch, so schließt sich von selbst die Kirche gegen uns ab, und wir können unsere Missions­ aufgabe in ihrer Mitte nicht mehr erfüllen. ... Gerne verzichten wir auf den ganzen, schweren Berwaltungsapparat, der die Folge einer eigenen Kirchenbildung sein würde. 2. Warum keine Ver­ schmelzung der Gemeinschaften mit einer neuen Kirche? Könnten wir uns nicht bemühen um eine solche Gestaltung der Zukunfts­ kirche, die allen Wünschen der Gemeinschaftschristen entsprechen würde? ... Könnte nicht der Gnadauer Verband in einer so ge­ stalteten Kirche sich auflösen? ... Aber die Erfahrungen, die Kirchen dieser Art gemacht haben, reizen nicht zur Nachahmung, sondern schrecken ab. ... Sie würde die Familien auflösen, weil die Kinder

nicht von selbst zu ihr gehörten, sie würde unser Volk preisgeben. 3. Die künftige Kirche muß Volkskirche sein. ... Die Volkskirche bedeutet zunächst die Möglichkeit, das ganze Volk, soweit es nicht ausdrücklich aus der Kirche ausgetreten ist, unter den Einfluß des Evangeliums zu bringen. ... Die Kirche ist der Hauptsache nach eine Missions- und Erziehungsanstalt für alle, die dem Herrn Jesus nicht den Rücken gekehrt haben, und sie ist zugleich der Rahmen, innerhalb dessen die Gläubigen Sammlung und Pflege finden."

268 Hier gibt also der Vorsitzende im Namen des großen Verbands kirchlicher Gemeinschaften die Erklärung ab, daß der Verband ent­ schlossen ist, auch bei der kommenden Neugestaltung der Volks­ kirche treu zu bleiben. Die Gemeinschaftsbewegung will also gerade jetzt, da die Kirche ihre schwerste Feuerprobe zu bestehen hat, aus Liebe zum Volk die bedrohte Volkskirche nicht verlassen, sondern den Kampf, den diese zu kämpfen hat, in der vordersten Reihe mit­ kämpfen. In diesem Treugelöbnis gegenüber einer Kirche, die der Gcmcinschaftsbewegung schon schwere Stunden bereitet hat, liegt ein hoher Idealismus. Diese Haltung gibt ihr das Recht, bei der kommenden Neugestaltung das ganze Gewicht ihres religiösen Ein­ flusses mit in die Wagschale zu werfen. Welche Aufgabe wird die Gcmcinschaftsbewegung innerhalb der Kirche haben, deren Neubau wir nach der kommenden Umwälzung erwarten? Nach der Erklärung von Direktor Haarbeck verzichtet die Ge­ meinschaft um ihrer besonderen Aufgabe willen ausdrücklich darauf, die Zukunftskirche so zu gestalten, daß sie „allen Wünschen der Gemcinschastschristen entsprechen würde", also etwa durchsetzen zu wollen, daß „persönliche Anmeldung auf Grund einer klaren Be­ kehrung und Wiedergeburt, Bekenntnis des Glaubens auf Grund der ganzen Bibel" zur Bedingung der Aufnahme in die Kirche ge­ macht würde. Die Gemeinschaftsbcwcgung will also nicht das innerhalb der Kirche sein, was eine politische Partei innerhalb des Staates ist. Denn zum Wesen einer Partei gehört cs, daß sie nach der Übermacht iin Staate strebt, um die Staatsvcrfassung nach ihrem Parteiprogramm umzugestalten. Die Gemeinschafts­ sache ist keine kirchcnpolitischc Partei, sondern eine Bewegung, die um die Seelen der Menschen >virbt, eine Welle, die Kreise zieht, ein Strom, der über seine Ufer tritt und durstige Wiesen tränkt. Eine Bcwegnng braucht, um wachsen zu können, nichts weiter als Bewegungsfreiheit. Sie will Raum, um sich zu entfalten. Die Gemcinschastschristen gehen darum zunächst nicht daraus aus, neue Einrichtungen und Verfassungsformen zu schaffen. Es liegt ihnen vielmehr nur daran, innerhalb der bisherigen Kirchenordnung gewisse Schranken zu beseitigen, die die Bewegung hemmen, Manern niederzulegen, die sie einengen wollen. Wenn man gewisse Dinge, die zum Leben der Gcmeinschaftsbewegung gehören, zu kirchlichen

