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German Pages 412 Year 2000
NOTKER HAMMERSTEIN
Res publica litteraria
Historische Forschungen Band 69
Notker Hammerstein
Res publica litteraria Ausgewählte Aufsätze zur frühneuzeitlichen Bildungs-, Wissenschafts- und Universitätsgeschichte
Von Notker Hammerstein Herausgegeben von Ulrich Muhlack und
Gerrit Walther
Duncker & Humblot . Berlin
Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düssseldorf
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Hammerstein, Notker:
Res publica Iitteraria : ausgewählte Aufsätze zur frühneuzeitlichen Bildungs-, Wissenschafts- und Universitätsgeschichte I Notker Hammerstein. Hrsg.: Muhlack, Ulrich ; WaIther, Gerrit. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Historische Forschungen ; Bd. 69) ISBN 3-428-09899-4
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübemahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0344-2012 ISBN 3-428-09899-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9
Vorrede Jeder Kundige weiß, daß Notker Hammerstein, jedenfalls für seine Person, eine gründliche Abneigung gegen die öffentliche Inszenierung professoraler Geburtstage hegt und besonders wenig von Festschriften hält. Er teilt diese Auffassung mit seinem Lehrer Otto Vossler, der sich darüber drastisch auszusprechen pflegte, und er kann für sie so gute Gründe ins Feld führen, daß sie auch aus Anlaß seines 70. Geburtstags am 3. Oktober 2000 respektiert werden sollte. Freilich kommt er diesmal begreiflicherweise nicht ganz davon. Die res publica litteraria hat nun einmal das Recht, diejenigen ihrer Mitglieder zu feiern, die sich um sie besonders verdient gemacht haben. Auch jetzt gibt es unter Schülern und Kollegen berechtigte Erwartungen und einen berechtigten Anspruch, sie erfüllt zu sehen. Die Unterzeichneten haben sich daher zur Herausgabe dieses Notker Hammerstein gewidmeten Buches entschlossen, um ihm auf diesem Wege gebührenden Dank zu sagen und unsere Verbundenheit zu bekunden. Allerdings bleibt ihm eine eigentliche Festschrift erspart; er erhält vielmehr eine Sammlung ausgewählter eigener Aufsätze, die bisher vielerorts verstreut waren. Ihr praktischer Nutzen, und zwar für ihn selbst wie für das gelehrte Publikum, ist so evident, daß sie nach keiner Seite einer Begründung bedarf. Begründet werden muß aber die Auswahl, die wir getroffen haben. Hammersteins Aufsätze umspannen, wie seine Bücher, auf die sie sich - sei es vorbereitend, begleitend oder ergänzend - hinordnen lassen, den ganzen Bereich der Bildungs-, Wissenschafts- und Universitätsgeschichte vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert, vorab in Deutschland, aber immer mit vergleichendem Blick auf Süd- und Westeuropa und immer im Zusammenhang der allgemeinen Geschichte und besonders der Geschichte des politischen Denkens: eine Fülle größerer und kleinerer Artikel, alle anregend, viele durch ihre grundsätzliche Tragweite bemerkenswert. Wir beschränken uns auf die Arbeiten zur frühen Neuzeit, also im Umkreis der beiden Bücher ,,Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jahrhundert" (1972) und "Aufklärung und katholisches Reich. Untersuchungen zur Universitätsrefonn und Politik katholischer Territorien des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation im 18. Jahrhundert" (1977). Sie stehen für das Forschungsgebiet, von dem Hammerstein ausgegangen ist, das ihn anhaltend beschäftigt hat, aus dem ihm Maßstäbe für die Durchführung seiner weiteren Vorhaben erwachsen sind, das ihm auch "lebensweltlich" , nach der ganzen ihm eigenen Mentalität am nächsten liegt und auf dem er seinen wissenschaftlichen Ruf begründet hat: Abhandlungen von hohem spezifischem Gewicht, die die beiden genannten Bücher vervollständigen und erweitern und ohne die der heute geltende Forschungsstand nicht zu denken
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Vorrede
ist. Auch hier geht es freilich, bei der Menge der vorliegenden Aufsätze, ohne Einschränkungen nicht ab, und es wird gerechtfertigt erscheinen, wenn wir uns an die allgemeineren Texte halten, an Überblicke, Gesamtwürdigungen und Zusammenfassungen, die sozusagen ein einheitliches Panorama der Epoche ergeben; lediglich ausgesprochene Handbuchbeiträge, so die Artikel zum "Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte" oder zu dem Sammelwerk "Geschichte der Universität in Europa", sind dabei weggelassen. Die ausgewählten Aufsätze sind in eine Reihe gebracht, die nicht von Sachgesichtspunkten bestimmt ist, sondern der jeweiligen Entstehungszeit folgt. Statt einer nachträglichen thematischen Systematisierung geben wir also einer Gliederung den Vorzug, die den immanenten Erkenntnisprozeß des Autors vor Augen führt und damit auch genetische Zusammenhänge zwischen den Aufsätzen sichtbar macht. Wer die früheste der hier abgedruckten Abhandlungen liest, die erste Arbeit Hammersteins auf diesem Forschungsgebiet überhaupt, bekommt die Fäden in die Hand, die in der Folge nach und nach, in den verschiedensten Richtungen ausgesponnen werden; von Text zu Text wird das Problem, um das es in ihnen allen geht, vielfältiger, das Bild differenzierter, der Horizont weiter. Auch dabei entsteht gewissermaßen ein System, aber von innen her, aus der Sukzession der Erkenntnisinteressen und Forschungsergebnisse heraus, die sich Zug um Zug zu einem konkreten Ganzen zusammenfügen. Es versteht sich daher zugleich, daß die Aufsätze, von technischen Korrekturen und einer gewissen formalen Standardisierung abgesehen, so wiedergegeben werden, wie sie ursprünglich veröffentlicht worden sind. Die Herausgeber haben weder sachlich noch sprachlich irgend etwas geändert, sondern überall den originalen Wortlaut bewahrt. Zum Schluß noch eine allgemeine Bemerkung über die äußere Form, in der sich diese Aufsätze darbieten und die zwischen ihnen eine Einheit ganz eigener Art stiftet. Man sieht ihnen an, daß es sich bei ihnen durchweg um Vorträge handelt, die wirklich als solche konzipiert, auf ein Publikum berechnet sind. Der Aufbau, die Wiederholungen nicht scheuende Einkreisung oder Umkreisung des jeweiligen Phänomens, der ganze Argumentationsstil bis in bestimmte sprachliche Eigenheiten hinein: das alles erklärt sich aus einem sehr persönlich gefaßten Bestreben, Zuhörer anzusprechen, in eine dialogische Beziehung zu ihnen zu treten, mit ihnen ein Einverständnis zu erzielen. Wer Hammerstein bei Vorträgen erlebt hat, kann den großen Erfolg ermessen, der ihm dabei immer wieder beschieden war. Er weiß auch, daß es Hammerstein dabei nicht einfach um Rhetorik zu tun ist, sondern um seine Auffassung von Wissenschaft selbst: um jene Kongruenz von Form und Inhalt, die er so zielsicher bei den humanistischen Gelehrten oder bei den Professoren der deutschen Reformuniversitäten des 18. Jahrhunderts herausarbeitet, auch wenn er sie selbst naturgemäß mit ganz anderen Mitteln herstellt, die nur ihm angehören. Man versteht diese Aufsätze nur, kann sie jedenfalls nur dann angemessen rezipieren, wenn man sich darüber im klaren ist. Die Glaubwürdigkeit, die
Vorrede
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Überzeugungskraft, der ganze unverwechselbare Charme des Autors hängen daran. Es ist nicht das mindeste Ziel dieses Sammelbandes, davon wiederum eine Vorstellung zu vermitteln. Nach getaner Arbeit haben wir vielfachen Dank zu sagen: Herrn Professor Dr. Norbert Simon vom Verlag Duncker & Humblot für die umstandslos gewährte Bereitschaft, den Band zu veröffentlichen; den Verlagen, bei denen die ursprünglichen Rechte liegen, für die freundliche Genehmigung zum Wiederabdruck; der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf, für einen namhaften Druckkostenzuschuß; Herrn Professor Dr. Johannes Kunisch, Köln, für Rat und Tat bei der Planung und Vorbereitung des Unternehmens. Unser besonderer Dank gilt unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, ohne die das Werk nicht zustandegekommen wäre: Herr Thomas Lehr hat nicht nur entscheidenden Anteil an der Herstellung der Druckvorlage, sondern a,uch das Register eingerichtet; Frau Dagmar Stegmüller und Herr Christian Mehr haben dabei unerläßliche Mithilfe geleistet; Frau Iris Kowalski hat, mit gewohnter Zuverlässigkeit, eine Fülle von Schreibarbeiten erledigt. Ulrich Muhlack Gerrit Walther
Inhaltsverzeichnis Zur Geschichte der deutschen Universität im Zeitalter der Aufklärung .................
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Der Anteil des 18. Jahrhunderts an der Ausbildung der historischen Schulen des 19. Jahrhunderts.....................................................................
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Reichspublicistik und humanistische Tradition .........................................
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Humanismus und Universitäten ........................................................
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Universitäten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation als Ort der Philosophie des Barock ...................................................................
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Jus Publicum Romano-Germanicum .......................................... ,........ IU Das Römische am Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation in der Lehre der Reichs-Publicisten .................................................................. 139 Die deutschen Universitäten im Zeitalter der Aufklärung............................... 160 "Großer fürtrefflicher Leute Kinder". FÜfstenerziehung zwischen Humanismus und Reformation ........................................................................... 175 Besonderheiten der österreichischen Universitäts- und Wissenschaftsreform zur Zeit Maria Theresias und Josephs 11. ..................................................... 194 Universitäten und gelehrte Institutionen von der Aufklärung zum Neuhumanismus und Idealismus .......................................................................... 215 Reichs-Historie........................................................................ 235 Universitäten - Territorialstaaten - Gelehrte Räte ...................................... 257 Res publica litteraria - oder Asinus in aula? Anmerkungen zur ,.Bürgerlichen Kultur" und zur ,,Adelswelt" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 303 Universitätsgeschichte im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation am Ende der Renaissance ......................................................................... 327 Der Wandel der Wissenschafts-Hierarchie und das bürgerliche Selbstbewußtsein. Anmerkungen zur aufgeklärten Universitäts-Landschaft................................ 341 Was heißt Aufklärung in katholischen Universitäten Deutschlands? .................... 357 Die Obrigkeiten und die Universitäten: ihr Verhältnis im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 377 Universitäten und Reformation ........................................................ 388 Namenverzeichnis ..................................................................... 402
Zur Geschichte der deutschen Universität im Zeitalter der Aufldärung* Gemeinhin wird mit der Gründung der Friedrichs-Universität zu Halle ein Neubeginn der deutschen Universitätsgeschichte verknüpft. Da diese Auffassung wohl noch immer zu Recht besteht, obgleich einige jüngere Untersuchungen der Fridericiana diesen Ruhmestitel streitig machen!, erscheint es sinnvoll, uns zunächst dieser preußischen Gründung zuzuwenden. Es trifft gewiß zu, daß fast alle sog. Neuanfänge, alle Neuerungen ihre Vorläufer haben, sich schon lange anbahnen, sie also gar nicht so neu sind, wie sie erscheinen mögen. Aber, und das bleibt doch entscheidend, die Zusammenfassung dieser Strömungen und ihre Institutionalisierung, ihre zusammenhängende Verwirklichung in den Ideen eines bestimmten Mannes, ist ein qualitativ neues Moment, bezeichnet zu Recht einen Neuanfang. Und dies scheint uns in Halle nach wie vor gegeben zu sein. Was sind nun die Ideen und Aufgaben, die diese Universität bestimmen, wie sieht ihre Gründungsgeschichte aus? - Der unaufhaltsame Aufstieg Preußens zu einem der mächtigsten Territorien, begleitet von der zielstrebigen und weitsichtigen Politik des Großen Kurfürsten und mit z. T. anderen Mitteln, aber gleichlaufenErstveröffentlichung in: H. Rössler/G. Franz, Hrsg., Universität und Gelehrtenstand 14001800 (Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit, 4), C. A. Starke Verlag, LimburgILahn 1970,145-182. * Der Charakter eines Vortrages ist unverändert beibehalten worden. Nur die nötigsten Hinweise und Anmerkungen konnten - aus Platz gründen - angefügt werden. Der Vortrag wurde vor 4 Jahren gehalten und fertiggestellt. Ich sehe bewußt davon ab, etwa neuere Literatur einzuarbeiten oder andere Akzente zu setzen. Was hier zu ergänzen oder zu modifizieren wäre, kann, gleichwie die ausführliche Begründung meiner Thesen, in meinem Buch ,,Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und 18. Jahrhundert", das demnächst erscheinen wird, nachgelesen werden. Vorweg sei die für das Thema grundlegende Literatur genannt: R. Stintzing 1E. Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, 4 Bde., München 1880-1910, hier bes. Bd. 3; F. Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts, 2 Bde., Leipzig 1919; O. v. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, 4 Bde., jetzt Darmstadt 1954; E. Wolf, Große Rechtsdenker, Tübingen 41963; F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, jetzt 2. Aufl. Göttingen 1967 (hier habe ich noch nach der ersten Auflage von 1952 zitiert!). 1 Vgl. die vorzüglichen Untersuchungen O. Feyl's, insbes.: ders., Deutsche und europäische Bildungskräfte der Universität Jena von Weigel bis Wolff, in: Wiss. Ztschrft. Universität Jena, Ges. u. sprachwiss. Reihe 1965157, 27 ff.; und ders., Jena als Avant-Universität der deutschen Frühaufldärung und Geschichts-Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Wissen schaftl. Annalen. 6, 1957,83 ff. Ferner: M. Steinmetz u. a., Hrsg., Geschichte der Universität Jena: 1548/58-1958. Festgabe zum vierhundertjährigen Universitätsjubiläum, 2 Bde., Jena 1958, insbes. Bd. I, 125 ff.
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den Absichten fortgeführt von seinen Nachfolgern, unterstützte in starkem Maße die "modemen" zeitgenössischen Ideen in Politik und Geistesleben. Die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges und die geistige Lähmung, die er für das Reich gebracht hatte, wurden rasch von einer tatenfrohen und unbelasteten Generation von Herrschern und gelehrten Männern überwunden. Wissenschaft und Künste, von lang her mit den Fürstenhöfen verbunden, suchten und fanden dort oftmals fördernde Unterstützung. Man braucht nur an das Lebensschicksal von Männern wie Boecler und Conring, Leibniz und Pufendorf, Boineburg und Paul v. Fuchs oder an Herrscher wie die aus dem Hause Schönborn, an Höfe wie den chursächsischen oder den Wiener zu erinnern, um dies klar zu machen. Das brandenburg-preußische Herrscherhaus dieser Zeit nun zeigte sich gleichfalls den Wissenschaften und Künsten aufgeschlossen. Schon der Gr. Kurfürst war hierin vorangegangen mit seinem phantastischen Projekt einer Universaluniversität "für die Völker, Wissenschaften und Künste,,2, mit der Gründung der Universität Duisburg (1655), und, nach Halle, war die Gründung der preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin ein weiteres Zeichen der Verbundenheit des Hauses mit den geistigen Bestrebungen der Zeit. Im Zeichen solchen repräsentationsbedürftigen, mäzenatischen Geistes erstand auch die Universität Halle. 3 Hinzu kommt noch, daß die besondere universitätspolitische Lage in Preußen eine weitere Hochschulgründung nahelegte. 4 Das Territorium verfügte bisher über drei Universitäten, die zu Frankfurt a. d. Oder, die in Königsberg und die in Duisburg. Alle drei lagen ziemlich an der Peripherie des Landes, und zwei von ihnen hingen der Konfession des Herrscherhauses, der reformierten, an. Allein Königsberg teilte das Glaubensbekenntnis mit der überwiegenden Mehrzahl der Untertanen, war aber durch seine Lage am meisten benachteiligt, was sich nicht nur in diesem Fall sehr negativ auf die Besucherzahlen auswirkte.!! Da die Universitäten noch immer nach konfessionellen Gesichtspunkten beurteilt und ausgewählt wurden6 , zogen es die angehenden Pastoren 2 Zit. n. A. v. Harnack, Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 190\, 33. Zu Duisburg vgl. W. Ring, Geschichte der Universität Duisburg, Duisburg 1920. 3 Die Literatur zur Geschichte der Universität HaUe ist mittlerweile sehr umfangreich. Eine der besten DarsteUungen ist noch immer die von W. Schrader, Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle, 2 Bde., Berlin 1894. Benutzt wurden fernerhin die älteren Darstellungen von J. P. v. Ludewig, Historie der Friedrichs-Universität Halle ... , in: Consilia Hallensium Jureconsultorum ... , Bd. 2, HaUe 1734, 1 ff.; J. C. Förster, Übersicht der Geschichte der Universität zu Halle in ihrem ersten Jahrhundert, HaUe 1794; J. C. Hoffbauer, Geschichte der Universität zu Halle bis zum Jahre 1805, Halle 1805. 4 Hoffbauer, Geschichte, 19; Schrader, Geschichte, 5 ff. S Vgl. dazu F. Eulenburg, Die Frequenz der deutschen Universitäten von ihrer Gründung bis zur Gegenwart, Leipzig 1904, 271. 6 Ein bezeichnendes Beispiel teilt A. Tholuck in seiner Vorgeschichte des Rationalismus, Bd. 1, Halle 1853,67 mit. Danach wurden ab 1679 die Professoren der Universität Jena auf Eid verpflichtet: "... über vorhin abgelegten Religionseid ich mich fernerweit dahin verpflichte, daß ich weder mit Papisten noch Calvinisten noch einiger anderer irriger Lehre, keinem syncretismo zugethan bin ......
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und Juristen Brandenburg-Preußens vor, die nah und zentral gelegenen Hochschulen in Leipzig, Wittenberg und Jena aufzusuchen. Das kurfürstliche Toleranzedikt von 1685 hatte zwar die offizielle Duldung der feindlichen Glaubensbrüder erreicht, nicht aber ihre gefühlsmäßige und intellektuelle Tolerierung. Noch zu sehr herrschte die enge kleinstaatliche Theologie, der das Reich ja die Vielzahl seiner Universitäten verdankte. Sie war nicht gewillt, kampflos das Feld zu räumen, trotz Westfälischen Friedens, Reichrecessen und Toleranzedikten. Dem calvinistischen Herrscherhaus konnte die Ausbildung seiner Staatsbediensteten in den Hochburgen lutherischer Orthodoxie jedoch keineswegs willkommen sein. Der polemische, kampfbereite Geist, den sie von dort mitbrachten, störte empfindlich den religiösen und geistigen Frieden im Land und war der Ausbildung des so notwendigen einheitlichen Staatsbewußtseins sehr abträglich. 7 Gelang es nun, eine gut besuchte, erfolgreiche, eigene lutherische Universität ins Leben zu rufen, durfte man hoffen, in milder Aufsicht allzu intoleranten, kämpferischen Eifer unterbinden zu können. 8 Mit diesen religionspolitischen Überlegungen gingen dann noch andere, ihnen sehr verwandte und gleichgerichtete einher. Die sich im Zuge des absolutistischen Staatsideals auch in den deutschen Territorien ausbreitende Neigung zu modernem Staatsaufbau, zu einer zentraleren Verwaltung und zur gestrafften Geschäftsführung verlangte nach mehr und vor allem besser ausgebildeten Staatsdienern. 9 Eine angemessene verwaltungstechnische und staatspolitische Unterweisung der künftigen Beamten - und das hieß nach Lage der Dinge eine juristische Vorbildung - erschien geboten und unumgänglich. Da ein jedes Territorium jedoch seinen eigenen Patriotismus, seine eigenen arcana und seine eigene Staatsraison zu besitzen meinte, schien es sinnvoll, diese Ausbildung in eigener Verantwortung und unter eigener Aufsicht vornehmen zu lassen. Dazu kam noch, daß die bisherigen Universitäten den gewandelten und modemen juristisch-politischen Lehren verständnislos und im allgemeinen ablehnend gegenüberstanden, also gar nicht die in Brandenburg-Preußen als notwendig erkannten und hoffnungsvoll gehegten Erwartungen erfüllen konnten. WeIcher Art waren diese gewandelten Auffassungen, die neuen und modemen Ideen? In aller gebotenen Kürze, sozusagen stichwortartig, denn mehr verbietet die zur Verfügung stehende Zeit, hierzu einige Worte. Es sei sogleich noch darauf hingewiesen, daß dieser Katalog schon im Hinblick auf die in Halle zur Wirkung kommenden Ideen abgefaßt ist. Da ist einmal die in den Niederlanden aus dem mos Gallicus weiterentwickelte elegante Jurisprudenz (die klassisch-humanistische Jurisprudenz - Wieacker). Ihre historisch-philologische Ausrichtung führte zur stärkeren Betonung der rechtsgeschichtlichen Betrachtung, auch der der eigenen, d. h. niederländischen bzw. germanischen Rechtsgeschichte. Sie erstreckte sich Dazu A. Heubaum, Geschichte des deutschen Bildungswesens, Berlin 1905,63. Förster, Übersicht, 15. 9 Zuletzt H. Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, Neuwied 1966. Dort weitere Literatur. 7
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auch auf die allgemeine Rechtslehre, das Verfassungs- und Völkerrecht. 10 In der Übernahme vieler Ideen der spanischen Spätscholastik 11, der Kampf um die eigene Unabhängigkeit und Freiheit zwang dazu, verstärkte sie die Tendenzen zu einer allgemeinen, überkonfessionellen Begründung des Rechts. In der klassischen Ausformung des Natur- und Völkerrechts durch Hugo Grotius bot sie Europa, und vor allem dem Heiligen Römischen Reich, die bestimmende Grundlage für ihr Rechtsverständnis. 12 Ergänzend, in sachlich wie geistig naher Verbindung zu dieser rechtshistorischen Entwicklung, geht in den Niederlanden eine andere, für Gesamteuropa überaus folgenreiche geistige Bewegung einher. Es ist der von Gerhard Oestreich wiederentdeckte politische Neustoizismus. 13 Diese politisch-philologische, historische Erneuerungsbewegung, die in der Morallehre der Constantia und in einem stoisch-neurömisch verstandenen Ideal der Politik und des Kriegswesens die Möglichkeit sah, aus der scheinbaren Ausweglosigkeit der Religionskriege zu finden, war nicht nur für die praktische Politik auch der deutschen Territorien von erheblicher Bedeutung, sondern förderte entscheidend die ersten Ansätze zu religiöser Toleranz. Für die Wissenschaftsgeschichte bedeutete die Übernahme der im französisch-niederländischen Späthumanismus erstrebten Verbindung von kritischpraktischer Philologie, philologischer Geschichtsforschung und Realwissenschaft ein unschätzbares Verdienst. Denn von hier aus kommen erste, wichtige Anregungen für die deutsche staatswissenschaftliche Schule. Über Straßburg, Bernegger und Boecler sind zu nennen, erreichten diese Gedanken Mitteldeutschland, wo in Jena Joh. Andr. Bose diese wissenschaftliche Richtung vertritt. Er wird, zusammen mit Erhard Weigel, dem bedeutenden Lehrer eines Leibniz und Pufendorf, dem geistigen Vorfahren Christian Wolffs, zum Erneuerer der Salana. 14 Vor Halle 10 Vgl. hierzu die eingangs genannte juristische Literatur. Grundlegend Wieacker. Privatrechtsgeschichte. 86 ff. u. öfter. Ausgezeichnet ferner J. H. FrankIin, Jean Bodin and the 16th Century Revolution in the Methodology of Law and History. New York 1963, A. Mornigliano, Contributo alla Storia degli Studi Classici. Rom 1955. bes. 77 ff. und P. Koschaker. Europa und das Römische Recht. München 1958. bes. 265 ff. 11 Hierzu E. Reibstein. Die Anfange des neuen Natur- und Völkerrechts. Bern 1949; K. Eschweiler, Die Philosophie der spanischen Spätscholastik auf den deutschen Universitäten des 17. Jahrhunderts. Münster 1928. 12 Aus der fast unübersehbaren Literatur zu H. Grotius möge hier der Hinweis auf die jeweiligen Kapitel bei Wolf. Rechtsdenker. und H. WeIzeI. Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. Göttingen 1962. genügen. 13 Zuletzt G. Oestreich. Politischer Neostoizismus und niederländische Bewegung in Europa und besonders in Brandenburg-Preußen. in: Bijdragen en Medelingen van het Historisch Genootschap 79. 1965, 11 ff. Dort alle weitere Literatur. 14 Hierzu die schon genannten Arbeiten O. Feyl's. Ferner K. Biedermann. Die Universität Jena nach ihrer Stellung und Bedeutung in der Geschichte des deutschen Geisteslebens, Jena 1858.59 ff.; E. Borkowsky. Das alte Jena und seine Universität, Jena 1908.80 f.; H. Schöffler. Deutsches Geistesleben zwischen Reformation und Aufklärung. 2. Auf!. Frankfurt a. Main 1956. bes. 156 ff. Zum Ganzen dieses Abschnitts vgl. auch O. Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist, Salzburg 1949. bes. 129 ff.
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werden in Jena Vorlesungen über Grotius, über modeme Jurisprudenz und Politik, über juristisch-historische Themen gehalten, und auch Vorlesungen in deutscher Sprache finden hier schon vor Thomasius statt. 15 Die Gesamtrichtung der Universität jedoch ist dem traditionellen, orthodox-kirchlichen Wissenschaftsverständnis weiterhin verpflichtet, und auch die Behandlung der staatsrechtlich-historischen Themen unterscheidet sich von der nachmaligen in Halle nicht unerheblich. 16 Es ist nicht zu übersehen, daß der Jenaer Polyhistorismus sich aus dem niederländischen Neustoizismus ableitet, die dort gepflogene Verbindung von Philologie und antiquarisch-historischer Politik nachahmt. Nicht von ungefähr bezeichnete Landsberg diese staatsrechtliche Richtung als die "staatsrechtlich-literärgeschichtliche"17. Burkhard Gotthelf Struve und Buder sind dafür die vielleicht bekanntesten Beispiele. Zum Abschluß dieser Aufzählung bleibt uns noch, auf die Bedeutung, auf den Einfluß einer anderen geistigen Strömung dieser Zeit hinzuweisen. Da ist einmal die historisch-kritische skeptische Bewegung in Frankreich zu nennen, die Mauriner, der Pyrrhonismus 18 , Pierre Bayle 19, die in der "Krise des europäischen Geistes,,20 nach einem neuen Wissenschaftsverständnis suchen und deren Schriften und Gedanken im Reich aufmerksam verfolgt und unter den ,.Modemen" vielfach diskutiert werden. Zum anderen verfehlt auch der englische Empirismus und Sensualismus nicht seine Wirkung bei deutschen Gelehrten. 21 Bacons Methodologie, Robbes' Naturrecht und Lockes Toleranztractat22 bestärken die "fortschrittlichen" Juristen in ihren Gedanken und Überlegungen. Die gleichzeitige Erschließung der englischen Vergangenheit in einem neuen Rechtsverständnis 23 unterstützt die aus den Niederlanden kommenden Gedanken und verstärkt den Wunsch nach einer I~ Steinmetz, Hrsg., Geschichte, 76 und R. Hodermann, Universitätsvorlesungen in deutscher Sprache um die Wende des 17. Jahrhunderts, Friedrichsroda 1891, 21 f. 16 Dies scheint mir, im Gegensatz zu Feyl und Steinmetz, Hrsg., Geschichte, unbestreitbar. Den Nachweis hoffe ich in meiner eingangs erwähnten Arbeit zu erbringen. 17 Stintzing I Landsberg, Geschichte, Bd. 3, I, 129. 18 Hierzu M. Scheele. Wissen und Glaube in der Geschichtswissenschaft. Studien zum Historischen Pyrrhonismus in Frankreich und Deutschland, Heidelberg 1930. 19 V gl. die ausgezeichnete neue Arbeit von E. Labrousse, Pierre Bayle, 2 Bde., La Haye 1963, bes. Bd. 2, 3 ff. 20 So der deutsche Titel des grundlegenden Werks von P. Hazard, Hamburg 1939. 21 Vgl. G. Zart, Einfluß der englischen Philosophen seit Bacon auf die deutsche Philosophie des 18. Jahrhunderts, Berlin 1881. Neuerdings auch W. Philipp im Vorwort, in: ders., Hrsg., Das Zeitalter der Aufklärung, Bremen 1963, LU ff. Dort, wie auch in: ders., Das Werden der Aufklärung in theologiegeschichtlicher Sicht, Göttingen 1957. eine anregende. aber nicht immer unproblematische Darstellung des hier geschilderten allgemeinen Zusammenhangs. 22 Über diese geistigen Strömungen in England W. H. Greenleaf, Order, Empiricism and Politics, London 1964. 23 Grundlegend J. G. A. Pocock, The Ancient Constitution and the Feudal Law, Cambridge 1957. Ferner F. Smith Fussner, The Historical Revolution, London 1962.
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besseren, juristisch nutzbaren Kenntnis der eigenen, germanisch-deutschen Entwicklung. Dies etwa waren die neuen, gesamteuropäischen Ideen, die auch auf die Gelehrten in Deutschland ihre Wirkung nicht verfehlten, denen sich ein Mann wie Pufendorf oder Thomasius verpflichtet fühlte und die auch zu einem gewissen Grad in Halle ihren Niederschlag fanden. Gemeinsam war ihnen allen das Eintreten für religiöse Toleranz und gegenseitige Duldung, die aufklärerische Tendenz. Das protestantische Deutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg war jedoch noch weit davon entfernt, trotz der Leiden, die gerade durch die religiöse Unduldsamkeit mitbewirkt worden waren, für ein friedliches Zusammenleben der Konfessionen einzutreten. Die politische Vernunft des preußischen Herrscherhauses führte zwar zu einer anerkannten und garantierten öffentlichen Toleranz im Staate, aber im privaten Leben, in der Kirche und an den Universitäten war davon, wir erwähnten es schon, wenig zu spüren. Hier herrschte nach wie vor, ja sogar stärker als je vor dem Kriege, wie K. Holl überzeugend gezeigt hat, die lutherische Orthodoxie. 24 Was Wunder, daß all diese Neuerungen strikt von ihr abgelehnt wurden und dem Verdict der Ketzerei anheimfielen. Die starre, intolerante und neuerungsfeindliche Haltung der Orthodoxie führte nun andererseits dazu, daß das schon stark angeschlagene Ansehen der Universitäten immer mehr sank, ihre Bedeutung für die geistige Erziehung Deutschlands immer mehr abnahm. Schon der überaus geringe Besuch der Hohen Schulen zeigt das 25 und noch mehr die Tatsache, daß ein Mann wie Leibniz - mit Abstand der hervorragendste Kopf seiner Zeit - es ablehnte, die Universität als Lehr- und Ausbildungsstätte zu erwählen?6 Der Hof als einflußreiches politisches und geistiges Zentrum erschien als der angemessene Platz für die modeme Wissenschaft und Bildung, nicht die verstaubten ..mönchischen" Anstalten mit ihren grilli inutiles (Leibniz). Weltaufgeschlossenheit, feine Sitte, höfische Aufführung, Galanterie es ist eines der Modeworte der Zeit -, manierliche Ausrichtung des Lebens und der Wissenschaften auf das Nützliche, zierliche Konversation und die Conduite sind die verbindlichen Leitbilder und Ideale der Zeit. Davon hatte die sich noch immer als geistliche Korporation begreifende traditionelle Universität auch nicht das Geringste. Nicht nur in ihrer üblichen Tracht erschienen die Professoren den Geistlichen verwandt, sondern auch in ihrem geistigen Habitus, den sie zu dem bestimmenden auf den Universitäten zu machen wußten. Dementsprechend gering war denn auch der Besuch der Universität seitens der vielumworbenen adeligen Standespersonen. Die Erziehung am Hof wurde ganz gegen die frühere und nachmalige 24 K. Holl, Die Bedeutung des großen Kriegs für das religiöse und kirchliche Leben innerhalb des deutschen Protestantismus, 1917, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 3, Tübingen 1928,302 ff., bes. 311 ff. 2S Genaue Zahlen bei Eulenburg, Frequenz. 26 Für viele: Paulsen, Geschichte, Bd. 1,524, mit Zitaten. Zum folgenden vgl. Heubaum, Geschichte, 31, und Paulsen, Geschichte, Bd. I, 493 ff.
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deutsche Tradition der Universitätsausbildung vorgezogen. Die weltfernen Lehren und Methoden und der rüde Ton an den Universitäten ließen sie vollkommen ungeeignet für die Ausbildung junger Standespersonen oder solcher, die es werden wollten, erscheinen. Die Schwierigkeiten einer häuslichen Erziehung der jungen Herren 27 - oft fehlten die geeigneten Hauslehrer und auch die nötigen Mittel - ließen damals eine fast vergessene Institution wieder ins Leben treten; es sind die sog. Ritterakademien. 28 Der Lehrplan war streng den Vorstellungen von dem, was ein junger Herr von Stand braucht, angepaßt. Nur praktische und nützliche Dinge sollten gelehrt werden, das, was zur galanten Konversation, zur angenehmen Aufführung, zum Dienst in der Öffentlichkeit vorbereitete und unumgänglich erschien. Neuere Sprachen waren wichtiger als Gelehrtenlatein oder gar Griechisch, praktische Übungen wie Reiten und Fechten notwendiger als das Auswendiglernen unverstandener Lehrbücher. Die Nähe zu einem Hof sollte den jungen Herrn Möglichkeiten zur praktischen Vervollkommnung ihrer Ansichten und Sitten bieten und sie dem Ideal des "vollkommenen Hofmannes", wie das Paulsen treffend nannte, näherbringen. Trotz ihrer nur bescheidenen Wirkung und des geringen Zulaufs, dessen sie sich erfreuten, zeigen die Ritterakademien vorzüglich, in welcher Weise man sich eine "modeme" Erziehung vorstellte. Ihr letztlich nur mäßiger Erfolg erklärt sich, um das vorwegnehmend zu sagen, aus der Anpassung der Universitäten selbst, zunächst der Halles, an dieses Erziehungsideal. 29 Die erneuerte Universität bot letztlich viel bessere Ausbildungsmöglichkeiten als die Ritterakademie, die nie ganz den Charakter einer bescheidenen Fachschule ablegte. Leibnizens Ablehnung und verächtliche Beurteilung der deutschen Universitäten erscheint also gerechtfertigt und zutreffend. So wie er dachten viele, z. B. auch Pufendorf, und man glaubte, die Universitäten seien am Absterben. Mit Christian Thomasius, einem jüngeren Zeitgenossen der beiden, entschließt sich jedoch ein Gelehrter, innerhalb der Universität auszuharren und sie reformierend den gewandelten Auffassungen anzupassen. Geprägt und beeinflußt von den oben kurz umrissenen modemen Ideen, wird er zum eigentlichen Reformer und damit Retter der deutschen Universitäten. 3o Mit seiner Ankunft in Brandenburg-Preußen verdichteten sich die dort gehegten Wünsche nach Errichtung einer weiteren, vierten Landesuniversität. Man war überzeugt, in ihm den richtigen Mann für ein 27 Als anschauliche und zeitgenössische Schilderung siehe: J. P. v. Ludewig, Vollständige Erläuterung der Gueldenen Bulle ...• 2. Theil. Frankfurt a. Main 1719. 1443 ff. 28 Vgl. hierzu Heubaum, Geschichte. 32 ff. und 137 f.; Paulsen, Geschichte. Bd. 1.514 ff. 29 Dieser Umstand wird gern übersehen und allerhand nicht recht befriedigende Gründe unnötigerweise bemüht. 30 So schon L. v. Ranke in seinen Zwölf Büchern Preußischer Geschichte. im 5. Kapitel des 4. Buch z. B. Treffend auch C. Justi. Winckelmann und seine Zeitgenossen. Köln 1956. Bd. I. 62 f. Paulsen und Schrader vertreten gleichermaßen diese Ansicht, die neuerdings. sehr zu unrecht übrigens. gern angegriffen wird. - Die Literatur zu Thomasius ist fast unübersehbar. V gl. zuletzt Wolf. Rechtsdenker. Am Ende des Thomasius-Kapitels eine gute Übersicht über die Literatur.
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solches Unternehmen gefunden zu haben. Mit kgl. Order wurde ihm 1690 erlaubt, in Halle "der studentischen Jugend, welche sich allda vielleicht bei ihm anfinden möchte, mit Lectionibus und Collegiis, wie er bishero zu Leipzick gethan, an die Hand zu gehen,,3l. Die Zustimmung des Kurfürsten und der den Künsten und Wissenschaften ungemein geneigten Kurfürstin Sophie Charlotte, die Unterstützung durch den leitenden Minister Eberh. v. Danckelmann und die verständnisvolle Hilfe des "fachmännischen" Ressortministers Paul v. Fuchs ließen den schönsten Erfolg rur das geplante Unternehmen erhoffen. Der Wahl Halles zum Universitätsort lagen mehrere Überlegungen zugrunde. 32 Entscheidend waren die für das Reich und Brandenburg-Preußen zentrale Lage und die dank des Salzhandels der Stadt günstigen Verkehrsverbindungen. Auch die Nachbarschaft zu den orthodoxen Hochburgen Leipzig und Wittenberg sprach rur diese Wahl. Die eigenen Landeskinder sollten statt dort an der neuen Universität studieren, und unzufriedenen Studenten der weit renommierten Anstalten sollte ein Ausweichen nach Halle angeboten werden. Wie sehr man an den beiden chursächsischen Universitäten diese Gefahr einschätzte 33 , zeigt ihr Versuch, beim Kaiser die Erteilung des Privilegs zu hintertreiben. Als das trotz vieler Anstrengungen nicht gelang, erreichte man den letztlich wirkungslosen Passus des Privilegs, wonach den benachbarten Universitäten durch die Neugründung keinerlei Abtrag zu geschehen habe (sine tamen praeiudicio vicinarum Universitatum). Schließlich bestimmte auch noch der Umstand die Wahl Halles, daß die dortige, nicht gerade blühende Ritterakademie zweckmäßige und einer modemen Hochschule nötige Einrichtungen wie Tanz- und Fechtböden, Reitbahn, Exercitien- und Sprachmeister anzubieten hatte. 34 Es blieb also dabei, die Universität in Halle zu errichten, zumal sich die ersten Anfänge recht verheißungsvoll gestalteten. Und so konnte 1694 in einer Gründungsfeier, in der P. v. Fuchs die Festansprache hielt, die Fridericiana als Volluniversität ihre Pforten öffnen. Mittlerweile war auch der gesetzliche Rahmen für die Anstalt geschaffen worden, dem wir uns, da er für unser Thema von nicht geringem Interesse ist, zunächst zuwenden wollen. Beginnen wir mit dem kaiserlichen Privileg. 35 In geheiligter Tradition erstrebte auch Halle diesen kaiserlichen Errichtungsbrief. Nicht, weil das ius ubique docendi noch von Bedeutung erschien. Schon seit dem Ende des 16. Jahrhunderts war diese Bestimmung eigentlich unwichtig geworden 36, nicht aber der Umstand, daß erst das kaiserliche Privileg den in der juristischen Fakultät Promovierten Aussicht auf Anstellung an den Reichs- und kaiserlichen Gerichten eröffnete. Man erhoffte sich auch den Besuch auswärtiger Studenten, die aber mit Gewißheit ausbleiben muß31
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Die Ordre ist veröffentlicht bei Schrader, Geschichte, Bd. 2, 353 f. Zum folgenden Schrader, Geschichte, Bd. 1,38 ff. und 415. Vgl. Förster, Übersicht, 32. J. C. Dreyhaupt, Beschreibung des Saal-Creyses, Bd. 2, Halle 1751,3, § 9. Veröffentlicht bei Schrader, Geschichte, Bd. 2, 361 ff. Vgl. G. Kaufmann, Die Universitätsprivilegien der Kaiser, in: DZG I, 1889, 164 f.
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ten, wenn ihre Examen nicht im ganzen Reich anerkannt werden sollten. Erst zu Ende des 18. Jahrhunderts, bei der Gründung Bonns nämlich (1777/78), glaubte der leitende Minister, Kaspar Anton von Belderbusch, auf dieses Privileg im Interesse der unumschränkten Territorialhoheit seines Fürsten verzichten zu können. 37 Das erste und letzte Mal im alten Reich, soweit ich sehe. Nach langwierigen und zähen Verhandlungen erteilte Kaiser Leopold am 19. Oktober 1693 das Privileg, das sich im allgemeinen an die üblichen, fast kanonhaften Universitätsprivilegien hielt. Halle erhielt danach die Rechte und Immunitäten, wie sie auch den anderen Universitäten, in Germaniam, Italiam et Galliam zukamen. Es kann dementsprechend Fakultäten errichten, akademische Würden erteilen, sich Statuten geben; der Prorektor erhält, wie mittlerweile ebenfalls üblich, das Hofpfalzgrafenamt, also das Recht auf Ernennung von Notaren, auf Legitimierung von Bastarden etc., auf Mündigkeitserklärung von Minderjährigen, auf Restitution des Leumunds. Ferner kann er "poetas laureatos facere, creare et insignire", und schließlich erhält die Universität als sichtbares Zeichen ihrer Legitimität die nötigen Insignien, also die damals durchaus üblichen körperschaftlichen Rechte einer Hohen Schule. Aber, und das erscheint als nicht unwesentlicher Unterschied zu früheren kaiserlichen Privilegien - Meiners hat schon zu Recht darauf hingewiesen 38 -, der Kaiser erteilt diese Rechte nicht unmittelbar, sondern über und durch den Kurfürsten von Brandenburg. Die Wahrnehmung der Rechte ist der Universität immer nur mit Einverständnis des Herrscherhauses gestattet; dem Stifter und seinen Nachfolgern sind nicht nur die Würde des Rektors und Kanzlers vorbehalten 39, sondern sie müssen auch die Universität errichten und ihr gestatten, sich Statuten zu geben. Sie erteilen der Universität die Insignien. Das ist neu, geht von den bisherigen Privilegien ab und zeigt die veränderte politische Situation. Die Stärkung und Verselbständigung der Fürsten und ihrer Territorien - vertraglich fixiertes Ergebnis des großen Krieges - kommen darin zum Ausdruck, werden selbst vom Kaiser indirekt anerkannt. Es liegt ganz auf dieser Linie, wenn der preußische König entgegen den im Privileg zugestandenen Rechten aus dem Pfalzgrafenamt durch wiederholte Befehle (1701 und 1707 z. B.) diese Rechte beschränkte oder gar ganz aufhob. 40 Die Universität wird immer mehr zur Staatsanstalt und bewahrt nur noch den Schein korporativer Selbständigkeit, mag es scheinen. Umso erstaunlicher mutet es an, daß die Universitäten der Aufklärungszeit, Halle und Göttingen, Z.T. auch Kiel und Erlangen 41 , eine vennehrte und sehr weitrei-
M. Braubach, Die erste Bonner Universität und ihre Professoren, Bonn 1947,22. C. Meiners, Geschichte der ... hohen Schulen unseres Erdtheils, Bd. I, Göningen 1802,381. 39 Was in dieser Form durchaus allgemeinen Gepflogenheiten entspricht und eine ausschließlich auf deutsche Universitäten beschränkte Erscheinung ist. Vgl. die MS.-Diss. von F. Hufen, Über das Verhältnis der deutschen Territorialstaaten zu ihren Universitäten im alten Reich, München 1955, 36 f. 40 Schrader, Geschichte, Bd. 1,83. 37
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chende Jurisdictionsbefugnis erhalten. Die akademische Gerichtsbarkeit war während des 16. und 17. Jahrhunderts immer mehr zu einer bloßen Disziplinaraufsicht abgesunken und bewußt von den Landesherren beschränkt worden. Jetzt aber erhält die Universität sogar die peinliche Gerichtsbarkeit zurück, wird also mit der weitreichendsten Jurisdictionsgewalt ausgestattet. Wie geht das mit der gleichzeitigen stärkeren staatlichen Durchdringung der Universität zusammen? Stein42 hat schon zu Recht darauf hingewiesen, daß zweife\1os der Wille, die NeugTÜndungen für Studierende aller Territorien des Reichs attraktiv zu machen, eine möglichst weitgehende Exemtion von der bürgerlichen Gerichtsbarkeit nahelegte. Die weitherzige, mehr väterlich ermahnende als strafende Praxis der akademischen Gerichte war al1gemein bekannt43 , das oft geringe Strafmaß selbst bei schweren Vergehen schien den studentischen Übermut nicht al1zu sehr an die Kette zu legen, so daß sich also diese Regelung für eine werdende Universität empfahl. Der Schein weitgehender Autonomie, den diese Rechte verliehen, mußte andererseits dem Ehrgefühl und dem öffentlichen Ansehen der Professoren dienen, ihnen als Entschädigung für die tatsächlich verlorengegangenen korporativen Rechte erscheinen. Denn eigentlich waren sie mittlerweile doch vom Staat besoldete und abhängige Beamte geworden.44 Es mag weiterhin hinzukommen, daß die sich ändernden studentischen Sitten, die allmähliche Überwindung des Pennalismus und der barbarischen Depositionsbräuche, die ebenso wie das Duellieren in den Statuten der 41 Die Universitäten Kiel und Erlangen werden im allgemeinen und sehr zu recht zu den Gründungen der Aufklärungszeit gerechnet. Wenn wir hier nicht näher auf beide eingehen, so hat dies vorwiegend äußere, nämlich zeitliche und räumliche Gründe. Da darüberhinaus beide nicht die gleiche exemplarische Bedeutung für diese Zeit haben wie Halle und Göuingen, erscheint dieses Verfahren auch vom Thema her gerechtfertigt, zumal sich in den wesentlichen Punkten kaum ein Unterschied zu den bedeutenden Schwesteranstalten ergibt. - Zur Frage ihrer Jurisdictionsbefugnisse siehe: J. G. V. Engelhardt, Die Universität Erlangen von 1743 -1843, Erlangen 1843,200 ff., und H. Ratjen, Geschichte der Universität zu Kiel, 1870, 10 ff.; K. Jordan, Die Christian-Albrechts-Universität Kiel, 1953,9 f. Dort auch weitere Literatur. 42 F. Stein, Die akademische Gerichtsbarkeit in Deutschland, Leipzig 1891, 188. Treffend auch E. Gundelach, Die Verfassung der Göttinger Universität, Göttingen 1955, 34 ff. Prof. H. H. Hoffmann hat, und das möchte ich hier noch anmerken, in der anschließenden Diskussion dieser Auffassung entschieden widersprochen. Er meinte, es sei dies nichts anderes als die dem Absolutismus immanente Tendenz, die unterlandesherrlichen Rechte (0. Brunner) gegen den Adel zu stärken. Wenn auch diese Interpretation für einige Territorien zutreffen mag, bezeichnenderweise erwähnte H. Würzburg, also Franken, so sehe ich in Göttingen, dem ,,Idassischen" Beispiel, und auch in Halle dafür keinen zutreffenden Grund. Vgl. auch C. Meiners, Über die Verfassung und Verwaltung deutscher Universitäten, Bd. I, 1801, 103 ff. 43 So der (späte) Zeitgenosse J. D. Michaelis, Raisonnement über die protestantischen Universitäten in Deutschland, Bd. 4, Frankfurt a. Main 1768, 10, § 143, bes. 165 ff., was insofern eine Bestätigung der vertretenen Auffassung ist. Im gleichen Sinn auch Meiners, Verfassung, 107 f. 44 Der Herzog von WUrttemberg spricht so z. B. von den Pflichten eines Ordinarius, "vor welche Er eigentlich von uns besoldet wird"; in einem Visitations-Recess vom 24. Juli 1744 bei A. L. Reyscher, Sammlung der württembergischen Gesetze, Bd. 11, 3. Abt., Stuttgart u. a. 1843,378.
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neuen Universitäten verboten und mit scharfen Strafen belegt wurden45 - nicht immer mit dem erhofften Erfolg übrigens -, eine stärkere Eigenverantwortlichkeit der Universitäten und eine zurückhaltendere Einmischung der staatlichen Organe angemessen und möglich erscheinen ließen. Man durfte hoffen, daß das neue Erziehungs- und Bildungsideal des aufgeklärten und gesitteten Hofmannes von den Lehrern auf die Schüler abfärbe, die freieren und liberaleren Lehrmethoden ihre zivilisierenden Wirkungen nicht verfehlten. 46 Die Statuten Halles47 ordnen sich weitgehend dem überlieferten Rahmen solcher Universitätsverfassungen ein. Danach erhält die Universität vier Fakultäten, einen Rektor, den geschäftsführenden, jährlich wechselnden Prorektor, der die eigentliche Aufsicht über die Universität hatte, ein Dekanskollegium, den akademischen Senat - aus den ordentlichen Professoren der Universität bestehend -, einen Quaestor, einen Sekretär, Sprach- und Exerzitienmeister und einen Pedellen, dem Lateinkenntnisse vorgeschrieben waren. Schließlich enthält der allgemeine Teil der Statuten noch die akademischen Gesetze, die die Studierenden zu beachten und zu befolgen hatten. Es führte nun zu weit, wollten wir die z. T. sehr ins Einzelne gehenden Verordnungen und Bestimmungen über Verfahrensweise, Pflichten und Rechte, über Besoldung, Entgelt und Ämterkumulation etc. aufzählen. Der Unterschied zu früheren Universitätsverfassungen liegt mehr im Geist des Dokuments als in seinen Ausführungsbestimmungen. Zu erwähnen ist allenfalls, daß bestimmt wurde, es sei ständig ein Jurist an der Leitung der Universität zu beteiligen, wohl auf Grund der vermehrten Verwaltungstätigkeit der Anstalten. War also der Prorektor nicht selbst juristisch vorgebildet, war ihm automatisch der Professor Primarius der Juristenfakultät als Berater beigeordnet. Eir.e revolutionäre Neuerung ist das nicht, denn in der Praxis ergab sich das woanders gleichermaßen. Schon gravierender ist die Tatsache, daß die Statuten relativ wenig über den geistigen und vor allem geistlichen Zweck der Universität sagen. Bisher jedenfalls war es üblich gewesen, schon in dem allgemeinen Teil des Statutenwerks grundlegende Aussagen über den Geist der Anstalt zu machen. So heißt es z. B. im Helmstedter Statut - und diese Universität war während des 17. Jahrhunderts eine der führenden und wegbereitenden -, die Wissenschaften dienten ,,Dei gloriae et religionis verae explicationi ac defensioni et utilitati ecclesiae".48 Vgl. dazu die unten, unter Anm. 138 angeführte Literatur. Statuten und Universitäts-Rescripte des 18. Jahrhunderts erwarten dies und ermahnen die Professoren dementsprechend immer wieder. Zweifellos verbesserte auch der vermehrte Besuch junger Adliger den allgemeinen Umgangston. (In Halle waren es schon zur Eröffnung 150 Standespersonen!) Vgl. auch C. Meiners, Kurze Darstellung ... der hohen Schulen ... , Göttingen 1808,21. 47 Veröffentlicht bei Dreyhaupt, Beschreibung, 66 ff. und Schrader, Geschichte, Bd. 2, 381 ff. 48 P. Baumgart I E. Pitz, Hrsg., Die Statuten der Universität Helmstedt, Göttingen 1963, 63. 45
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Von diesem Melanchthonschen Geist ist in Halle nichts mehr zu spüren. Der Universität wird sehr allgemein geboten, sich dem evangelischen Glauben zu- und angehörig zu wissen. 49 In den weiteren Bestimmungen wird angeordnet, die Professoren sollten bei untereinander abweichenden Meinungen, auch denen, die die Rechtgläubigkeit betreffen, einen gütigen und friedlichen Ausgleich suchen. Es soll also eine milde evangelische Christlichkeit die Universität beseelen, fern jeden Haders und Eifererturns. Das bleibt auch der leitende Grundsatz in den Statuten der theologischen Fakultät. Da die Geistlichen diejenigen sind, die mit der Hl. Schrift und den göttlichen Dingen umgehen, die sie den Gläubigen möglichst rein vermitteln sollen, wird angeordnet, den Studierenden die dafür nötigen Kenntnisse beizubringen. 5o Und zwar soll das praktisch, zweckmäßig, ohne unnötigen Ballast, ohne unsinnige Polemik, mit Nachdruck auf der Hl. Schrift und den Schriften der Väter geschehen. 51 Es sollen vor allem auch Collegia in antiquitates ecclesiasticas fleißig gelesen werden. Die Übereinstimmung der heutigen Religion mit dem Frühchristenturn werde darin klar zutage treten und die Kenntnis der Häresien und Ketzereien nutzbringend vermittelt werden können. 52 Die historisch-philologische Behandlung der theologischen Fragen und Schriften wird befürwortet und die Grundlegung des theologischen Studiums durch eine rechte Philosophie - d. h. eine nicht schulmäßig-scholastische - geboten. 53 Angestrebt - und auch erreicht - wird ein neues Bibelverständnis und eine praktische, verinnerlichte religiöse Haltung der angehenden Geistlichen. In einem in seiner späteren Wirkung nicht unbedenklichen Paragraphen bestimmten die Statuten, daß an anderen Universitäten in Theologie Promovierte nicht ohne vorherige Prüfung in Halle lehren dürfen. 54 Damit sollte vermieden werden, daß Anhänger orthodoxer und unruheschaffender Lehrmeinungen die friedliebende und verinnerlichte Christlichkeit der Fridericiana störten. Schließlich bleibt noch zu erwähnen, daß die Professoren ermahnt wurden, die wichtigen Vorlesungen regelmäßig und öffentlich zu halten und die spezielleren Liebhabereien und Materien den privaten vorzubehalten. 55 Der Versuchung, sich zusätzlicher Einnahmen zu versichern, sollte damit Einhalt geboten werden, da die öffentlichen Vorlesungen unentgeltlich waren und die Professoren aus diesem Grund gern allgemeine Themen in Privatvorlesungen abhandelten. Daß trotz dieser Bestimmungen 49
Cap. I, § 2, Schrader, Geschichte, 382 f.
so Einleitung der Statuten, Schrader, Geschichte, 398. Die Statuten wurden übrigens von
den jeweiligen Fachvertretern entworfen und lassen daher sehr gut deren Auffassung von Ziel und Zweck ihrer Wissenschaften erkennen. Für das Generalstatut und die juristische Fakultät besorgte das Samuel Stryck, für die Theologen J. J. Breithaupt, für die Medizin F. Hoffmann und für die philosophische Fakultät C. Cellarius. 51 A. a. 0., § III/IV. 52 Ebd., § IV. 53 Ebd., § VI. 54 Ebd., § XII. 55 Ebd., § VI.
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diese Unsitte in Halle, wie auch anderwärts während des 18. Jahrhunderts, nicht unterbunden werden konnte, zeigen die mannigfachen Ermahnungen, die die Landesherren unter Hinweis auf die eingegangene Verpflichtung immer wieder erließen56 • Bei den Vorlesungen sei nun noch darauf zu achten, heißt es in den Statuten weiter, daß der Stoff im Laufe eines Jahres, besser sogar noch in einem halben Jahr abgehandelt werde. 57 Diese Anordnung, die später in Göttingen endgültig zu halbjährigem Turnus und entsprechender Semestereinteilung führte 58 , vermehrte den Ruhm Halles nicht unwesentlich. Damit war mit der Unsitte gebrochen, den Vorlesungsgegenstand über mehrere Jahre auszudehnen, ihn evtl. überhaupt nie zu Ende zu bringen und dadurch die Ausbildung der Studenten ungebührlich zu verlängern. 59 Die Statuten der juristischen Fakultät enthalten noch weit stärker als die der Theologen den Hinweis auf die praktische und zweckmäßige Seite der Wissenschaft. Ein Bezug auf die Ehre Gottes und die Ausbreitung des christlichen Geistes als Aufgabe der Jurisprudenz findet sich überhaupt nicht. Die salus publica ist bestimmend. 60 Die vier Ordinarien und der Extraordinarius haben die juristischen Materien in sinnvoller Reihenfolge vorzutragen, jede Lehrkanzel hat ihr eigenes engeres Fachgebiet, das allerdings nicht alleinige Domäne des jeweiligen Lehrstuhlinhabers zu sein braucht. Diese Bestimmung, kein Professor habe das Alleinvertretungsrecht für ein Fach, gilt für sämtliche Fakultäten in Halle. Die Statuten vertrauen auf vernünftige Absprache unter den Kollegen und lassen daher eine gelinde Konkurrenz zu. Die bisher übliche, rein akademische Erörterung der Rechtsfragen wird abgelehnt, indem die Professoren angewiesen werden, ihr Augenmerk ganz entschieden auf die gerichtliche Praxis zu richten und das zu lehren, was dem angehenden Juristen nützt und was ihm in seiner späteren beruflichen Tätigkeit begegnen wird. 61 Der Lage Halles entsprechend wird dabei vornehmlich auf die Praxis der Reichsgerichte, die Rechtssprechung Chursachsens und die des Geltungsbereichs der lübeckischen Rechtsordnung verwiesen. 62 Auch hier werden die Professoren zu friedlichem Meinungsaustausch ermahnt und an die gewissenhafte Wahrnehmung ihrer Vorlesungsverpflichtungen erinnert. Vorlesungszeiten und -gegenstände sind gemeinsam, unter Vorsitz des Dekans, abzusprechen, Disputationen und Prüfungen, wie auch in allen anderen Fakultäten, fleißig zu halten. Dem 56 Beispielsweise in Leipzig und Wittenberg 1714, 1736 und öfter. Vgl. W. Friedensburg, Hrsg., Urkundenbuch der Universität Wittenberg, Bd. 2, Magdeburg 1927, Nr. 886, 920. In Tübingen 1744, 1770, etc. Vgl. Reyscher, Sammlung. Für Halle siehe neben Schrader, Geschichte, vor allem die Denkschrift J. H. Böhmers, in R. Koser, Friedrich der Große und die preußischen Universitäten, in: FBPrG 17, 1904, 98 ff. 57 Statuten der theologischen. Fakultät, § VI. 58 Meiners, Darstellung, 19. 59 V gl. Meiners, Geschichte, 202. 60 Cap. I, § 1 ff. 61 Cap. I, § 10 f. z. B. 62 Ebd.
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besonderen Charakter der juristischen Fakultät als eines Spruchkollegiums dienen weitere Ausführungen63 , die die Professoren u. a. ermahnen, die Bedeutung und Verantwortung dieser Tätigkeit recht zu bedenken. Denn oft hänge das Schicksal vieler Menschen von dieser Tätigkeit ab und auch das Ansehen, das das Recht im Lande genieße. Daher müsse eine vorurteilsfreie, gerechte und unabhängige Rechtsprechung erstrebt werden. Die einzelnen Bestimmungen, die Gebühren und Rangordnungen betreffend, brauchen hier nicht dargestellt zu werden. Bezeichnend erscheint allenfalls, und das gilt nicht nur in diesem Fall, sondern für alle Fakultäten und Universitäten des 18. Jahrhunderts, daß Rangfragen, Fragen der Hierarchie innerhalb der Universität und auch außerhalb eine unerhörte Bedeutung zukommt. 64 Dementsprechend sind in Statuten, Reskripten und Erlassen immer wieder solche die Etikette, die Rangfolge und die öffentliche Stellung der Professoren betreffenden Verordnungen zu finden. Das Ideal des Gelehrten als Hofmann, der Universität als Vorbereitungstätte für den Dienst im Staat und in der Öffentlichkeit - wobei immer die Anstellung an einem Hof das Leitbild war - hatte zur Folge, daß die dort übliche, dem französischen Vorbild nachgeahmte Abstufung, die höfische Hierarchie auch von den Universitäten übernommen wurde, sozusagen im Kleinen kopiert wurde. Mithin waren Klagen und Beschwerden wegen Ehrverletzung, Zurücksetzung, angemaßter und nicht zustehender Würde häufige Ursache für Streitereien der Professoren untereinander oder der Universität insgesamt mit den städtischen Behörden. Der Zug zum Praktischen und Nützlichen ist auch den Statuten der medizinischen Fakultät eigen. Die Aufgaben der beiden Ordinarien bestimmen sich nach der Einteilung in praktische und mehr theoretische Fächer. Der Practicus und Primarius hat vornehmlich die Anatomie, Chirurgie und Chemie zu vertreten, während der Theoreticus den Vortrag in Physiologie, Pathologie und Hygiene hat, einschließlich der Botanik. 65 Spezielle Lehrbücher oder zu interpretierende Autoritäten werden nicht genannt, wie ja auch in den Statuten der anderen Fakultäten nicht, sondern es wird ganz allgemein erwartet, daß das Nötige, Wissenswerte, einschließlich des Fundaments und der neuesten Erkenntnisse einer Wissenschaft, vorgetragen und gelehrt werden. Einem Mediziner, der graduieren will, ist die sichere Beherrschung der aufgezählten Disziplinen vorgeschrieben, er muß dignissimus sein.66
Cap. III, § 1-11. Hierzu Michaelis, Raisonnement, Bd. 2, § 75, 397 ff., Hufen, Verhältnis, 184. Der Diskussion verdanke ich hier den Hinweis (von Dr. Körner), daß die Hofrangordnung die Professoren wie Majore und den Prorektor wie einen Generalmajor einstufte. Der in Halle und vor allem in Göttingen verliehene Titel eines Geheimen Raths - der vielberufene Göttinger Hofratsdünkel leitet sich hiervon ab - erschien den Professoren insofern erstrebenswert, als er die Einstufung wie ein Oberstleutnant zur Folge hatte. 6S Cap. I, § 1 f. 66 Cap. III, § 1. 63
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Offensichtlich sollte mit der allgemeinen Titelunsitte aufgeräumt werden, wonach jeder Unwürdige bei entsprechender Bezahlung Titel erwerben konnte und dem Ruf der schon erheblich angeschlagenen Wissenschaften weiter schadete. Ähnliche Bestimmungen finden sich auch bei den anderen Fakultäten, so daß also auch diese Tendenz eine allgemeine ist. Ihre Wirkung hat sie nicht ganz verfehlt, insofern nämlich die Universitäten bis zu einem erneuten Rückfall nach der Mitte des 18. Jahrhunderts 67 sich eines steigenden Ansehens erfreuten, ihnen wieder eine allgemeine öffentliche Achtung entgegengebracht wurde. Zu den Obliegenheiten der medizinischen Fakultäten gehörte noch die Überwachung, die Visitation der Apotheke und des Apothekers, der ausdrücklich als Universitätsverwandter bezeichnet wird und der über ausreichende fachliche Kenntnisse verfügen muß. 68 Den Abschluß des Verfassungswerks bilden die Statuten der Philosophischen Fakultät. Die schon bekannten Gesichtspunkte walten auch hier vor, ja sie werden eher noch betont, da die Artistenfakultät weiterhin als Vorstufe für die drei oberen Fakultäten angesehen wird. Faßlich, nützlich und zeitlich begrenzt sollen die Vorlesungen sein, spinosas, rixosas, scandalosas et inutiles quaestiones darf es auf dem Katheder nicht geben. 69 Besonderer Nachdruck wird auf einen friedlichen Geist in der Fakultät gelegt. Es heißt da7o: ,.Lex prima sit concordia Collegarum, quae propter varietatem disciplinarum ad Philosophiam pertinentium in Philosophico Collegio cum primis necessaria est." Fast überraschend erscheint der folgende Passus, der in dieser klaren Form in keiner der anderen Fakultätsstatuten zu finden ist: "Haec omnia ita tradenda juventuti sunt, ut Dei gloria et publica salus ubique respiciantur, .. .'m. Die Stelle kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich der prinzipielle Geist des Verfassungswerks grundlegend gegenüber früher geändert hat. Der Paragraph vor dem gerade angeführten bestätigt dies auch für diese Fakultät der Friedrichs-Universität deutlich. Schon allein die Aufzählung der Fächer zeigt die Akzentverschiebung: ,,Philosophiae in hoc Lyceo docendae ambitu omnes artes et disciplinae intelligantur, quibus ad humanitatem informatur adolescentia, et ad graviora studia praeparatur, ut historia quoque civilis et ecclesiastica (haec tarnen absque fidei dogmatibus et controversiis Theologicis), Geographia, Mathesis, Eloquentia, Poetices, Linguarum et Antiquitatum studia, praeter vulgo ita dictam Philosophiam, comprehendantur.'.72 Mit den Statuten war nun der Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen sich die Universität bewegen sollte, die Ziele und Aufgaben waren genannt, die die Professoren mit Zustimmung des Fürsten erstreben sollten. Sie wurden schon bald als vor67
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V gl. Eulenburg, Frequenz, Zusammenfassung. Cap. V, § I ff. Cap. III, § 2. Cap. I. Cap. III, § 2. Cap. III, § I.