269 Einrichtungen machen will, wenn man also z. B- versucht, die pietistischen „Gcmeinschaftsstunden" oder die Evangelisation zu verkirchlichen, so haben das die Gemeinschaftsleute immer eher mit Sorge als mit Freude betrachtet. Sie fürchteten, die Bewegung könnte infolge der Verkirchlichung ihrer Lebensäußerungen zur toten Form erstarren. Aber auch die Wünsche nach Beseitigung ge­ wisser Schranken der bisherigen Kirchenordnung, wie sie z. B. Direktor Haarbeck geltend macht, sind nicht als Forderungen ge­ meint, die der Gesamtkirche aufgezwungen werden sollen, auch wenn diese dafür noch kein Verständnis zeigt. Die Gemeinschafts­ kreise wollen ja das starke Gegengewicht nicht beseitigen, das für ihre Bestrebungen in den festen Ordnungen liegt, die für eine alle Getauften umfassende Volkskirche notwendig sind. Sie wollen nicht durch äußeren Druck, sondern nur durch inneren Einfluß wirken. Wenn sie darum für den kommenden Umbau der Kirchen­ verfassung einige Änderungen wünschen, so tun sie das in dem Gefühl, die Gcsamtkirche sei gerade jetzt für diese Änderungen reif, es entspreche einem allgemein empfundenen Bedürfnis und einer Forderung der Zeit, diese Schranken gerade int jetzigen Augen­ blick niederzulegen. Die Gemeinschastschristen glauben aus ihrem engcit Zusammenhang mit dem einfachen Kirchenvolk heraus für das, was die Kirche jetzt braucht, und wofür sie jetzt reif ist, ein sichereres Gefühl zu haben, als manche Kirchenbehörden. In diesem Sinne ist es gemeint, wenn jetzt weite Kreise der Gemeinschafts­ bewegung gewisse Forderungen stellen, für die sie auch in der zu­ künftigen Kirche eintreten möchten. 1. Die erste Mauer, die wir niedergelegt wünschen, ist die Schranke, die das allgemeine Priestertunr der Gläubigen einengt. Die Kirche soll ja nicht eine „Berwaltungskirche", sondern eine „Arbeitskirche" sein, in der Raum ist für die innerlichste Arbeit, die es gibt, für das priesterliche Eintreten von Menschen für das Seelenheil ihrer Brüder. Aller religiöse Einfluß beruht aber aus dem Vertrauen, das wir zu einer priesterlichen Persönlichkeit, einem „Vater in Christo", fassen. Dieses Vertrauen läßt sich nicht machen. Es muß eine seelische Verwandtschaft vorhanden sein, durch die bestimmte Menschen gerade zu diesem Seelsorger hingezögen werden, während ein anderer ihnen nichts geben kann. Es ist, wie Paulus

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an die Korinther schreibt: „Ob ihr gleich zehntausend Zuchtmeister hättet in Christo, so habt ihr doch nicht viele Väter; denn ich habe euch gezeuget in Christo Jesu durchs Evangelium" (1. Kor. 4,15). Man hemmt die zeugende Kraft des Evangeliums, das Überspringen des göttlichen Funkens von einem Menschen zum andern, wenn man die freie Bewegung durch Amtsbefugnisse eindämmt, wenn Menschen an einen Seelsorger gebunden sind, zu dem sie kein Ver­ trauen fassen können. Hier muß freie Bahn gemacht werden. Dazu genügt aber noch nicht, daß der Parochialzwang fällt, daß liberale und positive Minoritäten das Recht zu kirchlicher Selbstversorgung erhalten. Es muß auch überall da, wo das innere Bedürfnis dar­ nach vorhanden ist, das Monopol des Pfarrers auf Wortverkündi­ gung und Leitung der.Abendmahlsseier aufgegeben werden. Unter dem Einfluß der Gemeinschaftsbewegung haben sich neben Ge­ meindegottesdienst und Gemeindeseelsorge neue Formen religiöser Gemeinschaft ausgebildet, z. B. Konferenzen und Bibelkurse. Bibel­ heime sind in der Entstehung begriffen, Häuser für leibliche Er­ holung und seelische Auffrischung. Warum soll es einer Konferenz verwehrt sein, auch wenn kein ordinierter Leiter da ist, das Herrn­ mahl miteinander zu feiern? Warum soll dem Hausvater eines christlichen Erholungsheims das Hauspriesterrecht eingeschränkt werden? Es sollen damit keine neuen Einrichtungen ins Leben gerufen, kein Anlaß zur „Rotterei" und separatistischen Bestrebungen gegeben werden. Was wir brauchen, ist nur Bewegungsfreiheit für erwachendes Leben, Aufhebung der Schranken der einseitigen „Pastoren- und Theologenkirche". 2. Eine zweite Mauer, die fallen sollte, um der lebendigen Bewegung Raum zu machen, ist das Konfirmationsgelübde. Die Konfirmation ist ja von.jeher von Vertretern der hochkirchlichen Gemeindeauffassung als Fremdkörper angesehen worden. Sie emp­ fanden diese Einrichtung unwillkürlich als einen Ansatz zur Durch­ führung des freikirchlichen Gemeindeideals innerhalb der Volks­ kirche. Das Kind soll durch einen bewußten, persönlichen Schritt in die Gemeinde eintreten. Damit ist die Kindertaufe als unge­ nügend hingestellt. „Die Konfirmation", sagte Konsistorialrat Bachmann vor sechzig Jahren auf der Berliner Pastoralkonferenz, „lebt vom Raube der Sakramente". Hierin liegt aber gerade der