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bildlich, zukunfts weisend und auch mitverantwortlich für den Erfolg der Fridericiana angesehen. So entscheidend der Geist der Statuten auch ist, so bleibt er doch tot, wird er in der praktischen Lehre und Forschung nicht realisiert. Werfen wir daher noch einen Blick auf das Was und wie es gelehrt wurde. Zwei Männer vornehmlich werden immer wieder genannt, soll der Aufstieg Halles zur damals ersten Universität im Reich erklärt werden: Christian Thomasius und A. H. Francke.73 Um mit dem Letztgenannten zu beginnen, so ist ihm und seinen gleichgesinnten Kollegen zu verdanken, daß Halle die erste und in dieser Art auch einzige pietistisch bestimmte Hochschule im Reich wurde. Der Pietismus, über den in diesem Zusammenhang ein kurzes Wort gesagt werden muß, war als Gegenbewegung gegen den erstarrten, formelhaften, blutarmen orthodoxen Glauben entstanden. Er versuchte die nicht gestillte religiöse Sehnsucht der durch den Krieg aufgewühlten Gläubigen zu stillen. 74 In starker Verinnerlichung, im Kultus der Seelengeschmäcklerei eignete ihm lange ein sektiererisches Sonderdasein, das aber nicht darüber hinwegtäuschen kann, daß er auch in der politischen Welt von nicht unerheblichem Einfluß war. Sein rascher Aufstieg fällt in die gleichen Jahre, in denen auch die FTÜhaufklärung an Boden gewann, in die Zeit zwischen 1680 und 172075 , und so verschieden letztlich beide Bewegungen waren, vereinte sie doch die gemeinsame Frontstellung gegen die lutherische Orthodoxie. Die Ächtung der Pietisten seitens der Rechtgläubigen ließ sie, in wohlverstandenem Eigeninteresse natürlich, für größere Toleranz und für Trennung von Kirche und Staat e~ntreten. Diesen Forderungen entsprach durchaus die offizielle Politik der pietistisch fühlenden preußischen Fürsten dieser Zeit76, wenn auch in Preußen niemand daran dachte, so weit zu gehen wie der radikalpietistische Graf von Isenburg-Büdingen, der 1712 die allgemeine Kirchen- und Religionsfreiheit verkündete und als einzige Auflage den eingeladenen Konfessionen die ehrsame und gesetzestreue Aufführung gegenüber der weltlichen Obrigkeit gebot. 77 Ein weiteres Moment vereinte die beiden so verschiedenen Geister Pietismus und Aufklärung. Es ist die starke Ausrichtung auf die Erziehung, auf die Pädagogik. 78 Die alleinige Orientierung des Pietismus an der Bibel setzte bessere Kenntnisse, Verständnis statt Paukerei und Auswendiglernens voraus und eröffnete einer So schon Michaelis, Förster und Meiners. Vgl. Holl, Bedeutung, Philipp, VOIWOrt und den Artikel in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Dort auch weitere Literatur. 75 Vgl. die Studie von H. Stephan, Der Pietismus als Träger des Fortschritts in Kirche, Theologie und allgemeiner Geistesbildung, Tübingen 1908,4. 76 Vgl. K. Deppermann, Der hallesche Pietismus und der preußische Staat unter Friedrich III. (1.), Göuingen 1961, bes. 62 ff.. 77 Nach Stephan, Pietismus, 19. 78 Vgl. Heubaum, Geschichte, 95 u. 104 ff.; Paulsen, Geschichte, 98 f.; Stephan, Pietismus, 12. 73
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historisch-philologischen Interpretation der kirchlichen Entwicklung die Gemüter. Amolds epochemachende Kirchen- und Ketzerhistorie ist hierfür das vorzüglichste Beispiel. 79 Die versittlichende und glaubensinnige Tendenz der Pietisten führte in ihrer Wirkung nach außen zur Besserung des studentischen und auch städtischen Lebens in Halle, förderte die Tugenden einer freudigen Pflichterfüllung und einer sparsamen Lebensführung. Dank des Pietismus bewahrte sich schließlich die theologische Fakultät in Halle neben der dominierenden juristischen ein nicht unwichtiges öffentliches Ansehen. Die Errichtung der Francke'schen Stiftungen erlaubte vielen unbemittelten Studenten das Studium, was allerdings späterhin Halle abträglich war durch den Zustrom zu vieler "armer Schlucker". Gleichfalls negativ sollte es sich auswirken, daß Francke, wie früher die Orthodoxen, ein geistliches Schrekkensregiment errichtete und Stadt wie Universität zu gängeln suchte. Aber diese Auswirkungen machten sich erst etwa 1720 bemerkbar: Die wissenschaftlichen Leistungen des Pietismus waren dagegen dem Aufschwung der Fridericiana äußerst günstig, die Theologen ergänzten die modemen Vorstellungen der Juristen, Mediziner und Artisten vortrefflich. Wir hatten schon darauf hingewiesen, daß die Hinwendung des Pietismus zu den christlichen Grundtexten eine historisch-philologische Arbeitsweise förderte. Die mystisch-allegorische, emphatische Einstellung führte zu psychologisch-historischen Erklärungsversuchen und tendierte zu einem verstärkten Individualismus, mitunter selbst zu Subjektivismus. Die gleichnishafte Bedeutung, die dem vorkonstantinischen Christentum zugesprochen wurde, brachte eine gewaltige Wertsteigerung der Kirchenhistorie als Wissenschaft. 80 Über Sagittarius, Seckendorff, den schon erwähnten G. Amold führt hier eine Linie zu J. J. Walch, Schroeckh und Mosheim, ja noch bei Semler und Herder ist dieser Ursprung spürbar. Dieser allgemeinen wissenschaftlichen Tendenz entsprechend behandelte die Hallesche Theologie vornehmlich die biblischen und exegetischen Wissenschaften, unter Vernachlässigung der dogmatischen und philosophischen Disziplinen der Theologie. Naturgemäß erschien dabei die erbauliche Seite wichtiger als die rein wissenschaftliche. 81 Es wurde mehr auf eine Änderung der Gesamtstimmung der Theologie hingearbeitet als auf eine Veränderung der überkommenen wissenschaftlichen Disziplinen. Die juristische Fakultät, in der Thomasius lehrte und wirkte, war das eigentliche Glanzstück der Fridericiana. 82 Bezeichnend dafür ist ein Satz, den Ludewig von Hierzu E. Seeberg, Gottfried Arnold, jetzt Dannstadt 1964, bes. 327 ff. Grundlegend Seeberg, Arnold. VgI. ferner K. V6lker, Die Kirchengeschichtsschreibung der Aufklärung, Tubingen 1921, 1 ff., und das vorzügliche Kompendium E. CI. Scherer, Geschichte und Kirchengeschichte an den deutschen Universitäten, Freiburg 1927, bes. 213 ff., auch J. Wach, Das Verstehen, Bd. 1, Hildesheim 1966, 19. 81 Francke selbst erstrebte mehr eine Verbesserung der Sitten als der Wissenschaften, wie er öfters sagte. 82 So schon die Zeitgenossen. VgI. auch das Urteil Pütters in seiner Litteratur des Teutschen Staatsrechts, Bd. 1,1776, § 173 ff., ferner Hoffbauer, Geschichte, 144 f. 79
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Stryk überliefert. Danach müssen die Studenten "das Corpus Juris ... für das Hauptessen auf dem Tisch halten, die übrigen Wissenschaften aber blos als TellerGerichte und Einschiebe-Essen".83 Wohlbekannt ist auch der Stoßseufzer des Professor Historiarum Cellarius, dessen Lehrbuch wir Historiker übrigens die endgültige Einteilung in Antike, Mittelalter und Neuzeit verdanken. 84 Im Anblick seiner Halleschen Kollegen stöhnte er: "ius, ius, ius et nihil pIUS".85 Die juristische Fakultät begründete also den Ruhm Halles, und von ihr gingen die entscheidenden Anregungen für die Erneuerung der deutschen Universitäten der Folgezeit aus. 86 Ihr Geist und ihr Beispiel wurde mannigfach nachgeahmt, und zuletzt führt von hier der Weg zu den Überwindern der deutschen Aufklärung, zu Neuhumanismus und Idealismus. 87 Thomasius, so will uns scheinen, ist der Mann, dem dies vornehmlich zu verdanken ist. 88 Die Mitarbeit seiner Fakultätskollegen ist dabei allerdings keineswegs unwichtig. Die Berühmtheit Halles ist die seiner Professoren, eines Thomasius, Stryk, Ludewig und Gundling vornehmlich89 , während die nachmalige Göttingens mehr die ihres überragenden Ministers und Kurators werden sollte. 90 Der Gegensatz, der gemeinhin und auch zu Recht zwischen den beiden Hauptvertretern der Halleschen juristischen Schulen gesehen wird, besteht in seiner Wirkung auf die Umgestaltung der Universität der Aufklärung nicht. 91 Denn auch Stryk, der Erneuerer der römisch-rechtlichen Jurisprudenz in Deutschland, sprach sich für eine historisch orientierte Methode aus, sah ebenfalls auf den praktischen Nutzen, den usus in foro, und erzielte in seinem hervorragenden Schüler, Heineccius, eine Modernisierung und Verjüngung der römisch-rechtlichen Schule. 92 In der Wirkung, es sei wiederholt, ergänzte sich seine Auffassung
Zit. u. a. bei Förster, Übersicht, 50. V gl. dazu E. Bernheim, Lehrbuch der Historischen Methode und der Geschichtsphilosophie, 5./6. Aufl. Leipzig 1908, 77 und P. Lehmann, Vom Mittelalter und der lateinischen Philologie des Mittelalters, München 1914. 85 Zit. n. Paulsen, Geschichte, Bd. I, 546. So auch bei Förster, Übersicht, 48. Die Zuschreibung Ludewigs, Historie, 15 f., wonach Sagiuarius dies gesagt haben soll, ist falsch. 86 So auch Paulsen, Geschichte, Bd. 1,567. 87 Gerade dieses ihr spezifisches Verdienst wird im allgemeinen übersehen. Mehr darüber in meiner angekündigten Arbeit. 88 Selbst der ihm nicht allzu geneigte Ludewig anerkennt, daß Thomasius der überragende Mann der Fridericiana war, in: ders., Historie, 41 f. 89 Pütter, Litteratur, Hoffbauer, Geschichte, 208 f. 90 Vgl. W. Buff, Gerlach Adolph, Freiherr von Münchhausen als Gründer der Universität . Göttingen, Göttingen 1937,34; Michaelis, Raisonnement, Bd. 1,3, § 44. 91 Diesen Gegensatz überschätzen stark u. a. Schrader, Geschichte, Bd. I, 146 f., Paulsen, Geschichte, Bd. 1,546, F. Frensdorff, Halle und Göttingen: Rede zur Feier des Geburtstages Seiner Majestät des Kaisers und Königs am 27. Januar 1894, Göttingen 1894, 8, und selbst Stintzing/Landsberg, Geschichte, Bd. 3, 1. Wahrscheinlich stützen sich alle auf J. G. Estor, der diese Feindschaft zwischen den beiden Hallischen Größen aus höchstpersönlichen Gründen stark übertrieben darstellte und der Nachwelt überlieferte. 92 Grundlegend noch immer Stintzing/Landsberg, Geschichte, Bd. 3, 1,64 ff. 83
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von der Jurisprudenz trefflich mit den von Thomasius herkommenden Anregungen. Es führte nun entschieden zu weit, wollten wir auch nur annähernd die Gedanken des Thomasius wiedergeben. 93 Es kann und muß genügen, sie in ihrem Ansatz und im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Geschichte der deutschen Universitäten im Zeitalter der Aufklärung kurz zu umreißen. 94 Im Vordergrund seiner Tätigkeit steht der Kampf gegen die Universitäten seiner Zeit, ihre Lehren, ihren Lehrbetrieb und demzufolge gegen viele ihrer Professoren. Der protestantischen Orthodoxie, wie er sie in Leipzig höchst unangenehm selbst erfahren hatte und der er die Wittenbergs und z. T. auch die Jenas gleichordnete, lastete er den Niedergang der Universitäten, der Wissenschaften, der Gesittung, Politik und Moral, der Vernunft, des wahren Glaubens etc. an. Die Orthodoxie schien ihm schlimmer als das Papsttum, der finsterste Hort der Unfreiheit und Unterdrückung, da dieses immerhin wisse, was es sei und wolle, während die Orthodoxie wähne, frei davon zu sein, jedoch gleichermaßen "papenze". Intoleranz und geistige Unselbständigkeit herrschten auf den noch immer in mönchischer Tradition verharrenden Universitäten, und statt freier Lehre regierten Pauken, Auswendiglernen und kritikloses Nachbeten von sog. Autoritäten. Es sind die uns schon wohlbekannten Vorwürfe und Anklagen, die allerdings hier den für die Universitätsgeschichte entscheidenden Kristallisationspunkt, ihren führenden "Sprecher" gefunden haben. Diese Motive aufklärerischen Denkens lassen Thomasius folgende positive Änderungen in der Universität erstreben: Er will die Befreiung des Denkens und der Wissenschaft von theologischer Bevormundung - metaphysischen oder scholastischen Autoritätsglauben nennt er das gerne -, eine Verbesserung der Sitten - das Decorum spielt eine große Rolle! -, die Ausrichtung auf das Praktische und Nützliche in den Wissenschaften. Gemäß der gerade von ihm immer wieder aufgestellten Forderung nach einer höfischen Bildung empfiehlt und lehrt er solche Fächer, die dieser Vorstellung entsprechen. Es sind die Disziplinen, deren Pflege auch die Ritterakademien übernommen hatten, allerdings mit recht geringem Erfolg, da sie nur selten den gestellten wissenschaftlichen Anforderungen Genüge leisten konnten. Soweit diese modemen Fächer nicht der Jurisprudenz zuzurechnen sind, behandelten sie folgende Fachgebiete: Heraldik, Genealogie, Chronologie und Geographie als notwendige Ergänzung, als Hilfswissenschaften der Profan- und Kirchengeschichte, als standesgemäße Beschäftigung adliger Jünglinge 95 , Mathematik 93 Vgl. oben Anm. 30. Eine vollständige Bibliographie der Werke des Thomasius und eine umfassende Aufstellung der Sekundärliteratur bei R. Lieberwirth, Christian Thomasius, Weimar 1955. 94 Es wird hier bewußt darauf verzichtet, einzelne Nachweise zu erbringen, da dies demnächst in meinem Buch geschehen soll. 95 Hierzu neben den immer noch guten älteren Darstellungen bei F. X. v. WegeIe, Geschichte der Deutschen Historiographie seit dem Auftreten des Humanismus, München I Leipzig 1885, 542 ff. und Bemheim, Lehrbuch, 279 ff. die vorzüglichen Arbeiten Scherers,
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auch im Hinblick auf Architektur und Festungsbau, Politik und Ökonomie als gleichwichtigen Teil neben der Ethik im Rahmen der Philosophia practica 96 , Logik als Wissenschaft von den Grundlagen rechten Denkens und Schließens, Geschichte der Philosophie als Beitrag und Arsenal menschlicher Irrungen und Wahrheiten, schließlich Affektenlehre als Teil der Politik und neuere Sprachen neben Latein. Reiten, Fechten, Tanzen ergänzen die geistige Ausbildung der hoffahigen Gelehrten aufs trefflichste, und eventuelle akademische Reisen sollen das Blickfeld aufs angenehmste und nützlichste erweitern. Ein Brotstudium, die sture Ausrichtung auf den späteren Beruf unter Verzicht auf jede nicht berufsbezogene Bildung, ist unwürdig und dumm, da sie doch nur Fachdeppen erzieht, die hilflos den theologen auf den Leim kriechen, während der kenntnisreiche Polyhistor ein freies, kritisches und unvoreingenommenes Urteilsvermögen sich bewahrt und dementsprechend ein besserer Bürger ist. Gerade diese Auffassung erscheint für einen aufgeklärten Gelehrten verwunderlich, erinnert sie doch fast an das nachmalige Humboldt'sche Ideal und so gar nicht an die streng berufs- und sachbezogene aufgeklärte Fachschule und Akademie. Daher noch kurz ein Wort hierzu. Thomasius ist natürlich noch weit entfernt von einem idealistischen Erziehungsideal. Seine Polemik richtet sich gegen den engen kritiklosen Gelehrten seiner Zeit, der sich jede theologische Bevormundung gefallen läßt und in Unkenntnis der Welt völlig vergißt. einen ..guten Untertanen" durch .,Ausrichtung seiner Lehre" auf das Notwendige des Lebens. auf das Nützliche zu erziehen. Diese Tendenz des Pragmatischen führt dann in der Folgezeit notwendig auch zur Fachakademie97 • zu den Erscheinungen. die die deutsche Klassik bekämpft. Allerdings. und das sei noch angefügt. war diese Erscheinung in Deutschland niemals so extrem und häufig wie im benachbarten Frankreich, und die deutschen Universitäten erhielten sich auch im Zeitalter der Aufklärung noch einen Gutteil der alten Universitas litterarum. 98 Den Anforderungen des Thomasius waren nun die bestehenden Universitäten nicht gewachsen, sie waren für die Lehre des Modemen kaum gerüstet. Die überwiegende Mehrzahl der ..modemen" Disziplinen wurde auch schon an den alten Universitäten gelehrt, nur eben auch im alten Geist. Der absolute Neuanfang in Halle begünstigte daher ungemein die Thomasischen Absichten, zumal er hier das fortsetzen konnte. was er bereits in Leipzig begonnen hatte. die Grundlagen nämGeschichte, 135 ff. und J. Engels, Die deutschen Universitäten und die Geschichtswissenschaft, in: HZ 189,1959,223 ff., bes. 257 ff. 96 Zur fast vergessenen Rolle der Politik und Policey W. Hennis, Politik und praktische Philosophie, Neuwied 1963 und H. Maier, Staats- und Verwaltungslehre. Vom gleichen Autor: Ältere deutsche Staatslehre und westliche politische Tradition, Tübingen 1966. 97 Die vielen medizinischen Fakultäten, z. B. die in Berlin oder die Hohe earls-Schule, sind dafür bezeichnende Exempel. Ihnen setzte dann Humboldt seine Berliner Universität entgegen. 98 Zur Rolle der Akademien vgl. A. Kraus, Vernunft und Geschichte, Freiburg 1963, 206 ff. Dort auch weitere Literatur.
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Iich des neuen Verständnisses selbst zu legen. Wenn Leibniz die allgemeinen und philosophischen Theorien des Thomasius als "silvestris und archipodialis" bezeichnete, trifft er gewiß die Sache, aber nicht den Kern. Der harmlose Eklektizismus und die recht schwache philosophische Kraft des Thomasius verdienen kaum eine andere Bewertung, wohl aber, und das sahen weder Leibniz noch Pufendorf, die unerhört befreiende und folgenreiche Wirkung dieser Tätigkeit. Denn die vereinfachende, fast versimplifizierende Gabe des Thomasius ließ ihn in der Ausrichtung der Wissenschaften auf das Praktische und Notwendige zum großen Erzieher und Erneuerer der deutschen Universitäten werden, zu einem zweiten Praeceptor Germaniae, wie einmal gesagt wurde. 99 Bedeutsamer und wohl auch origineller waren die Reformen des Thomasius in der Jurisprudenz. Auch hier überwand er die Bevormundung durch die Theologie. Seine vorurteilslose und von gesundem Menschenverstand bestimmte Art, die Dinge zu sehen, ließ ihn gegen Tortur und Hexenprozesse erfolgreich zu Felde ziehen, für humanen Strafvollzug und beschleunigte Rechtsprechung eintreten und die stärkere Trennung von Staat und Kirche fordern. Das Recht gründete er rein säkular auf das Naturrecht, das er entschieden von dem jus divinum trennte. Seit Halle hat diese Disziplin ihren unverrückbaren Platz an den aufgeklärten Universitäten. Eigentümlich war seinem von Grotius, Hobbes und Pufendorf herkommenden Naturrechtsdenken die enge Verbindung zu einer historisch legitimierten Rechtswelt. Ihr verdankt die deutsch-rechtliche Schule entscheidende Anregungen und die römisch-rechtliche eine noch verstärkte empirisch-historische Fragestellung. Die Legitimation des Rechts aus seiner historischen Entwicklung - eine in Deutschland dank des Kaisergedankens nie ganz vergessene, indirekt auf das Mittelalter zurückgehende Tradition - war eine für die Universitäts- und Geistesgeschichte des 18. und frühen 19. Jahrhunderts ungemein folgenreiche und einschneidende Tat. Indem auch das Naturrecht ,,relativiert" wird, verliert es seinen abstrakt-revolutionären, transzendentalen Charakter, seinen ethischen und systematischen Rigorismus und erlaubt auch und gerade im positiven Recht die Vernunft zu erkennen. Das deutsche rechtsstaatliche Denken leitet sich hiervon ab, wie auch das vornehmlich juristische Verständnis der Politik in Deutschland. Als mit Christian Wolff der Anschluß an das rationalistische, metaphysischsystematisch begründete westeuropäische Vernunftrecht gefunden wird, saß die Thomasische Schule schon so fest im Sattel, war sie so beherrschend auf den führenden deutschen Universitäten, insbesondere in Göttingen, daß selbst die gewaltige methodische und systembildende Wirkung der Wolff'schen Philosophie niemals die empirisch-historische Komponente des deutschen Rechtsverständnisses überwinden konnte. Man sieht das schön an den großen Dokumenten zum Recht des deutschen aufgeklärten Absolutismus, am Allgemeinen Preußischen Landrecht, den Kreittmayr'schen Kodifikationen des bairischen Rechts, der Theresianischen Reformgesetzgebung etc., auch an den Vorträgen des Suarez und denen, die 99
Stintzing/Landsberg, Geschichte, Bd. 3, I, 109.
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Josef 11. gehalten worden sind. 1oo Allen ist gemeinsam, daß beide Richtungen der Rechtsauffassung in harmonischer Ergänzung vertreten sind. Die französische Raison 101 als mathematische Vernunft, die in naher Beziehung zum Fortschritt der Naturwissenschaften steht, war, was oft übersehen wird, in enger Abhängigkeit von den dortigen politischen Verhältnissen entstanden, unter Bedingungen, die im Heiligen Römischen Reich nicht gegeben waren; das klassische Land des Absolutismus war eben auch das klassische Land der Raison. Die fortgeführte Aufklärung änderte daran nichts, und ihre im Reich relativ späte politische Verwirklichung unter Friedrich dem Großen und Josef 11. traf auf eine längst gefestigte, aus anderen Quellen gespeiste juristische, historisch-politische Tradition, mit der sie sich zusammenfinden und koordinieren mußte. Bezeichnenderweise kam die Überwindung der Aufklärung in Deutschland auf dem Gebiet der Ästhetik 102 und durch den philologisch orientierten Neuhumanismus, auf Gebieten, die durch den Niedergang der Theologie und den Aufstieg der alles überstrahlenden Jurisprudenz brachlagen. In der teilweisen Übernahme und Weiterführung der juristischen Gedanken, Ansätze und Tendenzen bestätigten sie der auf Thomasius zurückweisenden Jurisprudenz die Lebensfähigkeit, Modernität und geringe Reformbedürftigkeit. Kehren wir aber zurück zu den für die Universität praktischen Folgen dieses Rechtsverständnisses. 103 Neben die Vorlesungen und die Ausbildung im Römischen und Canonischen Recht treten solche über Naturrecht und Völkerrecht, wie wir schon sahen. Wichtiger war aber, daß auch Jus publicum und Jus feudale im Sinne des skizzierten Rechtsverständnisses gelehrt werden mußten. Dieses Reichsstaatsrecht, das die nur subsidiäre Geltung des Römischen Rechts vertrat, belehrte über die im Reich und den Territorien geltenden Gesetze, seien sie fixiert oder dem Herkommen verpflichtet. Das setzte wiederum eine bessere Kenntnis und Erforschung der eigenen Vergangenheit voraus, welchem Umstand die sog. ,,Reichshi100 Vgl. H. Conrad/G. Kleinheyer, Hrsg., Vorträge über Recht und Staat von Carl Gottlieb Svarez, Bonn 1960; H. Conrad, Hrsg., Recht und Verfassung des Reiches in der Zeit Maria Theresias, Köln 1964; ders., Rechtsstaatliche Bestrebungen im Absolutismus Preußens und Österreichs am Ende des 18. Jahrhunderts, Köln 1961. Zuletzt: ders., Das Allgemeine Landrecht von 1794 als Grundgesetz des friderizianischen Staates, Berlin 1965. Conrad neigt jedoch zu einer Überbewertung der "abstrakten" Naturrechtstheorie in diesem Zusammenhang. Für die allgemein mit dem Naturrechtsdenken sich ergebenden Fragen grundlegend E. Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, 3. Aufl. Karlsruhe 1964, bes. 129 ff. 101 Zum folgenden C. Antoni, Der Kampf wider die Vernunft, Stuttgart 1951, 10 f. 102 Vgl. Justi, Winckelmann, Bd. 1,88 und Bd. 3, Kap. 3; T. W. Danzel/G. E. Guhrauer, Gotthold Ephraim Lessing: sein Leben und seine Werke, Berlin 1880, 100 f.; E. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932, bes. 45 f. u. 368 ff.; J. Wach, Verstehen, Bd. I, 23 ff. 103 Zum folgenden Scherer, Geschichte, Engel, Universitäten, bes. 266 Cf:, H. v. Srbik, Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart, Bd. I, Salzburg 1950, 92 ff. und Kraus, Vernunft, 163 ff., die aber alle, bis auf Engel, die Verhältnisse zu äußerlich sehen.
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storie" ihre Entstehung verdankte. Als historische Disziplin streng auf die Rechtsgelahrtheit ausgerichtet, war sie dem Zugriff der "Artisten" entzogen, blieb sie alleinige Domäne der Juristen, der Reichsjuristen. Man glaubte, das Glück des Reiches, die Wohlfahrt der Untertanen des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation hänge von dieser Wissenschaft des Staatsrechts ab, wie der Wert des Jus publieum von der Reichshistorie. Diese moralische Überzeugung, der Glaube an das Gemeinwohl, das durch die neue Art der Jurisprudenz gefördert und gesichert werden soll, wird vielfach übersehen und verkannt, gerade auch als wichtiges Motiv bei Thomasius. 104 Gewiß hat er selbst auf dem Gebiet der Reichshistorie kaum gearbeitet. Er legte die Grundlagen dazu. Die eigentliche Arbeit dagegen leisteten die beiden Antipoden und staatsrechtlich-historischen Leuchten Halles: Joh. Peter von Ludewig und Nicolaus Hieronymus Gundling. Der erste, obwohl Schüler Stryks und mit dem ThomasiusSchüler Gundling in heftiger Fehde lebend, übernahm unstreitig sein Wissenschaftsverständnis von Thomasius. Er war der geschicktere, aber wesentlich unsolidere der beiden Reichsjuristen. Beide, zusammen mit ihren Lehrern, erheben die juristische Fakultät zur ersten, führenden und bestimmenden innerhalb der Universität und bringen ihr den modemen Geist. 105 Jede Standesperson, meinte man, müsse es sich angelegen sein lassen, die dort gelehrten Kenntnisse zu erwerben. Ganz so unrecht hatten sie damit nicht, denn der Besuch auch adliger Herren an Universitäten nahm wieder stark zu. Der Ruhm der neuen juristischen Wissenschaften bestimmte die anderen Universitäten des Reiches - bis zum Ende des 18. Jahrhunderts auch fast sämtliche katholische Universitäten -, entsprechend dem Hallesehen Vorbild die eigene Anstalt zu reformieren. 106 Das ist in Jena nicht anZuletzt Wolf, Rechtsdenker, Kap. Thomasius. Fast einhellig urteilten schon die Zeitgenossen solchermaßen, vorweg Münchhausen, Pütter und selbst J. J. Moser. 106 Hierfür und zum folgenden einige wenige Belege. Jena, das von al1en genannten Universitäten schon während des 17. Jahrhunderts eine Sonderstel1ung einnimmt (vgl. Feyl, Schöff]er, Geistesleben, Steinmetz, Hrsg., Geschichte), erfährt arn frühesten hallische Einflüsse, die ab 1700 ca. ihren Charakter als literärgeschichtlich-staatsrechtIichen festigen. Diese Ausrichtung stand der Aufnahme Wolff'scher Ideen hemmend entgegen und erhielt der Salana bis zum deutschen Idealismus diese Grundhaltung. Das orthodoxe Leipzig übernahm trotz der Vertreibung Thomasius' rasch die "neuen" Lehren. Sie wurden hier sogar arn ehesten "institutionalisiert". 1702 wurde die erste deutsche Professur für deutsches Partikularrecht errichtet, 1711 eine für Naturrecht und eine a.o. Professur für Jus publicum. 1712 eine für deutsches Lehnrecht. (Vgl. C. Gretschel, Die Universität Leipzig, 1830, 120 f.; E. Friedberg, Die Leipziger Juristenfakultät, 1909,78 f.) In Wittenberg vertraten Schüler Thomasius' und Strycks die neue Richtung, ca. ab 1720, ohne daß jedoch hier der allgemeine Niedergang dieser ehemals blühenden Universität aufgehalten werden konnte. - Die katholischen Universitäten des Reichs galten schon den Zeitgenossen als hoffnungslos rückständig. Obwohl neuerdings Engel, Universitäten, diesem Urteil widersprach, herrscht diese Auffassung bis heute zurecht vor. Im Laufe des 18. Jahrhunderts übernahmen die katholischen Anstalten al1erdings einige ,,moderne" Disziplinen und glichen sich bis zum Ende des alten Reiches in dieser Hinsicht den protestantischen Universitäten an. Zumeist nahm übrigens die neue Jurisprudenz ihren Einzug in katholischen Hohen Schulen. Vgl. hierzu al1gemein, mit weiterer Literatur, 104
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3 Hammerstein
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ders als in Leipzig und Wittenberg, in Würzburg, das dank der weitsichtigen Politik seines Fürstbischofs Friedrich Carl von Schönborn schon frühzeitig (1734) die "protestantischen" Errungenschaften übernahm, gleichermaßen Inhalt der Reformen wie in Ingolstadt, Mainz und Trier. Selbst in Wien zeigte man sich in den Theresianischen Studienreformen den neuen Disziplinen aufgeschlossen. Allenthalben werden Historie, Jus publicum, Jus feudale, Politik, Ökonomie, Natur- und Völkerrecht der Aufmerksamkeit der Professoren empfohlen. Es werden neue, entsprechende Lehrstühle eingerichtet, und es wird der unvergleichliche Nutzen dieser Wissenschaften gelobt und bestätigt. Gleichsam als notwendige Ergänzung des modemen Geistes, erlauben auch die katholischen Universitäten eine freizügigere Behandlung aller wissenschaftlichen Fragen, befleißigen sich einer gemäßigten Toleranz in religiösen Fragen, die zumindest das Studium auch Andersgläubiger innerhalb der eigenen Mauem zuläßt. Eine Graduierung wird allerdings meist den Rechtgläubigen vorbehalten. Michaelis, der ja noch als Zeitgenosse urteilt, gesteht der Einführung des Jus publicum in Halle eine nahezu revolutionierende Wirkung ZU. 107 Sie habe durch vorurteilslose und freie Behandlung staatsrechtlicher Fragen Preußens Stellung gegenüber dem Kaiser gestärkt und so mittelbar beim Aufstieg dieses Staates geholfen. Luthers ängstliche Vorstellungen von Politik, Staat; Kaiser und Reich seien durch das Reichsstaatsrecht überwunden worden, und auch das habe Preußen sehr genutzt. Denn während des Siebenjährigen Krieges hätten die Pfarrer, in treuer Abhängigkeit von den Lehren der Juristen, diese neuen Auffassungen überall im Land von den Kanzeln herab verkündet. Neben der Reichshistorie entstand damals noch eine andere halbhistorische Disziplin, die insbesondere in Göttingen zu Ruhm und Ehre kam. Ebenfalls aus der deutschen Naturrechtsschule hervorgehend, ist es die auf Conring und Pufendorf zurückgehende und von Thomasius, Ludewig und Gundling geförderte Staatenkunde. 108 Diese an den ,.Realitäten" sich orientierenden Abhandlungen zur R. Haass, Die geistige Haltung der katholischen Universitäten Deutschlands im 18. Jahrhundert. Freiburg 1952. Zu Würzburg vgl. F. X. v. Wegeie. Geschichte der Universität Würzburg, Bd. I, Würzburg 1882, 415 ff., für Ingolstadt die bei G. Kaufmann, Zwei katholische und zwei protestantische Universitäten vom 16. bis 18. Jahrhundert (Sitzber. Bayer. Akad. d. Wiss., Phil.-hist. Kl., Abhd. 5), München 1920, 17 mitgeteilte Prüfungsordnung Kurfürst Max-Josefs 111.; C. Prantl, Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität Ingolstadt Landshut - München, 1872, bes. 541 ff.; für Mainz neben K. G. Bockenheimer, Die Restauration der Mainzer Hochschule im Jahre 1784, Mainz 1884, bes. 17 ff., die höchst bezeichnende Abhandlung des "Restaurators" A. F. Frhr. v. Benzei, Neue Verfassung der verbesserten hohen Schule zu Mainz, Mainz 1784. Über Trier und die dort reformierte Jurisprudenz unterrichtet E. Zenz, Die Trierer Universität, Trier 1949, vornehmlich in Kap. 2. Die Wiener Reform ausführlich bei R. Kink, Die Rechtslehre an der Wiener Universität, Wien 1853,53 ff. Dazu auch ders., Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien, Bd. I, Wien 1854,423 ff., 463 ff. und 519 f. - Zur Rechtspolitik vgl. die in Anm. 100 genannte Literatur H. Conrads. 107 Michaelis, Raisonnement, Bd. I. 87 f. 108 Treffend Antoni, Kampf, 186 f., dem ich hier folge. Ferner H. Butterfieid, Man on his Past, Cambridge 1955, bes. 60 f.
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"Historie der vornehmsten Staaten und Reiche" ergänzten die Reichshistorie sozusagen in die Gegenwart hinein. Sie war zweifellos stärker als jene von auch außerdeutschen geistigen Bewegungen beeinflußt, vornehmlich von Bodin, Montesquieu und Voltaire. In ihrem Zusammenleben und -wirken jedoch mit der deutsch-rechtlichen Schule erhielt sie eine in Frankreich in dieser Art unbekannte Ausprägung. Die Lehre vom "europäischen System" wurde zu einer der am stärksten nachwirkenden Ideen der sog. Göttinger Schule. Die deutschen Staatsmänner im Zeitalter Napoleons und der Restauration, ein Hardenberg, Montgelas, Metternich z. B. verdanken dieser Art politisch gelehrter Bildung entscheidende Anregungen. Selbst bei Ranke vermeint man noch manche dieser Gedanken zu verspüren. Zum Abschluß dieses Themenkreises bleibt uns noch übrig, auf eine andere ungemein folgenreiche Änderung der Rechtslehre hinzuweisen. Es ist die Seite der Rechtsgelahrtheit, die sich mit dem Jus circa sacra, wie man gerne sagte, beschäftigte. Auch hier ist der Einfluß des Thomasius entscheidend. Die Gedanken Pufendorfs weiterentwickelnd, ordnete er die Kirche dem Staat unter und trennte beide endgültig. Er verwies die "wahre Kirche" in den Bereich des Glaubens, der Innerlichkeit, der spirituellen Gemeinschaft und lehrte, sie als äußerliche rechtliche Institution gleich anderen Vereinen oder Gemeinschaften innerhalb eines Staates zu sehen. 109 Die rechtliche Ausführung dieser Anregungen übernahm auch hier wieder ein anderer Gelehrter Halles, Justus Henning Böhmer. Mit seiner Arbeit war die für das 18. Jahrhundert gültige Stufe der Kirchenrechtsgelahrtheit erreicht. Bedeutsam war das Eintreten der Halleschen Professoren für eine möglichst weitgehende Freiheit der Lehre und Forschung. Nur bei Fragen, die das Allgemeinwohl, die salus publica, betreffen, habe der Fürst ein Weisungsrecht, einen Anspruch auf Gehorsamspflicht. Die Wirkung und Bedeutung Halles, wir wiederholen es erneut, war eine ungeheure. Die Fridericiana wurde die Mutter aller aufgeklärten Universitäten, und d. h. sämtlicher Universitäten des alten Reichs, denn keine wollte zurückstehen. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts hatten ziemlich alle Universitäten ihre Lehr- und Studienpläne diesem Vorbild angenähert und dementsprechend reformiert. Vielfach war zwar Halle nicht mehr das bestimmende Vorbild, sondern die neu entstandene Georgia Augusta. Aber, und auch das sagten wir schon, die Göttinger Universität war ja recht eigentlich die konsequenteste Nachfolgerin der Fridericiana, war ihre wohlgelungenste Tochter, so daß es in gewisser Weise müßig ist, darüber zu richten, ob Halle nun tatsächlich diesen entscheidenden Einfluß gehabt habe, da doch Göttingen die unmittelbarste Wirkung auf die deutschen Universitäten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zuzuschreiben sei. Es ist eben der gleiche Geist, der beide beseelt, und in der jüngeren Tochter hat er naturgemäß seine vollendetere und 109 Eingehend bei W. Bienert, Der Anbruch der christlichen deutschen Neuzeit, dargestel1t an Wissen und Glauben des C. Thomasius, Hal1e 1934, 13 ff.
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damit intensiver wirkende Gestalt erreicht. Hinzu kam, daß Göttingen dank der ungemein glücklichen Vorsorge, die der verantwortliche Minister Gerlach Adolph Freiherr von Münchhausen der jungen Anstalt angedeihen ließ, die für damalige Verhältnisse mit Abstand beste Ausgestaltung, Dotierung und Verfassung erhielt. 110 Dieser äußere Rahmen in Verbindung mit dem geistigen Erbe Halles erlaubte es dieser Universität für sehr lange Zeit an der Spitze der deutschen Universitäten zu stehen, Anziehungs- und Sammelpunkt der vornehmen akademischen Jugend zu sein. Die Geschichte der Georgia Augusta, von der übrigens schon Zeitgenossen meinten, sie solle besser den Namen Gerlaca Adolplw tragen 111, ist gleichermaßen gut bekannt, ja fast noch besser als die der Halleschen Universität. Es muß und kann daher genügen, wenn wir uns auf die Erörterung einiger weniger Punkte beschränken, die vornehmlich dazu dienen sollen, die Fortführung der Halleschen Anregungen, ihre für die aufgeklärte Universität vorbildliche Ausformung zu zeigen. Rein äußerlich kommt die Abhängigkeit der nach intensiver Vorarbeit 1737 eröffneten Universität von Halle darin zum Ausdruck, daß sowohl das kaiserliche Privileg und das des Landesherm wie auch die Statuten bewußt Bezug nehmen auf die Haller Vorlage, ja z.T. wörtlich Passagen von dort übernehmen. 112 Der allgegenwärtige Kurator hatte selbst in Halle studiert und kannte aus eigener Anschauung die Segnungen des dort Erstrebten und Erreichten. Gundling, den engsten Schüler des Thomasius, betrachtete er als einen seiner nächsten Lehrer 113, und so nimmt es nicht wunder, daß er ganz im Geist der staatsrechtlich-historischen Jurisprudenz lebte. Von dort hatte er auch die Überzeugung, daß nur das Nützliche, das Pragmatische zähle und das in allen Wissenschaften. 114 An diesem Grundsatz hielt er unbeirrbar, jedoch keineswegs kleinlich fest und versuchte ihn, durchaus mit Erfolg, an "seiner" Universität zu verwirklichen. Gerade auch den Naturwissenschaften sollte, neben der Jurisprudenz, diese Einstellung von großem und weitreichendem Nutzen sein. Jede Bevormundung durch ,,Autoritäten", jede Bindung und Einschränkung durch Kirche, Staat oder wissenschaftliche Tradition wurde abgelehnt. Es wurde bestimmt, daß die Professoren, Lehr- und Exercitienmeister "zu ewigen Zeiten vollkommene unbeschränkte Freyheit, Befugniss, und Recht haben sollen, öffentlich und besonders zu lehren", wie es im königlichen Privileg heißt. 115 110 Zu Göttingen vgl. die vorzügliche Darstellung bei G. v. Seile, Die Georg-August-Universität zu Göttingen, Göttingen 1937, der ich in vielem verpflichtet bin, ohne sie jeweils, aus den schon genannten Gründen, wieder anzuführen. Ferner die unersetzlichen älteren Arbeiten von E. F. Rössler, Die Gründung der Universität Göttingen, Göttingen 1855 und Buff, Münchhausen. Neuerdings auch Gundelach, Verfassung. 111 Mitgeteilt bei R. Smend, Die Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften, in: Festschrift zur Feier des 200jährigen Bestehens der Akademie, Berlin 1951, VI. 112 Michaelis, Raisonnement, Bd. 2, § 75, 389; Gundelach, Verfassung, 13. m Buff, Münchhausen, 9; Seile, Georg-August-Universität, 18. 114 Buff, Münchhausen, 30/1. 115 Die Privilegien und ältesten Statuten der Universität Göningen liegen in einer vorzüglichen, 1961 von W. Ebel herausgegebenen Edition vor. Siehe dort 29.
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Hiennit war zum erstenmal in dieser endgültigen Fonn die Lehrfreiheit an einer deutschen Universität garantiert 1l6, denn in Halle war trotz ähnlicher Zusicherungen und der Forderungen des Thomasius de facto ein bescheidenes Aufsichtsrecht der Theologen noch wirksam. 1l7 Die Vertreibung Christian Wolffs (1723) hatte dies augenscheinlich bestätigt - nicht zuletzt im Zusammenhang mit ihr dürfte die Lehrfreiheit in Göttingen garantiert worden sein ll8 -, und die unrühmliche, indolente Entwicklung des Halleschen Pietismus bot sich ebenfalls als abschreckendes Beispiel allen Verständigen an. 1l9 Die Georgia Augusta wurde allein auf dem Boden des Staates verankert, fern eines jeden auch noch so verschleierten Primats der Theologie. Sie war weit mehr als Halle ..ein planmäßiges Gründen einer Staatsanstalt" , wie das Rössler nennt. Dem Charakter des damaligen Staates entsprechend wurden Toleranz und konfessioneller Friede erstrebt und verordnet. 120 Auch der schon in Halle nicht unwichtige Gesichtspunkt, daß durch den Besuch auswärtiger und inländischer Studenten Wohlstand und Geld ins Land kommen resp. bleiben würden, veranlaßte die streng merkantilistisch denkenden Landesherren und ihre Berater, einer größtmöglichen religiösen Freizügigkeit das Wort zu reden. 121 Denn nur dann schien das erstrebte Ziel erreichbar. Es fällt in diesem Zusammenhang bei der Planung und dem weiteren Ausbau Göttingens auf, wie sehr finanzielle und materielle Gesichtspunkte die verantwortlichen Männer bestimmten und wie weit auf diesem Gebiet die staatliche Planung ging. Für die Professoren wirkte sich das recht vorteilhaft aus, da ihre Dotation dadurch vergleichsweise ansehnlich war. 122 Wollte Göttingen ,jederzeit berühmte und solche Männer, von deren Geschicklichkeit man versichert sey"I23, bekommen und halten, mußten entsprechende Vergütungen und Vorteile locken. Zusätzlich übernahm man den schon in Halle mit Erfolg geübten Brauch, die Ordinarien zu
116 Engel, Universitäten, 275 f. meint, diese Bestimmung sei vornehmlich aus taktischen Überlegungen erlassen worden und es komme ihr daher nur ein geringer wissenschafts geschichtlicher Wert zu. Die einhellige Meinung der Zeitgenossen sowie die nachmalige Entwicklung der Georgia Augusta bestätigen diese Auffassung jedoch nicht. 117 Die von Gundelach, Verfassung, I vertretene Meinung geht an dem eigentlichen Kern des Problems vorbei, da sie zu formalistisch argumentiert. 118 Vgl. Schrader, Geschichte, Bd. 1,219. 119 Insbesondere die ablehnende Haltung Münchhausens geht sehr schön aus vielen, bei Rössler, Gründung, angeführten Zitaten hervor. 120 Vgl. z. B. das kgl. Rescript von 1733 bei Rössler, Gründung, 50 f. 121 Am anschaulichsten dafür Michaelis, Raisonnement, Bd. I, 1. 122 Sehr bezeichnend die Klage des Kurators der Universität Altdorf (noch 1789!): ..Göttingen ist jetzo die Braut, darum so viele tanzen, und wo die Lehrer nach dem Hunderten bezahlt werden, und wo ein Collegium mehrers einbringt als vielleicht die gantze Einnahme eines Professors zu Altdorf'. Zit. n. K. Leder, Universität Altdorf, Nümberg 1965, 21, Anm.30. 123 Kgl. Privileg vom 7. Dec. 1736; Ebel, Privilegien, 28.
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kgl. Räten zu ernennen, was in dem etikettebewußten Zeitalter seine Wirkung nicht verfehlte. Es genügte der Universität als staatlicher Anstalt, wenn ihre Bürger, wie es in dem General-Statut heißt, "gute MänDer" waren. Sie sollten "durch keinen Makel ihres Lebens in schlechtem Rur' stehen l24; sie sollten ,,keine Ansichten vertreten, die gottlos sind oder dem Staat schaden ...". Zweck der Anstalt war die Lehre "aller der studierenden Jugend anständigen, nützlichen, im gemeinen menschlichen Leben vorkommenden und ihren Gebrauch habenden Disziplinen, Wissenschaften, Künste und Sprachen ... ".125 Der starke staatliche Einfluß während der Gründungszeit, der sich aber auch weiterhin, nur eben verdeckter, erhielt, hinderte aber nicht daran, der Universität gleichzeitig größere Freiheiten zu geben, als das bisher üblich gewesen war. Von der Lehrfreiheit hatten wir schon gesprochen. Außer der sehr allgemeinen Verpflichtung des General-Statuts, die Professoren sollten ,,keinerlei Umgang mit seinen (d.i. des Königs) Feinden zu haben trachten,,126, gab es keine politischen Beschränkungen. Selbst in den delikaten Fragen des Jus publicum war restlose Freiheit zugestanden. Münchhausen rechtfertigte seine Haltung mit dem Hinweis, daß "der König sich selbst mit seinen Angelegenheiten wie ein Privater unter das Gesetz stelle und dem Recht seinen unveränderten Lauf lasse". Und noch als 81jähriger notiert er im Jahre 1770: "Unsern Professoren ist ohne Rückhalt erlaubt, selbst das teutsche Staatsrecht bloß nach ihrer Überzeugung vorzutragen, ohne darauf zu sehen, ob ihre Lehrsätze mit dem Interesse derjenigen Classe von Reichsständen, zu welcher unser Regent gehört, oder mit dem noch spezielleren Interesse unseres Hofes übereinstimmt, oder nicht.,,127 Gewiß, es erschien ihm erwünscht, wenn durch die Schriften seiner Professoren" ... die hiesigen Principia nicht so großen Anstoß leiden ... ,,128, aber dafür eigens eine Censur einzurichten, schien ihm unverantwortlich. Übrigens wurde er auch niemals enttäuscht, da die Mehrzahl der Professoren seinen Patriotismus und seine "Reichstreue" teilten und weit davon entfernt waren, revolutionierende, das Staatswohl gefährdende Ideen zu verkünden. 129 Daß die milde, aber zielstrebige staatliche Obhut keine Beschneidung der traditionellen akademischen Privilegien bedeutete, haben wir ebenfalls schon erwähnt. Ganz im Gegenteil hatte die Universität sehr weitgehende Jurisdictionsgewalt erhalten. Die Professoren, und nicht nur wie in Halle die Ordinarien, bekamen ferner das Privileg der Zensurfreiheit, die Universität aber insgesamt das 124 12S 126
Ebel, Privilegien, 41. Ebd., 28. Ebd., 42, § 2.
127 Zit. nach W. Ebel, Zur Geschichte der Juristenfakultät und des Rechtsstudiums an der Georgia Augusta, Göttingen 1960, 13. 128 Aus einem Brief Münchhausens vom 30. Okt. 1750, Rössler, Gründung, 158. 129 Vgl. Frensdorff, Halle, 26 ff.; Seile, Georg-August-Universität, 108 ff.
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Recht der Zensur aller in Göttingen gedruckten Schriften. Ebenfalls neu war, daß alle Graduierten das ausdrückliche Recht auf Vorlesungstätigkeit erhielten. Münchhausen beabsichtigte damit, die Privatdozenten an der Universität zu halten, um aus ihren Reihen Nachwuchs für den akademischen Lehrbetrieb erhalten zu können. 130 Eine Steigerung des korporativen Rechts der Universität gegenüber Halle bedeutete es, daß die erfolgte Wahl des Prorektors keiner Zustimmung seitens des Landesherren mehr bedurfte. Die Wahl selbst, die Pflichten und Rechte des Prorektors, der Dekane, überhaupt sämtlicher Universitätsangehörigen und -verwandten entsprachen weitgehend den schon in Halle bestehenden Bestimmungen. Hier ist keine wesentliche Neuerung gegenüber der Friderciana festzustellen. Auch nicht in dem, was als wichtiger Lehrgegenstand anzusehen sei. Wir finden in Göttingen die gleichen Disziplinen als die führenden und entscheidenden hervorgehoben wie in Halle. 13I Allenfalls erscheint die jeweilige Begründung ausführlicher und klarer, verständlich auf Grund der größeren Geläufigkeit und vertrauteren Kenntnis dieser Materien, die in der Zwischenzeit erreicht war. Die besondere Sorgfalt, die Münchhausen, im stolzen Gefühl der Bedeutung dieses Besitzes, der Bibliothek widmete, fand in einem eigenen Abschnitt der Generalstatuten ihren detaillierten Niederschlag. 132 Auch erscheint die medizinische Fakultät weit besser und liebevoller bedacht als seinerzeit in Halle. Die immense Bedeutung auch dieses Fachs - das jedoch bis zum Ende des Jahrhunderts das mit Abstand am wenigsten frequentierte blieb 133 • wurde erkannt, wie die der Naturwissenschaften überhaupt. Es entspricht einer damals allgemeinen Entwicklung, diesen Disziplinen angemessene Arbeits- und Forschungsmöglichkeiten zu bieten, botanische Gärten, anatomische Theater, Sternwarten oder gar, wie im Würzburger Juliusspital, Krankenhäuser. Der Glücksfall, in Albrecht v. Haller vorübergehend einen der führenden Männer seiner Zeit für die Georgia Augusta zu gewinnen, hat in Göttingen die Grundlagen für den dortigen Aufschwung der Naturwissenschaften gelegt. Hallers Mahnung: ,,Man soll nicht sehen wollen, was irgendein Schriftsteller geschrieben, sondern was die Natur geschaffen hat ... ,,134 zeigt die nahe Verwandtschaft zu den Prinzipien der übrigen Fakultäten und war gleichzeitig als Programm wegbereitend für alle spätere naturwissenschaftliche Forschung. Haller war es auch, der einem anderen der vielen Lieblingskinder Münchhausens zum entscheidenden Erfolg verhalf. Seit er 1747 die Redaktion der seit 1735 130 Vgl. Michaelis, Raisonnement, Bd. 2, 434 ff.; Gundelach, Verfassung, \l und allgemein zu dem Mangel an Privat-Docenten Hufen. Verhältnis. 182. m Zum Ganzen vgl. auch die klassische Darstellung bei W. Dilthey in: Studien zur Geschichte des deutschen Geistes. Gesammelte Schriften 3. Leipzig IBerlin 1959. bes. 217 ff. 132 § 44 ff.• Ebe\, Privilegien. 62 ff. 133 Keineswegs eine Besonderheit Göttingens. sondern eine allgemeine Erscheinung an den Universitäten des 18. Jahrhunderts. Eulenburg. Frequenz. 134 Zit. nach Ehel, Geschichte, 14. Vgl. auch die Rektoratsrede O. Webers. Albrecht von Haller. Göttingen 1958.
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dahinsiechenden Göttingischen Gelehrten Anzeigen übernahm, erlebte dieses gelehrte Organ einen beachtlichen Aufstieg. Dem aufklärerischen Geist war es selbstverständliche Aufgabe, möglichst breit und tief auf alle Schichten des Volkes einzuwirken. Das geeignete Mittel dazu schienen gelehrte, kritische und allgemeinverständliche Monats-, Wochen- oder Jabresschriften zu sein 135 , die in möglichst unterhaltender Form nützliche Kenntnisse vermitteln sollten. So überschwemmte eine Flut von Publikationen, als ,,Nebenstunden", "Heitere, aber doch ernsthafte Gedanken", "Ohnmaßgebliche Erörterungen", und wie immer sie heißen mochten, das lesefreudige Publikum. Die Universitäten unterstützten diese Tendenz freudig und gaben vielfach in eigener Verantwortung ähnliche Schriften heraus. Nach dem Beispiel der Leipziger ,,Acta eruditorum" versuchte man jetzt deutschgeschriebene "Gelehrte Zeitungen" etc. in Umlauf zu bringen. Die Muttersprache wurde bevorzugt, sollten doch möglichst viele diese Zeitschriften lesen können. Im allgemeinen jedoch kamen diese Publikationen nicht über eine begrenzte örtliche Bedeutung hinaus. Unter ganz wenigen gelang dies den Göttingischen Anzeigen, und sie standen hochgeachtet neben den ebenfalls erfolgreichen Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Akademien, deren Kind in Göttingen sie ja eigentlich auch waren. Überblicken wir das Göttinger Verfassungswerk, erschient kaum ein Unterschied zu dem Halles. Und beide, so können wir sagen, unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht grundlegend von denen früherer Universitäten. Und dennoch besteht ein Unterschied: Halle und vor allem Göttingen sind viel stärker, ja fast ausschließlich staatliche Gründungen. Hinter dem Schein korporativer Selbständigkeit verbirgt sich eine ganz entschiedene staatliche Einflußnahme. 136 Allerdings ist sie fast ausschließlich auf die Verwaltung, die äußerlich-rechtliche Sphäre beschränkt. In den Wissenschaften genießen die Professoren weit mehr Freiheit, als das unter der früheren landeskirchlichen Aufsicht der Fall gewesen war. Gewiß kennt Göttingen nicht das Selbstergänzungsrecht der Fakultäten, und die vielfachen Privilegien sind der Universität nicht als Körperschaft, sondern den einzelnen Professoren als Mitgliedern der Gesamtuniversität verliehen. Es sollte der Stand des akademischen Lehrers und nicht die Hochschule in corpore bevorrechtigt werden! 137 Aber, und das bleibt entscheidend, für die wissenschaftliche Lehre, die geistige Entwicklung der Universitäten war diese Veränderung nicht von großer Bedeutung. Ganz im Gegenteil war die vermehrte wissenschaftliche Freiheit ein größerer Gewinn, als es das in Göttingen endgültig gestrichene Recht auf eigene Vermögensverwaltung oder Landstandschaft bedeutet haben könnte.
m Hierzu allg. M. Aeischmann, Hrsg., Christian Thomasius, Leben und Lebenswerk, Halle 1931, 108 f. Zu den Göttingischen Gelehrten Anzeigen den Beitrag Roethes in der Festschrift der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften 190 1. 136 Vgl. Gundelach, Verfassung, 159 ff. 137 Ebd., 166.
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Fragen wir nun noch nach dem Verhältnis von Professoren und Studenten in dieser Zeit, so macht sich theoretisch auch hier eine Veränderung bemerkbar. 138 Der neue Geist beschleunigte eine Entwicklung, die sich schon längere Zeit angebahnt hatte. Die freiere Behandlung des wissenschaftlichen Stoffes führte zu einem freieren Umgang zwischen Lehrern und Schülern. Pauken und Auswendiglernen verlangten nach dem rutenbewehrten Zuchtmeister, der Vortrag eleganter und höfischer Materien dagegen einen "hoffähigen" Professor, der wie ein Kavalier die eleganten und manierlichen Studenten unterweist. Eine sachbezogene Konversation bildete sich aus, die den Umgangston verbesserte. Thomasius wird hier wieder als vorbildlich gelobt. Andererseits bewirkt die strenge Etikette, der Umstand, daß Professoren und Studenten normalerweise nicht mehr in gemeinsamen Unterkünften lebten, eine verstärkte Distanz, einen betonten Unterschied zwischen Lehrer und Schüler. Die sich besonders würdig gebende Art der Professoren, wollten sie damit doch über ihre verlorene Autonomie hinwegspielen, erlaubte keinen "vertrauten" Umgang mit den Studenten. So sah es im Idealfall, in der Theorie aus. Meistens jedoch blieb das Betragen der Studenten und auch die Aufführung der Professoren weit hinter diesem verkündeten Ideal, hinter dem gepriesenen Umgangston zurück. Die Rauflust der Studenten, die alle erdenklichen Möglichkeiten ersann, um sich ungebührlich aufführen zu können, war nach wie vor ein Schrecken für Universität, Stadt und Land. 139 Aber auch die Professoren waren in ihrem Hang zum Hader, in ihrer wenig verdeckten Geldgier, in ihrem ständig verletzten Ehrgefühl kaum besser geeignet, den neuen Umgangston an den Universitäten und in den Universitätsstädten heimisch zu machen. Immer wieder beklagten sich die städtischen Behörden, daß durch die Exemtion von der bürgerlichen Gerichtsbarkeit viel Unfug von den Universitätsangehörigen getrieben werde. Die Professoren unterstützten die Untugenden der Studenten, um sich des begehrten appiausum 140 zu versichern, aber auch um Profit daraus zu schlagen. Der Ausschank von unverzollten Getränken - möglich dank des Bier- und Weinprivilegs der Universitäten und Professoren - erregte dabei noch den geringsten Unwillen. Kurz, die Verhältnisse hatten sich kaum wesentlich verbessert gegenüber früheren Zeiten, der Inhalt und Anlaß der 138 Zum folgenden allgemein: R. KeillR. Keil, Geschichte des Jenaischen Studentenlebens ... , Leipzig 1858; R. Fick, Auf Deutschlands hohen Schulen, Berlin 1900; F. Schulze! P. Szymank, Das deutsche Studententum von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, 4. Auf!. München 1932. 139 Im 18. Jahrhundert waren insbesondere Jena, Wittenberg und Halle für ihre rohen Sitten bekannt. Aber selbst Leipzig und Göttingen blieben nicht von den studentischen Unsitten frei, wie die immer wiederkehrenden Verordnungen gegen diese Auswüchse zeigen. Zacharias in seinem "Renomist" (1744) weiß diese Verhältnisse recht plastisch darzustellen und die beiden "Urtypen", den Renomisten und den Stutzer, trefflich zu schildern. Aber auch die katholischen Anstalten blieben nicht verschont, zumal die starke Reglementierung, die weitgehende "Verschulung", die Studenten noch geneigter zu Ausschreitungen werden ließ. 140 Zum applausum vgl. Buff, Münchhausen, 47 und das bezeichnende Zitat J. J. Mosers in Seile, Georg-August-Universität, 109. Ferner Justi, Winckelmann, Bd. 1, 109.
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Klagen hatte sich verändert, nicht aber diese selbst 141 • Letztlich entschied der Charakter der Umwelt, in der eine Universität lebte, über ihre Sitten. War diese wie in Leipzig weltmännisch, gesittet und urban, war es auch die Universität. Klassisch hat das kein Geringerer als Goethe im sechsten Buch von "Dichtung und Wahrheit" geschildert. Dort lesen wir: ,,Jede der deutschen Akademien hat eine besondere Gestalt: denn weil in unserem Vaterlande keine allgemeine Bildung durchdringen kann, so beharrt jeder Ort auf seiner Art und Weise und treibt seine charakteristischen Eigenheiten bis aufs letzte; eben dieses gilt von den Akademien. In Jena und Halle war die Rohheit aufs höchste gestiegen, körperliche Stärke, Fechtergewandtheit, die wildeste Selbsthilfe war dort an der Tagesordnung; und ein solcher Zustand kann sich nur durch den gemeinsten Saus und Braus erhalten und fortpflanzen. Das Verhältnis der Studierenden zu den Einwohnern jener Städte, so verschieden es auch sein mochte, kam noch darin überein, daß der wilde Fremdling keine Achtung vor dem Bürger hatte und sich als ein eigenes, zu aller Freiheit und Frechheit privilegiertes Wesen ansah. Dagegen konnte in Leipzig ein Student kaum anders als galant sein, sobald er mit reichen, wohl und genau gesitteten Einwohnern in einigem Bezug stehen wollte." Bestimmt man mit Kant das Wesen der Aufklärung als den "Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit", so können wir abschließend, meine ich, den deutschen Universitäten der Aufklärung trotz aller ihrer Mängel bescheinigen, daß nicht zuletzt sie es waren, die den Weg dazu bahnten.
141 Meiners, Geschichte, 270 ff., glaubt auf Grund der gleichbleibenden Klagen an eine naturgegebene Beständigkeit solcher Verhältnisse.
Der Anteil des 18. Jahrhunderts an der Ausbildung der historischen Schulen
des 19. Jahrhunderts*
Es ist gewiß ehrenvoll und anspornend, das thematisch gleichsam letzte Thema hier zum Vortrag bringen zu können. Aber es ist sicherlich auch wieder recht entmutigend. Könnte doch erwartet werden, dieser Vortrag ziehe eine Art Resurne, biete eine abklärende Zusammenfassung, suche also eine abschließende Würdigung zu geben. Nun, das kann ich nicht, will ich nicht und soll ich gewiß auch nicht, unbeschadet des notwendigen Versuchs, ein wenig allgemeinere, zusammenfassende Urteile formulieren zu müssen. Wiederholungen und Verkürzungen gleichermaßen lassen sich bei einem solchen Versuch kaum vermeiden. Andererseits und auch das muß ich vorwegschicken, auf daß keine falschen Erwartungen mein Vorhaben unangemessen belasten -, ich kann meinerseits nicht allen möglichen und denkbaren Einwirkungen des 18. Jahrhunderts auf das 19., was die Ausbildung historischen Denkens und Forschens anbelangt, nachgehen. Ich kann hier nicht alle sogenannten "historischen Schulen" berücksichtigen. Ich kann nicht alle noch so bedeutenden, interessanten und wichtigen Beiträge - individuelle wie auch solche von Schulen - gleichmäßig und gerecht aufzählen und würdigen. Das sprengte fraglos unseren heutigen Rahmen und überstiege - und dies Argument ist gewichtiger - meine Kraft. Die Vorarbeiten auf diesem Gebiet sind schließlich ja in unserem Zusammenhang nicht allzu zahlreich, unbeschadet der vorzüglichen und allgemein bekannten großen Werke. 1 Auch bedürfen meine eigenen Untersuchungen ebenfalls noch weiterer Vertiefung. Erstveröffentlichung in: K. Hammer / J. Voss, Hrsg., Historische Forschung im 18. Jahrhundert. Organisation - Zielsetzung - Ergebnisse. 12. Deutsch-Französisches Historikerkolloquium des Deutschen Historischen Instituts Paris (Pariser Historische Studien, 13), Ludwig Röhrscheid Verlag, Bonn 1976, 432-450. * Diesen im Rahmen des 12. Deutsch-Französischen Historiker-Kolloquiums des Deutschen Historischen Instituts Paris zu Wolfenbüttel gehaltenen Vortrag belasse ich unverändert und füge nur einige weiterführende Literatur sowie Belege an. Das Thema war mir in dieser Fonn gestellt worden. 1 Genannt seien, da ich ihnen im Folgenden vielfach verpflichtet bin, ohne besondere Unterscheidung: B. Croce, Theorie und Geschichte der Historiographie, Tübingen 1930; F. Meinecke, Die Entstehung des Historismus, zuletzt München 1959; M. Ritter, Die Entwicklung der Geschichtswissenschaft, München 1919; E. Fueter, Geschichte der neueren Historiographie, München 1936; H. v. Srbik, Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart, Bd. I, München 1950; J. Engel, Die deutschen Universitäten und die Geschichtswissenschaft, in: HZ 189, 1959, 223 ff.; G. P. Gooch, Geschichte und Geschichtsschreiber im 19. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1964; H. Butterfieid, Man on his Past, Cam-
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Anteil des 18. Jahrhunderts an historischen Schulen des 19. Jahrhunderts
Ich möchte im Folgenden also versuchen, die Vorleistungen, die Vorarbeiten, die das 18. Jahrhundert für die Geschichtswissenschaft im 19. und damit auch für uns heute erbracht hat, zu beschreiben. Der Beitrag der älteren Gelehrten und Geschichtsschreiber an die jüngeren soll an einzelnen besonders markanten Strängen, Wirkungszusammenhängen bzw. Schulrichtungen aufgezeigt werden. Es soll hieran die Kontinuität zwischen 18. und 19. Jahrhundert entschieden mehr als das unstreitig auch Neue des "historischen Jahrhunderts" betont werden, freilich nicht so, daß ich den Anteil des früheren an dem späteren Jahrhundert numerisch, gleichsam quantitativ zu bestimmen suchte. Das wäre unsinnig. Tendenzen, Kontinuitäten, gelehrte und geistige Traditionszusammenhänge sind aufzuzeigen. Auch hier habe ich sogleich eine klärende Vorbemerkung vorauszuschicken, um eventuellen Mißverständnissen vorzubeugen: es ist sicherlich richtig, zutreffend, ja eine gesicherte Tradition, daß das frühe 19. Jahrhundert gerade auch im Hinblick auf unsere Fragen entscheidend Neues, qualitativ Anderes als das vorausgegangene Jahrhundert bringt. Historische Erfahrungen, wie sie durch die Französische Revolution, die Napoleonischen Kriege und in ihrem Gefolge die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umschichtungen für ganz Europa unausweichbar waren, bedingen logischerweise auch ein verändertes, verfeinertes Verständnis der Welt. Der Aufbruch nationalen, liberalen, demokratischen Denkens - Sturm und Drang, Romantik, idealistische Philosophie, Neuhumanismus, Frühhistorismus, und was dergleichen Begriffe und Bezeichnungen für dies veränderte Verständnis der Welt mehr sind - bringt naturgemäß ein qualitativ neues, erweiterndes Moment ins abendländische Denken, das essentiell die Entwicklung unserer Wissenschaft mitbestimmt und prägt. Diesen Sachverhalt setze ich im folgenden jeweils voraus, er bildet den Hintergrund, vor dem die aufzuzeigenden Kontinuitäten sich recht eigentlich erst angemessen abheben, der damit auch manche unserer Feststellungen zwangsläufig relativiert. Ich möchte nicht jedesmal und in ermüdender Eintönigkeit auf diese veränderte Situation, auf das auch von mir nicht bestrittene, sondern eben vorausgesetzte neue, andere We1.tverständnis hinweisen müssen, ich darf es als generell bekannt und allgemein akzeptiert, als zugrundeliegend voraussetzen. Die Trennung in sogenannte historische Schulen, denen nachzugehen sei, hat ihre eigenen Probleme. Gewiß gibt es bestimmte Richtungen - ich ziehe diesen Ausdruck dem von Schulen vor -, Richtungen also in der Art, wie und was historisches Denken, historische Forschung sei. Aber soweit sie überhaupt ein Moment von Richtigkeit haben, gehören sie ohnehin zu dem, was wir legitimerweise als Geschichtsdenken, als historische Wissenschaft bezeichnen. Soweit sie diesem Postulat nicht genügen, brauchen sie uns bridge 1955; G. G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft, München 1971; A. Hentschkel U. Muhlack, Einführung in die Geschichte der klassischen Philologie, Darmstadt 1972; C. Antoni, Lo Storicismo, Thrin 1957. Ich werde diese Werke nicht jeweils erneut ausweisen und anführen, belasse es im großen und ganzen bei dieser Benennung!
Anteil des 18. Jahrhunderts an historischen Schulen des 19. Jahrhunderts
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auch nicht zu interessieren. Die Richtungen also, die vorgeführt werden sollen, lassen sich ihrerseits an bestimmten Punkten trennen, sie überschneiden sich aber in anderen zwangsläufig wieder miteinander. Dennoch ist diese Trennung nicht willkürlich, nur ein Notbehelf. Sie verweist auf ein der Sache inhärentes wichtiges Moment, das methodische! Und so verstehen wir unsere heutige Fragestellung denn auch als eine methodische. Die der Geschichtswissenschaft, dem Geschichtsverständnis zu Grunde liegenden methodischen Voraussetzungen bestimmen demnach im folgenden das Verständnis der Richtungen oder Schulen oder Stränge, nicht jedoch ihre inhaltliche Ausrichtung, ihre inhaltliche Kongruenz oder Divergenz. Verallgemeinerungen und Auswahl sind dabei nicht zu vermeiden. Nach diesen, wie mir schien unumgänglich notwendigen Vorbemerkungen jetzt zur Sache, zur Frage nach den Richtungen historischer Tätigkeit, denen ich nachgehen möchte. Ich nenne sie Ihnen vorweg, um ihnen dann je einzeln zu folgen: da wäre zunächst die philologisch-kritische und die - im weitesten Sinne - historischhilfswissenschaftliche Richtung. Man kann sie trennen, getrennt zählen, man kann sie aber auch, und methodisch wie historisch mit mehr Recht, als sich ergänzende Einheit betrachten. Die zweite Richtung ist diejenige, die ich mit der Wirkung Voltaires, der Bedeutung seiner Geschichtsschreibung für das 19 Jahrhundert umschreiben möchte. Ein weiterer, dritter Strang ist ferner der, der von der Jurisprudenz des 18. Jahrhunderts in den Historismus des 19. führt. Gleichsam als Unterabteilung wäre hier wieder der Verbindung der ökonomischen Schulen des 18. mit denen des 19. Jahrhunderts zu gedenken. Der Schwerpunkt der nachzuvollziehenden Entwicklung liegt in Deutschland. Freilich ist dies nicht ganz willkürlich. Es entspricht sachlich dem allgemein bekannten Umstand, daß hier in Deutschland vorweg und am nachhaltigsten der neue Historismus sich ausbildete, historische Forschung und neues Geschichtsverständnis Förderung erfuhren und sich ausbreiten konnten. Von bezeichnenden Ausnahmen abgesehen, hat dann das deutsche historische Denken auf Forscher, Wissenschaftler und Geschichtsschreiber der anderen europäischen Länder nachhaltig eingewirkt, sie beeinflußt und unsere (die) Geschichtswissenschaft insgesamt entscheidend mitgeformt? Das rechtfertigt, wie ich meine, diese numerisch bevorzugte Behandlung der deutschen Wissenschaftsgeschichte. Nahezu alle Darstellungen zur Geschichte der Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert stimmen nun darin überein, daß mit Barthold Georg Niebuhr eine neue Stufe, ja gleichsam der entscheidende Anfang der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung erreicht worden sei. Indem er die verbesserte Methode der klassischen 2 Für Frankreich hat das H. Taine bezeugt, der meinte, zwischen 1780 und 1830 sei sein Land zu historischem Denken erwacht in Nachahmung des deutschen Vorbildes; vgl. P. Stadler, Geschichtsschreibung und historisches Denken in Frankreich 1789 bis 1871, Zürich 1958,135. Für England vgl. ButterfieId, Man, und Gooch, Geschichte, passim, sowie A. Momigliano, Lo Storicismo nel Pensiero Contemporaneo, jetzt in: ders., Terzo Contributo alla Storia degli Studi Classici edel Mondo Antico, Rom 1966, hier bes. 273 ff.
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Anteil des 18. Jahrhunderts an historischen Schulen des 19. Jahrhunderts
Philologie der Geschichtswissenschaft fruchtbar gemacht habe, sei ihm dieser Durchbruch, sei dieser sein Neuansatz gelungen, von dem hinfort alle Geschichtsschreibung profitiert habe. Ohne uns sogleich mit diesem ,,Neuerer" auseinanderzusetzen, können wir doch bereits so viel erschließen, daß er dank der Übernahme, der Nutzanwendung einer eigentlich "nichthistorischen" Methode, der philologisch-kritischen, so ein erfolgreicher Historiker gewesen sein muß. Schon rein zeitlich, historisch-chronologisch weist das auf eine wissenschaftliche Methode hin, die im 18. Jahrhundert entwikkelt wurde, die uns hier also zu interessieren hat. . Sie wissen freilich alle, daß eben diese Methode älter ist als das sogenannte Zeitalter der Aufklärung. In ihm erhält sie "nur" die bedeutsame Ausprägung, die für die Geschichtsforschung des 19. Jahrhunderts wichtig geworden ist. Die "Kunstlehre des Verstehens und der Auslegung,,3 ist ureigenstes Kind des europäischen Humanismus, dem die wort-, ja buchstabengetreue Wiederverlebendigung der antiken Überlieferung Ziel und Inhalt ist. Indem auch Luther - maßgeblich unterstützt von Melanchthon - seinen neuen Glauben auf das Schriftprinzip gründet und die aufgebrochenen konfessionellen Auseinandersetzungen der Reformations- und Gegenreformationszeit gerade auch um das angemessene Bibelverständnis geführt werden, unterstützt dieser theologisch-politische Streit die weitere Ausbildung und Verfeinerung dieser Kunstlehre. Im Neustoizismus, in der englisch-niederländischen Philologenschule, in der eleganten Jurisprudenz erhält der humanistisch-philologische Zweig seine rur das 18. Jahrhundert zunächst bestimmende Ausprägung. Die theologische Hermeneutik - die lutherische, aber auch die katholische verbleibt hingegen weitgehend in der ihr seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert vertrauten Form. Und obwohl sie in dieser ihrer orthodoxen Haltung dem aufgeklärten Denken ein Ärgernis sein muß, erhält sich in Deutschland - um das hier in Parenthese anzumerken, ist es in unserem Zusammenhang doch höchst bedeutsam -, erhält sich im Heiligen Römischen Reich die protestantische Kirchlichkeit und eine protestantische Frömmigkeit - hier gerade auch in der Sonderform des Pietismus - als die führende kulturelle Tradition. 4 Der aufgeklärte Geist stößt hier immer wieder an seine Grenze, das hat gerade auch im Hinblick auf die Wissenschaftsgeschichte beachtliche Folgen. Eine davon ist die, daß sich im 18. Jahrhundert die philologische, aber auch die theologische Hermeneutik vom reinen Schriftprinzip immer stärker zu einer allgemeinen historischen Auslegungskunst entwickelt. Das Einzelne, aus dem das Ganze zu verstehen, et vice versa, umfaßt nicht nur mehr die litterae, verba, sondern auch die Realia, die res !actae, die historische Umwelt. 3 So H. G. Gadamer, in seinem gerade auch für unseren Zusammenhang bedeutsamen Buch Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, 162. 4 Außer Antoni, Storicismo, 86 ff., Srbik, Geist, Bd. I, 177, vgl. hierzu auch die anregende und kenntnisreiche Studie H. Holborns, Der deutsche Idealismus in sozialgeschichtlicher Beleuchtung, in: HZ 174, 1952, hier 369 ff.
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Wissenschaftsgeschichtlich bringt hier die Ablösung der Theologie als erster Wissenschaft - und damit die sich eröffnende Möglichkeit, einen (historischen) Abstand zur eigenen Tradition zu erfragen - die Wende. Die Reichsjurisprudenz, die an ihre Stelle tritt, es wird später noch kurz davon zu sprechen sein, forderte die betontere Einbeziehung historischer Methoden, gab der historischen Forschung und Neigung des 18. Jahrhunderts entscheidende Impulse. 5 Die Philologen, wie auch die Theologen, finden also zu einer neuen, verfeinerten Methode, sich mit ihrem Gegenstand wissenschaftlich zu befassen. Rufen wir uns in aller Kürze die entsprechenden Namen und Begriffe in Erinnerung, nennen wir einige wenige Stationen. Bei näherem Zusehen ist vorweg eine Universität zu nennen - in Deutschland haben auch im 18. Jahrhundert Universitäten die geistige Führung inne -, die entschiedenen Anteil an dieser Entwicklung hat. Es ist die jüngste und die renommierteste Anstalt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Göttingen. Neben und nach ihr leisten die älteren Leipzig und dann Halle, die Mutter Göttingens, ihren bemerkenswerten Beitrag. 6 In Göttingen wird die Universität durch ihren allmächtigen Kurator schon von Anfang an auf ein, nennen wir es mit Vorbehalt einmal "historisches" Verständnis der Wissenschaften festgelegt. Der Freiherr von Münchhausen sucht folgerichtig Gelehrte, die diesem seinem Hallenser Ausbildungsideal entsprechen können. Mit Johann Matthias Gesner findet er einen Schulmann, Bibliothekar und Philologen, der in nahezu idealer Weise den in ihn gesetzten Erwartungen entspricht. 7 Der Ausbau der alsbald berühmtesten Universitätsbibliothek Deutschlands und die bahnbrechende Gründung eines philologischen Seminars sind das Werk dieses von den erneuerten Hallisch-Jenenser Wissenschaften geprägten Mannes. Er gründet den Göttinger Stil der philologischen Wissenschaften, in Abkehr von der eher formalen, d. i. auf Grammatik und Worterklärung ruhenden holländischen Philologie, der die sogenannten Realien, ja die Gesamterscheinung des Altertums kennenlernen und erklären will. In einer noch nicht recht verbundenen, die Abkunft vom Polyhistorismus verratenden Weise werden in enzyklopädischer Zuordnung die verschiedenen Seiten altertumswissenschaftlicher Disziplinen vorgetragen, mit dem erklärten Willen zudem, dieser zunächst ja antiquarischen Tätigkeit einen gegenwärtigen, lebendigen Sinn zu verleihen. Der Neuhumanismus zeichnet sich damit in der Feme bereits ab! Entschiedener noch tritt diese Tendenz unter Gesners Nachfolger, unter Christian Gottlob Heyne her5 Butterfieid, Man, bes. Kap. 11, und C. Antoni, Der Kampf wider die Vernunft, Stuttgart 1951, bes. 89 ff. 6 Statt aller weiterer Angaben verweise ich hier auf die einschlägigen Kapitel in meinem Buch Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jahrhundert, Göttingen 1972; dort vielfach weiterführende Literatur. 7 Zu ihm u. a. C. Bursian, Geschichte der c1assischen Philologie in Deutschland, Bd. I, München 1883, 387; G. v. Selle, Die Georg-August-Universität zu Göttingen, Göttingen 1937,62 ff.
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vor. 8 Es mag dahingestellt bleiben, ob er oder sein von ihm sich distanzierender Schüler Friedrich August Wolf das Epitheton ornans "Vater der Altertumswissenschaft" verdient: bedeutsamer ist, daß Heyne ab 1763 in Göttingen das Philologische Seminar und damit auch die Studien auf ihren ersten Höhepunkt bringt. Er setzt der holländischen Philologie rein antiquarischer Beschäftigung noch erfolgreicher als Gesner das zukunftsträchtige Ideal der antiken als der menschlichen Bildung entgegen, er lehrt das Altertum in seiner Gesamtheit in den Blick zu nehmen: außer Grammatik, Metrik, Textkritik, ja noch vor ihnen sind das staatliche Leben, die religiösen und mythologischen Vorstellungen, ist die Kulturgeschichte, die antike Kunst in die Altertumswissenschaften miteinzubeziehen. 9 Heyne ist es, der die Anschauungen seines Freundes Winckelmann der deutschen Gelehrtenwelt nahebringt, der, angeregt durch den gleichfalls ihm befreundeten Herder, den Studierenden der Philologie eine vage Ahnung von antiker Mythologie, von Ästhetik und historischen Bedingungen von Dichtung vermittelt. Durch seine zahllosen Schüler, seinen Ruf und sein Ansehen wirkt er anregend, schulbildend auf viele hohe und niedere Anstalten in Deutschland. Und obwohl sein Stern im Streit mit seinem bedeutendsten Schüler, mit F. A. Wolf, alsbald sinkt, kommt seiner Göttinger Lehrtätigkeit doch eine für den weiteren Fortgang der philologisch-historischen Wissenschaften entscheidende Bedeutung zu. Denn nicht nur Wolf und Johann Heinrich Voß sind seine Schüler - undankbare diese beiden zwar -, sondern unter vielen anderen auch A.H.L. Heeren und Wilhelm von Humboldt. 10 In diese philologisch-altertumswissenschaftlich vorbereitete Landschaft tritt nun der schon durch viele Veröffentlichungen anerkannte hallische Professor der Philologie, Friedrich August Wolf, 1795 mit einer einer Ilias-Edition beigegebenen Publikation hervor, die gleichsam schlaglichtartig Möglichkeiten und Bedeutung der erneuerten Philologie aufzeigt: es sind die "Prolegomena ad Homerum sive de operum Homericorum prisca et genuina forma variisque mutationibus et probabili ratione emendandi". Der Titel läßt eigentlich schon Programm und Inhalt dieser Schrift erkennen, in der die geschilderten, auf eine universalistische Altertumswissenschaft abzielenden Techniken zur Interpretation Homers fruchtbar gemacht werden. ,,Die hohe Bedeutung der ,Prolegomena' für die Geschichte der Philologie beruht", um es mit den Worten Bursians zu sagen, "noch mehr auf der von Wolf angewandten Methode der Forschung als auf den dadurch gewonnenen Resultaten: sie gaben das erste, mustergültige Beispiel einer mit richterlicher Strenge und Schärfe durch Abhörung aller Zeugen geführten Untersuchung über die Geschichte 8 Zu ihm außer den zuvor Genannten auch U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Geschichte der Philologie, Leipzig 1959,45 f. u. insgesamt Hentschkel Muhlack, Geschichte, 60 ff. 9 Treffend auch S. Rytkönen, Barthold Georg Niebuhr als Politiker und Historiker. Zeitgeschehen und Zeitgeist in den geschichtlichen Beurteilungen von B. G. Niebuhr, Helsinki 1968,174f. 10 Auch J. W. v. Goethe wollte seinetwegen als Student nach Göttingen, was sein Vater freilich untersagte!