271 besondere Wert, den die Konfirmation vom Standpunkt der Gemeinschastsbewegung aus hat. Die Hemmung besteht nur darin, daß der freie Entschluß, durch den der Wille zum Eintritt in die Abend­ mahlsgemeinde kundgegeben wird, den Charakter eines kultischen Aktes angenommen hat, der in einem bestimmten Alter vollzogen werden muß. Diese starre Form muß aufgehoben werden, um Den tiefen Sinn, der im Konfirmationsgelübde liegt, wieder lebendig zu machen. Jeder, der in der Volkskirche aufwächst, muß durch eine grundlegende Bestimmung der Kirchenverfassung daran er­ innert werden, daß ein persönlicher Schritt notwendig ist, um aus dem Kinderglauben zur bewußten Hingabe des Erwachsenen und damit zur vollen Kirchenmündigkeit und Abendmahlsberechtigung zu gelangen. Aber es darf kein Druck auf unreife, werdende Men­ schen ausgeübt werden, wie es die bisherige Konfirmationspraxis tat. Der Übergang aus dem weiteren Kreis der Heranwachsenden und Unentschiedenen in den engeren Kreis derer, die nach Unterricht und reiflicher Überlegung ihren Beitritt erklärt haben, muß den Charakter einer freien Entscheidung und lebendigen Bewegung

behalten. 3. Die dritte Mauer, die das Leben der Kirche einengt, ist die Unwahrhaftigkeit in der Bekenntnisftage. Für die hochkirchliche Auffassung der Gemeinde ist streng genommen die Frage gar nicht vorhanden, welche von den Gliedern der Kirche wirklich auf dem Bekenntnis stehen. Denn vom hochkirchlichen Standpunkt aus ist die Kirche als Ganzes, das vor seinen Teilen ist, als über­ individuelle Gesamtheit, die vor allen ihren Einzelgliedern da ist, die Hüterin des Bekenntnisses. Dieses gleicht der Verfassungs­ urkunde in einer absoluten Monarchie, die in ihrer Geltung unab­ hängig ist von der Zustimmung der Untertanen. Aber für unsere demokratische Zeit, die von jedem Menschen in Glaubensfragen eine eigene Überzeugung erwartet, hat ein Bekenntnis nur dann einen Sinn, wenn eine Schar von Bekennern dahinter steht, die es sich aus freier Überzeugung angeeignet haben. Die Frage läßt sich darum nicht mehr umgehen: Wer steht wirklich auf dem Be­ kenntnis der Kirche? Nur die Pfarrer? Oder auch die Mitglieder der Kirchenvertretung? Oder alle Konfirmierten, die zum Abend­ mahl gehen? Wollte man in den lutherischen Landeskirchen, die