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eines antiken Geistesprodukts von dem Zeitraume seiner Entstehung an nach den verschiedenen Epochen der Überlieferung."u Die Philologie als kritische Kunstlehre vermag auf der nun erreichten Höhe die historischen Schichten schriftlicher Quellen auseinanderzufalten, sie macht sie unterscheidungsfahig und historisch interpretierbar. Die seit dem Humanismus ständig verfeinerte Technik quellenkritischer Analyse hat - gemäß der ihr immanenten Logik - eine Stufe erreicht, die als Endpunkt gleichsam einen neuen Anfang, die Öffnung zum Historismus bezeichnet. Mit Niebuhr, so hatte ich die vorherrschende Meinung ja zitiert, sei dies dann erreicht. Dessen Methode stützt sich nun exakt auf die philologisch-kritische, mit der er die römische Geschichte in einen neuen, den ihr gemäßen historischen Zusammenhang einzuordnen sucht. Und Niebuhr, der durch J. H. Voß früh schon von F. A. Wolf wußte, fühlte sich dieser philologischen Richtung zeitlebens hoch verpflichtet. Er nannte Wolf rückblickend - es wird oft zitiert - den "Heros und Eponymos für das Geschlecht deutscher Philologen", er weiß sich von dessen Arbeiten, wie auch denen vieler weiterer, nicht zuletzt der Göttinger mitgeprägt. 12 Nun ist noch auf eine weitere Seite dieser ursprünglich humanistischen Textkritik zu verweisen, die, ihr von Anfang an eng verbunden, sich mit ihr verfeinerte und ganz entscheidendes Gewicht für die historische Arbeit hat; es sind die Disziplinen, die wir als Historische Hilfswissenschaften bezeichnen. Die einer gültigen Textgewinnung von Anfang an unumgänglichen Hilfen und Stützen zwangen philologische und juristische Humanisten gleichermaßen wie die nachmals in konfessionellem Kampf verstrickten Theologen, sich hilfswissenschaftlicher Künste zu bedienen. Geographie, Chronologie, Heraldik, Numismatik, Diplomatik, Genealogie gehörten zum Rüstzeug des gelehrten Schreibers. Naturgemäß entwickelten diese Techniken ein gewisses Eigenleben - gerade auch in der Zeit nachlassender konfessioneller Spannungen - und führten zu einer nützlichen, als Selbstzweck mit antiquarischer Liebe betriebenen Forschertätigkeit. 13 Sie hatte im Jahrhundert Descartes' freilich auch den Sinn, die Gewißheit der Aussagen zu erhärten, und nicht zufallig zieht diese Forschung damals vermehrt nichtschriftliche Quellen mit heran, sie folgt dem neuen naturwissenschaftlichen Beweisverfahren. 14 11 Bursian, Geschichte, Bd. I, 526. Die bedeutsame Rolle für die weitere Wissenschaftsentwicklung in Deutschland, die den Altertumswissenschaften insgesamt zukommt, haben Friedrich Schlegel und dann später Nietzsche bewogen, spöttisch davon zu sprechen, es sei die deutsche Liebhaberei, "die Geschichte des Altertums zu erfinden". Zit. bei W. Rehm, Griechentum und Goethezeit, 4. Auf). Bem 1968, 6. 12 Zu Niebuhr zuletzt Rytkönen, Niebuhr; dort die weitere Literatur. Das Zitat zu Wolf ebd., 192, Anm. 3. 13 Es wäre indessen verfehlt, diese Tatigkeit und Voraussetzung historischer Arbeit mit der Geschichtsschreibung als Wissenschaft zu verwechseln, in welchen Irrtum Freunde wie Gegner unserer Disziplin oftmals verfallen! Zur Sache vgl. u. a. auch A. Momigliano, Mabi\lons Italian Disciples, in: ders., Terzo Contributo, Bd. 1, 135 ff.
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Das 18. Jahrhundert setzt diese Tätigkeit weiter fort, verbessert sie mannigfach, wie jeder Benützer der gelehrten Editionen weiß. Gestützt wird dies liebevolle antiquarische Sichversenken allenthalben durch den damals erblühenden Patriotismus, der bei letztlich universalistischer Ausrichtung doch den engeren Umkreis als alleinigen Bezugspunkt kennt. ls Die Mauriner, die Benediktiner überhaupt, aber auch die neu entstehenden Akademien und gelehrt-patriotischen Gesellschaften haben diese Tätigkeit mächtig gefördert, ihnen wissenschaftliche Qualität gesichert. 16 Auch die Juristen und die Mitglieder oberster Gerichtshöfe erfahren damals, wie unverzichtbar diese Fertigkeiten und Kenntnisse ihrer Tätigkeit waren. Analog verläuft übrigens auch die Entwicklung der Theologie. Absolutismus, Aufklärung, innerkirchliche Kritik - bei den Protestanten etwa Sozinianer, Neologen, Pietisten - drängen die Kirchen allesamt in Verteidigungsstellung. Die Theologie hat sich neu zu legitimieren. Philologische Bibelkritik, Rückgriff auf das Frühchristenturn - Kirchenhistorie also -, Exegese vor Dogmatik werden dann im Reich Grundpfeiler der neuen theologischen Auffassung. An den deutschen protestantischen Universitäten bildet sich diese Theologie zum Teil in Analogie zur Jurisprudenz fort: so in GöUingen durch Johann David Michaelis und Johann Ernst Eichhorn l7 oder in Anlehnung an die philologisch-kritische Methode: so Semler in Halle und Ernesti in Leipzig. Sie unterstützen in ihrem Fach höchst nachdrücklich die in der zweiten Jahrhunderthälfte zunehmende Tendenz, sich der abstrakten, abgeklärten Welt mit einer konkreten, innerlich-gefühlsmäßigen Ausrichtung entgegenzusetzen. 18 Sie machen den bedeutenden Anteil theologischer Denker an der Formulierung hermeneutischer und historischer 14 Außer der älteren Literatur zum historischen Pyrrhonismus wie M. Scheele vgl. die vorzügliche Charakteristik bei A. Momigliano, Ancient History and the Antiquarian, jetzt in: ders., Contributo aHa Storia degli Studi Classici, Rom 1955, hier 84 ff. IS Es ist weithin üblich, den universalistischen Anspruch des aufgeklärten Jahrhunderts gerade auch in der Historiographie für die Realität zu nehmen, die eigentlich umgekehrte Verschränkung zu übersehen. So ist dann immer wieder in der Literatur zu lesen, das 18. Jahrhundert sei gemeinhin durch seine universalgeschichtliche Geschichtsschreibung charakterisiert. Die gibt es gewiß auch (siehe auch unten), aber sie ist weder die Regel noch ist sie rein quantitativ in der Überzahl. Das genaue Gegenteil also ist der Fall! 16 Vgl. die einschlägigen Untersuchungen dieses Bandes, die weiteren Vorträge dieser Tagung, in: K. Hammer I J. Voss, Hrsg., Historische Forschung im 18. Jahrhundert. Organisation - Zielsetzung - Ergebnisse (Pariser Historische Studien, 13), Bonn 1976. 17 Der nicht mit seinem Namensvetter und späteren Göttinger juristischen Professor Carl Friedrich zu verwechseln ist! Zu den Göuingern vgl. Seile, Georg-August-Universität; zu Semler und Ernesti E. Hirsch, Geschichte der neueren evangelischen Theologie, Bd. 4, Gütersloh 1960, Kap. 36 ff.; zu letzterem auch NDB, Bd. 4,1959. 18 Sie sind - oftmals vom Pietismus geprägt - gleichsam die deutsche Entsprechung zu der englischen Entwicklung in der 2. Hälfte des 18. Jh. Dort wird über eine neue Ästhetik und Anthropologie die enthusiastische Gefllhlswelt, die Volkspoesie, die Originalität und nicht von Regeln eingeschnürte freie Entfaltung entdeckt, sinnbildlich greifbar im Englischen Garten, der sich Europa zu erobern anschickt. Hierzu insgesamt, wie auch zur schweizerdeutschen ,,Frühromantik" im 18. Jh., vorzüglich die Arbeiten Antonis.
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Probleme verständlich 19, und sie machen deutlich, wieso gerade in Deutschland die Erlebnisse der Revolutionszeit in eine innerlich-gefühlsmäßige wie auch historische Betrachtung werden einmünden können. In ganz anderer Weise bestimmt die Geschichtsschreibung Voltaires die des 19. Jahrhunderts. Sie wird immer wieder und zu recht als einer der Höhepunkte aufgeklärter Historiographie gepriesen. Und da die Arbeiten Voltaires auch gelesen werden, in breiten Kreisen Aufnahme finden, anders als die seiner gelehrten Zeitgenossen, ist seine Ausstrahlungskraft rein äußerlich beträchtlich, ja unvergleichlich. Auf Voltaire trifft gewiß auch am wenigsten das Urteil Rankes über seine Vorläufer im 18. Jahrhundert zu, es habe ihnen an der Kunst der Darstellung, nicht jedoch an Gelehrsamkeit gemangelt. 2o Gerade darin lag ja eine Stärke Voltaires, die ihn die langweilige Biederkeit der Annalistik abzulösen befähigte, ohne daß er in ungelehrte romanhafte Darstellung verfallen wäre. Sein der Vernunft verpflichteter Verstand leitet ihn an, in neuer, kritischer, bislang eigentlich unerhörter Weise die Glaubwürdigkeit der Überlieferung, der Tradition, und damit der historischen Quellen zu überprüfen, sie in ihren Schichten aufzudecken und zu werten. 21 Dieser sein bedeutender und zukunftsweisender Beitrag zur historischen Methode hielt ihn freilich nicht ab, in souveräner Überheblichkeit des "philosophe", die gelehrte Kärrnerarbeit der zeitgenössischen Historiker und Antiquare zu verachten, sie eines philosophischen Geschichtswerks letztlich unwürdig zu erachten. Und philosophisch, das ist der aufgeklärten Vernunft und des aufgeklärten Geschmacks würdig, sollte sie sein. Nur so könne sie auch den Rang einer Wissenschaft erringen, könne ein Höchstmaß an Wahrscheinlichkeit gewinnen, dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisideal dieser französischen Aufklärung sich annähern. Voltaire hat also auf seine Art eine Antwort auf den Pyrrhonismus, der unter seinen Landsleuten weit verbreitet war, gegeben; und seine Form kausaler Verknüpfung, dynamischer Verkettung und universaler, menschheitlicher Geschichtsbetrachtung weist der Geschichtsschreibung einen anzuerkennenden eigenen Wert und einen wissenschaftlichen Platz an. Viele seiner Nachahmer haben davon ihrerseits die Berechtigung der je eigenen Tätigkeit abgeleitet, so u. a. Robertson, Gibbon, Friedrich der Große 22 , Schlosser und andere. Gerade auch die nachmalige sogenannte Kulturgeschichtsschreibung hat sich gerne und zu recht und eigentlich bis zum heutigen Tag auf diesen ihren bedeutsamsten Inaugurator berufen. Gewiß hat diese Schule auch noch andere, weitere Vorväter - die Reichspublicistik, Montesquieu, Hume, Es sei hier allein auf Herder, Schleiennacher, Bauer verwiesen. Vgl. das Zit. bei E. Kessel, Rankes Idee der Universalhistorie, in: HZ 178, 1954, hier 290 ff. 21 Ich verzichte hier auf eine Anführung der umfangreichen Literatur. Außer den Darstellungen der eingangs zitierten Werke vgl. die präzise Analyse bei R. Mandrou in diesem Band, in: Hammer I Voss, Hrsg., Forschung. 22 Ihm war mit seinem ,,Lehrer" die Nutzanwendung in der Politik, die Erkenntnis der politischen Naturgesetze überhaupt, Motor historischer Studien. Er ähnelt hierin am meisten Voltaire. 19
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Möser, um nur einige Namen zu nennen -, aber ihre zunächst glänzendste Verwirklichung hatte sie in Voltaire gefunden. Da wir hier aber die inhaltliche Seite der Geschichtsschreibung nicht verfolgen können, soll es bei diesem Hinweis bleiben, wie auch bei dem, daß jede in gutem Sinne universalhistorisch ausgerichtete Geschichtsschreibung in Voltaires ,.zeitalter Ludwigs XIV." u. a. ein klassisches Vorbild hat. Wirkungsgeschichtlich folgenreicher ist, daß sich der junge Turgot durch Voltaire angeregt und bestätigt sah. 23 In der kausalen Verknüpfung der historischen Daten ist nicht nur ein hohes Maß an wissenschaftlicher Gewißheit zu erreichen, sondern auch eine Art historischer Gesetzmäßigkeit zu erkennen, wie er dann meint. Und die belege nicht nur ein ständiges Fortschreiten der Menschheit, sondern auch die Richtigkeit des physiokratischen Weltbildes. Diesen Gedanken des Fortschritts der Menschheit in der Geschichte - der damit die Aufgabe historischer Darstellung wird - hat wiederum Condorcet in Anknüpfung an und Verehrung für Voltaire und Turgot zum bestimmenden gemacht. Unbeschadet aller durchaus auch von Condorcet für zweckmäßig erachteten historischen Forschung ist der gesetzmäßige Gang der Geschichte sicher konstruierbar, ganz so, wie er es in seinen zehn Epochen vorfuhrt, ist er als gesc::tzmäßiger wahr und gewiß. Es ist bei diesem "positivistischen" Ansatz24 nur folgerichtig, daß dementsprechend auch der weitere Gang der Geschichte, die Zukunft verfügbar, voraussehbar wird. Condorcet, der am Vorabend des neuen Jahrhunderts diesen älteren methodischen Ansatz somit zur klarsten Ausprägung bringt, leitet damit über zu all den Theoretikern - das sind sie zumeist - und Historikern, denen die Geschichte nur noch Modellcharakter für ihre Konstruktionen hat. Die - letztlich vorhistorische - Gewißheit der Historie, und zwar in ihrem Ablauf wie als Forschungsgegenstand gleichermaßen, dient eher praktisch-politischen Bedürfnissen als der Erkenntnis, sie soll sich zudem der Gewißheit hochverehrter naturwissenschaftlicher Ableitungen würdig beigesellen können. Ein gewichtiger, im Grunde älterer Strang beginnt also mit Condorcet, der bis hin zu uns heute reicht. Mit Auguste Comte kommt er zu seinem für die weitere Zeit wichtigsten Begriff. Ohne daß Comte im strengen Sinne Historiker gewesen wäre oder hätte sein wollen und ohne eigentlich unmittelbare Wirkung auf die Geschichtsschreibung zu haben, hat doch seine positivistische Lehre nachhaltige Folgen auch für die Geschichtswissenschaft gezeitigt. Neben Buckle, Henry Adams, Taine, Ottokar Lorenz und Lamprecht - um nur wenige bekannte Namen zu nennen - hat eine bestimmte Form der Soziologie und das, was heute als Sozialwissenschaft sich versteht und zum Teil in Konkurrenz, zum Teil in erstrebter Harmo23 Vorzüglich hier auch die Untersuchung von G. Garga1lo Di Castel Lentini, Storia della Storiografia Moderna: I1 Settecento, Rom 1972, passim. 24 Im Sinne Diltheys; vgl. z. B. Gesammelte Schriften, Bd. 2, 6. Auf!. Leipzig/Berlin 1960, 358. Zur Geschichte dieser französischen Historiographie grundlegend Stadler, Geschichtsschreibung, 41 ff.
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nie mit der Geschichtswissenschaft steht, diese Ahnenreihe in ihrem genealogischen Stammbaum. 25 Alle diese normativen, aufs praktische Handeln und Urteil zielenden Disziplinen tragen, wie auch die prophetischen, plan-orientierten, die Abkunft von dem Positivismus des aufgeklärten 18. Jahrhunderts auf der Stirn. Ungleich ,,historischer" ist da die Wirkung, die von der Jurisprudenz der gleichen Zeit ausgeht, und zwar vornehmlich dem Zweig, den wir heute den öffentlich-rechtlichen nennen. Der staatlichen Sonderform des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation entspricht unmittelbar auch eine solche seines Reichsrechts, der Publieistik mit c! Gewiß verfügt auch England über eine - schließlich noch ältere - historisch-juristische Beweisführung - und das bis heute! -, hat Schweden eine bedeutende naturrechtlich-politische Schule, wenden die italienischen Juristen die prozessualen Formen des Jus publicum an, bildet sich in Frankreich eine verwandte starke Tradition um das Parlament aus, verwandt und verquickt zum Teil mit Männern der ständischen Oppositon?6 Jedoch nur im Reich wird die erneuerte Jurisprudenz insgesamt und so entschieden auf einen historischen Fuß gesetzt. 27 Mit wenigen Worten darf ich auch hier die entscheidenden Errungenschaften ins Gedächtnis zurückrufen: Die Historie ist die vornehmste Hilfsdisziplin des Reichspublicisten, ohne exakte historische Kenntnisse sei das Recht blind, heißt es. Und zwar hat der Publieist die Geschichte oder besser die Geschichten in mehrfacher Hinsicht zu ergründen: in der Form der Reichs-Historie für das Reich insgesamt; als Partikular- oder Territorialstaatsgeschichte für die einzelnen Territorien; als Kirchenhistorie für die Belange des Jus circa sacra und schließlich, da das Reich in einer Staatengemeinschaft steht, als Staatenhistorie, als Geschichte des Nicht-Reichs; in ihr ist von dem europäischen Gleichgewicht, vom Manufaktur- und Kommerzienwesen, von den kolonialen Unternehmungen, von den Sitten, Bräuchen und Rechtsgewohnheiten anderer, fremder Völker die Rede. Nun wird diese Art Historie nicht als Selbstzweck betrieben, und sie lehnt daher auch die ihr sinnlos erscheinende Kaiser- und Kriegsgeschichte ab, also die vorweg auf Darstellung der Fürsten und großen Taten 25 Besonders in Frankreich hat sich diese höchst eigene und ehrwürdige Tradition bis zum heutigen Tag kräftig erhalten. Nicht zuletzt die sog. Schule der ,,Annales" trägt diese Abkunft auf der Stirn; vgl. zuletzt G. G. Iggers, Die ,,Annales" und ihre Kritiker. Probleme moderner französischer Sozialgeschichte, in: HZ 219, 1974,578 ff. - Zu welch schlecht fundierten Urteilen mancher Anhänger (letztlich unkritischer) Modernisierungsldischees im Zusammenhang dieser Probleme gelangt, zeigen die wissenschaftsgeschichtlichen, auf die Geschichte der Historiographie bezogenen Äußerungen Hans-Ulrich Wehlers geradezu beispielhaft. Die gleichen Vorurteile und Wertungen kehren nicht nur gleichsam topisch wieder, sondern bezeugen in dieser ihrer undifferenzierten Allgemeinheit schlicht mangelnde Sorgfalt und Kenntnis; vgl. z. B. in: ders., Hrsg., Deutsche Historiker, Bd. I, Göttingen 1971, 108 ff.; ders., Geschichte als historische Sozialwissenschaft, Frankfurt/Main 1973, 12 f., 21 f., 56 ff., 86 ff. 26 In anderem Zusammenhang zeigt das beispielhaft O. Vossler, Alexis de Tocqueville, Wiesbaden 1973, bes. im Kapitel: Herkunft, Erbe und Erfahrung. 27 Ich darf hierzu insgesamt und erneut auf mein Buch Jus und Historie verweisen. Dort alle Nachweise und Belege sowie weitere Literatur.
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ausgerichtete barocke Historiographie. Sie nämlich bedarf dieser historischen Kenntnisse immer im Hinblick auf ein bestimmtes Problem - ein bestimmtes Erkenntnisinteresse, könnte heute gesagt werden -: es ist das staatsrechtlich-politische. Das führt dazu, daß dieser Geschichtsschreibung bereits ein Zug von klar durchgehaltener Problemstellung, von Kontinuität und Entwicklungsdenken, insbesondere im institutionsgeschichtlichen Bereich zuwächst, die sie moderner und einheitlicher als die gleichzeitige ,,Annalistik" und die Universalgeschichtsschreibung erscheinen läßt. Auch entwickelt sie ein eigenes Pathos, in dem Reich, Recht, teutsche Freiheit ineinander übergehen. Dem Reich wird da eine herausragende Würde zuerkannt, es zeichnet sich bereits der deutsche Nationalstaats- und Rechtsstaatsgedanke des 19. Jahrhunderts ab. Da die historischen Disziplinen - es handelt sich noch nicht um eine Geschichtswissenschaft, die historische Erkenntnisse erstrebt, sondern um Hilfsdisziplinen ihrerseits nichts leisten können ohne einen möglichst hohen Grad an Exaktheit, bedürfen auch sie der Unterstützung. So fOrdern die Juristen gleichsam als Teil ihrer selbst gerade auch die historischen Hilfswissenschaften, wobei mir höchst bemerkenswert erscheint, daß sie eine wissenschaftliche Verselbständigung dieser Disziplinen - äußerlich sichtbar in einer eigenen Lehrkanzel - strikt ablehnen. Ohne Bezug auf das Höhere, Übergeordnete, Ganze - die Geschichte nämlich - drohe die historische Hilfswissenschaft zu veröden, sei sie leer. Der wissenschaftliche Problemzusammenhang ist auch hier wieder den Reichspublicisten primär! Als für alle wissenschaftlichen Disziplinen gleichermaßen wichtige Voraussetzung wird schließlich noch die Litterärgeschichte installiert, das ist die Wissenschaftsgeschichte, die wissenschaftliche Tradition eines Fachs und die durch sie zu vermittelnde Kunst wissenschaftlichen Zitats und Disputs. Aus diesem Postulat entwickelt sich ferner die Darbietung der Fächer in Vorlesung und Darstellung als enzyclopädische, das ist als besondere innerhalb des universal übergreifenden Zusammenhangs. Der Stoff soll in seiner prinzipiellen Konzentration fruchtbar gemacht werden. Auch diese Einrichtung bietet formal dem 19. Jahrhundert vorzügliche Möglichkeiten für den weiteren Ausbau des eigenen Wissenschaftsverständnisses! In Göttingen gelangt nun diese juristische Methode in die für das 18. Jahrhundert klassische Form, und von ihr führen denn auch einige direkte Wege zu historischen Richtungen des 19. Jahrhunderts. Und zwar in dem gleichen Göttingen, das wir bei der Betrachtung der philologisch-kritischen Methode führend gefunden hatten. Die beiden Stränge laufen hier zusammen, ergänzen sich in sinnvoller Weise und bestimmen auf je ihre Art die Ausbildung des frühen Historismus, ganz so, wie es der erste Kurator erhofft hatte. Indem wir auf einige Namen verweisen, zu viel mehr, als sie zu benennen, reicht die Zeit nicht, wird dieser Sachverhalt wohl deutlich28 : so weist eine Linie von 28
Die meisten der Genannten näher in meinem Buch.
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dem ersten bedeutenden Göttinger Publicisten Johann Jakob Schmauß, dem Schüler Halles, zu Johann Stephan Pütter, dem nachmaligen Nestor deutscher Publicistik; über SeIchow, Runde, Martens, Hugo erreicht diese Richtung dann die Völkerrechts-, Privatrechts- wie auch öffentlich-rechtliche Lehre des frühen 19. Jahrhunderts. Von Johann David Köhler über Gatterer, Spittler und Heeren spannt sich sodann ein Bogen, der in Abhängigkeit von und auf Anregung durch die Jurisprudenz historisch-hilfswissenschaftliche, landesgeschichtliche, sozialgeschichtliche und universalgeschichtliche Fragestellungen aufnimmt, sie mit dem mittlerweile verbesserten Rüstzeug historischen Wissens bearbeitet und die Welt als eine sinnvoller Weise so gewordene begreifen lehrt. In analoger Weise wirken die staatenkundlichen Beiträge der Publicisten. Von Schmauß, Gebauer, Köhler, Achenwall und Schlözer führt hier die Linie zur diplomatischen Geschichtsschreibung Rankes gleichermaßen wie auch zu der Wissenschaft, die heute gemeinhin als Statistik bezeichnet wird, die zunächst aber noch viel unmittelbarere historisch-politische Aufgaben wahrnahm, der Publizistik mit z hier! - benachbart, ein Zwischending zwischen Cameralistik und Nationalökonomie.
Allen diesen Männern - und manchen anderen, fur die die Genannten stellvertretend stehen - eignet, um es zu wiederholen, eine entschiedene Ablehnung dessen, was sie als hervorstechenden Teil französischer Aufklärung zu erkennen meinen: das abstrakte, historisch unvermittelte, regelhafte, dürr konstruktive Denken. TImen hingegen liegt bereits viel daran, auf ihrem je eigenen wissenschaftlichen Gebiet sich individualisierender und empirischer Betrachtung anzunähern. Bei allem Willen zur aufklärenden Weltverbesserung, zur Pragmatik übertragen sie dennoch empirisch-historischer Beweisführung die begründende, die wichtigste Funktion. So werden z. B. die europäischen Staaten in ihrem System, aber auch als je individuelle, als Rechtsgemeinschaft, als in Herkommen, Brauchtum, Sprache divergierend und bestimmt anerkannt, ihr jetziger Zustand als gewachsener gesehen. Die Schwelle zum Historismus ist bereits erreicht. Es fehlt die organische Verbindung, und es fehlt die Fähigkeit, aus einem übergeordneten Gesichtspunkt zu einer neuen Einheit zu gelangen. Am deutlichsten ist das ausgeprägt - und gerade auch in seiner Wirkung - bei Justus Möser, der zwar nicht in Göttingen lehrt, der aber fraglos zur reifen Reichspublicistik gehört. Ja selbst bei Herder, der bisher Unbekanntes, Anderes zur Sprache bringt und der gerne in Göttingen gelehrt hätte, sind Übereinstimmungen und Anregungen dieser Publicistik festzustellen. 29 Naturgemäß - und darauf ist schon verwiesen worden - stellen hier die Französische Revolution und die Ereignisse, durch die sie auf das Reich einwirkte, eine 29 Ich hoffe, das gelegentlich näher ausführen zu können. Zu Möser, der meines Erachtens immer wieder mißverstanden wird. verweise ich auf die glänzende Studie bei Antoni. Kampf.
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entscheidende Zäsur dar. Sie lehrten, die Welt neu zu sehen, die bekannten Ergebnisse der Wissenschaft und Forschung anders zu befragen, sie als ungelöst zu erleben. Die technischen Hilfsmittel für diese Arbeit lagen bereit, sie brauchten nur angewandt zu werden, wie erwähnt. Das getan zu haben, diesen Durchbruch erreicht zu haben, ist das Verdienst Niebuhrs. Die kritische Methode der Philologie und der historischen Hilfswissenschaften, Fragestellungen der Publicistik wendet er in neuer Auffassung von Geschichte auf die römische Frühzeit an und gelangt hier zu einer bislang nicht erreichten konsistenten Darstellung. Die neue Auffassung - so ist vielfach gezeigt worden3o - wächst ihm aus den politischen Ereignissen seiner Umwelt zu; und dementsprechend durchläuft sie auch mehrere Stadien, sie ennöglicht eine vertiefte, qualitativ bessere Interpretation der Historie. Damit wirkt Niebuhr bahnbrechend, freilich auch deswegen, weil viele seiner Zeitgenossen die nämliche Erfahrung gemacht haben, analoge Vorstellungen zu entwickeln im Begriffe waren. Die Zeit war reif und fruchtbar für den neuen historischen Gedanken! Und so wirkt Niebuhr ja nicht nur auf die Geschichtsschreibung, sondern auf nahezu alle geisteswissenschaftlichen Disziplinen, wie er ja auch Erbe der verschiedenartigsten, ihm vorarbeitenden Fächer war. Nicht zuletzt die Altertumswissenschaft erfährt eine verstärkte historische Ausrichtung. Der Schüler Wolfs, August Boeckh, nachweislich stark von der Publicistik des 18. Jahrhunderts beeinflußei, legt hier in Bewunderung Niebuhrs entscheidende Grundlagen. So regt er die großen Editionen antiker Quellen an, nach dem geschätzten Vorbild der Unternehmen des 18. Jahrhunderts, er legitimiert in seiner Enzyclopädie die Altertumswissenschaft neu - eben historisch, Droysens Historik folgt später diesem Vorbild! -, und er eröffnet mit seiner "Staatshaushaltung der Athener" gemeinsam mit Karl Otfried Müller eine Richtung historischer Altertumsforschung, die tief ins 19. Jahrhundert hinein gleichsam paradigmatisch an der antiken Geschichte nicht nur historischphilologische Methode vorführen, sondern auch politische Belehrung und Unterstützung suchen will. Gerade auf England wirken diese Männer stark und evozieren die Arbeiten Connop Thirlwall 's, George Grote's, Sir George Lewis', die nun ihrerseits wieder auf die deutsche Historiographie und Philologie zurückwirken, auf Kortüm, Curtius, Holm, Beloch, Eduard Meyer, Pöhlmann, Wilamowitz-Moellendorff. 32 Auch der jüngere Droysen, Dahlmann und Theodor Mommsen gehören in die Reihe derjenigen, die hier zu nennen sind, unbeschadet weiterer, anderer Wurzeln ihrer Tätigkeit. 33 Sie alle verdanken dem Werk Niebuhrs, dessen Fortführung der wissenschaftlichen Tätigkeit des 18. Jahrhunderts, namhafte Impulse. Zuletzt zusammenfassend Rytkönen, Niebuhr. So m.E. zu Recht Momigliano, Contributo, 101 f.; anders hingegen Hentschke/Muhlack, Geschichte. 32 A. Momigliano, George Grote and the Study of Greek History, jetzt in: ders., Contributo, 213 ff., hier 223 ff. 33 Grundlegend hier auch A. HeuS, Theodor Mommsen und das 19. Jahrhundert, Stuttgart 1956. 30 31
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In gleicher Weise ist das ja bekannt von Ranke, der seinerseits Generationen lang schul- und stilbildend werden sollte und der die Niebuhr'sche Methode der Quellenkritik "nur" für die neuere Geschichte fruchtbar gemacht habe. Daß er auch einem weiteren Erbe des 18. Jahrhunderts, der Staatenhistorie, verpflichtet ist worin in England ihm u. a. Seeley folgt 34 -, wurde schon erwähnt. Angemerkt sollte hier sodann noch werden, daß ja auch die erblühende deutsche Philologie von der älteren Schwester Entscheidendes lernt, im Methodischen von der kritischen Philologie, in der Fragestellung mitbeeinflußt von der Publicistik?5 Gewiß, ich kann es nur wiederholen, Rerders Volksgeistlehre, die deutschromantische Bewegung, der neue Nationalismus sind für alle diese Erscheinungen von überragender Bedeutung. Aber sie ruhen eben vielfach auch auf älteren Errungenschaften auf. Evident ist das wieder an der - ich nenne es einmal so - antiquarischen Erneuerung der Geschichtsforschung. Sie hat jetzt' neben der romantischen Liebe zur Versenkung in Vergangenes und der Befreiung von den bella diplomatica 36 einen härteren, fast aufgeklärt zu nennenden Kern: politische Bildung, nationales Selbstbewußtsein zu entwickeln, sind ihr aufgetragen. So verstehen das der Freiherr vom Stein - ein Bewunderer auch Niebuhrs -, Johann Friedrich Böhmer37 , ferner alle Mitbegründer der Monumenta Germaniae Ristorica38 , die Ranke-Schüler. Die Monumenta, ja alle die analogen Quelleneditionen bis hin zu Mommsens Corpus Inscriptionum Latinarum sollen das fortführen so heißt es fast regelmäßig -, was die Mauriner, was Muratori, Bouquet und andere Gelehrte des 18. Jahrhunderts begonnen haben. 39 Verständlicherweise noch unmittelbarer leuchtet das ein bei der aus gleichem Geist zur nämlichen Zeit installierten ,,Ecole des Chartes", die nahezu direkt an die älteren Unternehmungen anknüpfen kann. 4o Wie es denn überhaupt bemerkenswert ist, daß in Frankreich die ältere antiquarische Richtung bis zur Jahrhundertmitte in hoher Blüte bleibt, wohingegen Deutschland bei aller vergleichbaren Gelehrsamkeit doch ein zwiespältigeres VerDazu, außer Gooch, Geschichte, auch Antoni, Kampf, 150 f. Ich verweise hier statt aller anderen allein auf Jacob Grimm, der nicht von ungefähr durch Savigny zur Geschichte und Philologie kommt. Sein Rückgriff auf die ,,Frühzeit", die Anfänge, seine Wertschätzung und Pflege von Sitte und Brauch, die Bedeutung der Wortgeschichte und die Beachtung auch der Institutionen als aussagekräftig flir die Philologie zeigen das deutlich! 36 Außer Engel, Universitäten, vgl. auch H. Breslau, Handbuch der Urkundenlehre, Berlin 1958,36 f. 37 Vgl. Z. B. das Vorwort zu seinen Regesta Chronologico-Diplomatica Carolorum von 1833 sowie E. Kleinstück, J. F. Böhmer, Frankfurt/Main 1959, bes. 189 ff. 38 Vgl. hierzu u. a. G. Winter, Zur Vorgeschichte der Monumenta Germaniae Historica in: Neues Archiv 47,1928,1 ff. 39 Vgl. auch Heuß, Mommsen, passim u. Gooch, Geschichte. 40 Statt aller Gooch, Geschichte, 226 ff., und Stadler, Geschichtsschreibung, 81 ff. Hier gehört auch die Schule der Männer des österreichischen Stiftes St. Florian hin. Auch sie fuhren ja eine ältere Tradition bewußt fort, suchen die vorrevolutionären historischen Leistungen zu retten; hierzu u. a. Srbik, Geist, Bd. 1,229 ff. 34
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hältnis zu dieser Geschichtsforschung hat, hier das Problem der Verbindung von Darstellung und ,.Forschung" es ist, das immer wieder fasziniert und dementsprechend diskutiert wird. 41
In gleicher Weise evident ist es ferner bei der sogenannten historischen Rechtsschule, daß sie höchst unmittelbar dem 18. Jahrhundert, vorweg der Publicistik, verpflichtet ist. Ich hatte ja schon darauf hingewiesen, daß von den Göttingern Pütter und Gustav Hugo eine direkte Verbindung zu Car1 Friedrich Eichhorn und Savigny führte. Savigny - unstreitig der bedeutendste schulbildende Jurist in diesem Zusammenhang - ist sich dieser Abhängigkeit durchaus bewußt, die ja selbst in dem ausbrechenden Streit zwischen Romanisten und Germanisten ihre Vorläufer im 18. Jahrhundert hat. Im Grunde ist Savigny's Wissenschaftsverständnis ein ungemein verfeinert literärgeschichtliches, dem der historische Nachvollzug der schriftlichen Rechtstraditionen und Rechtswirkungsgeschichte entscheidendes Prinzip ist. 42 Daß Savigny wie auch Eichhorn mit ihrer der Reichspublicistik verpflichteten Rechtsauffassung - der übrigens die Universitätsausbildung der Juristen angepaßt wird - auf lange hinaus die Jurisprudenz bestimmt haben, ist bekannt. Ich brauche hierfür keine Namen anzuführen. 43 Wie der Rechtsstaatsgedanke, wie die Trennung von Recht und Moral Erbstück des 18. Jahrhunderts sind, so ist es in vieler Hinsicht auch die deutsche Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts. Analog hierzu ist es wieder, daß auch die Verwaltungslehre, verschiedene nationalökonomische Schulen ihre benennbaren Vorläufer haben. Sieht man einmal davon ab, daß ja auch Adam Smith dem 18. Jahrhundert angehört - und seine Nachfolger im 19. Jahrhundert zahlreich sind -, so lassen sich von Justi und Sonnenfels zu Karl Stüve, Friedrich Nebenius, von Friedrich Carl von Moser, von den Göttingern zu Adam Müller und Friedrich List, von den Physiokraten zu Thaer, von Thünen und Karl Marx leicht Verbindungslinien ziehen und die historisch-nationalökonomische Schule eines Roscher und Schmoller wiederum der Publicistik der Göttinger Schule und der späteren rechtshistorischen Bewegung zuordnen. Analog ließen sich über Malthus zu Ricardo und Marx oder über Bentham, James Mill zu John Stuart Mill und Grote sowie Macaulay Zugehörigkeiten und Abhängigkeiten aufzeigen. Also auch hier leider nicht näher zu präzisierende Vorleistungen des aufgeklärten Zeitalters an das historische.44 Dieser Sachverhalt träte gleichermaßen deutlich hervor, wenn wir die Zeit hätten, von den Historikern des 19. Jahrhunderts zu den Vorläufern im 18. zurückzugehen, den umgekehrten Weg also zu beschreiben, wenn wir ferner hier nicht geTreffend Momigliano, Contributo, 102. Grundlegend F. Wieacker, Gründer und Bewahrer, Göttingen 1959, 107 ff. und ders., Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1967, 348 ff. 43 In dieser Anmerkung sei wenigstens auf G. F. Puchta. Jacob Grimm, G. Bender und die Schule der ,,reinen Rechtsgeschichte" in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts hingewiesen. 44 Vgl. u. a. W. Roscher, Geschichte der Nationa1-0ekonomik in Deutschland, München 1874; G. De Ruggiero, Geschichte des Liberalismus in Europa, München 1930. 41
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nannte, vernachlässigte, vielleicht auch übersehene Autoren ebenfalls befragen könnten. Es wäre da auf die zu Beginn des Jahrhunderts hoch angesehenen Friedrich von Raumer, auf Luden zu verweisen, die sich Johannes von Müller zugetan wissen, der seinerseits auch auf die Göttinger Publicistik zurückgeht, neben den Momenten, die er von Herder und der französischen Spätaufklärung übernimmt. Es wäre auf die nicht dauerhafte, aber für das frühe Jahrhundert wichtige Richtung aufmerksam zu machen, die von Gervinus über Rotteck und Schlosser zu Kant wie auch Hume und Voltaire führt, Namen und Momente historischen Denkens, denen hier nur ungenügend nachgegangen werden konnte. Im Zusammenhang mit dieser "aufklärerischen" Richtung - der z. B. auch Dahlmann zugerechnet werden könnte - wäre sodann eine vorwiegend außerhalb Deutschlands bedeutsame namhaft zu machen, die gleichfalls wichtige Vorläufer im 18. Jahrhundert hat: ich meine die betont säkularisiert sein wollende, weltlich-polemische, im 19. Jahrhundert in den Liberalismus mündende Geschichtsauffassung. Gibbon, der Schüler Montesquieus und mehr noch Voltaires, hat da weitreichende Wirkung: Benjamin Constant, Guizot, Malfatti, Milman, Lecky und Lord Acton - der Schüler der Deutschen - sind von dieser Geschichtsschreibung beeinflußt. Alle diese Autoren suchen - mehr oder weniger überzeugend und explizit - die Geschichte Europas als die Geschichte der europäischen Zivilisation zu schreiben. Politik und Religion werden zwar jeweils eingeschlossen, stehen aber in einem betonten Abhängigkeitsverhältnis zu der vorwiegend aufklärerisch-menschheitlichen Fragestellung. Es wäre ferner nach Maffei, Tiraboschi und natürlich nach Vico zu fragen, auch nach Winckelmann und Herder. Es wären schließlich die durchaus vorhandenen und namhaft zu machenden Wurzeln des deutschen Idealismus aufzuzeigen, es wären da Abhängigkeiten, die die Kontinuität stärker als das Neue zu betonen hätten, hier zu nennen. Freilich - und das meinte ich bereits eingangs -, das überstiege meine heutigen Möglichkeiten. Und es bestätigte auf seine Art das, was ich, wie ich zumindest hoffe, an den vorgestellten Richtungen zu verdeutlichen hatte: daß nämlich die nachfolgenden Generationen auf den Vorarbeiten der vorhergehenden aufruhen, daß selbst das oftmals "unhistorisch" gescholtene Zeitalter dem ,,historisch" genannten entscheidend zugearbeitet hat, daß der Mensch und seine Welt "geschichtliche", historisch gewordene sind und dementsprechend allein historisch zu verstehen sind.
Reichspublicistik und humanistische Tradition "Seine kgl. Maj. in Preußen, Unser Allergnädigster König und Herr hat bey Stiftung dieser Universität uns Professoribus der Höheren Facultäten ... samt und sonders erinnern lassen, daß wir die jungen Leute zuvorderst zu denen studiis humanioribus et elegantioribus antreiben sollten. Und diese weiseste Vorsorge ist nebst andem vorsichtigen Verordnungen eine von denen fürnehmsten Ursachen. warumb diese Universität ... bis hero immer mehr und mehr floriret. Denn wo heut zu tage die nützlichen und angenehmen studia nicht beliebt seyn, da ist die Abnahme einer auch volkreichen Universität für der Thüre." Befremdeten nicht Sprache und Stil, könnte diese Aussage an die Zeit humanistischer Universitätsreform erinnern. Jedoch: es ist Christian Thomasius, der im Blick auf die Universität Halle diese Passage in seine Vorlesungsankündigung für das Jahr 1705 einfügte. 1 Einer der begabtesten und weithin wirkenden ThomasiusSchüler, Nic. Hier. Gundling, umschrieb ein wenig später - gleichfalls in einer Vorlesungsankündigung - diese Aufgabe und Ausrichtung wissenschaftlicher Bemühungen dahingehend, es müsse eine Methode angewandt werden, "welche theils die studia humaniora und historiae, theils die philosophie mit der juristerey verknüpffet". Der luris-Consultus, der Jctus, wie er abgekürzt genannt wurde - sowohl Thomasius als auch Gundling haben ihn vorweg im Auge -, hat also auch in den studia humaniora bewandert zu sein und gar der an einer Universität Lehrende in weitestem Umfang. Um nochmals Gundling zu zitieren: "Wer ein Professor ist, muß mehr Capacität haben als andere; sonst schicket er sich zu keinem Professor. Wer die Rechtsgelahrtheit studiret, muß schon einen guten Vorrath mitbringen; weilen nach des Cujacii Zeugnis zu dem rechten Verstand der römischen Rechte kaum alle lateinische und griechische Schriften ausreichen. Derjenige muß also gewiß eine schlechte Idee von der Rechtsgelahrtheit haben, welcher fantasiret, daß die Philosophie und beIles lettres derselbigen schädlich und nachtheilig wären, also ohne welche diese nicht gründlich kann gelehret und fürgetragen werden. Ich kann nicht glauben, daß ein kluger Mensch solche lächerliche Einfälle ohne Empfindung oder Ekel anhören oder lesen könne.,,2 Erstveröffentlichung in: R. Toellner, Hrsg., Aufklärung und Humanismus (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, 6), Verlag Lambert Schneider, Heidelberg 1980, 69-85. 1 Nähere Angaben in meinem Buch: N. Hammerstein, Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jahrhundert, Göttingen 1972, hier 130. Auch für das Folgende verweise ich grundSätzlich auf dieses Buch. 2 Ebd.,21Of.
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Ein weiteres Zeugnis also dafür, daß diese Jurisprudenz nicht ohne humanistische Studien auskommt, ohne die dem älteren Humanismus selbstverständlichen Künste und Fertigkeiten. Es nimmt denn auch nicht wunder, daß öfter sogar unmittelbar und direkt auf diese wichtige Voraussetzung sowie Vorbedingung hingewiesen wurde. Das läßt sich an einem weiteren Zitat von Thomasius - es stammt aus den Anmerkungen zu Osses Testament - verdeutlichen: ,,Nun ist es zwar an dem, daß die Humanisten 3 , welches mehrentheils Frantzosen waren, als Budaeus, Contius, Baro, Duarenus, Donellus, Hotomannus, Balduinus, Cujaccius etc. (denen jedoch von dem Italiener Valla und Alciatus vorgegangen) ... öffters bloß wegen des Lateins die alten Glossatores allzu herbe mitgenommen, auch einander selbst nicht geschonet ... Nichts desto weniger ist nicht zu leugnen, daß die Humanisten viel Fehler der Glossatorum emendiret. Derowegen muss ein aufrichtiger Juriste in diesen Stücken unparteyisch seyn und was den Verstand des Römischen Rechts betrifft, beyder Parteyen zu seinem Nutzen sich bedienen." Aber genug der Zitate. Sie sollten nur zeigen, daß in der sich aufklärend übenden Zeit nicht nur gewußt wurde, was die sog. Humanisten gewollt und erstrebt hatten, sondern daß offensichtlich sogar die soviel älteren Bestrebungen als Teil der eigenen, der damaligen angesehen wurden. Thomasius und Gundling stehen hier ja nur beispielhaft für eine - leicht zu vermehrende - Reihe Gleichdenkender, sie sind keine Ausnahme. Es waren das, wie man bemerken konnte, Juristen, Rechtsgelehrte, und es könnte von daher der einleuchtende Schluß naheliegen, die Tradition des Römischen Rechts, die Beschäftigung mit den - im Reich als Jus commune rezipierten - Rechtsmaterien bedinge und garantiere diese fortwirkende Auseinandersetzung, Übernahme und Pflege. Jedoch deutet der Titel dieses Beitrags schon darauf hin, daß dieser Sachverhalt - der zudem solcherart nicht adäquat gekennzeichnet wäre - nicht gemeint sein kann. Es ist eine andere gelehrte juristische Disziplin, die uns hier beschäftigen wird. Da allerdings zu vermuten steht, daß diese Reichspublicistik - Publicistik mit "c" wohlgemerkt - keinen gut gekannten und geläufigen Gegenstand darstellt, darf ich in angemessener Kürze einige wenige Anmerkungen nachtragen. Die Reichspublicistik ist die juristische Disziplin, die in Halle dank Thomasius und seiner Schüler neu begründet und als integraler Bestandteil der Rechtsgelehrtheit verankert wurde. Das Jus publicum Romano-Germanicum muß als Ausweis einer verjüngten, neuen, ja revolutionierenden Wissenschaftsauffassung und -tradition angesehen werden. Es führte hier zu weit, das näher zu erläutern - ich habe das andernorts getan4 - oder auch nur alle Implikationen aufzuzeigen, die damit und dadurch gegeben waren. Bedeutsam ist, daß von hier aus nicht nur die Jurisprudenz anders, modifiziert begriffen und interpretiert wurde - wobei selbstver3 Sie werden bezeichnenderweise den "Bartolisten" entgegengesetzt. Das Zitat aus: D. Melchiors von Osse Testament ... zum Gebrauch des Thomasischen Auditorii, HaUe 1717, 409f. 4 In Hammerstein, Jus, dort auch aUe weiterführende Literatur sowie viele Belege.
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ständlich ist, daß die Pflege dieser Disziplin Ausdruck einer vorgängig gewandelten Auffassung der Welt und der Menschen, der Wissenschaften war, dies nicht die Ursache, sondern die Folge dieses Wandels bezeichnet. Kurz, durch die veränderte Jurisprudenz, deren modem-führendes Fach die Publicistik geworden war, verjüngten sich auch die daniederliegenden Universitäten. Die neuerliche Blüte, der Aufstieg der Universitäten im Reich zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatte hierin seinen Grund. Es war dies freilich eine rein deutsche Erscheinung, keineswegs eine europäische. Außerhalb des Reichs hatte im Zeichen der Aufklärung gerade eine gegenläufige Bewegung stattgefunden, dort konnten sich die Universitäten nicht wieder aus ihrem desolaten Zustand erheben. Und wie diese Blüte der Universitäten des Reichs eine deutsche Angelegenheit war, so war es auch die Publicistik. Sie war die "Sonderwisst:nschaft" der besonderen Erscheinungsform des Reichs. Gelehrt und gefördert wurde sie zunächst freilich nur an protestantischen Universitäten, die katholischen zogen erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und mit bemerkenswerten Abwandlungen nach. Auch das kann ich hier nicht näher darstellen. Einer der Gründe nun, daß damals im Heiligen Römischen Reich eine solche wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung stattfand, hing mit den politischen Notwendigkeiten der Zeit zusammen. Die geographische, psychische, physische, rechtliche, ökonomische u.sJ. Neuordnung, die nach dem Dreißigjährigen Krieg unabweisbar geworden war, das Vordringen absolutistischer Herrschaftsformen und -auffassungen auch in den Territorien des Reichs, eine zunehmende Verweltlichung aller Lebensbereiche charakterisierten - recht grob gesprochen - diese Situation. Wenn auch nach dem Westfälischen Frieden nicht sogleich die ersten Generationen sich hier tatkräftig hervortaten, vielmehr ein Rückgriff auf das Altbewährte tunlich schien, so brach sich diese Entwicklung doch gegen Ende des 17 Jahrhunderts allgemein Bahn. Am deutlichsten sichtbar war das mit der Gründung der Universität Halle gegeben, von wo nachhaltige Auswirkungen auf das gesamte Reich ausgingen. Die Jurisprudenz als die Wissenschaft des innerweltlichen, zwischenmenschlich geordneten Zusammenlebens wandelte sich allmählich hin zu einer systematischen Wissenschaft, beileibe freilich noch nicht im Sinne eines späteren "Systems". Sie gewann jedoch vermehrt die Fähigkeit, das Leben zu verwissenschaftlichen. Ihre Anregungen und Bedürfnisse - mußten andere Disziplinen ihr doch vor- oder zuarbeiten - veränderten die Universitäten und den Wissenschaftsaufbau insgesamt. Auch das ist ja ein Moment, das unübersehbar an die Situation beim Vordringen des Humanismus erinnert! Nur anders als damals ging diese Änderung von einer Disziplin aus - der Jurisprudenz. Es war also weniger wie zu Zeiten des Humanismus - eine allgemein methodische Ausrichtung vieler Wissenschaften, eine gemeinwissenschaftliche Überzeugung, die jetzt reformierend hervortrat. Der Anstoß kam zunächst, wie gesagt, von einer gelehrten, freilich hochdifferenzierten Disziplin. Die neue Ausrichtung der Wissenschaften ftihrte nicht nur zu einer allgemeinen ,,Juridifizierung", sondern auch zu einer stärkeren Systematisierung, einer engeren
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Verknüpfung und andersartigen Verbindung der einzelnen Disziplinen untereinander. Sie hatte zudem durchgehend eine vermehrt ,,historische" Ausrichtung des Denkens zur Folge. Dieses höchst bedeutsame zuletzt genannte Moment lasse ich im Kommenden freilich weitgehend außer Betracht - so gewichtig und zentral es auch für das neue Wissenschaftsverständnis war und schließlich auch Gemeinsamkeiten mit dem Humanismus aufzuzeigen geeignet wäre -, da ich davon ausgehen kann, es sei im vorhergegangenen Beitrag deutlich zur Sprache gekommen.5 So werde ich eher Randerscheinungen dieses Phänomens im Kommenden anzusprechen haben. Kann nun, wie es unsere Thematik hier erfragt und wie unsere Eingangszitate gegebenenfalls erwarten lassen, davon gesprochen werden, daß vergleichbare Phänomene Humanismus und Reichspublicistik bestimmten und charakterisierten? Und wenn ja, welche waren es, wie müssen und können sie benannt werden? Ganz allgemein - und darauf habe ich bereits hingewiesen - kann die Vorstellung, es sei eine Verjüngung verknöcherter Auffassungen zu erstreben, eine Erneuerung, eine Wiederbelebung daniederliegender Wissenschaften und Fertigkeiten zu erreichen, als den Humanisten entsprechend angesehen werden. Ich darf hier bewußt einmal davon absehen, daß viele solche Neuansätze und geänderte Problemstellungen eine solche Grundhaltung auszeichnet, und darf schlicht auf einige inhaltlich scheinbar analoge Erscheinungen aufmerksam machen. Da nach besserer, sauberer Methode, nach erhöhter Immanenz der Erklärungen, nach vermehrtem Realitätssinn und dementsprechend größerer Praxisnähe verlangt wurde, könnte dies als Indiz einer den Humanisten vergleichbaren Grundhaltung der Reichspublicisten gedeutet werden. Es braucht dem nicht entgegenzustehen, daß, anders als im Humanismus, die Antike als solche nicht gewichtigster Bezugspunkt, nicht Paradigma formender und normierender Bemühung war. Antike Autoren, wie Aristoteles, Cicero, die Stoiker, die Epikuräer, die Juristen selbstverständlich aus dem ganzen Umkreis des Corpus Juris, wurden freilich auch von den Publicisten häufig bemüht. Theophrasts Charakterlehre z. B. gerann - über Vasaris und Bodins Vermittlung - zur gewichtigen Theorie der Volkscharaktere innerhalb der Staatenkunde. Die durchgängige "Historisierung" verwies im Umkreis bestimmter Themen erneut und mit Nachdruck auf die antike Historiographie. ~ H. Günther, Rückgriffe der Aufklärung auf Geschichtstheorien des Humanismus, in: R. Toellner, Hrsg., Aufklärung und Humanismus (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, 6), Heidelberg 1980, 59 ff. - Zu allen Fragen des Humanismus verweise ich ganz allgemein hier nur auf die Arbeiten P. O. Kristellers - u. a. die im W. Fink-Verlag von E. Keßler hrsg. Bde.: Humanismus und Renaissance, München 1974176; auch die A. Bucks, u. a. dessen Forschungsberichte im AKG 1955 ff.; ders., Renaissance-Humanismus in den Wissenschaften, 1955; die von ihm hrsg. und eingel. Aufsatzsammlung: Zum Begriff und Problem der Renaissance, Darmstadt 1969, sowie zuletzt: Renaissance: Krise und Neubeginn, Marburg 1977; ferner bin ich vielfach den älteren Arbeiten P. Joachimsens verpflichtet, von denen ich einige als ersten Band "Gesammelte Aufsätze. Beiträge zu Renaissance, Humanismus und Reformation" im Scientia-Verlag, Aalen 1970 wiederveröffentlicht habe. Ich verzichte im folgenden auf die jeweiligen Einzelnachweise dieser und weiterer Literatur.
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Verwandtes auch hier und ganz gewiß auch im äußerlichen Sprachgebrauch immer dann, wenn der Gegner genannt wurde, wenn es galt, gegen das Alte, Erstarrte, das Andere und Neue zu setzen. Da wurde von der Mönchsbarbarei, der päpstlichen Tyrannei (im Geistigen), den dunklen, gerade zurückliegenden Zeiten, von Unterdrückung, scholastischer Schulfüchserei und Pedanterey gesprochen, die nun durch das Licht der Erkenntnis, der rechten Prinzipien, der wiedergewonnenen Vernunft, der richtigen Autoritäten zu überwinden seien. Die protestantische Schulmetaphysik, die theologische Anmaßung, in allen Fragen autorisiert mitreden und entscheiden zu können, wurden genannt und vehement bekämpft, unabweisbare Folge der im protestantischen Reichsteil, wo diese Auseinandersetzungen ihren Ausgang nahmen, alles überwölbenden Herrschaft der lutherischen Orthodoxie. Die bereits genannten Notwendigkeiten der Zeit wie auch die deutlichen Erfolge der neuen Lehren führten dann dazu, daß, wie seinerzeit der Humanismus in Italien und Frankreich, so jetzt die Publicistik allmählich nicht nur öffentliches Ansehen gewann, sondern auch Unterstützung und Förderung seitens der Verantwortlichen erfuhr, ihr dem Gemeinwesen dienlicher Charakter erkannt wurde. Ihre rasche Verbreitung, ihre neue, Öffentlichkeit und Gemeinschaft stiftende Wirkung sind vor diesem Hintergrund zu sehen! Wenn die publicistischen Autoren, wie bereits früher üblich, ihre Werke gern einflußreichen, hochgestellten Personen dedizierten, so war auch damit - im rein Äußerlichen - eine den Humanisten analoge Praxis wiederbelebt worden. Die Kritik an den grilli inutiles der scholastischen Wissenschaften - wie es die Zeitgenossen mit einem Leibnizschen Terminus6 verstanden - hatte aber auch eine durchaus innere Analogie zu den älteren humanistischen Bemühungen. Sie war die notwendige Voraussetzung, um Eigenes, um Neues, von dem eingefahrenen Lehrbetrieb Unbelastetes zu schaffen. Wie die Humanisten an die Quellen zurückwollten, ad fontes, ,,ihre" Scholastik beiseite zu räumen hatten, um das neue Lebensund Weltverständnis zu begründen - die Antike gab dazu Norm und Form -, so suchten die Publicisten eine gleichermaßen "verweltlichte", innerweltliche, weniger von kirchlich-konfessionellen Vorschriften verstellte wissenschaftliche Antwort auf ihre Probleme und Fragen. Sie gingen in dieser Verweltlichung freilich weiter als ihre humanistischen Vorläufer, insofern sie nicht nur die "scholastischen", ihre scholastisch-schulfüchsischen Autoritäten ablehnten, sondern überhaupt Autoritätsbeweise und -traditionen in Frage stellten, ohne allerdings zumindest in den frühen Jahren hier allzu dogmatisch zu verfahren. In der antikirchlichen Haltung waren sich beide dann nicht nur wieder einig, sondern auch darin, daß allein die äußerlich institutionelle Seite der Kirche mit ihrem Anspruch auf bevormundende Interpretationsmonopole - wie man es verstand - gemeint war, nicht der Glaube, die Religion als solche. Insoweit könne diese Kritik auch keinerlei 6 Hierzu mein Aufsatz N. Hammerstein, Leibniz und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, in: NassA 85, 1974, 87 ff.
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Verletzung der im Interesse menschlicher Würde schätzens- und erhaltenswerten religiösen Sphäre sein, hieß es dann häufig. Gewiß fdhrte der neuerliche Angriff auf die geistliche Vorherrschaft, das kirchliche Lehrmonopol im Zeichen der Aufklärung zu weitergehenden Folgen, zu einer letztlich nicht mehr aufhaltsamen, durchgängigen "Verweltlichung" des Denkens und Handeins. Da sich zunächst aber diese weit fundamentalere Kritik an den Kirchen nicht allzu deutlich äußerte, sie sich reformerisch und nicht revolutionär zu erweisen schien, konnte sie selbst die katholischen Reichsterritorien einschließlich der geistlichen erfassen und auch dort wirksam werden? Kirche und Frömmigkeitsäußerungen mußten sich so zu Ende des Jahrhunderts an ihrem Gemeinnutzen, ihrer "Utilität" messen lassen. Die Vorstellungen absolutistisch-wohlfahrtsstaatlicher Herrschaft verlangten es damals geradezu, die Kirchen als Institution wie andere unterhalb des Staates anzusiedeln. Die theoretische Erörterung fdhrte daher im Gefolge dieser Praxis - naturgemäß auch entschieden weiter als im Zeitalter der humanistischen Kirchen- und Mönchsschelten, hatte zunächst allerdings einen vergleichbaren Ausgangspunkt. Gemeinsam war Reichspublicistik und Humanismus dann ferner - und es ist das der natürliche Ausdruck dafür, daß die Jüngeren auf den Vorarbeiten der Älteren aufbauen, in der Tradition der deutschen Wissenschaftsgeschichte stehen -, daß sie die Begründung ihres neuen Wissenschafts- und Lehrgebäudes auf eklektischem Wege suchten. Wie Melanchthon, den er gelegentlich gerne anfdhrte, hielt auch Thomasius dafür, daß eine selbständig zu überprüfende Auswahl der ,,Autoritäten und Quellen", bei einer an allgemeiner Erfahrung gemessenen Wertung der Vorbilder und Vorgänger, im Interesse eines schlüssigen Wissenschaftssystems notwendig und hilfreich zugleich sei. ,,Ich nenne aber eine Eclectische Philosophie eine solche, welche da erfordert, daß man von dem Munde eines eintzigen Philosophen nicht dependiren ... , sondern aus dem Munde und Schrifft ... , allerley Lehrer alles und jedes, was wahr und gut ist, in die Schatz-Kammer seines Verstandes sammeln müsse und nicht sowohl auf die Autorität des Lehrers Reflexion mache, sondern ob dieser oder jener Lehr-Punct wohl gegründet sey, selbst untersuche ... Derowegen dann ein großer Unterschied zwischen den Philosophis eclecticis ist und unter den Autodidacticis, Quodlibetisten und Zusammenschmierer" , heißt es in Thomasius' Hof-Philosophie8 • Daß in beiden Fällen die Abneigung und Abwehr scholastischer, also nicht mehr offener, geronnener, schulmäßiger Philosophie veranlassend war, wie auch eine eher topische, systematischen Aufbau erst erstrebende, mehr praktische als abstrakte Art des Denkens, liegt auf der Hand. Dieses Erbe des deutschen Humanismus hat ja bis hin zum deutschen Idealismus unser Wissenschaftsverständnis mitgeprägt, hat hier vom Westen Europas unterschiedene Betrachtungsweisen fruchtbar werden lassen. Daß sich in diesem Zusammenhang 7 Ich habe diese Zusammenhänge ausführlich dargestellt in: N. Harnmerstein, Aufklärung und katholisches Reich, Berlin 1977. 8 Nachweise in Hammerstein, Jus. 54.
5 Hammerstein
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"philosophischer" Begründung des Wissenschafts- und Lehrautbaus die Reichspublicisten auf die gleichen antiken Autoren beriefen wie die deutschen Humanisten vor ihnen, auf Cicero, die Epikuräer, auf die Stoa, versteht sich gleichsam von selbst, wie auch, daß sie Bacon, Melanchthon, Sturm und andere "Humanisten" als weitere mittlerweile ja hinzugekommene Gewährsmänner bemühten. 9 Es ist nun höchst bezeichnend, daß Thomasius seine Logik Philosophia aulica, Hof-Philosophie, nannte. Auch hierin drückt sich eine eigentümliche Haltung der verjüngten, erneuerten Wissenschaften und ihrer Anhänger aus, die wiederum an ältere Bestrebungen des Humanismus erinnert. Dem ungeschliffenen Brotgelehrten, den Unsitten der Mönchsbarbarei an Universitäten - von Pennalismus, Deposition bis zur Nachlässigkeit und Dumpfheit der Professoren -, der mangelnden Galanterie der gelehrt sich dünkenden Welt wurde der Kampf damit angesagt. "Über dieses aber ist in der Welt noch was besonderes, das nächst dem honesto, utili und iucundo [den drei klassischen natürlichen Rechtsnormen, d. Verf.] dem Thun und Lassen der Menschen eine gemeine Richtschnur ist, absonderlich aber Polite, Weltkluge und höfliche Leute von plumpen, groben und ungeschickten Tölpeln absondert. Dieses wird von denen Lateinern Decorum ... genennet". Dies Decorum sei, wie Thomasius an anderer Stelle sagte, "die Seele der menschlichen Gesellschaften". \0 Eine gesittete Öffentlichkeit sollte also geschaffen werden, ja überhaupt eine Art breiterer Öffentlichkeit erst erreicht werden. Die Erziehung des Einzelnen - gerade auch seiner selbst - sollte rückwirken auf die der Gesellschaft, die in einer communis opinio über das, was Gesittung sei, sich selbst gleichsam erst inauguriere. Was seinerzeit in italienischen Kommunen, mittlerweile in Frankreich im Umkreis des Hofs, in England als society die Öffentlichkeit geleistet hatte, als gesellschaftlicher Konsens vorhanden war, sollte - in z. T. unbewußter Analogie - die manierliche Universitätserziehung als deutsches Pendant zur westeuropäischen Öffentlichkeit mitschaffen. Gewiß entsprach das aktuellen Bedürfnissen der Zeit, die nach den Wirren und Verwüstungen der konfessionellen Auseinandersetzungen zu einer neuerlichen Gesittung gelangen mußte. Das früher bereits Erreichte war, wie vielerorts, verschüttet gegangen und bedurfte insoweit einer Wiederbelebung, einer Wiederaufnahme. Die Rolle des - zeitgenössischen - Absolutismus hat Gerhard Oestreich, wenn auch nicht ganz unproblematisch, mit "Sozialdisziplinierung" umschrieben. Dennoch sind in diesem emphatischen Gesittungswillen - "die unverschämte Verachtung des Decori macht [Menschen und bestimmte lehrmeinungen, d. Verf.] unerträglich", heißt es bei Thomasius - Momente enthalten, die über diese allgemein absolutistische Komponente hinausweisen. Sie erinnern fraglos, wie ich meine, an Renaissance und Humanismus, an die erste Ausbildung einer öffentlichen Gesellschaft. Im Reich war eine solche bislang nicht vorhanden - von Schulen und Universitäten einmal abgesehen -, und darum gingen alle Bestrebun9 10
Nachweise ebd., passim, sowie in Hammerstein, Aufklärung, passim. Zitate aus Hammerstein, Jus, 58 f.
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gen jetzt darauf hin, sie anzubahnen, sie zu schaffen. In der Tat gelang es denn auch, einen Konsens über angemessene, über selbstverständliche Gesittung und Aufführung zu erzielen, der abseits der Höfe eine Gemeinsamkeit der Reichsöffentlichkeit herstellte. Sie hat u. a. die Annäherung der konfessionell getrennten Reichsteile mitvorbereitet. Bezeichnenderweise wurde diese Errungenschaft der protestantischen Universitätserneuerung, die als Erfolg und Verdienst des Thomasius und seiner Schüler angesehen wurde 11 , von scharfsinnigen Beobachtern des katholischen Reichs gerühmt und als Voraussetzung erfolgreicher eigener Reformbestrebungen zur Nachahmung empfohlen. Die katholische Aufklärung des Reichs hat denn solche Ratschläge vielfach akzeptiert und ihrerseits versucht - mit gleichfalls beachtlichem Gewinn -, sie zu verwirklichen. 12 Insofern setzten Reichspublicisten und erneuerte Wissenschaften das fort, sie nahmen das wieder auf und belebten das, was bereits bei den deutschen Humanisten ein bestimmendes Moment unseres Weltverständnisses gewesen war: auch die Reichspublicistik nahm eine Wendung ins Pädagogische. Viele Fragen des Lebens und der Wissenschaften wurden als solche der Erziehung betrachtet. Die Herrschaft des Wissens über das Leben, wie dies Joachimsen nannte, die Verwandlung von Lebensfragen in solche des Gedankens (Gedankendinge: Joachimsen), eine allgemeine humanistische Erscheinung, führte hier im Reich erneut zur weitestgehenden Ausformung. Selbst die absoluten Herren - die aufgeklärten zumindest des späten 18. Jahrhunderts - teilten, akzeptierten und förderten diese Haltung, wie es die bekannt zugespitzte Formulierung Friedrichs des Großen gewissermaßen in Umkehrung erkennen läßt: "räsonniert, aber gehorcht". Die Lehre vom Jus publicum Romano-Germanicum beinhaltete und umfaßte die Wortwahl zeigt es bereits an - die dem Reich angemessenen, seinen historischen Besonderheiten, seiner Entwicklung gerecht werdenden Rechtsmaterien, die gemäß den damaligen Begriffen öffentlichen Charakter hatten. Den römischen des Reichs mußte wie auch den deutschen Gerechtigkeit widerfahren, und zwar so, daß der uralt-ehrwürdige Rechtscharakter dieses mit dem Kaisertum ausgezeichneten Gemeinwesens von unzulässigen fremden Gesetzesvermengungen frei, seiner Natur und Geschichte entsprechend sich zu behaupten vermöchte. Aus diesem Grund war auf eben diese Geschichte zurückzugreifen, erschien die Historie unabdingbar, sie war das "eine Auge der Wahrheit" neben dem der recta ratio. Die Publicistik - in ihrem Gefolge Reichshistorie, Staatenkunde, Litterärgeschichte führte somit die national-romantische Komponente des deutschen Humanismus fort. Sie ging allerdings noch weiter als jene, maß dem Beweis aus der Historie konstitutive Kraft zu, erklärte ihn zum überzeugendsten.
11 Dazu u. a. mein Aufsatz N. Hammerstein, Die Universitäten der Aufklärung, in: ders.1 P. Baumgart, Hrsg., Beiträge zu Problemen deutscher UniversitätsgrUndungen der frühen Neuzeit (Wolfenbütteler Forschungen, 4), Nendeln/Liechtenstein 1978,263 ff. 12 Vgl. Hammerstein , Aufklärung.
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Auf diesem Wege wurden manche der durch die Reformation unterbrochenen Vorstellungen der Humanisten wiedergewonnen. Die eigene Art der Deutschen, ihre besondere und damit ehrwürdige Rechtskultur wurden hervorgehoben. Sie gelte es von den unzulässigen Überwucherungen durch das Römische Recht zu befreien. So fanden nicht nur manche humanistischen Historien wiederum aufmerksame Leser - der bereits genannte Gundling veranstaltete z. B. eine kommentierte Aventin-Ausgabe -, auch Tacitus wurde vermehrt als Kronzeuge deutscher Vergangenheit bemüht und interpretiert. 13 Daß das "deutsch und frei sein" identisch sei, wurde auf diese Weise erneut zu einer vielerorts verkündeten Auffassung. So wie sich die Humanisten gegen die kulturelle Überheblichkeit der Italiener wehren zu müssen meinten, so wendeten sich die Publicisten jetzt gegen den sog. welschen Absolutismus, sei es den geistigen des Papsttums oder den hegemonialen Ludwigs XIV. und seiner Nachfolger. Gerade diesem ungezügelten, nicht hinreichend durch Gesetze eingeschränkten Absolutismus der französischen Könige wie auch dem des englischen Parlaments wurde die - Freiheit garantierende - Rechtswelt des Reichs gegenübergestellt, die so ungleich sicherer das Wohl und die Würde der Untertanen gewähre. Dieser Rechtswelt galt ja ohnehin das Augenmerk der Publicisten. Indem entsprechend dem ehrwürdigen Alter des Reichs die meisten publicistischen Gesetze seit der Regierung Ottos des Großen - der üblicherweise als der erste deutsche Kaiser angesehen wurde t4 - als in fortwirkender Geltung interpretiert wurden, war der historischen Erschließung dieser Vergangenheit vorrangige Bedeutung gerade auf Seiten der Reichsjuristen sicher. Praktisch bedeutete das dann oft eine Abwertung der Römischen Rechtstradition - hierin war also die Publicistik der Zeit des Humanismus entgegengesetzt -, materiell aber führte das zu einem den Vorläufern durchaus vergleichbaren Ergebnis. Wie Humanisten bereits die Tacitus-Stelle, daß die Deutschen in ihren guten Sitten ihre guten Gesetze besäßen, anführten, um eine dem Corpus Juris ebenbürtige, wenn nicht überlegene deutsche Rechtskultur zu behaupten, so gewannen ihre wissenschaftlich späteren und damit zwangsläufig kenntnisreicheren Nachfahren dem Jus non scriptum, dem Herkommen zusätzlich neue Würde ab. Auch herkömmliche Gesetze, ja gerade sie, besäßen einen hohen Grad an Authentizität, und ihre Geltung sei unbestreitbar, hieß es. Und wie bereits Heinrich Bebel tS fanden auch die Publicisten in den Sprichwörtern eine geronnene altdeutsche Rechtswelt wieder. Ihr nationaler Enthusiasmus hatte allerdings nichts mit dem späterhin übersteigerten deutschrechtlichen oder dem nationalstaatlichen gemein. Reichspatriotisch und rechtsbesessen müßte man ihn nennen. 13 Nicht zuletzt die Göttinger setzten diese Bemühungen fort. Gebauer veranstaltete eine bemerkenswerte Tacitus-Ausgabe; vgl. Hammerstein, Jus, 339 f. 14 Und auch das z.T. bereits in humanistischer Zeit, nicht zuletzt bei Melanchthon; vgl. hierzu W. Maurer, Der junge Melanchthon, Bd. I, Göttingen 1967, 123. 15 Hierzu Joachimsen, Aufsätze, 268 ff. Und zum weiteren Kontext ebenfalls ders., Geschichtsauffassung und Geschichtschreibung in Deutschland unter dem Einfluß des Humanismus, Leipzig 1910 (ND Aalen 1968), hier 97f.
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Immerhin sind also auch in diesem Punkt erstaunliche Analogien festzustellen, wie eben auch auf dem gesamten Gebiet der historischen Methode und Arbeitsweise. Da waren die Reichspublicisten fraglos Erbe der Humanisten, sie griffen auf und führten fort, was damals als unverlierbare methodische Einsicht und Praxis fonnuliert worden war. Daß das inhaltliche Ergebnis dann von der humanistischen Jurisprudenz - falls es so etwas überhaupt gibt - abwich, kann man als Entgegensetzung beurteilen, kann es aber auch, wozu ich neigen möchte, als humanistische Konsequenz des Humanismus bezeichnen. Indem nämlich die humanistische Rechtswissenschaft, wie alle anderen vom Humanismus erfaßten Disziplinen, eine klar bestimmte Methode vorschrieb, die Autorität der Glosse durch die der antiken Juristen ersetzte und ihren Adepten folgerichtig auferlegte, sich antiquarisch auszubilden, sich Kenntnisse der Rechtsgeschichte, der alten Schriftsteller, der Quellen des Römischen Rechts etc. zu verschaffen, bevor sie an die juristische Schulung selbst geführt werden konnten, blieb die Geltung des Römischen Rechts als solche unbestritten. 16 Ja, die Rezeption - besonders hier im Reich -, die verfeinerte Auslegungskunst der "Römischrechtlec" - vor allem in den romanischen Ländern -, die schärfere Begrifflichkeit frühneuzeitlicher Amtsträger vennehrten entschieden das Gewicht, die Bedeutung des Corpus Juris. Sie verfeinerten und verwissenschaftlichten den - nicht mehr bestrittenen - Umgang mit dem Römischen Recht. Gerade in Frankreich führte diese Pflege der humanistischen Ansätze zu einer Hochblüte philologischer Rechtskultur während des 16. und 17. Jahrhunderts, die als elegante Jurisprudenz eine Tradition fortzuführen vennochte, die im Reich durch die Refonnation abgeschnitten worden war. Von Frankreich aus wirkte diese Ars juris auf die niederländischen Schulen, die sie mit wiederum eigener kräftiger philologischer Kultur, mit späthumanistisch-neustoischen Bestrebungen der Lipsius-Schule zusätzlich verfeinerten. Der gelehrt antiquarische Charakter dieser Rechtswissenschaft sicherte ihr zwar einen hohen Wissenschaftsgrad - als Ars eben -, war aber auch der Grund dafür, daß sie zusehends unpraktikabler wurde, sie sich fernab von den Bedürfnissen der Praxis bewegte. 17 Dennoch war die hohe Kunstfertigkeit und Gelehrsamkeit dieser eleganten Jurisprudenz eine der Bedingungen dafür, daß sie im Methodischen auf die stumpfe, im Dreißigjährigen Krieg barbarisierte deutsche Jurisprudenz vorbildlich zu wirken vennochte. Junge deutsche Juristen zog es denn auch erneut und vermehrt in diese westlichen Lande, vor allem in die Niederlande, um diese Kunst zu lernen. Und sie beherzigten sie so gut, daß sie - wie z. B. Thomasius - die späthumanistische Methode auf die eigenen Rechtsgebiete und -vorstellungen übertrugen. So kam es zur Entdeckung der angeblich eigenen gennanischen Rechtskultur - in Schöffengerichtsbarkeit, im Lehnsrecht, in allen prozessualen 16 Hierzu allgemein F. Wieacker. Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1967; K. H. Burmeister. Das Studium der Rechte im Zeitalter des Humanismus im deutschen Rechtsbereich. Wiesbaden 1974. sowie H. Coing in: Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte. Bd. 3. München 1978. 17 Insgesamt hierzu auch P. Koschaker. Europa und das Römische Recht, München 1947.