272 am treusten an ihrem Bekenntnis festhalten, eine Umfrage darüber veranstalten, wer sich den Inhalt der Bekenntnisschriften wirklich innerlich angeeignet hat, so würde sich vielleicht herausstellen!, das; in vielen Fällen selbst die Kirchengemeinderäte die Bekenntnis­ schriften ihrer Kirche nicht einmal gelesen haben. Wenn also eine Verfügung der Revolutionsregierung eines Tages die Pastoren­ schaft wegsegte, so würde im Volke bald nicht mehr viel von der Lebenskraft der alten Bekenntnisse zu spüren sein. Soll dieses teure Erbgut der Nesormationszeit wirklich dem Volke erhalten bleiben, so müssen die lutherischen, reformierten und unierten Bckenntniskirchen so von innen heraus belebt werden, daß das lebendige Kirchenvolk in ihnen wieder ein inneres Verhältnis zu den Glaubenszeugnissen der Nesormationszeit gewinnt. Soll das möglich sein, so darf sich aber die äußerliche Anerkennung dieser alten Bekenntnisse nicht mehr für jedes getaufte Kirchcnglied der Volkskirche von selbst verstehen. Es muß vielmehr innerhalb der Gesamtkirche auch für solche Menschen Raum sein, die mit Ernst Christen sein wollen, und die sich doch keines der konfessionell ausgeprägten reformatori­ schen Bekenntnisse ancignen können. Gerade in den mit den Ge­ meinschaftskreisen zusammenhängenden Jugendbewegungen und christlichen Vereinen der neueren Zeit, wie Christlicher Verein Junger Männer, Jungfrauenvcreine, Blaues Kreuz, Schülcrbibelkränzchcn, Christliche Studentenvercinigung, Christlicher Akademiker­ bund usw. sind, zum Teil aus weltlicher Umgebung heraus, Men­ schen unter die Gewalt Jesu gekommen, deren Glaubensleben etwas Urchristlichcs an sich hat, aber jenseits der Gegensätze der Reformationszcit steht. Ter Strom christlicher Einflüsse, die durch diese Bewegungen und Vereine durch ganz Deutschland getragen werden, hat längst die Mauern umbrandet und unterspült, die die ver­ schiedenen Bekenntniskirchen voneinander trennen, und zwischen Tausenden in allen Teilen des Landes eine Glaubensgemeinschaft erzeugt, die über die alten Bckenntnisgegensätze übergreift. Diese lebendig weiterwirkenden Bewegungen brauchen für ihre missio­ narische Arbeit an weiten Volkskreiscn eine Losung, die noch ein­ facher und ursprünglicher ist als die Bekenntnisschriftcn der Refor­ mationszeit, ein schlichtes, volkstümliches Bekenntnis, das Werbe­ kraft hat, und das doch die Verpflichtung zur Hingabe der ganzen

273 Persönlichkeit an Christus in sich schließt. So ist der Gedanke ent­ standen, das urchristliche Bekenntnis „Jesus der Herr" im Sinne von 1. Kor. 12,3 zur Grundlage der Gesamtkirche zu machen, auf der sich dann die besonderen Bckenntnisgemeinschaften aufbauen können. Viele Gemeinschaftschristen haben diesem Vorschlag zugeßintmt, andere fanden dieses Urbekenntnis nicht scharf genug gegen Umdeutungen abgegrenzt. Die Beratungen darüber sind noch nicht abgeschlossen. Aber wenn auch noch die Meinungen darüber auseinandergehen, wie wir die gemeinsame Glaubensgrundlage aus­ drücken wollen, auf der alle lebendigen Christen unbeschadet ihres besonderen Kirchenbekenntnisses stehen, über das Ziel herrscht Ein­ mütigkeit: Angesichts der schweren Angriffe, denen die Kirche in der komnienden Zeit ausgesetzt sein wird, muß die Bekenntnissrage int Geist unbedingter Wahrhaftigkeit geordnet werden. Wenn der „Bann" einer Unwahrheit auf der Kirche liegt, kann sie „nicht stehen vor ihren Feinden" (Jos. 7,13) und kann ihre hohe Aufgabe nicht erfüllen, die große „Missions- und Erziehungsanstalt" für unser Volk zu sein.

Kapitel 14.

Die (Dlf|ionspflin aus diesem Grunde nicht zu denken, auch wenn aus der Doktrin leichter eines zu entwickeln wäre. Es kommt im Moment vor allem daraus an, die Sachlage und ihre Möglichkeiten zu übersehen und ein Programm zu formulieren, dessen Verwirklichung mit Aussicht auf praktische Möglichkeit versucht werden kann. Weitere Klärungen muß die Wirklichkeit und der praktische Versuch bringen. Es.beginnt nicht eine Periode endlich klarer und radikaler Doktrinen und Ord­ nungen, sondern eine solche des Experiments und politischer Kämpfe. Ohne den Willen zu möglichster Gerechtigkeit gegen alle große» löauptgruppcn und gegen die inneren Erfordernisse der Sache wird hier nicht durchzukommen sein, und jedes Programm wird diesen vielfachen Bedingungen von vornherein Rechnung tragen müssen. In einem Moment, wo die politische Existenz aus dem Spiele steht, darf fein Glaubenskrieg entfesselt werden, und es wäre es für die gegenwärtigen Majoritäten das sicherste Mittel sich zu zer­ stören, wenn sie, wie das Volk es einfach nennt, „die Religion ahschasfen" wollten. Aber auch von den Gefahren des Momentes abgesehen, bleibt es immer dabei, daß die große und edle Forde­ rung der Gewissensfreiheit Respekt vor dem religiösen Gewissen und Abwehr religiösen Zwanges zugleich bedeutet und daß dieses doppelseitige Prinzip in eine Schulbildung hineingearbeitet werden

325 mutz, die Bildung und Erziehung und nicht bloß äußerliche Fach­ schule sein will. (Geschrieben 4. Januar 1919.)