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Materien, im Kirchenrecht und nicht zuletzt im öffentlichen Recht, besser dem Jus publicum. Es wurde ferner als unabdingbare Hilfswissenschaft der Jurisprudenz die sog. Reichs-Historie mit Chronologie, historischer Geographie, Numismatik, Archivkunde usf. dauerhaft verankert. Die in der Reformation auch hier unterbrochene humanistische Entwicklung wurde solcherart wieder aufgenommen und den Zeitbedürfnissen und denen der Jurisprudenz angepaßt. Juristen edierten unentwegt, was ihnen altdeutsch erschien. Sie drängten in die Archive, lieferten den Diplomaten Rezepte, gaben Präzedenzfälle und historisch abgesicherte Belege an die Hand. Der Politik der Friedensschlüsse, die das 18.Jahrhundert auszeichnete, wie überhaupt der der sog. Kabinette mußte diese Hilfestellung nicht nur willkommen sein. Sie war ihr tatsächlich - was sich alsbald auch herausstellte und bewährte - außerordentlich hilfreich. Für den internationalen Rahmen entwickelten die Publicisten eine vergleichbare Disziplin, die diese bewährten Techniken, das verwertbare Instrumentarium auf die Staaten außerhalb des Reichs übertrug. In dieser Historie der vornehmsten Reiche und Staaten oder wie immer sie genannt wurde - ich nenne sie einfachheitshalber Staatenkunde - gingen außer den inneren Momenten der Reichs-Historie noch weitere ältere, eben auch humanistische Traditionen ein: die ratio-statusLehre, Produkt der italienischen Renaissance gleichermaßen wie die Theorie vom notwendigerweise gleichgewichtigen Zustand der Staaten, die Lehre vom Gleichgewicht der Mächte. Daneben wirkten politische Vorstellungen des Aristoteles in der Spiegelung humanistischer Staatstheoretiker und solche der Neustoiker, des Lipsius, auf diese Historie des Nicht-Reichs ein, wie man in Umkehrung von Reichs-Historie sagen könnte. 18 Daß von diesen zunächst ja juristischen Disziplinen, von der Beschäftigung der Juristen mit - im engeren Sinne - nicht-juristischen Materien nachhaltige Anstöße auf die damals der Jurisprudenz in Ansehen und Bedeutung nachgeordneten Fakultäten und Disziplinen ausgingen und ausgehen mußten, liegt auf der Hand. Philologie, Theologie, Kunstwissenschaften erfuhren von hier neue Impulse, ihr Aufschwung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hing aufs engste mit dieser Vorbereitung der Juristen zusammen, ein Sachverhalt, den ich hier nicht näher darstellen kann. Überblickt man all das, was hier nun dargestellt worden ist, bleibt der Schluß unabweisbar, daß die Reichspublicistik Vieles, ja Entscheidendes den Humanisten, dem Humanismus zu verdanken hatte. Abgesehen von dem Gemeinplatz, daß die Jüngeren, die später Geborenen immer den Vorläufern verpflichtet sind, auf ihren Werken aufbauen, waren doch recht präzise Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen - äußerliche sowohl, aber auch innere - zu konstatieren, die diesen Schluß nahelegen müssen. Dennoch möchte ich abschließend einiges Wasser in diesen unseren Wein gießen.
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V gl. Hammerstein, Jus, bes. 234 ff.
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Wie schon von sich aus evident ist, daß verwandte, scheinbar gleiche Dinge, treten sie in verschiedener Zeit auf, auch verschieden sein müssen, jeweils Antworten auf ihre historische Situation und Voraussetzungen darstellen, die ja nicht das gleiche sein können, so dürfte es auch hier einleuchten, daß in Anbetracht der zeitlichen und damit historischen Differenz es sich unmöglich um exakte Entsprechungen, um dasselbe handeln kann. Nähere Analyse, schärfere Betrachtung macht es denn auch deutlich, daß trotz aller Entsprechungen im Methodischen und im gelegentlichen äußeren Wortgebrauch die Inhalte und Absichten wie auch die Gegner höchst unterschiedliche waren. Darum habe ich im Titel dieses Beitrags denn auch bewußt von humanistischen Traditionen gesprochen, denen die Reichs-Publicisten, nicht weniger als wir übrigens, verpflichtet waren. Der Kampf gegen die protestantische Schulmetaphysik, die die ThomasiusSchule eröffnete, war eigentlich ein Kampf gegen die Melanchthonsche, also die deutsche humanistische Wissenschafts lehre. Die Entdeckung der eigenen Rechtsvergangenheit, die eines besonderen Rechtscharakters des Reichs, bedeutete jetzt eine Absage an das von den Humanisten hochgeschätzte Römische Recht. Die daraus folgende Verdammung des mos /talicus war wiederum eine Absage an die deutsche humanistische Jurisprudenz, die in dieser Methode ihre Verwissenschaftlichung und Praktikabilität gefunden und, Einheit stiftend, damals das zersplitternde Reich insgesamt zusammengebunden hatte. Gewiß wurde diese im Selbstverständnis des getrennten Reichs Einheit stiftende Funktion jetzt von dem Jus publicum, der Reichspublicistik übernommen. Aber inhaltlich war sie dem älteren Humanismus wenn auch nicht entgegengesetzt, so doch fremd. Indem die erneuerten Wissenschaften allenthalben die lateinische Sprache abbauten zugunsten der deutschen, ihnen Autoritäten - einschließlich der antiken vielfach suspekt erschienen und indem schließlich jede vergnügliche, ästhetischgenießende Komponente außerhalb ihrer auf Pflicht, Selbstzucht, geregeltes Maßhalten - das leicht zu langweiliger Mittelmäßigkeit erstarrte - angelegten Vorstellungswelt verblieb, unterschieden sich diese Gelehrten doch durch manches und auch Gravierendes von ihren Vorgängern. Nun, auch damit sage ich nichts Neues. Es sind eigentlich, wie bereits angedeutet, Binsenweisheiten, die ich hier wiederholte. Der Humanismus des 15. und frühen 16. Jahrhunderts kann gar nicht identisch sein mit dem, was im späten 17. und 18. Jahrhundert zur Debatte stand. Wo die Taten verschieden sind, müssen auch die Ideen verschieden sein. Aber das sollte hier ja auch gar nicht bestritten sein. Andererseits freilich - auch das ist fast selbstverständlich - muß aber jeweils neu aufgezeigt werden: ohne die Vorarbeit der Humanisten, ohne manches Rüstzeug, das sie boten, und vor allem ohne das - dauerhafte - methodische Instrumentarium, ihre überzeitliche Problemstellung, wäre den Publicisten ihre erstaunliche und folgenreiche Wiederbelebung, die Erneuerung der nach den konfessionellen Kriegen daniederliegenden Wissenschaften nicht leicht möglich gewesen; und sie hätten auch nicht gewichtige, durch die Reformation im Reich verschüttete Traditionen aufnehmen, verfeinern und nützen können.
Humanismus und.Universitäten* Erlauben Sie mir, daß ich mit einem - verkürzt überzogenen - Zitat aus jüngster Zeit beginne. "Das humanistische Studium verwirklichte keine neue Bildungsidee. Es verkürzte vielmehr eine ältere, indem die Humanisten behaupteten, daß ihr Trivium allein bereits das leiste, was alle artes entsprechend einer älteren Auffassung nur insgesamt vermochten ... Bildung bedeutete aber nichts weiter als Beherrschung der richtig gelehrten und verstandenen artes ... Die Humanisten in ihrer naiven Bildungsgläubigkeit setzten dagegen eruditio, das bloße Wissen, bereits mit der prudentia gleich ... Zusammen mit der eruditio glaubten die Humanisten Weisheit zu erwerben ... und das Heil der Welt verwirklichen zu können ... So viel Traditionelles die Humanisten auch selbst mit sich schleppten, so war doch eine programmatische Programmlosigkeit das zwangsläufige Korrelat ihres Bildungsund Tugendoptimismus" .1 Nun, daß Josef Engel, der Verfasser dieses - für Deutschland wichtigen - Handbuchbeitrages nicht diesen humanistischen Bildungsoptimismus teilt, liegt wohl auf der Hand. Wenn er sich für diese Argumentation u. a. auf Kristeller beruft, so dürfte er dessen Urteil freilich nur zum Teil angemessen widerspiegeln, wenn auch nicht zu leugnen steht, daß Kristeller den Humanisten bzw. dem Humanismus einen nur bedingten Einfluß auf Universitäten und ihre Wissenschaften einzuräumen bereit ist. 2 Wobei vorab eigentlich zu klären wäre, wie im einzelnen jeweils Humanismus definiert und beschrieben wird. Auch hier bestehen leicht unterschiedliche Auffassungen nach wie vor nebeneinander fort. 3 Ich will Sie aber weder mit diesen Erstveröffentlichung in: A. Buck, Hrsg., Die Rezeption in der Antike. Zum Problem der Kontinuität zwischen Mittelalter und Renaissance (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung, 1), Dr. Ernst Hauswedell & Co. Verlag, Hamburg, 1981,23-39. * Nahezu unveränderte Form eines Vortrags anlä8lich der Wolfenbüttler Tagung "Die Rezeption der Antike" 1978. 1 J. Engel, Hrsg., Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 3, Stuttgart 1971, hier 63 ff. 2 Vgl. u. a. P. O. Kristeller, Die italienischen Universitäten der Renaissance (Schriften und Vorträge des Petrarca- Instituts zu Köln, 1), Krefeld 1953; ders., Die Rolle des klassischen Humanismus in den Wissenschaften der Renaissance, jetzt in: A. Buck, Hrsg., Zum Begriff und Problem der Renaissance, Darmstadt 1969, hier 222 ff.; ferner die in der humanistischen Bibliothek von E. Keßler hrsg. Aufsätze Kristellers, Humanismus und Renaissance, 2 Bde., München 1974/76. Kristellers Einschätzung des Verhältnisses Humanismus - Universitäten hat sich im Laufe seiner Arbeiten insoweit gewandelt, als er in seinen späteren Arbeiten dem Humanismus durchaus einen Einfluß auf die verschiedenen Disziplinen zusprach. Er kehrte insofern in die Nähe P. Joachimsens zurück! 3 Am knappsten und sehr übersichtlich informiert hierüber A. Buck in der Einleitung zu dem genannten Band: Zum Begriff und Problem der Renaissance; sowie ders., Zur Lage der
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bekannten Varianten aufhalten noch meinerseits vorab eine Definition liefern. In der fortschreitenden Darstellung meines Themas wird sich dies anschaulicher offenbaren können. Um wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren: die - fraglos zu einseitige Meinung Engels beschreibt insoweit einen zutreffenden Tatbestand, als der Humanismus nicht primär auf Universitäten und ihren Wissenschaftskanon bezogen war. Er zielte auf einen viel weiteren, den allgemeinen Lebenszusammenhang umfassenden Bereich.4 Nur insofern auch die damaligen Universitäten in diesen Rahmen gehörten, mochten sie Gegenstand der humanistischen Aufmerksamkeit sein. Wie im einzelnen dies vor sich ging, war dann nach Region, Land und alsbald Konfession unterschiedlich. Noch mehr als im Mittelalter machten sich ,,nationale" Faktoren bemerkbar, analog der sich ausfaltenden frühmodernen staatlichen Vielfalt Europas. Ich werde weiter unten auf diesen Gesichtspunkt nochmals zurückzukommen haben. Im Blick auf die unserem Kongreß übergeordnete Fragestellung darf ich zunächst darauf verweisen - und gleichsam Engels Hinweis bestätigen, der Humanismus ruhe auf vielen älteren Traditionen auf, was dem Historiker aber ohnedies selbstverständlich ist! -, darf ich also darauf verweisen, daß gerade die europäischen Universitäten außerordentlich eng an ihre Ursprungszeit gebunden scheinen, an das Hochmittelalter also. Die Universitäten gehören neben der Kirche zu den Institutionen Europas, die mit am kontinuierlichsten sich entwickelten, recht lange und nachdrücklich ihre ursprüngliche Gestalt erhielten, ihre Formen tradierten. Das ist bekannt. Ich habe das kürzlich an anderer Stelle erneut dargelegt5 und kann mich daher auf einige, erinnernde Hinweise beschränken. Der institutionelle Aufbau - der ja immer auch ein inhaltlich mitbestimmender ist - blieb seit seiner frühen Ausbildung nahezu unverändert fortbestehen. Rektoratsverfassung, die Aufund Einteilung der Wissenschaften auf vier Fakultäten, die korporationsrechtliche Sonderstellung dieser Anstalten, das Graduierungswesen - trotz anfänglicher humanistischer Angriffe -, Selbstverwaltungsprivilegien, all das verband die frühen Universitäten mit ihren jüngeren Schwesteranstalten, vielfach ja bis zu den sogenannten Reformen unserer Tage. Es wäre ferner darauf zu verweisen, daß der Aristotelismus - rein äußerlich formal gesprochen - die hochmittelalterlichen Universitäten mit denen der frühen Neuzeit bis hin fast zur idealistischen Universitätsreform verband. 6 So können also Renaissance- und Humanismusforschung in Vergangenheit und Gegenwart, in: H. F1ashar / N. Lobkowitz/O. Pöggeler, Hrsg., Geisteswissenschaft als Aufgabe, Berlin 1978, 123 ff. 4 Hierzu erneut A. Buck, Renaissance, Krise und Neubeginn, Marburg 1977, sowie P. Joachimsens ältere, immer noch maßgebliche Arbeiten. Vgl. ders., Gesammelte Aufsätze, hrsg. von N. Hammerstein, Bd. I, Aalen 1970. 5 N. Hammerstein, Bildungsgeschichtliche Traditionszusammenhänge zwischen Mittelalter und früher Neuzeit, in: Der Übergang zur Neuzeit und die Wirkung von Traditionen. Vorträge gehalten auf der Tagung der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg am 13. und 14. Oktober 1977 (Veröffentichungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg, Bd. 32), Göttingen 1978,32 ff.
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eine Fülle von Traditionszusammenhängen aufgezeigt werden. Nun sind die aber hier nicht eigentlicher Gegenstand meiner Überlegungen. Es ist das vielmehr die Frage nach den möglicherweise verändernden Einflüssen, die vom Humanismus ausgegangen sein könnten. Und da darf ich vorab als These fonnulieren, daß als Folge des Humanismus das Erziehungswesen und somit auch die Universitäten vor allem im nördlichen Europa - einem bemerkenswerten Wandel unterlagen. Allein schon die vielfach veränderte Auffassung davon, wozu, worauf zu erziehen und auszubilden sei, die inhaltliche Seite also, zwingt zu diesem Schluß. Insgesamt bemühten sich die Universitäten, die Wissenschaften vennehrt im Blick auch auf die jeweilige Praxis auszugestalten. Die Gelehrsamkeit nahm eine Wendung ins Pädagogische. 7 Welche Veränderungen das für die jeweilige Lehrauffassung hatte, wie weitgehend bzw. nur geringfügig modifizierend sich dies auf die einzelnen Disziplinen auswirkte, das freilich ist vielfach noch recht unklar; davon wissen wir mangels Untersuchungen viel zu wenig - wie ich immer erneut nur feststellen kann. 8 Eine schlüssige Antwort auf unsere Fragestellung und These ist aber allein von solchen inhaltlichen Kriterien her zu geben. Die wenigen zuverlässigen Untersuchungen auf diesem Gebiet zeigen nicht nur, daß dies möglich ist, sie bestätigen im allgemeinen auch die These selbst.9 Da freilich hier noch zu viel offen ist, werde ich im folgenden einen etwas anderen Weg einschlagen, um unserem Problem gerecht werden zu können. Gesetzt, der Humanismus bestimmte die Erziehungsideale anders als bisher lO, war mehr als nur eine philologische Methode, ging über eine rein antiquarische 6 Neben der älteren Arbeit von P. Petersen, Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland, Leipzig 1921, jetzt für das Reich noch W. Maurer, Der junge Melanchthon, 2 Bde., Göttingen 1967/69 und der Beitrag von G. Müller im gleichen Band: Die Aristoteles-Rezeption im protestantischen Deutschland. Einen den gesamteuropäischen Zusammenhang darstellenden Versuch zur Rolle des Aristotelismus gibt es noch nicht. Hier bleiben allenfalls Spezial untersuchungen - zumeist solche auf eine Disziplin bezogenen übrig, wie z. B. W. Risse, Logik der Neuzeit, Stuttgart 1964/66. 7 So nannte das P. Joachimsen treffend. 8 Vgl. auch mein Kurzreferat in: Wolfenbütteler Renaissance-Mitteilungen, Heft I, 1977, 55 ff. Die dort ausgewiesene Literatur gehön insgesamt in den hiesigen Zusammenhang. Ich zitiere sie im allgemeinen nicht neuerlich. - Ganz ähnlich argumentien auch L. W. Spitz, The Course of German Humanism, in: H. A. Obermann / Th. A. Brady jr., Hrsg., Itinerarium Italicum, Leyden 1975. 9 An jüngeren Arbeiten - nicht eben zahlreich - nenne ich A. Schindling, HlJmanistische Hochschule und Freie Reichsstadt. Gymnasium und Akademie in Strassburg 1538 -1621, Wiesbaden 1977; A. Seifen, Logik zwischen Scholastik und Humanismus, München 1978; A. Sottili, Studenti tedeschi a Padova e le opere deI Petrarca in Germania durante i1 Quattrocento, Padova 1971. 10 Über die humanistischen Erziehungsideale informieren zuverlässig und treffend die verschiedenen Arbeiten E. Garins, insbes.: L'educazione in Europa, Bari 1957 (dt. Übersetzung: Geschichte und Dokumente der abendländischen Pädagogik, 3 Bde., Reinbek 1966); ders., Der italienische Humanismus, Bem 1947; ders., Die Kultur der Renaissance, in: G. Mann
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Vorliebe für die Antike hinaus, war - um es in Kristellers Diktion zu sagen - ein Stil, so müßte dieser Formwille sich doch auch an den Universitäten bemerkbar gemacht haben. Entsprechend den fortentwickelteren "nationalen" Komponenten könnte er zwar unterschiedliche Charakterzüge aufweisen, müßte der Tendenz nach aber vergleichbar sein. Solche in ihrer anhaltenden Wirkung allgemeinen Veränderungen der Universitätslehren, eine andere Akzentuierung des Verhaltens der Hochschulen und ihrer Mitglieder sollen also aufgespürt werden. Daß in vielen Einzelfällen diese eher allgemeinen Beobachtungen korrigiert werden können, braucht weder das Verfahren zu desavouieren noch den sachlichen Gehalt zu widerlegen. Der Blick auf die fortwirkenden Veränderungen erlaubt es, auf die gleichfalls interessanten und brennenden Fragen des Aufkommens humanistischer Bestrebungen, ihrer rückwärtigen Verbindungen im jeweiligen nationalen Kontext hier nicht einzugehen. Inwieweit der Frühhumanismus an Universitäten im außeritalienischen Bereich friedlich mit der Scholastik zusammenlebte oder im Hochhumanismus in scharfe Gegnerschaft zu ihr geriet, braucht weniger Aufmerksamkeit zu erregen als die fortwirkenden, stetigen Folgen dieses Sachverhalts. 11 Daß dann die Reformation als zusätzlich verändernder Faktor eintrat, kann ebenfalls in seiner Problematik nicht umfangreich oder auch nur angemessen erörtert werden. 12 Das Verhältnis zwischen Humanismus und Reformation muß zwangsläufig schemenhaft bleiben. Eine letzte einschränkende Vorbemerkung schließlich: Das überaus weite Feld europäischer Universitäten ist in dieser Kürze nicht annähernd zufriedenstellend auf seine Verbindung mit dem Humanismus hin zu analysieren. Es kann also nur ein bescheidener Ausschnitt gezeigt werden. So habe ich vorweg das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und das Königreich England im Blick. In sehr entfernter Weise befanden sich diese Staatswesen vor vergleichbaren Fragen in unserem Zusammenhang: wie nämlich die Rezeption italienischer Vorbilder die eigene Umwelt umzugestalten, wie sich das mit der weitgehenden Abkehr vom alten u. a., Hrsg., Propyläen-Weltgeschichte, Bd. 7, Berlin 1964,429 ff. Ferner A. Buck, Die humanistische Tradition in der Romania, insbes. Teil 11, Bad Homburg 1968; F. Battaglia, La resurrection des etudes en Italie l'Epoque de la renaissance, in: Pedagogues et Juristes, Paris 1963, 11 ff. 11 In diesem Zusammenhang sei auf die noch immer vorbildliche Arbeit G. Ritters, Die Universität Heidelberg, Heidelberg 1936, verwiesen, auch - und nur als Beispiele - auf E. Bonjour, Die Universität Basel, Basel 1971, sowie auf E. Kleineidams vorzügliches Werk: Universitas Studii Erfordensis, Bd. 1 u. 2, Leipzig 1964/69. Wichtig ferner O. Herding, Probleme des frühen Humanismus in Deutschland, in: AK 38, 1956,344 ff.; E. Kessler, Das Problem des frühen Humanismus, München 1968. 12 Zu diesem Problemkreis noch immer das Beste bei P. Joachimsen in den Gesammelten Aufsätzen sowie dessen: Die Reformation als Epoche der deutschen Geschichte, München 1951; ferner H. Liebing, Die Ausgänge des europäischen Humanismus, in: Festgabe Hanns Rückert, Berlin 1966,357 ff. Knappe Hinweise und gute allg. Literaturübersicht auch bei B. Moeller, Deutschland im Zeitalter der Reformation, Göttingen 1977.
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Glauben, mit der Rom-Feindschaft zu verbinden suchte und wie es den verstärkten Bestrebungen zur frühmodernen Staatlichkeit dienlich zu sein vermochte. Die unmißverständlichste Antwort auf unsere Frage läßt sich - wie bereits erwähnt - nicht ohne weiteres geben, inwieweit nämlich sich wissenschaftlicher Kanon und Lehre unter dem Einfluß des Humanismus verändert haben. Die vielen jüngeren Untersuchungen aus dem Umkreis europäischer Universitäten zur Institutionengeschichte, zu prosopographischen, sozialen, personengeschichtlichen Bereichen 13 konnten hierüber naturgemäß fast nichts erbringen, nicht diese (letztlich relevante) inhaltliche Frage erhellen. 14 Statuten, die ebenfalls gern befragt werden, sind ihrerseits im allgemeinen wenig aussagekräftig hinsichtlich des Lehrprogramms und der Lehrpraxis. 15 Da zudem gewiß richtig ist, daß der Humanismus nicht ein eigenes (philosophisches) Lehrgebäude, keine neuen Wissenschaften schuf, ist auch von daher nur schwer unser Problem zu lösen. Es hat das übrigens die Folge - um dies einschiebend anzumerken -, daß der sogenannte mittelalterliche Wissenschaftskanon vielfach fortzubestehen scheint; ob er das auch inhaltlich tut, bedarf freilich der näheren Analyse. 16 Andererseits - und auch das möchte ich gern noch anmerken - hat auch die Aufklärung als solche keinen Wissenschaftskanon, kein Lehrprogramm entwickelt. Und doch käme niemand auf die Idee, ihr die nachhaltigsten Auswirkungen, nicht zuletzt auf Wissenschaften und Universitäten, abzusprechen. 17 Jedoch zurück zum Humanismus! Seine Auswirkungen werden - wie es bei einem Stil, einer norm- und formgebenden Haltung kaum anders möglich ist - im Umkreis der Wertvorstellungen und -hierarchien, der praktischen Folgerungen, der Fragestellungen und Zielsetzungen zu finden sein. Insoweit erscheinen mir die alten, eigentlich auch nicht hart umstrittenen allgemeinen Charakteristika nach wie vor angemessen, diese Änderun13 Der Interessierte findet in den verschiedenen nationalen Bibliographien zur Universitätsgeschichte, die auf Anregung der universitätsgeschichdichen Kommission des Comite International des Sciences Historiques erschienen - bisher 5 Bde. -, die Literatur bis zum Beginn der siebziger Jahre ca. verzeichnet. 14 Vgl.hierzu meine umfangreiche Analyse der zwei Bände: L. Stone, Hrsg., The University in Society, Princeton 1974, in: ZHF 5,1978,449 ff. 15 Stellvertretend hier die detaillierte, vorzügliche Darstellung A. Seiferts, Statuten und Verfassungsgeschichte der Universität Ingolstadt (1472-1586), Berlin 1971. 16 Hier bleibt noch viel zu tun, die Situation erscheint nicht viel anders, als sie seinerzeit J. Burckhardt vorfand. Er hatte in seiner "Cultur der Renaissance in Italien" nämlich darauf verwiesen, daß es noch nicht möglich sei, die Auswirkungen des Humanismus auf die einzelnen Fachwissenschaften darzustellen. Jede für sich sei eigentlich eine in sich folgerichtige Spezialgeschichte. Freilich treffe generell zu, daß im Vorbildcharakter der Antike und der antiken Wissenschaften - und das für alle Disziplinen - nunmehr ein selbstverständlicher und akzeptierter Kanon gefunden worden sei. Vgl. im 3. Abschnitt ,,Die Wiedererweckung des Altertums" die entsprechende Passage. 17 Vgl. u. a. N. Harnmerstein, Jus und Historie, Göttingen 1972.
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gen zu benennen. Sie bezeichnen durchaus mehr als nur äußerliche Modifikationen, bedeuten eine auch inhaltliche. Das beginnt mit der - selbst von Engel akzeptierten - hohen Bewertung alter und neuer Disziplinen des Trivium: der Grammatik, Rhetorik, Poesie, Geschichte und Moralphilosophie also. Diese Aufzählung verweist eigentlich bereits darauf, daß insoweit das alte Trivium nicht nur gesprengt, sondern auch anders angelegt, begriffen wurde. Im Reich kamen als Besonderheit ferner Mathematik, Geographie, Astronomie (einschließlich Astrologie) als bevorzugte Disziplinen hinzu l8 , deren Wert nachmals unter anderem aus ihrer zentralen Funktion für jede Art kirchlicher Chronologie hergeleitet wurde. Gemäß diesem Neuansatz suchte man - in Fortführung italienischer Muster 19 die notwendige Einheit in einer Art methodischen Zugriffs. Ein topisches Verfahren, die Kunstlehre der Loei Communes, erstrebte eine entschieden offenere, variablere Logik - falls solch a-Iogische Definition einmal erlaubt ist. Grundsätzlich unterschieden vom logischen Ausgangspunkt scholastischen Denkens, suchte man mit rhetorischen Kategorien ein wissenschafts- und praxisgemäßeres Denkschema zu entwickeln, das durchgehend Grundlage des Wissenschaftskanons zu sein vermöchte zo . Inwieweit hier ockamistische Lehren Pate standen, also nicht humanistische - was neuerdings gern behauptet wird21 -, kann ich nicht ausführlicher erörtern. Nur scheint mir dies Argument allenfalls bedingt zutreffend. Indem die Vertreter der Loci-Methode humanistisch-absichtsvoll auf die ciceronianische Methode (was immer sie gewesen sein mag) zurückgriffen, Ciceros Eklektizismus ebenfalls sehr bewußt folgten und indem sie, einem jedwedem Nominalismus fremden Wertsystem folgend, ihre ars umsetzten, liegt eigentlich der Schluß nahe, daß hier zweierlei, Andersartiges am Werk war. 22 Die im Zeichen des Humanismus so vehement aufblühende Diskussion über die ratio dieendi, die methodus diseiplinarum, über den Unterschied von methodus 18 V gl. u. a. P. Joachimsen, Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung in Deutschland unter dem Einfluß des Humanismus, Leipzig 1910 (ND Aalen 1968); R. Kink, Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien 1854, hier Bd. 1, 214 ff.; J. Aschbach, Geschichte der Wiener Universität, Wien 1865,55 ff. 19 Sie kamen zuerst durch Rudolf Agricola in den Norden; vgl. hierzu wie auch zum folgenden P. Joachimsen, Loci communes, in: ders., Gesammelte Aufsätze; ferner Maurer, Melanchthon, insbesondere Bd. 2; zur Methodendiskussion in Italien u. a. E. Garin, ed., La disputa delle arti nell Quattrocento, Firenze 1947; A. Buck, Die "studia humanitatis" und ihre Methode, in: ders., Tradition, 133 ff.; ders., Die humanistische Polemik gegen die Naturwissenschaften, ebd., 150 ff.; W. Ong, Ramus, Cambridge/Mass. 1958, insbes. Book 2. 20 V gl. auch Risse, Logik, Bd. 1,14 ff. 21 Insbesondere von H. A. Oberman - aber auch von J. Engel; vgl. u. a. H. A. Oberman, The Shape ofLate Medieval Thought, in: ARG 64,1973, 13 ff.; ders., Das Werden der Reformation, Tübingen 1978. 22 Fraglos legt die gemeinsame Ablehnung jeder "Meta-Theorie", von ,,Meta-Wissenschaften", die beide verband - wie auch die neue Verantwortlichkeit des Menschen vor Gott - einen solchen Schluß nahe. Jedoch scheinen mir die Absichten, die Richtung bei beiden recht unterschiedlich.
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und ars und so fort verweist nicht allein darauf, daß hier zum ersten Mal Probleme aufgegriffen und erkannt wurden, die alsbald die jüngere Methodendiskussion bestimmen sollten. 23 Es verweist das auch auf eine weitere, bemerkenswerte und neue Gemeinsamkeit: eine allgemeine Wendung ins Pädagogische, wie das Paul Joachimsen nannte. 24 Das hatte seinerseits die verschiedenartigsten Folgen bzw. ging einher mit anderen genuin-humanistischen Forderungen und Vorstellungen, ja resultierte aus ihnen. Es können hier die allgemein bekannten Punkte: Einfachheit, Klarheit des Ausdrucks, besseres, gereinigtes Latein, eine andere Art des Lesens und Kommentierens, eine Rückkehr zu den Quellen genannt werden. Sie alle bezweckten größere Verständlichkeit, praktischere Anwendbarkeit und verkürzte Studienzeit. 25 Insoweit mochten sie vielfach ,.revolutionierend" wirken, richteten sie sich doch gegen das scholastisch-mönchische Studienideal eines pfründengesicherten Langzeitstudiums, einer sich selbst genügenden Standessprache und -kultur. Das neue Ideal der Gelehrsamkeit, Weisheit und Beredsamkeit verwies hingegen über seine den Menschen formende Funktion hinaus auf Öffentlichkeit, die Gemeinschaft. Eine neue Gesittung war ihr Ziel. Diese Gesittung gewann der Humanismus in neuer Aneignung der im historischen Abstand erfahrenen Antike, die normierend und formend zugleich - die Ideale vorgab und vermittelte. 26 Die bekannt hohe Wertschätzung, ja Überhöhung der Rhetorik oder Eloquenz ging nicht nur davon aus, daß im richtigen Ausdruck das Wahre, Zutreffende, sachlich Richtige, Sittliche allein faßbar, erkennbar werde, sich erschließe, sondern postulierte auch, daß res et verba bzw. litterarum peritia und rerum scientia untrennbarer, integraler Bestandteil jeden Erkenntnis- und damit auch Unterweisungsvorgangs zu sein habe. Melanchthon formulierte dies so: ,,Ich bemühe mich stets, Euch solche Schriftsteller vorzulegen, welche zugleich die Erkenntnis der Dinge mehren und die Rede bereichern. Denn diese bei den Dinge gehören zusammen, so daß eines nicht sein mag ohne das andere; es kann niemand gut reden ohne Kenntnisse, und die Erkenntnis ist lahm ohne das Licht 23 Sie nimmt freilich auch vielfach Anregungen von nichthumanistischen Traditionen -, nicht zuletzt die des Renaissance-Aristotelismus auf. Dennoch, Gallilei und Descartes verdanken auch dieser Auseinandersetzung des 15. und 16. Jahrhunderts entscheidende Beweismuster. 24 In diesem Zusammenhang vgl. auch die eindringliche Studie von J. Jsewijn, The Coming of Humanism to the Low Countries, in: Obennan I Brady, Hrsg., Itinerarium, 173 ff., bes.193f. 2S Vor der Ablehnung der scholastischen "Mönchsbarbarei" drückte sich hierin eine sozialwie wissenschaftsgeschichtlich außerordentlich bedeutsame Veränderung der allgemeinen Verhältnisse aus. Die zunehmende "Verwissenschaftlichung" des Lebens, die höhere Rationalität der italienischen Renaissance-Welt und alsbald die der ihr nacheifernden Staaten verlangten für öffentliche Tätigkeit zumindest Vorbildung, vielfach Ausbildung unabhängig von Standeszugehörigkeiten. Eine Verkürzung der - beliebig langen - Studienzeiten und eine Präzisierung der wichtigsten Studieninhalte (um es modem zu fonnulieren) waren insoweit unabweisbar. 26 Hier und zum folgenden verzichte ich auf jeweilige - gewiß überflüssige - Nachweise. Die genannten Arbeiten Joachimsens, Kristellers, Garins, Bucks führen leicht weiter.
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der Rede".27 Dieser notwendige Sachzusammenhang verwies seinerseits wiederum auf das Praktische, Nützliche, Pädagogische, hat vermehrt den Blick auf die Möglichkeit der Anwendung gerichtet, ergänzt also diese humanistische Grundhaltung. Im Verweis auf die Sprache als gemeinschaftsstiftenden Wahrheitsträger, in der Forderung ad fontes ließ sich im Reich gleichsam von seitwärts eine Verbindung zwischen Luther und dem Humanismus herstellen. Es ist hier nicht der Ort, auf dieses verschlungene, vielfach umstrittene und problematische Verhältnis einzugehen. Bedeutsam in unserem Zusammenhang erscheint eben diese Möglichkeit selbst als irrtümliche -, wie auch der Umstand, daß der neue Glaube gleicherweise intensiv auf die Notwendigkeit vermehrter (Aus-) Bildung verpflichtete. Luthers Ermahnungen ,,An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung" (1520) und "An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen" (1524) - um nur bekanntere zu nennen - enthielten neben weiteren dem Humanismus kompatiblen Aussagen auch z. B. die, daß ohne Sprachen "das Evangelium nicht wohl erhalten" werden könne. "Die Sprachen sind die Scheiden, darin dies Messer des Geistes steckt". Es verwundert daher also nicht, daß die bereits vorhandene Neigung, die Territorialstaatsbildung im Reich auch mit eigenen Schulen und Hochschulen zu fördern, weder durch die - somit weniger brotlosen - Humanisten noch die Reformatoren gehindert wurde. Die Vielzahl der vorhandenen wie auch noch hinzukommenden Universitäten28 wurde alsbald beispielhaft von Wittenberg aus geformt. Hier entstand unter Melanchthon die klassische Form einer Universität, die in ihrem humanistisch-theologischen Mischcharakter Altes und Neues auf insgesamt zukunftsträchtigen Fuß stellte. 29 In den verschiedenen Statutenredaktionen wird das freilich nur unvollkommen faßbar, zumindest weniger deutlich als in denen einer wenig jüngeren Hochschule, die sich dank ihres geistigen Vaters, eines der nächsten Schüler Melanchthons, mit gleicher Evidenz auf den Praeceptor Germaniae berufen kann. Da dieses Werk die in unserem Zusammenhang knappste und deutlichste Sprache spricht, eine Analyse des Melanchthonschen Lehrsystems, seiner Lehrbücher, der allgemeinen Wittenberger Lehrpraxis nicht nur zu umfangreich geraten müßte, sondern auch mannig27 Zit. n. F. Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts, Bd. I, Berlin 1960, 348. Das Zitat stammt aus dem Jahre 1526. 28 Zu den deutschen Universitäten vgl. jetzt auch: P. BaumgartIN. Hammerstein, Hrsg., Beiträge zu Problemen deutscher Universitätsgründungen der frühen Neuzeit (Wolfenbütteler Forschungen, 4), Nendeln/Liechtenstein 1978. 29 Außer Maurer, Melanchthon, vgl. auch L. W. Spitz, The Religious Renaissance of the German Humanists. Cambridge/Mass. 1963, sowie ders., Course. Zur humanistischen Frühzeit Wittenbergs vgl. M. Großmann, Humanismus in Wittenberg. 1486-1517, in: LutherJahrbuch 39, 1972, 11 ff. Dort auch die neueste Literatur zu Wittenberg; ferner H. Scheible, in: Baumgart I Hammerstein. Hrsg., Beiträge.
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fache inhaltliche Schwierigkeiten böte, darf ich - auch aus Reverenz vor dem gastgebenden Territorium - diese zudem erfreulich beredten, vom übrigen abweichenden Helmstedter Statuten kurz analysieren. 3o Sie stammen aus den 70er Jahren des 16. Jahrhunderts, aus einer Zeit also, in der das Wittenberger Muster längst deutlich und arbeitsfähig war. Melanchthons Statuten für die Wittenberger Artisten aus dem Jahre 1545 gaben gleichsam die allgemeine Marschroute an 31, konnten als Vergleichspunkt benutzt werden. David Chytraeus konnte in Kenntnis dieser Vorbilder - und auf seine Rostocker Erfahrungen gestützt - dies humanistisch-reformatorische Dokument im Sinne seines Mentors erstellen und mit gleichgesinnten Mitautoren den Wissenschaften in Helmstedt eine keineswegs mehr "scholastische" Aufgabe zuweisen. Zunächst erscheint es da auffällig, wie nachdrücklich immer wieder auf die Gebote der Praxis verwiesen wurde, gerade auch hinsichtlich der Medizin und Theologie. 32 Es wurde ferner allenthalben der Zweck eines Studiums darin beschrieben, zu versittlichen. Die Aufgabe hingegen bestehe in der Wirkung, die das Studium auf die Gemeinschaft habe, die es rur das Wohl des Gemeinwesens, der res publica erbringe. 33 Dementsprechend müßten alle im Dienste der Gemeinschaft Stehenden hinfort insoweit auch ausgebildet sein. 34 Gewiß blieb das Ziel all dessen bei insgesamt humanistischen Legitimationsmustern ein allenfalls christlich-humanistisches. 35 Es erinnert in vielem an erasmianische Vorstellungen! Die vorwaltende ratio discendi war einheitlich die der Loci communes. Die Theologie wurde auf Kirchengeschichte, auf kirchliche Beredsamkeit (Homiletik), Geographie und den humanistischen Sprachenkatalog festgelegt 36 ; die Jurisprudenz auf antike Moralphilosophie - die Ciceronianisehe aequitas-Lehre -, eine klare, kurze Sprache, auf Mathäus Wesenbecks Methode -, eine Mischung aus mos Gallicus und mos Italicus - und ebenfalls auf die Praxis. 37 Den Artisten schließlich, der unmittelbar ,,humanistischen" Fakultät, wurden all die bekannten und hier 30 Sie sind publiziert von P. Baumgan und E. R. Pitz als Heft 15 der Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung, Göttingen 1963. 31 Dieses Statutenwerk findet sich bei W. Friedensburg, Hrsg., Urkundenbuch der Universität Wittenberg, Bd. I, Magdeburg 1926. Melanchthon sah hier zehn artistische Professuren vor, wovon weit über die Hälfte humanistische Aufgaben wahrnehmen soHte. Diese schlicht zu teuren - Absichten ließen sich natürlich auf so schmaler territorialstaatlicher Basis nicht verwirklichen. Vgl. auch W. Friedensburg, Geschichte der Universität Wittenberg, Halle 1917. 32 Vgl. die Paragraphen 45 und 135. 33 Vgl. z. B. § 187. 34 U.a. § 184 f. 35 Vgl. die eingehende Analyse Baumgans in der Einleitung zu den Statuten. 36 Vgl. § 46 ff. 37 § 89 ff. Zur humanistischen Jurisprudenz vgl. u. a. F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1967; sowie auch H. Coing, Hrsg., Handbuch der QueHen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte Bd. 11, I, München 1977.
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genannten Aufgaben verordnet, die sich von daher ableiten 38 , ganz so, wie Melanchthon es 1545 formuliert hatte: "Studia artium necesse esse vitae et ecclesiae,,?9 Die Helmstedter Statuten meinten: "eum emim duae sint praecipuae et propriae hominis dotes, quibus caeteris animalibus longe excellit, ratio et oratio, colenda sunt literarum studia, ut rationem seu mentem sapientia humana cognitione Dei naturae rerum et virtute expoliamus et orationis aliorum dissertorum intelligendae ... ".40 Zu diesem Zweck waren die drei Sprachen sowie Dialektik, Rhetorik, Arithmetik, Geographie, Astronomie, Ethik und philosophia moralis. Geschichte, Physik, Poetik und Musik vorgeschrieben, die in didaktisch faßbarer Abfolge und mit Mitteln der Loci communes das Ziel aller Studien erreichen ließen: "Sapiens et eloquens pi etas", wie es im Paragraph 184 hieß. Die Bücher des Aristoteles waren zwar nicht ausgeschlossen. Es wurden aber Lehrbücher ,,humanistischer" Autoren deutlich bevorzugt, falls es solche gab, nicht zuletzt natürlich die Melanchthons. Diese Beispiele wurden allenthalben von den deutschen Universitäten nachzuahmen gesucht, mit höchst unterschiedlichem Erfolg natürlich und gewiß auch inhaltlich und qualitativ recht unterschiedlich, worüber wir aber noch zu wenig wissen. Insgesamt hatten die einzelnen Disziplinen hierdurch mehr Veränderndes erfahren als nur in bezug auf Stil, eine sozusagen vage zu umschreibende Grundhaltung. Daß andererseits sich nicht alle Hoffnungen der deutschen Humanistengeneration um 150011520 erfüllt hatten, dürfte gleichermaßen deutlich sein. Gleichwohl bleibt festzuhalten, daß ein veränderter methodisch-didaktischer Zugang zu den Wissenschaften eingetreten war und daß - um erneut recht allgemein zu bleiben diejenigen Momente der Studien vermehrtes Gewicht erhalten hatten, die bildende, erziehende, formende, auf Gemeinschaft gerichtete, das Gemeinwesen fördernde Funktionen wahrnehmen konnten. Das scheint mir fraglos ein Erbteil des rhetorischen Ideals italienischer Humanisten: Öffentlichkeit. Sie wollten und bedurften nicht nur einer Öffentlichkeit, sie riefen sie auch mit hervor. Nicht von ungefähr entstand damals diese erste Öffentlichkeit Europas auf dem Boden der italienischen Renaissance und wurde von den Humanisten als der ihnen angemessene Rahmen akzeptiert und legitimiert. 41 Mit ihrem wachen Sprachsinn, überhaupt mit Sprache - und das waren immer auch Studien - als gemeinschaftsfördernder, Kultur ermöglichender Kunst zielten sie auf diese rational-rechenhafte, auf Konvention aufruhende Öffentlichkeit. Garin bezeichnete dieses Phänomen treffend als § 182 ff. In den Wittenberger Statuten, vgl. Friedensburg, Urkundenbuch, 266. 40 § 185. 41 Vgl. hierzu die ausführlicheren Analysen bei P. Joachimsen, insbes. in: Renaissance, Humanismus, Reformation, sowie ders., Aus der Entwicklung des italienischen Humanismus, in: Gesammelte Aufsätze. Zum allgemeinen Umkreis dieser Problematik J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied/Berlin 1962 u.ä., dessen Schlußfolgerung ich freilich nur bedingt zu folgen vermag. 38
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"civile conversazione", als von Sprache getragene Gemeinschaft. "Sie allein", hatte Poliziano gesagt, ,.hat die verstreut lebenden Menschen zuerst innerhalb der Mauem einer Stadt zusammengeführt, sie durch Gesetze, Sitte und überhaupt durch eine menschliche und bürgerliche Erziehung miteinander verbunden".42 Im Reich war eben nur die Frage, wo diese Öffentlichkeit, die es so wie in Italien nicht gab, gefunden werden konnte, wie sie sich Raum schaffen konnte, welchem Ideal sie sich zu verpflichten imstande sein könnte. Die Antwort darf ich zunächst zurückstellen und mich den Verhältnissen in England zuwenden. Auch hier gingen, wie allgemein bekannt, analoge Auswirkungen vom Humanismus auf die Universitäten aus, und auch hier sind letztlich die tatsächlichen Verhältnisse fast ebenso wenig ergründet wie im Reich. 43 Die Statuten und ihre neuen Redaktionen im Zeichen der Reform lassen noch weniger als in Deutschland erkennen - wo immerhin die Ausnahmen Straßburg und Helmstedt vorhanden sind -, inwieweit der Humanismus umgestaltend auf die Wissenschaftsauffassung wirkte.44 Nach der allgemeinen Meinung öffneten sich unter der Herrschaft der Tudor-Könige, insbesondere unter Heinrich VIII., die beiden Landesuniversitäten dem Humanismus. 45 Zur gleichen Zeit verlagerte sich der äußere Lebensrahmen der Universitäten von den mittelalterlichen Halls zu den mächtig aufblühenden Colleges, die hinfort für Lehre und Leben der Universitäten von überragender Bedeutung sein sollten. 46 Der Vorgang selbst kann in gewisser Analogie zu der allgemeinen Tendenz der Tudor-Herrschaft gesetzt werden, er erscheint als Teil der Zentralisierungsbemühungen.47 Vermittels der individuellen, kontrollie42 Zit. nach Buck, Tradition, 162; vgl. ebd. auch das Zitat L. Vallas, das diesen Tatbestand seinerseits bestätigt und ihn auch auf die Wissenschaften ausdehnt. 43 Zum allgemeinen Problemumkreis R. Weiss, Humanism in England, Oxford 1957; ferner J. Simon, Education and Society in Tudor England, London 1966; W. A. Pantin, The Conception of the Universities in England in the Period of the Renaissance, in: Les universites Europeenes du XIVe au XVIIIe Siecle, Genf 1967; W. H. Woodward, Studies in Education during the Age of the Renaissance, Carnbridge 1906 (insbes. Kap. XIII); J. B. Trapp, Education in the Renaissance, in: Background to the English Renaissance, London 1974,67 ff.; K. Charlton, Education in Renaissance England, London 1965. 44 Von den vielen neuen Statuten der Colleges erwähnen nur die wenigsten etwas über Lehrinhalte und -vorstellungen. Wenn überhaupt, so erfolgt dieses zumeist im Zusammenhang allgemeiner Bestimmungen "de lectoribus publicis" oder ähnlich; da finden sich dann bescheidene Hinweise auf den notwendigen Vortrag der neuen Materien. Für Oxford vgl. z. B. Statutes of the Colleges of Oxford, London 1953, in Bd. 2, Statutes of Corpus Christi College, Cap. 21; Cardinal College, 69 ff.; Bd. 3, St. John's College, Cap. 24; Pembroke College 14 f. - In Cambridge findet sich der ebenfalls nicht ausführlichere Hinweis in den neuen Statuten, die alten seien ,,antiquitata, sernibarbara, obscura" etc. Vgl. Peacock, Observations on the Statutes of the University of Cambridge, London 1841. 4~ Vgl. auch J. M. Aetscher, The Teaching and Study of Arts at Qxford c. 1400 - c. 1520, Thesis, 1961; ders., The Teaching of Arts at Oxford, in: Pedagogica Historica 7, I, Gent 1967,417ff. 46 Vgl. z. B. W. A. Pantin, sowie J. McConica, Scholars and Commoners in Renaissance Oxford, in: L. Stone, Hrsg., The University in Society, Bd. I, 151 ff.
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renden Tatigkeit von Tutoren konnten die neuen Erziehungsideale vorweg dem artistischen Fächerkanon humanistische Akzente verleihen. ,Jntellectual formation" anstelle einer Fachausbildung wurde alsbald das Ziel. 48 Infolge wohlwollender und tatkräftiger Förderung seitens des Hofs erschien dies humanistische Ideal als "court humanism", nicht als "civic humanism", von dem er aber seine politische Zielsetzung abgeleitet hatte. 49 Ohne sich an den Universitäten statutarisch und programmatisch niederzuschlagen, drängte es diese emphatische Bildungseuphorie zur Wirkung nach außen, in die englische Öffentlichkeit, in die Gesellschaft. Diese ihrerseits zog allenthalben und in großer Zahl in die äußerlich eigentlich traditionell-kirchlichen Anstalten ein50, um mittels gebildeten Umgangs den gesellschaftlich notwendigen Schliff zu bekommen. Der Gentleman entsprach insoweit durchaus seinem italienischen Vorbild. Die hohe Besucherzahl der Universitätsstädte hatte ihrerseits wiederum Folgen, die den früheren italienischen vergleichbar sind: über das neue Gesittungsideal entwickelte sich der englische Landadel, die führende Kaufmannsschicht Londons, zu einer einheitlicheren, einer "modemen" Gesellschaft. Die Verbreitung einer gemeinenglischen Sprache ging damit einher.51 Verwandte Vorstellungen bestimmten alsbald das Weltbild des Königreichs, das dem bereits früher vom Humanismus erfaBten und beeinflußten Schottland sich annäherte. Nicht zuletzt auch von dieser Seite aus war somit die Union von 1604 mit vorbereitet. Gewiß, wie schon im Reich, so trat auch in England die Reformation als weiteres, neues Moment neben den Humanismus. Aufgrund jedoch der anderen theologisch-politischen Ausrichtung sowie unterschiedlicher Universitätsverhältnisse die Juristen, der führende Universitäts-Laienstand, schied damals aus den Hochschulen aus - wirkte sich dieser Umstand auch anders auf die Lehranweisungen und Studienauffassungen aus. 52 In gewisser Weise blieben rein äußerlich die Universitäten "scholastischer" als die deutschen, während sich daneben zugleich ein entschieden "humanistischeres" Erziehungsideal und -programm über die Colleges auszubreiten vermochte. Insoweit entstand in England eine laizistische Kultur, eine 41 Zum allgemeinen Hintergrund u. a. A. G. Dickens, The English Refonnation, London 1964; G. R. Elton, Refonn and Refonnation, London 1977; für den engeren universitätsgeschichtlichen Bereich: H. Keamey, Scholars and Gentlemen, London 1970; M. H. Curtis, Oxford and Cambridge in Transition, Oxford 1958. 48 Hierzu auch J. H. Hexter, The Education of the Aristocracy in the Renaissance, in: ders., Reappraisals in History, London 1962,45 ff. 49 Hierin unterschied sich der englische Humanismus entschieden von dem auf dem Boden des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und berührte sich insoweit mit dem italienischen des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Vgl. hierzu auch D. Hay, England and the Humanities in the 15th Century, in: Obennan I Brady, Hrsg., Itinerarium, 305 ff. 50 Die - quantitativ - beste Übersicht jetzt bei L. Stone, The Size and Composition of the Oxford Student Body 1580-1909, in: ders., Hrsg., The University in Society, Bd. 1,3 ff. 51 Vgl. V. Morgan, Cambridge University and "The Country" 1560-1640, in: L. Stone, Hrsg., The University in Society, Bd. 1,183 ff. 52 Aus der bereits genannten Literatur vgl. insbes. Chariton und Keamey, Scholars.
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höfische Gesellschaft, eine Öffentlichkeit, die sich ihr Eigenrecht neben und alsbald vor dem Hof zu erkämpfen suchte. Die Gentlemen des Unterhauses - von ihren ständischen Vorfahren, den Knights, nicht zuletzt durch Erziehung weit unterschieden - drängten in die politische Mitverantwortung. 53 Nun, das scheint wenig mit unserem Thema und den zuvor am Beispiel des Reichs gezeigten Problemen zu tun zu haben. Indem ich jedoch hierauf verweise, scheinen sich mir nicht zuletzt darin einige wichtige Gesichtspunkte für unsere Fragestellung erkennen zu geben, denen ich abschließend thesenhaft einen Abschnitt widme. Indem die Humanisten es mittels der studia humanitatis intendierten, den individuellen Menschen zu formen, ihn erziehend zu bilden, aber nie nur für sich, sondern für eine Gemeinschaft, eine Öffentlichkeit, und indem sie eine mundane Gesellschaft - scheinbar analog zu antiken Vorbildern - vor Augen hatten, mußten sie zwangsläufig auf eine solche Öffentlichkeit hin gerichtet sein, sie erstreben, sie gegebenenfalls gar aufzubauen, aber immer sie auch ihrerseits zu formen suchen. Im Rahmen der laizistischen Renaissancekultur Italiens, im Umkreis dieser ersten modemen, a-feudalen italienischen Staatswesen ließ sich das recht leicht bewerkstelligen. Hier bestanden alsbald zudem neben und vor den Universitäten öffentliche und gebildete Schichten, politisch führende häufig, die diese Erziehungsideale verwirklicht hatten. 54 Die Universitäten waren für die Umsetzung der Leitbilder daher von eher beigeordneter Wichtigkeit. 55 Anders nun nördlich der Alpen, im Reich. Dieses eigentlich mittelalterlich-universalistische, feudale Staatswesen kannte nicht nur keine Öffentlichkeit, keine Gesellschaft im italienischen Sinne, es hatte nicht einmal einen Mittelpunkt, ein höfisches Zentrum. Die letztlich vorübergehende Stadtkultur des 15. und frühen 16. Jahrhunderts ändert an dieser, die bleibende Wirkung anvisierenden Analyse nicht viel. 56 Die dort erfolgte Rezeption humanistischer Ideale hat sich gegenüber ~3 S. T. Bindoff, Tudor England, Harmonswonh 1950; A. L. Powse, The England of Elisabeth, London 1950; C. Russei, The Crisis of Parliaments, English History 1509 - 1660, London 1971, sowie d. oben genannten Arbeiten. ~ Nicht zufälligerweise war diesem Renaissance-Italien denn auch die ,.Entdeckung" der Politik zu danken. Aus der zahlreichen Literatur nenne ich nur R. v. Albertini, Das florentinische Staatsbewußtsein im Übergang von der Republik zum Prinzipat, Bem 1955; F. Chabod, Machiavelli and the Renaissance, Cambridge/Mass. 1958; F. Gilbert, Bemado Rucellai and the Orti Oricellari, jetzt in: ders., History. Choice and Commitment, Cambridge/Mass. 1977, 215 f. ~~ Insoweit wird es immer auch ein schiefes Bild ergeben, wenn, wie dies verständlicherweise häufig im Umkreis der dem Humanismus gewidmeten Arbeiten geschieht, von der Situation italienischer Universitäten auf das generelle Verhältnis Humanismus - Universität geschlossen wird. ~ Es ist hier nicht der Ort, auf die zahlreiche jüngere Literatur zur Stadtgeschichte des Reichs einzugehen. Welch hohe Bedeutung die Städte für die Reformation haben konnten, hat - freilich nicht unwidersprochen - A. G. Dickens, The German Nation and Martin Luther, London 1974, dargestellt. Analoge Schlüsse auf den Humanismus liegen hier zutage. - Allgemein zur Stadt vgl. die Literatur bei E. Maschke, Deutsche Städte am Ausgang des Mittel-
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dem Vordringen und Ausgreifen des Territorialstaats schließlich auch nicht zu behaupten vermocht. Ein eher kriegerischer, ein wenig gebildeter Adel - die Territorialherren - standen vielfach gleichberechtigt neben dem Kaiser einer vielfältig abgestuften und statischen Untertanenschicht vor, zusammen mit weiteren buntgestuften Adelsgruppen sowie der Reichskirche. Niemand Geringerer als Enea Silvio Piccolomini hat das seinerzeit bereits treffend beschrieben, indem er von den Deutschen sagte: "magis natura quam opinione vivunt". 57 Die damals bereits handfeste Tendenz zum Ausbau territorialstaatlicher Macht hatte sich inzwischen unter anderem auch in einer Reihe von Universitätsgründungen manifestiert. Weitere folgten alsbald. 58 Sie waren nun - insbesondere nach der Reformation - der gegebene, eigentlich der einzige Ort, an dem eine Öffentlichkeit vorhanden war, an dem Gesittung, Bildung, Erziehung möglich waren. 59 Und so war es gleichsam unvermeidlich, daß der Humanismus in die Universitäten drängte, "extra academias non esse vitam", wie es nachweislich Lotichius um 1600 festgestellt hat, wie es aber auch zuvor bereits Rudolf Agricola oder Melanchthon, denen gern die gleiche Äußerung zugeschrieben wird, folgerichtig gesagt haben könnten. Universitäten und fürstliche Räte - an diesen Universitäten ausgebildet, aus ihnen hervorgegangen und ihnen verbunden - versuchten, eine angemessene, Italien vergleichbare Bildungskultur mit universitärer Hilfe zu entwickeln. Die tief einschneidenden reformatorischen Unruhen veränderten diese Zielrichtung dann freilich ein wenig: es kam zu einer christlich-humanistischen Mischkultur. Sie behielt jedoch wichtige Teile ihres Ursprungs. Da sie freilich - entsprechend dem unpolitischen Charakter der Reichsterritorien - ihrerseits fern jeder politischen Öffentlichkeit verblieb, konnte sich in der Folgezeit kein Ideal einer Bildungsaristokratie, eines auch politisch tätigen Standes, einer an antiken Mustern ausgerichteten politischen Kultur, einer Öffentlichkeit entwickeln. Der christliche Hausvater, humanistisch erzogen, ein humanistisches Christentum - sapiens et eloquens pietas -, Versittlichung statt Gesittung mußten die Folge sein. 60 Anders wiederum England - auch Frankreich, das ich hier jedoch außer acht lassen muß. Nur ganz kurz sei angemerkt, daß sich in Frankreich analog zur Stärkung der Krongewalt eine höfisch-öffentliche Bildungsgesellschaft als "monde" herausalters, in: W. Rausch, Hrsg., Die Stadt am Ausgang des Mittelalters, Linz/Donau 1974, 1 Cf.; ferner E. Maschkel J. Sydow, Hrsg., Stadt und Universität im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Sigmaringen 1977, eine Vortragssammlung, die freilich auf die hier interessierenden Fragen keinerlei Antworten gibt. 57 Im Pentalogus, hier zit. n. P. Joachimsen, Gesammelte Aufsätze, 342. 58 Die beste Übersicht bei O. Scheel, Die deutschen Universitäten von ihren Anfangen bis zur Gegenwart, in: Das akademische Deutschland, Bd. 1, Berlin 1930, 1 Cf., ferner F. Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts, sowie Baumgart/Hammerstein, Hrsg., Beiträge. 59 Vgl. hierzu auch J. Bruckner, Staatswissenschaft, Cameralismus und Naturrecht, München 1977, 138 U.Ö. 60 So vergleichbar etwa auch P. Joachimsen, J. Ijsewijn, P. Baumgart.
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bildete. 61 Es fand das dort im Abstieg der Universitäten und - im Rahmen institutionalisierter Bildung - im Aufstieg der Akademien sein Korrelat. Aber zurück nach England: Die Tudor-Monarchie, die in nahezu revolutionärem Zugriff das Königreich aus dem Niedergang der Rosenkriege emporführte, stützte sich hierbei energisch auf die Schicht derjenigen, die im "house of commons" saßen. 62 Beide bedurften sie nicht nur einer tragfähigen Legitimation ihrer neuen, auf ein einheitliches, gestärktes Königreich zielenden Politik. Sie mußten alsbald auch die Verluste, die die Refonnation für Erziehung und staatliche Verwaltung gebracht hatte, auszugleichen suchen. Das humanistische Ideal eines gebildeten - auch politischen - Standes, einer "civile conversazione", eines königlichen Bürgers, dem doctrina, sapientia, scientia moralis eignete, konnte hier wertvolle Anregung bieten. Der zu fonnende, der gebildete, nicht vorweg der ausgebildete Mensch erschien dieser Schicht so wichtig, daß es dem Gentleman vorübergehend unerläßlich war, eine der beiden Universitätstädte aufzusuchen. Das englische Universitätssystem (im Übergang von den Halls zu den Colleges, im Suchen nach einem neuen theologischen Selbstverständnis) konnte davon äußerlich vergleichsweise unberührt verharren. Es war ja nicht vorab eine wissenschaftliche Ausbildung, die man von den beiden Landerziehungsstätten erwartete - die Juristen waren ohnedies bereits in den Inns of court -, sondern eine allgemeine Bildung, Gesittung, eine "humanistische Erziehung" in politisch-sozialer Absicht. Die fortschreitende Differenzierung territorialer Traditionen, des einzelstaatlichen Eigenlebens hat - so wäre zu resümieren - unterschiedliche Reaktionen und Antworten auf das gesamteuropäische Phänomen des Humanismus auch im Blick auf die Universitäten zur Folge gehabt. Allgemein und allenthalben zutreffend ist dabei jedoch, daß jeweils bedeutsame und nachhaltige Auswirkungen vom Vordringen der studia humanitatis auch in den Universitäten ausgegangen sind. Unbeschadet aufzeigbarer Traditionszusammenhänge haben die veränderte Erfahrung der Antike - und / oder die der eigenen Vorzeit -, haben der andere Stil, die veränderte Haltung ein neues Kultur- und Wissenschaftsideal im Gefolge gehabt.
61 Vgl. u. a. K. Vossler, Die Bedeutung der spanischen Kultur für Europa, jetzt in: ders., Die romanische Welt. Gesammelte Aufsätze, München 1965,207 ff., E. Auerbach, La cour et la ville, jetzt in: Vier Untersuchungen zur Geschichte der französischen Bildung, Bem 1951, 12 ff.; C. Hinrichs, Staat und Gesellschaft im Barockzeitalter, in: ders., Preußen als historisches Problem, Berlin 1964, 205 ff.; Brückner, Staatswissenschaft, 98. 62 Außer der bereits genannten Literatur vgl. auch J. E. Neale, Elizabeth I. and her Parliaments 1559-1581, London 1953; J. H. Hexter, Reappraisals in History, Bd. 2,5,6,3. Aufl.
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Universitäten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation als Ort der Philosophie des Barock* Mehr als der Versuch eines Überblicks will und kann das Folgende nicht sein. Es fehlen schlicht Untersuchungen, die unsere recht lückenhaften, z.T. gar mangelhaften Kenntnisse der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte des 17. Jahrhunderts auffüllten oder verdichteten, denn von abrunden wird wohl auf geraume Zeit nicht gesprochen werden können. Warum das so ist, wird die folgende Darstellung in Teilen zum mindesten zeigen können. Da andererseits jedoch der berechtigte Wunsch besteht, auch etwas über die realen Voraussetzungen philosophischer Anstrengungen zur Zeit des ,,Barock" zu erfahren, werde ich mich bemühen, das derzeit Bekannte hier vorzuführen. Bevor ich freilich zur Sache selbst etwas sage, gestatten Sie mir einige Vorüberlegungen eines Historikers - ein wenig zufällige vielleicht - zum Gegenstand oder besser zur thematischen Fixierung und Abgrenzung. Gewiß brauche ich hier nicht umständlich über die Problematik solch begrifflicher Eingrenzungen zu sprechen, in unserem Fall also von denen des Barock und seiner Zuordnung zu denen des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Gleichwohl wird es nützlich sein, einige allgemeinere historische Orientierungspunkte vorab anzugeben, die dann meine unmittelbar sachbezogenen Aussagen besser gewichten oder auch relativieren lassen. Der ursprünglich kunsthistorische, alsbald allgemein auf ästhetische Phänomene angewandte Begriff des Barock bietet dem Historiker mancherlei Schwierigkeiten, obwohl er mittlerweile immer weiter verbreitet und vergleichsweise wenig umstritten scheint - zumindest in vielen geisteswissenschaftlichen Disziplinen. 1 Statt Sie jedoch mit allgemeinen Überlegungen zu dieser Problematik zu langweilen, erscheint es mir sinnvoller, einige bezeichnende, im Zusammenhang meiner Thematik angebotene zeitliche Zuordnungen vorzuführen, das zu tun, was dem Historiker unabdingbare Grundposition zu sein hat. Erstveröffentlichung in: Studia Leibnitiana 13, Franz Steiner Verlag, Wiesbaden 1981, 242-266. * Beitrag zum Arbeitsgespräch ,,Philosophie des Barock im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation", das im März 1981 in der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel stattfand und den ich mit weiterführenden Anmerkungen versehen habe. I Hierzu unter anderem R. Stamm, Hrsg., Die Kunstformen des Barockzeitalters, Bern 1956, insbesondere den Beitrag von H. lintelnot, Zur Gewinnung unserer Barockbegriffe; ferner E. Hubala, Die Kunst des 17. Jahrhunderts (Propyläen Kunstgeschichte, 9), Berlin 1970; ders., Barock und Rokoko, Stuttgart 1971, insbesondere die Einleitung.
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Geht man von Gesamtdarstellungen einzelner Universitäten aus, so fallen durchaus unterschiedliche Einteilungen auf. Prand in seiner Darstellung Ingolstadts - einer der wichtigsten katholischen Universitäten des damaligen Reichs - untergliedert in die Zeit von 1588 bis 1651 und in die von 1651 bis 1715. Für Würzburg nimmt Wegeie eine Einteilung in die Jahre 1607 bis 1631 sowie 1634 bis1731 vor, wobei hier der äußere Einbruch des Dreißigjährigen Krieges naturgemäß eine wichtige Zäsur darstellt. Für Wien kann nach Rudolf Kink eine Zeitspanne von 1622 bis hin in die frühen Jahre Maria Theresias, in die Reformzeit ab 1745, als eine in sich geschlossene Zeiteinheit gelten. 2 All das bezieht sich immer - um dies in Parenthese anzumerken - auf institutionengeschichtliche wie auch wissenschaftsimmanente Beurteilungsgrundsätze! Im protestantisch-norddeutschen Raum finden wir z. T. andere, z. T. vergleichbare Einteilungen. Auf Grund ihrer im 17. Jahrhundert geographisch günstigen Position, ihrer politischen Randlage haben Rostock und Königsberg beispielsweise eine Art Sonderstellung. Ab 1620 bis hin etwa zu 1650 haben sie eine bevorzugte Existenz, schienen sie blühend und viel besucht. Danach verharrten beide Universitäten aber - so die ostdeutsche Festschrift von 1970 und Götz von SeIle - bis tief ins 19. Jahrhundert auf einem eher kläglichen Status quo. Für Leipzig wird gerne eine Zeitspanne vom späten 16. Jahrhundert bis ins frühe 18. Jahrhundert als Einheit zusammengefaßt, wobei der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts besonderes Gewicht im Sinne konservativer Wissenschaftsauffassung zuerkannt wird. Die Geschichte der Universität Jena wiederum wird im 17. Jahrhundert unterteilt - hier insbesondere gemäß inhaltlichen Gesichtspunkten - in eine erste und in eine zweite Hälfte, die etwa exakt die beiden Jahrhunderthälften meinen. Für die süddeutsch-protestantische Universität Tübingen ist die "erste Blütezeit bis zur Mitte des Dreißigjährigen Krieges" eine Einheit, der sich dann "der Dreißigjährige Krieg und seine Folgen", die tief ins 18. Jahrhundert hineinführen, anschließen? Die nach wie vor unersetzliche klassische Gesamtdarstellung des gelehrten Unterrichts von Friedrich Paulsen - um Sie nicht mit weiteren Einzeluniversitäten zu ermüden - sieht eine Abgrenzung nach folgendem Schema vor: Die Begründung des protestantischen und katholischen Gelehrtenschulwesens in Reformation und Gegenreformation 1520 bis 1600 (1648) und: Das Zeitalter der französisch-höfischen Bildung 1600 (1648) bis 1740. 2 K. v. Prantl, Geschichte der Ludwig-Maximilian-Universität in Ingolstadt, Landshut, München, 2 Bde., München 1872 (ND Aalen 1968); F. X. v. Wegeie, Geschichte der Universität Würzburg, 2 Bde., Würzburg 1882 (ND Aalen 1969); R. Kink, Geschichte der Kaiserlichen Universität Wien, 2 Bde., Wien 1854 (ND Frankfurt a. Main 1969). 3 Festschrift zur 550-Jahr-Feier 1419-1969, Berlin (Ost) o. J. (1970); P. Kretschmann, Universität Rostock, Köln/Wien 1969; G. von Seile, Geschichte der Albertus-Universität zu Königsberg in Preußen, Würzburg 1965; Festschrift zur Feier des 500-jährigen Bestehens der Universität Leipzig, 4 Bde., Leipzig 1909; Geschichte der Universität Jena, 2 Bde., Jena 1958; H. M. Decker-Hauff /W. Setzler, Die Universität Tübingen von 1477 -1977 in Bildern und Dokumenten, Tübingen 1977.
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Heubaum beginnt überhaupt erst die Geschichte des deutschen Bildungswesens in der Mitte des 17. Jahrhunderts bzw. seit der Mitte des 17. Jahrhunderts. Es ist das die ältere, seit der Aufklärung und der Philosophiegeschichtsschreibung des deutschen Idealismus immer wieder hervorgehobene Einteilung, die mit dem Cartesianismus - wenn ich in solch allgemeiner Weise einmal die Neuerungen einer vielfach ausgefächerten, mundanen Ableitungsschemata folgenden Welt- und Wissenschaftssicht bezeichnen darf -, die also mit dem Vordringen des Cartesianismus den entscheidenden Fixpunkt erkennen zu müssen meint, zumeist übrigens ineinsgesetzt mit den Jahrzehnten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Nicht zuletzt Dilthey hat dieser Auffassung bemerkenswerten Nachhalt verliehen. Aber das brauche ich Ihnen nicht vorzuführen, genauso wenig wie den Tatbestand, daß dagegen u. a. Emil Weber, Peter Petersen, Karl Eschweiler, Max Wundt eine modifizierte, das 17. Jahrhundert wiederum mehr als Einheit verstehende Phase der Entwicklung setzten. Erwähnenswert scheint es allenfalls noch, daß die Akten des internationalen Kolloquiums zur 600-Jahr-Feier der Universität Krakau, die das Thema: "Les Universites Europeennes du XIV' au Siecle" zum Gegenstand hatten, das 17. Jahrhundert mehr oder weniger ganz überspringen. Renaissance, Humanismus, Reformation auf der einen Seite und die Aufklärung des 18. Jahrhunderts auf der anderen sind da die Markierung. 4
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Der Vorstellung einer Einheit des 17. Jahrhunderts haben sich vorab in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die sogenannten "Barockforscher" - Germanisten vor allem - angeschlossen. Da ist es nach zuvor ebenfalls "schwankenden" Zeitangaben klar, daß Barock "als eine Übereinkunftsbezeichnung" zu gelten habe, "die auf einigermaßen ungenaue Weise das 17. Jahrhundert meint", wie Albrecht Schöne formulierte. 5 Auch für Conrad Wiedemann und Wilfried Bamer ist das selbstverständlich, um zwei weitere wichtige Zeugen anzuführen, Germanisten allemal und nicht zufälligerweise. 6 Aber nun zu einem weiteren Punkt: Das Heilige Römische Reich deutscher Nation ist nicht nur ein sehr merkwürdiges Gebilde in sich und eine gewisse Sonder4 F. Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts, 2 Bde., Leipzig 1919 (Berlin 1960); A. Heubaum, Geschichte des deutschen Bildungswesens, Berlin 1905 (ND Aalen 1973); B. Weber, Die philosophische Scholastik des deutschen Protestantismus im Zeitalter der Orthodoxie, Leipzig 1907; P. Petersen, Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschand, Leipzig 1921 (ND Stuttgart 1964); K. Eschweiler, Die Philosophie der spanischen Spätscholastik auf den deutschen Universitäten des 17. Jahrhunderts, Münster 1928; M. Wundt, Die deutsche Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1939; Les Universites Europeennes ... , Genf 1967. S A. Schöne, Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock, München 1964, VIII. 6 C. Wiedemann, Barockdichtung in Deutschland, in: K. v. See, Hrsg., Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 9/10, hrsg. von A. Buck, Frankfurt a. Main 1972, 177 Cf.; W. Barner, Barock - Rhetorik, Tübingen 1970. Barner, dessen Untersuchung auch in unserem Zusammenhang sehr ertragreich ist, kritisierte noch nachhaltig die unsachgemäße Unterteilung des Jahrhunderts durch Heubaum! (Vgl. 345). Vgl. insgesamt ferner: R. Alewyn, Hrsg., Deutsche Barockforschung (Neue wissenschaftliche Bibliothek, 7), KölnIBerIin 1965.
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entwicklung innerhalb Europas. Es hat gleichwohl auch Teil an übergreifenden europäischen Entwicklungen. Soweit sie - im weitesten Sinne - ästhetisch, ideell damals zu begreifen sind, mögen sie, unter dem Begriff Barock erfaßt, als dem 17. Jahrhundert eigentümlich verstanden werden. Politisch freilich ergibt dies Schema keinen Sinn. Alle bisherigen Versuche einer ,.Barockisierung" haben denn auch nicht weitergeführt oder anders gewendet: sie sind nicht konsensfähig geworden. Dem Historiker bietet sich das 17. Jahrhundert nämlich keineswegs als ,,Epochenbegriff' an. Das muß folgerichtig auch Auswirkungen auf alle weiteren Äußerungen, Erscheinungsfonnen, Bewußtseinsinhalte, Definitionen, die dieses Jahrhundert betreffen, haben. Denn nichts geht und ging im luftleeren Raum vor sich, eine Trivialität! Die gängige und wohl zutreffende Einteilung im politisch-historischen Bereich ist nach wie vor die in eine Zeit der Gegenrefonnation oder der Gegenrefonn, wie gern von katholischer Seite gesagt wird, bzw. im Blick auf Europa insgesamt zutreffender: der Konfessionskriege, des konfessionellen Zeitalters. Es wird von 1550 ca. bis 1659, bis zum Pyrenäenfrieden angesetzt. 7 Diese "Epoche" findet ihre Ablösung sodann durch die Zeit des fürstlichen Absolutismus, der von 1659 bis 1720 oder bis 1780/1800 anzusetzen ist, wobei es hier davon abhängt, ob eine weitere Phase, die des aufgeklärten Absolutismus nämlich, für das 18. Jahrhundert angenommen und dementsprechend weiter unterteilt wird. Diese Einteilung sieht also ebenfalls eine Halbierung des 17. Jahrhunderts vor. Es mag das mit ein Grund dafür sein, daß die älteren Bildungshistoriker vielfach ihre Gliederung dementsprechend gewählt haben, wobei es sich freilich auch bestätigen könnte, daß ein solcher Einschnitt von der Sache her unabweisbar auch im bildungsgeschichtlichen Rahmen gewesen ist. Aber das wird sich alsbald erweisen müssen, nachdem ich zuvor nochmals einiges zum Aspekt historisch-politischer Betrachtung dieses Zeitraums anmerken darf. Trevor-Roper, um einen der bedeutendsten Autoren zu Fragen des 17. Jahrhunderts zu nennen, grenzt das Barockzeitalter, wie er es nennt, ebenfalls auf die genannten Jahre 1560 bis 1660 ein, wobei Barock für den insgesamt unfreien, unproduktiv verkrampften Charakter dieser Zeit zu stehen habe. 8 Wie er urteilen fast alle angelsächsischen und französischen Autoren, und das sind derzeit diejenigen, die sich vorab mit dieser Zeit befassen. Auch bei uns ist selbstverständlich diese Einteilung seit Ranke eigentlich feststehend. Dieses konfessionelle Zeitalter ist eine Zeit, die ihren Schwerpunkt im Westen Europas hat. Das Reich lag damals im Windschatten der europäischen oder besser der Weltereignisse, das blieb so bis in die zweite Hälfte des Dreißigjährigen Krieges hinein, als die europäischen Mächte 7 Vgl. dazu statt Aller die knappen Angaben und die reiche Literatur bei H. Lutz, Reformation und Gegenreformation (Oldenbourg Grundriß der Geschichte, 10), München/Wien 1979. 8 Das BarockzeitaIter, in: H. Trevor-Roper, Hrsg., Die Zeit des Barock (Knaurs Große Kulturen in Farben), London 1968, 77.
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sich auf Reichsboden trafen und es von daher in einen weiteren, den fortgeschrittenen westeuropäischen Kreis mithineingezogen wurde. Die großen zeitbestimmenden Auseinandersetzungen und Ideen hatten dementsprechend alle in diesen westeuropäischen Staaten ihren Platz, sie wurden zwischen Spanien, Frankreich, den Niederlanden und England verhandelt, oder anders gewendet: ausgekämpft. Begreiflicherweise waren diese 100 Jahre nicht sozusagen aus einem Guß. Eine Zeit - grob gesprochen - konfessioneller Vorherrschaft wurde ab 1620/30 etwa übergeleitet in eine eher weltlich ausgerichtete. Ab 1660 etwa war dann im Politischen der Zustand erreicht, der einer vermehrt weltlich legitimierten Herrschaft, der des fürstlichen Absolutismus, den Weg ebnete. Gewiß war auch dies ein längerfristiger Vorgang, aber die Grundlagen für diese Entwicklung waren doch zur Mitte des 17. Jahrhunderts gelegt und deutlich erkennbar. In der angelsächsischen und französischen Historiographie ist es mittlerweile übrigens weithin üblich, die erste Phase dieses konfessionellen Zeitalters als ,,Age of crisis" zu charakterisieren. Sie habe in den Jahrzehnten zwischen 1620 und 1640 ihren Höhepunkt erreicht. Diese "general crisis of the 17 th century" erkläre denn auch die vielfach so fremdartige, abergläubig-phantastische, manieristischgrausame, widersprüchlich-sprunghafte, endzeitlich-heroische oder wie immer Geschichte dieser Jahre, woftir neben Geldverfall, Regenzeiten, Wirtschaftsflauten, Populationsschüben auch mangelnde Sonnentätigkeit oder zu wenig Sonnenflecke und ähnliches mehr gerne bemüht werden. 9 Es ist hier nicht der Ort, diese Sache eingehender darzustellen. Ich halte von dieser Sicht der Dinge nicht allzuviel, muß es bei diesem Hinweis bleiben lassen, der auch nur deshalb erfolgte, um darauf zu verweisen, daß in diesem Kontext gerne auch wissenschaftsgeschichtliche und ästhetische Entwicklungen dieser Jahre analysiert und scheinerklärt werden. lO Das Heilige Römische Reich liegt freilich, wie ich schon sagte, im Rahmen dieser Analysen recht am Rande, bleibt doch das Augenmerk hauptsächlich auf den Westen Europas gerichtet. Das hat in der Tat denn ja auch einen Grund in der Sache selbst. Geographisch, besser verfassungsrechtlich, gehörten die Niederlande damals noch zum Reich, zumindest bis 1648. Die Schweiz hingegen gehörte nicht mehr dazu. Freilich erscheint eine solche formale staatsrechtliche Bestandsaufnahme nicht allzu bedeutsam in unserem Zusammenhang. Die sogenannte Gelehrtenrepublik verstand sich nämlich nach wie vor gern als eine einheitlich europäische. Dementsprechend galt es auch als Ausweis besonderen Ansehens und Gewichts, überregionale Kontakte zu haben, Auslandserfahrungen zu besitzen, überörtliche oder auch überterritorialstaatliche Bekanntheit zu genießen. Selbstverständlich war auch das Institut der Peregrinatio Academica wie seit alters eine vorzügliche Empfehlung. Sie war indes den Wohlhabenderen und ihren Reisebegleitern im allge9 G. Parker/L. Smith, Hrsg., Tbe General Crisis of the Seventeenth Century, London 1978; Tb. K. Rabb, Tbe Struggle for Stability in Early Modern Europe, New York 1975; vgl. dazu meine Anzeige in Francia 5, 1977,922 ff. 10 Vgl. unter anderem T. Aston, Hrsg., Crisis in Europe 1560-1660. Essays from Past and Present 1952 - 1962, London 1965.
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meinen vorbehalten. Die wichtigsten ,,Reiseziele" waren immer noch Italien, dies insbesondere für die Juristen, aber auch Frankreich. Hier waren vorab die berühmten juristischen Schulen das Ziel, es sprach sich darin gewiß auch das zunehmende politische Gewicht dieses Landes aus. Und schließlich wurden auch gerne - dank der mittlerweile erblühten niederländischen Wissenschaften - die Generalstaaten aufgesucht. 11 Freilich haben die vielen Kriege und die Konfessionsspaltung eine gewisse Rückentwicklung dieser ehemals offenen, humanistischen Gelehrtenrepublik Europas mit sich gebracht. Eine Art ,.Nationalisierung", besser eine Verengung, ist seit dem Ende des 16. Jahrhunderts unübersehbar, zumindest was das Reich betrifft. Nur die wirklich herausragenden Männer, später vielfach in führenden Positionen zudem, konnten sich daher eines breiten, überregionalen gelehrten Bekanntenkreises erfreuen. Das erklärt denn auch das Aufkommen bestimmter Sonderentwicklungen, wenngleich der nach wie vor europäische Buchmarkt es theoretisch jeweils ermöglichte, diese europäische Gelehrtendiskussion auch in territorialstaatlicher Enge zu verfolgen. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war nun nicht gerade ein einheitliches Gebilde. Es zerfiel in eine Vielzahl von Territorien, und diese Territorien bestimmten das Geschehen, in ihnen spielte sich das Leben ab. Auch der Kaiser war eigentlich nur ein Territorialherr innerhalb seiner Lande. Das Reich hatte insofern keinen örtlichen Mittelpunkt wie Spanien oder England, wie er sich damals in Frankreich zu stabilisieren begann. Je nach Territorium, dessen Gewicht, dessen konfessioneller Ausrichtung, dessen augenblicklicher Verfassung befanden sich auch die öffentlichen Einrichtungen des Landes, nicht zuletzt die im Reich so zahlreichen Universitäten. Diese wiederum waren ja auch deswegen so zahlreich, weil nach Glaubensspaltung und Territorialisierung nahezu jedes selbstgewisse Territorium suchen mußte, eine eigene Landeshochschule zur Heranbildung von weltlichen und kirchlichen Bediensteten zu haben. So wurden denn auch im 17. Jahrhundert neuerlich weitere zehn Universitäten gegründet: 1607 Gießen, 1614 Groningen, 1621 Rinteln, 1623 Salzburg, 1630 Osnabrück, 1648 Bamberg, 1655 Duisburg, 1665 Kiel, 1672 Innsbruck, 1694 Halledas aber schon in eine neue Zeit verweist. Diese 10 traten neben die 24 bereits vorhandenen Anstalten, die Universitäten genannt werden können. Die Territorien, Städte, Gemeinwesen ohne eine eigene Universität behalfen sich übrigens gerne 11 Zwar gibt es eine Reihe Untersuchungen zu Besuchen ausländischer Universitäten, eine umfassend angelegte Studie wäre aber dringend zu wünschen. - Aus der Reihe der Publikationen nenne ich ein wenig willkürlich: H. Schneppen, Niederländische Universitäten und deutsches Geistesleben, Münster 1960; W. Dotzauer, Deutsches Studium in Italien unter besonderer Berücksichtigung der Universität Bologna, in: Geschieht!. Landeskunde 14, 1976, 84 ff.; ders., Deutsches Studium und deutsche Studenten an europäischen Hochschulen (Frankreich, Italien) und die nachfolgende Tätigkeit in Stadt, Kirche und Territorium in Deutschland, in: E. Maschkel J. Sydow, Hrsg., Stadt und Universität im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Sigmaringen 1977, 112 ff.
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dadurch - und dies war ja bereits im vorausgegangenen Jahrhundert vielfach der Brauch gewesen -, daß sie eine Art mittlerer Ausbildungsstätten errichteten, sogenannte Gymnasia illustria. Es waren das sozusagen Zwischeninstitutionen zwischen Gymnasium (Lateinschule) und Universität. Der übliche humanistisch-rhetorische Lehrkanon solcher Schulen, die Unterweisung in den Humaniora und Realia wurde dort gleichsam überhöht durch einen weitergehenden Unterricht in auch anderen Disziplinen. So wurden insbesondere einige juristische Kenntnisse vermittelt, gelegentlich auch polemische Theologie gelehrt und mitunter selbst medizinische Grundbegriffe erörtert, die freilich als Unterweisung in Methodologie, als methodische Disziplin begriffen und eingeübt wurden. Gewiß gab es auch eine ganze Anzahl von Territorien, die nicht über eigene Bildungsanstalten verfügten. Bei der hohen Zahl dieser letztlich "unstaatlichen" Staatswesen des Reichs ist das gar nicht verwunderlich. Dennoch kann als bemerkenswertes Faktum gelten, daß alle wichtigen, ja selbst noch die mittleren Gemeinwesen des Reichs erfolgreich bestrebt waren, solch eigene höhere Lehranstalten oder Hochschulen zur Hand zu haben. Ungleich anders nun als im übrigen Europa behielten die Universitäten des Reichs ihren Rang als Orte, an denen gelehrtes Wissen, gelehrte Traditionen vermittelt und weitergereicht wurden. Vieles von dem, was im Bereich des Geistes sich damals bewegte, fand an Universitäten statt oder fand dort einen Widerhall. Allerdings ist nicht zu übersehen, daß die Universitäten nicht nur im Gefolge des Dreißigjährigen Krieges in eine zunehmend schwierige Lage kamen. Damals schien es vorübergehend gar, als stürben diese Institutionen allmählich ab. Starrkonservativ, geistiger Erneuerung mißtrauisch, ja feindlich gesonnen, unfruchtbar stagnierend - wie viele Universitäten sich darstellten -, vermochten sie kaum attraktiv für bewegliche junge Gelehrte zu sein. Pufendorfs und Leibnizens bekannte Urteile gehören in diesen zeitlichen und sachlichen Umkreis; die vermehrte Einrichtung von Ritterakademien für die notwendige, aber nunmehr "höfische" Erziehung der Leute von Stand, des Adels ebenfalls. Dem endgültigen Niedergang konnte dann freilich in einer lebensfähigen, zukunftsweisenden Reform der Universität und ihres Wissenschaftskanons, wie sie in Halle dank Thomasius und seiner Mitstreiter gelang, begegnet werden. 12 Ritterakademien wie auch anderen gelehrten Akademien war damit ein wesentliches Moment ihrer Wirksamkeit entzogen. 13 Nicht nur der Adel kehrte wieder in die Universität zurück, sondern auch die fUr die deutsche Aufklärung wichtige Gelehrsamkeit. Aber all das fUhrt entschieden über unser heutiges Thema hinaus. 12 Hierzu Näheres in meiner Untersuchung: N. Hammerstein, Jus und Historie, Göttingen 1972. 13 Zu den europäischen Ritterakademien vgl. demnächst die umfangreiche Analyse von N. Conrads. - Zu den gelehrten Akademien des Reichs im 17. Jahrhundert im Umkreis von Leibniz vgl. auch meine Studie: N. Hammerstein, Accademia, societa scientifiche in Leibniz, in: L. Böhm I E. Raimondi, Hrsg., Universita e Societa scientifiche in Italia e in Germania dal Cinquento al Settecento (Annali dell'Istituto Storico Italo-Germanico in Trento, 9), Bologna 1981,395 ff.
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Was mit diesem Hinweis jedoch bezweckt werden sollte, war, auf die Sonderrolle zu verweisen, die dem 17. Jahrhundert innerhalb der Geschichte der Universitäten des Reichs zukam. Die dank der Reformation und Gegenreformation seinerzeit gestärkten Hochschulen, die den erwünschten Rahmen für gelehrte Manifestationen bereitstellten, gerieten im Fortgang der Konfessionalisierung des Lebens in zunehmende Schwierigkeiten, wenngleich nicht in eigentlich bedrohliche. Der Rückgang humanistisch-späthumanistischer Wissenschaftsideale, die Abgrenzung der Territorien entsprechend konfessionspolitischen Interessen und Notwendigkeiten bei gleichzeitigem Verlangen an die Universitäten, der Rechtgläubigkeit im Lande zu dienen, engten im Bereich der theologischen und artistischen Fakultliten begreiflicherweise eine wie weit auch immer mögliche "Offenheit" ein. Indem an die juristischen Fakultäten zugleich aber adlige Studiosi und ein erhöhtes weltliches Interesse der Landesherren vordrangen, kam es zu zusätzlichen Ungereimtheiten und Schwierigkeiten. Gewiß wäre es unzutreffend, von einer Krise oder gar Bedrohung der Universitäten zu sprechen. Allzuviele durchliefen nach wie vor erfolgreich diese Anstalten, die Hochschulen verblieben weiterhin eigentlicher Ort gelehrter Traditionen sowie qualifizierender Ausbildung. Nur überwog eben ein polemischer Geist, der mehr oder weniger einem in sich geschlossenen, nach außen abgeschirmten gelehrten Disput in diesen Disziplinen nahezu allein Raum ließ. 14 Wichtige theologische Strömungen wie auch ihre Vertreter - biblizistische, mystisch-chiliastische z. B. - fanden insoweit im 17. Jahrhundert nur schwer Zugang zu Universitäten. Die im Zuge der Renaissance geförderten Naturuntersuchungen und -spekulationen wurden innerhalb des zunftmäßigen Professorenstandes wenig beachtet. 15 Die landesherrlichen Höfe hingegen wurden zunehmend der Ort, wo solche weniger zünftigen Bestrebungen Rückhalt und Förderung erfuhren. Die Universitäten verloren damit zwar nicht ihre herausragende Stellung - um es zu wiederholen -, aber sie gingen wertvoller Anregungen, geistiger Herausforderungen während des 17. Jahrhundert verlustig, das insoweit einen atypischen Verlauf innerhalb der frühneuzeitlichen Entwicklung nahm. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts befanden sich denn viele Hochschulen auch in einer höchst dekadenten Phase. Freilich, sie überwanden gemeinsam mit den Höfen diese Krise, erwiesen sich wiederum überlebensfahiger als all ihre Schwesteranstalten im übrigen Europa. In Anbetracht der bunten Vielgestaltigkeit des Reichs leuchtet es gewiß ein, daß auch im Blick auf die Universitäten bemerkenswerte Unterschiede damals festzustellen sind. Je nach Territorium, Landesherren, nach zufälliger oder auch planmä14 Die Jurisprudenz unterschied sich von dieser Entwicklung; vgl. dazu unter anderem die Beiträge in M. Stolleis, Hrsg., Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt a. Main 1977; ferner meine Abhandlung: N. Hammerstein, Jus Publicum Romano-Gennanicum, in: Diritto e potere nella storia europea. Atti dei Quarto Congresso internazionale della Societa italiana di storia dei diritto, Florenz 1982,717 ff. 15 Der Hof Rudolfs 11. in Prag kann als eine der letzten Manifestationen dieser Seite eines Renaissance-Verständnisses und dementsprechender Praxis gewertet werden.
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ßiger Anwesenheit von Gelehrten und gelehrter Potenz war der wissenschaftliche Rang, die Bedeutung einzelner Anstalten anzusetzen, wie bereits erwähnt. Es gab begreiflicherweise auch während des 17. Jahrhunderts eine Hierarchie der Universitäten, mit Verschiebungen, Ausnahmen, Zufälligkeiten. Das erleichtert und erschwert es zugleich, generalisierende, aber zutreffende Aussagen über den Stand der Wissenschaft im Reich zu machen. Insofern bleibt nur der Weg, zu versuchen, Typisches herauszustellen, Typen vergleichbarer Gruppen von Universitäten zu analysieren, unbeschadet des Umstands, daß entgegengesetzte Einzelbeispiele solche Aussagen in Zweifel ziehen lassen. Das ist schließlich selbstverständlich, braucht andererseits aber das Verfahren als solches nicht unbedingt zu desavouieren. Aber noch ein weiteres Wort: Begreiflicherweise werde ich nur vorführen können, was bekannt oder bereits hinreichend erforscht ist, oder vorsichtiger formuliert: was mir davon bekannt ist. Um es sogleich vorweg zu sagen: gar vieles ist nach wie vor unbekannt, unerforscht, bedürfte eingehender Untersuchungen. Der Verdacht scheint mir nicht von der Hand zu weisen, daß wir die Dinge vielfach so klar sehen, weil wir sie nicht hinreichend kennen! Vielfach ersetzen überkommene Meinungen das Wissen - meine Ausführungen eingeschlossen. Im Blick auf die Universitäten des Reichs können einige allgemeine Momente wiederum vorweg, vor der Erörterung spezifischerer Begebenheiten vorgestellt werden. Für unseren Zeitraum ist es z. B. selbstverständlich, daß konfessionelle Trennungslinien gravierend geworden waren. Selbst die lutherischen Universitäten schlossen sich voneinander ab. Eine ängstliche Eingrenzung herrschte vor unbeschadet gelegentlicher Gegenbeispiele wie Helmstedt. Es war die hohe Zeit der Kontroverstheologie! Die calvinistischen Hochschulen - Herborn und Duisburg, auch Heidelberg - spielten damals keine große Rolle innerhalb des Reichs, ihre Ausstrahlung ist eher gering anzusetzen. Als eine weitere Gemeinsamkeit kann angegeben werden, daß über die Konfessionsgrenzen hinweg allenthalben und nach wie vor galt, daß die sich jetzt gelegentlich bereits "philosophisch" nennende Fakultät eigentlich die alte artistische geblieben war. Sie hatte - mit anderen Worten - eine rein dienende Funktion insbesondere natürlich für die theologische Fakultät. Ihr Lehrkanon schien zwar weitgehend festgeschrieben, jedoch war es nicht die Benennung ihrer Professuren. Auch das ein Indiz für den propädeutischen Charakter "philosophischen" Bemühens! Dementsprechend galt es für die Professoren gemeinhin denn auch als erstrebenswertes Ziel, aus dieser unteren Fakultät in eine der oberen überzuwechseln oder aus der Fakultät heraus eine besser besoldete Lehrstelle, wie z. B. an städtischen Gymnasien, zu gewinnen. Gerade im protestantischen Bereich sind eine Fülle solcher Veränderungen bekannt, wo hingegen die familienlosen katholischen Ordensangehörigen solch ökonomischen Überlegungen weniger Platz einzuräumen brauchten. Für die meisten dieser katholischen Gelehrten galt jedoch, daß diejenigen, die sich weiterhin den Wissenschaften verschrieben, im allgemeinen ebenfalls die hohe Fakultät, die der Theologie erstrebten, von den wenigen bekannten, insbesondere naturwissenschaftlich tätigen Professoren abgesehen. Insoweit läßt sich
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bei aller Vorsicht schließen, daß die Professoren, die zeitlebens und freiwillig in der philosophischen Fakultät verblieben, letztlich Ausnahmen darstellten. Keineswegs gegen übliche Gepflogenheiten verstieß es, wenn Angehörige der oberen Fakultäten Lehrgegenstände der artistischen mitbetreuten. Nicht nur aus diesem Grunde gilt, daß philosophische Materien - daß Philosophie - nicht nur in der untersten Fakultät anzutreffen waren. Eine fachliche Trennung im strengen Sinne späterer Auffassung war weder nach der Universitätspraxis noch nach dem damaligen Wissenschaftsverständnis denkbar und praktikabel. Insofern ist also auch immer auf die oberen Fakultäten und ihre Lehrinhalte bei philosophiehistorischen Fragen, aber nicht nur bei ihnen, zu achten. Stets ist hier der jeweilige Einzelfall unterhalb dieser Allgemeingültigkeit von entscheidender Bedeutung! Verallgemeinern lassen sich des weiteren gut die Aussagen zur Lehr- und Wissensehaftspraxis. Schulische Unterweisung - gemäß unserem Verständnis herrschte vor, Vorlesungen mit Diktat und ständigem Memorieren entsprechend vorgeschriebenen Kompendien oder auch nach eigenen, die vorgeschriebenen Lehrbücher modifizierenden Verfahren bestimmten den Ablauf des Studiums. Gleichwohl konnte auch mit dieser Methode gelegentlich Außerordentliches vermittelt werden, kamen höchst bemerkenswerte Leistungen zustande. Gemeinsam ist fernerhin allen Konfessionen, daß nach wie vor ein topisches Beweisverfahren Vorgehen wie Wissenschaftsverständnis bestimmte. Systematisches Denken, sogenannt freie Forschung waren der Zeit unbekannt. Gelehrtes Streben, wissenschaftliche Ergebnisse ließen sich freilich - wie die bekannten Ergebnisse zeigen - auch auf dem Wege topischer Verfahrensweise gewinnen. Disputationen - auch sie selbstverständlich in der lateinischen Gelehrtensprache gehalten - ließen nicht nur Sprachbeherrschung, Argumentationsfähigkeit und Aneignung des Stoffes erkennen. Sie zeigten auch Fortschritte der Kandidaten, Vertiefung der vorgegebenen Problematik, hohes wissenschaftliches Niveau der akademischen Korporationen, und dementsprechend wichtig und häufig waren sie denn auch. Die feierlichen gar gerieten zu großen Spektakeln, zu barocken Festen. Gerne wurden diese Disputationen publiziert, nicht zuletzt als Ausweis öffentlichen Auftretens des Kandidaten, das er vorzuweisen vermochte. Diese Dissertationes sind insoweit - um dies eben noch anzumerken - wichtige Zeugnisse des an den Universitäten Gelehrten. Sie sind bislang viel zu wenig beachtet worden, zumal sie gerade für die frühneuzeitliche Wissenschaftsgeschichte von hohem Wert sein dürften, wie zu vermuten steht. Von vielen Professoren dieses Jahrhunderts sind z. T. ja nur wenige Publikationen überliefert oder festzustellen. Hier bieten dann häufig diese Dissertationen und Disputationen eine mögliche Erkenntnisquelle für das, was und wie gelehrt worden ist. Zumeist scheinen die Disputationen übrigens in Offizinen am Universitätsort selbst verlegt worden zu sein. Schon deswegen steht das zu vermuten, weil die Publikation vielfach von den Kandidaten selbst finanziert worden ist, hatten sie doch das unmittelbarste Interesse daran, diesen Nachweis öffentlicher Gelehrsamkeit
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auch öffentlich belegen zu können. Das geschah gerade auch dann, wenn der Autor eigentlich der Lehnneister, nicht der vorab genannte Respondent selbst war, was in den meisten Fällen als zutreffend vermutet wird. 16 Eine weitere Gemeinsamkeit schließlich - hier wohl hinreichend bekannt - stellt zu Ausgang des 16. und im frühen 17. Jahrhundert das Vordringen des Aristotelismus als Rückgrat methodischer, metaphysischer, kosmologischer, logischer etc. Lehren dar. Gewiß sind hier gerade die spezifischen Nuancen von Interesse, muß jede Universität eigentlich einzeln betrachtet werden. Aber als generelle und insoweit bemerkenswerte Tendenz kann das Faktum gleichwohl genannt werden. 17 Hinfort sollte freilich bei der Analyse dieses Phänomens sinnvollerweise verstärkt auf die Gesamtheit dieser Erscheinung geachtet werden. Es kommt nicht so sehr auf die einzelne Disziplin - wie z. B. die Logik - an, sondern eben auf den Gesamtzusammenhang des Wissenschaftskanons, dessen jeweiligen Aristotelismus. Auch sollte vermehrt zu analysieren gesucht werden, ob sich hinter diesem Aristotelismus gleichsam eine neue, eine erhöhte theologische Fragestellung verbarg oder ob eine weltzugewandte, theologieferne Anstrengung in der Tradition des norditalienischen Aristotelismus des späten 16. Jahrhunderts wirksam war. Spanisch-scholastische, theologisch-orthodoxe oder auch mundan-systematische Momente - letztere z. B. in Helmstedt - vermochten ja mittels dieses Aristotelismus instrumentalisiert zu werden. 18 Natürlich gab es gegen diese gelegentlich als zu formalistisch, rational und leer angesehene Tendenz auch Gegenbewegungen. Im lutherischen Umkreis kam es zu Beginn des Jahrhunderts denn auch zu einem entschiedenen Biblizismus - in Tübungen z. B. -, einer betonten Lösung aus humanistischen Traditionen l9 • Das machte es später, in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts dann wieder recht schwer, 16 Für diese Fragen nach wie vor E. Horn, Die Disputationen und Promotionen an den deutschen Universitäten vornehmlich seit dem 16. Jahrhundert, Leipzig 1893. - Eine vorzügliche Hilfe für das Aufspüren von Disputationen - es sol1te das eigentlich einmal genutzt werden! - ist H. Mundt, Biblio-Biographisches Verzeichnis von Universitäts- und Hochschuldrucken (Dissertationen) vom Ausgang des 16. bis Ende des 19. Jahrhunderts, 3 Bde., Leipzig 1936, München 1977. 17 Hier sind noch immer die genannten Arbeiten von Wundt, Schulmetaphysik, Petersen, Geschichte, Weber, Scholastik, etc. die wichtigsten Untersuchungen neben Einzelmonographien zu Universitäten. W. Risse, Logik der Neuzeit, 2 Bde., Stuttgart 1964/70 infonniert zwar ausflihrlich über die logischen Schulen, verfehlt aber eine übersichtliche, auch die Wirkungsgeschichte mit einbeziehende Darstel1ung. Die rein problemorientierte Untersuchung dieser üblichen philosophie-historischen Arbeit vermag insoweit dem Universitäts- und Wissenschaftshistoriker wenig nützliche Erkenntnisse an die Hand zu geben. 18 Vgl. hierzu unter anderem H. Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und absolutistischer Staat, Wiesbaden 1970; J. Brückner, Staatswissenschaft, Kameralismus und Naturrecht, München 1977; M. Stol1eis, Arcana Imperii und Ratio status (Veröffentlichungen der Joachim Jungius-Gesel1schaft der Wissenschaften, 39), Göttingen 1980. 19 M. Brecht, Johann Valentin Andreae, in: ders., Hrsg., Theologen und Theologie an der Universität Tübingen, Tübingen 1977,315 f.; H. Schmidt-Grave, Leichenreden und Leichenpredigten Tübinger Professoren (1550-1750), Tübingen 1974.
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sich aus dieser starken biblischen Tradition zu lösen, innerweltlicheren Ableitungen der Wissenschaften zu folgen. Insgesamt - und hierauf kann nicht nachdrücklich genug verwiesen werden - verblieb der Grundcharakter des Jahrhunderts bis weit in die zweite Hälfte hinein theologisch geprägt. So gilt noch immer, was Herbert Schöffler formulierte: daß Schattierungen auf theologischem Gebiet entschieden wichtiger für den Gang wissenschaftlicher Diskussionen und Bemühungen waren als beispielsweise noch so gewichtige Neuerungen auf "realem" Gebiet, wie z. B. die eines Erhard Weigel. 2o Schließlich sei noch auf die eher banale Gemeinsamkeit verwiesen, daß der große Krieg, insbesondere ab dem Ende der 20er Jahre bis wiederum zur Jahrhundertmitte, alle Universitäten mehr oder weniger in Mitleidenschaft zog. Auf irgendeine Art wurden sie alle davon tangiert und sei es nur, daß an einem Universitätsort dieser Krieg nicht stattfand und somit viele Studiosi dort sich zusammenfanden, wie z. B. in Rostock und Königsberg. Es gilt heute freilich als sicher, daß die früher übliche Annahme, dieser Krieg habe einen radikalen Einschnitt, einen gleichsam totalen Niedergang geistiger Tatigkeit gebracht, so nicht zutreffend iSt. 21 Gewiß gab es auch das. Insgesamt stellte der Krieg begreiflicherweise eine außerordentliche Belastung für die gelehrte Welt dar. Er unterband weitgehend eine kontinuierliche und zielstrebige Entwicklung der Universitäten, er erschwerte außerordentlich die gegenseitige geistige Auseinandersetzung und Kenntnisnahme. Eine Verrohung - äußerlich wie auch geistig - war vielerorts unvermeidbare Folge, nicht zuletzt als Ausdruck einer sich unter Schwierigkeiten theologischer Überwölbung entziehen wollenden Welt. Ungleich der allgemeinen politischen Tendenz der Zeit nach dem Krieg - einer verstärkt mundanen Ausrichtung also - obsiegte im universitären Bereich im allgemeinen zunächst jedoch eine eher starre theologische Ausrichtung. Polyhistorisch, enzyklopädisch dem Wissenschaftsideal nach - wie es sich seit dem späten 16. Jahrhundert angebahnt hatte -, erstarrten die Hochschulen jetzt vielfach in beharrend traditionalistischer, theologisch bevormundeter Unattraktivität. Sie verrohten vielfach zu Zerrbildern ihrer früheren Existenz. Es war die hohe Zeit des Pennalismus, der Deposition. In ihrer exzentrischen Überzogenheit haftete diesen alten Universitätsbräuchen freilich bereits der Charakter des Vorübergehenden, des Anachronistischen an. Die bekannten Urteile aus dieser Zeit wie auch die stagnierenden oder zurückgehenden Inskriptionen, das Aufkommen ferner der schon genannten Ritterakademien entsprachen insoweit diesem Umstand, ohne daß das zunächst freilich auf den Wissenschaftsbetrieb selbst abgefarbt hätte. Der verblieb gern im alten Gleise, von gelegentlichen Ausnahmen wie Helmstedt, Jena oder Duisburg einmal abgesehen. Es kann aber andererseits nicht davon die Rede sein - um es zu wiederholen -, daß dieser Krieg gleichsam einen generellen Ein20 Deutsches Geistesleben zwischen Reformation und Aufklärung, Frankfurt a. Main 1956,164. 21 R. Vierhaus, Deutschland im Zeitalter des Absolutismus, Göttingen 1978.
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schnitt gebracht hätte, der gelehrte Traditionen ab- oder unterbrochen hätte, so daß in mühsamer Arbeit und über lange Jahre nach dem Krieg hin erst wieder ein neues Fundament hätte gefunden werden müssen. Die Traditionen scheinen hier doch entschieden ungebrochener fortgeführt worden zu sein als das zumindest in der älteren Wissenschafts- und Universitätsgeschichtsschreibung gern angenommen wurde. Nun aber der Versuch eines Überblicks über einzelne Universitäten, der Versuch, die Rangfolge der Universitäten sowie ihre Bedeutung für die Philosophie darzustellen, soweit das nach dem vorliegenden Wissensstand mir möglich scheint. Auch hier beginne ich am besten mit dem, was gemeinhin als vergleichsweise gesichert und überschaubar erscheint: mit den katholischen Universitäten des Reichs. Ingolstadt nach wie vor und in der ersten Hälfte des Jahrhunderts Dillingen gehörten da zu den angesehensten Anstalten. Ihnen folgten sodann eher regional bedeutsame wie Würzburg und alsbald Bamberg sowie Salzburg. Auch die meisten habsburgischen Universitäten gehören in diesen Umkreis, also Wien, Prag und später Innsbruck. Wenig wissen wir von den scheinbar unbedeutenden und daniederliegenden wie Erfurt, Paderborn, Trier, Mainz oder dem vorderösterreichischen Freiburg, von Olmütz und Graz. Im allgemeinen hatte im 17. Jahrhundert der Jesuitenorden eine Art Ausbildungsmonopol an diesen Hochschulen inne?2 Dank der Sanctio Pragmatica von 1623 hatte der Orden die Pflicht, Professoren für die humanistischen, philosophischen und theologischen Disziplinen zu stellen. In der theologischen Fakultät sollten jeweils auch Nichtangehörige des Ordens lehren. Die Unterweisung in der philosophischen Fakultät hatte natürlich dem Ziel dieser Ausbildung insgesamt zu dienen. Recht deutlich beschreibt dies eine Verordnung aus Dillingen, in der es heißt: ..Artes vel scientiae naturales ingenia disponunt ad Theologiam et ad perfectarn cognitionem et usum illius inserviunt.'.2] Insgesamt unterlagen die katholischen Universitäten insoweit weitgehend den Vorstellungen und Vorschriften der jesuitischen Ratio Studio rum. 24 Eine Ausnahme bildete hier Köln, wo der Orden eigentlich nicht recht Fuß zu fassen vermochte, wo zugleich aber die Universität auf anscheinend nur mäßigem Niveau hinvegetierte. Eine weitere Ausnahme stellte naturgemäß die benediktinische Hochschule Salzburg dar. 22 Wichtig noch immer: B. Duhr, Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge, Freiburgl Br., hier insbesondere Bd. 2,1913, sowie jetzt: K. Hengst, Jesuiten an Universitäten und Jesuitenuniversitäten, Paderborn 1981. 23 Zitiert nach Th. Specht, Geschichte der Universität Dillingen, Freiburg I Br. 1902, 312. 24 Die Ordensbestimmungen sind ediert von G. M. Pachtler, Ratio Studiorum et Institutiones Scholasticae Societatis Jesu (Monumenta Germaniae Paedagogica, 2, 5, 9, 16), 4 Bde., BerHn 1887 ff.
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In ausführlichen, bis ins Detail gehenden Statuten wurden Lehre und Lehrinhalte zumeist geregeleS , scheint ein eigenverantwortlicher, freier Spielraum den einzelnen Hochschulen nicht extensiv eingeräumt worden zu sein. Lehrbücher und Lehrautoren entsprachen sich weitgehend, wobei es auffallt, daß vielfach das Überwuchern des Aristoteles mit Compendien beklagt wurde. Kommentare zu Aristoteles waren auch im katholischen Reich häufiger als die Lektüre der Schriften selbst. 26 Diese Kommentare und Lehrbücher zielten anscheinend bereits auf der Stufe der artistischen Fakultät auf theologische Inhalte, wie außer den statutarischen Bestimmungen auch die vielfachen Klagen der Juristen bei den Landesherren erkennen lassen. Die juristischen Professoren ersuchten da häufig um Freistellung ihrer Studenten von den artistischen Grundkursen bzw. darum, die Lehrinhalte der philosophischen Disziplinen sozusagen sach- und nicht fremdbezogen zu unterweisen. Sie sollten nicht auf theologische Inhalte ausgerichtet sein. Ebenfalls in diesen Umkreis gehört das Phänomen, daß vielerorts über die Dauer philosophischer Grundausbildung gestritten wurde. Im allgemeinen vermochten sich die jesuitischen Vorstellungen eines Trienniums - eines dreijährigen Kurses statt eines Bienniums, wie es Juristen und Mediziner verlangten - das Jahrhundert über zu halten. Eine Schwierigkeit für nahezu alle von den Jesuiten versorgten Universitäten bestand darin, daß die Patres zu häufig wechselten. Insbesondere in der Artistenfakultät waren zwei- bis sechssemestrige Aufenthalte der Professoren keine Seltenheit. 27 Gewiß war das, was den Lehrstoff anbelangte, weniger gravierend. Statuten und Ratio Studiorum garantierten ja ein gewisses Gleichmaß! Aber sowohl die Ausbildung von "Schulen" als auch die literarische Produktion der vielfach Ort und Disziplinen wechselnden Patres litten darunter. So hatte - um dies mit einigen zufalligen Angaben zu verdeutlichen - Würzburg im 17. Jahrhundert 69 Professoren für Physik. Allenfalls 6 von ihnen hinterließen jedoch ein größeres Werk bzw. umfangreichere Publikationen, und die waren ohnedies meist theologisch ausgerichtet. 28 Von den 109 Ingolstädter Jesuiten im 17. Jahrhundert sind nach Prantls Angaben 12 literarisch hervorgetreten. In Dillingen wirkten zwischen 1563 und 1773 212 Professoren der Philosophie. 144 von ihnen sind literarisch zumindest auszumachen. Von 46 ist überhaupt nichts erhalten, wobei unter denen, die hervorgetreten sind, die meisten dank Disputationen uns bekannt blieben.29 Vgl. z. B. für Ingolstadt die Statuten von 1649 bei Prantl, Bd. 2,413 ff. Insoweit ist hier M. Wundt, Schulmetaphysik, zu korrigieren. Auch in diesem Punkt waren die Gemeinsamkeiten größer als vielfach angenommen! 27 Zufällig ist die Universität Würzburg personalgeschichtlich besonders sorgfältig erfaßt. So gab es auf dem Lehrstuhl fUr Logik im 11. Jahrhundert 84 aufeinanderfolgende Patres. Die Metaphysik hatte 79 und die Physik 87, und alle richteten sich nach Aristoteles. Vgl. G. Uhlenbrock, Personalbiographien von Professoren der philosophischen Fakultät der Alma Mater Julia Wirceburgensis von 1582-1803, Ms-Diss. med., Erlangen 1973. 28 So wiederum die von Uhlenbrock ein wenig abweichenden Angaben bei W. Stosiek, Die Personalbiographien der Professoren der aristotelischen Physik in der Philosophischen Fakultät der Alma Mater Julia Wirceburgensis von 1582 - 1772, Ms-Diss. med., Erlangen 1972. 2!1
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Andererseits - und das verweist wiederum auf das bereits genannte Faktum gab es natürlich eine Fülle von Disputationen und wohl auch publizierten Dissertationen. Aber die sind, ebenso wie die führenden Compendien, noch nicht angemessen untersucht und analysiert worden. Erst danach wird ein zutreffendes Bild der katholischen Schulphilosophie an den Universitäten des 17. Jahrhunderts möglich sein. Gleichwohl steht zu vermuten, daß die Jesuiten - und damit die meisten der katholischen Universitäten - kein Analogon zur protestantischen Schulphilosophie entwickelt haben. Die Unterweisung in der artistischen Fakultät behielt das Jahrhundert über entschieden stärker einen propädeutischen Charakter als an manchen protestantischen Universitäten. Gelehrte Publikationen hatten nach der Vorstellung des Ordens eigentlich der Theologie, der maßgeblichen Wissenschaft, zu dienen. Die philosophischen Bemühungen hatten insoweit immer nur Mittel zum Zweck zu sein, da konnte man sich getrost der anerkannten Lehrbücher bedienen. Aber, wie gesagt, bislang ist das eher eine Vermutung, als daß ich das gesichert zu behaupten vermöchte. Übrigens dienten als solche gern genannte Compendien die Institutionen für Dialektik des Fonseca wie auch die des belgischen Paters Philip Du Trieu?O In der theologischen Fakultät galten als maßgebliche Autoritäten neben dem Heiligen Thomas Adam Tanner, Suarez, Gabriel Vasquez, Laymann. 31 Aber auch hier sindum es neuerlich zu wiederholen - gewiß noch weitere Untersuchungen überfällig. Das trifft auch für die lutherischen Universitäten des Reichs zu, wenngleich wir hier im einzelnen doch wohl besser informiert sind auf Grund der vorliegenden ihrerseits durchaus jedoch verbesserungsfähigen - Arbeiten. Nach überörtlicher Bedeutung und Größe ragten bis in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges Wittenberg, Leipzig und Helmstedt hervor. Wahrend des Krieges selbst konnten auf Grund ihrer ,,kriegsgeographischen" Lage Rostock und Königsberg zu hoher Frequenz gelangen, wie bereits erwähnt. Nach dem Frieden von Münster und OsnabfÜck setzten sich aber die Zuerstgenannten wieder an die Spitze, wobei Jena Helmstedt und vor allem auch Wittenberg überrundete. Gießen, Frankfurt an der Oder, Tübingen, Marburg zählten zu mittleren Anstalten, Altdorf, Rinteln, Kiel zu kleineren. 32 Bekannt ist ferner, daß das 17. Jahrhundert weitgehend von der sog. lutherischen Orthodoxie geprägt worden ist. Ihre Hochburgen waren Wittenberg, Leipzig, Jena, Tübingen und Gießen, sie leisteten einer "ontologischen" Aristoteles-Rezeption Vorschub. Aristoteles bildete allenthalben den Bezugspunkt, wenngleich Lehrbücher in Anlehnung an seine Werke, Compendien und Kommentare auch im protestantischen Reich die Lektüre des Stagiriten selbst vielfach ersetzten. Allein in KöDie Angaben bei Specht, Geschichte. Duhr, Geschichte, 2, 1,525. 31 Ebd.579. 32 Trotz gelegentlicher Vorbehalte nach wie vor unersetzlich die statistischen Angaben und Zusammenfassungen bei F. Eulenburg. Die Frequenz der deutschen Universitäten von ihrer Grundung bis zur Gegenwart, Leipzig 1904. 29
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nigsberg und Altdorf fand eine historisch-philosophische Aristoteles-Interpretation Anerkennung und konnte eine in sich geschlossene örtliche Schulbildung erreichen. Im 18. Jahrhundert sprach daher Buddeus in diesem Zusammenhang von den "genuini peripatetici". 33 Selbstverständlich hatte die philosophische Ausbildung auch in diesem Rahmen propädeutischen Charakter, blieb Magd der eigentlichen Bezugswissenschaft, der Theologie. Die wichtigsten Compendien scheinen die von Clemens Timpier (1604), Cornelius Martini (Helmstedt 1606), Christoph Scheibler (Gießen 1617) und Daniel Stahl (Jena 1630) gewesen zu sein. Auch Suarez wurde vermittelt, wie überhaupt die spanische Spätscholastik hohe Bedeutung gehabt hat. 34 Gewiß scheint ferner zu sein, daß insbesondere Helmstedt eine Ausnahmerolle zukam. Sowohl die Qualität seiner Professoren - wohl nicht zuletzt eine Folge überlegter Berufungs- und Anstellungspolitik der Herzöge und ihrer Räte - als auch der methodische, wissenschaftliche Ansatz zeichnen diese Universität aus. Namen wie Martini, Calixt, Arnisaeus, Conring haben weit über den engeren Rahmen des Territoriums hinaus Klang und Gewicht. Das wache Interesse zudem an Fragen der Philosophia practica 35 - ein Erbe der späthumanistischen Gründungsphase - erhielt selbst den metaphysischen Anstrengungen einen latent mundanen Bezug, verstand nicht allein Theologie als Zielwissenschaft. So gehört diese Universität mit den an ihr ausgebauten Lehren nicht von ungefahr - neben Jena, z.T. auch Gießen - zu den Universitäten, die der deutschen Frühaufklärung mit den Weg bahnten, anregend, ja anstoßend für Halle zu wirken vermochten. Die zweite Universität, die ebenfalls ein wenig aus dem üblichen Rahmen fiel, war sodann Jena. 36 Ebenfalls Hochburg protestantischer Orthodoxie - Calixts "Syncretismus" wurde in den zwanziger Jahren abgelehnt, Professoren und Studenten waren auf die Concordienformel verpflichtet, Ramus blieb verboten -, fand es doch zu einer modifizierten Form wissenschaftlicher Methode und gelehrter Betätigung. Johann Gerhard, der herausragende Gelehrte der ersten Jahrhunderthälfte, legte Metaphysik und Logik zwar klar auf die Theologie fest, stützte daneben aber auch die Pflege der Philosophia practica. Die beiden philosophischen Lehrstühle wurden dann dementsprechend aufgeteilt, wobei verständlicherweise zunächst der metaphysische übergewichtig war. Aber auch er tendierte während der zweiten Hälfte des Jahrhunderts immer mehr zur "reinen" Philosophie, falls das "Sich von theologischer Dominanz Entfernen" einmal so genannt werden kann. Dort, wo die aristotelische Interpretation hohes Niveau erreicht hatte und die Universitäten nach dem Krieg wieder erstarkten, konnte nach 1660 eigentlich nicht mehr mit gutem 33 Außer den genannten Monographien zur Geschichte der einzelnen Universitäten vgl. auch E. Lewalter, Spanisch-jesuitische und deutsch-lutherische Metaphysik des 17. Jahrhunderts, Hamburg 1935 (jetzt Darmstadt 1967). 34 Die näheren Angaben bei Weber, Scholastik, Petersen, Geschichte, Wundt, Schulmetaphysik, Eschweiler, Philosophie sowie Lewalter, Metaphysik. 35 Hierzu grundlegend Dreitzel, Aristotelismus sowie Brückner, Staatswissenschaft. 36 Vgl. die vorzügliche Geschichte der Universität Jena.
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Gewissen einer reinen aristotelischen Schulphilosophie gefolgt werden. Die Fernwirkungen des Cartesianismus, das neuerliche Vordringen ,,höfischer" Kultur auch im Reich, die unzeitgemäß überzogene theologische Polemik wie auch die mittlerweile überaus feingeschliffene aristotelische Schul philosophie selbst zwangen gleichsam in die Richtung einer neuen, sich gegenseitig durchdringenden und anregenden Form der Philosophie, zur Versöhnung widerstreitender Prinzipien. Weder humanistische Traditionen noch gar theologische Bedürfnisse schienen allein verpflichtend für die Philosophie verbleiben zu können, das rationale Interesse drängte übermächtig vor - analog etwa den Bemühungen Leibniz' oder Pufendorfs. Indem die Kontroverstheologie ebenfal1s zunehmend besserer, rationalerer Argumente sich zu bedienen wünschte, die traditionelle Polemik und Dogmatik hatten ihre Beweisführung gleichsam ausgereizt, fand sie vermehrt Unterstützung im Rückgriff auf kirchenhistorische Ableitungen. Die unvermeidbare Beschäftigung mit den Lehren Calixts, denen der Pietisten, überhaupt den mannigfachen protestantischen Lehrmeinungen - und dies trotz wiederholter offizieller Verbote konnte auf Dauer allein in einer allgemein rational, nicht mehr konfessionspolitisch ausgerichteten Auseinandersetzung die Lösung der scheinbaren Widersprüche und Entgegensetzungen erhoffen. Auch hier halfen vorab historische, besser kirchenhistorische und literärgeschichtliche Erklärungen am besten und überzeugendsten. Ihrer relativierenden Kraft, ihrer sanften Verweltlichung des Denkens konnten die Anhänger der Orthodoxie dauerhaft nichts entgegensetzen. Fast unbemerkt bekamen sie den Boden unter den Füßen weggezogen, so daß - und dies war ganz anders als bei Angriffen von Seiten revolutionierender naturwissenschaftlicher Lehrmeinungen, die man schließlich erkennen und unterdrücken konnte - also die Richtungen strenger Observanz sich auflösten und verflüchtigten. Das gleichzeitige Vordringen der juristischen Fakultät in Jena, die ihrerseits neueren Lehren anhing, weltlicheren allemal, beschleunigte hier diesen Prozeß, ließ auch diese Universität in die Vorgeschichte der deutschen Frühaufklärung einrücken. Wie schon bei Jena gezeigt, führte der lutherische Aristotelismus in seiner zunehmenden Tendenz einer Verhärtung, einer instrumentalen Anbindung an die Theologie zu großen Problemen im Laufe des Jahrhunderts. Insbesondere die Zeit nach dem Westfälischen Frieden ließ Außenstehenden begreiflicherweise diese mittlerweile schematisierten und kanonisierten Lehrmeinungen unnütz und sinnlos erscheinen. Die damals verstärkt einsetzende Hinwendung zum sog. Guten Alten wie öfters nach großen Einbrüchen zu erleben - , die dadurch überbetonte, ja starre Orthodoxie befriedigte begreiflicherweise die weltlich sich verstehenden Fürsten und Räte nicht mehr. Gewiß sollte allenthalben das Verbot des Cartesianismus die Ruhe im Lande - besser an den Universitäten und in den Kirchen! - wahren. Denn das war die eigentliche Absicht bei den fürstlichen Geboten, und hierin standen selbst die Descartes näheren calvinistischen Hochschulen nicht zurück. So legte der Nassauische Graf 1651 neuerlich fest, daß in Herborn "keine andere philosophia alß die Aristotelica-Ramea conjunctim vel separatim" gelehrt werden dürfe.
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Aber weder hier noch an anderen Universitäten sollte das eine generelle Absage an modernere Lehrmethoden und -inhalte sein. Ganz im Gegenteil wurden ja Forderungen, die auch damals wiederum unter dem Begriff res statt verba vorgetragen wurden, dann gestützt, wenn sie ohne öffentlichen Aufruhr umgesetzt werden konnten. Nicht von ungefähr förderten die Fürsten damals neuerlich die juristischen Fakultäten, die als weltliche Institutionen angesehen wurden und sich gerade anschickten, solch neuen Lehrmeinungen zu folgen. Diese "Reformen" erfuhren nicht zuletzt von theologischer Seite viel Kritik. Sie konnten sich aber dank der fürstlichen Unterstützung allmählich durchsetzen. Es wurde das als der "staatlichen" Sphäre zugehörig angesehen, es sollte auf diesem Wege langsam die theologische Bevormundung der Universitäten überwunden werden. Von den bedeutenderen Universitäten haben dann - wie gezeigt - zunächst Helmstedt und vor allem Jena in den späten 60er Jahren eine flexiblere artistische Grundausbildung angeboten. Sie war polyhistorisch oder anders gewendet: literärgeschichtlich-historisch. Ein relativierender, ein weniger orthodoxer, man könnte auch sagen: ein "philologischer" Geist bemächtigte sich der Materien und lenkte die wissenschaftliche Diskussion vielerorts in verwandte Bahnen. Das auch von den Theologen entwickelte Interesse an historischen Ableitungen - z. T. das Ergebnis kontrovers theologischer Dispute - führte gemeinsam mit diesen Tendenzen zu einer Annäherung an Problemstellungen der westeuropäischen Erfahrungsphilosophie. Das erscheint mir übrigens entschieden bedeutungsvoller als die viel weniger wirkungsmächtigen, aber gern bemühten naturwissenschaftlichen Anstrengungen dieser Jahrzehnte. Erhard Weigel beispielsweise konnte in einem nach wie vor theologisch überwölbten Wissenschaftskosmos viel weniger leicht wirksam werden, als das eine neue Methode der zuständigen Wissenschaften selbst vermochte. In der Anfangsphase einer Erneuerung spielte gewiß auch das naturrechtliche Denken eine Rolle, aber doch eine geringere als beispielsweise pietistische oder späthumanistisch-historische Tendenzen. Ob als christliches Naturrecht - in Anlehnung an die Schulphilosophie - oder als eher weltliches, aber auf lutherischen Vorstellungen aufruhendes wie das Pufendorfs hat das Naturrecht nur vorübergehend stilbildend wirken können. Fast immer übrigens innerhalb der philosophischen Fakultäten gelehrt, hat es mit Thomasius, der zunächst diesem Denken selbst viel verdankte, und dem Ausbau einer erneuerten Jurisprudenz in Halle dann seine Wirkung, seinen Einfluß auf das neue Jahrhundert rasch verloren. Anders als in Westeuropa hat das Naturrechtsdenken denn auch nicht politisch fruchtbar zu werden vermocht, unseren Bürger-, Staats- und Rechtsbegriff nicht mitdefiniert. Die geschilderten verschiedenartigen Anregungen drängten gleichsam zu einem Zusammenschluß, zu einer neuen Synthese in den späten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts. In der Gründung Halles - ab 1692/94 also - wurde dann dies neue, in das sich aufklärend verstehende Jahrhundert hinüberweisende Wissenschaftsverständnis erreicht. Es war das übrigens ein Vorgang, der unmittelbar auf dem Boden
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des Reichs erwachsen ist. Westeuropäische Einwirkungen haben nicht eigentlich als das auslösende Moment für diese Wissenschafts- und Universitätsreform gewirkt, wenngleich sie indirekt von Bedeutung gewesen sind. Dennoch wäre es falsch, die genuin ,,reichischen" Entwicklungen und Vorbedingungen dieses neuen Wissenschaftsverständnisses zu unterschätzen, das also zu tun, was gemeinhin die Darstellungen bestimmt. Fragt man sich nach diesem grob aufrißhaften Überblick über die lutherischen Universitäten nach der Bedeutung all dieser Anstalten im Reich für die Wissenschaften - auch die Philosophie -, so scheinen mir wiederum einige allgemeinere Aussagen möglich. Die calvinistischen Hochschulen, um dies eben noch anzufügen, also Herborn, Duisburg, Heidelberg und vorübergehend Marburg, machen darin übrigens keine Ausnahme! Auch auf sie trifft im großen und ganzen diese allgemeine Analyse zu. Auch sie unterlagen dem, was man grob wiederum als ,,zeitgeist" benennen könnte, der ja auch die katholischen Universitäten nachdrücklich mit beeinflußte bzw. von ihnen allen mitgeprägt worden ist. Zunächst einmal kann neuerlich auf die vergleichsweise ungebrochen wichtige Position all dieser Universitäten für die Ausbildung und auch die geistige Diskussion im Reich verwiesen werden. Das ist anders als im Westen Europas, von den Niederlanden damals einmal abgesehen, die aber hier eine höchst wichtige und bezeichnende MittlersteIle einnahmen. Der Aristotelismus, das Vordringen metaphysischer Anstrengungen zusammen mit späthumanistisch-enzyklopädischen Wissenschaftsvorstellungen, die insgesamt polemischere, ja kämpferischere Haltung zu Ende des 16. Jahrhunderts und zu Beginn des 17. hatten zu einem kräftigen Erblühen der artistischen und theologischen Disziplinen geführt. Die damals erreichte, teilweise solide territorialstaatliche Geschlossenheit erlaubte, ja verlangte eine großzügige Förderung der "einheimischen" Wissenschaften und Hochschulen. Die konfessionell andererseits nie ganz ungefährdete Position der Territorien des Reichs förderte ihrerseits ebenfalls diese Tendenz. Geistige, konfessionelle wie territoriale Absicherung schien vordringliche Aufgabe. Ein geschlossenes und überzeugendes wissenschaftlich-religiöses ·Gebäude hatte das Seinige zu leisten, diesen Absichten zum Erfolg zu verhelfen. Selbstverständlich waren auch auf einem solchen Weg durchaus originelle Beiträge und Sonderentwicklungen möglich, unbeschadet eines insgesamt jedoch vorwaltenden "campanilismo", eines verengten Territorialismus und vielfachen Provinzialismus. Das erklärt auch das bereits erwähnte Phänomen, daß mancher damals außerhalb der Universitäten zu wirken suchte, daß das 17. Jahrhundert innerhalb der mittelalterlich-ffÜhneuzeitlichen Geschichte der Universitäten des Reichs eine gewisse Sonderrolle einnahm. Der Eindruck kriegerischer Zerstörungswut nahm den z. T. erblühten gelehrten Anstrengungen nicht nur die Frische und Unmittelbarkeit. Der Krieg insgesamt verunsicherte den theologisch sich verstehenden Wissenschaftskosmos, das gelehrte, wissenschaftliche Selbstverständnis. In ihrem engen Rahmen, in ihrer in-
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folge des Kriegs vielfach angewachsenen Bedeutungslosigkeit vennochten es die Landesuniversitäten häufig jedoch nicht, die im Politischen nach 1650/60 erreichten Standards rasch auch in theoretische Erkenntnis umzusetzen. Die meisten verblieben zunächst - und dies unbeschadet ihrer konfessionellen Zugehörigkeit - in den tradierten, damit jetzt aber starren Gleisen. Sie wurden Anstalten zur Ausbildung örtlicher, allenfalls territorialstaatlicher Bedienungen in Schule und Kirche. Je offener die Welt der Höfe für mundanere Lebensfonnen wurde, um so abgeschlossener verharrten die meisten Universitäten auf Rechtgläubigkeit und Tradition, auf Aristotelismus, Orthodoxie, Fonnalismus, Ratio studio rum, etc. Anzeichen einer möglichen Änderung waren allein dort zu bemerken, wo hohe Frequenz vennehrte Konkurrenz bedeutete und wo zudem die Bedürfnisse weiter ausgreifender staatlicher Tätigkeit solche Erneuerungen sozusagen verlangte: in Jena, Helmstedt und Leipzig z. B .. Dort vennochten auch von außen wirkende Anregungen - Baltasar Schuppius, Christian Weiße, Leibniz, Pufendorf, um nur einige zu nennen - zu verunsichern, zu neuen methodischen Überlegungen Anlaß zu geben. Gleichwohl bestimmten auch hier die bisherigen, die eher traditionellen Vorstellungen noch geraume Zeit die Wissenschaften. Erst die Neugründung Halles bezeichnenderweise auch sie vorab aus konfessionspolitischen Überlegungen resultierend, aus weltlichen freilich, falls dies so widersprüchlich fonnuliert werden kann - brachte dann tatsächlich die Überwindung des erstarrten Universitätsbetriebs, was sich freilich tief ins 18. Jahrhundert hinein erstrecken sollte. Versucht man abschließend eine Antwort auf die eingangs erörterten Fragen zu geben - inwieweit von einer Barock-Philosophie nämlich, von einer einheitlichen Entwicklung der Universitätswissenschaften im Reich gesprochen, wie möglicherweise eine überzeugendere zeitliche Zuordnung getroffen werden kann -, so scheint die letzte Frage am einfachsten zu beantworten. Offensichtlich erlaubten es die im Reich infolge des Augsburger Religionskompromisses gefestigten territorialen Absprachen und Entwicklungen, eine insgesamt recht kräftige Universitätspolitik auf der Ebene der Territorien zu betreiben. Im Zuge sich dann verschärfender Gegensätze zu Ende des Jahrhunderts und zu Beginn des neuen, des 17. Jahrhunderts kam es nicht nur zu einer polemisch verschärften, in konfessionell wissenschaftlicher Auseinandersetzung sich abgrenzenden gelehrten Produktivität, sondern auch zu einer Art Blüte der wissenschaftlichen Diskussion insgesamt. Philosophie, philosophisch-theologische Disziplinen, die artistischen und theologischen Fakultäten waren fast allenthalben davon betroffen, aber auch die juristischen Disziplinen nahmen damals an diesem Aufschwung teil, wenn auch hier davon nicht gesprochen wurde. 37 Was nun Einheitlichkeit, systematischen Aufbau, Erfolg dieser Universitätsausbildung betraf, schienen zunächst die katholischen Universitäten, schien die jesuitische Ordnung die führende bzw. bessere. Freilich rief sie alsbald entsprechende Reaktionen auf protestantischer Seite hervor, oder anders gewendet: auch 31
Vgl. dazu meine Abhandlung: Jus Publicum Romano-Gennanicum.
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dort entwickelte sich ab den Jahren 1590/1600 bis in die späten 20er Jahre des 17. Jahrhunderts eine bemerkenswert blühende Gelehrsamkeit an Universitäten. Die zunehmend spürbarer werdenden Auswirkungen des Dreißigjährigen Kriegs unterbrachen dann mehr oder weniger einschneidend diesen Aufschwung universitärer Gelehrsamkeit. Ohne im eigentlichen Sinne einen totalen Einbruch darzustellen - im Blick auf das Gesamt des Reichs, denn für einzelne Universitäten war es das gelegentlich schon - schwächten die Kriegsereignisse und -folgen für lange kontinuierliche Entwicklung, überregionale Kontakte, offenen Disput. Während das Reich insgesamt - also auch die Territorien - nach 1648 sich zunehmend anschickte, ein eher entkonfessionalisiertes Leben in Gemeinschaft zu entwickeln und zu finden, verfielen die geschwächten Universitäten häufig in starre Unbeweglichkeit, epigonenhafte Unfruchtbarkeit. An den katholischen Anstalten hielt sich dieser Zustand gar bis in die 20er Jahre des neuen Jahrhunderts. Die protestantischen hingegen fanden im allgemeinen früher eine Erneuerung. Unter Vorausgehen Helmstedts und Jenas ab den 1550/60er Jahren und dank der Gründung Halles waren den anderen lutherischen und selbst den calvinistischen Hochschulen der Weg, die Mittel vorgezeichnet, auf welche Weise eine verbesserte, eine mundane oder gern auch höfisch genannte Wissenschaft wieder attraktiv und erfolgreich werden konnte. Insoweit läßt sich unbeschadet der nicht zu übersehenden Auf- und Abschwünge eigentlich ein zeitlicher Rahmen der Universitäts wissenschaften unter konfessionspolitischen Vorzeichen von ca. 1590 bis 1660 abstecken. Danach folgt, zumindest an den führenden lutherischen Hochschulen, eine Übergangszeit von 1660 bis 1690/1720. Es ließe sich insoweit auch ein Bogen von 1590 bis 1690 etwa spannen. Wie schon gesagt, verlängerte sich für die katholischen Universitäten dieser Zeitraum bis 1720/1740. Hier trat also ab dem Dreißigjährigen Krieg eine Art Phasenverschiebung ein. Die calvinistischen Anstalten wiederum hatten damals ein eher peripheres, ein wenig wirkungsvolles Dasein. Sie richteten sich zudem entschieden stärker nach ihren westeuropäischen Vorbildern, so daß zwar Berührungen mit den religionsverwandten Universitäten stattfanden, jedoch keine tiefergehende gegenseitige Beeinflussung festzustellen ist. Das äußere Zeichen, und damit aber auch ein inhaltliches, für die Erneuerung der Wissenschaften war dann zu Ende des Jahrhunderts - und insoweit auch verbindlich für das kommende - die Präponderanz der juristischen Fakultäten. Sie verdrängten die Theologie aus ihrer bisherigen Führungsrolle. Die artistischen oder philosophischen Fakultäten hatten insoweit nunmehr einen neuen Herrn, sie hatten dadurch auch neue Problemstellungen und selbst neue Gewichtungen ihres Fächerkanons. All das führt aber über den hiesigen Zusammenhang hinaus. Mit der Beschreibung der zeitlichen Zuordnung wurde in gewisser Weise auch die Frage nach der reichseinheitlichen Entwicklung der artistisch-theologischen Fakultäten beantwortet. Von etwa den gleichen Grundvoraussetzungen ausgehend,
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den späthumanistischen, reformatorisch-gegenreformatorischen Fragestellungen und Wissenschaftsauffassungen, beschäftigten sich beide im Reich anerkannten Konfessionsparteien mit vergleichbaren, allemal einander noch verständlichen Fragen. Sie erlebten beide gemeinsam denn auch einen Aufschwung der Universitäten und der Universitätsgelehrsamkeit. Anders freilich als die Lutheraner bildeten die Jesuiten keine eigentliche Schulphilosophie aus, schienen ihre Bemühungen sogleich und vermehrt auf Theologie sowie die Praxis zu zielen. Diese in gewisser Weise vergleichbare Entwicklung erfuhr in der zugespitzten Situation des Krieges ab den späten I 620er Jahren eine Änderung. Nach gelegentlicher Stagnation, die alle traf, überflügelten die protestantischen Anstalten alsbald die katholischen; sie nahmen eine neue, eine eigene Entwicklung. So zerbrach im Dreißigjährigen Krieg im Geistigen die seit der Reformation schon mehr als brüchig gewordene Einheit endgültig, oder, vorsichtiger formuliert: das trotz der Reformation ,,Noch verständliche miteinander Diskutieren" und "Sich verstehen" kam jetzt an einen Endpunkt. Die Territorien des Reichs nahmen endgültig eine konfessionell bedingte getrennte Entwicklung, die zwar nicht zum totalen Bruch, aber doch zur weitgehenden Distanz führte. Die calvinistischen Territorien, die im hier behandelten Zeitraum ohnehin eine eher periphere Bedeutung hatten, im allgemeinen nur lokales Gewicht besaßen, nahmen ihrerseits natürlich an dieser allgemeinen Tendenz teil. Insoweit änderte sich das Bild nicht erheblich, wenn - was hier nicht geschah auch die Hochschulen dieser Territorien intensiver miteinbezogen worden wären. Ihre mehrfach erwähnte, nur geringe, kaum überörtliche Ausstrahlung innerhalb des Reichs - im Blick auf Westeuropa ist da freilich anders zu urteilen - rechtfertigt diese eher beiläufig-blasse Erwähnung. Die Trennung, besser die verschiedenartige Entwicklung der Universitäten und ihres wissenschaftlichen Kanons im Zuge der Konfessionalisierung kommt übrigens zu einem Stillstand - um dies noch anzumerken - im Verlauf des 18. Jahrhunderts. Im Zuge fortschreitender ,,Aufklärung" nämlich auch der katholischen Reichsteile gelingt dann gar eine rasche Annäherung. Das Reich findet in der zweiten Jahrhunderthälfte ansatzweise wieder zu einer gemeinsamen Sprache zurück, so daß deutscher Idealismus, Klassik und Romantik "gemeindeutsch" rezipiert werden konnten. Aber das führt weit über den hier zu behandelnden Zeitraum hinaus. 38 Diese getrennte Entwicklung scheint mir die eingangs aufgezeigten widersprüchlichen oder uneinheitlichen Zeitangaben in Hinsicht auf die Universitätsgeschichtsschreibung zu erklären. Die zunächst trotz unterschiedlicher konfessioneller Ausrichtung weithin noch vergleichbare Wissenschaftsauffassung und Uni versitätsentwicklung - humanistisch-reformatorisch-gegenreformatorisch - driften zu Beginn des 17. Jahrhunderts zunehmend auseinander. Polemische Zuspitzung, lan38
Hierzu N. Hammerstein, Aufklärung und katholisches Reich, Berlin 1977.
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desherrliche Indienstnahme der Universitäten, schließlich der offene Ausbruch des konfessionellen "Bürgerkrieges" selbst beschiießen nahezu jede Form von Gemeinsamkeit, wie gezeigt.39 So scheint sich die Mitte des Jahrhunderts als mehr oder weniger probates Datum anzubieten, wobei es in Anbetracht des Dreißigjährigen Krieges und seiner Folgen auf ein paar Jahrzehnte mehr oder weniger nicht anzukommen braucht. Auch für den Endpunkt des da angeblich eingetretenen Niedergangs darf das gelten. Die Darstellungen zu katholischen Universitäten werden ihn erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als gekommen betrachten, auf protestantischer Seite stehen Halle-Göttingen zutreffend für den einsetzenden Neubeginn. Das läßt sich in mancher Hinsicht durchaus begründen und trifft schließlich im großen und ganzen auch zu. Dennoch, unser Überblick sollte ergeben haben, daß in wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht das 17. Jahrhundert, besser die Jahrzehnte von 1580/90 bis 1690/ 1700 ca. eine eigentümliche Phase gelehrter Anstrengungen gewesen sind. Gewiß verlief diese Phase nicht zielstrebig, eingleisig-bruchlos, sie mußte vieles außerhalb der Universitätswissenschaften geschehen lassen; sie sah eine Fülle von Besonderheiten und Ausnahmen, sie nahm ferner eine beschleunigte Entwicklung weg vom Konfessionellen ab der zweiten Hälfte des Jahrhunderts und vertiefte damit zugleich die konfessionell unterschiedliche Entwicklung der Reichsteile. Bis zum Neuansatz jedoch, der paradigmatisch mit Halle anzusetzen ist, ohne daß damit bereits der Wissenschaftskanon im Reich grundsätzlich auf dieses Verständnis festgelegt gewesen wäre, hat im 17. Jahrhundert eine besondere, eine eigentümliche wissenschaftliche Diskussion stattgefunden, weisen die Universitäten eine fast spezifisch zu nennende Physiognomie auf. Sicher wäre es verfrüht, hier mehr als diesen recht vagen Befund einer Einheit des 17. Jahrhunderts als wissenschaftsgeschichtlicher Epoche zu konstatieren. Auch wird es nach wie vor in erheblichem Maße darauf ankommen, welche Problemstellung zugrundeliegt, welche Disziplin, was für eine Universität jeweils untersucht wird. Dennoch sprechen bestimmte Momente und einige Erscheinungen dafür, diese Zeit in sich geschlossener in unserem Zusammenhang hinfort zu sehen, als das früher üblich war. Was ist nun, um dies abschließend zu beantworten, barock an dieser hier vorgestellten Entwicklung? Es ist das gewiß die schwierigste, aber auch wieder die nebensächlichste Frage. Gelegentlich werden der Polyhistorismus des 17. Jahrhunderts, auch die enzyklopädischen Bestrebungen als typisch barock, als üppig-umfassende Sammellust bezeichnet. Aber abgesehen davon, daß diese Wissenschaftsauffassungen nicht das ganze 17. Jahrhundert bestimmten, die gesamte Zeit über vorherrschten, waren der Enzyklopädismus, in mancher Hinsicht auch der Polyhistorismus eher spät Geborene des auslaufenden Humanismus und insoweit nur 39 Zur auch landesherrlich vergleichbar gemeinsamen "Politik" der deutschen Fürsten im 16. Jahrhundert vgl. meinen Beitrag: N. Harnmerstein, Universitäten - Territorialstaat - Gelehrte Räte. in: R. Schnur. Hrsg .• Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates. Berlin 1986. 687 ff.
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Universitäten als Ort der Philosophie des Barock
bedingt barock. Freilich bleibt es auch bei dieser Aussage wieder offen, was eigentlich barock ist bzw. was ich darunter verstehe. Es bringt mich das aber zugleich zu einer weiteren .Anmerkung. Im Grunde ist diese Frage im Zusammenhang der Philosophie, auch der der Geschichte der Universitätswissenschaften während des 17. Jahrhunderts eine doch eher nebensächliche. Solche Termini wie Barock oder Renaissance neigen dazu, sich zu verselbständigen, sie verleiten zu definitorischen Spielereien und inhaltsschweren Begriffsbestimmungen. Gewiß stellt sich die Zeit von 1590 bis 1690 als eine in unserem Zusammenhang in vieler Hinsicht einheitliche dar. Charakteristische Besonderheiten, die es vorher so nicht gab und die wenig später kaum mehr vorkommen, waren dem 17. Jahrhundert fraglos eigentümlich. Ganz gewiß gehören z. B. die protestantischen Schulphilosophie dazu wie auch die Naturrechtslehren der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, ferner auch der Lipsianismus, von dem hier gar nicht die Rede war! All das kann man "Barock" nennen. Im Blick auf die Geschichte des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation zöge ich es jedoch vor, diese Phase der Universitätsgeschichte als Zeit konfessionspolitischer Wissenschafts auffassungen oder schlicht als Geschichte der Wissenschaften im 17. Jahrhundert zu bezeichnen. Der höfische wie auch der kirchliche Barock im Reich heben eigentlich erst längere Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg an. Das Barockzeitalter erlebte seine herausragenden Manifestationen in Architektur, bildender Kunst und Zeremoniell im letzten Jahrzehnt des alten und in dem ersten des neuen Jahrhunderts. Und damals gesellt sich dieser Entwicklung ja eigens eine Philosophia aulica bei! Nähme man nun das 17. Jahrhundert als die Zeit barocker Wissenschaften, könnte ein nicht so Versierter leicht auch das frühe 18. Jahrhundert noch unter dieser Beschreibung begreifen, was gewiß nicht gravierend wäre, aber wiederum vermieden werden kann, zumal es in der Sache selbst nicht recht begründet ist. Und schließlich, um zu dem engeren Ausgangspunkt der Überlegungen einer Philosophie des Barock zu kommen, eine barocke Philosophie erscheint weniger plausibel als der Terminus Schulphilosophie, wobei selbstverständlich Leibniz als darüber hinausweisend eigens genannt werden müßte.