Kapitel 16.

Das Red>t der Eltern auf Religionsunterricht in der Staatsschule. Bon Ernst R o l f f s. 1.

Die sozialistische Republik ist in der Theorie religionslos, in der Praxis religionsfeindlich. Darüber läßt der Erlaß des preußi­ schen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 29. Nov 1918 keinen Zweifel. Sein Berfasser versteht offenbar unter Religionsfreiheit nicht Freiheit für die Religion, sondern Freiheit von der Religion. Die an sich durchaus berechtigte Aus­ hebung der Verpflichtung der Lehrer zur Erteilung, der Schüler zum Besuch des Religionsunterrichts gewinnt durch das Verbot des Schulgebetes und religiöser Schulfeiern, besonders aber durch die Bestimmung, daß für den wahlfrei gemachten Religionsunter­ richt keine häuslichen Aufgaben gestellt werden dürfen und Religion kein Prüfungsfach mehr ist, den Charakter einer auf die Beseitigung der religiösen Grundlagen unserer Volksbildung gerichteten Maß­ nahme. Dies» Erlaß ist auch nach dem Ausscheiden seines Urhebers aus der Regierung keineswegs aufgehoben, sondern nur da sus­ pendiert, wo seine Durchführung auf unüberwindliche Schwierig­ keiten stößt. Er bezeichnet also nach wie vor die kirchenpolitische Tendenz der jetzigen Gewalthaber auf dem Gebiet der Schule.

Diese Haltung ist verständlich aus ihrer Vergangenheit. Der alte Obrigkeitsstaat war seit 1848 in der Theorie zwar auch religionslos, in der Praxis dagegen seit Beendigung des Kultur­ kampfes wieder entschieden religionsfreundlich. Thron und Altar stützten sich gegenseitig. Der Staat stützte die Kirchen, um seine Autorität durch sie stützen zu lassen. Um die zu - erschüttern, führte daher die Sozialdemokratie ihren Kampf zugleich gegen die Kirchen. Sie galten ihr als „Volksverdummungsanstalten". Sie verhinderten im Interesse des Klassenstaates die Aufklärung der

326 Volksmassen über ihre eignen Interessen. Sie lähmten durch die Verheißung der Seligkeit im Jenseits die Energie des Emanzi­ pationskampfes der Arbeiterschaft zur Erringung des diesseitigen Zukunftstaates. Aber wenn die religionsseindliche Haltung der revolutionären Gewalthaber auch aus der Vergangenheit verständlich sein mag ist sie deshalb schon verständig sür die Gegenwart? Ist es verilönbig, daß die Republik die Religion verfolgt, nachdem der Obrigkeitsstaat, den sie gestützt hatte, gestürzt ist? Jede Demo kratie setzt bei ihren Bürgern ein hohes Maß von Selbstdisziplin voraus. Je mehr die Staatsgewalt sich grundsätzlich aller Ein griffe in das Privatleben enthält, je mehr Bewegungs- und Meinungsfreiheit sie den Einzelnen zubilligt, um so stärker muß iie auf ihre freiwillige Unterordnung unter die Staatsnotwendig leiten rechnen. In einem demokratischen Staatswesen muß daher »och viel mehr als in einer Autokratie das Ziel der öffentlichen Erziehung die Selbstdisziplin der Bürger sein. In dem bis berigen Lbrigkeitsstaai war das wirksamste Mittel dazu die allge meine Wehrpflicht Von ihr hat die Sozialdemokratie einen nicht geringen Gewinn gehabt; die hervorragende Selbstdisziplin der brutschen Arbeiter, in.der die Stärke ihrer politischen wie ge iverkschnftlichen Organisationen begründet >var, ist anerkannter maßen eine Nachwirkung der militärischen Erziehung. Durch die Entwurzelung des Militarismus ist eine wesentliche Bedingung iür die Selbstdisziplin der Bürger in der sozialistischen Republik bingefallen. Der Erfolg der militärischen Erziehung war abei nicht zum wenigsten bedingt durch ein ausgeprägtes Pflichtgefühl, m dem man unbedenklich eine Nachwirkung der religiösen Er uehung der Staatsschule erkennen darf. Jedenfalls haben ein wandfreie Beobachtungen ergeben, daß die Rekruten aus den an bet kirchlichen Sitte festhaltenden Landbezirken ein besseres Material bildeten als die vielfach in kirchenfeindlichem Sinne beeinflußten ans den Industriestädten. Ist cs nun verständig, wenn die sozial bemvkratische Republik nicht nur mit der militärischen Erziehung die unmittelbare Voraussetzung der Selbstdisziplin des deut ichen Volkes beseitigt, sondern auch deren tiefere Grundlage, bis religiöse Volkserziehnng, zerstören will? Läge es nicht viel'