Jus Publicum Romano-Germanicum Der wenig modeme Bau des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation trat . in die Frühe Neuzeit mit nach wie vor stark mittelalterlichen Zügen ein. Gewiß fand er damals zu seiner neuen Namensgebung, die recht schön die Spannung von Neuem und Altem, die traditionsgeprägte wie auch die selbstbewußt-neuerungsbemühte Seite kennzeichnet. 1 Aber die weiterführende, modernere Vorstellung von dem, was das Leben der Menschen in Gemeinschaft - im Staat, wie wir sagen - anbelangt, erfuhr dies Reich aus Kaiser und Ständen, dieser Körper aus verschiedenartigsten gegenseitigen rechtlichen Bindungen nicht von da, nicht einheitlich oder insgesamt. Vorab die Territorialstaaten dieses Reichs fanden damals - wie bekannt - einen kräftigen Auftrieb, sie waren es, die die Erfahrungen staatlicher Tätigkeit vermittelten. Reichsreformbestrebungen, Schwäche des Kaisertums, bzw. seine Ablenkung infolge europäischer Aufgaben und Verwicklungen, das Ende der res publica christiana, der Aufbruch konfessioneller Gegensätze, neue Bildung und Rechtsordnungen - die Rezeption des Römischen Rechts -, all das kam dem Ausbau territorialstaatlicher Stellung zugute, nicht dem Reich als solchem. 2 Das verblieb zwar als unabdingbarer, allgemein akzeptierter und notwendiger Rahmen, aber im Bereich sozusagen einer Idealvorstellung, normativer Ideen. Folgerichtig fiel das Kaisertum - seines universalistischen Partners durch die Reformation zudem beraubt - nach den .. Sturmjahren" auf die Rolle eines Territorialherrn zurück. Der Abschluß eines konfessionellen Kompromisses auf der Grundlage des status quo während des Augsburger Reichstages von 1555 besiegelte endgültig die führende, weithin wirkende Rolle des Reichs, führte in ruhigere, ja provinzielle Bahnen zurück. Indem sich die die Folgezeit bestimmenden und prägenden Auseinandersetzungen weitgehend außerhalb des Reichs vollzogen, eine Verlagerung nach Westen infolge der Reichsteilung Karls V., des Gegensatzes zwischen den Madrider HabsErstveröffentlichung in: Diritto e potere nella storia europea. Atti deI Quarto Congresso internazionale della Societa italiana di storia deI diritto, Leo S. Olschki Editore, Florenz 1982, 717-753. 1 Grundlegend noch immer die Arbeiten Paul Joachimsens. Eine rasche Orientierung bieten einige seiner Aufsätze, wie: Zur historischen Psychologie des deutschen Staatsgedankens; Renaissance, Humanismus, Reformation; Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes; jetzt in: Gesammelte Aufsätze, hrsg. von N. Hammerstein, 2 Bde., Aalen 1970/ 1983; ferner ders., Die Reformation als Epoche der deutschen Geschichte. München 1951. 2 Zu diesen Fragen kurz und informativ einschließlich des derzeitigen "Diskussionsstandes": H. Lutz, Reformation und Gegenreformation (Oldenbourg Grundriß der Geschichte. 10) München/Wien 1979. Instruktiv ferner S. Skalweit, Reich und Reformation, Berlin 1967; B. Moeller, Deutschland im Zeitalter der Reformation, Göttingen 1977.
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burgern und dem Hause Valois stattgefunden hatte, war auf Reichsboden zunächst wenig Anlaß gegeben, die vorwaltende Ruhe, das friedliche Miteinanderleben nachhaltig in Frage zu stellen oder gar zu stören. 3 Aus- und Aufbau der je eigenen Herrschaft waren nach den unruhigen Zeitläufen gemeinsamer Wunsch aller Verantwortlichen. Das hatte naturgemäß seine Rückwirkungen auf die Vorstellungen von dem, was staatliches Leben, was das Wesen der menschlichen Gemeinschaften sei, was ihr gegenseitiges Verhältnis, das Zusammenleben im Reichsverband betraf. Die im Westen infolge der dortigen existenzbedrohenden Auseinandersetzungen entwickelten Ideen fanden begreiflicherweise hier zunächst nur geringen Widerhall. Die scheinbar stabile Ruhe bestärkte in der Gewißheit, mit den vorhanderien Mitteln - nicht zuletzt mit denen des Corpus Juris - Streitfragen entscheiden, Fragen lösen, eine Rechtsordnung garantieren zu können. Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Territorien oder zwischen Reichsständen schlechthin konnten zudem - so mußte es einem rechtskundigen theoretischen Blick erscheinen, gehörten alle doch einem gemeinsamen Corpus an, einem, in dem Ruhe obzuwalten schien - als gleichsam privatrechtliche Vorgänge auf höherer Stufe begriffen und beschrieben werden. 4 Eine spätere Zeit hat diese in der Tat nicht rein "staats- oder öffentlich-rechtlichen", besser publicistischen Materien folgerichtig auch als "Privat-Fürsten-Recht" bezeichnet! Das Corpus Juris bot mit anderen Worten für all diese Fälle die zuständigen Auskünfte und Regeln. Hatten also öffentlich-rechtliche bzw. staatsrechtliche Probleme - um es in moderner Ausdrucksweise zu nennen - abgehandelt zu werden, konnte dies auf der genannten Grundlage geschehen. Institutionen und Digesten boten hinreichend Möglichkeiten, das Imperium civile darzustellen und zu ordnen. Und das hielt sich recht lang, z.T. bis ins 18. Jahrhundert, wenngleich es da Ausweis eines minder entwickelten wissenschaftlichen Standes war.s Die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auch im Reich wieder aufholende katholische Kirche, das Vordringen gegenreformatorischer Politik also - Bayern vorab ist hier zu nennen, gefolgt von süddeutschen und fränkischen Fürstbistümern, unterstützt auch von dem "Spanier" Rudolf n. auf dem Kaiserthron, verschärfte bis zu Ende des Jahrhunderts die latente Konfliktsituation. Indem konfessionelle Gegensätze sich vielfach mit ständischen verschränkten, Landesherren und Landstände, Kaiser und Reichsstände politisch, rechtlich und religiös häufig 3 Hierzu auch E. W. Zeeden, Hegemonialkriege und Glaubenskämpfe 1556-1648 (Propyläen Geschichte Europas, 2), Frankfurt a. Main I Berlin I Wien 1977. 4 Zu allgemein rechtshistorischen Fragen F. Wieacker, ·Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1967. Die Literatur - zumindest teilweise - bei H. Coing, Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. 1 u. 2,1, München 1973-1977. Unentbehrlich in unserem Zusammenhang nach wie vor und trotz manch überholter Wertung R. Stintzing/E. Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, 3 Bde., München I Leipzig 1880. S Belege in N. Hammerstein, Aufklärung und katholisches Reich, Berlin 1977. Vgl. ferner R. Hoke, Die Emanzipation der deutschen Staatsrechtswissenschaft von der Zivilistik im 17. Jahrhundert, in: Der Staat 15, 1976,211 ff.
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entgegengesetzte Interessen verfolgten, mußte es sich immer deutlicher herausstellen, daß alle konfessionellen Fragen auch politische und alle politischen zugleich konfessionelle waren. Diese Verquickung erschwerte nicht nur das Zusammenleben im Reich, die Lösung nahezu aller gemeinreichischen Belange, es schärfte andererseits den Sinn dafür, daß dies Gemeinwesen einer zutreffenderen Beschreibung seiner Ordnung bedurfte, als sie bisher geleistet worden war. Auseinandersetzungen wie die um Kur-Köln, wie die des Magdeburger Sessionsstreits, überhaupt die Frage der Auslegung des Augsburger Religionsfriedens, des Jus reformandi, der Eigenständigkeit adliger Religionswahl etc. führten zwangsläufig zu einer vermehrten Diskussion der rechtlichen und verfassungspolitischen Seite dieser Vorgänge. Als dann gar der Casus der Stadt Donauwörth zu Beginn des neuen Jahrhunderts hinzukam, die Gründung der katholischen Liga und der protestantischen Union stattfanden, der Jülich-Klevische Erbfolgestreit ausbrach - Ausweis gleichsam der verschärften Situation im Reich insgesamt, einer "Krise der Reichsverfassung,,6 -, war es nur folgerichtig, daß die in Gang gekommene literarische Auseinandersetzung ihrerseits zunehmend an Schärfe und Intensität gewann. Bereits seit den Spätjahren des vorangegangenen Jahrhunderts, seit der sich anbahnenden Verschärfung der Gegensätze nahmen einige Rechtslehrer oder weltkundige Gelehrte - sei es an Universitäten oder Höfen - mit zunehmender Aufmerksamkeit wahr, was von außerhalb des Reichs an Diskussionen oder Erklärungsmodellen auch hierher drang und solcherart sich anbot. Verschiedene Disziplinen, Überlegungen, Materien waren da von Bedeutung. Sie wiesen aber alle in die gleiche Richtung, was Problemstellung und methodische Ansatzpunkte betraf. Nicht unerheblich war es, daß z. B. die Kenntnisse des mos Gallicus, z.T. infolge Studienaufenthalts deutscher Rechtsstudenten in Frankreich oder in den Niederlanden, zunahmen. Die Flucht hugenottischer Rechtsgelehrter ins Reich, ihre vorübergehende Lehrtätigkeit an deutschen Universitäten vennehrten ebenfalls diese Kenntnisse. Es ist in diesem Zusammenhang durchaus unerheblich, daß dennoch und nach wie vor der mos Italicus bestimmend blieb, die praktische Bedeutung des mos Gallicus letztlich unerheblich war. Der im Reich mit fortschreitender Refonnation zurückgedrängte Humanismus erfuhr dadurch zwar keinerlei Wiederbelebung. Die methodische Prämisse jedoch, die dieser Auffassung inhärent gewesen war, erhielt von dieser humanistischen Jurisprudenz, von dem französischen Vorbild einer Bearbeitung des Jus Gallicum wichtige Anstöße. Es schien immerhin möglich, ja fast erlaubt, sich auch eigener Traditionen und Besonderheiten zu erinnern. 7 Von einer weiteren Seite erhielten diese Tendenzen einer Vergewisserung (früh)nationaler Eigenart zusätzliche Unterstützung. Auch das kann ich nur umrißhaft 6 So F. Dickmann, Der Westfälische Friede, Münster 1965, hier bes. Kap. 4. - Zur historischen Situation des Reiches vgl. auch E. W. Zeeden, Deutschland von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zum Westfälischen Frieden, in: Handbuch der europäischen Geschichte, hrsg. von Th. Schieder, Bd. 3, Stuttgart 1971,449 ff.; dort ausführliche Literaturverweise. 7 Hierzu Wieacker, Privatrechtsgeschichte; Coing, Handbuch, Bd. 2, 1; Stintzing/Landsberg, Geschichte. 8 Hammerstein
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beschreiben. Die in den "moderneren" Staatswesen der frühen Neuzeit aufgebrochene Diskussion einer Ratio status, die insbesondere in Frankreich während der Konfessionskriege fortgeführt, ja überspitzt wurde, lenkte das Interesse immer wieder auf Fragen des Wesens öffentlicher Ordnung.8 Herrschaftsformen, ihre Bedingungen und Mischungsverhältnisse, die Gesetze des Politischen - so wie es damals verstanden wurde - wurden da erörtert und führten zu einer Hinwendung zu empirisch-praktischem Denken. Mit dem Rüstzeug der aristotelisch-politischen Begriffe, in dem Bemühen einer Loslösung der Politik aus konfessioneller Verstrickung, der Umschreibung einer ihr eigentümlichen religionsfreien Sphäre erfuhr der Aristotelismus neuerlich Aufschwung9 , und auch das politisch-historische Erklärungsmodell, das mit ,,Neustoizismus,,10 bezeichnet wird, entfaltete sich immer deutlicher. Beide Arten des Denkens erlaubten es, dem staatlichen Bereich größeres Eigengewicht gegenüber den Kirchen zuzuerkennen. Sie erfüllten insoweit durchaus einen praktisch-politischen Zweck. 11 Beide Richtungen verlangten ferner danach, vermehrt durch Erfahrung und empirische Belege - bei gleichzeitiger rationaler Berechenbarkeit - abgesichert und gestützt zu werden. Sie entsprachen insoweit dem Bedürfnis der Zeit nach geometrischer Beweisbarkeit und säkularisierter Rationalität! In der Lehre vom Naturrecht, in dessen innerweltlich-normativer Legitimationsbasis konnten diese Vorstellungen alsbald zusätzliche Gewißheit und weiterführende Absicherung erreichen 12, was aber, da es mit unserer Frage hier nichts unmittelbar zu tun hat, außer Acht gelassen werden kann. Bedeutsamer war es - wie gesagt -, daß im Rückgriff auf historische Beweisführung und entsprechend der vorwaltenden empirisch-praktischen Absicht die politische Diskussion im Reich neue Argumente erhielt, mit denen sie auf die zunehmenden Spannungen auch theoretisch reagieren konnte. Insbesondere die diesem allgemeinen Umkreis entstammende Analyse Bodins wurde in ihrer Aussage, das Reich betreffend, sehr rasch vehement diskutiert. 13 Sie paßte vorzüglich in die sich 8 Zu diesen Problemzusammenhängen vgl. J. W. Allen, A History of Political Thought in the Sixteenth Century, London 1957; J. Lecler, Histoire de la tolerance au siecle de la retonne, Paris 1955; F. Meinecke, Die Idee der Staatsräson, München 1960; O. von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, 5. Aufl. Aalen 1958. 9 Hierzu u. a. H. Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und absolutistischer Staat, Wiesbaden 1970. 10 Vgl. die verschiedenen Arbeiten G. Oestreichs, jetzt in: ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, Berlin 1%9. 11 Vorzüglich - auch für die weitere Thematik - J. Brückner, Staatswissenschaften, Kameralismus und Naturrecht, München 1977. 12 Dazu auch M. Stolleis, Reichspublizistik, Politik, Naturrecht im 17. und 18. Jahrhundert, in: ders., Hrsg., Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt a. Main 1977. Dort auch die Abhandlungen von P. J. Winter, Johannes Althusius; H. Hofmann, Hugo Grotius; Ch. Link, Dietrich Reinkingk; D. Willoweit, Hennann Conring. 13 Zum ganzen auch R. Hoke, Die Reichsstaatsrechtslehre des Johannes Limnäus, Aalen 1%8, bes. 152 ff.; F. H. Schubert, Die deutschen Reichstage in der Staatslehre der frühen
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verhärtende Atmosphärel 4 , bot den streitenden Parteien die Richtung für ihre konfessionspolitisch-politischen Argumente und Überlegungen. Die theoretischen Erörterungen, ob das Reich eine Monarchie oder eine Aristokratie mit monarchischem Annex sei - so hatte es etwa Bodin charakterisiert -, ob die Stände vor oder gar ohne den Kaiser zu bestimmen hätten, wie die forma Imperii also sei, enthielten einen unmittelbaren politischen Zündstoff. Daß die Argumente je nach Lager und Interesse unterschiedlich gewählt wurden, versteht sich von selbst, wobei es aufflillt, daß nicht immer die konfessionelle Zugehörigkeit die Auffassung vorausbestimmte und daß anfänglich, bis etwa zur zweiten Hälfte des Dreißigjährigen Kriegs, zum Restitutionsedikt Ferdinands 11. (1629), eine prinzipiell antikaiserliche bzw. antihabsburgische Position nicht vertreten wurde. Die Frage des Verhältnisses protestantischer Landesherrn zum katholischen Kaiser, die zu Ende des 16. Jahrhunderts so virulent geworden war und diese Diskussion über die öffentlich-rechtliche Gestalt des Reichs unabweisbar werden ließ, wurde zunächst und selbst von Verteidigern extrem territorialstaatlicher Rechte dahingehend gelöst, das Reich sei eine ständisch moderierte, eine aristokratische Monarchie. Wenn dieser Befund auch kaum der Analyse Bodins entsprach - Bodin wurde dementsprechend häufig widersprochen -, so kam man ihm doch nahe. Freilich schienen weder das Kaisertum noch die landesherrliche Stellung damit bedroht. Der jeweilige Standort konnte solcherart verteidigt werden. Man bedurfte dazu nur - wie man meinte juristisch klarer Belege. Sie anzubieten war das Verdienst der um die Jahrhundertwende auftretenden Publicisten. Bezeichnenderweise brach im Streit der zwei hessischen Vettern - neugläubig beide, der eine aber pro-kaiserlich, der andere eher distanziert gegenüber seinem obersten Lehensherrn - zuerst und weithin vermerkt diese Art juristischer Kontroverse auf. ls Alsbald folgten diesen Auseinandersetzungen der Professoren Vultejus und Antonius die der immer wieder genannten, hinreichend bekannten Icti Sixtinus, Paurmeister, D. Otto, Braudlacht, Arumaeus, Limnaeus, um nur einige zu nennen. Zurecht können die Universitäten, und dies wird als Besonderheit des Reichs jeweils neuerlich der Fall sein, können also Marburg, Gießen und vor allem damals Jena als die Institutionen genannt werden, die zuerst und am folgerichtigsten die neue Disziplin entwickelten, auf eigenen Fuß stellten. Gerade die Jenaer Schule des Arumaeus, insbesondere Limnaeus l6, hat hier eine zentrale Funktion innegehabt, entschieden nachhaltiger als Besold, Althusius und Neuzeit, Göttingen 1962, bringt eine Fülle von Material, dringt aber nicht zu einer tiefergreifenden Analyse vor, bleibt im Antiquarischen stecken. 14 Dieser Prozeß gut bei V. Press, Adel, Reich und Refonnation, in: W. J. Mommsen, Hrsg., Stadtbürgertum und Adel in der Refonnation, Stuttgart 1979,330 ff., bes. 364 u.ö. 15 Hierzu und zum folgenden vgl. Stintzing I Landsberg, Geschichte; Hoke, Reichsstaatsrechtslehre; St. Pütter, Litteratur des Teutschen Staatsrechts, Bd. I, Göttingen 1776 (ND Frankfurt a. Main 1965). 16 Außer Hoke, Reichsstaatsrechtslehre, vgl. auch M. Steinmetz u. a., Hrsg., Geschichte der Universität Jena, 2 Bde., Jena 1958; O. Feyl, Jena als Avant-Universität der deutschen 8·
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Reinkingk gewirkt, die alle eher Einzelgänger blieben, wobei ihre Methoden und Fragen mit den Jenensern verglichen werden können. 17 Alle hatten sie entschiedene Vorurteile wegzuräumen und bisher nicht ausgetretene Wege einzuschlagen. Auf Grund der sich im Reich verhärtenden Fronten und infolge ihres vorzüglichen Nutzens für die streitenden Parteien gewannen sie jedoch erstaunlich rasch Resonanz und Verbreitung. So konnten Arumaeus und seine Mitstreiter sich darin durchsetzen, daß die Beschäftigung mit publicistischen Fragen durchaus auch Sache der Juristen sei, nicht dazu diene, sich dahinter wie hinter einem Mantello ignorantiae juris privati zu verbergen. 18 Es sei ein politisch-juristischer Mischgegenstand, der nicht nur im Zusammenhang der Moralphilosophie, der Philosophia practica erörtert werden dürfe, sondern der zur juristischen Ausbildung gehöre. Von solchen Fragen hänge schließlich das Leben in Gemeinschaften ab. Schwieriger war es - wenngleich auf Dauer auch hier der Erfolg sich einstellte -, die Meinung zu durchbrechen, es handele sich bei diesen Materien um Arcana Imperii, die keinesfalls in der Öffentlichkeit erörtert werden dürften. Noch im 18. Jahrhundert - um dies hier einzufügen - mußten die Publicisten gelegentlich gegen diese Vorstellung zu Felde ziehen! Auch hier belehrte die schlichte Notwendigkeit, die zwischen Ständen und Kaiser strittigen Fragen klären, die Kampffronten abstecken zu müssen, daß diese ältere, der fürstlichen Cammer entstammende Haltung nicht durchzuhalten war, nicht den erstrebten und notwendigen Erfolg brachte. Daß wiederum die gelehrten Juristen auch für diese Belange ihre Kompetenz anmeldeten, hing u. a. mit ihrem Bestreben zusammen, klarere behördenrechtliche Privilegien und Zuständigkeiten innerhalb des frühmodernen Staates zuerkannt zu bekommen. 19 In der Tat ließ die aufbrechende scharfe Gegnerschaft im Reich, ließen die Interessenkollisionen die frühere Enthaltsamkeit bei publicistischen Fragen nicht mehr zu. Es führte dies folgerichtig ferner dazu, einzusehen, daß die Erörterung der Streitpunkte mit Mitteln des römischen Rechts nicht möglich war, daß hier offensichtlich genuin deutsche Voraussetzungen vorhanden waren. Mit ihrer Hilfe bzw. aus der Kenntnis dieser Bedingungen heraus, so lernte man, konnte ausschließlich zuständig und beweisFrühaufklärung und Geschichtswissenschaft in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Wissenschaftliche Annalen 6, 1957, 83 ff. R. Hoke, Johannes Limnaeus, in: Stolleis, Staatsdenker, 100 ff. 17 Vgl. H. Schulze, Einleitung in das deutsche Staatsrecht, Leipzig 1867, 55 ff.; Hoke, Reichsstaatsrechtslehre, 21 ff. Ch. Link, D. Reinkingk, in: Stolleis, Staatsdenker, 78 ff. 18 So Lirnnaeus, zit. bei Hoke, Reichsstaatsrechtslehre, 18. An anderer Stelle heißt es: "Verurn curn ad Academias accedamus, tanquam ad rnercatos publicos, non solurn ea, quae ad nosrnetipsos informandos atque ad propriam indigentiam sublevandam faciunt, cornparaturi. verurn etiam ea, quae reipublicae... prodesse possunt. .. Certe non aberrabirnus, si curn jure privato publicurn sirnul in Academiis didicerirnus, ut aliquando respublica. in partibus nobis concreditis, optirne a nobis possit gubemari"; Hoke, 41. 19 Vgl. hierzu H. Muth, Melchior von Osse und die deutsche Verfassungsgeschichte, in: JGMODt12, 1953, 125 ff.
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kräftig argumentiert werden. Sammlungen solcher Reichsgesetze, einen ungefähren Überblick über den historischen Ablauf der Geschehnisse hatte man zu Ende des 16. Jahrhunderts und zu Anfang des neuen durchaus. Es entstanden damals eine Fülle solcher - französischem und humanistischem Vorbild folgenden - Publikationen, so daß z. B. die Jenenser leicht darauf zurückgreifen konnten in der von ihnen zuerst klar und deutlich formulierten Einsicht: "concludo, eum, qui veram cognitionem Imperii, ejusdem status, et exinde dependentium membrorum, scire anhelat, majori cum fructu, relicto Bartolo, Baldo ... progredi posse, si praeter recessus Imperii, Capitulationes Imperatorias, Auream Bullam, decisiones cameralium, et industria Goldasti collecta opera, legat et evolvat.,,2o So war es also binnen kurzem, in der Zeitspanne etwa einer Generation gelungen, die Umrisse, Aufgaben und Methoden des Jus publicum des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation abzustecken. Zunächst - eigentlich sogar auf längere Zeit - geschah dies vielfach in Form von Dissertationen, von Einzelabhandlungen zu bestimmten Rechtsmaterien. Es zeigte sich darin das noch eher Vorläufige der Anstrengungen. 21 Auf diese Weise suchte man den Gesamtbereich allmählich in den Griff zu bekommen. Auch folgte man häufig dem Vorbild der Institutionen, die gleichsam das Gerüst für die Behandlung dieses deutsch-rechtlichen Jus publicum abgaben, nach wie vor den Rahmen boten. Man nannte das Ergebnis denn auch gern: Institutiones juris publici bis hin zu Schilter, Vitrianus, pfeffinger. Insoweit waren diese Traktate trotz ihrer nicht römisch-rechtlichen Quellen noch nicht frei von dem traditionellen Vorbild. 22 Die zunehmende Polarisierung im Reich, die widerstreitenden politischen Interessen facbten naturgemäß auf diese Abhandlungen ab.2 3 Politisch-juristisch, wie sie es von Anfang an waren, erörterten sie nach wie vor die jomuJ Imperii. die majestas realis. die jura majestatis. die libertas statuum usf. Während des Dreißigjährigen Krieges spitzte sich diese Diskussion zu, sie überschlug sich dann gleichsam im Traktat des Hippolithus a Lapide. Eigentlich erfolgreich im juristischen Sinne. einen Einfluß auf die Rechtssprechung oder den Reichsaufbau, normierende und formende Funktion für die Handhabung öffentlicher Belange - Friedensverträge. zwischenstaatlicher oder zwischenterritorialstaatlicher Abmachungen - gewannen 20 Zit. Limnaeus; Hoke, Reichsstaatsrecht. 44, Anm. 25. Wichtig ist freilich auch der vorhergehende Satz, der Limnaeus' Festhalten an der Translationstheorie zeigt. "Quantum vero jus publicum attinet, si quod olim a Romanis ad nostros translatum est. certe exiguum fuit. aut sui, aut temporis respectu." Vgl. auch cap. V,liber 1. 21 Dieser Umstand wird leider immer wieder übersehen und daher der andere Charakter dieses Jus publicum im Unterschied zum späteren nicht recht bemerkt. Zutreffend hier auch Ch. Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, Wien I Köln I Graz 1979,45 f. 22 Hierzu auch mein Buch. Jus und Historie, Göttingen 1972, bes. 91 ff. Einige notwendige Korrekturen nehme ich hier vor! 23 Zur politischen Seite immer noch maßgeblich M. Ritter, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges, 3 Bde., Stuttgart 1889-1908 (ND Darmstadt 1962).
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diese Misch-Lehren aus Staatsklugheit, öffentlichem Recht und Historie jedoch kaum. 24 Wie gar nicht anders zu erwarten, verhinderte es die reale Kriegssituation, daß der friedliche Austrag gewichtiger Streitfälle vor den Schranken eines Gerichtes zustande kam, daß friedliche Vertragsabschlüsse im Blick auf das Ganze des Reichs versucht oder für durchführbar gehalten worden wären. In gewisser Weise - so läßt sich formulieren - erschwerten eS gerade der politische Anstoß, die Absicht, politisch-juristisch wirken zu wollen, daß diesen Juristen jenseits der theoretischen Erörterung Einfluß und juristische Gestaltungsmöglichkeit zufiel. Gewiß waren auch diese theoretische Beschreibung und Festlegung der Herrschaftsform des Reiches höchst bedeutsam, ja sie waren sogar folgenreich für die weitere Entwicklung; aber das waren sie eher indirekt. Sie schärften den Sinn für die - postulierte - Eigenständigkeit und Besonderheit des Reichs; es wurden weitere Anstrengungen unternommen, der eigenen Vergangenheit habhaft zu werden. Es führte das zur Einsicht, daß die überterritorialstaatliche Sphäre des Reiches eigener - zumeist besserer - rechtlicher Ordnungsvorstellungen und theoretischer Beschreibungen bedürfe. Da jedoch die polemische Argumentation vorherrschend blieb, wurde nur selten eine deutliche Übereinstimmung über dies Jus publicum erzielt. Insoweit ist es sicherlich angemessen, diese frühen Publizisten mit "z" zu schreiben - und dies noch weit über den Dreißigjährigen Krieg hinaus -, hatten ihre Anstrengungen doch häufig diesen öffentlich-politischen und polemischen Charakter. Es entspricht dem übrigens, daß im allgemeinen die Ausbildung des einzelnen "Staatsmannes", des Politicus, im Vordergrund stand. Ein individualistischer Zug - moralphilosophisch, normativ, wie es dieser politisch-juristischen, aber auch humanistischen Tradition entsprach -, die Absicht, den Fürsten und seinen Berater im Sinne der jeweiligen vorgeführten Rechtsordnung zu erziehen, bestimmte häufig diese Abhandlungen. 2s Die scharfen, zum Teil existenzbedrohenden Auseinandersetzungen und Kämpfe gaben den Blick nicht recht frei auf das Gesamte, das Staatswesen, die prinzipiell-allgemeine Seite des Problems. Auch den Späteren wird dies noch schwer fallen. Aufbau und Verfassungsstruktur des Reichs erschwerten gewiß die systematische Zusammenbindung personaler Bezüge. Aber die Späteren kommen auf diesem Weg dann doch entschieden weiter voran. Christian Weises Konzept der Erziehung eines ,,Politischen Academicus,,26 läßt z. B. diese ältere Auffassung noch recht gut erkennen, so sehr er selbst bereits am Übergang zum Neuen steht. Kurzum, diese Publizisten lenken zwar den Blick auf die besonderen Bedingungen des Reichsstaatsrechts, fördern die Edition und damit die Kenntnis vieler weiterer Verordnungen, Gesetze, herkömmlicher Bräuche. Aber sie haben noch keineswegs das Verständnis des Jus publicum, wie es zu Ausgang des 17. Jahrhunderts sich herausstellen wird und von da an Methode, Praxis und Politik mitbestimmt. Für Thomasius und seinen Umkreis, denen dies neue Jus 24 2S 26
Auch dieser gewichtige Sachverhalt wird häufig übersehen. Gut hier auch Brückner, Staatswissenschaften, passim. In der Ausgabe Amsterdam 1696, insbes. 62 ff.
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publicum Romano-Germanicum zu danken ist, waren denn auch Limnaeus, Kulpis, Strauch, Schilter, Vitrianus, Cocceji höchst verdiente Gelehrte und auf dem rechten Weg durchaus, aber noch mit Schlacken der älteren, am römisch-rechtlichen Schema orientierten Publizistik behaftet. 27 Selbst Conring und auch Pufendorf seien von der richtigen Erkenntnis, der angemessenen Lehrart noch ein gehöriges Stück entfernt gewesen, so weiterführend ihre Tatigkeit auch gewesen sei.
Das führt nun zu anderen damaligen Versuchen, die Realität des Reichs, seiner öffentlichen Sphäre zu begreifen und zu gestalten. Obwohl der Ansatz Conrings der frühere ist - zeitlich und theoretisch -, soll er erst nach dem Pufendorfs erörtert werden. Er war sachlich auf Dauer nämlich bedeutsamer für die Publicistik als die Naturrechtslehre, für die hier Pufendorf stehen mag. Das Vordringen des Politischen zu Lasten einer theologisch, konfessionspolitisch sich verstehenden Welt, wie es im Verlaufe des Dreißigjährigen Krieges zu beobachten ist, führte schließlich zu einem konsensfähigen Abschluß dieses europäischen Krieges auf Reichsboden im Westfälischen Frieden.28 In mancher Hinsicht wurde diese Gewichtsverlagerung auch in dies Friedensinstrument hineingeschrieben. Freilich wirkte sich diese - zunächst politische - Entscheidung nicht unmittelbar auf die rasch erfolgreichen Versuche aus, einen geistigen Aufschwung, eine auch geistige Wiederbelebung des Reichs ins Leben zu setzen. Diese Versuche wurden vor allem auf protestantischem Boden nachhaltig vorangetrieben. Nach dem gewaltigen Einbruch und Aderlaß, den gerade hier der lang anhaltende Krieg bewirkt hatte, wurde vielfach in der Wiederaufnahme bewährter älterer Traditionen die Erneuerung gesucht. 29 So brachten die auf den Friedensschluß folgenden Jahre - man könnte fast sagen: Jahrzehnte - eine Hochblüte der sogenannten protestantischen Scholastik, der protestantischen Schulphilosophie. Eine rücksichtslose Präponderanz der Theologie auf allen Wissensgebieten herrschte vor und kontrastierte darin mit der gleichzeitigen politischen Wirklichkeit. Denn die verstand sich keineswegs mehr theologisch, ja sie bedurfte - weil ihr eine konfessionelle Grundlage entzogen war - anderer verbindlicher Verankerung. Verkürzt und überspitzt gesagt, leistete das zunächst die Naturrechtslehre. Das Maß an innerweltlich vernünftiger Ableitung und Legitimation von Herrschaft, das sie bei gleichbleibend unantastbarer, allgemeiner Normativität bot, erwies sich als völlig ausreichend, die neuen, mit dem Friedensvertrag gegebenen Aufgaben zu erfüllen. Die staatlichen bzw. territorialstaatlichen Ordnungen wie auch die des Reichs insgesamt konnten legitimiert, den geänderten Verhältnissen behutsam angepaßt und begründet werden. Ihrem normativ statischen, allein der Vernunft gehorchenden Charakter entsprach die Bevorzugung absolutistischer Herrschaftsform, ganz so wie es den Bedürfnissen der Zeit einleuchtend schien, ohne daß jedoch die rechtliche Verankerung aller Nachweise in: Hammerstein, Jus, passim. Grundlegend Dickmann, Friede, passim. 29 Außer Hammerstein, Jus, vgl. auch R. Vierhaus, Deutschland im Zeitalter des Absolutismus, Göttingen 1980. 27
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Herrschaft darüber gelockert, nicht mehr postuliert worden wäre. 30 Gerade umgekehrt wurde im allgemeinen auf diese verantwortliche Einbindung fürstlicher Omnipotenz höchster Wert gelegt und den darüber wachenden Juristen sowie Räten ein gleichfalls außerordentlicher Rang, eine hohe Bedeutung zuerkannt. In gewisser Weise zeichnete sich der - auch revolutionäre - Zug dieses Naturrechtsdenkens bereits hier ab, wenngleich Pufendorf selbst nicht in diese Richtung drängte. Seine auf Verbesserung, positives Handeln und Ordnung zielende Vorstellung - insoweit könnte auch sie freilich ,,revolutionierend" genannt werden - zweckte auf den friedlichen, rechtlichen Ausbau menschlicher Gemeinwesen, der Staaten ab. 3l In ihrem rechtsbewahrenden Charakter gerann dieses Pufendorfsche Naturrecht, so wie es im Reich begriffen wurde, zu einer eher konservativ statischen Lehre. Es wirkte zwar außerordentlich anregend auf die aus theologischer Bevonnundung drängenden Zeitgenossen32, aber führte niemals dorthin, wo es wenig später im angelsächsischen Bereich angesiedelt wurde. Es hat freilich erheblich mit dazu beigetragen, die nachmalige Reichspublicistik in Gang zu setzen. Die hat ihrerseits dann rasch jedoch das Naturrecht beiseite gelegt. Gleichennaßen wichtig in diesem Zusammenhang - es wurde bereits darauf verwiesen - war die Lehnneinung, die in Conring zu einem weithin wirkenden Abschluß kam. Es ist der protestantische Aristotelismus, die Philosophia practica, wie sie vor allem in der Universität Helmstedt im späten 16. und im 17. Jahrhundert Gestalt gewann. Neuerlich vereinfacht kann das als Versuch beschrieben werden, "den Primat des Politischen gegenüber dem Recht zu begründen und den Staatsgedanken von der Reichsidee zu lösen,,33. Man bediente sich dabei nicht zuletzt der Historie, die ihres universalhistorischen, ihres humanistisch-moralischen, auch ihres polemisch-konfessionellen Charakters entkleidet wurde. So wurde sie erneut zu einem juristisch-politischen Beweismittel, und als Folge ihrer Säkularisierung überwand sie auch die von Melanchthon befestigte Danielische VierReiche-Lehre. Scientia politica und Juris peritia wurden von Conring sodann scharf geschieden. 34 Der Jurist - für ihn eigentlich von geringerem Interesse - wurde auf die Gesetzesauslegung verwiesen, der Politicus hingegen als Ratgeber, Berater und Kenner der Grundsätze des Politischen zur engeren Staatsleitung herangezogen. Da je nach den historischen Voraussetzungen der Staaten ihre Maximen und Interessen fonnuliert werden müssen, sind auch die zu wissen. Das hatte die Staatenkunde oder Staaten-Historie zu leisten, besser: sie gab die notwendigen Vorkenntnisse Hierzu auch Link, Herrschaftsordnung, passim. Vgl. N. Hammerstein, Samuel Pufendorf in: Stolleis, Staatsdenker, 174 ff.; dort weitere Literatur. 32 Dazu F. Palladini, Discussioni seicentesche su Samuele Pufendorf, Urbino 1978. 33 Vgl. die vorzügliche Darstellung von D. Willoweit, Hennann Conring, in: Stolleis, Staatsdenker. 129 ff.; das Zit. 132; vgl. ferner meine Analyse in Hammerstein, Jus, 98 ff. 34 Vorzüglich hier auch Brückner, Staatswissenschaften, 149 ff. 30 31
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an die Hand. Für alle europäischen Länder - wie auch für das Reich - mußten Kenntnisse der Historie, der Verfassung, Institutionen und ,,Revolutionen" erworben werden. Daß diese Staatsklugheitslehre - wie schon die des Naturrechts - auf ihre Art Herrschaft zu legitimieren vermochte, sei wenigstens erwähnt. Die bis zum Ende des Reiches verbindliche Lehre des Jus publicum, die vielfach auch noch Staatsrechtsvorstellungen des 19. Jahrhunderts mitbestimmte, entstand zu Ausgang des 17. Jahrhunderts und zu Beginn des 18. Eine Reihe von sich ergänzenden Gründen und Voraussetzungen können dafür angeführt werden, wobei ich nicht einmal sicher bin, sie alle zutreffend und vollständig zu beschreiben. Natürlich sind zunächst - und das dürfte die bisherige Darstellung gezeigt haben - die mannigfachen Vorarbeiten zu nennen, die gewissennaßen das Fundament gelegt hatten. Die fortgesetzte Erörterung dieser Problematik vermittelte nicht nur bessere Gewöhnung an die Sache selbst, sondern auch vermehrte Kenntnisse. Mit Conring und Pufendorf war zudem ein eigener Freiraum gewonnen worden, der das theologische Mitspracherecht, die Forderung danach überzogen und unangemessen erscheinen ließ. Mit der Rückkehr ruhigerer Verhältnisse im Reich, der Gewöhnung an den politischen Status quo, wie er im Friedensinstrument festgelegt worden war, mit dem geistigen und materiellen Wiederaufbau während der zweiten Jahrhunderthälfte - zögernd, langwierig, aber beharrlich und auch erfolgreich glätteten sich zusehends die Wogen früherer polemischer Auseinandersetzungen. Das mußte allmählich auch Auswirkungen auf die Lehren vom Leben in Gemeinschaft haben, mußte die Rechtswissenschaften .erreichen. Die waren nach dem Krieg zunächst vielfach von Männern außerhalb der Universitäten - dem typischen Ort geistiger Entwicklung auf Reichsboden - bestimmt worden. Leibniz und Pufendorf sind die dafür bekanntesten Beispiele! Sie wirkten lieber dort, wo die eigentliche Entwicklung der Zeit vonstatten ging, an den mächtig und prächtig aufstrebenden barocken Höfen. Die Universitäten, entsprechend der rückwärts gewandten Wissenschaftsauffassung, der theologischen Vorherrschaft, galten damals zu Recht als "verstaubte Mönchsanstalten", Orte barbarischen Unwesens - Pennalismus, Deposition, Raufhändel waren vielgeschmähte Eigentümlichkeiten -, als ausgezeichnet durch Liederlichkeit und mangelnde geistige Kraft. Nicht von ungefähr wichen Herren von Stand auf die neuen "weltmännischen" Ritterakademien aus. Wenn auch die Theologen bzw. die Theologie nicht unmittelbare Ursache dieser Mißstände war, so bedeutete ihr Zurückgedrängtwerden gleichwohl den Wendepunkt dieser Verhältnisse. 35 Dem Bedürfnis nach vermehrt weltlicher, nach höfischer Erziehung und Ausbildung, dem nach gut brauchbaren, rechtskundigen, toleranteren Männern konnte begreiflicherweise erst entsprochen werden, wenn die Hochschulen sich nicht mehr 3S Zu diesen Fragen verweise ich neuerlich auf Hammerstein, Jus, sowie die dort angeführte Literatur.
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vorab als theologische Ausbildungsstätten begriffen, wenn auch die Landesherren in diese Richtung drängten. Und dies war zunehmend der Fall, erwies sich als unvermeidbar. 36 Die Territorien des befriedeten Reichs mußten bemüht sein, den inneren Aufund Ausbau voranzutreiben, Land und Herrschaft zu konsolidieren. Die weitgehend ruhig erscheinende Lage beförderte diese Politik, sie erlaubte es vielfach, in gemeinsamen Verhandlungen, in gegenseitiger Absprache, in Bündnissen die Gefahren und Notwendigkeiten der Zeit zu meistem. Ob im Einzelterritorium oder im Reich insgesamt, diese Politik begriff sich als Rechtswahrung, als gute Verwaltung. Dazu bedurfte es aber kundiger, ausgebildeter Personen. Da ferner eine zwischenterritorialstaatliche "Politik" wieder üblich geworden war - das Reich erfuhr sich neuerlich als umgreifendes, friedliebendes Gebilde -, ja selbst Bündnisse mit Staaten außerhalb des Reiches jetzt erlaubt waren, wurde eine Fülle von diplomatisch, reichsstaatsrechtlich und völkerrechtlich versierten Männern benötigt. Die Zersplitterung des Reichskörpers erhöhte begreiflicherweise die notwendige Zahl solcher Personen, der ja auch die hohe Zahl der Universitäten entsprach. 37 Der Aufstieg des Kaiserhauses in den Türkenkriegen, der Kampf gegen die französische Hegemonialpolitik ließ den Reichsgedanken, die Reichsinstitutionen die z.T. ja solche des Kaisers waren wie nicht zuletzt der Reichshofrat - zunehmend Bedeutung und Ansehen gewinnen. 38 Europäische Kronen, die einzelne Reichsfürsten gewannen, förderten das Ansehen des ehrwürdigen Reichs eher, als daß es dem Gefühl der Einheit geschadet hätte. 39 Im zersplitterten Kreis kleinerer und kleinster Herrschaften besann man sich der Möglichkeit, im Zusammenschluß der Reichskreise seinerseits eine blühende und erfolgreiche Politik zu erstreben. 40 36 Es fehlt hier noch immer an übergreifenden Untersuchungen. An einem ergiebigen Beispiel hat das vor nicht allzu langer Zeit G. Klingenstein in vorzüglicher Weise aufgezeigt: Der Aufstieg des Hauses Kaunitz, Göttingen 1975, bes. 112 ff. 37 Vgl. die einschlägigen Denkschriften und Abhandlungen, die ich in: Aufklärung und katholisches Reich mitteile, ohne daß ich sie dort auch nur annähernd vollständig hätte erfassen können. 38 Diese Voraussetzungen waren höchst bedeutsam. Auch sie ermangeln vielfach neuerer Untersuchungen. Anregend und weiterführend u. a. H. Hantsch, Reichsvizekanzler Friedrich Karl Graf von Schönborn, Augsburg 1929; O. Redlich, Das Werden einer Großmacht, Wien 1943; M. Braubach, Prinz Eugen, 5 Bde., München 1963/1965; K. O. von Aretin, Kaiser Joseph I. zwischen Kaisertradition und österreichischer Großmachtpolitik, in: HZ 215,1972. 529 ff.; Klingenstein, Kaunitz; H. Sedlmayr, Die politische Bedeutung des deutschen Barock, . jetzt in: ders., Epochen und Werke, Bd. 2, Wien 1960, 140 ff. 39 Auch dieser Aspekt, belegt in mannigfachen Zeugnissen der Zeitgenossen insbesondere kleinerer und mittlerer Territorien, der betroffenen selbst natürlich vorab, wurde in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts vielfach mißverstanden oder übersehen. 40 Vgl. hierzu u, a. K. O. von Aretin, Hrsg., Der Kurfürst von Mainz und die Kreisassoziationen 1648-1746, Wiesbaden 1975, insbesondere den Beitrag Aretins wie auch meine Abhandlung: Zur Geschichte der Kreis-Assoziationen und der Assoziationsversuche zwischen 1714 und 1746,79 ff.; dort weitere Literatur.
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Modernere Staatlichkeit verlangte insoweit allenthalben ihr Recht. Darin konnte nicht auf die Unterstützung und Hilfe durch die Lehren verzichtet werden, die sich dieser Probleme traditionellerweise annahmen: Philosophia practica und Jurisprudenz. Auf ihre Art hatten ja bereits Conring, Pufendorf und Leibniz diesen Anforderungen entsprochen, aber nur unzureichend die Universitätslehre insgesamt erfaßt. Diese bis in die zwei ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts allgemeine Tendenz - die protestantischen Reichsteile hatten hier unstreitig die Führung, die katholischen folgten nach 1720 dann rasch - war begreiflicherweise in den Territorien, die eine ehrgeizigere Politik im Rahmen des Reichs verfolgten, besonders kräftig. Insoweit entsprach das eher zufällige Zusammentreffen von Thomasius' Flucht aus dem orthodoxen Leipzig und dem Wunsch des calvinistischen Berliner Hofes, eine bessere, weniger streng lutheranische Universität für die Ausbildung der Landeskinder zu haben, einer tieferen Notwendigkeit. Die Gründung und der sorgfältige, bewußte Aufbau Halles schufen alsbald die Voraussetzungen für eine unerwartet erfolgreiche Neubelebung der deutschen Universitäten und ihrer Wissenschaften. 41 Insbesondere die Jurisprudenz, aber auch Theologie und Medizin, selbst die Disziplinen der artistischen Fakultät erfuhren einen bemerkenswerten Aufschwung dank methodisch neuer Ansätze. Gemeinsam mit Jena und Leipzig die freilich nur oberflächlich mit Halle verglichen werden können, aber aufgrund ihrer verwandten Bemühungen die dortigen Neuansätze flankierend mitstützten42 - wurde knapp innerhalb einer Generation ein neues Wissenschaftsverständnis gewonnen. Da es sich als außerordentlich erfolgreich gerade auch in der Praxis erwies - neben seiner Überlegenheit in theoretischer Erklärung anstehender Probleme -, trat es einen bemerkenswerten Siegeslauf durch das Reich an. Bis hin zur Zeit des deutschen Idealismus bestimmte es in mannigfachen Schattierungen das methodische Verständnis der wissenschaftlichen Disziplinen. Mit an führender Stelle in diesem Wissenschaftskanon stand - um wieder zu unserem engeren Gegenstand zurückzukehren - das neue Jus publicum Romano-Germanieum. Als Herzstück der erneuerten Reichs-Rechtswissenschaft und in Ablösung der zentralen Stellung der Naturrechtslehre, jedoch in engstem Zusammenhalt mit allen rechtlichen Disziplinen und Materien, erhielt es in Halle seine kanonische Definition. Thomasius, seine Schüler und Mitstreiter - Gundling und v. Ludewig vor allem, aber auch Samuel Stryck, der Civilist - wirkten da stilbildend. Vollendet bzw. auf einen strahlenden Höhepunkt gebracht wurde diese Wissenschaftsauffassung nachmals dann in Göttingen, wo wiederum Thomasius-Schüler entscheidenden Anteil daran hatten. Von dort griff diese Methode im Laufe des Jahrhunderts auf nahezu alle Universitäten des Reichs über. 41 Einzelheiten und Belege in: Hammerstein, Jus, passim. Vgl. ferner N. Hammerstein, Thomasius und die Rechtsgelehrsamkeit, in: Studia Leibnitiana 11, 1979, 22 ff. 42 Den Unterschied kann man undeutlich zutreffend dahingehend charakterisieren, daß Jena publicistisch-literärgeschichtlich, Leipzig philologisch-juristisch und Halle publicistischhistorisch ausgerichtet waren; vgl. Hammerstein, Jus, passim.
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Aus Zeit- und Raumgründen kann ich diesen Ablauf, die unterschiedliche Entwicklung, die in Nuancen divergierenden Auffassungen von Charakter, Inhalt und Zuständigkeit dieses Rechtsbereichs nicht minutiös schildern. Ich werde mich daher beschränken und nur die vorwaltenden allgemeinen Gesichtspunkte beschreiben, ohne auf die einzelnen Stufen der Entfaltung des Jus publicum näher einzugehen. Im Zuge dieser (Früh-)Aufklärung - zu der diese Konzeption auf dem Boden des Reichs bezeichnenderweise gehört43 - hatte es selbstverständlich zu sein, daß ein Urteil auf der Basis von Autoritätsbeweisen unsinnig erschien, nicht überzeugungskräftig sein konnte. Ein "gesundes Judicium,,44 hingegen habe Richtschnur und Maßstab zu sein. Für die Technik wissenschaftlichen Arbeitens hatte diese Auffassung naturgemäß weitreichende Folgen, zumal sie ja mehr denn bloße Äußerlichkeit war. Ein Judicium war nicht eine gleichsam natürliche Sache, sondern eine Fähigkeit als Ergebnis angestrengter Bemühungen. Es setzte Wissen und Fertigkeiten voraus, einen Überblick über Stand und Bedeutung des Problems. In seiner historischen Ableitung - um es verkürzend solchermaßen zu charakterisieren mußten sie gewonnen werden. In Kenntnis der Geschichte eines Faches, eines Problems, einer Materie, einer Disziplin wurden der Verweis - das spätere wissenschaftliche Zitat - als neue, nämlich wissenschaftlich legitimierte Autorität wie auch die vernünftige, d.i. innerwelt1iche überprüfbare Analyse als Grundprinzipien postuliert. Nicht mehr humanistisch-gebildetes Zitieren noch gar theologisch belegte Behauptung, auch nicht mehr barock-polyhistorische Sammelfreude, sondern ,,Literärgeschichten" - die Historia juris in unserem Falle - resultierten aus dieser Auffassung. Die moderne Wissenschaftsauffassung, die Lösung von topischen Beweisverfahren zeichneten sich ab! Zum Judicium gehörte es ferner, daß eine weltmännische Einstellung, eine gleichsam höfische Wissenschaftsauffassung, Conduite, Decorum den Urteilenden auszeichnete. Die höfische Erziehung an Universitäten - und nicht nur als Reiten, Tanz- oder Fechtunterricht, als Vermittlung moderner Fremdsprachen - war insofern ein unabdingbarer Teil dieser Scientiae aulicae. Gute Aufführung erhielt den Rang rechtlicher Würde45 , das bisherige Unwesen auf Universitäten wurde energisch bekämpft, und insofern konnten die Hochschulen sich alsbald wieder dem adligen Studenten öffnen.46 Nicht nur die theologische Bevormundung wurde zu43 In anderen Staaten Europas, die von der Aufklärung erfaßt waren, spielte die Jurisprudenz und ihre Methode in diesem Zusammenhang kaum eine Rolle. 44 So Thomasius in: Melchior von Osse 's Testament. Halle 1717, 164 (hinfort zit. Osse). Für das Folgende kann ich neuerlich nur wieder auf meine früheren Arbeiten verweisen. 4S Sie war damit Teil der (Rechts-) Person, konnte verlangt werden, war schutzwürdig und durfte im Verweigerungsfall Anl~ zu rechtmäßiger Trennung sein. Auch hierzu Hammerstein, Jus, bes. 58 ff. 46 Sprechend hier wiederum der Kommentar des Thomasius in Osse, passim, wie auch die erzieherische Wirkung, die er auf seine "besseren" Studenten bei abendlichen Einladungen 0
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riickgewiesen, auch das äußere Gesicht der Anstalten verweltlicht, eS wurde eleganter. Ausweis dieser Umschichtung war es, daß nunmehr die juristische Fakultät die unbestritten erste schien. Ein gutes juristisches Urteil zeichne sich schließlich dadurch aus - so war das Postulat -, daß es nicht parteiisch, z. B. gegen Kaiser oder gegen Mitstände gerichtet sei, nicht juristisch-politisch wie bisher, sondern dem alle gemeinsam tragenden Reichsrecht verpflichtet sei. Das schließe zwar nicht Meinungsverschiedenheiten aus, garantiere aber das friedlich-schiedliche Zusammenleben aller Reichsglieder in diesem Gemeinwesen. Insoweit könne es auch kein "Hof-Staatsrecht" und/oder "UniversitätsStaatsrecht" geben, wie Johann Jacob Moser einmal formulierte. Und seine Selbsteinschätzung wurde von vielen dieser Icti geteilt, ja auch praktiziert: ,,ln meinen Ämtern und Schriften bin ich nie kein Partheygänger gewesen und habe mein Lebtag den Grundsatz nie angenommen: Wessen Brot ich esse, dessen Lied singe ich; sondern Recht ist bei mir Recht und Unrecht ist Unrecht, eS mag meinen Herrn, meine Principalen oder sonsten treffen, Wem eS will; dahero ich mich auch weder in meinen herr- noch landschaftlichen Diensten, weder durch Versprechungen habe bewegen noch durch Befehle nötigen oder durch Drohungen schrecken lassen, etwas zu verteidigen, so ich für ungerecht oder übertrieben halte. ,,41 Daß es freilich auch Gegenbeispiele gab - von Ludewig wurde gern ebenso wie Cocceji genannt, später, nach dem aufgebrochenen Dualismus im Reich auch Juristen im Dienste Preußens -, hat Friedrich earl von Moser, den bedeutenden Sohn des großen Vaters, zur spöttisch-kritischen Bemerkung veraniaßt, eS sei "sehr weislich gehandelt, daß man die Lehrer des Staats-Rechts auf den mehresten Universitäten nicht mehr mit dem allzu gemein gewordenen Namen von Professoren benamt, sondern sie fast durchgehend zu Hofräten ernennt; sie lassen eS an sich nicht fehlen, um sich dieses Namens in der Tat würdig zu machen.,,48 Dennoch, grundsätzlich war mit dem neuen Jus publicum der traditionelle Gegensatz von Caesarinern und Fürstenerianern überwunden, in gewisser Weise analog zur politischen Entwicklung selbst. Was die Publicistik dann unter einer politischen Betrachtung des Reichs verstand, hatte nichts mehr mit den älteren Traktaten und deren Auffassung zu tun, sondern war Teil der alles umfassenden, harmonisch-rechtlichen WeItsicht. Heinrich Christian Freiherr v. Senckenberg beschrieb um 1750 dies mit folgenden Worten: "Die Wissenschaft von dem Staate ist entweder Politisch, welche die äußere und innere Einrichtung des Hofes, des Ceremoniells, derer Aemter wie auch des gantzen Landes in seiner Verfassung von innen und gegen Auswärtige zu nehmen, sambt der Haushaltung und ihrer Einrichtung, weniger nicht der Klugheit,
auszuüben bemüht war. Nicht zuletzt der Freiherr von Münchhausen, der "Vater" Göttingens, war nachhaltig von da beeinflußt. Auch im katholischen Bereich wurde dem alsbald nachgeeifert, wie es z. B. die Bemühungen des Freiherrn von Ickstatt erkennen lassen. 47 Lebens-Geschichte Johann Jacobs Moser, von ihm selbst geschrieben, Bd. 3, Frankfurt a. Main/Leipzig 1777,67; zit. nach R. Rümp, J. J. Moser, Wiesbaden 1965, 109. 48 Ebd. - Zu Friedrich earl von Moser vgl. meinen Aufsatz in: HZ 212, 1971,316 ff.
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sich in allem recht zu betragen, betrifft, oder Juristisch da die Rechte gegen Auswärtige wie auch die Rechte und Befugnisse der Landes-Herren, anbey seiner Stände und Unterthanensambt derselben Verhaltung unter sich erörtert werden. Wobey in Teutschland der Kayser sowohl seine Obliegenheit und Rechte als auch ein jeder Stand, was er als ein Regent dem Kayser schuldig ist, wohl auf die Wagschale zu legen Ursache hat. In beyden aber fehlete es unseren Voreltern in allem und jedem, bis fast auf das 17. Jahrhundert.,,49 In diesem Passus ist z.T bereits beschrieben, was Gegenstand des Jus publicum ist. Bevor das jedoch näher erläutert wird, soll aufgezeigt werden, worin es sich v.on den älteren· Vorläufern unterschied, wie die Nach-Thomasianer diese Differenz ihrerseits begriffen. Es sei von den Früheren vielfach der Fehler begangen worden, nach dem Muster der Institutionen vorzugehen, subsidiär gelegentlich Anleihen beim Römischen Recht gemacht zu haben. So zutreffend dies im Bereich des Privatrechts sei - denn immerhin habe eine Rezeption des Corpus juris. auch des Kanonischen Rechts stattgefunden -, so unzulässig sei dies im Jus publicum. Denn, wie Thomasius sagt: "... die römischen Gesetze in quaestionibus juris publici et politicis in Teutschland gar nicht und nicht einmal in subsidium recipieret sind.,,5o "Juris publici prudentia", heißt es bei B. Georg Struve, "non a Romanis nec aliunde est petenda sed ab ipsis Gennanis."SI An anderer Stelle - um nur eine weitere noch zu zitieren - sagt Thomasius: " ... da die ebräische und römische Staats-Ursachen bei uns nicht vorhanden seyn, auch bey uns verboten und schädlich seyn ...", könnten weder das römische Recht noch auch die Heilige Schrift - die Theologie, die Theologen - als zuständig angesehen werden!52 Ausschließlich eigene Gesetze, Bräuche, Verordnungen sind also bedeutsam. Die Geschichte des Reichs und seiner Territorien ist dafür gleichsam das zuständige Gesetzesbuch. In Zweifelsfallen können weder das Römische Recht noch auch allgemeine naturrechtliche Nonnen mit herangezogen werden und Auskunft geben. Allein der Beweis und Beleg aus der Historie - die Thomasius folgerichtig zum "einen Auge der Wahrheit" wurde - hat verbindliche Rechtskraft. Insoweit ist ein publicistischer Tatbestand immer ein konkreter, spezifisch historischer. Die Rechtsordnung eines Volkes, eines Landes, die prinzipiell von ihrem Anbeginn an als dauerhaft, als traditionsbeständig betrachtet wurde, legt ein Gemeinwesen fest. Gewiß kommen im Lauf der Zeit weitere Bestimmungen zu dieser Grundordnung hinzu, sie bewegen sich aber in der gleichen Richtung, sie ergänzen sich. 53 Da anBedencken über Seckendorff Fürsten-Staat, 1753, § 6, 400. Osse, 177. SI B. G. Struve, Historia Juris Romani Justinianei, Graeci, Gennanici, Canonici, Feudalis, Criminalis et Publici ex genuinis monumentis illustrata etc., Jena 1718, Cap. 10, § 1. S2 Von der Kebs-Ehe, 1714,519. S3 " ••• daß die ältesten Satzungen der ersten Teutschen Nation schon die sichtbaren Keime aller später entwickelten Einrichtungen tragen." C. Meiners I L.T. Spinler, Hrsg., Gönin49
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dererseits nicht der Buchstabe, sondern der Geist der Gesetze verpflichte, wie immer wieder gesagt wurde, waren Anpassung, eine ,,Fortschreibung" des Gesetzgebungswillens durchaus möglich. Das Recht konnte seine Aufgaben mehr als hinlänglich erfüllen. Rechtsbeständigkeit, Rechtsgewißheit und darin die Versicherung der eigenen Identität zeichnen insofern das Reich aus. Daß unter dieser Voraussetzung weder das ältere Jus publicum universale noch das Naturrecht höhere Bedeutung behalten, sei zumindest in Parenthese angemerkt. Die allgemeinen Prinzipien des Jus publicum, die die Älteren als notwendige Voraussetzung des spezielleren angesehen haben54, erscheinen jetzt so allgemein, daß sie getrost vernachlässigt werden können. 55 Die Naturrechtssätze, da im Anspruch generell zeitlos und normativ, stehen wiederum dem Postulat historischer Bedingungen der öffentlichen Rechtsordnung im Wege. Da diese Ordnung aber ihrerseits einen so außerordentlich erhabenen Rechtswert darstellt, kann nun ihr - obwohl "historisiert" - naturrechtliche Qualität zuerkannt werden. Thomasius ,,historisiert" also das Naturrecht, wodurch es dann zusehends sich auflöste. Aber zurück zum Jus publicum. Gewichtiger jedoch als diese Differenz, die ja auch nur graduell eine war, war die andere Fragestellung und Zielsetzung, der die Jüngeren nun folgten. Wie schon das Postulat, nicht politisch, parteiisch, sondern allein rechtsbezogen zu urteilen, erschließen ließ, sollten reale Rechtsfragen und nicht juristisch-politische Polemik alleiniger Inhalt des Jus publicum sein. Der Publicist sollte und mußte ferner vor den Schranken des Gerichts auftreten können, in forensischer Tätigkeit unmittelbar praktisch zu wirken wissen. Und das tat diese jüngere Generation denn auch im Unterschied zur früheren. Es wurden dementsprechend die Fragen nach der forma Imperii, nach Kategorien der Philosogisches Historisches Magazin 1, 1787,594. - Zu diesem Komplex vgl. auch insgesamt: A. Kraus, Vernunft und Geschichte, Frankfurt a. Main! Basel! Wien 1963. - Als Folge resultiert: "Mutanda non sunt, quae longarn consuetudinem habuerint." G. M. Ludolf, Symphoremata consultationum et decisionum forensium, Bd. 3,1, Frankfurt a. Main 1739, § 366. 54 So hatte Ulrich Huber, De jure civitatis Iibri tres, 1674 fonnuliert: "Nobis consilium est, exponere publicum jus Gentium cujuslibet civitatis, at unius Reipublicae tenninis comprehensae; si ne quo necque Romanum, neque Gennanorum aut ullius populi proprium Jus publicum, solide collocari vel comprehendi potest." Zit. nach Link, Herrschaftsordnung, 46; vgl. ferner ebd. 45 ff. ss Hier bleibt freilich ein geringfügiger Unterschied zwischen protestantischem und katholischem Jus publicum bestehen. Die katholischen Reichsteile vennochten aus begreiflichen Gründen nicht ganz auf eine anfängliche und nonnative Festlegung aller Rechtsmaterien zu verzichten. So begann die Unterweisung in Jus publicum denn auch - wie es in einem allerhöchsten Wiener Erlaß hieß: ,,Der Anfang dieser Vorlesungen wird ... mit dem Jure Publico universali und jenem Teil des Rechts der Natur, welcher den Menschen als Bürger und ganze Völker betrachtet, deren Pflichten unter sich und in jedem Stück die Befugnisse deren Herrschenden und Gehorchenden liefert, gemacht ... " Hammerstein, Aufklärung, 185. Zum Jus publicum universale - ohne freilich den Unterschied zum Jus publicum Romano-Germanicum zu sehen - H. Kuriki, Die Rolle des Allgemeinen Staatsrechts in Deutschland von d. Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Archiv d. öff. Rechts 99,1979,556 ff.
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phia practica, denen des Aristoteles als nicht hierher gehörig, müßig und ohne Nutzen erklärt. Er habe, schreibt Thomasius einmal, "genügsam dargethan ... , daß alle Disputationes von der besten Regiments-Form vergebens und ledige Grillen seyn und dahin gehöret auch diejenige, ob ein Wahl- oder Erb-Reich oder Fürstentum für die Unterthanen glücklicher sey. Jedes hat seine Bequemlichkeiten und Unbequemlichkeiten.',56 Wie die jeweilige Staatsform zum besten aller genutzt werde, darauf hingegen komme es an. Recht, Gesetz, Ordnung seien schließlich in jedem Gemeinwesen möglich. Bisher sei - habe man es doch nicht besser gewußt - davon ausgegangen worden, daß diejenigen, die in öffentlichen Ämtern und Diensten Verwendung finden sollten, eine juristisch-politische Ausbildung erhalten müßten. Ohne die angemessenen Prinzipien einer "vernünftigen Regierungs-Kunst", wie sie das Jus publicum biete, sei da naturgemäß vieles falsch gemacht worden. ,,Die Libri Politicorum Aristotelis und derer grammatischen Erklärung, oder auch die disputationes über speculativische Fragen, viel weniger die historische Wissenschaft von denen Griechischen Republiquen wollen wahrhaftig die Sache nicht ausmachen.,,57 Also weder die Politik des Aristoteles, die forma Imperii-Diskussion noch die humanistischantiquarische Beschäftigung mit antiken Staaten nutze den Reichsjuristen irgend etwas. Die genuine Rechtsordnung des Reichs und das Gemeine Beste, das sie erstrebe und garantiere, müßten Gegenstand und Inhalt sein. Da Recht, Gesetze, ob private oder staatsrechtliche, ihrem Wesen nach öffentlich bekannt sein müssen - eine selbst-evidente Forderung aufgeklärter Rechtspolitik -, war es diesen Jurisperiti klar, daß publicistische Fragen selbstverständlich in ihren Kompetenzbereich gehörten. Die gegenseitige rechtliche Bindung aller Glieder des Reichs, Ständen wie Untertanen seit alters gemeinsam, könne Sicherheit und Gerechtigkeit nur garantieren, wenn sie gerichtlich überprüfbar, wenn sie juristisch "bewacht" werde. Das sei im Interesse aller, daß öffentliche Dinge auch öffentlich seien58 , nicht zuletzt die der Fürsten selber, "denn sonst würden sie wieder schlechte Herren werden, nicht anders als die Grands d'Espagne wie Wallenstein sie erniedrigen wolte ...", meinte Nicolaus Hieronymus Gundling. Allein der Mißbrauch sei, wie bei allen Gesetzen, auszuschließen. " ...Daß man aber die Gerechtsame eines jeden Reichs-Standes aus der Historie in Jure publico deduciret, ist keineswegs verbothen, man muß sich nur hüten, daß man nicht wider das gantze Reich handle und friedenstörende Lehren auf die Bahn bringe ... ,,59 Behandlung und Kenntnis dieser Gerechtsame, der Reichsordnung, der gegenseitigen Rechtsansprüche der Stände - die sogenannten Prätensionen, zu denen eine ganze Literaturgattung entsteht60 - ermögliche erst den friedlichen Auf- und Ausbau des einzel56
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Osse, 198. Ebd., 164 f. Vgl. z. B. J. G. von Meiern, Acta pacis Westfalicae Publicae, Hannover 1734, Vorwort. Vgl. Hammerstein, Jus, 224 f. Ebd., 222.
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nen Territoriums zum besten aller. Die müsse ein Jurist daher wissen! "Über dem sind die wichtigsten Streitigkeiten, welche noch heutiges Tages große Herren unter sich, oder mit ihren Unterthanen, auch diese untereinander haben, vielfältig aus Urkunden zu unterscheiden, die in mittlern Zeiten abgefasset sind und deren Auslegung eine gründliche Erkenntnis der teutschen Historie erfordert", schreibt D. G. Struve. ,,Man wird um so viel weniger an dem Nutzen dieser Arbeit zweifeln, da die Rechtsfragen, von welchen ich handle, sehr wichtig sind und öfters an die höchsten Reichsgerichte gebracht werden, ja z.T. Krieg und Blutvergießen veranlassen können.,,61 Staatliche Handlungsfähigkeit setze sodann voraus, keinen anderen Anspruch gelten zu lassen. Die Fürsten, so war das Ergebnis des Jus circa sacra, einer bedeutsamen Unterabteilung des Jus publicum, hatten vor den Kirchen, ja auschließlich das Recht zum Handeln für das Gemeine Beste.62 Den protestantischen Rechtslehrem war eine entgegengesetzte Meinung Papismus, pfäffischer Unfug, den katholischen ebenfalls eine unzulässige Einmischung in weltliche Dinge, wenn sie sich auch schwerer taten, das nach wie vor anerkannte Recht der Kirche in Fragen des Gemeinschaftslebens auf eine engere Sphäre einzuschränken. Daß die Kirche nur eine "societas in statu politico" sei, wie das Thomasius in Übereinstimmung mit Pufendorf und Jacob Brunnemann verkündete, konnte man da begreiflicherweise nicht einfach akzeptieren. 63 Die Normen des HandeIns - sowohl in weltlichen als auch konfessionspolitischen Fragen - durften also nicht dem Naturrecht entnommen werden. 64 Dies blieb weit hinausgefÜckt als allenfalls sehr ferner Grund und Möglichkeit (säkularisierten) Rechts bestehen. Die Normen waren vielmehr vorgegeben in dem, was der Publicist als jeweilige Reichs-Grundgesetze, als Reichs-Herkommen darzulegen hatte. Solche Gesetze - die Aurea Bulla, die Wahlkapitulationen, der Augsburger Religionsfriede, der Westfälische Friede, Recessus imperii gehören z. B. dazu seien "die Haupt-Quelle, aus welcher die principia unserer Staats-Rechts-Lehre hergeholet werden und woraus hernachmals authentische Decissiones erwachsen. ,,65 Diese "Fundamental-Gesetze", wie sie auch gerne genannt wurden, "sind die Richtschnur der Kaiserlichen Rechte und auch derjenigen, welche den Ständen gehören". Die Besonderheit im Reich sei nun die, daß sie Alle umschlössen. Die ,,Leges fundamentales des Reiches zeichnen sich eben darin aus, daß sie non tanturn populum sed etiam principem obligant.,,66 Solange sie geachtet würden, sei Ebd., 321. Vgl. u. a. Osse. 56. 63 Mit Hilfe der Rezeption Wolffscher Lehren konnte im katholischen Reichsteil dieses Problem dann gelöst werden. Dazu außer Aufklärung und katholisches Reich, Link, Herrschaftsordnung, insbes. 292 ff. 64 ..... wo die Gesetze reden, da schweiget die Vernunft billig", ist bei 1. P. v. Ludewig zu lesen; Hammerstein, Jus, 172. M J. G. Gritsch, Sammlung der Reichs-Grund-Gesetze, Regensburg 1737/38, Vorwort. 66 N. H. Gundling; vgl. Hammerstein, Jus, 224 f. 61
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die "libertas salva". Das Reich schien überhaupt darin ausgezeichnet, daß in ihm ein höheres Maß an Freiheit vorhanden sei als irgendwo sonst in Europa. Die lange staatliche Dauer, die über fast tausend Jahre gültige Grundordnung, die Bindung aller Fürsten an die Grundfesten des Rechts - unbeschadet ihres großzügig bemessenen Handlungsspielraums -, all das ließ ganz im Gegensatz zur späteren Einschätzung dies Reich besonders bevorzugt erscheinen. Nicht zuletzt von dem französischen Absolutismus setzten sich die Publicisten da gerne ab, wo, wie sie meinten, zuerst das Gebot des Königs und erst dann traditionsgeheiligte Gesetze vim legis besäßen. 67 ,Jedoch", meinte emphatisch einmal ein Publicist, ,,ich rede von Teutschen, einem Volck, welches bey Vertheidigung der Freyheit die alte Gesinnung, die alte Maasregeln und auch das alte Schicksal bis jetzo behalten hat. ,,68 In der gegenseitigen gesetzlichen Freiheit erübrigte es sich, die Verfassung, den Aufbau des Reichs zu schmähen, wie es früher üblich gewesen. Allenfalls Kritik an nicht hinreichender Achtung der gemein-reichischen Ordnung konnte von diesem Boden aus erhoben werden, wie das Friedrich Carl v. Moser zu Ausgang des Jahrhunderts beispielsweise im Interesse dieser Rechtsordnung tat. Auch verschwand fast ganz der früher häufige antikaiserliche Affekt. Im Grunde waltete ein breiter Reichspatriotismus vor, der auch die Furcht, sich mit diesen Materien zu beschäftigen, weitgehend abbaute. Der alte Satz: "Periculosum est contra eos scribere, qui possunt proscribere", den u. a. Limnaeus gern angeführt hatte, war folgerichtig der Göttinger Meinung bzw. dem Gebot Münchhausens gewichen: "Unseren Professoren ist ohne Rückhalt erlaubt, selbst das teutsche Staatrecht bloß nach ihrer Überzeugung vorzutragen, ohne darauf zu sehen, ob ihre Lehrsätze mit dem Interesse derjenigen Classe von Reichsständen, zu welcher unser Regent gehört, oder mit dem noch speziellem Interesse unseres Hofes übereinstimmt oder nicht. ,,69 Gewiß, dies war die am weitesten fortgeführte und in dieser Klarheit nicht allenthalben geübte Praxis! Aber der Tendenz nach, der Logik der Sache entsprechend, traf dies - in Modifikationen - für die gesamte Reichspublicistik zu. 70 Es ist hier nicht der Ort, die inhaltliche Bestimmung des Jus publicum RomanoGermanicum detailliert und in seiner Mannigfaltigkeit vorzuführen. Einige allgemeinere Angaben mögen da genügen, zumal aus dem bereits Gesagten zumindest z.T. erschlossen werden kann, was Gegenstand und Disziplinen dieser Rechtsmaterie sind.
,Jus publicum: des HI. Röm. Reichs allgemeine Staats- oder Regiments-Recht ist, welches von solchen Dingen rechtlich urtheilet, die zum Staat des gemeinen 67 Vgl. hierzu auch meinen Aufsatz: Voltaire und die Reichspublicistik, in: P. Brockmeier IR. Desnet J. Voss, Hrsg., Voltaire und Deutschland, Stuttgart 1979, 327 ff. 68 Heumann von Teutschenbrunn; vgl. Hammerstein, Jus, 360. 69 Ebd., 324. 70 Selbst in katholischen Territorien hielt man daflir, wurden nur die kaiserlichen und auch die kirchlichen Rechte angemessen gewürdigt, es müsse und könne das Jus publicum unbehindert gelehrt werden. Nachweise in: Hammerstein, Aufklärung, passim.
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Wesens gehören und aus den Fundamental-Gesetzen des Röm_ Teutschen Reichs __ . müssen hergenommen werden", heißt es in einem ..Hand-Lexikon" für Rechtsstudenten. 71 PüUer schreibt u. a. über das ..Staatsrecht", daß es ..mit der Wirklichkeit eines jeden Staates zugleich zu seyn anfängt, es beruhe nun bloß in stillschweigenden Verträgen und Herkommen oder in ausdrücklichen Grundgesetzen ...,,72 Entsprechend diesen Bestimmungen ergaben sich notwendigerweise sodann Schwerpunkte, Methode und Hilfsdisziplinen. Immer wieder wurde die hohe Bedeutung der Zweiteilung öffentlich-rechtlicher Gesetze betont. ..Dividitur autem" heißt es bei J. J. Maskov, ,,Jus publicum quoque in scripturn et non scripturn. Illud continetur legibus expressis, tabulis pactorum, aliisque actis publicis: hoc nomine observantiae.'.73 Indem diese Bräuche, das Herkommen beachtet werden, ihnen im Reich Gesetzeskraft zukommt, erweist sich nicht nur das ehrwürdige Alter dieser Rechtsordnung, sondern auch die rechtsgesicherte Freiheit des Gemeinwesens selbst. 74 Denn in absolutistischen Staaten und das sind aUe diejenigen, die nur geschriebenes Recht kennen - gelte herkömmliches Recht aUein, wenn es codifiziert, aufgeschrieben sei. Im Reich, für die Cives Germaniae - und das seien alle - gehe hingegen das Herkommen in öffentlichrechtlichen Fragen gar vor. ,,Es geht das Herkommen denen Gesetzen vor, weil es älter ist und zugleich die freien Staaten, die keinem Oberherm unterworfen sind, regieret.,,75 Insofern muß der Publicist bestrebt sein, diese häufig von Ort zu Ort wechselnde Materie vorab zu ergründen76 . Lexicon Juridicum Romano-Teutonicum... , Nürnberg 1753. Litteratur des Teutschen Staatsrechts, I, § 12, 27. - Auf katholischer Seite galt: ,,In dem Jure publico ist hauptsächlich auch folgendes zu sehen: 1. Damit die dem allerhöchsten Oberhaupt kraft deren Reichsgesetzen und Reichswirkungen zustehende kaiserliche und vorbehaltene Rechte oder Reservata aufrechterhalten, gründlich bewiesen und uns von einigen zu dero Schwächung unstatthaft geschrieben worden, gründlich widerleget werden, welches gar füglieh geschehen kann ohne dessenthalben die unstrittige reichsständige Territorial-Jura zu verletzen. 2. sind alle seit dem unter Gregorio VII. und Henrico IV. inter Sacerdotium et Imperium entstandenen Mißhelligkeiten in die Majestätsrechte geschehenen Eingriffs standhaft zu widerlegen, und die in weltlichen Sachen auf Erden höchste und gotteingesetzte Bürgermacht aufrechtzuerhalten. Jedoch mit jener beflissenen Mäßigkeit, deren W6rtem und Deutungen durch mehr die den Kirchen und derselben sichtbaren ... Oberhaupt schuldigen Ehrerbietung ... Und hauptsächlich sollte sich der Professor dahin möglichst bemühen, damit er seinen Zuhörern einen vollkommenen Begriff jener Reichsgesetze beibringe, von welchen der gegenwärtige Zustand und die Religion in Deutschland abhängt... " Hammerstein, Aufklärung, 186. 73 J. J. Maskov, Principia juris publici imperii Romano-Germanici. .. , Leipzig 1738, liber I, cap. 1. 74 Es galt insoweit der Satz: ..Vetustas tantum potest, quantum Imperator." Ludolf, Symphoremata, Bd. 3,1, § 486. 75 H. ehr. Senckenberg, Vorläufige Einleitung zu der ganzen in Deutschland üblichen Rechtsgelehrsamkeit, Nördlingen 1764, Vorbericht. 76 ..Insonderheit ist in Teutschland fast kein Winkel so klein, der nicht sein altes Teutsches Herkommen aufzuweisen hätte, welches nebst denen sowohl in- als ausländischen gemeinen Rechten, Gebräuchen und Gewohnheiten die Rechts-Lehre allerdings weitläufftig machet." 71
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Im Ergebnis führte das zur Behandlung sog. Landesrechte, eines TerritorialStaatsrechts, des Jus patrium, das neben und mit dem Jus publicum gelehrt und erlernt wurde. Von der Methode her bot auch hier wieder die historische Ableitung die entscheidende Begründung. Folgerichtig war es den Publicisten aufgegeben, sich mit der Geschichte des Reichs und seiner Territorien vertraut zu machen. Die Reichs-Historie entstand solcherart als Teil des Lehrkanons der juristischen Fakultäten. Denn, wie 1. B. Mencke formulierte: ,,Jus publicum vero, ... quid aliud est, quam perpetua quaedam Germanicae nostrae Historia, quae in vim legis coaluit.,,77 Diese Reichs-Historie war etwas anderes als die humanistische Geschichtsschreibung, als die gerade von den Publicisten abgelehnte sogenannte "Kaiser- und Kriegs-Geschichte", und sie hatte auch nichts mit der Universal-Historie gemeinsam. Natürlich zog auch sie die üblichen historischen Hilfsdisziplinen mit heran, also: Chronologie, Geographie, Numismatik - weniger übrigens Genealogie, das Herzstück barocker Historie, der Kaiser- und Kriegsgeschichte -, Heraldik u.s.r.?s Da das Reich insgesamt wie auch die einzelnen Stände mit anderen europäischen Mächten zu tun hatten, jederzeit zu tun haben konnten, galt es, analog zur Reichs-Historie eine Disziplin zu lehren, die die dafür notwendigen Kenntnisse vermittelte. Das leistete die Staaten-Historie oder Staatenkunde, die als Reichs-Historie des Nicht-Reichs definiert werden könnte. Ihr oblag "die Anleitung 1. zu der neuesten europäischen Staats-Historie, 2. zur Kenntnis der Grundgesetze der europäischen Staaten und der zwischen ihnen obhandenen mancherlei Traktaten, 3. zu dem neuesten europäischen V6lker-Recht, 4. zu den neuesten und wichtigsten unter ihnen obwaltenden Staatsangelegenheiten, 5. zu ihren Grund-Staats-Maximen, 6. zu ihrer Kenntnis in Anschauung ihrer off- und defensiven Force, wie auch 7. ihres Kammer- und Handlungsetat, 8. des Ceremoniells, in Absicht auf alle europäischen Staaten, 9. der Kenntnis der jetzigen Situation der europäischen souveränen Höfe und 10. zu nützlichen Reisen in Europa .,,79 Zum inneren Verständnis der Wissenschaften führe ebenfalls nur die Kenntnis ihrer historischen Voraussetzungen und Entwicklung. Die Historia juris, die Literärgeschichte, wurde - wie oben bereits erwähnt - weiterer integraler Bestandteil der Ausbildung und der Urteilsfindung. Die Bedeutung lehnsrechtlicher Bestimmungen für das Zusammenleben im Reich erforderte es, daß der Publicist dies historisch weitgespannte Jus feudale mitberücksichtigte, ganz so wie kirchenrechtIiTh. Haymen, Allgemeines Teutsches Juristisches Lexicon, Leipzig 1738, Vorrede. Voltaire urteilte im "Siecle de Louis XIV.": ,,Jedes Glied des Reichs hat seine Rechte, seine Privilegien, seine Verpflichtungen, und die schwierige Kenntnis so vieler aufgeschriebener Gesetze schafft das, was man in Teutschland das Studium des öffentlichen Rechts nennt, wodurch die deutsche Nation so berühmt ist." Zit. nach C. Antoni, Der Kampf wider die Vernunft, Stuttgart 1951, 89, dessen Analyse eine vorzügliche Ergänzung darstellt. 77 J. B. Mencke, Orationes academicae, Bd. 4, Leipzig 1734,77. 78 Zu diesem Problemzusammenhang vgl. Hammerstein, Jus, das vorab diesen Fragen gewidmet ist. 79 So J. J. Moser in seinem Plan für die Universität Göttingen, zit. n. Rürup, Moser, 81.
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ehe Fragen, das Jus circa sacra. Beide erschienen als Teil der Reichspublicistik, galten zu Recht als ihr unmittelbar verwandt. Da gelegentlich auch privatrechtliehe Bestimmungen das öffentliche Leben in Gemeinschaft beeinflussen können, wurde vorausgesetzt, daß ein Publicist neben und vor seinen Kenntnissen der Historie auch ein gut ausgebildeter Jurist sei. Eine noch so gute nicht-juristische Ausbildung befahige eben nicht dazu, publicistische Probleme angemessen beurteilen oder gar sie lösen zu können. 8o Da es schließlich mit das Ziel dieser Wissenschaft war, das Reich in rechtsgemäßem, friedlichem und freiem Zustand zu erhalten 81 , mußte es Bestreben aller Publicisten sein, praktisch zu wirken und dafür auch die angemessenen Fähigkeiten in der Ausbildung zu erwerben. Die Praxis der obersten Reichsgerichte, der landesherrlichen Obergerichte, die Behördenpraxis u.sJ. mußten somit einem Publicisten vertraut sein, damit er als Geh. Rat, als Gesandter oder Diplomat, als Reichshofratsmitglied oder wie auch immer gegründet zu handeln und zu entscheiden vermöchte. Da kaum einer der maßgeblichen Staatsbediensteten im 18. Jahrhundert dieser Ausbildung entriet, bestätigte sich darin nicht nur der Anspruch, auch die Forderung selbst war damit unübersehbar, unabweisbar. Die führenden Universitäten mußten, wollten sie nicht zur Bedeutungslosigkeit verkümmern, dieser erfolgreichen Wissenschaft sich öffnen und sie entsprechend dem vorgegebenen Muster zu verwirklichen suchen. ,,Einmal" - um ein willkürlich ausgewähltes Zitat anzuführen - "einmal werden doch Universitäten deswegen angelegt und unterhalten, nicht daß wir gelehrt werden sollen, um für uns selbsten einen vergnüglichen Zeitvertreib zu haben oder uns bei andern einen Namen zu erwerben und dergleichen: sondern es sollen auf Academien junge Leute zubereitet werden, künftighin geschickte Vorsteher des gemeinen Wesens in allerlei Ständen abgeben zu können. ,,82 Kaiser Joseph 11. meinte hierzu schlicht und generalisierend, "die Facultätsstudien hätten nicht die Bestimmung, Gelehrte, sondern nur die, Staatsbeamte heranzuziehen. ,,83 80 Der Kurator der Universität Göttingen, der Freiherr von Münchhausen, hat im Zusammenhang der Besetzung des publicistischen LehrstuhIs einmal geschrieben: ,,Nur stehe ich bei mir an, ob Sie (zwei Professoren der Historie, d. Verf.) als Professores juris publici vorzuschlagen, da sie keine Juristen seyn, und nicht zu leugnen stehet, daß das Jus civile dergestalt in Teutschland eingewurzelt, daß ein Professor juris publici schwerlich seinem Amte ohne selbiges ein Genüge thun noch die daraus gutentheils herfließenden Reichsgesetze und Abschiede genugsam verstehen, viel weniger anderen gründlich beybringen kann." Harnmerstein, Jus, 319. 81 Ein dreifaches Ziel verfolge er, meinte J. J. Moser: ,,Es ist unsere teutsche Staatsverfassung vorzusteHen, wie sie nach den Reichsgesetzen sein soHe; sodann 2. aber auch zu zeigen, wie sie in der Praxis in manchem sehr davon abgehe und also wirklich beschaffen sei; 3. endlich Betrachtungen anzusteHen, wie das Teutsche Reich, so viel wie möglich, in seiner jetzigen Verfassung zu erhalten und die sich da oder dorten zeigenden und einer Verbesserung fähigen Mängel wirklich abzusteHen sein möchten." Zit. n. RÜfUP, Moser, 119. 82 J. J. Moser, zit. nach RÜfUP, Moser, 70. 83 Harnmerstein, Aufklärung, 199.
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Es war insoweit die allgemeine - und auch der Praxis entsprechende - Meinung, um eine weitere Stimme zu zitieren, durch diese Wissenschaften sollten dem Staat ,,Bürger, die von ihren Pflichten unterrichtet", herangebildet werden, Pflichten, die sie dann auch gern erfüllten zum Wohle der Allgemeinheit. Dies Studium solle ,,Beamte, die in verschiedenen Zweigen der öffentlichen Verwaltung brauchbar, soll Männer für die Ratsstube, für das Kabinett bilden. ,,84 Es versteht sich fast von selbst, daß gemäß diesen Absichten und Bedürfnissen den Studierwilligen, denen, die aufzustreben gedachten, geraten wurde, ihre Ausbildung dementsprechend einzurichten. Ein Zitat möge für viele andere das belegen. Da hieß es in den Frankfurter Wöchentlichen Abhandlungen von 1755, ein angehender lctus könne es nicht allein beim Studium des Römischen Rechtes bewenden lassen, wolle er eine auskömmliche Existenz fristen. "Wer demnach so studieren will, daß er vernünftige Hoffnung habe, künftig, nach Welt-Art zu reden, sein Glück zu machen, der lasse es doch ja nicht bei diesem Teil der Rechts-Gelehrsamkeit allein bewenden, sondern lege sich auch mit ebensolchem Fleiß auf Schriften, welche die bürgerliche Rechts-Gelehrsamkeit nach dem Teutschen Fuß abhandelen, daß er, anstatt der verrosteten Altertümer einen rechten Begriff von Policey-, Forst-, Handwerks- und dergleichen Sachen bekomme. Er mache sich die Verfassung des Landes, wo er Brot suchet, bekannt; er versäume ja die allgemeine und die Teutsche Staats-Historie, das Staats-Recht, die Kenntnis derer Europäischen Staaten und was er sonsten aus Büchern Nützliches lernen kann, nicht, aus dem törichten Vorurteil, wann er einmal ein Advocat oder ein Beamter werde und dergleichen, so helfe es ihme doch nicht ... ,,85 Daß solche Hinweise, Ermahnungen, Anleitungen zum mindesten von denen, die Anstellung an Höfen - weltlichen wie geistlichen -, an Reichsbehörden, die Verwendung in diplomatischen Missionen suchten, befolgt wurden, belegen nahezu alle Lebensläufe solcher Männer. 86 Und damit kommen wir zu der Frage, welcher Zusammenhang zwischen dieser Rechtsmaterie und ihrer politischen Umwelt bestanden hat, was Publicistik und Politik verbunden haben könnte. Gerade beim öffentlichen oder Staatsrecht steht zu vermuten, daß deutliche Abhängigkeiten und Analogien vorhanden waren, so wie es sie ja bis zum heutigen Tage gibt. Bemerkenswert erscheint mir da zunächst der späte Zeitpunkt, zu dem im Reich - aber überhaupt in Europa - eine solche Rechtsmaterie, die ihren spezifischen Umkreis im staatlichen Bereich beanspruchte, postuliert und formuliert wurde. Römisches Recht und Philosophia practica genügten offensichtlich für lange, das notwendige theoretische wie praktische Rüstzeug für den Auf- und Ausbau frühEbd., 201. 22. Stück, 355 f. 86 Zusammenfassende Untersuchungen zu dieser Frage fehlen leider. Einige Namen recht willkürlich - sind die folgenden: v. Seilern, Bartenstein, Cobenzl, Kaunitz, v. Fuchs, Rhetz, Dohna, Dalberg, Stein, Hardenberg, Montgelas, Mettemich; gute Beispiele auch in O. v. Gschließer, Der Reichshofrat, Wien 1942. 84
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moderner Staaten bereitzustellen. Im Reich, das so wenig modeme Züge aufwies, bedurfte es zur Entfaltung selbst dieser eher allgemeinen Kunstfertigkeiten längerer Zeit als in Westeuropa. Von dort - dem eigentlichen Schauplatz politischer Auseinandersetzungen während der zweiten Hälfte des 16. und der ersten des 17. Jahrhunderts - wurden Anregungen empfangen, die den eigenen Traditionen nutzbar zu machen gesucht wurden. Am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges stand ein theoretischer Rahmen zur Verfügung, der es erlaubte, mit juristisch-politischen Argumenten die kriegerischen Parteien - also weit mehr als nur streitende Parteien! - zu unterstützen. So bedeutsam das für die Entwicklung eines Reichs-Staatsrechts war, es blieb Vorstufe und vor allem ohne unmittelbaren Zugang zur juristischen Praxis des Reichs. Insoweit verblieben diese Traktate weit von der für Juristen möglichen politischen Einwirkung fern. Sie hatten ihre Rolle in der politischen Publizistik, wirkten propagandistisch, nicht in die Institutionen und Kabinette hinein. Die Abwendung von einer eng konfessionell sich verstehenden Welt und Politik, die entschieden dauerhafter als zuvor festgeschriebene Ordnung des Reichs im Westfälischen Friedensinstrument, die unabweisbare Notwendigkeit, nunmehr zu einem tragfähigen Zusammenleben zu gelangen - wobei es erschwerend hinzukam, daß Reichsterritorien zu europäischer Größe und Gewicht aufstiegen, territoriale Veränderungen bzw. Änderungswünsche oder Ansprüche gerechtfertigt und sanktioniert werden mußten -, und im einzelnen noch viele weitere Punkte mehr erzwangen einen anderen Zugang zu den Fragen eines Jus publicum Romano-Germanieum. Hatte zunächst die - ebenfalls aus dem Westen kommende - Naturrechtslehre, auch der wiederbelebte Aristotelismus diese Legitimationsfunktion für die in Bewegung geratene Welt geboten, so erschienen beide den Bedürfnissen und Vorstellungen des Reichs, wie sie sich zu Beginn des neuen Jahrhunderts darboten, nicht mehr angemessen und tragfähig. Wie unser historischer Überblick über die Entstehung und methodische Absicherung des Jus publicum gezeigt haben dürfte - und dieser Weg muß eingeschlagen werden, soll die politische Bedeutung dieser Rechtsmaterie deutlich werden -, herrschte ein eigentlich eher konservativer Grundzug vor. Die im Naturrecht angelegte Tendenz, revolutionierend, verändernd, im Sinne einer an Vernunft zu messenden Allgemeinordnung zu wirken, schien mit der akzeptierten, der gewollten bunten Vielgestaltigkeit des Reichs nicht vereinbar. Die Historisierung, die Thomasius der Naturrechtslehre auferlegte zugleich mit der "Vernaturrechtlichung" der historischen, der positiven Rechtsordnung, entzog diesem Naturrecht eigentlich jegliche weitergehende Bedeutung. Methode und Verständnis des Jus publicum bestimmten hingegen die Rechtsauffassung dieser Reichsjuristen. Aus verwandten Gründen lösten sie sich auch von dem Aristotelismus. Der argumentierte ja ebenfalls normativ. Da aber die Realität ebendieses Reiches und seiner Glieder auf diesem Weg nicht klar, überzeugend und exakt zu beschreiben war - es
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sei denn, diese Realität wäre verbessert worden im Sinne der klareren aristotelischen Begrifflichkeit -, wurde auch hier das neue Erklärungsmodell bevorzugt. Die Publicisten waren Verteidiger des erreichten politischen und rechtlichen Zustandes, waren überzeugt davon, daß die unübersehbar bunte Reichsrechtsordnung nicht Schwäche, sondern Stärke und Freiheit bedeute. Anpassungen, selbst territoriale Verschiebungen waren gleichwohl möglich - Reichsgerichte, die Ordnung selbst sahen solches vor -, aber eine durchgreifende Neuordnung, wie z. B. mit Mitteln der aufgeklärten Vernunft und gegen die historischen Privilegien, schien unvorstellbar. Absolutistisch - was immer despotisch meinte - sei so etwas, nicht mit dem Grundzug deutscher Freiheiten in Übereinstimmung. Begreiflicherweise hätten solche Versuche, die übrigens auch rein literarisch nur selten erörtert wurden, die Existenz des Hl. Röm. Reichs, dieses "gotischen Baues", wie Zeitgenossen bereits sagten, gefahrdet. Die Bemühungen des aufgeklärten Absolutismus - insbesondere Josephs 11., aber auch die Friedrichs des Großen haben dann ja auch zu empörten Reaktionen geführt, sind vielfach auf Unverständnis gestoßen. Nicht ,,Politik" - in spezifischem Sinne gefaßt - war nach dieser die öffentlichen Belange legitimierenden Lehre Aufgabe der Fürsten, sondern Verwaltung und Rechtsprechung, das, was in der Tat vorwaltende Tätigkeit der Herrschenden im Reich war. Das gestiegene Ansehen des Kaisertums und damit auch des Reichshofrats, der patriarchalisch-absolutistische Ausbau der Territorien - höhere Rechtssicherheit und bessere Policey, genuin aufgeklärte Forderungen übrigens, sowie rationellere Vereinheitlichung der territorialstaatlichen Instanzen -, emsige diplomatische Tätigkeit nicht zuletzt innerhalb des Reiches, aber auch im Umgang mit äußeren Mächten - die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts heißt gerne die Zeit der Friedensschlüsse -, all das wurde entschieden auch von den reichspublicistisch geschulten Räten, Gesandten, Geh. Sekretären, Richtern etc. mit veranlaßt, geprägt und legitimiert. Die zunehmende Zahl der Prozesse vor Reichs- und kaiserlichen Gerichten zeigt dies rein quantitativ! Eine gegenseitige Durchdringung von Reichsstaatsrechtslehre und kurios altertümlicher Politik dieser "Staatsgebilde" (die eigentlich keine waren) fand durchaus statt. Stärker als in anderen Staaten Europas bestimmten im Reich "mittelalterliche" oder "alteuropäische" - wie o. Brunner sagt - Vorstellungen die Meinung vom Leben in Gemeinschaften. Der weithin mangelnde scharfe Zug einer ausgreifenden Politik forderte auch im Theoretischen keine scharfe Diskussion, wie sie in Frankreich und England geführt worden war und immer noch wurde. Die im Reich bevorzugte Methode historischer Vergewisserung garantierte so war es die Absicht der Territorialgewalten wie auch der Publicisten - den Status quo. Im möglichst friedlichen Austrag selbst fürstlicher Ansprüche meinte man zudem die Freiheiten und Privilegien gesichert zu besitzen. Die im großen des Reichs wie im kleinen der z.T. zwerghaften Territorien verbrieft zuerkannte rechtliche, möglichst gesetzesmäßige Verwaltung des Gemeinwohls sicherte tat-
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sächlich und unbeschadet provinzieller Enge eine Art Freiraum. Justus Möser wurde später der gewichtige Verkünder dieses Ideals! Wurde freilich dann dieser Zustand verletzt, mußte das als besonders tyrannisch und willkürlich empfunden werden, fehlte doch jede weiterführende, auf größere Aufgaben verweisende Legitimation. Beharrend, konservativ im Grundzug, antiabsolutistisch, antizentralistisch vertraute diese Lehre auf die Vernünftigkeit des Historischen und Faktischen zumindest ebenso wie auf die der Vernunft selbst. Rechtsstaatliehe Verwaltung war wichtiger als Teilnahme an öffentlichen Belangen, sie erlaubte das gewohnte Leben in privater Sphäre. Indem alle Territorien des Reichs diesem Selbstverständnis sich öffneten, konnte allmählich eine Annäherung der seit dem Augsburger Religionsfrieden getrennten Reichsteile gelingen. Nicht zuletzt dieser Umstand war höchst bedeutsam für den neuen Aufschwung, den das alte Reich im Übergang zum Deutschen Bund nehmen sollte; auch er freilich vorab im Geistigen! . Der antiabsolutistische Grundzug, die Ablehnung auch einer naturrechtlichen Legitimation von Herrschaft - beides entsprach, so hoffe ich gezeigt zu haben, durchaus der Wirklichkeit des Reichs - bedingten es andererseits - oder besser gesagt: sie sind der theoretische Ausdruck der politischen Realität -, daß dieses Reich einen weiteren, längeren Weg hin zum modemen Staat zurückzulegen hatte. Zum mindesten erklärt es die andersartige - nicht schlechtere! - Entwicklung dieses Staatswesens, verglichen mit der unserer westlichen Nachbarn. Für unser heutiges Thema wiederum dürfte die Untersuchung gezeigt haben, daß auch das öffentliche Recht, besser das Jus publicum Romano-Germanicum den gleichen unpolitisch-politischen Charakter hatte wie das Reich selbst. Daß auch Ausnahmen vorkamen, wie Friedrich der Große, Joseph TI., das Allgemeine Preußische Landrecht und die Männer um Suarez, ändert nichts an dieser allgemeinen Tendenz. Im "politischen" Ausland freilich erkannten Zeitgenossen darin auch Positives, Nachahmenswertes und Zukunftsweisendes. So meinte Jean-Jacques Rousseau: "Was in Wirklichkeit das europäische Staatensystem aufrechterhält, so gut das gehen mag, ist in der Hauptsache das Spiel der Verhandlungen, die sich nahezu allezeit im Gleichgewicht halten; aber dieses System hat noch eine andere, wirksamere Stütze: nämlich das Deutsche Reich, das vom Herzen Europas aus alle anderen Mächte im Zaume hält und vielleicht der Sicherheit der anderen noch mehr dienen kann als seiner eigenen; durch seine Größe und die Zahl und Tapferkeit seiner Völker ein achtunggebietendes Reich, dessen Verfassung allen von Nutzen ist, die, indem sie ihm die Mittel und den Willen zu Eroberungen unterbindet, es zugleich zu einer Klippe der Eroberer macht. Unerachtet der Fehler dieser Reichsverfassung ist es doch gewiß, daß, solange sie besteht, das Gleichgewicht Europas nicht verletzt werden kann, daß kein Herrscher zu befürchten hat, von einem andern entthront zu werden, und daß der Westfalische Friedensvertrag vielleicht für immer die Grundlage des politischen Systems unter uns bleiben wird. Das öffentliche
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Recht, das die Deutschen so gründlich studieren, ist somit noch weit wichtiger, als sie glauben, denn es ist nicht allein das germanische öffentliche Recht, sondern in gewissem Sinne das von ganz Europa.,,87 Nun, ein halbes Jahrhundert später wird vielfach selbst im Reich diese zuvor selbstgewisse Meinung nicht mehr geteilt. Es zeigt sich der kommende Umschlag, der Wunsch nach neuer Begründung eines öffentlichen Rechts an. So schrieb Hegel 1802 in seinen politischen Schriften: "Die Grundsätze des deutschen Öffentlichen Rechts sind daher nicht aus dem Begriffe eines Staats überhaupt oder dem Begriffe einer bestimmten Verfassung, einer Monarchie usw. abzuleiten, das deutsche Staatsrecht ist nicht eine Wissenschaft nach Grundsätzen, sondern ein Urbarium von den verschiedensten der nach Art des Privatrechts erworbenen Staatsrechte. Gesetzgebende, gerichtliche, geistliche, militärische Gewalt sind, auf die regelloseste Art und in ungleichartigsten Portionen vermengt, geteilt und verbunden, gerade so mannigfach als das Eigentum der Privatleute.,,88 Damit war eine neue Stufe der Überlegungen zum Jus publicum erreicht.
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1756, zit. nach Vierhaus, Deutschland, 152. Vgl. Hammerstein, Aufklärung, 22.
Das Römische am Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation in der Lehre der Reichs-Publicisten Im strengen Sinne müßte meine Darstellung mit dem 17. Jahrhundert einsetzen. Erst zu diesem Zeitpunkt beginnt das, was als Lehre vom Jus publicum RomanoGermanicum, als Reichsstaatsrecht, als Reichs-Publicistik bezeichnet werden kann. Die Gründe für diesen Vorgang sind hier nicht darZustellen. Sie hängen auf mannigfache Weise mit den sich verfestigenden ,,Parteien" im Zeichen der sogenannten Gegenreformation zusammen, der zunehmend polemischeren Haltung der Konfessionsgruppierungen innerhalb des Reichs, die die nach dem Augsburger Religionsfrieden erreichte Ruhe zu durchbrechen begannen. Insoweit gehört der Aufund Ausbau dieser juristisch-politischen Lehren in die Vorgeschichte des Dreißigjährigen Krieges, der das Reich in die heftigen westeuropäischen Auseinandersetzungen um jeweilige Rechtgläubigkeit hineinzog. Gleichwohl übernahm die Reichs-Publicistik nur bedingt Anregungen und Formeln, die dort im Westen bereits früher, energischer und "politischer" entwickelt worden waren. Eher in ablehnender Auseinandersetzung - beispielsweise mit den Theorien Bodins, speziell gerade auch seiner Analyse der Herrschaftsform des Reichs, oder denen Machiavellis und alsbald auch denen Hobbes' sowie der Monarchomachen - suchten diese Reichsstaatsrechtslehrer eine genuin ,,reichische" Komponente und beharrten von Anfang an auf der Eigenart, der Unvergleichbarkeit gewissermaßen des Reichs mit den anderen europäischen Staatswesen.! Bezeichnend und wichtig war es nun, daß diese Diskussion vorab an den Universitäten geführt wurde, daß diese Lehre sich von Beginn an als eine Universitäsdisziplin verstand, von Professoren zumeist formuliert und dann auch angewandt wurde. Nicht, daß ihr daher ein eher theoretischer, praxisferner Charakter eigentümlich gewesen wäre, ist das Entscheidende. Denn das war sie weitgehend weniger, als man von daher erwarten könnte. Es sind andere Momente hier bedeutsamer. Das Bestreben nach "Verwissenschaftlichung", nach Eingliederung in die gelehrten UniversiErstveröffentlichung in: ZRG GA 100, Hennann Böhlaus Nachf., Wien I Köln I Graz 1983, 119-144. 1 Der Einfachheit halber verweise ich auf meinen Beitrag: Jus Publicum Romano-Gennanicum, in: Diritto e Potere nella Storia Europea. Atti deI Quarto Congresso Intemazionale della Societa Italiana di Storia deI Diritto, 2 Bde., Florenz 1982. Dort zahlreiche Belege und weitere Literatur. - Zum allgemeinen Hintergrund Literatur und kurze Analyse jetzt am bequemsten in H. Lutz, Refonnation und Gegenrefonnation (Oldenbourg Grundriß der Geschichte, 10) München 1979.
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tätsdisziplinen resultiert daher und erklärt das stark juristische, nicht eigentlich politische Selbstverständnis dieses deutschen Jus publicum. Freilich erschien das anfanglich noch weniger deutlich als dann im Fortgang der Entwicklung. In diesem geschilderten Sachverhalt drückt sich aber noch eine weitere Eigentümlichkeit der Verhältnisse im Reich aus. Die Universitäten behielten hier einen entschieden höheren Rang als in Süd- oder Weste uropa. Selbst während des 17. Jahrhunderts, als sie ebenso niederzugehen schienen wie die übrigen europäischen Hochschulen, behielten sie letztlich doch ihre Bedeutung, ihr hohes Gewicht. 2 Das Studium an einer der zahlreichen Universitäten eröffnete nach wie vor Karrieren, es galt vielfach als Voraussetzung für öffentliche und anerkannte Tatigkeit. Und nicht von ungefähr vermochten es die scheinbar daniederliegenden Anstalten denn auch, einen kräftigen Neuanfang zu Ende des Jahrhunderts in die Wege zu leiten. 3 Das hat nun einen benennbaren Grund. Das Fehlen eines hauptstädtischen Zentrums, eines allein führenden und bestimmenden Hofes - das Reich hatte viele und regional durchaus bedeutungsvolle -, infolgedessen der Mangel einer Öffentlichkeit verwiesen nicht zuletzt auf die Universität als Ort solch notwendiger Stilbildung und Diskussion, geistiger Selbstvergewisserung und bewegender Auseinandersetzung. Insoweit war das Ergebnis zwar vielfach kleinstaatlich eng, blieb sozusagen auf territorialstaatlichem Feld. Aber in der Wirkung, indem das Reich jeweils schließlich insgesamt erreicht wurde, garantierten die Universitäten ein übergreifend Öffentliches, ersetzten sie darin zum Teil Hauptstadt, Hof und Salon.4 Begreiflicherweise hatte das seinerseits wiederum Rückwirkungen auf die universitären Lehren selbst, nicht zuletzt auch auf das Jus publicum als eine Erklärung der öffentlichen Verhältnisse eben dieses Reichs. Aber das kann hier nicht weiter verfolgt werden. Entschieden verkürzt nun ließe sich formulieren, daß das Jus publicum Romano-Germanicum sich als eigenständige Disziplin in dem Augenblick begriff, in dem es eigene und eigentümlichere Rechtsmaterien zu entdecken meinte, die nicht im Corpus Juris enthalten und somit von da nicht zureichend geregelt und erklärt werden könnten, die aber gleichwohl für das Leben im Reich von Bedeutung seien. Wurde bis dahin mit dem Jus commune auch der öffentliche Bereich gehandhabt, so war das nunmehr, in der sich aufladenden und angeheizten Diskussion, nicht mehr möglich. Gewiß hat das auch etwas mit der sich verfeinernden historisch-philologischen Methode zu tun, dem humanistischen Erbe, das als 2 Siehe u. a. N. Hamrnerstein, Universitäten des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation als Ort der Philosophie des Barock, in: Studia Leibnitiana 13, 1981,242 ff.; ferner R. J. W. Evans, Gennan Universities after the Thirty Years War (History of Universities, 1) Avebury 1981, 169 ff., dessen Analyse ich freilich nicht recht zu folgen vennag. P. Baumgart, Universitäten im konfessionellen Zeitalter: Würzburg und Helmstedt, in: P. Baumgart/N. Harnmerstein, Hrsg., Beiträge zu Problemen deutscher Universitätsgrundungen der frühen Neuzeit (Wolfenbütteler Forschungen, 4), Nendeln I Liechtenstein 1978, 191 ff. 3 N. Hammerstein, Die Universitätsgrundungen im Zeichen der Aufklärung, in: Baumgart I Harnmerstein, Hrsg., Beiträge, 263 ff. 4 Ich hoffe, in geraumer Zeit dies in einer umfassenderen Studie vorlegen zu können.
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methodisches Postulat die Reformation überstand. s Aber entscheidender waren dann doch die politisch-praktischen Auseinandersetzungen und Bedürfnisse, die um die Jahrhundertwende verstärkt virulent wurden. Natürlich hatte es auch schon vor der Entstehung des Jus publicum RomanoGermanicum eine Antwort auf die Frage nach dem Charakter des Reichs, seinem Namen, seinen Funktionen, Rechten und Pflichten gegeben. Insofern bestand durchaus eine deutliche Meinung über diese einzelnen Sachverhalte, die allenfalls nach Konfessionszugehörigkeit unterschiedlich ausfallen mochte. Ich darf diesen vorherigen Stand mit wenigen Worten zu umschreiben suchen, gingen doch die frühen Reichs-Publizisten von diesem aus. Die Bezeichnung Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation ist zuerst im 15. Jahrhundert aufgekommen und ab 1500 zunehmend gebräuchlich geworden. 6 Es war das keine Abkehr von der mittelalterlichen Vorstellung eines herausgehobenen Heiligen Römischen Reiches, sondern eine Fortführung dieses Gedankens in präzisierender Umschreibung. Für das Römische dieses Reichs mußten sich mit dem neuen Jahrhundert alsbald - so möchte man meinen - Schwierigkeiten einstellen. Die veränderte Gestalt Roms und seines Oberhauptes selbst - des Kirchenstaates und des Renaissance-Papsttums -, der "nationale" Emotionen hervorrufende Humanismus, die von Maximilian vergeblich erstrebte, schließlich einseitig proklamierte Erhebung zum Kaisertum - die danach nur noch einmal, dann aber in Bologna und unter übermächtigem Druck Karls V. zustande kam und somit den Kaisertitel praktisch von der zu Rom zu vollziehenden Krönung ablöste - und schließlich das strikt antirömische Ereignis der Reformation: All das stand eigentlich dem Römischen im Reichstitel entgegen. 7 Trotz all dieser Momente hielt das Reich jedoch daran fest, daß es heilig und römisch sei. Allerdings mußte das neu begründet und interpretiert werden. Nicht von ungefähr wurde denn damals auch die Translatio Imperii nachhaltig und vielfältig diskutiert. 8 Sowohl die Humanisten wie auch die Protestanten hielten an dieser älteren Auslegung der Danielschen Vision fest, ja Melanchthon in der Carionsehen Chronik sowie Johannes Sleidan in seinem Büchlein ,,oe quattuor summis imperiis" - dem protestantischen Schulgeschichtsbuch - legten die Neugläubigen R. Pfeiffer, A History of Classical Scholarship from 1300-1850, Oxford 1976, passim. K. Zeumer, Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Quellen und Studien zur deutschen Verfassungsgeschichte des deutschen Reichs in Mittelalter und Neuzeit, Bd. 4, 2, Weimar 1910. 7 L. v. Ranke, Die römischen Päpste in den letzten vier Jahrhunderten (viele Auflagen); P. Joachimsen, Die Reformation als Epoche der deutschen Geschichte, München 1951; H. Wiesflecker, Maximilians I. Kaiserproklarnation zu Trient, in: Österreich und Europa. Festschrift für Hugo Hantsch, Graz 1965, 15 ff.; S. Skalweit, Reich und Reformation, Berlin 1967. 8 W. Goez, Translatio Imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorie im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Tübingen 1958, insbes. 237 ff.; H. Duchhardt, Et Germani eligunt et Germanus eligendus, in: ZRG GA 97, 1980, 232 ff. S
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im Reich auf diese Auffassung fest. 9 Es war zwar nicht die katholische, die kuriale Auslegung - wie sie alsbald wieder bei Bellarmin oder Baronius erschien, wonach dem Papst die entscheidende Mittlerrolle der Reichsübertragung zukomme -, sondern eine, die dem Papst allenfalls als Amtswalter des römischen Volks und Karl dem Großen als erfolgreichem Kriegsmann diese Translation zuschrieb. Letztlich stand freilich fest, wie Melanchthon das einmal formulierte: " ...daß nicht allein durch menschliches Planen und Streiten Reiche begründet und erhalten werden, sondern daß Daniel zu Recht sagt: Deus transfert et stabilit regna.,,10 Ein insgesamt traditionalistischer Zug eignete insoweit den deutschen Humaniund Reformatoren. Die ältere Kaiser- und Reichsidee wirkte, wenn auch modifiziert, fort. Es blieb bei der Vorstellung, wie es die Bezeichnung Heiliges Römisches Reich ausdrückt, u,ld von dieser Vorstellung mußten dann auch die frühen Reichspublicisten ausgehen. Wie sie das ,,Römische" erklärten, soll im folgenden gezeigt, auch sollen die unterschiedlichen Ableitungen sowie die möglichen Entwicklungen benannt werden. Um bei dieser Übersicht jedoch nicht zu sehr zu ermüden, gehe ich auswählend vor, werde ich nur schwerpunkthaft Beispiele geben. ~ten
Auch werde ich nicht die vehemente Diskussion über die Forma Imperii, die im Zuge des Dreißigjährigen Krieges aufbrach, berücksichtigen. Ich werde die universitätsjuristische Diskussion, nicht die bekannten polemischen Pamphlete eines Hippolithus a Lapide, Monzambano und Caesarinus Fürstenerius, um nur die wichtigsten zu nennen, berücksichtigen. Der Sache nach kamen sie in unserer Frage eigentlich zu nicht sehr von den Universitätspublicisten entfernten Ergebnissen. Argumentation und schriftstellerische Qualität lagen freilich auf einem anderen, einem höheren Niveau. Die Frage des Reichstitels war für diese Autoren - Philipp Bogislaw von Chemnitz, Samuel Pufendorf und Gottfried Wilhelm Leibniz 11 - zudem eine eher untergeordnete, wenig belangreiche, ja fast bedeutungslose, so daß die Nichtbehandlung hier gerechtfertigt werden kann. Es ging ihnen um die Verfassung des Reichs, die Souveränität von Kaiser und Fürsten, die Ratio Status dieses Gemeinwesens, nicht um seine Traditionen! Gerechtfertigt kann ferner auch werden - so hoffe ich zum mindesten - die Zurückhaltung im Blick auf die realen, politischen Bedingungen und Voraussetzungen dieser Reichs-Publicistik und ihrer Meinung von dem, was römisch am Reich sei. Das kann in anderen Publikationen leicht nachgelesen werden, zumal unsere Frage eine eigentlich wenig praktische, ja recht partielle in diesem Zusammenhang ist. Nun aber zu den Reichs-Publicisten selbst. 9 Außer Goez, Translatio, siehe auch E. C. Scherer, Geschichte und Kirchengeschichte an den deutschen Universitäten, Freiburg 1927; E. Menke-Glückert, Die Geschichtsschreibung der Reformation und Gegenreformation, Leipzig 1912. 10 Zit. nach Goez, Translatio. 277. 11 Zu den Genannten vgl. die Darstellungen - mit zahlreichen Literaturangaben - von R. Hoke, N. Hammerstein, H. P. Schneider, in: M. Stolleis, Hrsg., Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1977, sowie N. Hammerstein, Leibniz und das Heilige Römische Reich deutscher Nation, in: Nassauische Annalen 85, 1974, 87 ff.
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Zu den frühesten und zutreffend auch immer wieder aufgeführten publicistischen Schriften gehören Tobias Paurmeisters Abhandlung ,,oe jurisdictione Imperii Romani" von 1608 sowie die sog. "Donauwörthsche Information" von 1609. Sie erbringen zu unserer Fragestellung allerdings nichts, wohl weil sie vorab andere, die kaiserlichen Prärogative betreffende Fragen im Auge haben und Teil heftiger unmittelbarer Auseinandersetzungen sind. 12 Die Benennung des Reichs war zudem ja nicht umstritten. So gab es keinen Grund zu nachhaltiger Überlegung über diesen Punkt. Melanchthons Formel konnte fortbestehen, reichte für allgemeine, ein wenig verschwommene Begründungen, wie sie z. B. der nicht gerade herausragende Greifswalder Professor Stephan in seinen Discursus Academici noch 1624 gab: ,,At hodie nominamus Imperatorem qui summam rerum potitur in Imperio Romano: Qui etiam vere dicitur Princeps ... lta dictus, quasi primus capiens et quod Imperium Romanum a nullo alio quam Deo immediate teneat: Id ipsum testatur sublimi illa phrasi, qua utitur, wir von Gottes Gnaden ..... 13 Eine unmittelbarere Erörterung der Frage, ob das Reich zurecht und warum den Titelbeisatz ,,römisch" führe, stellte sich dann freilich dort ein, wo eine systematischere Behandlung eines eigenständigen Jus Publicum versucht wurde, wo nicht vorab die Titel: de juristictione der Pandecten oder de regalibus des Lehensrechts Ort und Maßstab eines öffentlichen Rechts zu sein hatten. Sollte das Jus Publicum nämlich eine eigenständige, nicht mehr im Rahmen des Jus Commune abzuhandelnde Disziplin sein, mußten neben nach wie vor gewichtigen Einzelfragen auch Aufbau und Grundlegung der Reichs-Rechts-Ordnung insgesamt mitbehandelt werden. Und da tauchte häufig die Frage auf, "an imperium hoc nostrum Romanum recte dici etiamnum possit?", wie Arumaeus formulierte. 14 Ausgehend von Bodin, Thuanus und Sleidan stellt er die verschiedenen Ansichten, Übernahmen und den Charakter des Reiches vor. Auch Alciat, Beroaldus, Zoanetto, Aventin, Nikolaus Everhard und andere werden bemüht, zum einen, um zu belegen, daß das Reich rechtlicher Nachfolger des römischen sei, und zum anderen, daß die Danielische Vision eine gewisse Berechtigung habe, wenngleich vom alten römischen Reich nur ein bescheidener Rest vom neuen verwaltet werde. Da gelte aber: "sed in parte ea, quae restat, totum Imperium est, adeoque ubicumque Imperator est, id viget perduratque ..." Er verweist ferner auf Aventins Feststellung - und auf sie werden sich nachmals noch viele berufen -, "curiam ibi esse, ubi Princeps est et ubicumque Romanus Pontifex est, ibi esse Romam, ubi Helena ibi Trojam ... 1S 12 Zu ihnen vgl. die Angaben in Hammerstein, Jus Publicum. - Das gleiche trifft auch auf den von J. S. Pütter, Litteratur des Teutschen Staatsrechts, 4 T., Göttingen 1776 ff. (ND 1966) als einen der frühesten Publicisten genannten Quirinis Cubach zu. Pütters ,,Litteratur" ist nach wie vor eines der wichtigsten Nachschlagewerke zum Jus publicum Romano-Germanicum. 13 M. Stephan, Discursus Academici ex Jure Publico, Rostock 1624, Disc. VI, 25. Zu den hier genannten Reichs-Publicisten vgl. auch die Angaben in O. J. Jöcher, Allgemeines Gelehrten-Lexikon, 4 Bde., Leipzig/Bremen 1750-51; Fortsetzung und Ergänzung von J. Ch. Adelung, 5 Bde., Leipzig/Bremen 1784 -1816 (ND 1960/61). 14 D. Arumaeus, Discursus Academici de Jure Publico, Bd. I, Jena 1617, Disc. 11,17 ff.
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Indem der Kaiser die altrömischen Insignien trage, insbesondere den Adler, werde damit ferner deutlich, daß er legitimer Rechtsnachfolger sei: "ita etiam insignia adinventa sunt ad cognoscendas familias et successiones veras .... " Es sei weniger bedeutsam, Ort und Zeit der Translation festzumachen, als vielmehr die Sache selbst in ihrer qualitativen Bedeutung zu erkennen. Das ,.Römische" im Reich sei "sicut anima in corpore" . Als letztes Argument hält er schließlich bereit, nicht nur die in Rom oder in Italien Geborenen bzw. Lebenden besäßen die Eigenschaft eines Römers, " ... sed juxta juris dispositionem omnes Imperio Romano subjecti in numerum civium Roma'!orum adscribendi sunt", woraus für Arumaeus folgt: "Quia Germani subsunt Imperio et cives Romani sunt.,,16 Wenn auch Arumaeus - der erste eigentlich schulbildende Publicist - nicht kanonisches Gewicht errang, hatte er doch für die nächste Zeit den bleibenden Grund gelegt, von dem aus argumentiert werden konnte. Auch bildeten die von ihm bemühten, widerlegten oder zitierten Autoren hinfort den Grundbestand, von dem jeweils ausgegangen, mit dem man sich auseinandersetzen mußte. Unbeschadet der Stellung zu Kaiser und Reich, unbeschadet auch konfessioneller Zugehörigkeit blieb diese Interpretation im großen und ganzen Meinung der meisten älteren Autoren. 17 So spielte es zunächst auch keine entscheidende Rolle, daß dem Jus publicum ein neues Eigengewicht, eine Eigengesetzlichkeit zuerkannt wurde. 18 Man blieb bei der gewohnten Interpretation. Daniel Otto, der eine der frühesten Abhandlungen zum Jus publicum verfaßte, hat insofern nicht anders geurteilt als dann Reinkingk, Lampadius, Krembergk, Zoanetto, Becker 19 oder Brautlacht - zum mindeEbd., 21. Ebd., 24. 17 In der zeitgenössischen Politik spricht man in allen Lagern und trotz des Dreißigjährigen Krieges ebenfalls ohne Vorbehalt vom Heiligen Römischen Reich oder auch vom Römischen Reich bzw. Heiligen Reich je für sich, dem man sich als Vaterland zugehörig weiß. Hessen-Darmstädtische Räte erstrebten 1635 z. B. die "Conversation Rei publicae Romanae Unser lieben Vaterlands Teutscher Nation". In einem Gutachten aus dem gleichen Jahr und aus dem Umkreis des Prager Friedens erinnerten sächsische, hessen-daimstädtische und weitere Räte den Kaiser an das Zustandekommen seiner ,,Macht": "Wann man nur erwägt, aus welchem Brunnquell Ober: und Unter:, Vorder: und Inner Österreichische Länder, die Königreich Ungarn und Böheimb, das Henogtumb Mailand und viel andere ansehnliche Länder auf dieses hochlöbliche Haus kommen, wird sichs befinden, daß, obzwar matrimonia mit darzu administriert, jedoch principaliter vom Römischen Kaisertum und Römischen Reich solche stattliche accensiones hergeflossen und wider alle nemicos und deren machinationes nit weniger durch Kay. Auctorität dann eigne und der Länder Macht beschützt werden." Beide Zitate nach A. Wandruszka, Reichspatriotismus und Reichspolitik zur Zeit des Prager Friedens von 1635, Graz 1955,42,47 ff. 18 Zur Verselbständigung des Jus publicum vgl. insgesamt auch N. Hammerstein, Jus und Historie, Göttingen 1972, passim. 19 Zu Daniel Otto vgl. Pütter, Litteratur; R. Stintzing/E. Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, 3 Bde. in 4, München 1880 ff. (ND 1957). Dort auch zu den 15
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sten in den Grundfragen. Gerade Brautlachts Handbüchlein des öffentlichen Rechts, das lange und gerne genutzt wurde, hat das in prägnanter, am Aristotelismus seiner Zeit orientierter Form 20 zusammengefaßt: "Efficiens, sive a qua imperium nostrum est constitutum, est vel principalis vel minus principalis. Principalis Imperii causa est Deus, minus principalis sunt Romani et postea ad quos translaturn Germani, qui imperii hujus dignitatem virtute sua sunt demeriti. Cum Imperia sine territorio subsistere non possint, per materiam Romano Germanicum territorium in quo cum primitus Romani turn postmodum et hodie Germani dominati, nunCUpO.,,21
Begreiflicherweise kamen im Blick auf den allgemein anerkannten "Reichstitel" des Reichs als eines "Römischen" einige unterschiedliche Ableitungen und Akzentsetzungen vor, was den Vorgang, die Translatio Imperii, selbst anbelangte. Häufig erschien die Kaiserkrönung Karls des Großen als der maßgebliche Akt, wobei Schwierigkeiten im Blick auf die päpstlichen Mitwirkungsrechte und dementsprechende Rechtsansprüche entstehen konnten. Vielfach galt aber auch die Zeit ab Otto dem Großen als diejenige, in der eine dauerhafte Verbindung von Romanum und Germanicum begründet worden sei. Einige hielten ferner dafür, wie z. B. Lampadius es formulierte, ,,In principio autem imperatores successione imperium nacti ad Ottonem tertium Saxonem usque numquam interruptum ... ,,22 All diese Überlegungen und Diskussionen brachte Johann Limnaeus in seinem Compendium dann zu einem vorübergehenden, vorläufigen, gleichsam klassischen folgenden Angaben! - In seiner Dissertatio Juridico-Politica de Jure Publico Imperii Romani methodice conscripta schreibt D. Ouo: "Neque enim spectandum est, quid Romae fiat sed quid fieri debeat. Nec Romanum Imperium includitur aut circumscribitur loco, multo minus in Persona unius vel plurim imperium, sed in Universo orbe consistit, sicuti anima in corpore ... Concludo igitur, Imperium nostrum recte etiamnum dici Romanum, vel si mavis Romano-Germanicum. Romanum ratione originis; Gerrnanicum ratione subjecte recipientis: quia a Romanis in Germanos fuit translaturn." (Ich habe die Ausgabe Wittenberg 1658 benutzt, dort 105). Th. Reinkingk, De regimine seculari et ecclesiastico ... , 3. Aufl. Marburg 1641,25: "Imperium Romano-Germanicum esse quartam iIIam monarchiam, cui perennem et cum aevo duraturam felicitatem divina ominantur oracula." - J. Lampadius, Tractatus de Constitutione imperii Romano-Germanici. Leiden 1634, insbes. 85 ff. Ch. Krembergk. Diss. de Juridico-Politica de Praesenti Romano-Gerrnanici Imperii Statu Monarchico, Wittenberg 1622. Bei F. Zoanetti, De Romano Imperio an eius jurisdictione ...• Ingolstadt 1559 - einem frühen katholischen Publicisten - heißt es: "Hodie autem Romanum dumtaxat non Germanicum sit imperium; idque in uni verso orbe ita continetur, ubi anima in corpore." - Bei W. Becker, Synopsis Juris Pub\. Imper. Rom. Germanici, Köln 1654 - ebenfalls einem frühen katholischen Compendium - heißt es: •.Attamen in eo non parva est Imperii nostri praerogativa, quod sit omnium fere judicio. quarta iIIa Monarchia de qua Danielis loquitur, cui perennem et cum aevo duraturam foelicitatem divina ominantur oracula ...... 20 Zum - protestantischen - Aristotelismus des 17. Jahrhunderts vg\. u. a. H. Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und absolutistischer Staat. Wiesbaden 1970. Dort die weitere Literatur. 21 G. Brautlacht, Epitome Juris Prudentiae ... eiusdem Methodum. Gotha 1661. Lib. I. Cap. 1,7. 22 Lampadius. Tractatus. 87. IO Hammerstein
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Abschluß?3 In guter und auch weitgespannter Kenntnis der Literatur sowie der Traditionen juristischer Lehnneinungen stellte er die verschiedenen Argumente einander gegenüber, um schließlich seine Meinung - die weitgehend übrigens der damals im Reich vorwaltenden entsprach - als verbindliche Interpretation anzubieten. Er war darin sehr erfolgreich, wie die wiederholten Auflagen sowie der Ehrenname ,.patriarch und Erzvater, ingleichen oraculum in jure publico,,24 zeigen. Ich kann und brauche hier nun nicht diese polyhistorisch gelehrte Darstellung weitläufig zu wiederholen. Für unsere Zwecke genügt es, die entscheidenden Schlußfolgerungen aufzuzeigen. So stellt Limnaeus zunächst einmal fest: "Roma etiam duplex est, una, quae immobilis, antiqua: ... (ita eam appello, ubi primum hoc nomen coepit) altera mobilis, recentior, ibi consistens, ubi Imperator est; ... vel quae alio respectu ad dignitatem immobilis primae accedit.,,25 Insoweit lasse sich gar schließen, daß das Imperium Romanum gut ohne die Stadt Rom existieren könne. Römischer Kaiser sei freilich der, der Rom mitschütze und insoweit die Aufgabe der ursprünglichen Amtsinhaber geerbt habe. Wie groß und wo hingegen sein Herrschaftsbereich sei, dem komme allenfalls sekundäre Bedeutung bei. Auf jeden Fall sei das Reich der rechtmäßige Nachfolger des Römischen Reichs. ,,Imperium Romanum postquam in Germanos translaturn nec nomen nec essentiam mutavit, aceidentia alia utut Maxime exuerit." Diese Translatio sei unter Karl dem Großen erfolgt, der sowohl aus Gründen des Glaubens als auch, um den Papst zu schützen, die Langobarden vertrieben und dann unter "applausu populi Romani belli et transactionis jure Imperium obtinuisse(t)". Es sei das also ein spezifischer, eigenständiger Rechtsakt - und durchaus auch rechtmäßiger Akt gewesen, die Päpste könnten keinerlei eigene Ansprüche stellen. Es stehe ferner fest, daß Karl der Große Deutscher sei. Die Meinung, das Kaisertum sei über Karl zunächst nach Frankreich und später von da über Berengar an das Reich gekommen, sei nicht zutreffend. Ferner bedürfe es - da die Stadt-Römer eigentlich zuständig - nicht explieite der Zustimmung Ostroms, wenngleich auch die erfolgt sei. ,,Licet vero haec Caroli electio personalis primum fuerit, attamen parentis fortuna eam successoribus reddidit perpetuam atque realem. Hoc est quod alii dicunt, Imperium Romanum et active et passive in Germanos translaturn. Seilicet ex Imperio Romano et Germanorum Regno una constituta est species ... unde qui Rex Germanorum esset simul etiam Imperator diceretur.... Germanis tarnen Imperatorem eligendi jus atque licentia esset. ,,26 Mit dieser Lehnneinung hat Limnaeus die für die frühe Publieistik bis hin in die Mitte des Jahrhunderts maßgeblichen Argumente und Auffassungen zusammengetragen und für einige Zeit gleichsam kanonisiert. Vielfach gar hoch ins 17. Jahr23 J. Limnaeus, Tomus ... Juris Publici Imperio Romano-Germanici; die hier benutzte Ausgabe: Straßburg 1699. 24 So PUtter in seiner Litteratur Bd. I, 198 ff. 25 Lib. 1,4. 26 Ebd., S.
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hundert und gelegentlich selbst bis ins 18. hielt diese Interpretation mehr oder weniger stand. Die Translationstheorie bildete zwar noch den Hintergrund, verblaßte aber zunehmend zugunsten der Erörterung der juristischen Folgen und Ansprüche, die daraus resultierten. Das Problem verschob sich auf diese Art, es rückte von den theologischen Implikationen ab und stellte politische in den Vordergrund. Am entschiedensten ging Hermann Conring diesen Weg. 27 Bezeichnenderweise nahmen seine Überlegungen ihren Ausgang von theologischen Fragestellungen, um dann freilich rasch zur historisch-politischen Seite vorzudringen. Der Helmstedter Theologe Calixt - eine Ausnahmeerscheinung im Luthertum des 17. Jahrhunderts, wie diese Universität insgesamt, nahe verwandt neustoischen Ansichten der Niederländischen Lipsius-Schule - gab den Anstoß für Conring. 28 In der Notwendigkeit, den Ausgriff des gegenreformatorischen Papsttums zurückzudrängen, dem Reich, dem protestantischen vorab, ein Eigengewicht zuzuerkennen, suchte er mit Mitteln des historischen Beweisverfahrens - einer Helmstedter Spezialität damals! - die Entstehung dieser ,,Lotharischen Legende", wie er das nannte, aufzuzeigen. 29 Er erkannte, daß die neuere Translationstheorie auf Melanchthon zurückging, daß niemals eine bewußte Übertragung der sogenannten "vierten Monarchie" versucht worden war und daß die Vorstellung selbst bei rationaler Überprüfung unhaltbar werden mußte. Weder die Römer noch gar erst der Papst hätten daher irgend einen Anspruch in oder auf das Reich. Dieses wiederum habe aufgrund von Kriegen und Eroberungen Gebiete Italiens erlangt, aber dabei immer seinen eigenen Charakter behalten. Es sei eben ein eigenes Staatswesen, das nichts mit Rom zu tun habe, in dem vor allem das Römische Recht keinerlei Geltung in Staatssachen habe. Zudem sei nicht der Kaiser Quelle des Rechts im Reich, sondern origo, status, "Herkommen" des Gemeinwesens bestimmten seine Rechtsordnung. 3o Und um die ging es Conring vorab. Er schrieb schließlich in den vierziger Jahren des 17. Jahrhunderts, er erlebte den Dreißigjährigen Krieg unmittelbar. Vernünftige, friedliche und zu legitimierende Ordnungen des Gemeinwesens, auf keinen Fall kaiserliche Diktate, das erstrebte er wie damals viele seiner Zeitgenossen. Der Beititel des "Römischen" beim Reich resultiert nach Conring nun aus der Verquickung von theologischer Anmaßung, mittelalterlichem Glauben, falscher Überlieferung und einem mächtigen Beharrungsvermögen. Freilich sei das darum noch nicht schädlich oder schlecht. Es müsse vielmehr eingesehen werden, daß die Zu Conringjetzt M. Stolleis, Hrsg., Herrnann Conring, Berlin 1983. Zu diesen Zusammenhängen vgl. die Beiträge von J. Wallmann und I. Mager in Stolleis, Hrsg., Conring. - Zum Neustoizismus grundlegend die Abhandlungen G. Oestreichs, jetzt in: ders., Geist und Gestalt des fiiihmodemen Staates, Berlin 1969. 29 Hierzu die Beiträge von M. Stolleis, N. Hammerstein, D. Willoweit und H. Becker in Stolleis, Hrsg., Conring. 30 Die hier entscheidenden Werke Conrings am bequemsten in der siebenbändigen Ausgabe von J. W. Goebel, Hrsg., Hermann Conring, Opera, Braunschweig 1730 (ND 1970); u. a. De finibus Imperii Gerrnanici; Oe Imperatore Romano-Gerrnanico, im Bd. 1. 27 28
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Früheren zu gar keinen anderen Schlüssen hätten kommen können, und darum könne getrost daran festgehalten werden. Conring hatte damit den Sachverhalt recht stringent und zutreffend herauspräpariert und hatte insbesondere auch die Argumente Baronius', Bodins und aller ,.kurialer" sowie absolutistischer Scribenten abgewiesen. 31 Gewiß wurde seine Erkenntnis nicht sogleich Gemeingut der Publicistik, oder anders gesagt: seine Ableitungen, seine Methode und seine Schlußfolgerungen wurden nicht unmittelbar übernommen. Gleichwohl waren sie nicht so singulär, wie gelegentlich vermutet. Zumindest der methodische Zugang war recht verbreitet als Folge gegenreformatorischer Geschichtsschreibung und des Lipsianismus, auch als wichtige Voraussetzung des erstarkenden Jus publicum. Kaum ein Autor unterließ es denn auch, sich vor allem mit Baronius, Thuanus und Bodin auseinanderzusetzen. Nach wie vor galt es, den päpstlichen Anspruch auf das Kaisertum, das Reich, wie auch die mögliche Aberkennung der Rechtmäßigkeit dieses Titels zurückzuweisen oder auch schlicht nur Meinungen wie die - in diesem Fall des Jesuiten Salmeron - als unzutreffend auszuweisen, wonach das sogenannte Römische Reich nur ein entfernter Abglanz des alten sei, "et per multos annos defecerunt Imperatores Romani,,32. Hierzu meinte Benedict Carpzov, der noch viele weitere Autoren zitierte, im Kapitel: ,,Nihilominus Imperium Germanorum etiamnum hodie est Imperium Romanum": ,,Nihilominus Imperatores nostri eadem habent insignia quae veterum Imperatorum Romanorum fuerunt ... Quin ei ipsi Imperatores in mandatis et literis suis sese Romanorum Imperatores appellitant. .. ,,33 Wenn auch die Danielische Vision damit nichts zu tun habe, gelte doch Aventins Schluß, "Curiam ibi esse ubi Princeps est et ubicunque Romanus Imperator ibi Romam, ubi Helena ibi Trojam.,,34 Zur gleichen Zeit, als Conring seine weiterführenden Werke schrieb, meinte der Gießener / Marburger Publicist Sinold, gen. Schütz: "Objectum juris nostri publici est Imperium Romanum quod est una de quatuor a propheta praedictis Monar31 ,.Exiguam tantum Italiae portionem imperii Romani nomine usque ad Ottonem magnum venisse, et tametsi illud imperium juris Franeici sit factum aetate Caroli magni. tarnen neque tune. nec omni post tempore, vel omne Francorum regnum, vel ejus aliquam portionem et nominatim neque Germaniam, neque Italiam i1lius Romani imperii partes habitas esse, perspieuum jam fecimus: consequens est, uti nunc inquiramus. an mutata haec sinto postquam imperatorium nomen in Ottonem atque successores est derivatum. Quod ipsum accuratius fiet. ubi exposuerimus prius, quid Ottoni et successoribus cum imperatorio illo titulo sit collaturn. Conferantur. quae disserit Boeclerus in Ottone I. Et quidem Ottonem consequutum tandem esse caesareum nomen, non minus est certum. atque idem illud obtigisse Carolo magno." De Germanorum Imperio Romano, 1643, in: Goebel, Hrsg .• Conring. Bd. 1,27 ff., hier
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32 So zit. bei B. Carpzov, Commentarius in legern regiam Germanorum sive eapitulationem imperatoriam ...• Leipzig 1640,72 f. 33 Ebd .• 73. Er stellte auch fest: "Imperium itaque hoc praesens aut adhuc Romanum aut phrophetia Danielis falsa erit." 34 Ebd.75.
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chiis ... 35 Es habe also eine rechts wirksame Translatio stattgefunden, das Reich sei insoweit keine Neuschöpfung, es benutze die gleichen Insignien wie das alte Rom und nenne sich schließlich nicht von ungefähr römisch, gleich wie der Kaiser selbst. Ein damals weit verbreitetes und noch lange viel gelesenes publicistisches Werk von Rudolf Heiden 36 - wie Monzamhano oder Hippolithus a Lapide gedachte es auch, politische Ratschläge für eine bessere Konstitution des Reichs zu geben - argumentierte im Blick auf unser Problem wiederum in ein wenig anderer Weise: "Das H. Römische Reich Teutscher Nation, welches in Ansehung seines Ursprungs und noch vorhandener, wie wohl weniger Reliquien, zu mahlen aber weil es die vi erde Monarchie ist, nicht ungereimt auch noch heutiges Tages Römisch genennet wird, hat gleich andern in der Welt befindlichen Regimentern von Zeiten zu Zeiten seine Abwechsel- und Veränderungen empfunden, die gar wol mit dem Fürgang des menschlichen Alters man vergleichen kan ... Das Römische Reich wird es genennet, weil die Meynung von der vierden Römischen Monarchie, welche vennög erst angeregter Prophezeyhung biß an das Ende der Welt waehren soll, allenthalben vor bekands ist angenommen worden. Wiewol die eigentliche Ursache anzuführen (ob nämlich per translationem Imperii ad Gennanos, oder auff andere Weise dieser Titul zu behaupten) etwas schwer faellet. Die gemeine Meynung ist, daß Carolus Magnus den Namen und Titul des Römischen Reichs auff die Teutschen gebracht habe, und ist bekandt was derentwegen Bellarminus und Flacius Illyricus für Schrifften gewechselt, darüber auch Franciscus Junius seine Notas, und Amisaeus ein sonderbahres Büchlein hierüber gegeben ... : weil aber allen Einwürffen dadurch nicht begegnet worden, so hat es Conringius in einem sonderbaren Tractat de Gennanorum Imperio Romano erkläret, daß Carolus Magnus durch den zu Rom angenommen Kays. Titul nichts anders bekommen habe, als die Beherrschung über die Stadt Rom und das Patrimonium S. Petri, welches unter dem Ottone Magno dem Teutschlande bestätiget und ferner zugeeignet worden. Item, daß Rom über Teutschland niemalen einige Regierung gehabt, sondern der Titul des Röm. Reichs, wegen des alten Vorzugs der Stadt Rom durch eingeführte Gewohnheit auff denen Teutschen verblieben seye, etwan nach Verfliessung 1000 Jahren nach Christi Geburt ... Wir handeln aber hier eigentlich von der Benennung des Römischen Reichs, worzu gleichwohl hernach gesetzet worden das Römische Reich Teutscher Nation, wie denn, dazu vor die Kayser mehrentheils nur den Titel Imperatores Romani geführet; Maximilianus Primus hat sich in sonderheit auch Regem Gennaniae oder Gennanorum geschrieben, welches noch auff den heutigen Tag zu geschehen 35 l. Sinold gen. Schütz, Collegium publicum de statu rei Romanae, Bd. 1, Marburg 1640, Bd. 2, Gießen 1653; hier Bd. 1,26. 36 Es erschien unter dem Titel "Grundfeste des Heiligen Römischen Reichs Teutscher Nation aus dem 8. Artikel des Osnabrückischen Friedensschlusses vorgestellt und in Druck gegeben durch Eitel Friedrich von Herden", zuerst Frankfurt a. Main 1663 (hier in der Ausgabe von 1706 benutzt). Zu Heiden vgl. u. a. Pütter, Litteratur, Bd. 1,231 f.; löcher, GelehrtenLexikon.
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pflegt. Hat also das Teutsche Reich den unvergleichlich berühmten Titel eines Röm. Kaysers und Röm. Reichs bißhero nicht ohne sondere Schickung Gottes behauptet. Dann obschon zum theil das Wort Heilig, zum theil der Titul Römisch von etlichen hat wollen verunglimpffet werden, ist doch die Übereinstimmung aller Christlichen Potentaten Unsern Kaysern und dem Reich in solcher Titulatur gern diese Hoheit geständig gewesen, wie auch das Wort Reich billich behalten und verteidiget worden, weil vor Alters die Römer lieber das Wort Imperium als Regnum oder ein anderes vor ihren Staat gebraucht, ausgenommen, daß die unlateinische Feudisten das Wort Regnum offt pro Imperio gebrauchen; bleibt also dem Wort Reich auch seine Vortrefflichkeit, nicht zwar von der gantz neuerfundenen nicht wohl ergründeten Deutung, wieviel Regna ad Imperium, wieviel Ducatus ad Regnum und so fort erfordert werden, sondern wegen der vorbesagten Gewohnheit der Römischen Schreib- und Redens-Art." Wieder näher bei Conring, dem er in vielen Stücken folgt, den er weitgehend rezipiert, steht der Straßburger Publizist und Anhänger des Lipsius Johann Heinrich Boecler. Das Reich heißt ihm zu Recht römisch, wenngleich eine Translation nicht stattgefunden habe. Denn die historische Entwicklung habe schlicht aufgrund eines verstehbaren Irrtums diese Vorstellung gefördert. Sie hat von da ihre Tradition, ihr Gewicht, aber auch ihre Berechtigung, wie Boecler meint. 37 Diese Auffassung gewann zunehmend an Gewicht, löste die ältere ab und führte ihrerseits zu weiteren, neuen Interpretationen. Insbesondere in den letzten drei Dezennien des 17. Jahrhunderts, als die Publicistik vermehrt Bedeutung an den protestantischen Universitäten gewann, kam es zu neuen modifizierten Erklärungen, auf denen dann die berühmte Hallische Schule aufbauen konnte. Rhetz, Cocceji, Schilter, Rechenberg, Pfeffinger sind da gewichtige Namen, ohne daß damit alle bereits genannt wären. 38 Ihre Argumentationsweise erscheint freilich weniger historisch ausgerichtet, als es bisher der Fall war. Die vorhandenen Vorarbeiten erlaubten offensichtlich ein stärker formal-juristisches Vorgehen. Verweise auf Limnaeus, Conring, Boecler und andere ergänzten die juristischen Argumente dann um die jeweils auch notwendigen historischen Belege. Pfeffinger, der vergleichsweise unoriginell die wichtigsten publicistischen Materien anhand des Handbuchs Vitriarius' zusammenstellte, blieb insofern recht traditionalistisch. Sein Compendium ist entsprechend umfangreich und ungefüg. Er suchte möglichst alle Belege für einen Tatbestand - so auch unseren - zusammen und ließ auf diese Weise kaum eine Meinung aus. Das war, um das in Parenthese anzufügen, mit einer der Gründe, daß er so lange und gern benutzt wurde. Er stellte ein Compendium früherer Lehrmeinungen dar. Aber zurück zu unserer Frage: Pfef37 l. H. Boecler, Oe Sacro Romano Imperio, 1663, bzw. Notitia S.R. Imperii, 1692, spez. Cap. V, Oe Nominibus S. R. Imperii, 19 f. Ihm galt ferner: ,,Ab Ottone Magno sive prima novum et maxime illustre est, quod ad Germanos pertinet Romani Imperii gloria, ... " 38 Zu ihnen vgl. außer Pütter, Litteratur, löcher, Gelehrten-Lexikon; Stintzing/Landsberg, Geschichte.
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finger entschied sich beim ,,Römischen Reich" dafür, der Titel werde schlicht aufgrund von Eroberungen geführt und somit auch zu Recht beibehalten. 39 Schilter hinwiederum sah in Karls d. Gr. Reichsgründung - aus ursprünglich drei, freilich auch nachmals in wichtigen Punkten getrennten regTUl hervorgegangen - das entscheidende Ereignis. Er blieb insoweit der älteren Auffassung am nächsten verhaftet. Das Römische im Titel führte er jedoch eher auf eine allgemeine universalistische Idee (Titulus universalis) denn auf reale Gegebenheiten zurück. 4o Cocceji, der Lehrmeister Johann Peter von Ludewigs in wichtigen Fragen, löste unser Problem hinwiederum folgendermaßen: "Universitas Germanici Imperii duo continet: 1.) Ipsum Germaniae regnum propria regni forma constans. 2.) Jus et Imperium huic regno per Galliam, Italiam et Imperium occidentis &c. quaesitum." Ob das freilich noch ernsthaft zu verwirklichen gesucht werde, sei fraglich, nicht aber die Berechtigung, dank Karl und Otto dem Großen, die Bezeichnung Imperium Romano-Germanicum zu tragen.41 Zuvor hatte Rhetz in seinem gleichfalls viel benutzten Compendium diesem Namen einen besonderen, einen auszeichnenden Wert beigelegt: ,,Nomen Regis Romanorum non solum dignitas est sed officii et administrationis." Die Potestas seines Trägers sei daher "legitima et temperata", nicht etwa usurpatorisch. 42 Daß dieser Träger zu Recht nunmehr der deutsche Kaiser sei, stand ihm fest. Das gehe auf Otto I. zurück. Der Schwiegersohn Jacob Thomasius' - und somit Schwager Christian Thomasius' -, Adam Rechenberg, faßte die Auffassung dieser Nach-Conringischen, aber Vor-Hallischen Publicisten prägnant zusammen. 43 Obwohl eigentlich kein Jurister bekleidete nach längerer Wirkungszeit in der Artistischen Fakultät Leipzigs ein theologisches Ordinariat ebenda -, hatte er sich im Rahmen der Philosophia practica gelegentlich auch mit reichspublicistischen Fragen befaßt. Titel und Charakter 39 J. F. Pfeffinger, Vitriarius Illustratus seu Institutiones Juris Publici Rom.-Germanici, Bd. I, Gotha 1698,56 ff. 40 J. Schilter, Institutiones Juris Publici Rom.-Germanici, Straßburg 1697; vgl. insbes. Lib. I, Cap. IV, 10 ff. 41 H. Cocceji, Juris Publici Prudentia, Frankfurt/Oder 1695, Cap. VII, 4. Vgl. auch Cap. VI, bes. § 15 ff. 42 J. F. Rhetz, Institutiones Juris Publici Germanici Romani, Frankfurt/Oder 1683, Lib. I, Tit. III, § 6. Zuvor hieß es: ,,Rex Romanorum vocatur intuitu primatus urbis et imperii Romani et vi conventionis inter Romanum populum et Pontificem et Ottonem M. intuitu Regni Germaniae ut qui Rex Germaniae a Germanis eligitur hodie ab electoribus, ille statim sit Rex Romanorum et gaudeat Juribus Caesaris et Imperatoris. Non itaque Rex Romanorum idem erit Rex Italiae, nam Regnum Italiae nec antea nec hodie jure electionis pertinet ad Germanos ..... 43 Hinweise und Literatur in: Hammerstein, Jus. - Ähnlich urteilte übrigens auch U. Obrecht, De Unitate reipublicae in S. Romano Imperio, Diss. XIV, von 1676, in: Opuscula rariora academica in unum volumen collecta... , Straßburg 1729, 283 ff.