327 mehr in ihrem Interesse, diese um so sorgfältiger zu «siegen, nach­ dem jene dahin ist? Man sollte es um so eher annehmen, als die deutsche Demo­ kratie zugleich sozial sein will und infolgedessen besonders hohe Ansprüche an die Moral ihrer Bürger stellt. Durch die Vergesell­ schaftung der industriellen Betriebe wird das Privateigentum stark eingeschränkt und der Erwerbstrieb als Motor des wirtschaftlichen Gebens in weitem Umfang ausgeschaltet. Er muß erseht werden durch ein außerordentlich kräftiges Allgemeingefühl; der Altruis>nus muß auch im Erwerbsleben den Egoismus verdrängen. Das erfordert eine tiefgreifende Gesinnungspflege, wie sie ohne die Kräfte der christlichen Religion gar nicht denkbar ist. Nur aus dem Glauben an die weltüberwindende Gotteskraft der Liebe Jesu wird die selbstlose Gesinnung geboren, die das eigne Wohl ledig­ lich in und mit dem Wohl der Mitmenschen erstrebt. Ohne solche Gesinnung muß die soziale Demokratie ein ephemeres Staats­ gebilde werden.

Die sozialdemokratische Republik getraut sich allerdings, diese Gesinnung durch religionslosen Moralunterricht zu erzeugen. Nun sollte man eigentlich seit Nietzsches vernichtender Moralkritik wissen, daß eine religionslose Moral ein Gebäude ohne Fundament ist. Wenn nicht mehr durch die Religion ein absoluter Wert garantiert ist, so löst sie sich in lauter Scheinwerte auf, wie Papiergeld, das keine Golddeckung mehr hat. Wird die Moral nicht aus der Religion geboren, so sucht sie stets nach einer religiösen Begründung. „Sittlichkeit und Religion gehören untrennbar zusammen; der sittliche Wille, das in sittlichen Ideen lebende Gemüt bringt eine religiöse Weltanschauung in irgend einer Form immer und überall hervor, und hieran wird auch die Zukunft nichts ändern; sie mag die Formen des religiösen Lebens ändern, aber die Religion selbst, die Ehrfurcht und das Vertrauen zu einem, das über uns ist, wird nie aussterben."') Es kann und soll natürlichnicht bestritten werden, daß es Persönlichkeiten mit durchaus ernst zu nehmender religions­ loser Moral in erheblicher Anzahl gibt. Aber seit Nietzsche die Rolle des Ressentiment in der Moral entdeckt hat, muß man die *) Paulsen, System der Ethik 1 (5. Lust.), 6. 400.

328 Frage stellen, inwieweit ihre Moral auf dein Ressentiment gegen die christliche Religion beruht. Handeln sie nicht etwa nur deshalb moralisch, um den Anspruch des Christentums zu widerlegen, den Menschen im Glauben den alleinigen Weg zur Gerechtigkeit zu weisen? Wäre nicht ihre Moral ihres stärksten Motivs beraubt, wenn die christlichen Kirchen verschwänden und nicht mehr ihren Widerspruch heraussordern könnten?1 > Aber selbst wenn eine religionslose Moral möglich wäre, io wäre damit noch nicht die Möglichkeit eines religionslosen Moral Unterrichts bewiesen. Denn wie Wundl im Hinblick auf die geschichtlichen Wechselwirkungen zwischen Religion und Sittlichkeit mit allem Nachdruck betont, kann von einer Entwicklung, die unabhängig von den religiösen Motiven vor sich ginge, nicht die Rede fein; nur auf einer höheren Stufe des sittlichen Lebens könnte sich die Sittlichkeit von ihrer religiösen Wurzel völlig los lösen. Immer würden bei ihrer Entstehung und ersten Ausbildung die religiösen Motive als unerlässlich vorauszusetzen sein, nur nicht zu ihrer Fortexistenz oder zum letzten Abschlüsse ihrer Ent Wicklung?) Da sich nun in der Entwicklung des Einzelinenschen in abgekürzter Form die Entwicklung der Menschheit wiederholt, so müssen auf den ersten Stufen der Sittlichkeit die religiösen Motive dieselbe Rolle spielen wie in der Frühzeit der Menschheits