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des Reichs beschreibt er knapp einmal folgendermaßen: "Sacrum dicitur ratione speciali, veI quia in Romano olim imperio fides Christiana recepta fuit; veI quia Imperator caput orbis Christiani et defensor Ecclesiae ac fidei catholicae audit. Deinde Romanum quia post Carolum M. imperator Otto M. sibi et subcessoribus suis in regno Germanico jus et imperium in urbem Romam quaesivit perpetuum. Tandem Germanicum appellatur, quod penes Germanos inde a Caroli M. aetate fuerit ... vel quod Imperii huius Territorium principale sit Germania.,,44 Als "Gewährsmänner" verwies er dabei auf Conring, Limnaeus, Cocceji, Boecler, eben die mittlerweile allgemein akzeptierten Autoritäten.4s Mit dem eigentlichen Aufstieg des Jus publicum Romano-Germanicum als gewichtiger und moderner juristischer Disziplin, der sich in Halle vollzog und später in Göttingen seine beispielhafte Ausformung erfuhr, wurde diese mittlere Generation der Reichspublicistik zwar nicht bedeutungslos oder anachronistisch, aber doch weniger bestimmend. Das lag hauptsächlich daran, daß sich die Fragestellung dieser neueren Publicistik änderte, sie andere Probleme als wichtig ansah. 46 Im Grunde war das der Ausdruck der inzwischen veränderten politisch-historischen Situation. Die gegenreformatorische Verquickung von Theologie und Politik war gelöst worden, der Aufstieg der juristischen Fakultät zur ersten innerhalb der reformierten Universitäten war rein äußerlich Indiz dieses Wandels. Die Mundanisierung auch der Wissenschaften ließ die polemische, anti päpstliche, antirömische, auch die antikaiserliche Einstellung der Älteren uninteressant, überholt, ja nahezu gegenstandslos erscheinen. Im Vordergrund der Überlegungen standen nunmehr die rechtliche, innerweltliche Ordnung des Reichs insgesamt, die der Territorien, der Stände usf., die Abwehr ferner der französischen Hegemonie-Ansprüche, des französischen Absolutismus, die Absicherung und Untermauerung schließlich des damals mächtig sich entfaltenden Reichspatriotismus. Naturgemäß trat insofern die Frage nach den Implikationen des Reichstitels zurück. Wie es die mittlere Publicisten-Generation bereits erwiesen hatte, galt auch den Jüngeren, daß die Bezeichnung des Reichs als eines auch römischen angemes44 A. Rechenberg, Lineamenta Philosophiae civilis cum Diss. de S. R. Imperii Regimento, 2. Aufl. Leipzig 1696, Lib. III, Cap. 11, § 2, 199. 45 G. Schweder, Introductio in Jus Publicum Imperii R. G. novissimum, Tübingen 1681 (hier benutzt in der Ausgabe von 1701) urteilte: ,,Ex instituta autem illa divisione Imperii, separatimque constitutis Germania, ex propriis suis ordinibus, Comitiis, clare iterum pateseit Regni Germaniei (quod tarnen turn adhuc Orientale Francorum Regnum dictum) aRomano Imperio distinctio, quae etiam usque ad Ottonem I. mansit, nec usque eO Germania vel volgo Imperii Romani pars est habita. Seculo vero X. Ottonis I. auspiciis quidem Caesarea dignitas, (qua Caroli posteri per injuriam exciderant.), et Italici regni possessio aeterno et nul10 unquam divortio solvendo vinculo cum Germania rursus juncta est ita, ut Germanis electus in Germaniae Regem, ab Italis sive Longobardis quoque pro Rege et Pontifice, Urbe ac suburbicariis Provinciis pro Imperatore protinus coli deberet, nulla licet auctoritate Pontificis accedente." 46 Hierzu ausführlich Hammerstein, Jus, passim.
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sen sei, nichts Usurpatorisches habe. Wichtiger jedoch als diese Feststellung bzw. die Verteidigung dieses Anspruchs schien es, die Stellung des Kaisers und damit die des Reichs besser abzusichern und strahlender herauszustellen. Der Aufstieg nämlich des Kaiserhauses in der Abwehr der Türken und alsbald der französischen Ostpolitik, die wachsende Bedeutung der kaiserlichen Gerichtsbarkeit - vor allem die des Reichshofrats - erweckten damals einen starken Reichspatriotismus, der in harmonischer Ergänzung mit dem jeweiligen Territorialpatriotismus gesehen, erklärt und begründet wurde. 47 Deutsche Freiheit sowie Achtung vor Recht und Herkommen galten als die Charakteristika dieses vorzüglichen Gemeinwesens. Die "harmonische" Reichsidee von Leibniz, die im entspannten Zusammen von Kaiser und Reichsständen die Überwindung der Schwächen erwarten zu können gemeint hatte, siegte in dieser jüngeren Publicistik über die Ideen Hippolithus' a Lapide und auch Pufendorfs. Diese Grundüberzeugung von den Vorzügen und der Auserwähltheit des Reichs sollte der Publicistik mit wenigen Ausnahmen übrigens bis zum Ende des Reichs innewohnen, unbeschadet der nicht gerade einvernehmlichen Entwicklung des Reichskörpers selbst im Zeichen des aufbrechenden Dualismus zwischen Preußen und Österreich während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Mehr oder weniger alle damaligen Reichspublicisten hielten auch daran fest, daß allein das Zusammenleben im Ganzen des Reichs Frieden, Recht und Freiheit garantiere, daß von daher Kraft und Stärke erwachse und sich ein heilsamer Einfluß auf Europa insgesamt ausbreiten könne. Von Schmauss bis Pütter und Hugo, von Ickstatt über Schrötter bis zum Freiherrn von Martini 48 , von Friedrich Carl von Moser49 bis Justus Mösero - in dieser Grundüberzeugung unterschieden sie sich kaum, und auch ausländische Beobachter wie Voltaire oder Rousseau bestätigten das auf ihre Art. 51 Bezeichnenderweise änderte sich das erst im Gefolge der Terreur und der Koalitionskriege, als nämlich ein neuer politischer Gedanke auch in die deutschen staatsrechtlichen Überlegungen eindrang. Hegel und Fichte können hier genannt werden, und folgerichtig überlebte die Reichspublicistik diese Zeit nicht mehr, zumindest nicht mehr als juristische Disziplin. Als Methode, als methodologischer Ansatz für andere Wissenschaften und Materien wirkte sie freilich weit über diese Zeit hinaus. 52 Aber zurück zu unserer engeren Fragestellung, zu Halle. 47 Zu diesen Fragen jetzt auch F. Matsche, Die Kunst im Dienste der Staatsidee Kaiser Karls VI., 2 Bde., Berlin 1981, sowie die ältere Darstellung von O. Redlich, Das Werden einer Großmacht, Brunn 1942. 48 Hierzu Hammerstein, Jus, sowie ders., Aufklärung und katholisches Reich, Berlin 1977, passim. 49 N. Hammerstein, Das politische Denken Friedrich Carl von Mosers, in: HZ 212, 1971, 316 ff. An der Sache vorbei argumentiert U. R. Becher, Politische Gesellschaft. Studien zur Genese bürgerlicher Öffentlichkeit in Deutschland, Göttingen 1978. 50 C. Antoni, Der Kampf wider die Vernunft, Stuttgart 1951, 103 ff. 51 Vgl. hierzu auch J. G. Gagliardo, Reich and Nation. The Holy Roman Empire as Idea and Reality 1763 - 1806, Bloomington / London 1980.
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Hier wurde - in der fruchtbaren Auseinandersetzung zwischen Gundling und Ludewig - die Publicistik auf die bereits kurz umschriebenen Grundvoraussetzungen festgelegt. 53 In der Frage nach dem Bestandteil "römisch" im Titel wurde eine abschließende Erklärung erst gar nicht gesucht. Die Diskussion - im Grunde jetzt als rein historische gewertet, wobei freilich die Historie integraler Teil des Jus publicum zu sein hatte - wandte sich vielmehr den Folgen und dem Bedeutungsgehalt der Benennung zu. Für Gundling, der weitgehend stilbildend werden sollte, gründete das zeitgenössische Reich in Form und Essenz im Kaisertum Ottos des Großen. Damals sei auch die Übernahme des Römischen als Idee bzw. Name erfolgt, obgleich ja das ,,Römische alte Kayserthum, ... diu erat extinctum". Die zeitweilige Herrschaft über den ,,Exarchat, den Ducaturn Romanum et quinque urbes" habe diese mißverständliche Übernahme andererseits gerechtfertigt, und da dieser Titel mit Unterbrechung seit dieser Zeit beim Reich sei, müsse er auch hinfort hierbleiben. "Der eintzige Titul, Römischer Kaiser machet, daß wir den Rang vor allen übrigen Königen praetendiren ... Das eintzige Kayserthum von Rom giebt uns die Praerogatio: drum besorgte eben Maximilianus I, Carolus VIII König in Frankreich möchte das Römische Kayserthum wegschnappen und sich dadurch über ihn setzen, daher kam auch in selbiger Zeit in Oppositionern, in odium et contradictionem Gallorum bey uns der Titul auf: das heilig Römische Reich Teutscher Nation. Daher sind diejenigen absurd, so meynen ... es wären verba inania... Wegen unseres Teutschen Wesens hatten wir keinen Rang zu prätendiren, da ist Frankreich so gut als wir und vielleicht noch mächtiger und stärcker."s4 Das ,,römisch" bezeichnet also vorab die Würde, das Ansehen des Reichs vor allen anderen Staaten, unerachtet des jeweiligen machtpolitischen Zustands. Wie auch das "heilig" steht es für die Idee von Gerechtigkeit, Friede, Rechtswahrung, Sicherheit und Freiheit in einer Art status quo. Denn Wandel, Politik, Machterweiterung: das sind Vokabeln oder besser Vorstellungen, die diesen Publicisten fremd blieben, weswegen sie späterhin auch mit dem brandenburgisch-preußischen Vorgehen im allgemeinen große Schwierigkeiten haben sollten. Diese und verwandte Erklärungen kennzeichnen hinfort die zumeist kurzen Bemerkungen zum Namen des Reichs. Gewiß war damit nicht die ältere Diskussion über die angemessene historische Ableitung ein für allemal beendet. Sie verlagerte sich nur dorthin, wohin sie nach Meinung der Publicisten gehörte als sogenannte Reichs-Historie ss , in speziellere historische Abhandlungen. Die hatten zwar die 52 Vgl. N. Hammerstein, Der Anteil des 18. Jahrhunderts an der Ausbildung der historischen Schulen des 19. Jahrhunderts, in: K. Hammer/J. Voss, Hrsg., Historische Forschung im 18. Jahrhundert (Pariser Historische Studien, 13), Bonn 1976,432 fI. 53 Generell wiederum Hammerstein, Jus, passim. 54 N. H. Gundling, Diseurs über dessen ... Reichs-Historie, Frankfurt a. Main/Leipzig 1732, 346, 398. Sehr verwandt urteilt hier auch der Thomasius-Schüler J. G. Titius in seinem Specimen Juris Publici R. G .... , Leipzig 1698. 55 N. Hammerstein, Reichs-Historie, in: G. G. Iggers u. a., Hrsg., Aufldärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, Göttingen 1986, 82 ff.
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Publicisten - und alsbald ihre notwendigen Hilfswissenschaftier, die Reichs-Historiker - zu Autoren, aber sie liefen sozusagen neben den Darstellungen zum Jus publicum einher. Da gab es zunehmend grundsolide historische Abhandlungen im Umkreis von öffentlich-rechtlichen Ansprüchen. Einer oder der andere holte gar die ältere Translationstheorie wieder hervor - am erstaunlichsten bei Johann Jacob Schmausss6 -, so daß sie auch im 18. Jahrhundert immer wieder einmal bestätigt oder widerlegt wurde. Typisch sind dann Darstellungen, die einen Komprorniß unter all diesen Theorien suchen, ihre Gelehrsamkeit zur Schau stellen und in einer Art frühhistorischem Erklärungsansatz auch Unvereinbares zusammenrücken. So meinte z. B. 1715 der Lüneburgische Land-Syndicus in seinem "Teutscher Reichs-Staat oder ausführliche Beschreibung des H. Römischen Reichs Teutscher Nation" im 2. Teil: ,.Ein Römisch Teutscher Kayser wird deswegen Römischer Kayser genennet, weil der Teutsche König Otto I. d. Gr. zugenamt Italien mit Kriegs-Gewalt eingenommen, (daß daher solche translation des Römischen Reichs auf die Teutschen nicht von des Papstwillen und Mildigkeit, sondern aus dem von Ottone 1. erhaltenen Sieg und jure belli herrühret) Berengarium, ... gefangen nach Teutschland geschickt, und der Papst mit der Stadt Rom, deren Inwohner und größter Theil von Italien sich Ottoni als ihrem Ober-Herren unterworfen, auch mit ihm einen Vergleich aufgerichtet, daß nunmehro und führohin biß an das Ende der Welt alle Zeit derjenige, welcher der Teutschen König entweder durch erbliche Succession oder durch vorgenommene Wahl werden würde, eo ipso und Kraft der Teutschen Succession oder Wahl Römischer Kayser seyn und heissen und von dem Papst, Römern und übrigen Italiänern dafür respektieret werden solte ... Daß man also den Titul: Römischer Kayser und das davon in der Christenheit dependirende Recht nicht von Caroli M. Zeiten herholen darff... Diese Herrschaft über Rom und den Papst hatte hernach eine geraume Zeit continuieret, bis die Päpste nach der Hand der Kayserlichen Gewalt sich entbrochen, auch von verschiedenen Kaysern selbst vielen Städten und Provintzien in Italien die jetzige Freyheyt vor Geld verkaufft worden. Nachdem nun ... die Päpste und Römer, wie auch sonst das größte Theil von Italien sich der Kayserl. Gewalt und Oberherrschaft entzogen, so ist die Frage: ob der Römische Kayserl. Titul solcher Gestalt einem Teutschen Könige annoch zu56 "Nachdem zuerst der Major Domus, Carolus Martellus, hernach sein Sohn Pippinus, und dieses sein Sohn Carolus M. die Patriciat-Würde und dardurch die Jurisdiction in Rom und die Gewalt, den Papst und alle Bischöffe in Italien zu investieren, erhalten, so hat der Letztere endlich auch die Kayser-Würde, mit der in Sonderheit die Herrschaft über die Stadt Rom verknüpft war, erneuret, und sich und seiner Familie mit nachmahliger Einwilligung der Griechischen Kayser zugeeignet, zugleich aber auch dem Papst die Schenclrungen des Patrimonii Petri, des Exarchats und noch anderer Herrschafften in Italien bestätiget, die hernach von Ludovico Pio wiederholet worden"; J. J. Schmauß, Historisches Jus Publicum des Teutsehen Reichs, oder Auszug der vornehmsten Materien der Reichs-Historie, welche zur Erkenntnüß der Staats-Verfassung unsers Teutschen Reichs, von den ältesten Zeiten bis auf die heutige dienen. 2. Aufl. Göttingen 1754, 8 f. - Zu Schmauß vgl. Hammerstein, Jus, 343 ff.
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kommen könne? Woran denn niemand zweifelt als einige Frantzösische Klüglinge und welche dem Ertzhause Österreich solche allerhöchste dignität mißgönnen. worunter vornehmlich Blondellus befindlich. Wie wohl doch derselbe so gar absurd nicht ist. daß der dem Kayser als höchstem Oberhaupt nicht nur in Teutschland. sondern auch auf gewisse Art in gantz Europa ... das Kayserl. Prädikat abstricken wil. sondern nur das Wort Römisch stehet ihm nicht an. weil ja einem Teutschen Kayser zu Rom keine Macht. Autorität und Gewalt mehr übrig wäre. Dessen allen aber ungeachtet gebühret dem Teutschen Oberhaupt dieser Titel nicht allein darum noch heutiges Tages. weil noch viele ansehnliche Reichs-Lehen in Italien übrig sind. sondern auch das Teutsche Oberhaupt und die Teutsche Monarchie sich ihrer praetension auf Rom noch niemals begeben. auch den Kayser vor dem Papst und Römern selbst das Röm. Kayserliche Praedicat keineswegs verweigert wird. Und stehet das Argument und dessen Folgerung: ein Potentat besitzet dieses oder jenes Land nicht mehr. weil es ihm entweder mit List oder Gewalt und mit einem Wort injusto titulo entrissen ist und vorenthalten wird. Ergo darff er sich nicht mehr davon schreiben. auf sehr schwachen Füßen. weil solcher Gestalt der König von Franckreich sich selbst unmüglich König von Navarra schreiben könnte.,,57 Die Frage. ob das deutsche Reich als vierte Monarchie anzusehen sei. beantwortet Bilderbeck sodann dahingehend. daß seit Conring klar sei. daß hier ein Irrtum vorgelegen habe. Gleichwohl gehöre es. was Ansehen und Gewicht betreffe. zu den vornehmsten. Das Argument bleibt also ein wenig in der Schwebe. Solch unklare Aussagen zugunsten deutlicherer Absage an jegliche Translations-Beimischung zu verbessern. haben sich dann wieder andere Reichs-Publicisten bemüht. Bezeichnend ist z. B.. daß ein Mann wie Zschackwitz meinte. daß selbst bei Conring sich solche Unklarheiten befunden hätten und von da fortwirkten. In einer eigenen Abhandlung zu dieser Frage suchte er das Problem zu erhellen und endgültig die Translations-Theorie ad absurdum zu führen. 58 Aufgrund dieser Arbeiten schälte sich begreiflicherweise immer klarer der historische Tatbestand heraus. Recht weit kam ein Schüler des berühmten nachmaligen Göttinger ersten Reichs-Historikers Johann David Köhler. Franz Dominicus Häberlin. Er wies unmißverständlich nach. daß die Bezeichnung römisch im Zusammenhang mit dem Reich eigentlich ziemlich spät. erst im 13. Jahrhundert. aufgekommen war. Mit einem außerordentlich gelehrten Apparat und in akribischer historischer Manier führte er das umfänglich aus. 59 Entscheidend scheint. daß bis 57 C. L. Bilderbeck.Teutscher Reichs-Staat oder ausflihrliehe Beschreibung des H. Römischen Reichs Teutscher Nation nach dessen Ursprung. Alter und jetziger Beschaffenheit ...• Leipzig 1715.62 ff. 58 J. E. Zschackwitz. Einleitung zu denen vornehmsten Rechtsansprüchen derer gecrönten hohen Häupter... in Europa. Frankfurt a. Main/Leipzig 1733.8 f. 59 F. D. Häberlin. Diplomatische Untersuchung von dem Ursprunge des Titels: Rex Romanorum...• in: ders .• Kleine Schriften vermischten Inhalts aus der Geschichte und dem Teut-
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zum Nestor der deutschen Publicistik, bis zu Stephan Pütter, niemand den Anspruch aufgab, der Titel sei rechtens und müsse beibehalten werden, unbeschadet aller historischen, juristischen, politischen Einwendungen, Enthüllungen und Gegenargumente. Die Analyse, die Beweise wandelten sich zwar ein wenig, sie wurden formalistischer, z.T. auch distanzierter und "aufgeklärter", aber der Sache nach war die Bezeichnung niemals strittig. Zum Teil wurden schlicht auch recht äußerliche Gründe angegeben, die das zu erklären hatten. Ein typisches Beispiel gibt da ein wenig bekannter Publicist: "Imperium Romano-Germanicum est Collegium 11lustrissimum ex Imperatore tanquam summo capite et statibus Imperii immediatis conflatum. Dicitur Romanum, quia a Julio Caesare usque ad hodiernum gloriosissime regnantem Imperatorem continua series duci potest; sufficiat" - fügt er mit Blick auf das Reich hinzu - "a Carolo M. seriem recensere.,,60 Gewiß haben die bekannten Publicisten - Moser Vater und Sohn, Maskov, Schmauss, Gebauer, im katholischen Umkreis lekstatt, Schrötter, Pock - differenzierter geurteilt, die Sache aber ähnlich gesehen. 61 Eine der Erklärungen Pütters aus seiner Anleitung zum Teutschen Staatsrecht - mag diese letzte Stufe publicistischer Erörterung des Sachverhalts beleuchten: "Auf gleiche Art ist mit dem Teutsehen Reich das Römische Kaisertum dergestalt verbunden, daß jedem, der zum Könige Teutschlands erwählt wird, hierdurch zugleich auch die Würde eines Römischen Kaisers mit zukommt. Diese Eigenschaft unserer Kaiser hat bekanntlich ihren Ursprung von den ehemaligen Kaisern des alten Rom genommen ..." Karl der Große und Otto hätten indirekt und auch ohne Translation diese erneuert. ,,Jedoch haben schon längst aufgehört die Oberherrschaft des Kaisers über die Stadt Rom und deren Gebiet und sonst noch viele Rechte, weIche aus der Herrschaft der Welt und aus der damit verbundenen Schutzvogtey über die Römische Kirche vormals hergeleitet wurden ... als der zweiten höchsten sichtbaren Gewalt. Von dem allen ist bloß noch übrig der Titel und die Würde ... die Benamung des Heiligen Reichs und der Rang vor allen anderen gekrönten Häuptern und Reichen in Europa.,,62 Es schen Staatsrecht, Bd. I, Helmstedt 1774,53 ff. - Auch H. v. Bünau in seiner hochgeachteten Teutschen Kayser- und Reichs-Historie, Leipzig 1732, anderer Teil, 540 ff. erklärte das Phänomen auf verwandte Weise. 60 P. K. Monath, Introductio ad Cognitionem Status Publici Universalis ... maxime S. Romano-Gennanici Imperii, Nürnberg 1723,57. 61 Vgl. insbes. J. J. Mascov, Principia Juris Publici Imperii Romano-Gennanici, Leipzig 1738, Lib. III, Cap. IV, 3 ff., 142 ff.; sowie J. J. Moser, Teutsches Staats-Recht, Dritter Theil, Frankfurt a. Main I Leipzig 1740, 4 ff. 62 J. S. Pütter, Anleitung zum Teutschen Staatsrecht, aus dem Lateinischen übersetzt, Cap. 11, § 21, 34 ff. - In seiner Historische Entwicklung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs, Göttingen 1786, ist zu lesen: "So hatte freilich Otto die Ehre, auf ähnliche Art wie ehedem Karl d. Gr. gethan hatte, sowohl die Römische Kayserwürde als die Longobardische Krone auf sich und sein Haus zu bringen; ohne daß man doch noch zur Zeit sagen konnte, daß eine Real-Verbindung zwischen Italien und Teutschland damit auch beständig eingegangen wäre. Nur darin ging Otto noch einen Schritt weiter, als Carl d. Gr. gethan hatte, da er mit Weglassung seiner übrigen Titel zuletzt sich nur Römischer Kaiser schrieb."
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blieb also mehr oder weniger bei dem in Halle aufgestellten Begründungszusammenhang. Auch im katholischen Reich machte man sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, nach den dortigen, am protestantischen Beispiel ausgerichteten Reformen, diese Auffassung zu eigen. Begreiflicherweise war hier der Kaisergedanke traditionell enger mit dem Heiligen und Römischen verbunden geblieben, niemals so umstritten wie außerhalb der Gebiete katholischer Religion. 63 Nunmehr aber erhielt er eine neue, eine veränderte Gewichtung. Das Römische bekundete danach weniger die enge Bindung an die andere, die zweite universalistische Macht. Die blieb im Religiösen zwar bestehen, nicht aber im Blick auf die weltlichen Ansprüche des Kaisertums bzw. der geistlichen Staaten. Hier sollte nunmehr der Fürst ausschließlich das Sagen haben, und - das lehrten ja die Publicisten - das mußte und konnte er aufgrund der in dieser protestantischen Publicistik wie Naturrechtslehre entwickelten Erkenntnisse. Das Römische umschrieb auch im katholischen Bereich die rechtmäßige Advokatur des Kaisers für die Kirche, aber eben vor ihr, die in mundo keinerlei Befehlsgewalt habe. Die katholischen Juristen und Reichs-Historiker konnten sich im allgemeinen freilich mit einer anpassenden Übernahme der protestantischen Lehrmeinungen begnügen. Sie brauchten keine eigenen, auch keine umfangreichen Compendien zu entwickeln. Die waren schließlich bereits vorhanden. Sie brauchten nur übernommen zu werden. Dieser Vorgang führte übrigens - um dies in Parenthese anzumerken - nicht nur zu einer nach der Reformation neuen und erstmaligen Wiederannäherung der beiden Reichsteile im Geistigen, sondern auch zu einer gemeinsamen Sprache, zu einem in etwa analogen Verständnis von den Notwendigkeiten und Bedürfnissen staatlichen Handeins. Sie wurden - über die Konfessionen hinweg - vorab als innerweltliche Aufgaben angesehen. Nicht zuletzt auch der methodische Zugang zu den Wissenschaften änderte sich unter dem Einfluß dieser neuen Lehren so weit, daß nach dem Zusammenbruch des alten Reichs diese Gemeinsamkeiten ein gegenseitiges Verständnis während des frühen 19. Jahrhunderts ermöglichten. Sucht man abschließend in wenigen Sätzen zu charakterisieren, was den ReichsPublicisten das Römische des Reichs bedeutete und welche Wandlung diese Auffassung vom späten 16. zum frühen 19. Jahrhundert nahm, so läßt sich das etwa folgendermaßen beschreiben: Die frühen Verfechter eines Jus Publicum RorrwnoGermanicum gingen als selbstverständlich von der durch Melanchthon kanonisierten Translatio Imperii aus. Sie hatten dabei die Sache selbst zu belegen und mußten insbesondere französischen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit dieser Translation begegnen. Indem das Reich im Dreißigjährigen Krieg zunehmend unmittelbarer in die gegenreformatorischen Auseinandersetzungen und Kämpfe einbezogen wurde 63 Vgl. u. a. A. Coreth, Pietas Austriaca. Ursprung und Entwicklung barocker Frömmigkeit in Österreich, 2. Aufl. München 1982. Matsche, Kunst, passim.
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und das vergleichsweise friedliche und gesicherte Nebeneinander der Territorien und der Konfessionen, wie es nach dem Augsburger Religionsfrieden erreicht worden war, hinfällig wurde, änderten sich zwangsläufig auch die Argumente in unserer Frage. Es galt, den katholisch-gegenreformatorischen Anspruch, wie ihn etwa Bellarmin und Baronius formulierten, zurückzuweisen, ja überhaupt jede päpstlich-kuriale Auslegung der Translation zu verunmöglichen, und es galt ferner, den neuen, den Protestanten gefährlichen absolutistischen Anspruch des Kaisers abzuwehren, ihn nachhaltig zu bekämpfen. In der Widerlegung der Translatio Imperii leisteten die Publicisten das eine, in der Auseinandersetzung über die Forma Imperii - die hier nicht berücksichtigt wurde - drängten von theoretischer Seite Hippolythus a Lapide, Pufendorf, Leibniz und dann wiederum die Publicisten das kaiserliche Absolutismus-Streben zurück. Das Reich erschien römisch, weil es zu Recht als das universalistische Gebilde unter den europäischen Staatswesen angesehen wurde und weil kraft eigener Macht die römische Kaiserkrone erworben worden sei.
Zu Ende des 17. Jahrhunderts, im Fortgang der historischen Anstrengung zu einer sachgemäßen Fundierung des Jus publicum und im Nachlassen konfessioneller, polemischer Auseinandersetzungen, versachlichte sich dann die Argumentation. Das Römische erschien - wenn auch aufgrund seinerzeit mißverstandener realer historischer Gründe - als rechtmäßiger Bestandteil des Reichstitels. Das ehrwürdigste, im Ideellen erste, das am entschiedensten seiner uralt-anfänglichen Rechtsordnung folgende Gemeinwesen - das Heilige Römische Reich Deutscher Nation also - gebe sich, berechtigt durch diese seine Tradition, in eben diesem Namen zutreffend zu erkennen. Bei allen Modifikationen der jeweiligen Erklärungen blieb diese Auffassung Grundüberzeugung und Gemeingut der Reichs-Publicistik bis hin zum Ende des alten Reichs. Der Reichs-Titel erschien als Hoffnung, Auftrag, aber auch Beweis, daß dieses Reich die beste - weil gerechteste, freieste und ehrwürdigste - Ordnung habe, die, werde sie nur eingelöst, ebenso beispielhaft und segensreich für die Welt sein müsse wie seinerzeit die Roms für das römische Weltreich.
Die deutschen Universitäten im Zeitalter der AufkIärung* Um nicht in umständliche, weitschweifige Schwierigkeiten bei der Definition zu geraten, was das Zeitalter der Aufklärung im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation charakterisiere, wie es sich zeitlich und inhaltlich bestimme und wie das dann wiederum die damaligen deutschen Universitäten erreichte und beeinflußte, darf ich in meinem Referat folgenden Weg einschlagen: Es gilt zu Recht als gesichert, daß die Georgia Augusta zu Göttingen im 18. Jahrhundert eine herausragende Stellung innerhalb der Universitäten des Reichs alsbald gewann und innehatte. Daher kann sie uns im folgenden als Ausgangspunkt, als wichtiges Beispiel aufgeklärter Wissenschaftsauffassung und -praxis dienen, wird ihre "Wirkungsgeschichte" Indiz für die vorherrschenden Lehrmeinungen wie auch den realen Tatbestand selbst sein können. Es hat dieser Weg zudem den Vorzug, daß wir uns auf vergleichsweise gesichertem Boden bewegen können. Daß solcherart freilich auch hinreichend Bekanntes wiederum vorgeführt wird, braucht einen solchen Versuch modifizierter Analyse nicht wertlos zu machen. So hoffe ich es zum mindesten! ~essen
Es ist nun nicht die Geschichte der Georgia Augusta im Zeitalter der Aufklärung das Thema der folgenden Überlegungen, sondern die Frage, inwiefern die Göttinger Universität etwa weit hinreichende, für das gesamte Reich bedeutsame Auswirkungen gehabt hat oder hat haben können. Verständlicherweise ist diese Frage nicht zu beantworten, wenn zuvor nicht wenigstens in Umrissen aufgezeigt ist, was das Spezifische, das Auszeichnende dieser Anstalt im ersten Jahrhundert ihres Bestehens war. Versucht man hierauf zu antworten, wird man alsbald noch weiter zurückgeführt, in die Zeit nämlich des späten 17. Jahrhunderts oder - gröber umschrieben in die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg, in die Phase des damals notwendigen Erstveröffentlichung in: ZHF 10, Duncker & Humblot, Berlin 1983,73-89. * Grundlegende Literatur zur Geschichte deutscher Universitäten noch immer: F. Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters zur Gegenwart, 2 Bde., Leipzig 1919 (ND Berlin 1960), sowie eine Reihe von Monographien über einzelne Universitäten; in unserem Zusammenhang z. B. G. v. SeUe, Die Georg-August-Universität zu Göttingen, Göuingen 1937; W. Schrader, Geschichte der Friedrichs-Universität zu HaUe, 2 Bde., Berlin 1894. O. Scheel, Hrsg., Das akademische Deutschland, Bd. I, Berlin 1930, informiert einigermaßen zuverlässig. Wenig überzeugend und kaum über die älteren Arbeiten hinausweisend Ch. E. McCleUand, State, Society and University in Germany 1700-1914, Cambridge 1980.
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und auch versuchten Wiederaufbaus des Reiches und seiner Territorien. Nicht nur bildungsgeschichtlich, vielfach auch politisch setzten sich im späten 17. Jahrhundert schließlich die Leitbilder, Gedanken und Vorstellungen durch, die bis hin zur Gründung der Universität Berlin im Zuge der Reorganisation des Reichs, der sog. Freiheitskriege im Gefolge der Französischen Revolution, des Neuhumanismus und des deutschen Idealismus bestimmend sein sollten. Recht eigentlich war dies die Tat - wenn ich dies ein wenig verkürzt so sagen darf - des Christian Thomasius, seiner Mitstreiter und seiner Schüler, unter denen vor allem Nikolaus Hieronymus Gundling wie auch der Samuel Stryck-Schüler Peter von Ludewig zu nennen sind. 1 Sie formulierten in der 1692/94 neu erstehenden Universität Halle damals den einer anspruchsvollen Reichsuniversität normativen Wissenschaftskanon gleichsam verbindlich. Die Fridericiana wurde insoweit nicht nur Vorbild für alle protestantischen Universitäten des Reichs, sondern sie verjüngte, sie belebte die "verstaubte", "barbarische", abständig scheinende Institution "Universität" insgesamt. Erneut erwies es sich, daß im Reich - und hierin ganz verschieden von den restlichen europäischen Ländern - die Universitäten der Platz blieben, an dem die in einer Zeit führenden Ideen, Kunstfertigkeiten und Wissenschaften ihren Standort hatten. 2 Das 18. Jahrhundert gewann insoweit zurück, was während des 17. vorübergehend scheinbar verlorengegangen war. 3 Anders also als im Westen Europas, in England und Frankreich, anders auch als in Italien und Spanien, wo im Zeichen der Aufklärung im 18. Jahrhundert die Universitäten zur Bedeutungslosigkeit absanken, behielten im Reich die Hochschulen nach wie vor ihren zentralen Platz auch während dieses ,,Zeitalters der Aufklärung". Wie seit den Tagen des Spätmittelalters, wie vermehrt zudem seit denen der Reformation und Gegenreformation, schien es denn auch eine fast unabweisbare Notwendigkeit rlir die Landesherren, eine eigene, eine Landesuniversität zu haben. Zumindesten die bedeutenderen Territorien des Reiches gingen von dieser Vorstellung aus. Das Schulwesen im weiteren Sinne war und blieb im Reich "allzeit ein Politicum", wie das die Kaiserin Maria Theresia einmal formulierte. 4 Entsprechend zahlreich manche meinen auch: ~ahllos - waren die Universitäten im alten Reich; ohne die hochschulähnlichen Gymnasia illustria oder vergleichbare Institutionen waren es nahezu 40. 5
1 Vgl. hierzu meine Untersuchung N. Harnrnerstein, Jus und Historie, Göttingen 1972, sowie den Aufsatz: N. Harnrnerstein, Christian Thomasius und die Rechtsgelehrsamkeit, in: Studia Leibnitiana 9,1979,22 ff. 2 Vgl. N. Harnrnerstein, Humanismus und Universitäten (Wolfenbütteler Renaissance-Forschungen, 1), Hamburg 1981,23 ff.; ferner J. M. Fletcher, Change and resistance to change: a consideration of the development of English and Gerrnan universities during the sixteenth century (History of Universities, I), Avebury 1981, I ff. 3 Vgl. N. Hammerstein, Universitäten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation als Ort der Philosophie des Barock, in: Studia Leibnitiana 13, 1981,242 ff. 4 F. Walter, Hrsg., Maria Theresia. Briefe und Aktenstücke in Auswahl (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit, 12), Darmstadt 1968, 13. 11 Hammerstein
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Daß diese Verjüngung und Wiederbelebung der Universität nach den Einbrüchen des Dreißigjährigen Krieges und nach der danach zunächst einsetzenden bildungspolitisch konservativen, ja fast reaktionären Phase der protestantischen Scholastik und Schulmetaphysik gelang, war das Verdienst der aufstrebenden Brandenburger Kurfürsten und alsbaldigen preußischen Könige sowie das des schon genannten Thomasius und seiner Hallenser Mitstreiter. Was sie als Folge der allgemeinen Umorientierung, der Notwendigkeit, neue Begründungszusammenhänge rür nahezu alle Wissenschaften aufzeigen zu müssen, in der Zeit ab 1690 bis ca. 1720 Tragfähiges schufen, bestimmte nicht zuletzt auch Göttingen dann noch nachhaltig. Ein wenig stichwortartig kann man das etwa folgendermaßen zusammenfassen: Das offensichtliche Fallieren einer konfessionell bestimmten Politik in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zwang dazu, weitergehende, neue Legitimationen, mundanere Begründungen der Welt - und des Zusammenlebens in ihr - zu entwikkeIn. Auch der Lehrkanon der Universitäten konnte sich auf Dauer dem nicht entziehen. Es kann das insgesamt auch als Folge der allmählich vordringenden Aufklärung umschrieben werden, wobei die nichtkatholischen Territorien und Universitäten vorangingen. Naturrechtsdenken, ein erneuerter Aristotelismus - vorab bedeutungsvoll auf dem Gebiet der Philosophia practica -, synkretistische Theologie - vor allem die so bekämpfte eines Calixt -, empirische Begründungsmuster - so wie sie Conring und Erhard Weigel verstanden -, vieles davon also in Helmstedt und Jena formuliert, stehen stichwortartig für dies sich wandelnde Weltbild. 6 Praktische, innerweltliche Bedürfnisse hatten entschieden Vorrang, sie waren eigentlicher Bezugspunkt geworden. Der Wert wissenschaftlicher Anstrengung hatte sich an seinem begründbaren Nutzen für das Leben in Gemeinschaft messen zu lassen. Begreiflicherweise hatten sich dementsprechend auch äußere Gestalt und Aufführung aller Universitätsangehörigen der traditionellen theologischen Formen zu begeben und die zeitgemäßen höfischen Ideale nachzuahmen zu suchen. Auch die Wissenschaften und selbst die Gelehrten sollten höfisch sein, Thomasius lehrte nicht von ungefähr eine Philosophia aulica. Das, was in den Ritterakademien gemäß dem Ge5 Zur raschen Information am geeignetsten: K. Goldmann, Verzeichnis der Hochschulen, Neustadt 1Aisch 1967. 6 Außer Harnrnerstein, Jus, hier wichtig M. Stolleis, Hrsg., Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt a. Main 1977, bes. die Beiträge v. H. Hofmann, Hugo Grotius; Ch. Link, Dietrich Reinkingk; R. Hoke, Johannes Limnaeus; D. Willoweit, Hermann Conring; M. Stolleis, Veit Ludwig von Seckendorff; N. Hammerstein, Samuel Pufendorf; H. P. Schneider, G. W. Leibniz; K. Luig, Christian Thomasius. Ferner H. Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat, Wiesbaden 1970; J. Brückner, Staatswissenschaften, Kameralismus und Naturrecht, München 1977. Vgl. ferner die Artikel in TRE (Theologische Real Enzyklopädie), Bd. 7, Berlin 1New York 1980181 von J. Wallmann über Abraham Calov und Georg Calixt; A. Seifert, Staatenkunde. Eine neue Disziplin und ihr wissenschaftstheoretischer Ort, in: M. RassemlJ. Stagl, Hrsg., Statistik und Staatsbeschreibung in der Neuzeit, Paderborn 1980,217 ff.; M. Steinmetz u.a., Hrsg., Geschichte der Universität Jena 1548/58 bis 1958. Festgabe zum vierhundertjährigen Universitätsjubiläum, 2 Bde., Jena 1958.
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schmack und den Notwendigkeiten der Zeit, des Adels insbesonders, institutionell sich auszubreiten begann7 , mußte und sollte den Universitäten dienstbar gemacht werden, wie man in Halle meinte und dann sogar erfolgreich realisierte. Hier entstand also nach 1694 die neue "von scholastischen SchulgrilIen und Pedanterey" freie Universität, die sich tolerant, an den Realia orientiert und autoritätsungebunden verstand, zumindest bis in das zweite Dezennium des neuen Jahrhunderts. Die theologische Bevormundung der Wissenschaften wurde durchbrochen, an die Stelle der Theologie als universitärer Leitwissenschaft trat die Jurisprudenz. Die juristische Fakultät wurde die vornehmste und eigentlich erste. Sie vermochte nunmehr selbst Personen von Stand und solche für die Welt auszubilden. Die erneuerte Jurisprudenz prägte alsbald Methode und Selbstverständnis nahezu aller Universitätsdisziplinen, auf sie gehen eigentlich die wissenschaftlichen Neuansätze zurück. Auch hier kann ich nur umrißhaft dies Neue zu umschreiben suchen. Diese Hallesche Jurisprudenz "historisierte" das Recht insgesamt einschließlich des Naturrechts, das auch ihr anfänglich als - dann freilich rasch überwundenerAusgangspunkt neuer methodischer Ansätze gedient hatte. Das Naturrecht behielt insoweit allenfalls abstrakt allgemeine Nonnfunktion. Seine Verbindlichkeit und sein normatives Gewicht kamen hingegen der positiven Rechts- und Gesetzesordnung eines jeden Gemeinwesens zugute. Das Naturrecht wurde insoweit also ebenfalls "historisiert", und das Gemeinwesen in seiner positiven Rechtsordnung erhielt umgekehrt gleichsam naturrechtliche Würde. Bezeichnend ist ferner, daß insgesamt das Leben in Gemeinschaft, daß das, was wir Staat, Herrschaft, Gesellschaft nennen, fast ausschließlich in Kategorien der Jurisprudenz begriffen, legitimiert und formuliert wurde. Bis hin zur Aufführung, zum Decorum, zu Sitte, Herkommen und Lebensweise wurde alles als Teil der Jurisprudenz verstanden. 8 Dabei ist ein insgesamt beharrender, ein konservativer Zug nicht zu übersehen. Der neuen Rolle der Jurisprudenz entsprach es, daß innerhalb der einzelnen Materien eine Gewichtsverlagerung stattfand. All das, was dem Öffentlichen, der allgemeinen Rechtsordnung dienlich schien, erhielt vorrangige Bedeutung. So waren neben dem Lehnrecht das Jus circa sacra, das Jus patrium als Territorialstaatsrecht, die juristische Praxis und der Prozeß, der nach wie vor gemäß dem Jus canonicum vermittelt wurde, wichtig. 9 Überragt wurden sie alle freilich von dem Jus publicum Romano-Germanicum, einer Art öffentlichen Rechts des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. 1o In seinem Gefolge erhielten die ihm unabdingVgl. hierzu N. Conrads. Ritter-Akademien der Frühen Neuzeit, Göttingen 1982. Ausführlich Hammerstein, Jus. 9 Grundlegend F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1967; H. Coing, Die juristische Fakultät und ihr Lehrprogramm in: ders., Hrsg., Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. 2, I, München 1977,3 ff. 10 M. Stolleis, Jus Publicum. in: A. ErlertE. Kaufmann, Hrsg., Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Berlin 1981; N. Hammerstein, Jus Publicum Romano-Germanicum, 7
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baren Hilfsdisziplinen ebenfalls erhebliches Gewicht, was für die Wissenschaftsauffassung insgesamt von nicht zu unterschätzender Bedeutung war. Reichs-Historie, Staatenkunde 11 , historische Hilfswissenschaften - wie Numismatik, Geographie, Chronologie und Genealogie - wurden Ausweis einer erneuerten Wissenschaft und Universität. Die der barocken Kaiser- und Kriegsgeschichte so wichtige Heraldik hatte hingegen ihren Stellenwert verloren. Historia Juris wie überhaupt die Kenntnis der Vorgeschichte der einzelnen Wissenschaften, die man als Litterärgeschichte las und betrieb, gehörten ferner in diesen Umkreis. Er ist insgesamt dadurch beschrieben, daß er einer vermehrt historischen Ausrichtung aller Wissenschaften den Weg zu bahnen beginnt. Es war insoweit nur folgerichtig, daß diese "historisierende" GrundeinsteIlung alsbald auch auf andere Wissenschaften übergriff. Nicht zuletzt die Theologie wurde von ihr beruhrt, zumal vom fruhen halleschen Pietismus analoge Anregungen erfolgten. So wurden Kirchengeschichte, Bibelexegese, Patristik, überhaupt der Rückgriff auf das Fruhchristentum konstitutiver Bestandteil aufgeklärter Theologie. Selbst in der medizinischen Fakultät, die im allgemeinen nach wie vor vergleichsweise am Rand und unbedeutend blieb, sind analoge Neuansätze festzustellen. Auch hier gab Halle zunächst den Anstoß. Die Artisten hinwiederum erfuhren durch diese neue historisierende Ausrichtung ebenfalls wichtige Impulse. Sie lagen jedoch mehr auf praktisch-utilitarischem Gebiet als auf genuin methodischem. Im Grunde reagierte die Philosophische Fakultät auf das, was von ihr verlangt wurde. Sie war nicht ihrerseits die bestimmende und aktive. Vorab erhielt die Philosophia practica neue Anstöße, später dann auch die Philologie im weitesten Sinne. Unbestritten war, daß die Artisten nunmehr der Jurisprudenz zuarbeiten mußten wie seinerzeit der Theologie. Insoweit verblieb die Philosophische Fakultät nach wie vor auf der untersten Stufe, sie war die letzte der Fakultäten, sie gehörte eigentlich noch nicht in den Kanon der höheren Wissenschaften. Es war ferner, wie bereits erwähnt, unabdingbar, daß der modeme Student sich gute Manieren und angemessene Aufführung anzueignen hatte, sollte er doch für diplomatische Missionen wie schlechthin alle öffentlichen Dinge zu gebrauchen sein. Die Ausbildung hatte insgesamt praktisch und vernünftig zu sein, sie hatte darin einzuüben, den Verstand zum allgemeinen Nutzen anzuwenden. Dementsprechend konnte das Studium "entriimpelt", die Studienzeiten konnten insgesamt verkürzt werden, es konnte das zumindest versucht werden, war doch das in: Diritto e potere nella storia europea. Atti dei Quarto Congresso intemazionale della Societa italiana di storia dei diritto, Florenz 1982,717 ff.- Kenntnisreich, aber von einer ein wenig veralteten Betrachtungsweise ausgehend R. Lieberwirth, Der Staat als Gegenstand des Hochschulunterrichts in Deutschland vom 16. bis zum 18. Jahrhundert (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Phil.-hist. KI., Bd. 120, H. 4), Berlin 1978. Vgl. meine Rezension in: ZNRG, 1981. 11 Außer Seifert. Staatenkunde, vgl. dazu auch G. Valera, Scienza dello Stato e metodo storiografico nella Scuola storica di Gottinga, Napoli 1980.
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Einpauken beweiskräftiger Autoritäten vor dem klaren Urteil eines geschulten Verstandes hinfällig geworden. Thomasius beschrieb das einmal wie folgt: ,,Nichts desto weniger ist es die pure Wahrheit, es kan auch ein sehr gelehrter Mann, der viel gelesen, der eine große Erkänntnüß hat, der mit der That für einen Polyhistor passieren kan, ein Müßiggänger seyn. Gieb nur Achtung, ob er mit seinem Studiren sich oder anderen Leuten einen Nutzen schaffe, oder ob er es nur zu seiner Belustigung thue ... ja weIches noch mehr paradox ist: die größten Helliones Iibrorum, und die in studiren nichts thun, als immer was neues lesen, sind die größten Müßiggänger unter den Gelehrten. Denn sie nützen sich und anderen am wenigsten eben damit. .. ,,12 Die in Halle dank auch der weitgehenden Traditionsfreiheit einer Neugründung gewonnene Wissenschaftsauffassung erhielt dann in Göttingen ihre für das 18. Jahrhundert strahlendste Ausfonnung. Die Georgia Augusta wurde das Paradebeispiel einer aufgeklärten Universität. Nicht zuletzt die Feme des kurfürstlichen Landesherm, des englischen Königs in London, wie noch mehr die überlegene Obsorge ihres eigentlichen Inaugurators und bedeutenden Kurators - Gerlach Adolf Freiherr von Münchhausens - erlaubten ihr diesen raschen und bemerkenswerten Aufstieg. Münchhausen - seinerseits ein Schüler Halles, Thomasius' und Gundlings vorweg - baute seine Hochschule ganz in deren Sinne auf. Entgegen allen Erwartungen und vielen Vorurteilen war er darin überaus erfolgreich, schuf das zukunftsweisende Modell einer modemen und eleganten Universität, während in Halle selbst die dort übennächtig und eng gewordene pietistisch-theologische Fakultät die anfängliche Blüte zum Erliegen gebracht hatte. Wie zunächst in Halle kam auch in Göttingen der erste Rang der Juristischen Fakultät zu. Sie hatte brauchbare Männer auszubilden, die "eine solide Theorie mit der praxis verknüpfen", wie Münchhausen forderte. Ihr methodischer Zugang zu den Wissenschaften - der thomasische - galt eigentlich als der verbindliche, nur daß er eben in Göttingen auf Grund längerer Erprobung und gewohnteren Umgangs geglätteter, schlüssiger und einheitlicher war und wirkte. All das war von außerordentlicher Bedeutung flir das Reich insgesamt, sollte doch alsbald vielerorts dies erfolgreiche Muster nachgeahmt werden. Für Münchhausen und seine Berater galt naturgemäß, daß eine Hochschule den Interessen des Staates zu dienen habe. Ihre vornehmste Aufgabe müsse daher die Ausbildung geeigneter weltlicher und kirchlicher Staatsdiener sein. Religiöser Eifer, alle "Enthusiasten", wie Münchhausen das nannte, sollten keinen Platz in Göttingen haben, gleichviel weIche wissenschaftlichen Vorzüge sie auch aufzuweisen vennöchten. Die Anstalt sollte den mundanen Ansprüchen des Territoriums genügen. Insofern sollten allein friedliche, tolerante und kompromißbereite Professoren hier Anstellung finden, gerade auch in der Theologischen Fakultät. Ein irenisches 12
Zitiert nach Hammerstein, Jus, 55.
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Christentum wie ein gemäßigter Territorialpatriotismus und ein starkes Reichsbewußtsein sollten vorherrschen. i3 Es war nur folgerichtig, daß der Staat nunmehr auch die Vorsorge für die Theologie mitübernahm, ganz so, wie es seinerzeit Thomasius gelehrt hatte. Es entfiel ferner die Zensur seitens der Theologen, aber auch die etwa des Staates selbst, die im Namen irgendeiner Staatsraison hätte auftreten können. Insgesamt, so war es die Meinung des Kurators und seines Landesherrn, sollte Lehrfreiheit in Göttingen gewährleistet sein. i4 Nicht zuletzt aber spielten auch finanzielle Überlegungen bei der Gründung und Ausstattung eine Rolle, was nicht nur im 18. Jahrhundert kaum überrascht So hatte einer der Gutachter formuliert: ,,Die Theologen, welche gewöhnlich den größten Nummerum auf Universitäten ausmachen, sind weniger zu beachten; es trägt ein eintziger Graf, ... Baron bei den Juristen mehr Geld ins Land als Hundert Theologen; man muß daher vor allem nach tüchtigen Professoren in jure publico trachten, welche neben judicio in scientiis auch artig und politique Grafen und Barone an sich locken ..."i5 Wissenschaftliche, praktische und finanzielle Überlegungen garantierten also der Jurisprudenz den ersten Platz. So war es nicht verwunderlich, daß vor allem gegen Ende des Jahrhunderts, zu einem Zeitpunkt also, als die Artisten bereits selbständiger und selbstbewußter geworden waren, manche von ihnen sich über diese juristische Präponderanz mokierten. So schrieb z. B. Johann David Michaelis 1770: ,,Das Jus, eine ohnehin nicht angenehme Wissenschaft, ist. .. bloß die allmächtige Mode in Deutschland, über die Ausländer sich sehr verwundern müßten." Gatterer meinte vier Jahre später hingegen: " ... zuletzt das Lob der Göttingischen Universität von seiten des Unterrichts und der Geschichte und der größten Männer, die dieselbige in mehreren Theilen der Geschichte zu Lehrern gehabt hat. Er [Gesner] führet eine Anecdote an, welche beweisen soll, daß dieses Recht etwas Charakteristisches derselben sey; es ist ihr nämlich von Ausländern gleich im Anfange der Name der Historischen Universität beigeleget worden. Ohnfehlbar gereichet es ihr zur Ehre, daß sie diesen Ruhm noch bis jetzt behauptet"i6. Aber noch weitere Momente ließen Göttingen im Zeitalter der Aufklärung so berühmt werden. Nicht zuletzt seine Studenten galten allenthalben als vorbildlich, fleißig und kenntnisreich. Der vergleichsweise hohe Anteil adliger Studenten zwischen 15 und 20 Prozent - fOrderte diesen Nimbus zudem. Auch die Kürze des Studiums, die Klarheit des Studienaufbaus, der Wissenschaftskanon, die hohen Erfolge, Anstellung zu finden und in angesehene und begehrte Posten aufzurücken, Einzelnachweise und Belege ebd. Vgl. Königlich Groß-Brittanisches, Kurfürstlich Braunschweig-Lüneburgisches Privileg vorn 7. Dez. 1736, in: W. Ebel, Hrsg., Die Privilegien und ältesten Statuten der Georg August Universität zu Göttingen, Göttingen 1961,28 ff.; der entscheidende Passus: 29. 1S J v. Meiern; vgl. Harnrnerstein, Jus, 315. 16 Ebd., 315 f. 13
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sicherten der Anstalt ihren Ruf. Der Zweck aller Ausbildung blieb begreiflicherweise auf die Praxis - in der Jurisprudenz vor allem auf die der hohen Reichsgerichte - ausgerichtet. Auch das fand dann vielfach Nachahmung! Bemerkenswert war es zudem, daß die erwünschte Lehrfreiheit tatsächlich auch realisiert werden konnte. Ganz außerordentlich schien es des weiteren, daß die Gehälter der Professoren und Universitätsbediensteten pünktlich gezahlt wurden und daß insgesamt eine dem Reich und dem Kaiser sehr freundliche Grundhaltung die Lehren der Universität bestimmte. Insoweit erreichte die Georgia Augusta auch eine ihrer weiteren Absichten: es strömten viele katholische Studenten dorthin. 1734 war das bereits einem der Gutachter, David Georg Strube, höchst wichtig erschienen, wie er seinem Freund Münchhausen schrieb: "Die Catholici sind selbst persuadiret, daß ihre Publicisten nichts taugen. Die principia ... Ludoviciana als gar zu fürstlich, haben sie abgeschrecket, nach Halle zu gehen; wenn man (wie ich nicht zweifle) nun ihnen convenableres, und den leges imperii mehr gemäßes jus publicum in Göttingen dociret, so ist zu hoffen, daß ihre besten Leute und insonderheit die Oestreicher dahin gehen werden.,,17 Selbstverständlich war insoweit auch der katholische Gottesdienst in Göttingen von Anfang an zugelassen und ein geeigneter Raum bereitgestellt worden. Göttingen wurde so in der Tat der Maßstab für modeme Ausbildung und Gelehrsamkeit. Dies traf in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts auch für das katholische Reich zu. Der Kölner Kurftirst Max Franz faßte das einmal so zusammen: "Die fähigsten jungen Leute sind heute nicht mehr Jesuiten, sondern vielmehr meistens durch Göttingische Principia dem Gegentheil zugethan." Und der für den habsburgisch aufgeklärten Absolutismus so wichtige Sonnenfels riet seinen Zuhörern: "Wer echte, freie Politik hören wolle, müsse nach Göttingen gehen." Diese auch auf die katholischen Reichsteile übergreifende Wirkung des Göttinger Vorbilds darf ich Ihnen nun zu belegen versuchen. 18 Die frühen Versuche einer katholischen Universitätsreform fielen zwar bereits in Vor-Göttinger Zeit in die zwanziger und dreißiger Jahre des Jahrhunderts. Indem sie aber dabei dem Hallenser Vorbild folgten, müssen auch diese Bemühungen als durchaus vergleichbar und analog zu den späteren - nur verbesserten - begriffen werden. Das Haus Schönborn - in Würzburg, Bamberg, Mainz z. B. -, Kaiser Karl VI. in Wien, auch die bayerische Landesuniversität Ingolstadt, suchten damals moderneres wissenschaftliches Leben in ihre von den Jesuiten traditionsüberladen geleiteten Universitäten zu bringen. 19 17 Emil F. Rössler, Die Grundung der Universität Göttingen. Entwürfe, Berichte und Briefe der Zeitgenossen, Göttingen 1855,247 f.; Hammerstein, Jus, 324. 18 Vgl. dazu N. Hammerstein, Aufklärung und katholisches Reich, Berlin 1977, passim, dort auch die Zitate und weiteren Belege. 19 Ebd.; ferner G. Klingenstein, Vorstufen der Theresianischen Studienreform in der Regierungszeit Karls VI., in: MIÖG 76, 1978, 325 ff.; L. Hammermayer, Die Aufklärung in Wissenschaft und Gesellschaft, in: M. Spindler, Hrsg., Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. 2, München 1977.
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Entschieden erfolgreicher waren diese Versuche dann aber erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Der Österreichische Erbfolgekrieg, das hohe Gewicht reichsgerichtlicher Entscheidungen, das Aufbrechen des deutschen Dualismus vor allem führten dazu, daß man sich im katholischen Umkreis den an protestantischen Universitäten Ausgebildeten unterlegen fühlte. Es erschien unabweisbar, von der bisherigen - jesuitischen - Lehr- und Studienpraxis abzurücken, was nach Aufhebung des Ordens 1772 ohnedies überfallig und problemlos zugleich geworden war! Auch im katholischen Reich sollte die Ausbildung verkürzt, sollte mehr Wert auf die Praxis sowie eine elegante Aufführung der Studenten und Professoren gelegt werden. Die Jurisprudenz habe - entsprechend ihrem gewichtigen Beitrag zum obersten Ziel aller staatlichen und wissenschaftlichen Bemühungen: der Förderung allgemeiner Glückseligkeit, wie es damals hieß - sonderlich herausgestellt zu werden und zusammen mit der Lehre der Cameralwissenschaft, die z. T. ja ebenfalls juristisch angefaßt wurde, die wichtigste Disziplin abzugeben. Die wissenschaftlichen Vorstellungen sollten den spezifischen Bedürfnissen der katholischen Territorien freilich angepaßt, jedoch von den protestantischen Vorbildern übernommen werden. War es nun ungewiß, wie dies zu verstehen sei, welchen Kriterien jeweils zu folgen sei, so wurde gern auf das strahlende Vorbild Göttingen verwiesen. Bezeichnenderweise begannen gerade die Territorien mit den Reformen, die eng in die Reichspolitik verwoben waren, die nahe bei protestantischen Herrschaften lebten oder die Männer für die allgemeine Reichspolitik stellten. Die schon genannte Familie Schönborn, die kaiserlichen Räte im Umkreis des Reichshofrats sowie der Geheimen Konferenz waren folgerichtig hier die energischsten. Es galt zudem das Problem zu lösen, wie die kirchlichen Ansprüche auf generelle Mitsprache und Mitbestimmung in diesen Staaten im Interesse funktionsfahiger "Staatlichkeit" zurückgedrängt werden konnten, ohne dabei allzu antikirchlich zu erscheinen. Hier konnte man - um das einfügend zu bemerken - auf die Vorarbeiten der Jansenisten, der Männer der sog. ,,Muratori-Zirkel", auf den Febronianismus, auf die katholische Staatskirchenrechtsbewegung zurückgreifen. 2o Daß das für Staatswesen, die ganz entschieden noch von kirchlichen Vorstellungen bestimmt waren, außerordentliche Probleme barg, dürfte leicht einleuchten. Es bleibt eher erstaunlich, wie flexibel und wenig die Gemüter erregend dies alles vonstatten ging, sieht man einmal von Auswüchsen des Josephinismus ab. Kehren wir aber zurück zu dem Vorbildcharakter Göttingens für diese Bemühungen. Einige Hinweise mögen dies verdeutlichen. Bei der Reform der bayerischen Landesuniversität Ingolstadt war die treibende Kraft der Freiherr von Ick20 E. Zlabinger, L. A. Muratori und Österreich, Innsbruck 1970; P. Hersehe, Der Spätjansenismus in Österreich, Wien 1977; E. Kovacs, Hrsg., Katholische Aufklärung und Josephinismus, München 1979, insbes. die Abhandlungen von G. Otruba. K. O. Freiherr v. Aretin und E. Wangermann.
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statt. Nachdem er in den zwanziger Jahren bereits maßgeblich an der Reform der Würzburger Universität mitgewirkt hatte, war er später dann als Direktor der Ingolstädter Universität einer derjenigen in bayerischen Landen, die damals äußerst tatkräftig aufklärerische Ideen und modeme staatliche Vorstellungen diesem großen und in sich geschlossenen Reichsterritorium vermittelten. Naturgemäß stieß er hier nicht zuletzt mit den Jesuiten zusammen, und die Schwierigkeiten - ich kann sie hier auch nicht annähernd ausführlich darstellen -, die sich daraus ergaben, sind in diesem Zusammenhang außerordentlich symptomatisch. In einer seiner großen Verteidigungsschriften gegenüber dem bayerischen Kurfürsten Max ill. Josef führte Ickstatt u. a. aus: Er müsse protestantische Lehrbücher, nicht zuletzt die Göttingischen, benutzen. "Allein hierbei äussert sich die geringste Gefahr nicht, angesehen ein jeder catholische Publicist derer protestanten fundamenta principia jurisdictionis ecclesiasticae zu wissen ohnumgänglich vonnöthen hat, ja hierinnen der Kern dessen, so ein Publicist von andern wissen soll, besteht; einfolglichen es auf eines hinaus komet, ob ich sothane Principia bey einem catholischen oder bey protestantischen Publicisten antreffe ... Wenn es denn ja so gefährlich ist, einen acatholischen Juristen oder Geschichtsschreiber zu lesen; warum schicken dann vornehme Standespersonen ihre Söhne haufenweise nach Leyden, Leipzig, Hall, Göttingen, Straßburg und andere acatholische Universitäten, ohne eine Gefahr der Verführung zu befürchten. Wahr ist es, daß ich bey denen daher zurückgekommenen hohen Standespersonen und jungen Leuten weniger Einfalt und Superstition angetroffen." Gewiß sei es besser, die jungen Leute in eigenen Universitäten auszubilden, dazu sei es aber notwendig, sie dem protestantischen Niveau anzupassen. Die "unbrauchbaren Schulgrillen" müßten ,,in das Reich der Vergessenheit" verbannt werden, es müsse verhindert werden, daß die kurfüstliche Universität ,,in eine wahre Wüsteney und Sammel-Platz von allem, was mir pedantisch genannt werden mag", verwandelt werde. 21 Der ausufernde, hier nicht darzustellende Streit hielt die Reform Ingolstadts im Sinne Ickstatts gleichwohl nicht auf. Amüsant in diesem Zusammenhang ist eine Briefstelle eines Schülers Ickstatts, des nachmaligen engagierten Aufklärers Bayerns, Loris. ,,Das ius naturae und die protestantischen Bücher werden uns bald auf den Scheiterhaufen bringen. Herr Baron von Ickstatt hat öffentlich in seinen Collegia sich wacker defendiret. Er sagte: Die Soli psi können nicht leiden, daß den Leuten die Köpfe geöffnet und ihr monopolium verdorben werde. Sie bliesen alle in ein Loch. Er hätte aber auch noch eines, wo sie hineinblasen können. Man solle sie schwätzen lassen.,,22 Auch in den habsburgischen Landen suchte man die Universitäten auf besseren Fuß zu setzen. Nach den anfanglichen Reformbemühungen unter Maria Theresia und dem Baron Gerard van Swieten, die z. T. durchaus bemerkenswerte Erfolge hatten und die dem Hallisch-Göttinger Muster in etwa folgten, suchte Wien dann Vgl. Hammerstein, Aufklärung, 108 ff. L. Hammermayer, Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. I, Kal1münz 1959,61. 21
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erneut unter dem Hofkanzler Fürsten Kaunitz, die, wie man meinte, noch nicht hinreichend florierenden Studien neuerlich zu verbessern. Zu diesem Zweck wurde der Hofsekretär von Birkenstock eigens nach Göttingen gesandt, damit er aufgrund genauer und nochmals überprüfter Kenntnis dieser blühenden Universität Ratschläge unterbreiten könnte. Er selbst hatte seinerzeit dort studiert. Birkenstock führte in seinem Gutachten vor allem die manierliche Aufführung der Studenten und Professoren an. 23 Dadurch sei eine den Studien sehr fOrderliche Atmosphäre vorhanden. Ihr entspreche der große Lern- und Studieneifer. Wichtig sei ferner die Großzügigkeit, die materielle und geistige, des Universitätskuratoriums. Oberstes Ziel sei es in Göttingen, gute Männer zu gewinnen oder sie sich zumindest heranzubilden. Eine vorzügliche Ausstattung und die glänzende Dotierung setze die Professoren in die Lage, unbeschwert und frei zu wirken. Der Freiraum werde nicht mißbraucht, ja man könne auf jede Zensur verzichten. Hohe Studentenzahlen - dementsprechend stattliche Einnahmen -, weithin berühmte Professoren, allgemeines Ansehen im Reich und Förderung aller wissenschaftlichen Fragen zum allgemeinen Besten seien die unübersehbare Folge dieser glücklichen Einrichtung. Um in Wien Ähnliches zu vollbringen, empfahl Birkenstock, von Göttingen Gelehrte abzuwerben. Dazu kam es dann freilich nicht, wenngleich auch ohnedies versucht wurde, Anschluß an das Modell zu finden und die modemen Lehren dem eigenen Staatswesen nutzbar zu machen. So wurden auch im katholischen Reich auf dem Gebiet der Jurisprudenz die in Haile/Göttingen maßgeblichen Materien als die wichtigsten angesehen. Es wurden auch hier Publicistik, Reichs-Historie, Staatengeschichte, Lehnrecht, Territorialstaatsrecht usf. gelehrt. Daneben hielt sich freilich auch das Naturrecht als eine "modeme" Disziplin, gelegentlich auch als Jus publicum universale angekündigt. Das entsprach der Notwendigkeit innerhalb des katholischen Reichs, das Vorrecht der Fürsten in allen Fragen weltlich-kirchlicher Ordnung des Staatswesens zu begründen wie auch überhaupt die säkuläre Legitimation der Weltordnung hinreichend abzuleiten. Hierfür war das normative Naturrecht unerläßlich. Es fand dann immerhin auch in einigen Naturrechtssystematikern - von Martini und Schrötterhervorragende modeme Interpreten. Es erklärt sich aus diesem Umstand ferner, daß auch die Lehren. Christian Wolffs eine größere Rolle im katholischen Reich spielten als im protestantischen. Wolff oder Pufendorf behielten hier eine wichtige Funktion, ganz anders als im protestantischen Reich, wo gerade Christi an Wolff eigentlich nie tiefergreifend rezipiert worden war. 24 23 A. Lhotsky, Ein Bericht über die Universität Göttingen für den Staatskanzler Fürsten Kaunitz-Rietberg (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-hist. KI., Jg. 1966, Nr. 3), Göttingen 1966; ferner G. Klingenstein, Despotismus und Wissenschaft. Zur Kritik norddeutscher Aufklärer an den Österreichischen Universitäten, 1750 bis 1790, Formen der europäischen Aufklärung, Wien 1976, 126 ff., und Hammerstein, Aufklärung, 192 ff. 24 N. Hammerstein, Christian Wolff und die Universitäten. Zur Wirkungsgeschichte des Wolffianismus im 18. Jahrhundert, in: W. Schneider, Hrsg., Christian Wolff 1679-1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung (Vorträge der 4. Jahrestagung der
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Schließlich kann als eine weitere Besonderheit der katholischen Universitätsreformen im Zeichen der Aufklärung die Cameralistik angesehen werden. Sie fand hier eigentlich ihre bedeutsamste Ausformung. Auf diesem Weg sollte und konnte - um es solcherart umrißhaft zu bezeichnen - das mangelnde Arbeitsethos, die im Vergleich mit dem Luthertum geringere Arbeitsbesessenheit, eingeholt und wettgemacht werden. Ein Zug zusätzlich utilitarischer Rationalität und rationelleren Wirtschaftens kam in der Tat über den Weg der Cameralwissenschaften in die katholischen Reichsterritorien. 2S Aber noch ein Wort zu den Reformen in den Habsburgischen Landen. Nach dem Wiener Modell wurden alle anderen österreichischen Universitäten dann - mehr oder weniger erfolgreich - reformiert. Man vertraute freilich dort mehr einer reglementierenden, verordneten Aufklärung als der freien Entfaltung der Universitäten selbst. Im Endeffekt führte das gleichwohl dazu, daß in beiden konfessionellen Reichsteilen die nämlichen Autoren und die gleichen Probleme diskutiert, gelehrt und unterwiesen wurden. 26 Auch in Mainz, der in der späteren Hälfte des 18. Jahrhunderts mächtig aufblühenden Universität, folgte man expressis verbis Göttingen, um noch dieses Beispiel anzuführen. Einige der reformfreudigen Professoren hatten eigens dafür in Göttingen studiert. Wenn es auch gelegentlich - so in einem Gutachten von Anseim Franz von Bentzel - hieß: "Göttingen ist eine Universität für die Welt. Wie soll es also möglich sein, bei einer weit mehr beschränkten Denkfreiheit, bei ganz anderen politischen Verhältnissen, bei einem weit größeren Luxus das nämliche Muster annehmen oder von demselben die nämlichen Wirkungen erwarten zu können? Nicht alles, was für Göttingen möglich ist, ist auch für Mainz, den Sitz des ersten Erzbischofs und Kurfürsten zugleich rätlich", so war doch klar, daß allein in Nachahmung der dortigen Wissenschaften das katholische Reich standhalten könne. 27 Nicht zuletzt die bessere historische Fundierung der Wissenschaften schien bedeutungsvoll insbesondere im Blick auf konfessionspolemische Diskussionen, kämen doch viele der neuen Argumente aus der Historie. Wichtiger freilich schien es - und dies war in allen katholischen Reichsteilen selbstverständlich -, nunmehr selbst über ausgebildete Juristen verfügen zu können, die die Interessen Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts. Studien zum 18. Jahrhundert, 4), Hamburg 1983,266 ff. 25 Außer Brückner, Staatswissenschaften, auch H. Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 2. Aufl. München 1980; P. Schiera, Dall' arte di governo alle scienze dello Stato. 11 Cameraliso e l'assolutismo tedesco, Mailand 1968; ders., La concezione amministrativa dello Stato in Germania, in: L. Firpo, Hrsg., Storia delle idee politiche, economiche e sociali, Turin 1980, insbes. 400 ff. 26 N. Hammerstein, Besonderheiten der österreichischen Universitäts- und Wissenschaftsreform zur Zeit Maria Theresias und Josephs 11., in: R. Plaschka/G. Walter-Klingenstein, Hrsg., Österreich im Europa der Aufklärung. Kontinuität und Zäsur in Europa zur Zeit Maria Theresias und Josephs 11., Wien 1985,787 ff. 27 V gl. Hammerstein, Aufklärung, 146 ff.
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dieser Territorien vor den obersten Reichsgerichten oder in diplomatischen Diensten wahrzunehmen vermöchten. Denn nicht nur in Mainz mußte man sich fragen, "wie schädlich dem katholischen Reichssystem, vor allem aber der kaiserlichen Macht selbst, das Fehlen einer guten katholischen Universität, die namentlich Göttingen parieren könne, sei" .28 Man dachte dementsprechend dort 1783 sogar daran, "gar bald eine Pflanzschule für alle hohen Schulen des katholischen Deutschland werden" zu können. Ein andermal formulierte man: "Da man anfangs ... die große Absicht zu erkennen gegeben, zu Mainz die Mutter- oder Hauptkatholische Universität von dem ganzen deutschen Reich aufzustellen", müsse man weiterhin ernsthaft suchen, Göttingen nachzueifern. So wie in den habsburgischen Landen und in Mainz wurde auch in den anderen katholischen Territorien der neue Wissenschaftskanon mehr oder weniger erfolgreich übernommen, ganz so, wie es auch die weit verstreuten protestantischen Anstalten des Reichs im Laufe des 18. Jahrhunderts zumindest versuchten. Gewiß kam es nur selten zu herausragenden Leistungen und nennenswerten Ergebnissen. Aber nicht dies Resultat, sondern die Tendenz, die Absicht sind es ja, die uns hier interessieren. Und da schließlich von diesen erneuerten Wissenschaften und verjüngten Universitäten wichtige Anregungen für die spätere Universitätsreform und idealistische Wissenschaftsbegründung ausgingen - die Berliner Universität als0 29 -, darf es als legitim erscheinen, die führende Anstalt - Göttingen eben - paradigmatisch fur die breite Universitätslandschaft des Reichs zu nehmen. Unbeschadet also der Modifikationen und Differenzen, die zu beobachten sind, bleibt festzuhalten, daß auf diesem Weg in allen Reichsteilen das, was zunächst in Halle und dann in Göttingen ausgebildet worden war, an den Universitäten gelehrt wurde bzw. zu lehren gesucht wurde. Zu diesen weithin wirkenden Disziplinen Göttingens gehört schließlich noch eine, auf die nunmehr zu verweisen ist. Die dort gleichsam klassisch ausgebildete Lehre der Staaten-Historie - ursprünglich als Reichs-Historie des Nicht-Reichs entwickelt -, die Lehre vom gleichgewichtigen rechtlichen Zusammenleben verschiedener Staatswesen30, hat ihrerseits nicht wenig dazu beigetragen, die Neuordnung Europas im frühen 19. Jahrhundert mitzubestimmen. Nicht zuletzt natürlich die ,,Kernstaaten" Europas waren hiervon betroffen, was schließlich ebenfalls nicht von ungefähr kam. Ein paar willkürlich zu nennende Namen müssen freilich erneut genügen, den Zusammenhang eher erahnen als erkennen zu lassen. So studierten in Göttingen der 28 Ebd. 156; dort auch die folgenden Zitate; vgl. ferner das in diesem Zusammenhang so beredte Reform-Gutachten des Mainzer Publicisten Johann Baptist Horix, in: L. Just/H. Mathy, Die Universität Mainz. Grundzüge ihrer Geschichte, Mainz 1965, 83 ff. 29 U. Muhlack, Die Universitäten im Zeichen von Neuhumanismus und Idealismus: BerIin, in: P. Baumgart/N. Hamrnerstl