entwicklnng. Der Moralunterricht muß also im Kindheitsalter notwendig religiös fundamentiert sein. Der berühmte Moral Pädagoge Fr. W. Foerster, der von den Voraussetzungen der Ge sellschaft für ethische Kultur ausgegangen war, bekennt, daß das Ergebnis seiner moralpädagogischen Studien die Einsicht in die absolute pädagogische Unzulänglichkeit aller religionslosen Jugend erziehung sei. „Alle scheinbar religionslose Erziehung ist in Wirk lichkeit noch von der Nachwirkung religiöser Sanktionen und religiösen Ernstes tief beeinflußt. Erst in der kommenden Gene­ ration wird man deutlicher erfahren, was eigentlich religionslose Erziehung bedeutet."') *) Vgl. Schrler, Da» Ressentiment im Aufbav der Moralen. handlungen und Aufsätze I. ') Wundt, Ethik (2. Ausl.), 6. 103. *) Jogendlehre 6. X. Anm.

Ad-

329 Darnach würde man also sein Urteil über den Erfolg des religionslosen Moralunterrichts in den französischen Staatsschulen noch vertagen müssen. Es könnte übrigens für die Möglichkeit eines solchen Unterrichts in den deutschen Staatsschulen um so weniger ins Gewicht fallen, als die sozialdemokratische Republik auch den Religionsersatz verschmäht, der für die Franzosen die mächtigste Quelle sittlicher Kraft ist: das Nationalgefühl. In französischen Lehrbüchern ist bekanntlich Dieu vielfach geradezu durch la patrie

erseht. Das wäre natürlich in Deutschland eine Sünde wider den heiligen Geist der roten Internationale. Das preußische Mini­ sterium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung erwartet von den Lehrern, daß sie das patriotische Empfinden ihrer Schüler eher dämpfen als beleben. Die Anweisungen für den Geschichts­ unterricht lassen keineswegs die Tendenz erkennen, durch ihn den Enthusiasmus zu erregen, der nach Goethe das beste ist, was wir an der Geschichte haben. Schwerlich wird durch den sozialistischen Geschichtsunterricht die Freude an der Vergangenheit des deutschen Volkes erweckt werden, aus der der Wille geboren würde, der Väter ivert zu werden. Es bliebe demnach nichts weiter übrig, als die Sittlichkeit rein utilitaristisch zu begründen. Der Moralunterricht sähe sich vor die Aufgabe gestellt, den Kindern klar zu machen, daß die Überwindung ihrer natürlichen Selbstsucht und die Förderung des Gemeinwohls in ihrem eignen wohlverstandenen Interesse läge. Nach den Er­ fahrungen der Gegenwart eine hoffnungslose Aufgabe! Kein noch so vortrefflicher Moralunterricht wäre imstande, Kindern das so begreiflich zu machen, wie es Deutschlands gegenwärtige Lage den Erwachsenen begreiflich machen müßte. Aber was haben alle Appelle der sozialdemokratischen Regierung an die Vernunft ihrer früherm Gefolgschaft erreicht? Aus nationalem Pflichtgefühl heraus tut die im Herzen königstreue Beamtenschaft auch unter der revo­ lutionären Regierung mit größter Selbstüberwindung ihren Dienst, mährend die sozialdemokratischen Arbeiter streiken oder durch „wahn­ sinnige Lohnforderungen" die deutsche Industrie konkurrenzunfähig machen und damit ihre eignen wirtschaftlichen Existenzgrundlagen zerstören. Daraus mag man entnehmen, wie weit man mit einein rein utilitaristisch fundamentierten Moralunterricht kommen würde.

330 So verständlich demnach im Hinblick auf die Vergangenheit die Ablehnung der religiösen Erziehung seitens der sozialdemo kratischen Republik sein mag, so unverständig ist sie in Anbetracht der gegenwärtigen Lage. 2.

Aber was auf dem Standpunkt des sozialistischen Staates ein Unverstand ist, das erscheint vom Standpunkt des Elternhauses aus als ein Unrecht. Der sozialistische Staat ist rein individualistisch gedacht. Er ist gedacht als eine Summe von Einzelpersönlichkeiten, die durch Abstimmung den Willen der Gesamtheit zum Ausdruck bringen. Im sozialistischen Denken fehlt der Begriff der Gesamtversönlichkeit. Alle sozialen Organismen werden unter der Leitung der demokratischen Idee in Individuen aufgelöst. Aber diese Atomisierung der Gesellschaft muß ihre Grenze finden an der Familie. „Die Familie ist die Urform alles Gemeinschafts­ lebens. Wie ein Tierkörper aus Zellen, so besteht ein Volkskörper aus Familien als letzten Elenienten. Das isolierte Individuum kommt in der geschichtlichen Welt so wenig vor, als isolierte Atome ober Moleküle in der organischen." „Sie ist das erste sittliche Ganze, das Urelement, aus dem sich die Gemeinschaften höherer Ordnung ausbauen."') Die konsequente sozialistische Theorie hat freilich vor dieser Tatsache nicht Halt gemacht. Tie konstruiert eine Gesellschaftsform, bei der die Lebenslänglichkeit der Ehe als Regel grundsätzlich ausgegeben ist und die Pflege und Erziehung der Kinder von ihrer frühesten Jugend an in staatlichen Anstalten erfolgt. In einer vielgelesenen Wochenschriit sindet sich in einem Programm auch die Forderung: „Freiheit de» Geschlechtslebens in den Grenze» der Verpflichtung, den Willen Widerstrebender zu achten und die llnerfahrenheit der Jugend zu schützen. Durch greifende Herstellung des Rechtes aller Männer und Frauen, über den eigenen Körper frei zu verfügen. Rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung nicht nur der unehelichen Kinder, sondern auch der unehelichen Mütter mit den ehelichen."*) Indes das ist glücklicher weise kein Regierungsprogramm und entspricht schwerlich dem Ideal ') Paulsen, System der Ethik II (6. Aufl.), 6. 236 f. ) Preutz. Jhb. 1918, De», tzeft S. 440.

331 -er Masse der deutschen Sozialisten. Auch in der sozialdemokrati­ schen Republik bleiben die Familien die Zellen des staatlichen Organismus und die Erziehungsstätten für die Heranwachsenden Generationen. Was das Elternhaus für die Erziehung der künftigen Staatsbürger leistet, kann durch öffentliche Erziehungsanstalten niemals ersetzt werden. In den Beziehungen der Eltern zu den Kindern, der Kinder zu den Eltern und der Geschwister zueinander entwickeln sich die Gesinnungen und Motive einer gesunden staats­ bürgerlichen Moral. Niemand hat die Bedeutung der Familie für die staatsbürgerliche Erziehung eindrucksvoller hervorgehoben als der oben bereits genannte Fr. W. Förster: „Die Familie wirkt nicht durch ihre bewußten pädagogischen Methoden erziehend (diese mib oft höchst mangelhaft), sondern durch die einzigartige Tatsache, daß sie den jungen Menschen durch sehr starke natürliche Sym vathien und feste Ordnungen in die Aufgabe hineinzwingt, sich mit grundverschiedenen Temperamenten und Altersstufen auseinander zu setzen und mit ihnen innige Gemeinschaft zu halten. In der Intensität dieser inneren Auseinandersetzung, die in keiner anderen sozialen Beziehung so stark ist, liegt das Geheimnis der päda­ gogischen Leistung der Familie. Kein geordnetes Anstaltslebeu kann den jungen Menschen so an das Irrationale des wirklichen Lebens anpassen wie das Familienleben mit all seinen vielseitigen Konflikten, Unregelmäßigkeiten, Kontrasten und genieinsamen Schicksalen." *)

Nun ist aber die Familie der Mutterschoß aller Religion Ursprünglich ist jede Familie eine Kultgemeinschaft mit ihren eignen Hausgöttern. Als solche wurden die Ahnen verehrt, bereit Priester der Hausvater war. In der Ahnenverehrung sind die Gefühle der Ehrfurcht und des Vertrauens gesteigert,, von denen die Kinder den Eltern gegenüber beseelt sind. Diese Gefühle werden

andererseits durch die Ahnenverehrung vertieft und geweiht. Der Hausvater nimmt als Priester des Ahnenkultus teil an der Ehr­ furcht und dem Vertrauen, die man den vergöttlichten Ahnen ent gegenbringt. Dieses doppelseitige Verhältnis ist geblieben, auch nachdem die häusliche Religion durch die Weltreligion des Christen *) Politische «th» und pol. Pädagog» 1018 S. 400.

332 tu ms ersetzt ist. Einerseits entwickeln sich im Verkehr der Kinder mit den Eltern die Gefühle der Ehrfurcht und des Vertrauens, die im Glauben an den Vater im Himmel ihre höchste Steigerung er fahren; andererseits wird durch die Ehrfurcht und das Vertrauen zu Gott das kindliche Abhängigkeitsgefühl den Eltern gegenüber zur Pietät vertieft und geadelt. Indem die Kinder Gott als ihren Vater anreden, fällt aus ihren Vater ein Abglanz der Majestät Gottes. Sie sehen in den Eltern Gottes Stellvertreter auf Erden. Die Autorität der Eltern ruht aus der Religion der Kinder. Da nun eine fest gegründete elterliche Autorität die unumgängliche Voraussetzung für die Erziehung der Kinder zu pflichtbewußten Staatsbürgern ist, so haben die Eltern ba